1771

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An Anna Margaretha Textor

[Straßburg, Februar 1771.]

Theuerste Grosmama

der Todt unsers lieben Vaters, schon so lange täglich gefürchtet, hat mich doch unbereitet überrascht.

Ich habe diesen Verlust mit einem vollen Herzen empfunden; und was ist die Welt um uns herum, wenn wir verlieren was wir lieben.

Mich, nicht Sie zu trösten, schreib ich Ihnen, Ihnen die Sie ietzo das Haupt unserer Famielie sind, bitte Sie um Ihre Liebe, und versichre Sie meiner zärtlichsten Ergebenheit.

Sie haben länger in der Welt gelebt als ich, und müßen in Ihrem eignen Herzen mehr Trost finden, als ich kenne. Sie haben mehr Unglück ausgestanden als ich, Sie müßen weit lebhaffter fühlen als ich's sagen kann, daß die traurigste Begebenheit, durch die Hand der Vorsicht die angenehmste Wendung zu unsrer Glückseeligkeit nimmt; daß die Reihe von Glück und Unglück im Leben in einander gekettet ist wie Schlaff und Wachen, keins ohne das andre, [254] und eins um des andern willen, daß alle Freude in der Welt nur geborgt ist,

Sie haben Kinder und Enckel vor sich sterben sehn, an dem Morgen ihres Lebens Feyerabend machen, und nun begleiten Ihre Tränen einen Gemahl zu der ewigen Sabbaths Ruhe, einen Mann, der seinen Wochenlohn redlig verdient hat. Er hat ihn nun. Und doch hat der liebe Gott indem er vor ihn sorgte, auch für Sie für Uns gesorgt. Er hat uns nicht den muntern freundlichen glücklichen Greiß entrissen der mit der Lebhafftigkeit eines Jünglings die Geschäffte des Alters verrichtete, seinem Volke vorstund, die Freude seiner Familie war. Er hat uns einen Mann genommen dessen Leben wir schon einige Jahre an einem seidenfaden hängen sahen. dessen feueriger Geist die unterdrückende Last eines krancken Körpers mit schweerer Aengstlichkeit fühlen mußte sich frey wünschen mußte, wie sich ein Gefangner aus dem Kercker hinauswünscht.

Er ist nun frey und unsre Tränen wünschen ihm Glück und unsre Traurigkeit versammelt uns um Sie liebe Mama, uns mit Ihnen zu trösten, lauter Hertzen voll Liebe! Sie haben viel verlohren, aber es bleibt Ihnen viel übrig. Sehen Sie uns, lieben Sie uns und seyn Sie glücklich. Genießen Sie noch lange auch der zeitlichen Belohnung, die Sie so reichlich an unserm krancken Vater verdient haben, der hingegangen ist es an dem Ort der Vergeltung zu [255] rühmen, und der uns als Denckmale seiner Liebe zurückgelassen hat, Denckmale der vergangnen Zeit, zur traurigen aber doch angenehmen Erinnerung. Und so bleibe Ihre Liebe für uns wie sie war, und wo viel Liebe ist, ist viel Glückseeligkeit. Ich bin mit recht warmem Herzen Ihr zärtlicher Enckel

J. W. Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1771. An Anna Margaretha Textor. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9F03-6