25/7007.

An Heinrich Carl Abraham Eichstädt

Ew. Wohlgeboren

freundliche Sendung hat mich diese Tage sehr bedeutend unterhalten. Es ist wohl der Mühe werth etwas länger zu leben, und die Unbilden der Zeit mit Geduld zu ertragen, wenn uns beschert ist, zu erfahren, daß eine so seltsame Persönlichkeit, als die des Verfassers jenes biographische Versuchs, die mit sich selbst nicht einig werden konnte, sich doch noch zuletzt, in Geist und Gemüth der vorzüglichsten Männer der Nation, dergestalt rein abspiegelt, daß nicht mehr[178] von Lob und Tadel, sondern nur von physilogischen und pathologischen Bemerkungen die Rede bleibt.

Danken Sie dem vorzüglichen Manne, der, wie es auch die Unterschrift andeutet, gar wohl für einen Plural gelten kann.

Verhehlen will ich jedoch nicht, daß mich das Studium dieser Blätter, eben so sehr, zu weiterer Fortarbeit aufgemuntert, als auch davon abgeschreckt hat. Und so bin ich auf einen Differenz-Punct gerathen, von welchen ich mich bald wieder zu ermuthigen hoffe. Wie geschwinde würde das geschehen, wenn ich mich mit einem solchen Mann nur kurze Zeit über diesen Gegenstand unterhalten könnte. Denn was mir im Laufe der Arbeit, besonders indem ich vorwärts schreite, immer deutlicher wird, und was aus jenen so echten als liebevollen Betrachtungen des Referenten hervorgeht, ist, daß es nun über diese Confession eine zweyte, und über diese sodann wieder eine dritte, und so bis in's Unendliche bedürfe, und die höhere Kritik würde immer noch zu thun finden.

Bey Bearbeitung des vierten Bandes entspringen neue Schwierigkeiten, und die Gefahr wird schon größer, es möchten die Euphemismen deren sich Ironie in einer gewissen Region mit Glück bedient, in einer höheren zu Phrasen auslaufen, und wo finden sich immer die glücklichen Augenblicke des guten Humors, wo das Rechte allenfalls zu leisten wäre?

[179] Ew. Wohlgeb. so wie in jenem vorzüglichem Manne glaube ich Folgendes in Vertrauen mittheilen zu dürfen.

Schon seit einem halben Jahr habe ich den vierten Band, welcher ohngefähr bis zur Hälfte gediehen war, plötzlich liegen lassen und, um nicht völlig zu stocken, zehen Jahre übersprungen, wo das bisher beengte und beängstigte Natur-Kind in seiner ganzen Losheit wieder nach Luft schnappt, im September 1786 auf der Reise nach Italien.

Diesen, aus Instinct ergriffenen, und sodann mit Überlegung verfolgten Ausweg wünsche ich von jenem vortrefflichen Menschenkenner gebilligt um desto muthiger fortzuwandern. Ich rette mich in eine Epoche, von der mir die entschiedensten Documente übrig sind, Tagebücher, Briefe, kleine Aufsätze, unendliche Skizzen, von mir und andern, und zu diesem allen die Gegenwart und Theilnahme meines vortrefflichen Reise- und Lebensgefährten des Hofrath Meyers. Diese anlockende leichtere Arbeit wird gewiß rückwärts günstigen Einfluß erweisen, und die indessen vergehende Zeit mich über einige Bedenklichkeiten hinausheben.

Noch einiges hab ich auf dem herzen, das ich vielleicht später bringe, nur meinen Dank für das, was über die modernen Tyrtäen gesagt ist, will ich nicht zurückhalten; wenig fehlt, daß sie uns die Freude über unser neu auflebendes Glück verkümmert hätten. [180] Und so will ich, nochmals dankend, für dießmal Abschied nehmen.

ergebenst

Weimar den 29. Jan. 1815.

J. W. v. Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1815. An Heinrich Carl Abraham Eichstädt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9378-4