1825, 4. September. 1


Mit Joseph Sebastian Grüner

Die Soirée [vom 3. September bei Goethe] dauerte bis nach Mitternacht. Da Goethe an eine streng regelmäßige Lebensweise gewöhnt war, befand er sich am nächsten Tage leidend. Bei einem so alten Schiffe, sagte er, müsse man besondere Vorsicht anwenden.

Als ich aus der öffentlichen Bibliothek zurückkam, waren meine Effecten in ein anderes Zimmer in der ersten Etage gebracht. Goethe führte mich mit den Worten dahin: »Nun haben Sie Gelegenheit, meine Sachen anzusehen.«

[224] Ich befand mich in der Mitte von Natur- und Kunstschätzen. Er machte mich auf die Seltenheiten, die er aus Herculanum und Pompeji, aus Sicilien, überhaupt von seinen Reisen mitgebracht hatte, aufmerksam und erklärte sie mir. Ich mußte den umfassenden Reichthum seines Wissens, seinen Kunstsinn und sein Kunsturtheil, ganz besonders aber auch sein bei einem so hohen Alter doppelt merkwürdiges Gedächtniß bewundern.

»Ich besitze,« sagte Goethe unteranderm, »seit dem funfzehnten Jahrhunderte bis jetzt die Münzen aller Päpste. Es dient zur Geschichte der Kunst. Ich kenne alle Graveurs. Die griechische Prägung vor und zu Alexander's Zeit ist noch nicht erreicht. Die Ägypter lieferten den Griechen nur Stoff zur Verfeinerung.«

Am 4. September früh wohnte ich der Predigt des Generalsuperintendenten Röhr bei, welche im Druck erschienen ist. Es wurde eine Cantate von Hummel gesungen. Nach meiner Rückkunft forderte Goethe mich bei Tisch auf, den Inhalt der Predigt zu erzählen, was ich zu seiner Zufriedenheit zu thun imstande war, da ich aufmerksam zugehört und die Eintheilung genau dem Gedächtnisse eingeprägt hatte.

Herr Nicolovius aus Berlin war mit zu Tische, ein junger jovialer wißbegieriger Mann. Das Gespräch kam auch auf das Altarblatt von Cranach in der Hauptkirche, Luther'n vorstellend, wie er die Hand auf die Bibel legt. Die Figur ist kräftig, alles Übrige[225] aber wenig zu loben. Nicolovius sagte, es gehöre in eine alte Rüstkammer. Goethe rügte den unpassenden Ausdruck, und empfahl, ein Bild immer so anzusehen, als wenn der Maler es besser als der Beschauer verstanden habe, sonst werde man immer nur tadeln.

Goethe wünschte Aufklärung über die Waisenanstalten in Österreich, welche ich umständlich zu geben vermochte. »Nun müssen Sie aber auch,« sagte Goethe, »Einsicht in unser Criminalverfahren und in unsere Strafanstalten nehmen und Falk besuchen, der die Obsorge über verwahrloste Kinder verbrecherischer Eltern führt. Es ist der nämliche Falk, welcher Ihnen als Satyriker bekannt sein wird. Er lebt jetzt für die ihm anvertrauten Kinder, beurtheilt ihre Fähigkeiten, geistigen Anlagen und körperliche Beschaffenheit, wonach er jeden einzelnen, wozu er zu verwenden wäre, in Antrag bringt. Ich werde die Einleitung treffen, daß man Ihnen überall die gehörige Aufklärung gebe. Bei Falk werden Sie sich in sein großes schwarzes Buch einschreiben müssen.«

Goethe war sehr heiter, und das Gespräch kam darauf, daß manche Meister in ihren Gemälden wunderliche chronologische Fehler begingen. Ich erzählte, daß in der Wohnung des Generalgroßmeisters der Kreuzherren mit dem rothen Stern zu Prag ein sehr schönes Gemälde sich befinde, Maria mit dem Jesuskinde; Maria hält in der rechten Hand das Ordenskreuz der Kreuzherren. In Worms ließ ein Maler [226] die Beschneidung Jesu mit der Brille vornehmen. Nicolovius wußte mehrere Inschriften anzuführen, welche Heiterkeit verbreiteten.

Da ich sagte, ich wünsche das Theater zu besuchen, antwortete Goethe: »Gehen Sie, Freundchen, Sie werden sich gut unterhalten.« – Es wurden »Die beiden Britten« [von Blum] und »Die Humoristenstreiche« 2 gegeben.

Nach der Rückkunft aus dem Theater forderte Goethe mich auf, ihm den wesentlichen Inhalt der beiden Stücke zu erzählen. Nachdem ich es gethan und das vortreffliche Spiel der Schauspieler Durand und [La]Roche hervorgehoben und zergliedert hatte, sagte er: »Sie haben recht, sie machen ihre Sache gut.« – Bei meinem Scheiden machte er mich auf die morgige Feierlichkeit aufmerksam.

Diese Feierlichkeit war die Einweihung der neuerbauten großartigen Bürgerschule, welche in Gegenwart des Hofes am Vormittage des 5. September vorgenommen wurde.


Note:

1 Unter einer Eiche sitzt Goethe auf einer Anhöhe in antikem Costüm und besingt das Jubelfest des Karl August. Die Portraits der großherzogl. Familie treten als Nebelbilder hervor. Verschiedene Gestalten kommen den Berg herauf und bringen auf die verschiedenste Weise ihre Huldigungen dar: In der Ferne ist das weimarische Schloß mit seiner Umgebung sichtbar. Als Schwerdgeburth die Composition Goethen überreichte, sprach sich letzterer wohlwollend aus und sagte sehr bezeichnend: »Sie haben mich zu hoch gestellt.« Übrigens bemerkte mir persönlich unser hochverehrter Professor Schwerdgeburth: »Ich bin froh, daß dieses Machwerk verschwunden ist. Die Idee war eine gut gemeinte, aber eine verunglückte und meinen Kräften nicht angemessen.«

Note:

2 Abul Sefer Moissedin (1765 – 1827), Schah von Audh, unter dem Titel: Haft Kulzum oder die sieben Meere; das vollständigste Wörterbuch der persischen Sprache.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1825. 1825, 4. September. 1 Mit Joseph Sebastian Grüner. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A012-E