1823, 14. October.


Thee bei Goethe

Diesen Abend war ich [Eckermann] bei Goethe das erste Mal zu einem großen Thee. Ich war der erste [290] am Platz und freute mich über die hell erleuchteten Zimmer, die bei offenen Thüren eins ins andere führten. In einem der letzten fand ich Goethe, der mir sehr heiter entgegenkam. Er trug auf schwarzem Anzug seinen Stern, welches ihn so wohl kleidete. Wir waren noch eine Weile allein und gingen in das sogenannte Deckenzimmer, wo das über einem rothen Kanapee hängende Gemälde der Aldobrandinischen Hochzeit mich besonders anzog. Das Bild war, bei zur Seite geschobenen grünen Vorhängen, in voller Beleuchtung mir vor Augen, und ich freute mich, es in Ruhe zu betrachten.

»Ja,« sagte Goethe, »die Alten hatten nicht allein große Intentionen, sondern es kam bei ihnen auch zur Erscheinung. Dagegen haben wir Neuern auch wohl große Intentionen, allein wir sind selten fähig, es so kräftig und lebensfrisch hervorzubringen, als wir es dachten.« .... Die Zimmer füllten sich nach und nach, und es ward in allen sehr munter und lebendig. Auch einige hübsche junge Ausländer waren gegenwärtig, mit denen Goethe französisch sprach.

Goethe selbst erschien in der Gesellschaft sehr liebenswürdig. Er ging bald zu diesem, bald zu jenem und schien immer lieber zu hören und seine Gäste reden zu lassen, als selber viel zu reden. Frau von Goethe kam oft und hängte und schmiegte sich an ihn und küßte ihn. Ich hatte ihm vor kurzem gesagt, daß mir das Theater so große Freude mache und daß es mich sehr [291] aufheitere, indem ich mich bloß dem Eindruck der Stücke hingebe, ohne darüber viel zu denken. Dies schien ihm recht und für meinen gegenwärtigen Zustand passend zu sein.

Er trat mit Frau von Goethe zu mir heran. »Das ist meine Schwiegertochter,« sagte er; »kennt Ihr beiden euch schon?« Wir sagten ihm, daß wir soeben unsere Bekanntschaft gemacht. »Das ist auch so ein Theaterkind wie du, Ottilie,« sagte er dann, und wir freuten uns miteinander über unsere beiderseitige Neigung. »Meine Tochter,« fügte er hinzu, »versäumt keinen Abend.« – »So lange gute heitere Stücke gegeben werden,« erwiederte ich, »lasse ich es gelten, allein bei schlechten Stücken muß man auch etwas aushalten.« – »Das ist eben recht,« erwiederte Goethe, »daß man nicht fort kann und gezwungen ist, auch das Schlechte zu hören und zu sehen. Da wird man recht von Haß gegen das Schlechte durchdrungen und kommt dadurch zu einer desto bessern Einsicht des Guten. Beim Lesen ist das nicht so; da wirft man das Buch aus den Händen, wenn es einem nicht gefällt, aber im Theater muß man aushalten.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1823. 1823, 14. October. Thee bei Goethe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A5A2-2