1824, 8. März.


Mit Friedrich von Müller
und Friedrich Wilhelm Riemer

Ich traf ihn um 4 Uhr ganz alleine und sehr gemüthlich. Zuerst zeigte er mir sein neu zusammengebrachtes Münzcabinet ephemerer und erloschener Souverainetäten, Iturbidens Wappen mit einem Adler auf dem Cactus, schöne kleine Münzen von Columbia.

Das Gespräch fiel auf Selbstkenntniß. »Ich behaupte, der Mensch kann sich nie selbst kennen lernen, sich nie rein als Object betrachten. Andre kennen mich besser als ich mich selbst. Nur meine Bezüge zur Außenwelt kann ich kennen und richtig würdigen lernen, darauf sollte man sich beschränken. Mit allem Streben nach Selbstkenntniß, das die Priester, das die Moral uns predigen, kommen wir nicht weiter im Leben, gelangen weder zu Resultaten noch zu wahrer innerer Besserung. Doch will ich diese Ansicht nicht eben für ein [47] Evangelium ausgeben. Was sind travers? Falsche Stellungen zur Außenwelt. Wer hat sie nicht? Jede Lebensstufe hat die ihr eignen.«

Riemer kam späterhin zu uns. Ich erzählte, Schmidt sei von Mad. Milder höchsteingenommen, sie übersteige Alles, was seine Phantasie sich von einer vollkommenen Sängerin gedacht.

»Ganz natürlich«, sagte Goethe; »denn die Phantasie kann sich nie eine Vortrefflichkeit so vollkommen denken, als sie im Individuum wirklich erscheint. Nur vager, neblicht, unbestimmter, grenzenloser denkt sie sich die Phantasie. Aber niemals in der characteristischen Vollständigkeit der Wirklichkeit. Es erregt mir daher immer Schmerz, wenn man ein wirkliches Kunst- oder Naturgebilde mit der Vorstellung vergleicht, die man sich davon gemacht hatte, und dadurch sich den reinen Genuß des erstern verkümmert. Vermag doch unsere Einbildungskraft nicht einmal das Bild eines wirklich gesehenen, schönen Gegenstandes getreu wiederzugeben; immer wird die Vorstellung etwas Neblichtes, Verschwimmendes enthalten.«

Auf meine Klage, daß diese Beschränkung unsrer Natur uns so viel Herrliches entziehe, erwiderte er: »Ei, das ist ja ein Glück, was würden wir anfangen, wenn alle die unzähligen Empfindungen, die uns z.B. ein Hummel'sches Spiel giebt, uns fortwährend blieben? dann würden ja auch die vergangenen Schmerzen immerfort uns peinigen. Seien wir froh, daß für das Gute, [48] Angenehme doch immer noch ziemlich viele Reproductionskraft in uns wohnt.«

Das Gespräch fiel wieder auf Alonzo, dessen Pietät und milde Religiosität, ohne Frömmelei, er ungemein hervorhob. Der Frau v. Helvig neueste Übersetzung schwedischer Gedichte fand ebenfalls seinen großen Beifall, und dann ward Byron's ›Kain‹ und ›Sündfluth‹ abermals analysirt. »Ich begreife recht, wie ein so großes Genie sich nach so vielen herrlichen Productionen überall ennuyiren konnte und daher die griechischen Angelegenheiten nur als einen neuen Zeitvertreib leidenschaftlich ergriff.«

Zugleich bat er mich, ihm einen Artikel aus dem Moniteur über ›Kain‹ zu übersetzen, um seine eignen Äußerungen über dieses Werk in Kunst und Alterthum »zu retouchiren«. »So oft die Franzosen,« setzte er hinzu, »ihre Philisterei aufgeben und wo sie es thun, stehen sie weit über uns im kritischen Urtheil und in der Auffassung origineller Geisteswerke. Interessant ist alles, was uns interessirt.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1824. 1824, 8. März. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A276-F