6/1959.

An Charlotte von Stein

[Eisenach] d. 9. Jul.

Ich schreibe dir noch einmal durch unsre abgehende Canzleyleute denen ich nun bald nachfolge. Morgen geh ich in die Berge und nehme Fritzen mit wo ich dein mit aller Herzlichkeit gedencken werde.

Heute sind erst meine Geschäffte alle geworden, es war gut daß ich mich in Geduld gefasst hatte.

Nach und nach fängt sich unser hiesiger Aufenthalt an in gesellschafftliche Zerstreuung aufzulösen. Die Frauens die, wie billig, zuerst, ich darf wohl sagen sammt und sonders, es auf den Herzog angelegt hatten, nehmen nun nach und nach mit einem von der Suite vorlieb und befinden sich dabey nicht schlimmer.

Wie sehn ich mich nach dem Augenblicke dich wieder zu sehn! welche Freude sind mir deine Briefe! Jedes Zeichen, iedes Wort deines Liebevollen Herzens.

Man thut mir sehr artig, man gefällt sich sogar mich zu lieben, nur schade daß ich dieses Glücks sehr unvollkommen geniesen kann. Alle Versuche und Proben laufen dahinaus daß ich nur für dich bin, [323] und daß wer dich kennt, wer dein gehört hat, keiner andern auch nicht auf eine Zeitlang angehören kann.

Die Berge und Felsen geben mir eine anmutige Aussicht, zwar glaub ich nicht daß ich sie in diesem Sommerfeldzug ganz überwinden werde, doch tief komm ich ihnen ins Eingeweide.

Einige stille Augenblicke habe ich angewendet im Rosseau zu lesen, der mir durch einen Zufall in die Hände kam. Wie wunderbar ist es und angenehm die Seele eines Abgeschiednen und seine innerlichsten Herzlichkeiten offen auf diesem oder ienem Tische liegen zu finden.

Im dritten Theile des Pontius Pilatus stehen ganz treffliche Sachen. Es ist weit weniger Capuzinade als in den ersten, man sieht wie Lavatern die Menschheit nach und nach immer offenbarer wird. Daß er von den albernsten Mährgen mit Anbetung spricht, daß er sich mit veralteten barbarischen Terminologien herumschlägt und sie in und mit dem Menschenverstande verkörpern will gehört so nothwendig zu seinem eignen als zu des Buches daseyn. Es wird dich gewiß vergnügen und auferbauen es durchzugehn.

Vor einigen Tagen las ich wie Voltaire iene Schrifften behandelt und nun Lavater. Das Buch bleibt was es ist und wird nicht dazu wozu es dieser oder iener machen möchte. Die arme beschränckte Gewalt der kräfftigsten Menschen mögte gern Himmel [324] und Erde nach ihren Lieblings Ideen umschaffen, und Herr über unbezwingbare Wesen werden.

Noch eine Aneckdote. Die Italiäner haben auf den König in Schweden der keine königliche Trinckgelder ausgetheilt haben mag, das ich ihm sehr verzeihe das Versgen gemacht

Tutto vede il Conte Haga
Poco intende e nulla paga.

Der Prinz Heinrich war sehr gnädig hier. Ich habe einige Beyträge zu meinem 5ten Teil im Fluge geschossen, davon mündlich ein mehreres.

Lebe wohl. Vielleicht erhälst du nun keinen Brief weiter, und ich werde zu dir wahrscheinlich gleich von Erfurt aus ohne Fritzen kommen. Er hat eine unsägliche Freude daß er morgen mit ins Gebürge reiten darf. Adieu. Adieu.

G.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1784. An Charlotte von Stein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-996C-A