1825, 15. October.


Mit Johann Peter Eckermann

Ich fand Goethe diesen Abend in besonders hoher Stimmung und hatte die Freude, aus seinem Munde abermals manches Bedeutende zu hören. Wir sprachen über den Zustand der neuesten Literatur, wo denn Goethe sich folgendermaßen äußerte.

»Mangel an Character der einzelnen forschenden und schreibenden Individuen,« sagte er, »ist die Quelle alles Übels unserer neuesten Literatur.

[232] Besonders in der Kritik zeigt dieser Mangel sich zum Nachtheile der Welt, indem er entweder Falsches für Wahres verbreitet, oder durch ein ärmliches Wahre uns um etwas Großes bringt, das uns besser wäre.

Bisher glaubte die Welt an den Heldensinn einer Lucretia, eines Mucius Scävola, und ließ sich dadurch erwärmen und begeistern. Jetzt aber kommt die historische Kritik und sagt, daß jene Personen nie gelebt haben, sondern als Fictionen und Fabeln anzusehen sind, die der große Sinn der Römer erdichtete. Was sollen wir aber mit einer so ärmlichen Wahrheit! Und wenn die Römer groß genug waren, so etwas zu erdichten, so sollten wir wenigstens groß genug sein, daran zu glauben.

So hatte ich bisher immer meine Freude an einem großen Factum des dreizehnten Jahrhunderts, wo Kaiser Friedrich II. mit dem Papste zu thun hatte und das nördliche Deutschland allen feindlichen Einfällen offen stand. Asiatische Horden kamen auch wirklich herein und waren schon bis Schlesien vorgedrungen, aber der Herzog von Liegnitz setzte sie durch eine große Niederlage in Schrecken. Dann wendeten sie sich nach Mähren, aber hier wurden sie vom Grafen Sternberg geschlagen. Diese Tapfern lebten daher bis jetzt immer in mir als große Retter der deutschen Nation. Nun aber kommt die historische Kritik und sagt, daß jene Helden sich gang unnütz aufgeopfert hätten, indem das asiatische Heer bereits zurückgerufen gewesen und von [233] selbst zurückgegangen sein würde. Dadurch ist nun ein großes vaterländisches Factum gelähmt und zernichtet, und es wird einem ganz abscheulich zu Muthe.«

Nach diesen Äußerungen über historische Kritiker sprach Goethe über Forscher und Literatoren anderer Art.

»Ich hätte die Erbärmlichkeit der Menschen und wie wenig es ihnen um wahrhaft große Zwecke zu thun ist, nie so kennen gelernt,« sagte er, »wenn ich mich nicht durch meine naturwissenschaftlichen Bestrebungen an ihnen versucht hätte. Da aber sah ich, daß den meisten die Wissenschaft nur etwas ist, insofern sie davon leben, und daß sie sogar den Irrthum vergöttern, wenn sie davon ihre Existenz haben.

Und in der schönen Literatur ist es nicht besser. Auch dort sind große Zwecke und echter Sinn für das Wahre und Tüchtige und dessen Verbreitung sehr seltene Erscheinungen. Einer hegt und trägt den andern, weil er von ihm wieder gehegt und getragen wird, und das wahrhaft Große ist ihnen widerwärtig und sie möchten es gern aus der Welt schaffen, damit sie selber nur etwas zu bedeuten hätten. So ist die Masse, und einzelne Hervorragende sind nicht viel besser.

*** [W. v. Schlegel] hätte bei seinem großen Talent, bei seiner weltumfassenden Gelehrsamkeit der Nation viel sein können. Aber so hat seine Characterlosigkeit die Nationum außerordentliche Wirkungen und ihn selbst um die Achtung der Nation gebracht.

[234] Ein Mann wie Lessing thäte uns noth. Denn wodurch ist dieser so groß als durch seinen Character, durch sein Festhalten! So kluge, so gebildete Menschen giebt es viele, aber wo ist ein solcher Character!

Viele sind geistreich genug und voller Kenntnisse, allein sie sind zugleich voller Eitelkeit, und um sich von der kurzsichtigen Masse als witzige Köpfe bewundern zu lassen, haben sie keine Scham und Scheu und ist ihnen nichts heilig.

Die Frau von Genlis hat daher vollkommen recht, wenn sie sich gegen die Freiheiten und Frechheiten von Voltaire auflehnte; denn im Grunde, so geistreich alles sein mag, ist der Welt doch nichts damit gedient; es läßt sich nichts darauf gründen. Ja es kann sogar von der größten Schädlichkeit sein, indem es die Menschen verwirrt und ihnen den nöthigen Halt nimmt.

Und dann, was wissen wir denn, und wie weit reichen wir denn mit all unserm Witze!

Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen zu halten.

Die Handlungen des Universums zu messen, reichen seine Fähigkeiten nicht hin, und in das Weltall Vernunft bringen zu wollen, ist bei seinem kleinen Standpunkte ein sehr vergebliches Bestreben. Die Vernunft [235] des Menschen und die Vernunft der Gottheit sind zwei sehr verschiedene Dinge.

Sobald wir dem Menschen die Freiheit zugestehen, ist es um die Allwissenheit Gottes gethan; denn sobald die Gottheit weiß, was ich thun werde, bin ich gezwungen, zu handeln wie sie es weiß.

Dieses führe ich nur an als ein Zeichen, wie wenig wir wissen, und daß an göttlichen Geheimnissen nicht gut zu rühren ist.

Auch sollen wir höhere Maximen nur aussprechen, insofern sie der Welt zu gute kommen; andere sollen wir bei uns behalten, aber sie mögen und werden auf das, was wir thun, wie der milde Schein einer verborgenen Sonne ihren Glanz breiten.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1825. 1825, 15. October. Mit Johann Peter Eckermann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A5C3-9