1825, 24. Februar.


Mit Johann Peter Eckermann

»Wäre es meine Sache noch, dem Theater vorzustehen,« sagte Goethe diesen Abend, »ich würde Byron's ›Dogen von Venedig‹ auf die Bühne bringen. Freilich ist das Stück zu lang und es müßte gekürzt werden; aber man müßte nichts daran schneiden und streichen, sondern es so machen: man müßte den Inhalt jeder Scene in sich aufnehmen und ihn blos kürzer wiedergeben. Dadurch würde das Stück zusammengehen, ohne [142] daß man ihm durch Änderungen schadete, und es würde an kräftiger Wirkung durchaus gewinnen, ohne im wesentlichen von seinem Schönen etwas einzubüßen.«

Diese Äußerung Goethes gab mir eine neue Ansicht, wie man beim Theater in hundert ähnlichen Fällen zu verfahren habe, und ich war über diese Maxime, die freilich einen guten Kopf, ja einen Poeten voraussetzt, der seine Sache versteht, höchst erfreut.

Wir sprachen über Lord Byron weiter, und ich erwähnte, wie er in seinen Conversationen mit Medwin es als etwas höchst Schwieriges und Undankbares ausgesprochen habe, für das Theater zu schreiben. »Es kommt darauf an,« sagte Goethe, »daß der Dichter die Bahn zu treffen wisse, die der Geschmack und das Interesse des Publicums genommen hat. Fällt die Richtung des Talents mit der des Publicums zusammen, so ist alles gewonnen. Diese Bahn hat Houwald mit seinem ›Bilde‹ getroffen, daher der allgemeine Beifall. Lord Byron wäre vielleicht nicht so glücklich gewesen, insofern seine Richtungen von der des Publicums abwichen. Denn es fragt sich hierbei keineswegs, wie groß der Poet sei; vielmehr kann ein solcher, der mit seiner Persönlichkeit aus dem allgemeinen Publicum wenig hervorragt, oft eben dadurch die allgemeinste Gunst gewinnen.«

Wir setzten das Gespräch über Lord Byron fort, und Goethe bewunderte sein außerordentliches Talent. [143] »Dasjenige, was ich die Erfindung nenne,« sagte er, »ist mir bei keinem Menschen in der Welt größer vorgekommen als bei ihm. Die Art und Weise, wie er einen dramatischen Knoten löst, ist stets über alle Erwartung und immer besser als man es sich dachte.« – »Mir geht es mit Shakespeare so,« erwiederte ich, »namentlich mit dem Falstaff, wenn er sich festgelogen hat und ich mich frage, was ich ihn thun lassen würde, um sich wieder loszuhelfen, wo denn freilich Shakespeare alle meine Gedanken bei weitem übertrifft. Daß aber Sie ein Gleiches von Lord Byron sagen, ist wohl das höchste Lob, das diesem zu theil werden kann. Jedoch,« fügte ich hinzu, »steht der Poet, der Anfang und Ende klar übersieht, gegen den befangenen Leser bei weitem im Vortheil.«

Goethe gab mir recht und lachte dann über Lord Byron, daß er, der sich im Leben nie gefügt und der nie nach einem Gesetz gefragt, sich endlich dem dümmsten Gesetz der drei Einheiten unterworfen habe. »Er hat den Grund dieses Gesetzes so wenig verstanden,« sagte er, »als die übrige Welt. Das Faßliche ist der Grund, und die drei Einheiten sind nur insofern gut, als dieses durch sie erreicht wird. Sind sie aber dem Faßlichen hinderlich, so ist es immer unverständig, sie als Gesetz betrachten und befolgen zu wollen. Selbst die Griechen, von denen diese Regel ausging, haben sie nicht immer befolgt; im ›Phaëthon‹ des Euripides und in andern Stücken wechselt der Ort, und man sieht also, daß die [144] gute Darstellung ihres Gegenstandes ihnen mehr galt als der blinde Respect vor einem Gesetz, das an sich nie viel zu bedeuten hatte. Die Shakespeare'schen Stücke gehen über die Einheit der Zeit und des Orts so weit hinaus als nur möglich; aber sie sind faßlich, es ist nichts faßlicher als sie, und deshalb würden auch die Griechen sie untadelig finden. Die französischen Dichter haben dem Gesetz der drei Einheiten am strengsten Folge zu leisten gesucht, aber sie sündigen gegen das Faßliche, indem sie ein dramatisches Gesetz nicht dramatisch lösen, sondern durch Erzählung.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – -

