1786, 24. Juli.


Mit Siegismund Gottfried Dietmar

Als ich – noch Candidat – im Jahre 1786 vom Hofrath Wieland dem damaligen Herzog Carl August im Stern – so heißt ein Theil des herzoglichen [79] Gartens – vorgestellt wurde, sah ich unter den ihn umgebenden Gelehrten auch Goethe. Er unterhielt sich eben mit einem Offizier und ich hatte nicht Gelegenheit, mich ihm zu nähern.

Nach meiner Rückkunft von Schnepfenthal stattete ich, an demselben Orte im erwähnten Garten, den Bericht über das Erziehungsinstitut dem Herzog von Weimar ab, wie er es verlangt hatte, und beim Abtreten äußerte ich mein Bedauern gegen Musäus, den berühmten Goethe nicht gesprochen zu haben.

»Das können Sie noch verbessern,« meinte Musäus. »Wenn Sie jetzt Nachmittags gegen sechs Uhr zu ihm gehen, will ich Sie begleiten.« Dieses Anerbieten nahm ich dankend an. »Melden Sie sich nur als der Studiosus, den er im Stern, vor acht Tagen, zuerst auf der Linde 1 gesehen hätte, dann nimmt er Sie gewiß an. Wir haben Ihre damalige Standeserhöhung herzlich belacht.« Unter der von Musäus angerathenen Adresse ließ ich mich bei Goethe anmelden. »Sie kommen von Ihrer Schnepfenthaler Reise zurück?« fragte mich der damals noch in der Blüthe seines männlichen Alters stehende Goethe (er war erst siebenunddreißig Jahr alt). »Haben Sie Ihre Wißbegierde befriedigt?« – Ich erzählte ihm alles, was mich von dem Salzmannschen Erziehungs-Institut interessirt hatte. Mein Vorschlag, den ich dem Professor Salzmann gethan, [80] die Naturgeschichte den Kindern in den Abendstunden mittels einer Laterna magica zu lehren, gefiel ihm besonders. »Er hat einen Bruder in Erfurt,« erwähnte Goethe, »der ein geschickter Thiermaler ist, der ihm die unvernünftige Welt zu diesem Behuf auf Glasmalen könnte. So wahr und gut es wäre,« fuhr Goethe fort, »den Kindern frühzeitig Geographie zu lehren, so bin ich doch der Meinung, daß man mit den nächsten Umgebungen der bilbenden Natur zuerst anfangen müßte. Alles, was auf ihre Augen und Ohren Eindruck macht, erregt ihre Aufmerksamkeit. Sonne, Mond und Sterne, Feuer, Wasser, Schnee, Eis, Wasser, Gewitter, Thiere, Pflanzen und Steine sind die besonders wirksamsten Eindrücke auf das kindliche Gemüth. Kinder haben Mühe, die von Menschen gebildeten Formen von den natürlichen Gestalten zu unterscheiden, und es wäre nicht zu verwundern, wenn sie den Vater fragen: wie machst du die Bäume?«

»Haben Sie auch die Merkwürdigkeiten in Erfurt beachtet?« fragte Goethe. – »Ich war im Dom, in welchem man mich auf das Gewölbe des Chors aufmerksam machte, das auf keinem Pfeiler ruht, und auf ein schlechtes Gemälde, den großen Christoph in kolossaler Größe vorstellend. Auf dem Glockenthurme nahm ich noch die große Glocke in Augenschein, die 275 Centner schwer sein soll, und im Jahre 1497 von Gerhard de Campis gegossen ist.« – »Sie brummt einen tiefen, ernsten Baß,« meinte Goethe, »und läßt[81] sich nur an hohen Festtagen hören. Die Kirche ist alt und zur Zeit des Bonifacius erbaut. Die kleinen Glocken sind, wie ich gehört habe, fast zweihundert Jahr älter. Nichts von Luther?« »Ich habe den kleinen Hügel Steiger besucht, auf welchem Luther's Jugendfreund, Alexis, an seiner Seite vom Blitz getödtet ward.«

»Dieser Blitz hat in Deutschland ein großes Licht verbreitet, indem er den jungen Luther, der die Rechte studiren wollte, ins Kloster trieb, und dann zur Erkenntniß eines Funkens der Wahrheit brachte. Sahen Sie seine Zelle, die er in Erfurt bewohnte?«

