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An Carl Friedrich Zelter

Tennstedt den 28. Aug. 1816.

Gestern kam dein lieber Brief zu rechter Zeit, damit ich mich heute daran erfreuen und mich mit dir unterhalten sollte. Diesen meinen Geburtstag feyre ich in besonderer Einsamkeit. Hofrath Meyer, der vier Wochen bey mir verweilte, und Geheimerath Wolf, der auf anderthalb Tage einsprach, gingen heute früh weg und so bin ich mir selbst überlassen.

Beyde genannte Männer, jeder von großen Vorzügen, sind im Umgang die verschiedensten. Der erste, obgleich seiner Sache eben so gewiß wie der andere, zu wird niemals eine Gesellschaft verderben, weil er zu schweigen und zu lenken weiß; der zweyte dagegen hat sich, auf die seltsamste Weise, dem Widerspruch ergeben, daß er alles was man sagen kann, ja alles[148] was da steht hartnäckig verneint und einen, ob man gleich darauf gefaßt ist, doch endlich zur Verzweiflung bringt. Eine solche Unart wächst von Jahr zu Jahr und macht seinen Umgang, der so belehrend und förderlich seyn könnte, unnütz und unerträglich, ja man wird zuletzt von gleicher Tollheit angesteckt, daß man ein Vergnügen findet das Umgekehrte zu sagen von dem was man denkt.

Man kann sich vorstellen was dieser Mann als Lehrer, in früherer Zeit, trefflich muß gewirkt haben, da es ihm Freude machte tüchtig positiv zu seyn.

Deine schönen Erfahrungen und Genüsse gönne ich dir, du verdienst die Welt zu sehen und dich ihrer zu erfreuen, da du sie verstehst und billigen Theil an ihr nimmst.

Deinen Aufsatz über die Catalani, Milder und Mara habe mit Freuden gelesen. Die Menschen begreifen niemals daß schöne Stunden, so wie schöne Talente, müssen im Fluge genossen werden. Wie absurd sich die Leipziger bey dieser Gelegenheit benehmen, haben dir die Zeitungen schon verkündiget. Es thäte Noth daß man solchem verfluchten Volke die Gaben Gottes in Spiritus aufhübe, damit sie solche, bey Gelegenheit, vergleichen und eine der andern unterordnen könnten.

Die alte niederländische Kunst, wie du sie in Heidelberg geschaut hast, wird dir großer Gewinn seyn, eben weil du damit nicht fertig werden willst. [149] Lies mein Heft wieder und immer noch einmal, eben weil du die Sache selbst gesehen hast. Ich wollte diese Angelegenheit nicht abthun: denn wer kann und darf das? Ich weiß auch daß Niemand recht mit mir zufrieden ist; aber das weiß ich auch daß der Verstand hier einen Weg in's Holz finden kann.

Ich bin in diesen Tagen veranlaßt einige Blicke in's Deutschthum zu lenken und nach meiner Art kann ich nicht lassen sogleich einige Schritte zu thun. Kann ich dir dabey etwelche Balladen erhaschen; so soll es mein größter Gewinn seyn. Der Angelegenheit selbst will ich auch gerne dienen, nur ist mir das betrübtste daß die Deutschen nicht immer deutlich wissen ob sie volle Waizengarben oder Strohbündel einfahren.

St. Rochus-Fest ist, in dieser meiner Reise-Canzley, endlich auch zu einer dritten, recht reinlichen Abschrift gediehen. Gedruckt möchte es drey Bogen ausmachen. Ich wiederhole daß ich dir das Manuscript vorlegen möchte. Es ist zwar keine eigentlich stumpfe Stelle drinnen, aber manches könnte ausführlicher seyn; ob ich gleich zufrieden bin daß mein productive Sinnlichkeit noch so weit reichen konnte.

Deshalb vermeide daß, wenn die Dämonen nicht wieder grillenhafte Streiche spielen, ich den eilften September hoffe in Weimar zu seyn, wo du denn einkehren und nach Belieben verweilen könntest: denn das Leben wird immer kürzer und nimmt die Art an sibyllinischer Blätter.

[150] Soviel für diesmal. Der lange Bursche, den du kennst, hat sich in diesen sechs Wochen auch im Schreiben recht artig herangebildet. Tausend Lebe wohl!

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1816. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-80FA-4