Goethe fuhr über Lord Byron zu reden fort. »Seinem stets ins Unbegrenzte strebenden Naturell,« sagte er, »steht jedoch die Einschränkung, die er sich durch Beobachtung der drei Einheiten auflegte, sehr wohl. Hätte er sich doch auch im Sittlichen so zu begrenzen gewußt! Daß er dieses nicht konnte, war sein Verderben, und es läßt sich sehr wohl sagen, daß er an seiner Zügellosigkeit zu Grunde gegangen ist.

Er war gar zu dunkel über sich selbst. Er lebte immer leidenschaftlich in den Tag hin und wußte und bedachte nicht, was er that. Sich selber alles erlaubend und an andern nichts billigend, mußte er es mit sich selbst verderben und die Welt gegen sich aufregen. Mit seinen ›English Bards and Scotch Reviewers‹ verletzte [145] er gleich anfänglich die vorzüglichsten Literatoren. Um nachher nur zu leben, mußte er einen Schritt zurücktreten. In seinen folgenden Werken ging er in Opposition und Mißbilligung fort; Staat und Kirche blieben nicht unangetastet. Dieses rücksichtslose Hinwirken trieb ihn aus England und hätte ihn mit der Zeit auch aus Europa getrieben. Es war ihm überall zu enge, und bei der grenzenlosesten persönlichen Freiheit fühlte er sich beklommen; die Welt war ihm ein Gefängniß. Sein Gehen nach Griechenland war kein freiwilliger Entschluß, sein Mißverhältniß mit der Welt trieb ihn dazu. Daß er sich vom Herkömmlichen, Patriotischen lossagte, hat nicht allein einen so vorzüglichen Menschen persönlich zu Grunde gerichtet, sondern sein revolutionärer Sinn und die damit verbundene beständige Agitation des Gemüths hat auch sein Talent nicht zur gehörigen Entwickelung kommen lassen. Auch ist die ewige Opposition und Mißbilligung seinen vortrefflichen Werken selbst, so wie sie daliegen, höchst schädlich. Denn nicht allein daß das Unbehagen des Dichters sich dem Leser mittheilt, sondern auch alles opponirende Wirken geht auf das Negative hinaus, und das Negative ist nichts. Wenn ich das Schlechte schlecht nenne, was ist da viel gewonnen? Nenne ich aber gar das Gute schlecht, so ist viel geschadet. Wer recht wirken will, muß nie schelten, sich um das Verkehrte gar nicht bekümmern, sondern nur immer das Gute thun. Denn es kommt nicht darauf an, daß eingerissen, sondern daß [146] etwas aufgebaut werde, woran die Menschheit reine Freude empfinde.«

Ich erquickte mich an diesen herrlichen Worten und freute mich der köstlichen Maxime.

»Lord Byron,« fuhr Goethe fort, »ist zu betrachten: als Mensch, als Engländer, und als großes Talent. Seine guten Eigenschaften sind vorzüglich vom Menschen herzuleiten; seine schlimmen, daß er ein Engländer und ein Peer von England war; und sein Talent ist incommensurabel.

Alle Engländer sind als solche ohne eigentliche Reflexion; die Zerstreuung und der Parteigeist lassen sie zu keiner ruhigen Ausbildung kommen. Aber sie sind groß als praktische Menschen.

