1823, 29. Juni nebst Nachträglichem.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Goethe ging mir liebevoll, mich herzlich grüßend, entgegen. Auf die verschiedenen Fragen, was ich Neues im Gebiete wahrgenommen, aufgefunden und allenfalls getauscht habe, antwortete ich:

Wenn Eure Excellenz erlauben, so werde ich morgen Rechenschaft hierüber ablegen, worauf ich mich so sehr gefreut habe. Eure Excellenz haben uns aber während [238] der schweren Krankheit in außerordentliche Ängsten versetzt, und wir können es dem Herrn Sohne nicht genug danken, daß er uns von der eintretenden Genesung in Kenntniß gesetzt hat.

Darauf Goethe: »Ich habe meinem Sohne ausdrücklich dazu den Auftrag gegeben, weil ich von Ihrer Theilnahme überzeugt war. Übrigens muß ich Ihnen sagen, daß ich seit dreißig Jahren mit niemandem auf einem so vertraulichen Fuße stehe, als mit Ihnen. In Weimar bin ich nicht für jeden zugänglich; ich kann mir die Zeit nicht rauben lassen, und man mag mich für stolz gehalten haben. Gerne aber lasse ich jene vor, welche ein Ränzchen aus Italien und Sicilien mit bringen, um wahrzunehmen, was seit meinem dortigen Aufenthalte sich geändert hat.«

Wenn ich mich nicht eines so erhebenden Ausspruches Goethes in Betreff meiner erfreuen könnte, so würde ich schwerlich folgendes mit ihm geführte Gespräch, das der Zeitfolge nach einen andern Platz finden müßte, hier einschalten.

»Jeder Mensch,« sagte Goethe zu mir, »hat eigene Zustände. Da wir so vertraut sind, so lassen Sie hören, wo Sie Ihre Studien, wahrscheinlich in Prag, vollendet haben, welcher Studienplan auf der Prager Universität vorgeschrieben war, und welche Professoren nach diesem vortrugen. Es wird mir Alles angenehm sein, was Sie mir aus Ihren Erlebnissen erzählen wollen.«

[239] [In der folgenden Mittheilung über seine Gymnasialzeit zu Eger erwähnte Grüner der vorzüglichen erzieherischen Thätigkeit eines Exjesuiten Grassold.]

Darauf Goethe: »Wer kann in Abrede stellen, daß die Jesuiten große Gelehrte hatten, es ist löblich, daß Sie sich seiner so dankbar erinnern. Es wäre zu wünschen, daß diesen so lobenswürdigen Fußtapfen so manche Professoren folgen möchten. Wie viele Jahre mußten Sie im Gymnasium zubringen, bevor Sie bei der Universität aufgenommen wurden?«

[Nach Beantwortung dieser Frage erzählt Grüner seine Begegnisse auf der Universität in Prag und erwähnt dabei den Professor Meißner, der Ästhetik, sowie römische und griechische Literatur gelesen habe, worauf]

Goethe bemerkte: »Wenn ich nicht irre, hat Meißner den Ruf nach Prag durch die Herausgabe seines ›Alcibiades‹ erhalten. Er war in der römischen und griechischen Geschichte sehr bewandert, und hatte als Schriftsteller sich ein großes Publicum erworben. Wie waren Sie sonst mit ihm zufrieden?«

[Bei Beantwortung dieser Frage erzählte Grüner Beweise der Zuneigung der Studenten gelegentlich seines Abgangs nach Fulda, wobei]

Goethe sagte: »In Fulda, so wie ich hörte, hat Meißner mit seiner Familie traurige Schicksale erlebt,« – und forderte mich aus, weiter zu erzählen.

So fuhr ich denn fort: Der gute ehrwürdige Exjesuit Widra war Professor der Mathematik. Im [240] zweiten Semester der Logik 1 erhielt der Director der philosophischen Fakultät Auftrag, die Stipendisten früher als die übrigen Hörer der Philosophie prüfen zu lassen. Da ich ein kleines Stipendium genoß, wurde ich auch dazu vorgeladen. Weil aber die bestimmte Prüfungszeit einige Wochen früher als die gewöhnliche angeordnet war, so war ich noch nicht gänzlich vorbereitet. Theils mußte ich, um mir besseren Unterhalt zu verschaffen, diese Zeit aus das Unterrichten von Kindern verwenden, theils war ich überzeugt gewesen, noch hinlängliche Zeit zu haben, um mich zur Prüfung gehörig vorzubereiten. Indeß ging es nicht wohl an, sie aufzuschieben und so unterzog ich mich ihr. Professor Widra sah in den Katalog, und da ich im ersten Semester gut von ihm klassificirt worden war, er vielleicht durch meine Prüfung Ehre vor dem Director einlegen wollte, gab er mir ein bedeutendes Problem zu lösen. Als er wahrnahm, daß ich aus der Tafel einen ganz falschen Ansatz machte, löschte er ihn mit dem Schwamm aus, sagte zu mir ganz leise: Etiam nihil didicisti, und gab mir einige leichte Fragen, die ich gut beantworten konnte.

Goethe lächelte, notirte sich etwas und später las ich in seinen gedruckten Aphorismen: Ein Professor[241] sagte zu seinem Schüler etiam nihil didicisti und ließ ihn für einen guten laufen.

Nachdem ich, sagte ich in meiner Erzählung fortfahrend, meine Lage und das Nachtheilige überdacht hatte, was durch eine schlechte Klasse für mich hätte entstehen können, faßte ich den ernstlichen Vorsatz, nie wieder anders als vollkommen vorbereitet zu einer Prüfung zu gehen. Mögen Eure Excellenz es nicht für Eitelkeit anrechnen, wenn ich anführe, daß ich den gefaßten Entschluß strenge gehalten, und auch von dieser Zeit an stets durchaus Vorzugsklassen, selbst bei den Prüfungen vor dem Appellationsgerichte, erworben habe.

Darauf Goethe: »Der Mensch kann Unglaubliches leisten, wenn er die Zeit einzutheilen und recht zu benutzen weiß. Ich erfreue mich an Ihren offenen Confessionen. Lassen Sie daher von Ihren Zuständen, Erlebnissen noch Weiteres hören.«

[Im weiteren Verfolg erwähnt Grüner seine Reisen als Student und wie er von Frankfurt a. M. enttäuscht gewesen sei, worauf]

Goethe sagte: »Im Jahre 1801 werden Sie nach Ihrer vorgefaßten Vorstellung Frankfurt freilich nicht günstig haben beurtheilen können. In wissenschaftlicher Hinsicht war Frankfurt von keiner Bedeutung.«

[Am Schlusse seiner Reiseberichte bemerkte Grüner, daß er dabei Entbehrungen und Anstrengungen mit Leichtigkeit ertragen habe.]

Darauf Goethe: »Sie haben mit Ihrem Körper schwere Proben versucht, und da Sie diese ohne nachtheilige [242] Folgen überstanden haben, so muß Ihnen eine lange gesunde Lebensdauer wohl in sicherer Aussicht stehen.«


Note:

1 Der erste Jahrgang des philosophischen Kursus pflegte auf den österreichischen Hochschulen Logik, der zweite Physik genannt zu werden.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1823. 1823, 29. Juni nebst Nachträglichem. Mit Joseph Sebastian Grüner. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A021-C