1815, 5. August.


Mit Sulpiz Boisserée

Morgens.

Goethe klagt, daß er zur Großfürstin von Oldenburg soll: »Sie haben nichts von mir, und ich nichts von ihnen, den Herrschaften.« Ich vergleiche die fürstlichen Personen und die vornehme Welt mit Gewässer, welches um uns herum anschwillt, ein Strom im See werden kann, worauf man schifft und segelt, sich aber auch wieder verlaufen kann. Man muß ihm nicht trauen, ist und bleibt Wasser. – Goethe: »Nun, zu hypochondrisch muß man sie nicht nehmen, aber so als Naturkräfte.« – Goethe speist bei der Großfürstin.

Nachmittags.

Staatsrath Süvern von Berlin kömmt an; Goethe veranlaßt mich, zu ihm zu gehen. Er ist mit dem ganzen kölnischen Schulwesen und Universitätswünschen von amtswegen bekannt. Er sagte unter anderem, Preußens Lage fordere große Festungen und Burgen, auch in geistiger Hinsicht, nicht nur zum Schutz, sondern auch zur Anziehung und dadurch zu allgemeinerer Wirkung.

Abends war ich mit Goethe und Oberbergrath Cramer auf dem Geisberg, es wurde oben gezecht in der Schenke. Der Wirth heißt Hastings; ein schöner,[197] freundlicher, blonder Aufwärter bediente uns. Ein Schwager von Cramer aus Hanau kam nach, das Töchterchen des alten Oberbergraths, etwa sechzehn Jahre alt, führte ihn zu uns, ein ganz einfaches, frisches Kind. Goethe neckte sie mit ihrer großen Pestalozzi'schen Rechenkunst, erzählte uns von der Schule hier, und ließ dem Mädchen keine Ruhe, bis sie sich selbst eine algebraische Aufgabe, aber in Zahlen gab, und die Auflösung machte. Es war eine verwickelte Aufgabe, drei unbekannte Zahlen, von denen nur die Verhältnisse unter sich angegeben waren. Mir wurde ganz schwindelig bei der Auflösung; vorerst war es einmal nicht möglich zu folgen; dann aber die Bestimmtheit, die Förmlichkeit, womit das Kind die trockenen Dinge aussprach, die man sonst nur in den mathematischen Hörsälen zu hören kriegt, und wie sich dieß arme Köpfchen was darauf zu gut that, mit den hohlen Zahlen und Verhältnissen herum zu wirthschaften, wie es gar selbst mit über diese Kunst sprach und vernünftelte, warum es Elementarunterricht genannt werde, da es doch, wie Goethe bemerkte, ganz darüber hinausginge, weil jeder alles selbst finde und erfinde: endlich über Buchstaben-Rechnungen, Gleichungen u.s.w. Das Alles, mit der festen, schulmeisterlichen Haltung, setzte mich wahrhaft in Schrecken. Gewitter am Himmel. Auf dem Rückweg Gespräch über orientalische Poesie. Hafiz ein anderer Voltaire. Ich bedaure die Orientalen, sie haben keine Musik und keine Bilder und nur Schrift [198] zur Verzierung; und die Baukunst ist bloßes Bedürfniß, ein elend Ding, ohne eigentlichen Kunstwerth.

Als wir im Dunkel gegen zehn Uhr nach Hause kamen, klagte Goethe seinen Jammer über dieß Pestalozzi'sche Wesen. Wie das ganz vortrefflich nach seinem ersten Zweck und Bestimmung gewesen, wo Pestalozzi nur die geringe Volksklasse im Sinne gehabt, die armen Menschen, die in einzelnen Hütten in der Schweiz wohnen, und die Kinder nicht in Schulen schicken können. Aber wie es das Verderblichste von der Welt werde, so bald es aus den ersten Elementen hinaus gehe, auf Sprache, Kunst und alles Wissen und Können angewandt werde, welches nothwendig ein Überliefertes voraussetze, und wo man nicht mit unbekannten Größen, leeren Zahlen und Formen zu Werk gehen könne. Und nun gar dazu der Dünkel, den dieses verfluchte Erziehungswesen errege; da sollte ich nur einmal die Dreistigkeit der kleinen Buben hier in der Schule sehen, die vor keinem Fremden erschrecken, sondern ihn in Schrecken setzen! Da falle aller Respekt, alles weg, was die Menschen unter einander zu Menschen macht. »Was wäre denn aus mir geworden,« sagte er, »wenn ich nicht immer genöthigt gewesen wäre, Respect vor andern zu haben. Und diese Menschen mit ihrer Verrücktheit und Wuth, alles auf das einzelne Individuum zu reduciren, und lauter Götter der Selbstständigkeit zu sein; diese wollen ein Volk bilden und den wilden Schaaren widerstehen, wenn diese einmal sich der [199] elementarischen Handhaben des Verstandes bemächtigt haben, welches nun gerade durch Pestalozzi unendlich erleichtert ist. Wo sind da religiöse, wo moralische und philosophische Maximen, die allein schützen könnten?« Er fühlte recht eigentlich einen Drang, mir über alles dieses sein Herz auszuschütten, und ich selbst war von all diesem voll, es sprach mich gleich an, wie eine Meldung des jüngsten Tages, und die Furcht vor den Russen war mir beim Namen Sievers, den Cramer als einen der schärfsten Prüfer und größten Rühmer der hiesigen Schule genannt hatte, in ihrer ganzen Macht aufgestiegen. – So führten wir uns wechselseitig in das Gespräch hinein, und Goethe bat mich wiederholt um Gotteswillen, nicht in die Schule zu gehen, ich würde zu sehr erschrecken. Cramer hatte mir schon vor seiner Rückkehr gesagt, daß ihn das Pestalozzi'sche Wesen außerordentlich interessire und er immer davon spreche. Des Abends erzählte ich ihm, bei Gelegenheit der Russen, noch das Verhältniß von Kaiser Alexander und der Krüdener.

[200]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1815. 1815, 5. August. Mit Sulpiz Boisserée. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A09D-9