1813, Juli (?)


Mit Stephan Schütze

Da ich gleich nach meiner Ankunft in Teplitz erfuhr, daß sich Goethe dort befinde, unterließ ich nicht, zu ihm [88] zu gehen. – Am andern Tage saß ich mit ihm im Wagen; wir fuhren nach Bilin zu. Ich wußte schon, daß bei ihm, wie die Gegenstände, auch die Stimmungen wechseln; eins bedingt das andere. Heute hatte er seinen Sinn auf das Steinreich gerichtet. Bei Karlsbad kletterte er oft stundenlang in den Bergen umher und schlug mit seinem Hammer an alle Felsen, von wo er gewöhnlich eine reiche Beute mit zurückbrachte, die er dann nach den kleinsten Abartungen und Verschiedenheiten in die Reihe der übrigen auf dem Tische umherliegenden Steine einschichtete, bei welcher Gelegenheit ich denn einmal aufrief: O, daß das menschliche Leben so kurz ist! – »Lassen Sie das gut sein!« erwiderte er.

Jetzt war er um vulkanische Steine bemüht, und als wir die Straße weit genug hinauf waren, ließ er halten und sagte: »Wenn ich heute einen Eisenstengel finde, sollt Ihr einen guten Tag haben.« Darauf ging er mit dem Kutscher und dem Hammer nach einem Orte, wo viele Steine lagen und hämmerte da gewaltig. Er kam nicht ganz befriedigt zurück, hatte jedoch manches erbeutet, das in sein Cabinet paßte. – Nachher wurde das Gespräch lebhafter und wissenschaftlicher. Ich betrachtete mit ihm die Kindheit des Menschengeschlechts in der hebräischen Sprache, deren Fügung und Behelf in den Mitteln mit Hinsicht auf die falschen Auslegungen seinen Geist nicht wenig befriedigte. Darauf ging er zu den Manichäern über, auf die wunderbare [89] Erscheinung der christlichen Religion überhaupt, auf ihre Verbreitung, und endlich auf Luther's Bibelübersetzung. Ich bemerkte, daß Einfachheit in Sprache und Gesinnung damals Luthern selbst wohl Ähnlichkeit mit den Aposteln und dem biblischen Geiste gegeben und dadurch eine solche Verdeutschung möglich gemacht hätte. Da fing er an, Luthers Riesenwerk anzustaunen und zu bewundern, und merkwürdig war mir seine Äußerung: »Nur das Zarte unterstehe ich mich hin und wieder besser zu machen.«

Das nächste Mal war auf der Spazierfahrt sein Sinn auf die Pflanzenwelt gerichtet. Er ergötzte sich an der Lieblichkeit der mit Bäumen bepflanzten Kornfluren im Angesicht des Erzgebirges, auf das er gar nicht zu achten schien. – Das Gespräch kam nach manchen Wendungen auf die Überschwenglichen, die durch Tendenzen immer höher und höher steigen wollen und, statt den Gegenstand darzustellen, ihn und ihre eigne Kraft überflögen. Hier gerieth Goethe in solchen Eifer, daß er sich der stärksten Ausdrücke bediente, sodaß selbst der Kutscher sich öfters nach ihm umsah. Er schalt sie Träumer und Schwindler, und als ich äußerte, daß ihrer Poesie der Körper fehle, sagte er: »Da haben Sie das rechte Wort getroffen. Zum Henker, wir wissen denn doch auch, was dazugehört!« setzte er im gerechten Zorn hinzu und ergoß sich nun auch über die Unredlichen, die bei ihren Behauptungen noch besonders von politischen Rücksichten sich bewegen ließen, und die [90] nicht einmal Parteiisch ehrlich wären. – »Fahre noch weiter, bis die Sonne untergeht!« rief Goethe seinem Kutscher zu, und so wurden mir denn die genußreichsten Stunden zutheil.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1813. 1813, Juli (?) Mit Stephan Schütze. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A4FF-D