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An Hetzler jun.

d. 14. Jul.

Trapp hielt mich für todt; und für was werden Sie mich halten? denn ich binn Ihnen eine Antwort länger schuldig als ihm. Sie kennen mich aber zu gut, theuerster Freund, als daß Sie zu meinem Stillschweigen eine unwahrscheinliche Ursache aufgraben sollten. Ich binn immer nachlässiger als ich beschäfftigt binn, und weil ich nichts zu thun hatte, oder [237] nichts thun wollte, ist Ihr Brief auch unbeantwortet geblieben. Nun bin ich endlich einmal mal dran, Ihnen zu sagen, daß ich Sie liebe, und daß ich mich freue, Sie noch immer als einen wachend Schüler der Musen zu sehen. Sie sind mir ein guter Mann, und haben mich lieb; aber Sie halten mich doch für zu weise und sich selbst zu gering, da Sie mir Fragen vorlegen, die ich Ihnen weder deutlich noch kurz, Ihre Erfahrung und eigne Empfindung aber, sehr leicht beantworten kann. Nur ein wenig Geduld; Und, wenn ich Ihnen rathen darf, so werden Sie mehr Vortheil finden, zu suchen wo Schönheit seyn möchte als ängstlich zu fragen was sie ist. Einmal für allemal bleibt sie unerklärlich; Sie erscheint uns wie im Traum, wenn wir die Werke der großen Dichten und Mahler, kurz, aller empfindenden Künstler betrachten; es ist ein schwimmendes glänzendes Schattenbild, dessen Umriß keine Definition hascht.

Mendelssohn und andre, deren Schüler unser Hr. Recktor ist, haben versucht die Schönheit wie einen Schmetterling zu fangen, und mit Stecknadeln, für den neugierigen Betrachter festzustecken; es ist ihnen gelungen; doch es ist nicht anders damit, als mit dem Schmetterlingsfang; das arme Thier zittert im Netze, streifft sich die schönsten Farben ab; und wenn man es ia unversehrt erwischt, so stickt es doch endlich steif und leblos da; der Leichnam ist nicht das ganze Thier, es gehört noch etwas dazu, noch ein Hauptstück, [238] und bei der Gelegenheit, wie bey ieder andern, ein sehr hauptsächliches Hauptstück: das Leben, der Geist der alles schön macht.

Genießen Sie Ihrer Jugend und freuen Sie sich Schmetterlinge um Blumen fliegen zu sehen, es gehe Ihnen das Herz, und das Aug dabey über; und lassen Sie mir die Freudenfeindliche Erfahrungssucht, die Sommervögel tödtet und Blumen anatomirt, alten oder kalten Leuten. Ich thue mir Gewalt an hier abzubrechen; Sie wissen daß ich in dieser Materie so unerschöpflich binn, als eine Wittwe in den Umständen von den letzten Stunden ihres seeligen Eheherren; und dann daß ich besonders gern mit Ihnen davon rede, weil wir einander verstehen.

Müllers Einleitung in die Classischen Schrifftsteller ist zu weitläufig, es giebt wohl noch viel andre doch wüßte ich keins für Sie. am besten ists, man liest erst den Schrifftsteller und hernach die Einleitung statt des Epilogs, wir lernen besser acht haben, und selbst urtheilen; doch wünschte ich, daß Sie über diese Materien den Hrn. Recktor fragten, er muß es immer besser wissen als ich. Literarische Kenntnisse erwerben sich durch Zeit und Fleis, und wegen beyder muß ein Jüngling einem Manne nachstehen. So ist's auch wegen dem Homer. Die Englische Ausgabe mit Clarkes Ubersetzung ist theuer, der Leipziger Nachdruck soll viele Druckfehler haben, das kann ich auch nicht beurtheilen. Leben Sie wohl.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1770. An Hetzler jun.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9751-7