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An Sara von Grotthuß

Weimar, den 6. December 1810.

Heute soll, theuerste Freundin, nicht von Leckerbissen, am wenigsten von den Spickgänsen, die Sie uns so appetitlich in der Ferne zeigen, die Rede seyn; auch nicht von allem andern Freundlichen und Guten, das Ihr lieber Brief enthält; sondern, wie Sie schon aus der Inlage sehen, von dem Schicksal der Tochter Jephthä. Auf Ihre Anregung habe ich sogleich das empfohlene Trauerspiel aus den Flözschichten poetischer, theatralischer und litterarischer Anhäufungen, die sich um mich herum aufbauen, hervorgesucht, habe solches mit Vergnügen gelesen, und halte die Aufführung nicht ganz unmöglich; doch wünschte ich, der Verfasser thäte vorher noch Folgendes daran:

1) Könnte er eine Anzahl Verse herausnehmen, oder, wie man sagt, streichen; so würde es dem Stück günstig seyn, weil es etwas zu lang spielt. Ich fühle[434] zwar selbst, daß es schwer halten wird, weil die Scenen gut gearbeitet sind, und sich nichts Überflüssiges findet; allein hie und da läßt sich doch wohl eine kleine Amplification und mehrere Ausführlichkeit wegnehmen, ohne daß das Ganze Schaden leidet.

2) Wären die vier Krieger in zwey Personen zusammenzuziehen, und diesen bestimmte Namen zu geben. Kein guter Acteur mag gern als bloßer Statist erscheinen, und das, was die Krieger zu sagen und zu thun haben, ist zu bedeutend, als daß man es wagen sollte, durch vier Personen es ausrichten zu lassen, wo gewöhnlich einer oder der andere schwach bleibt, oder gar sich lächerlich macht.

3) Nun noch ein Hauptpunkt. Der Verfasser hat wohl gefühlt, daß er bey dem Gelübde Jephtha's sich besonders angreifen müsse, und hat es auch deßhalb, damit es sich vom andren gleichsam absondere, in gereimte Verse gebracht; allein aufrichtig zu sagen, so hat mir diese Stelle zu wenig Gehalt und die Gereimten Trochäen zu wenig Würde. Die Achse, um die sich das ganze Stück dreht, sollte etwas derber seyn. – Dieses legen Sie dem Verfasser an's Herz, und er wird leicht fühlen und einsehen, wie es gemeint ist.

So viel für heute. Ich füge weiter nichts hinzu, damit diese Sendung nicht aufgehalten werde.

G. [435]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1810. An Sara von Grotthuß. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-809E-1