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An Christian Gottfried Daniel Neesvon Esenbeck

Ew. Hochwohlgeboren

freundliche Anzeige des Empfangs meiner letzten Sendung regt mich auf, das längst Vorbereitete und immer unschlüssig zurückgehaltene Paquet abzusenden. Es ist so manches darinne durch eine Folge von Zeit veranlaßt, wie ich es jetzo kaum übersehen und überdenken könnte, und doch hab ich wohl eins und das andere vergessen, was Sie näher berühren könnte; haben Sie die Güte, was es auch sey, mich fernerhin[46] zu erinnern und mir manches Gute und Aufregende mitzutheilen. Heute nur die besten Grüße und Versicherung unverbrüchlichen Antheils.

unwandelbar

Weimar den 2. April 1828.

J. W. v. Goethe.


[Beilage.]

Nachstehendes einzuleiten halte ich ein kurzes Vorwort für nöthig. In freyen Stunden, wenn Geschäft und Correspondenz beseitigt sind, pflege ich zu dictiren was mir eben im Sinne schwebt, in Bezug auf's Publicum für meine Druckschriften, im Andenken an Freunde als Stoff der Mittheilung. Dergleichen mißfällt denn manchmal bey der Revision; ja sogar, wenn es abgeschrieben ist, erscheint es mir nach einiger Zeit verltet, überflüssig, launig oder unzulänglich, und da häuft sich dergleichen bey mir unvergohren, ungenossen und ungenutzt. Solche Blätter auch an Sie, theurer verehrter Mann, liegen von vorigem Sommer her noch bey mir, die zurückblieben als ich Ihre Reise nach München vernahm. Da mögen sie denn auch bleiben, nur will ich gegenwärtige fortschicken, die ich, durch Ihre letzte Sendung erregt, niederschrieb und an welchen wo möglich fortfahren werde, wenigstens einige Confessionen des Augenblicks in Ihre Hände zu legen. Daß die Wolken über uns wegeilen, sind wir von jeher gewohnt, aber jetzt scheint sich der Boden unter uns wegzubewegen, so daß wenn wir [47] den Fuß aufheben, die Stelle schon entrückt ist, wohin wir ihn zu setzen gedachten. Und in diesem Sinne darf ich wohl die gegenwärtigen Blätter und die ihnen folgen möchten auf das bescheidenste empfohlen haben.

Ob ich gleich gegen die liebe Natur, am wenigsten gegen die verführerische Botanik meine Blicke wenden darf, so hab ich doch immer einige Repräsentanten der Pflanzenwelt neben mir, und das ist denn dießmal ein Pflänzchen, von dem ich das Nähere zu erfahren wünschte. Einige Blüthenkelche liegen abgetrocknet zwischen den Papieren des Paquets. Der Blätterbüschel, woraus der Blüthenstengel hervortreten soll, verläugnet die Lilienart nicht, und unsere Gartenfreunde sind zwischen Anthericum, Liliago und Herreria zweifelhaft. Mir ist sie höchst interessant wegen ihrer unglaublichen Prolificität, die das ganze Leben einer Pflanze von unsern Augen vorgehn läßt. Sie treibt einen fadenartigen herabhängenden Blüthenstengel, an welchem die sechsblättrigen Blümchen erst seltener, dann gedrängter hervorkommen, bis sie sich endlich quirlartig entwickeln und ganz abschließlich einen Blätterbüschel.

An diesem haben die Blattenden etwas Fettes, Zwiebelartiges, und indessen die Blätter selbst wieder aufwärts streben, zeigen sich unten kleine Wärzchen, die an Licht und Luft zu vertrocknen scheinen, unter[48] günstigen Umständen einer feuchten Umgebung jedoch sich zu Luftwurzeln entwickeln, in der Stärke eines schwachen Federkiels über einen Zoll lang, worauf denn die schwebende Pflanze abermals einen Fadenstengel treibt und so immer weiter fort. Es kommen also gewissermaßen Luftstolonen zur Erscheinung, deren verbindende Fäden jedoch blühen und, wo sie zu Hause sind, gewiß Frucht tragen.

Bringt man einen solchen Blätterbüschel mit seinen Luftwurzeln in die Erde, so zeigt sich ein sonderbares Ereigniß; diese Luftwurzeln streben wieder aus dem Boden nach Luft und Licht, schwellen auch wohl stärker an, begeben sich aber mit ihren Enden wieder in die Erde, verdünnen sich und werden zu den allerfeinsten sich verzweigenden Fäden.

Wenn Sie diese Pflanze, wie höchst wahrscheinlich, in Ihrem Gartenschatze schon besitzen, so werden Sie über meine Darstellung lächeln, aber meiner alten Aufmerksamkeit auch Gerechtigkeit widerfahren lassen und mir um desto mehr kunst- und wissenschaftsgemäße Aufschlüsse geben.

