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An Carl Friedrich Zelter

Das Regenwetter, das euch das schöne hohe Fest verdarb, wüthet hier oben recht wüst und wild an mir vorbey, seit acht Tagen und heute besonders. Ohne zu übertreiben darf man sagen: es ras't manchmal von Westen nach Osten quer über das Thal hin ein Regenguß, dicht wie Nebel, der die gegenüberstehenden Berge und Hügel völlig zudeckt. Dann scheint die Sonne einmal wieder hindurch und thut gute Blicke. Von solchen Abwechselungen könnt ich viel erzählen, besonders von ruhmwürdigen doppelten, durch einen dunkelgrauen Streif getrennten, sich unten zu einem sich abschließenden reinen Kreis, versteht sich bey Sonnenuntergang, hinneigenden Regenbogen. Rufe wo möglich aus diesen Worten das herrliche Bild in der Einbildungskraft hervor.

Wäre die Witterung nicht gar zu toll und daher auch die Terrassen, trotz ihrer gewöhnlichen Schnelltrockenheit, ungehbar, so dictirt ich diesen Brief nicht, und also ist auch ein solches Eingreifen der Atmosphäre in unsere Willensfreyheit zu loben.

[259] Meinem alten Joachim Jungius bin ich nun noch einmal so gut daß er dich veranlaßt hat, das liebe lehrreiche Blatt zu schreiben; es ist gerade soviel als ich bedarf und etwas mehr, gerade soviel was ich verstehe und darüber noch etwas das ich ahne. Dieß mag denn genug seyn, da du deiner Mittheilung selbst eine symbolische Wendung gibst.

Wenn man sich nur halbwege den Begriff von einem Menschen machen will, so muß man vor allen Dingen sein Zeitalter studiren, wobey man ihn ganz ignoriren könnte, sodann aber, zu ihm zurückkehrend, in seiner Unterhaltung die beste Zufriedenheit fände. Es war mir darum zu thun, auch nur einigermaßen gewahr zu werden, was dieser von Haus aus grundgründliche Mann könnte seinen Schülern in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts dictirt haben. Er war schon in sehr jungen Jahren Professor der Mathematik und Physik zu Gießen, da ihm denn auch späterhin das Übliche der Tonlehre nicht verborgen noch fremd bleiben konnte.

Danke Herrn Mendelssohn für die nähere Bestimmung jenes zu Unterscheidenden. Es war der Fehler des Redacteurs, der zwey verwandte Dinge zusammenschmolz. In Berlin sind so viele artistische und technische Thätigkeiten, wie polizeyliche und freysittliche, daß man sie in der Ferne nicht aus einander halten kann. Hat Herr M., wie ich sehe, auf die Thätigkeit des Herrn Dr. Klöden wirksamen Einfluß, [260] so möge er ja meine Wünsche wegen der Fürstenwalder Granite mit zu befördern suchen. Ich wünschte dem lieben Preußen dießseits der Oder und Spree für mein Leben gern zu einem solid gegründeten Urgebirg [zu] verhelfen, damit wir nicht wie bisher schmählicherweise bey Schweden und Norwegen zu Lehn gingen. Verzeihe mir! Aber die Dinge machen mir alle Spaß. Ich weiß recht gut was ich will, und weiß auch was andere wissen und sich und anderen weiß machen wollen. Die größte Kunst im Lehr- und Weltleben besteht darin, das Problem in ein Postulat zu verwandeln, damit kommt man durch. Ob deine Philosophen dir das erklären mögen, weiß ich nicht; mein alter Jungius in seiner Logica hamburgensi hat darüber Auskunft gegeben.

Wie dieses Geschreibe auf dem Papier sich ausnehmen wird, darum darf ich mich nicht bekümmern. Blicke du immer wieder einmal auf dem Kupferstiche nach dem letzten winzigen Schlößlein links und nimm es gut auf daß der Freund, von böslichem Regen umsaus't, seine Gedanken zu dir wendet.

Doch mag der Regen so böslich nicht seyn; denn in dem Augenblicke, da die Atmosphäre in einen ruhigen Zustand zurückkehrt, sind die weiten und breiten Wiesen auf- und abwärts wirklich blendend grün. Der Fluß schlängelt sich ganz gemüthlich um die Berge gegenüber, oben mit Wald, tiefer herab mit Büschen; und alles was sonst Recht hat grün zu seyn steht klar farbig [261] und gewaschen. Die Weinberge nehmen sich hoffnungsvoll aus, die sonne tritt, zum Niedergange sich neigend, wie gewöhnlich nochmals hervor; da wollen und müssen wir denn alles gelten lassen.

Lebe wohl mitten unter Menschen, Tönen, Geschäften und Zerstreuungen, gedenke mein; nimm irgend eine Gelegenheit bey'm Flittig und nöthige ihr ein gutes Blatt ab. Sende nur immer nach weimar, ob ich gleich von hier noch nicht wegzugehen gedenke; denn wo soll ich soviel Aussicht und Einsicht sogleich wieder finden? Wenn ich hinunter nach dem Schieferhofe sehe, gedenke ich dein, das Fensterchen erblickend, woran du magst vor Zeiten gesessen haben.

und so fortan!

Dornburg den 9. August 1828.

G.


N. S. Höchlich erfreute mich dein Antheil an meiner Ableitung der neugriechischen Bildung. Ich habe das Wenige mit Ernst und Sorgfalt zu Steuer der Wahrheit niedergeschrieben, für gescheite Leute die sich an's Haltbare halten wollen. Die Philhellenen des Tags werden schiefe Mäuler darüber ziehen, deshalb steht es da. Über diese Angelegenheit, wenn man sie weiter führen wollte, ist noch gar viel zu sagen; auch steht das Nächste schon auf dem Papiere; alles auszusprechen ist noch nicht Zeit.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1828. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-76F6-E