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An Carl Friedrich Zelter

Du bist so freundlich, mir das Schattenbild deiner Wunder-, That- und Klangwelt in meine Clause vorzuführen; da hast du Cephalus und Prokris, nach meiner Art entwickelt. Stelle dich davor, ein Stäbchen in der Hand, und denke, bänkelsängerisch deutend, so wird es für den Augenblick wenigstens genügen. Aber hier, wo ich aufhöre, sollt es eigentlich anfangen, die Großheit der Darstellung eines darzustellen kaum Möglichen!

Laß mich einen Sprung zu der Samariterin thun! Jedes Auftreten von Christus, jede seiner Äußerungen gehen dahin, das Höhere anschaulich zu machen. Immer von dem Gemeinen steigt er hinauf, hebt er hinauf, und weil dieß bey Sünden und Gebrechen am auffallendsten ist, so kommt dergleichen gar manches vor.

Dieser große sittliche Propheten-Act ist aber sinnlich gar nicht darzustellen, und solche Bilder werde[11] nur gemahlt, weil sie schon oftmal gemahlt worden sind, und weil man eine appetitliche Frau frömmelnd wiederholen will. Sieht man die Vielmännerey der Samariterin an, so weiß man freylich nicht recht, was ihr der zahme Prophet soll. Es mag ein gut Bild seyn, aber es sagt nichts. Davon haben die modernen Künstler keinen Begriff und müssen sich am Ende deine Auslegung des Beywesens gefallen lassen. Hier aber liegt der Grundirrthum der deutschen Künstler seit beynahe 40 Jahren. Was gehen sie mich an! haben wir doch auch unsern Moses und unsre Propheten.

Ich will nicht zu sagen unterlassen, was mir gerade einfällt. Schillern war eben diese echte Christus-Tendenz eingeboren, er berührte nichts Gemeines, ohne es zu veredeln. Seine innere Beschäftigung ging dahin. Es sind noch manuscripte Blätter da, aufgezeichnet von einem Frauenzimmer, die eine Zeitlang in seiner Familie lebte. Diese hat einfach und treulich notirt, was er zu ihr sprach, als er mit ihr aus dem Theater ging, als sie ihm Thee machte und sonst; alles Unterhaltungen im höheren Sinne, woran mich sein Glaube rührt: dergleichen könne von einem jungen Frauenzimmer aufgenommen und genutzt werden. Und doch ist es aufgenommen worden und hat genutzt; gerade wie im Evangelium: Es ging ein Säman aus zu säen pp.

Nun mahle man Schillern bey'm Theetisch einem jungen Frauenzimmer gegeneüber! Was ist denn da[12] auszudrücken; obgleich ein junges unschuldiges Kind einem vorzüglichen Manne gegenüber, für dessen Worte sie Respect hat, sie auffassen und bewahren möchte, immer noch ein löblicherer Gegenstand ist, nur kein mahlerischer.

Nimm einsweilen hiemit vorlieb und kehre zu deinem Julius Roman zurück, da wirst du dich gegen jene Saalbadereyen gestärkt fühlen.

Hab ich dir einmal das Kupfer nach Leonardo da Vinci: den Reuterstreit um die Standarte gesendet? Es ist eine glücklich erhaltene Nachbildung des Cartons von Leonardo da Vinci (siehe den 35. Band meiner kleinen Ausgabe S. 311). Hast du's noch nicht, so wirst du gewiß Lust darnach emfinden; melde solches, alsobald soll das Blatt folgen, denn es muß sich doppelt in meiner Sammlung aufhalten.

Bis hieher gelangt eiligst

Weimar den 9. November 1830.

G.

[Beilage.]
Cephalus und Prokris nach Julius Roman.

Cephalus, der leidenschaftliche Jäger, nachdem er das Unglück, welches er unwissend in der Morgendämmerung angerichtet, gewahr worden, erfüllte mit Jammergeschrey Felsen und Wald. Hier, auf diesem nicht genug zu schätzenden Blatte, nachdem er sich ausgetobt, sitzt er, brütend über sein Geschick, den Leichnam seiner Gattin entseelt im Schoße haltend.

