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An Sulpiz Boisserée

In meiner jenaischen Einsamkeit, in der ich mich schon seit Ostern mit Redaction älterer Papiere und am Abdruck derselben treulich beschäftige, habe ich Zeit genug meiner werthen, abwesenden Freunde zu gedenken, und da versetze ich mich denn gar oft in die Mitte der Heidelberger lieben Drey-Brüderlichkeit. Der Zustand, den Ihr letzter Brief mir meldet, liegt mir am Herzen, Ihr ruhiges, consequentes und sicheres Betragen, so wie die Würde Ihres Besitzes verbürgt mir eine glückliche Folge.

Hier denn auch das zweyte Heft Rhein und Mayn. Möge es Ihren Gesinnungen und Absichten zusagen.[98] Man ist in Deutschland nie von dem Eindruck sicher, den eine Druckschrift in dem Augenblick ihrer Erscheinung machen kann, gegenwärtig am wenigsten, und was jede wünschenswerthe Wirkung betrifft, so habe ich sie zeitlebens immer erst in der Folge gefunden, wo sie mir aber – der moralischen Weltordnung sey Dank – niemals gefehlt hat.

In diesem Zeitraum zwischen Ostern und Pfingsten, den ich hier zubringe, ward ich von allen Seiten wissenschaftlich angeregt und habe mit Heiterkeit meine alten Papiere vorgenommen, welche zu benutzen einige Schwierigkeit jetzt wie sonst finde. Man fühlt wohl das frühere Bestreben ernst und tüchtig zu seyn, man lernt Vorzüge an sich selbst kennen, die an jetzt vermißt, dann aber sind doch reifere Resultate in uns aufgegangen, jene Mittelglieder können uns kein rechtes Interesse abgewinnen. Dazu kommt noch, daß das Jahrhundert auf rechten und falschen Wegen nach allen Seiten in die Breite geht, so daß eine unschuldig Schritt für Schritt sich bewegende Naivität wie die meinige vor mir selbst eine wundersame Rolle spielt. Wie ich mich bey diesen Bemühungen verhalte, sehen Sie am besten aus der Beylage, wenn Sie dem Verfolg dessen was Sie schon kennen einige Aufmerksamkeit schenken mögen. Geben Sie doch die wenigen Blätter nicht aus Händen. In Kunst wie in Wissenschaft sind die currenten Maximen nicht erfreulich. Der Grundsatz daß man den Künstlern nur [99] Unterhalt gebe und sie übrigens solle gewähren lassen, was sie können und wollen, entspringt aus der Anarchie, die einen schwankenden Empirismus jeder geprüften, anerkannten Gesetzlichkeit vorzieht, sich mit Originalität schmeichelt und hofft aus fortgesetztem Spielen und Pfuschen solle zuletzt ein Kunstresultat hervorgehen. Und das sind mitunter fromme Leute, die nicht merken hier sey purer Atheismus. Eine Welt soll sich zufällig aus schwirrenden Elementen zusammensetzen! Ginge nur nicht so vieles Gute, Tüchtige und Verständige darüber zu Grunde, so hätte es nichts zu sagen.

Nicht mehr für dießmal, damit das schon einige Zeit fertige Packetchen nicht länger liegen bleibe. Tausend Grüße.

Jena den 27. May 1817.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1817. An Sulpiz Boisserée. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9479-9