1815, 4. October.


In Karlsruhe mit mehreren

Das Ausfallen einiger Gerichtstermine verschaffte mir eines Morgens eine freie Stunde. Ich [Ferdinand L. K. Freiherr v. Biedenfeld] eilte in das Museum, holte mir Lecture und setzte mich damit einsam in die Rotunde ..... Aus meiner Versunkenheit in Herber's ›Ideen‹ weckte mich plötzlich Weinbrenner's ausgiebige Stimme mit den Worten: »Da sitzt auch einer, der ein neuer Goethe werden will.« Ich blickte vom Buch auf und fuhr erschrocken empor: vor mir stand der Unverkennbare, Goethe in der vollen Majestät seiner göttlichen Kraft und Gesundheit, mit der Jupiterswürde auf seinem schönen Antlitz, mit der Magie seines mächtigen Auges und des Herrscherblickes. Hebel stellte mich ihm vor. Ein mildes Lächeln flog verklärend über seine Züge, und nach einigen freundlichen Worten fragte er: »Nun, und was haben wir jetzt in der Mache?« – »Ein Drama; ich habe es hier vollständig im Kopfe, und doch will es nicht recht heraus.« – »Das beruht wol auf einer Selbsttäuschung; was vollständig im Kopfe liegt, das kommt auch vollständig und leicht heraus.« – »Die ganze Intrigue, alle Situationen und Charaktere schweben klar vor meiner Phantasie, aber wenn ich sie zu Papier gebracht habe, erscheinen sie mir ganz anders, farbloser, [73] bleicher, oft ganz entstellt.« – »Das mag manchem in seiner Jugend passiren: man strebt gern sogleich nach dem höchsten ohne sich erst ernsthaft zu fragen, ob man auch von der Natur das rechte Zeug dazu erhalten, und wenn man es besitzt, ob man hinlänglich zu dessen Verarbeitung sich vorbereitet und gerüstet habe. Nicht selten stürzt man sich auch mit Inbrunst und wahrer Verbissenheit auf Dinge, wofür man kein eigentliches Talent hat. Will das Drama nicht recht aus der Feder fließen, so legen Sie es getrost beiseite und sehen sich nach anderem um; wahrscheinlich finden Sie auf solchen Versuchswegen was Ihnen die Natur zugewiesen hat, und findet sich's nicht am Ende der Lehrlingsschaft, nun in Gottes Namen! so hat man tüchtig gewollt und gestrebt; man geht getrost an seinen Beruf und genießt um so reiner und freudiger, was andre hervorbringen.« – »Auch bei andern Versuchen will es nicht recht gehen, und trotz des lebendigen Dranges komme ich nur langsam vorwärts. Mir schwebt immer vor: was gebietet dabei die Kritik? Dann gedenke ich des nonum prematur in annum, ich lege die Feder beiseite, die Phantasie verstummt und das kritische Grübeln macht mich müde und ängstlich.« – »Da sind Sie freilich auch einer von denen, welche das alte und treffliche nonum prematur in annum mißverstehen. Damit ist nicht gesagt, daß sich bei einer Arbeit die Phantasie und die Kritik jahrelang beständig miteinander herumbalgen sollen; dabei ginge [74] stets die beste verve des Dichters verloren. Das prematur bezieht sich auf die Arbeit vor und nach dem Dichten.« – »Bekennen muß ich, daß mir dieses nicht völlig klar geworden.« – »Und doch ist es so einfach, als natürlich. Die Prägnanz oder Unfruchtbarkeit eines oft plötzlich in uns entsprungenen Gedankens ergiebt sich erst mit der Zeit. Man trägt ihn mit sich herum, betrachtet und prüft ihn nach allen Seiten, Phantasie und Kritik formen und meißeln daran nach Ziel und Maaß so lange herum, bis ein gewisses inneres Fertigsein zur Arbeit drängt. Nun lasse man die Phantasie allein walten und schreibe, unbekümmert um alles Übrige, was sie dictirt. Ist auch hiernach das Werk fertig, so lege man es beiseite, nehme es nach einiger Zeit wieder zur Hand und lasse nun die eigene Kritik darüber zu Gericht sitzen. Damit wird man gewöhnlich Erträgliches zustande bringen.«

Hebel mahnte nun an den Besuch im Naturaliencabinet. Goethe lud mich freundlich zum Mitgehen ein: indem man in allen Gebieten der Natur immer wieder Neues und Erbauendes und Förderndes erblicke. So wanderten wir denn dahin: Goethe, Hebel, Gmelin, Boeckmann der Physiker, Weinbrenner und ich; unterwegs stießen noch Haldenwang und der Landschafter Hofmaler Kuntz zu uns. Am Eingang zum Naturaliencabinet fand sich noch eine der merkwürdigen Karlsruher Gestalten ein, der Hofmaler Iwan, ein Kalmücke, [75] der vom Kaiser von Rußland der Markgräfin Amalie als Leibeigner geschenkt worden, hier natürlich der Freiheit und seinem Hange gemäß der Erziehung zum Zeichner genossen, als solcher in Italien und Deutschland sich einen recht hübschen Namen erworben hatte, halb deutsch, halb kalmückisch sich kleidete, gewöhnlich gutmüthig und jovial, aber wenn der Wein ihn belebte, was ihm häufig geschah, ein schroffer Geradeaus voll kaustischer Kritik und unsauberer Witze. Sein Auftreten verrieth einen solchen Zustand. Goethe... schien nicht sehr angenehm berührt durch dieses Zusammentreffen und erwiederte die überherzliche Begrüßung mit zugemessen majestätischer Höflichkeit. Wir alle besorgten eine Störung unseres Genusses durch den Aufgeregten, da kam glücklicherweise ein Hoflakai außer Athem mit dem Bescheide, daß er augenblicklich zum Großherzog kommen solle. Mit einpaar gesunden Flüchen machte sich der Vierschrötige auf den Weg und versprach sein baldiges Eintreffen im Naturaliencabinet. »Ausgestopft müßte er sich dort gut ausnehmen,« bemerkte Goethe lächelnd zu Gmelin.

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Sie [Goethe und Gmelin] standen vor der Gruppe der verfänglichsten Muscheln. Lachend hielt Gmelin eine davon hoch empor, nannte Goethen ihren Namen lateinisch, entwickelte lateinisch ihre Aehnlichkeit mit menschlichen Theilen und stellte darüber sehr erbauliche Betrachtungen an. Goethe hörte ihn behaglich an,[76] lächelte wie Jupiter, wenn Frau Venus ihn streichelt, deutete auf eine andere Muschel und pries deren noch anschaulichere Ähnlichkeiten ebenfalls lateinisch, mit heiterer Emphase, wobei er freilich hin und wieder den rechten Ausdruck erst suchen mußte ..... Die beiden kamen an andere Gegenstände, Gmelin war wieder rein wissenschaftlich geworden, Goethe hatte ein andres Gesicht angezogen, beide sprachen unwillkührlich wieder deutsch. Die Beschauung und die Reflexionen dauerten noch ziemlich lange; endlich kam man zum Schluß. Goethe lud sehr freundlich zum Nachmittag in das physikalische Cabinet ein, wo Herr Hofrath Boeckmann einige interessante Experimente zu machen, die Güte haben würde.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1815. 1815, 4. October. In Karlsruhe mit mehreren. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A044-D