1815, 11. August.


Mit Sulpiz Boisserée

Freitag den 11. morgens sechs Uhr sind wir nach Mainz gefahren. Wir sahen auf der Höhe des Rheingau bis Bingen. Goethe: »Was muß das für eine Gewalt gewesen sein, was muß eine Zeit dazu gehört haben, ehe nur das Wasser da zum Durchbruch gekommen; das hat da gewiß lang als See gestanden, wie der Bodensee. Und nicht allein die Berge haben gehindert, sondern auch das Meer, ehe seine Gewässer abgenommen.« Wir kamen nun so auf das Allgemeine, die italienischen Gebirge, die griechischen, die palästinischen, alles ist Kalkgebirge, bis im Sinai wieder der Granit erscheint. Ich fragte nach einem Buch, das eine Übersicht der Gebirgsbildung auf der ganzen Erde gibt, und ob Ebel es gäbe? Ja gewissermaßen, auf jeden Fall lerne man viel, es sei ein trefflich Buch; doch fehle etwas, welches auf eine seltsame Weise entstehe und häufig vorkomme. Der Mann suche nämlich etwas zu erklären, was sich nicht erklären lasse, was man zugeben müsse; bis auf den Punkt sei er ganz charmant, aber durch dies falsche Bemühen verderbe er [209] seine Sache. Es sei damit wie bei der Musik, wo man nie eine reine Oktave kriege, sondern in der zweiten immer ein neuer Ton sich bilde, ein neunter Theil, den man nicht als einen für sich stehenden annehmen könne, darum als Bruch in die ganze vertheile. Dieser Bruch sei es, der einem überall in der Geologie und in der ganzen Natur begegne. Wolle man ihn rein auflösen, so gehe es nicht, so verwirre man das Ganze, man müsse wissen, daß da noch etwas Unauflösbares sei, und es als solches zugeben, dann komme man durch.

Dann erzählte er mir von Butte's Zahlenlehre. Herr Butte (derselbe, den die französischen Blätter zum Besten gehabt), war in Wiesbaden am letzten Tag bei ihm gewesen, und hatte ihm sein Weltsystem erklärt. Er sagte: wenn man einmal solch Spiel zugäbe, und zugeben müsse man es doch, so sei das äußerst scharfsinnig und hübsch, unter anderem besonders die Verrückung der Klimate merkwürdig; sie folgten nicht den Zonen, die unsere Mathematik beschrieben, sondern biegen sich ein u.s.w. Die Durchführung ins Einzelne gefiel ihm sehr, nur klagte er, daß der Mann etwas cynisches habe; daß er nicht einmal ein reinliches Manuscript und Karten, sondern beides beschmutzt und befleckt bei sich führe.

Nach acht Uhr sind wir in Mainz in den drei Reichskronen. Unser erster Gang war zu Professor Lehne; er zeigte uns seine Gemäldesammlung. Er [210] besitzt auch römische Alterthümer, schön und klar geordnet, innerer Zusammenhang; das meiste Grabsteine von Kriegsleuten aus den verschiedensten Theilen von Europa. Die römische Herrschaft wirkte hier ganz auf dieselbe Weise, wie die französische.

Goethes Vorliebe für das Römische wurde später ausgesprochen; er habe gewiß schon einmal unter Hadrian gelebt. Alles Römische ziehe ihn unwillkürlich an. Dieser große Verstand, diese Ordnung in allen Dingen, sage ihm zu, das griechische nicht so. Ich sei gewiß auch schon einmal da gewesen im 15. Jahrhundert. Ich lehne es ab und spaße über diesen Wahn, wenigstens müsse es noch früher gewesen sein. Doch sei mir der Gedanke nicht neu, ich habe schon Wallraf im Jahr 1811, als die Helwig in Köln gewesen, damit aufgezogen, daß seine Verliebtheiten in die Stadt und in die Agrippina die Folgen einer alten Liebschaft zu dieser Kaiserin sein müßten, die jetzt auch der Seelenwanderung unbewußt in ihm wieder erwache. Endlich sei mir über mich selbst schon dergleichen Wahn durch den Kopf gefahren, als ich im vorigen Sommer die Geburtsstadt von Eyck besucht und zugleich die meines Vaters, nur zwei Stunden davon. Die Großmutter väterlicher Seite und der Großonkel stammen von Tongern, die Großmutter mütterlicher Seite von Köln; wer könne wissen was da für Blutsverwandtschaft und Zusammenhang mit Meister Eyck und dem Baumeister des Doms sich denken ließe! Ich schäme mich aber [211] dessen, als närrischer, abergläubischer Einbildung, und hätte es noch keinem erzählt; aber als eine Schwachheit gestehe ich es gern und lasse es gelten. »Ja nun,« sagte Goethe, »lobe ich Euch; Ihr seid gescheidter als Ihr wißt. So hat doch Eure Sache Fug und Schick, und durch die Zuziehung der Ahnen kommt es immer noch besser ins klare.« Ich neckte ihn darüber und wir lachten fröhlich über dies geheime Gespräch, das wir am Tisch führten. Professor Lehne holte uns ab in die Gemäldesammlung des Grafen Kesselstädt und zu Kaufmann Memminger, wo wir schöne Rheinlandschaften von Kaspar Schneider sahen. Nachher gingen wir in den Dom, der halb mit Brettern verschlagen war, worin Getreide lag.

Nach Tisch spazierten wir nach Zahlbach, der Grabstätte römischer Krieger, wo über dreißig Gräber an einen Hügel angelehnt gefunden wurden, hinter jedem der Aschenkrug. In Zahlbach kehrten wir in einem Weingarten ein. Professor Lehne hielt mir vor, daß es nichts sei mit der gothischen Architektur, daß sie nur die Frucht der verfallenen römischen und griechischen sei. Er sprach überlaut, weil er taub ist, gerade darum hörte ich es geduldig und ruhig an. Preußische Officiere saßen in der nächsten Laube. Goethe hatte seine Freude über den Spaß. Auf dem Rückweg fanden wir eine schlecht gebaute Kirche im Dorfe, ganz neu im byzantinischen Geschmack, von einem französischen Ingenieur; das machte sich nun gut, neben der römischen Wasserleitung [212] und zu dem Gespräch im Weingarten; Goethe neckte mich damit.

Nachher machte ich mit Goethe noch einen Spaziergang die Bleiche herab, nach Hause. Ich erzählte ihm von unserem ersten Bild, von der Großmutter, wie sie allein Freude daran gehabt; von Schlegel und allen ersten Geschichten der Sammlung; antwortete aus seine Frage, warum wir zuerst nach Heidelberg gegangen und erzählte von meiner Reise im Jahre 1808. Vor Schlafengehen betrachteten wir noch leuchtendes Holz, das Goethe aus Wiesbaden mitgebracht hatte.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1815. 1815, 11. August. Mit Sulpiz Boisserée. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A20F-8