»Ich habe mich in dem beschränkten Raum umgesehen und von der weißen Bretterwand mir Luthers Lebensgeschichte, mit rothen Buchstaben geschrieben, copirt. Auf einer runden Tafel über der Thür stand die lateinische Inschrift:


Cellula

divino magnoque habitata Luthero, salve etc.«


»Ich kenne sie. Die Augustiner Kirche, in welcher der Mönch Luther gepredigt hat, ist seit Kurzem renovirt worden.«

»Haben Sie auch Lavater gesehen in Gotha?« –

»Ich habe ihn gesprochen.« – »Er ist kein großer Freund von mir. Es ist lächerlich, wie er über mich denkt. Er hat dem Versucher Christi in der Wüste, wie man sagt, im Kupferstiche meine Physiognomie geben lassen. Das gehört zu seinen Phantasieen, die ihn oft zu übertriebenen Vorstellungen verleiten. Unser [82] Musäus hat ihn ziemlich gut beleuchtet. – Was haben Sie von meinen Schriften gelesen?« – »Werther's Leiden.« – »Welchen Eindruck machte seine Leidenschaftsgeschichte auf Sie?« – »Ich fand seine Empfindungen für Lotte so rein menschlich, daß ich ihm Alles verzeihen konnte, was er fühlte, sprach und that.« – »Haben Sie auch geliebt?« – »Ich kann es nicht leugnen. In einem Alter von einundzwanzig Jahren kam ich in die Nähe einer schönen Wittwe für die sich alle Gefühle in mir regten, – aber Verhältnisse hinderten mich, in jeder Rücksicht ihr meine Zuneigung zu gestehen. Ich verehrte Sie, und nur in ihrer Gegenwart befand ich mich wohl; aber ich sah die Unmöglichkeit ihr die Unruhe meines Herzens zu offenbaren.« »War sie schön?« – »So fand ich sie, und man sagte mir, daß sie in ihrem unverheiratheten Stande das schönste Mädchen in der ganzen Umgebung gewesen wäre.«

– »Wissen Sie wohl, daß das Herz Geheimnisse hat, wovon der Verstand nichts weiß?« – »Das habe ich schon öfters eingesehen, aber nicht mit Worten auszudrücken verstanden.«

»Wissen Sie: le paradis est pour les ames tendres, et condamnés sont ceux qui n'aiment rien.«

»Davon bin ich überzeugt, aber so glücklich die Liebe macht, so viel Leiden und Schmerzen führt sie auch mit sich. Ich habe die schöne Stelle memorirt, welche mir in Ihrem ›Werther‹ gefiel.«

[83] »Und welche war es?«

»Wer hebt den ersten Stein gegen das Mädchen, das in einer wonnevollen Stunde sich in den unaufhaltsamen Freuden der Liebe verliert? Unsere Gesetze selbst, diese kaltblütigen Pedanten, lassen sich rühren, und halten ihre Strafe zurück.«

»Die ganze Theorie des Anstandes läßt sich auf den unsichern Grund des Vorurtheils zurückführen. Es giebt allerdings Situationen des Lebens, in welchen das Herz beredt und der Mund verschwiegen ist. Ja das erstere ist sogar in Furcht, seine kleinen, aber heftigen Bewegungen zu verrathen, und, um nicht in Gefahr zu kommen, wählt das furchtsame Herz die Verschwiegenheit, oder sucht die Unterhaltung auf gleichgiltige, fremde Dinge zu leiten.«

»Ich habe mich noch nie,« sagte Goethe, »mit einem jungen Manne, der eben die Universität verlassen, so ernsthaft unterhalten.«

»Verzeihen Sie, ich bin schon siebenundzwanzig Jahr alt, und spät auf Universitäten nach Halle gegangen.«

»Oft quälen mich Durchreisende mit langweiligen Besuchen, und da ich mich jetzt mit Osteologie beschäftige,« fuhr Goethe fort, »so lege ich ihnen zuweilen meine vorhandenen Knochen vor, das erregt den Besuchenden Langeweile – und sie empfehlen sich. – Ich habe diese Vorlage bei Ihnen vergessen.«


Note:

1 Dietmar hatte sich anfangs verborgen, um ungesehen den Herzog und seine Umgebung betrachten zu können.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1786. 1786, 24. Juli. Mit Siegismund Gottfried Dietmar. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A200-6