So konnte Lord Byron nie zum Nachdenken über sich selbst gelangen; deswegen auch seine Reflexionen überhaupt ihm nicht gelingen wollen, wie sein Symbolum: Viel Geld und keine Obrigkeit! beweist, weil durchaus vieles Geld die Obrigkeit paralysirt.

Aber alles, was er produciren mag, gelingt ihm, und man kann wirklich sagen, daß sich bei ihm die Inspiration an die Stelle der Reflexion setzt. Er mußte immer dichten, und da war denn alles, was vom Menschen, besonders vom Herzen ausging, vortrefflich. Zu seinen Sachen kam er wie die Weiber zu schönen Kindern: sie denken nicht daran und wissen nicht wie.

Er ist ein großes Talent, ein geborenes, und die [147] eigentlich poetische Kraft ist mir bei niemand größer vorgekommen als bei ihm. In Auffassung des Äußern und klarem Durchblick vergangener Zustände ist er ebenso groß als Shakespeare. Aber Shakespeare ist als reines Individuum überwiegend. Dieses fühlte Byron sehr wohl, deshalb spricht er vom Shakespeare nicht viel, obgleich er ganze Stellen von ihm auswendig weiß. Er hätte ihn gern verleugnet; denn Shake speare's Heiterkeit ist ihm im Wege: er fühlt, daß er nicht dagegen aufkann. Pope verleugnet er nicht, weil er ihn nicht zu fürchten hatte. Er nennt und achtet ihn vielmehr wo er kann; denn er weiß sehr wohl, daß Pope nur eine Wand gegen ihn ist«

Goethe schien über Byron unerschöpflich, und ich konnte nicht satt werden ihm zuzuhören. Nach einigen kleinen Zwischengesprächen fuhr er fort:

»Der hohe Stand als englischer Peer war Byron sehr nachtheilig; denn jedes Talent ist durch die Außenwelt genirt, geschweige eins bei so hoher Geburt und so großem Vermögen. Ein gewisser mittler Zustand ist dem Talent bei weitem zuträglicher, weshalb wir denn auch alle großen Künstler und Poeten in den mittlern Ständen finden. Byron's Hang zum Unbegrenzten hätte ihm bei einer geringern Geburt und niederm Vermögen bei weitem nicht so gefährlich werden können; so aber stand es in seiner Macht, jede Anwandlung in Ausführung zu bringen, und das verstrickte ihn in unzählige Händel. Und wie sollte [148] ferner dem, der selbst aus so hohem Stande war, irgend ein Stand imponiren und Rücksicht einflößen? Er sprach aus, was sich in ihm regte, und das brachte ihn mit der Welt in einen unauflöslichen Conflict.

Man bemerkt mit Verwunderung,« fuhr Goethe fort, »welcher große Theil des Lebens eines vornehmen reichen Engländers in Entführungen und Duellen zugebracht wird. Lord Byron erzählt selbst, daß sein Vater drei Frauen entführt habe. Da sei einer einmal ein vernünftiger Sohn!

Er lebte eigentlich immer im Naturzustande, und bei seiner Art zu sein mußte ihm täglich das Bedürfniß der Nothwehr vorschweben. Deßwegen sein ewiges Pistolenschießen. Er mußte jeden Augenblick erwarten, herausgefordert zu werden.

Er konnte nicht allein leben. Deßwegen war er trotz aller seiner Wunderlichkeiten gegen seine Gesellschaft höchst nachsichtig. Er las das herrliche Gedicht über den Tod des Generals Moore einen Abend vor, und seine edeln Freunde wissen nicht, was sie daraus machen sollen. Das rührt ihn nicht, und er steckt es wieder ein. Als Poet beweist er sich wirklich wie ein Lamm. Ein anderer hätte sie dem Teufel übergeben!«

[149]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1825. 1825, 24. Februar. Mit Johann Peter Eckermann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A516-F