1814, um Mitte Juni.


Mit Friedrich August Wolf u.a.

F. A. Wolf, dessen Gelehrsamkeit und kritischen Scharfsinn er [Goethe] überaus schätzte und bewunderte, wie an seinen geistreichen Einfällen und eigenthümlichen Witzen großes Vergnügen fand, hatte doch besonders zwei Untugenden an sich, die Goethen sehr zuwider sein mußten, obgleich er sie so lange als möglich ohne weiteres ertrug: Widerspruchsgeist, der manchmal soweit ging, daß er sich selbst widersprach – und Ungeduld – die aus Mangel an irgend einem Sachinteresse herrührte; denn von Natur und bildender Kunst verstand er rein nichts und schien jene nur, insofern sie eß-, trink- und sonst genießbar ist, zu schätzen, letztere aber nur als Haus und Zimmer verzierend und meublirend anzuerkennen. Daß nun im ersten Falle auch ihm widersprochen, seine Argumente persiflirt oder durch Paradoxien übertrumpft wurden, sodaß am Ende die Sache durch Übertreibung von beiden Seiten lächerlich [135] wurde und der Streit noch ziemlich gut in Spaß und Scherz sich auflöste, davon war ich selbst Zeuge, und Goethe er zählt mit großer Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe die Gegenstände ihrer Debatten in seinen »Tag- und Jahresheften« und in den Briefen an Zelter.

Eine ebenso heitere Geduldsprobe hatte Goethe seinem Freunde bei einem Besuch in Berka bereitet. Goethe arbeitete eben an seinem »Epimenides« und ließ zum Behuf seines gegenständlichen und anschaulichen Dichtens, das zur Anfertigung eines opernartigen Dramas des musikalischen Elements bedurfte, von dem dortigen ausgezeichneten Pianisten und Organisten, dem Badeinspektor Schütz, sich mehrere Musikstücke, meist Bach'sche Sonaten vortragen, die er mit ganz besonderem Ausdruck und ungemeiner Fertigkeit wiederzugeben verstand. Unter denselben war auch eine, die wir nur mit dem Namen »das Trompeterstückchen« bezeichneten, und deren eigentliche Benennung ich nicht näher anzugeben weiß. Genug – es war eine wunderbare, die Imagination ansprechende einfache Melodie, eine Fanfare, die aber durch Variationen so ins Weite, ja Endlose getrieben wurde, daß man den Trompeter nicht nur bald nah, bald fern zu hören, sondern ihn auch ins Feld reitend, bald auf einer Anhöhe haltend, bald nach allen vier Weltgegenden sich wendend und dann wieder umkehrend zu sehen glaubte, und sich wirklich Sinn und Gemüth nicht ersättigen konnte.

[136] Nun war den Mittag über Tische schon viel von antiker und moderner Musik die Rede gewesen, wobei Wolf, wie vorauszusehen, die Partie der Alten nahm, viel von den antiken Silbenmaßen sprach, nach Tische auch die Theorie der Trochäen vortrug und sie durch Beispiele aus dem Äschylus erläuterte. Nun setzte er sich auch ans Clavier und spielte und sang »antike Musik«, – wie er sagte – mußte aber, da ein neuer Streit entstand, darin nachgeben, »daß er im Takte noch modernisire«.

Nach dem Abendessen mußte der Organist spielen und nach mehreren Sonaten kam auch das Trompeterstückchen dran. Der Tag war heiß gewesen, man hatte lange im Freien gesessen, viel und vielerlei gesprochen; das Zimmer war klein und noch dazu im Mansard und wir Hausgenossen sämmtlich zugegen. Das Stück war einmal durchgespielt; Goethe machte seine Bemerkungen darüber; Wolf schien nicht eben sonderlich erbaut und sich vielmehr nach Ruhe umzusehen. Da forderte Goethe den Musiker zu einem Dacapo auf, und nachdem dieses geleistet war, zu nochmaligem, als gelte es einen musikalischen Schlaftrunk, und wieder zu nochmaligem; ja er würde nach diesem fortgefahren haben, nun aber riß Wolfen die Geduld, er brach in Verwünschungen des Stücks aus und, Schläfrigkeit vorschützend, entfernte er sich eiligst.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1814. 1814, um Mitte Juni. Mit Friedrich August Wolf u.a.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A554-1