[13] Indessen hat sein Wehklagen alles, was in den waldigen Bergeshöhen lebt und webt, aus der morgendlichen Ruhe aufgeregt. Ein alter Faun hat sich herangedrängt und repräsentirt die Leidklagenden mit schmerzlichen Gesichtszügen und leidenschaftlichen Gebärden. Zwey Frauen, schon mäßiger theilnehmend, deren eine die Hand der Verblichenen faßt, als ob sie sich ihres wirklichen Abscheidens versichern wollten, gesellen sich hinzu und drücken ihre Gefühle schon zarter aus. Von oben herab, auf Zweien sich wiegend, schaut eine Dryas, gleichfalls mitbetrübt; unten hat sich der unausweichliche Hund hingelagert und scheint sich nach frischer Beute lechzend unzuschauen. Amor, mit der linken Hand der Hauptgruppe verbunden, zeigt mit der Rechten den verhängnißvollen Pfeil vor.

Wem zeigt er ihn entgegen? Einer Caravane von Frauen, Waldweibern und Kindern, die, durch jenes Jammergeschrey erschreckt, heran gefordert, die That gewahr werden, sich darüber entsetzen und in die Schmerzen der Hauptperson heftig einstimmen. Daß ihnen aber noch mehrere folgen und den Schauplatz beengen werden, dieß bezeugt das letzte Mädchen des Zugs, welches von der Mutter mit heraufgerissen wird, indem es sich nach den wahrscheinlich Folgenden umsieht. Auf den Felsen über ihren Häuptern sitzt eine Quellnymphe traurig über der ausgießenden Urne; weiter oben kommt eine Oreas eilig, sich verwundert umschauend, hervor; die hat das Geschrey[14] gehört, aber sich nicht Zeit genommen ihre Haarflechten zu endigen; sie kommt, das Langhaar in der Hand hebend, neugierig und theilnehmend. Ein Rehböcklein steigt gegenüber ganz gelassen in die Höhe und zupft, als wenn nichts vorginge, sein Frühstück von den Zweigen. Damit wir aber ja nicht zweifeln, daß das alles mit Tagesanbruch sich zutrage, eilt Helios auf seinem Wagen aus dem Meere hervor. Sein Hinschauen, seine Gebärde bezeugen, daß er das Unheil vernommen, es nun erblicke und mitempfinde.

Uns aber darf es bey aufmerksamer Betrachtung nicht irren, daß die Sonne gerade im Hintergrunde aufgeht, und das ganze oben beschrieben Personal wie vom Mittag her beleuchtet ist. Ohne diese Fiction wäre das Bild nicht, was es ist, und wir müssen eine hohe Kunst verehren, die sich gegen alle Wirklichkeit ihrer angestammten Rechte zu bedienen weiß.

Noch eine Bemerkung haben wir über den Vordergrund zu machen. Hier findet sich die Spur benutzender Menschenhände. Die Hauptgruppe ist vor dem tieffsten Walddickicht gelagert, der Vordergrund ist als ein einjähriger Schlag behandelt; Bäume sind, nicht weit von der Wurzel, abgesägt, die lebendige Rinde hat schon wieder ihren Zweig getrieben. Diesen fortmäßigen Schlag legte der Künstler weislich an, damit wir bequem und vollständig sähen, was die Bäume, wenn sie aufrecht stünden, uns verdecken müßten. Eben so weislich ist im Mittelgrund ein Baum abgesägt, [15] damit er uns hintere Landschaft nicht verberge, wo Gebäude, Thürme, Aquäducte und eine Mühle, als Dienerin der allernährenden Ceres thätig, uns andeuten: daß menschliche Wohnungen zwar fern seyen, daß wir uns aber nicht durchaus in einer Wüßte befinden.

s. m.

treu angeeignet
Weimar den 9. November 1830.
J. W. v. Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1830. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8ED6-2