1815, 3. October.


Mit Sulpiz Boisserée

Dienstag morgens um sechs Uhr fuhr ich mit Goethe nach Karlsruhe. Goethe fing gleich damit an, er habe dem Domriß was abgesehen. Der Domriß habe ihm ganz neue Aufschlüsse über die Architektur gegeben. Er habe nie mit dieser Kunst recht fertig werden können. Mit den Farben sei es ihm auch so gegangen, bis er sie in physiologische, physische und chemische eingetheilt habe; jetzt hoffe er, mit der Architektur auch fertig zu werden; nur das Verhältniß zur Natur sei ihm noch nicht recht klar. Ich sprach meine Meinung aus, daß Naturnachahmung zu Grunde liege, aber nicht gerade unmittelbare, daß alle größere Architektur von den Höhlen [246] ausgegangen, daß zu unterscheiden sei zwischen häuslicher und heiliger Architektur, zwischen Architektur des Bedürfnisses und der einer höhern Bestimmung. Goethe sagte, er begreife jetzt erst recht, warum ich den Dom von Köln so vorgezogen, da sehe er, wie alles Andere dagegen verschwinde, er finde Princip darin und mit der größten Consequenz durchgeführt. Ich frage vergebens, daß er es ausspreche. Es sei noch nicht Zeit, ich würde es schon erfahren. Ich äußerte, daß ich sehr begierig darauf sei, und ob es mit dem zusammen stimmte, was ich darüber dächte; verschweige aber auch mein Geheimniß, so sehr ich mich auch gedrungen fühlte, es ihm zu offenbaren. Doch ein Schweigen gebiert das andere. Er sagte, er habe den Herzog in Mannheim, im Hinblick auf den Dom, schön damit geschoren, bei den englischen Werken. Ich sprach von des Herzogs Anlage eines gothischen Orangeriehauses, und was mir der Baumeister Stieler dabei von des Herzogs eigener Erfindung gesagt; so kamen wir auf den Herzog und zur Rekapitulation der letzten Tage, wie sich alles gedrängt, daß der Herzog durchaus auf dieser Reise nach Karlsruhe bestanden habe. Dann kamen wir auf die Willemers. Er lobte die Frauen und bedauerte, daß Willemer mit seinem strebenden, unruhigen Geist sich nicht auf ein bestimmtes Fach, auf eine Liebhaberei geworfen habe. Die Verhältnisse mit Frauen allein können doch das Leben nicht ausfüllen, und führen zu gar zu viel Verwicklungen, Qualen [247] und Leiden, die uns aufreiben, oder zur vollkommenen Leere. Doch sehr zu rühmen und zu ehren sei die Macht des sittlichen Princips bei diesem Mann, dieses allein habe ihn in der Höhe gehalten, in der Verwirrung von Verhältnissen, in die er sich gestürzt. So ist die Rettung der kleinen, liebenswürdigen Frau ein großes sittliches Gut. Wenn die Menschen bei so viel Verirrung edel bleiben und gut, so müssen wir uns schon Herbigkeit und Schroffigkeit gefallen lassen. Es ist ein Wunder, daß Willemer nach allem, was er getrieben und erlebt, noch ein solcher Mann ist und solch ein Haus hat. Gegen die gewöhnlichen, ja gemeinen kaufmännischen und Geldverhältnisse kämpfte sein unbezwingbares, edleres Wesen.

