1823, 30. December.


Mit Friedrich Soret

Abends mit Goethe allein, in allerlei Gesprächen. Er sagte mir, daß er die Absicht habe, seine ›Reise in die Schweiz vom Jahre 1797‹ in seine Werke aufzunehmen. Sodann war die Rede vom ›Werther‹, den er nicht wieder gelesen habe als einmal, ungefähr zehn Jahre nach seinem Erscheinen. Auch mit seinen andern Schriften habe er es so gemacht. Wir sprachen darauf von Übersetzungen, wobei er mir sagte, daß es ihm sehr schwer werde, englische Gedichte in deutschen Versen wiederzugeben. »Wenn man die schlagenden einsilbigen Worte der Engländer,« sagte er, »mit vielsilbigen oder zusammengesetzten deutschen ausdrücken will, so ist gleich alle Kraft und Wirkung verloren.« Von seinem ›Rameau‹, sagte er, daß er die Übersetzung in vier Wochen gemacht und alles diktirt habe.

Wir sprachen sodann über Naturwissenschaften, insbesondere über die Kleingeisterei, womit diese und jene Gelehrten sich um die Priorität streiten. »Ich habe durch nichts die Menschen besser kennen gelernt,« sagte Goethe, »als durch meine wissenschaftlichen Bestrebungen. Ich habe es mich viel kosten lassen und es ist mit manchen Leiden verknüpft gewesen; aber ich freue mich dennoch, die Erfahrung gemacht zu haben.«

»In den Wissenschaften,« bemerkte ich, »scheint auf [334] eine besondere Weise der Egoismus der Menschen angeregt zu werden; und wenn dieser einmal in Bewegung gesetzt ist, so pflegen sehr bald alle Schwächen des Charakters zum Vorschein zu kommen.«

»Die Fragen der Wissenschaft,« versetzte Goethe, »sind sehr häufig Fragen der Existenz. Eine einzige Entdeckung kann einen Mann berühmt machen und sein bürgerliches Glück begründen. Deshalb herrscht auch in den Wissenschaften diese große Strenge und dieses Festhalten und diese Eifersucht auf das Aperçu eines andern. Im Reich der Ästhetik dagegen ist alles weit läßlicher; die Gedanken sind mehr oder weniger ein angeborenes Eigenthum aller Menschen, wobei alles auf die Behandlung und Ausführung ankommt und billigerweise wenig Neid stattfindet. Ein einziger Gedanke kann das Fundament zu hundert Epigrammen hergeben, und es fragt sich bloß, welcher Poet denn nun diesen Gedanken auf die wirksamste und schönste Weise zu versinnlichen gewußt habe. Bei der Wissenschaft aber ist die Behandlung null, und alle Wirkung liegt im Aperçu. Es ist dabei wenig Allgemeines und Subjectives, sondern die einzelnen Manifestationen der Naturgesetze liegen alle sphinxartig, starr, fest und stumm außer uns da. Jedes wahrgenommene neue Phänomen ist eine Entdeckung, jede Entdeckung ein Eigenthum. Taste aber nur einer das Eigenthum an, und der Mensch mit seinen Leidenschaften wird sogleich da sein.

[335] Es wird aber«, fuhr Goethe fort, »in den Wissenschaften auch zugleich dasjenige als Eigenthum angesehen, was man auf Akademien überliefert erhalten und gelernt hat. Kommt nun einer, der etwas Neues bringt, das mit unserm Credo, das wir seit Jahren nachbeten und wiederum andern überliefern, in Widerspruch steht und es wohl gar zu stürzen droht, so regt man alle Leidenschaften gegen ihn auf und sucht ihn auf alle Weise zu unterdrücken. Man sträubt sich dagegen, wie man nur kann; man thut als höre man nicht, als verstände man nicht; man spricht darüber mit Geringschätzung, als wäre es gar nicht der Mühe werth es nur anzusehen und zu untersuchen; und so kann eine neue Wahrheit lange warten, bis sie sich Bahn macht. Ein Franzose sagte zu einem meiner Freunde in Bezug auf meine Farbenlehre: Wir haben funfzig Jahre lang gearbeitet, um das Reich Newtons zu gründen und zu befestigen; es werden andere funfzig Jahre nöthig sein, um es zu stürzen.

Die mathematische Gilde hat meinen Namen in der Wissenschaft so verdächtig zu machen gesucht, daß man sich scheut, ihn nur zu nennen. Es kam mir vor einiger Zeit eine Broschüre in die Hand, worin Gegenstände der Farbenlehre behandelt waren, und zwar schien der Verfasser ganz durchdrungen von meiner Lehre zu sein und hatte alles auf dieselben Fundamente gebaut und zurückgeführt. Ich las die Schrift mit großer Freude; allein zu meiner nicht geringen Überraschung [336] mußte ich sehen, daß der Verfasser mich nicht einmal genannt hatte. Später ward mir das Räthsel gelöst. Ein gemeinschaftlicher Freund besuchte mich und gestand mir, der talentreiche junge Verfasser habe durch jene Schrift seinen Ruf zu gründen gesucht und habe mit Recht gefürchtet, sich bei der gelehrten Welt zu schaden, wenn er es gewagt hätte, seine vorgetragenen Ansichten durch meinen Namen zu stützen. Die kleine Schrift machte Glück, und der geistreiche junge Verfasser hat sich mir später persönlich vorgestellt und sich entschuldigt.«

»Der Fall erscheint mir um so merkwürdiger,« versetzte ich, »da man in allen andern Dingen auf Ihre Autorität stolz zu sein Ursache hat und jedermann sich glücklich schätzt, in Ihrer Zustimmung vor der Welt einen mächtigen Schutz zu finden. Bei Ihrer Farbenlehre scheint mir das Schlimme zu sein, daß Sie es dabei nicht bloß mit dem berühmten, von allen anerkannten Newton, sondern auch mit seinen in der ganzen Welt verbreiteten Schülern zu thun haben, die ihrem Meister anhängen und deren Zahl Legion ist. Gesetzt auch daß Sie am Ende recht behalten, so werden Sie gewiß noch eine geraume Zeit mit Ihrer neuen Lehre allein stehen.«

»Ich bin es gewohnt und bin darauf gefaßt,« erwiederte Goethe. »Aber sagen Sie selbst,« fuhr er fort, »konnte ich nicht stolz sein, wenn ich mir seit zwanzig Jahren gestehen mußte, daß der große Newton und alle [337] Mathematiker und erhabenen Rechner mit ihm in Bezug auf die Farbenlehre sich in einem entschiedenen Irrthum befänden, und daß ich unter Millionen der einzige sei, der in diesem großen Naturgegenstande allein das Rechte wisse? Mit diesem Gefühl der Superiorität war es mir denn möglich, die stupide Anmaßlichkeit meiner Gegner zu ertragen. Man suchte mich und meine Lehre auf alle Weise anzufeinden und meine Ideen lächerlich zu machen, aber ich hatte nichtsdestoweniger über mein vollendetes Werk eine große Freude. Alle Angriffe meiner Gegner dienten mir nur, um die Menschen in ihrer Schwäche zu sehen.«

Während Goethe so mit einer Kraft und einem Reichthum des Ausdrucks sprach, wie ich in ganzer Wahrheit wiederzugeben nicht im Stande bin, glänzten seine Augen von einem außerordentlichen Feuer. Man sah darin den Ausdruck des Triumphs, während ein ironisches Lächeln um seine Lippen spielte. Die Züge seines schönen Gesichts waren imposanter als je.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1823. 1823, 30. December. Mit Friedrich Soret. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A13E-6