1814, September.


Mit Philippine Lade

Freundlich und bereitwillig erzählte mir [Maria Belli-Gontard] am 26. Juni 1820 Fräulein Philippine Lade selbst folgendes über ihre Bekanntschaft mit dem großen Dichter. Sie war zu Besuch bei den beide Töchtern des Bergraths Cramer in Wiesbaden und die drei jungen Mädchen allein im Zimmer, scherzend und plaudernd. Plötzlich geht die Thüre des Nebenzimmers auf und in derselben steht ein schöner alter Herr. »Ei!« sprach er – »das ist ja eine hübsche junge Gesellschaft; es war da eine Stimme, die mich anzog.« – Darauf erkundigte er sich bei der einen der beiden Schwestern, ob sie sänge, und auf ihre bejahende Antwort ersuchte er sie um ein Lied. Auch die zweite mußte singen, Fräulein Lade aber antwortete, daß sie nicht musikalisch sei. »Das ist die Stimme!« rief Goethe sogleich nach diesen Worten und dann fragte er: »Kennen Sie die Werke Goethes?« – »Nein« antwortete sie; »die ziehen mich nicht an.« – »So! [138] Welchen Schriftsteller lieben Sie denn besonders?« – »Schiller!« rief Fräulein Lade; »den liebe ich über alles. Ich kann das Meiste von ihm auswendig.« – »Hoho!« meinte Goethe; »dann declamiren Sie mir einmal etwas – z.B. den Anfang der ›Braut von Messina‹.« Fräulein Lade erröthete betroffen, begann aber »Nicht eigne Wahl« – und sprach den ganzen Monolog ohne Anstoß. Goethe klatschte Beifall und bat sie dann noch um den »Taucher«.

Nachdem sie auch die Ballade gesprochen, bemerkte Goethe: ihre Bewegungen mit den Armen seien zu heftig gewesen, bei einer Ballade passe sich das nicht. Sie mußte wiederholen und dabei eine Stuhllehne festhalten; bei den Hauptscenen jedoch wackelte der Stuhl gewaltig.

An dem Tage mußte Fräulein Lade stets an Goethes Seite bleiben und bei Tische neben ihm sitzen, wodurch sie natürlich, obwohl noch im Alter des Backfisch, ein Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit wurde.

Goethe beschäftigte sich von da an viel mit Fräulein Lade. Es war im Jahre 1814; er gebrauchte die Cur in Wiesbaden und hatte seinen eigenen Wagen bei sich. Täglich fuhr er mit ihr spazieren und nahm sie mit ins Theater. Dann mußte sie ihm ihre Meinung sagen, wenn ihr etwas gefiel oder mißfiel, und weshalb, wobei Goethe es sich dann angelegen sein ließ, ihren Geschmack zu läutern und zu bilden. Natürlich gewann er dadurch an dem jungen Mädchen eine enthusiastische [139] Verehrerin. – Auf einer Landpartie nach Jörgenborn bei Schlangenbad mußte Fräulein Lade wieder neben ihm im Wagen sitzen, und da sie später eine Skizze nach der Natur machte, wünschte er diese zu sehen und fing an zu kritisiren. »Ach! Sie können alles besser machen, als ich!« rief Fräulein Lade, nahm ihm das Blatt aus der Hand und zerriß es, wahrscheinlich ein wenig gereizt. »Aber eins kann ich, was Sie nicht können!« und damit lief Sie rasch einen steilen Weinberg hinan – Goethe ihr nach. Auf der Höhe aber stolperte er und fiel an dem steilen Abhang zu Boden. Mit beiden Händen klammerte er sich an, bis auf des jungen Mädchens Geschrei einige Herren von der Gesellschaft herbeieilten und ihn aus seiner gefährlichen Lage befreiten. Fräulein Lade zerfloß in Thränen, Goethe aber lachte und suchte sie zu beruhigen.

Beim Abschied nahm Goethe dem Secretär Lade das Versprechen ab; ihn mit seiner Tochter in Weimar zu besuchen. Fräulein Lade hat Goethe nicht wiedergesehen.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1814. 1814, September. Mit Philippine Lade. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A3ED-C