Alte Erinnerungen: wie oft Goethe den Pfad durch die Gerbermühle gegangen nach Offenbach zur Schönemann. Liebesgeschichte. Seine Lieder an Lilli. Braut und Bräutigam. Wie sie allmählich von einander entfernt worden durch einen Dritten, ohne es selbst zu wissen. Religionsverhältnisse waren erster Anlaß, sie ist reformirt, er lutherisch. Sie sind unglücklich, wie die Kinder, die ein Leid haben, und es sich wechselseitig klagen und nicht wissen warum. Dorville, ein Pfarrer, ist im Spiel. Sie hat ihm den größten Theil ihrer höhern Bildung zu danken. Vorher Gleichgültigkeit gegen die Welt, wie es sich bei Mädchen in einem reichen Kaufmannshaus, die alle Tage von Gesellschaft umgeben sind von frühester Jugend her, leicht einfinden [248] muß, wenn sie nicht selbst flach und leer sind. – Er spricht von seiner Verlegenheit wegen dieser Geliebten, die Lebensbeschreibung fortzusetzen; ich suche sie ihm auszureden. Vor vierzig Jahren reiste er auch nach Karlsruhe; er werde da Jung Stilling wieder sehen, dem er seitdem nicht begegnete. Die Schönemann müßte auch da sein. – Lebensbeschreibung, Composition. – Ich erinnere an sein Gedicht von der Schöpfung, das er dieser Tage gemacht hat, worin nur ein Gedanke verkehrt war, und die ganze Composition gestört und verdorben hat. Er fand's nachher und warf ihn heraus. Er hatte mir versprochen, dies als ein merkwürdiges Beispiel ausführlich vorzulegen, wie es bei der Composition oft auf ein einzelnes Wort ankomme. Doch nun wollte er den falschen Vers nicht sagen, sondern hielt sich im Allgemeinen. Das Gedicht ist sehr dunkel und metaphysisch. Nach der Handlung der Schöpfung fühlt sich Gott zum erstenmal einsam! – Dies gibt mir dann Anlaß von seinen Naturansichten zu reden, und von seinem Vorhaben ein Naturgedicht zu schreiben. Er verwirft es jetzt. Man ist zu sehr gebunden. Besser einzelne Gedanken, wie die Gedichte des Divan, die man nachher in ein Ganzes ordnet. Ich muntere ihn dazu auf. Er geht darauf ein, und sagt: »Ja, einen Anlaß muß man doch zu Allem haben, und so wollen wir von Heidelberg gleich zwei Buch Baseler Papier mitnehmen, darauf schreibe ich so gerne, die lassen wir in einzelne Blätter schneiden.« Ich bitte [249] mir aus, sie ihm schenken zu dürfen. Er erzählt mir von seiner philosophischen Entwicklung. Philosophisches Denken; ohne eigentliches philosophisches System. Spinoza hat zuerst großen und immer bleibenden Einfluß auf ihn geübt. Dann Baco's kleines Traktätchen, de Idolis; Eidôleis, von den Trugbildern und Gespenstern. Aller Irrthum in der Welt komme von solchenEidôleis (ich glaube, er nimmt deren zwölf hauptsächliche an). Diese Ansicht half Goethe sehr, sagte ihm ganz besonders zu. Überall suchte er nun nach dem Eidolon, wenn er irgend Widersprüche fand, oder Verstockung der Menschen gegen die Wahrheit, und immer war ein Eidol da. War ihm etwas widerwärtig, stieß man gegen die allgemeine Meinung, so dachte er bald, das wird wieder ein Eidol sein, und kümmerte sich nicht weiter. So reiste er nach Italien; da besonders wurde er immer von philosophischen Gedanken verfolgt, und kam er auf die Idee der Metamorphose. Als er nachher Schiller in Jena sah, theilte er ihm diese Ansicht der Dinge mit, da rief Schiller gleich: Ei, das ist eine Idee! Goethe mit seiner naiven Sinnlichkeit sagte immer, ich weiß nicht, was eine Idee ist, ich sehe es wirklich in allen Pflanzen u.s.w. Nun wollte er sich doch auch mit der Sprache und dem System dieser Männer bekannt machen, so kam er durch Schiller an die Kantische Philosophie, die er sich von Reinhold in Privatstunden vortragen ließ u.s.w.

Ich erzählte dagegen von unserer philosophischen[250] Bildung, überhaupt von unserer Bildung durch Schlegel; unsere Geschichte wieder von einer andern Seite, von der literarischen. Von der Architektur; meine Ansicht der Geschichte der christlichen Architektur von den ältesten Zeiten. Mosaik. Liturgie etc. etc. Dann breche ich ab oder bleibe stehen, weil ich mein Geheimniß nicht verrathen will, sondern verspreche nur, daß es sich schön und sehr einfach machen wird. So sind wir dann an den Wünschen für die Zukunft angelangt. Goethe meint, von Frankfurt aus müsse man immer den Rhein auf- und abwärts fahren und so sein Wesen treiben.

Wir kamen nach Karlsruhe. Mittags-Essen auf dem Zimmer. Vertraulichkeiten. Unwillkürliche Eröffnung von einem Herzensverhältniß von meiner Seite. Nachher gehen wir zum alten Jung Stilling; werden von der Frau nicht erkannt, und von ihm kalt aufgenommen. Er muß morgen mit Elberfeldern nach Baden fahren. Anstalten zum Thee sind gemacht, wir werden nur von der Frau dazu eingeladen, diese ist nun die theilnehmendere. Er stichelt auf den Geheimerath. Goethe auf den Bischof; der Alte wirft sein schwarzes Käppchen weg, Goethe zwingt's ihm wieder auf. Dann müssen wir in die Studierstube, wo noch alle Geburtstagskränze und Geschenke: kleine schlechte Zeichnungen, Kupferstiche, Porträte von Minister Stein, Kaiser Alexander, Lavater u.s.w., alles durcheinander lag. Goethe, der so herzlich und jugendlich wie möglich, war [251] tief gekränkt durch diesen Empfang; am meisten aber durch die Äußerung Jungs: »Ei, die Vorsehung führt uns schon wieder zusammen!«

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1815. 1815, 3. October. Mit Sulpiz Boisserée. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A355-2