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An Ottilie von Goethe

Wie es sich mit dem Röhrwasser zu eräugnen pflegt, daß es einmal ganz reichlich fließt, sodann aber unversehens tröpfelt ja wohl gar ausbleibt, so scheint es dießmal meinen Reimlein zu ergehen welche sich schmal und mager einstellen.

Was du übrigens mit dem Blättchen beginnen willst sey dir in's Gemüth gestellt; und ich kann nicht böse seyn daß du meine Liberalität so freundlich einschränkst ja sogar aufhebst.

Damit wir aber nicht immer bey Lob und Preis der Engländer allein verharren, so muß ich nur melden daß das Krönungsgedicht des Herrn De Lavigne ganz fürtrefflich ist. Ich bin dadurch in meiner alten Überzeugung bestärkt worden, daß man nicht vergleichen müsse sondern daß man jede Nation, jeden Dichter und Schriftsteller, jedes Individuum an sich betrachten und schätzen solle.

Dieser Franzose ist nicht zurückgeblieben, er mag von uns und den Engländern gelernt haben, genug, er hat seinen großen Gegenstand mit voller Freyheit übersehen und ihn auf eine wahrhaft poetische Weise zu behandeln gewußt; er geht grandios, ja kühn zu Werke, und da das Gedicht gewiß nicht ohne stille Censur herausgegeben worden, so hat er einen höchst freysinnigen Censor gehabt. Fürst Talleyrand ist[218] Oberkammerherr und solchem trau ich zu daß er das Werk gebilligt und durchgehen machen. Genug es hat mich sehr vergnügt. Ob es dir dieselbe Wirkung machen wird weiß ich nicht, besonders wenn du denkst daß es Herr Cousin declamire.

Der gute Wolf ist wie immer, sobald er nicht hustet und leidet, gleich wieder bey der Hand. Grüße Walthern schönstens und empfiehl mich Frommanns und gedenke mein im Lieben und Guten.

Weimar den 11. Juni 1825.

G.


Noch bemerke daß das Eine Gedicht zu einem Stammbuche gehört welches du nächstens erhalten wirst. – oder vielmehr schon jetzt erhältst. Ohngefähr in der Hälfte des Büchleins sieht ein Zeichen hervor dort wünsche ich daß, hinter meine und des Canzlers Schrift, die Freunde sich hübsch der Reihe nach einschreiben; Frommanns, Knebels und wer sonst ein gutes artig ein Zeugniß eines so langen Zusammenbleibens aufzustellen. Und hiermit nochmals allerschönstes Lebewohl anbietend.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1825. An Ottilie von Goethe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-73C7-E