Wie sehr mich nun die Vergleichung gemeldeter Pflanze mit dem alten Drachenbaum in Ihren Acten interessirt hat, ist leicht abzunehmen. In der Erscheinung findet sich hier der größte Gegensatz von körperlicher Ausdehnung und Lebensdauer, im Innersten aber die entschiedenste Verwandtschaft; denn auch er soll den Spargelblüthen ähnliche Blümchen hervorbringen. [49] Auch von ihm sondern sich gewissermaßen lebendige Pflänzchen ab, und ein vegetabiler Thurm muß die Vetterschaft eines Tabakspfeifenstiels anerkennen.

Um aber noch von einem Gegensatze zu sprechen, so kamen letzten Sommerfrische wohlschmeckende Datteln zu uns; ich pflanzte deren und sie gingen frisch und muthig auf und sind schon bis zum dritten Blatte gediehen, indeß die ersten Blätter die Höhe einer Elle erreicht haben; und so stehen in zwey Blumentöpfen das Ernste, Langsame, künftig Stämmige neben dem Schmächtigen, Fortstrebenden, Schwankenden unmittelbar zusammen; indessen eine lebhafte Einbildungskraft mir so vieles andere Dazwischenliegende vergegenwärtigt.

Damit aber nicht allzu räthselhaft scheine, wie ich mich in der Nähe von den Belvederischen Schätzen so kümmerlich behelfe, muß ich sagen daß ich mich vor den warmen Häusern und vor der Abwechselung der Temperatur fürchte, die mich schon manchmal übel behandelt haben. Das Frühjahr lockt mich nun wohl schon wieder in's Freye und zu Betrachtung jener Mannichfaltigkeit, die mir doch nicht viel hilft, indem in meinen Jahren die Resultate sich immer mehr in's Enge ziehen müssen.

Nun liegen aber auch noch in dem Paquetchen Ahornblätter mit merkwürdigen schwarzen Flecken; ich fand sie letzten Sommer in meinem Garten vorn am Gebüsche, wo in der Nachbarschaft keine Spur[50] dergleichen auf irgend einem Blatt anzutreffen war; zu welcher geheimen Entwicklung oder äußeren Veranlassung werden diese gerechnet? davon Ihnen ja unzählige bekannt sind.

Auch das Mikroskop wage ich nicht mehr aufzustellen; was der Geist in seiner Concentration vermag muß man noch zu hegen und zu üben suchen.

Auch ein Blättchen liegt bey, worinnen drey Pflanzenarten aufgezeichnet sind, wie sie nach und nach an frisch aufgeschwemmten Ufern der Elbe unter Hamburg sich entwickeln sollen. Findet sich etwas dergleichen am Rheine? wo sich doch auch manche bedeutende Alluvion ereignet. Das Entstehen von Pflanzen, ohne daß man die Abkunft ihres Samens ausmitteln könnte, macht uns ja nicht mehr bange.

Die schon längst bey mir liegenden schönen Aufsätze über die Fliegenverstäubung und deren Folgen im Trocknen und Feuchten sende anbey zurück. An ein morphologisches Heft darf ich nicht denken. Wollten Sie jedoch diese wirklich theuern Bemerkungen in den Acten zu Tage fördern, würden Sie mich abermals und gewiß jeden Naturfreund erfreuen. Auch die Müllerische Arbeit mikroskopischer Erscheinungen erfolgt zurück; sagen Sie mir doch gelegentlich etwas von dem guten jungen Mann; ich kann der Entwickelung solcher nachgebornen guten und schätzenswerthen Geister nicht mehr folgen; mit meiner eigenen [51] Methode komm ich noch allenfalls durch, aber in fremde Vorstellungsarten kann ich mich nicht mehr versetzen.

Unsern jenaischen Urstier in Ihren Acten geehrt zu sehen macht mir viel Freude; merkwürdig ist es, das Skelett mit dem noch vorhandenen Auerochsen zu vergleichen; diese Sumpfthiere wie sie auch seyn mögen gehören doch einer schon trockeneren Welt an, sie sind viel schlanker und leichter gebaut; jene erinnern schon mehr an jenes kolossale Faulthier und den Sumpfelephanten. Von Crefeld aus hat man uns eine lithographische Abbildung eines solchen Schädels gesendet, welche gut gerathen ist; nur find ich die Augenhöhlen nicht so weit vorstehend und so bedeutend als an dem unsrigen, worauf mir viel anzukommen scheint. Der leicht radirte Umriß von dem Quedlinburgischen ist darin charakteristischer, nur die Beugung der Hörner kann man nirgends recht sehen, auch nicht an Ihrer Abbildung, weil der Kopf gewendet ist; sie gehen von ihrem Ursprung an horizontal hervor, so daß sie, wären sie fortgewachsen, über der Stirn hätten zusammentreffen müssen; ich will sorgen daß Sie eine Abbildung von dem unsrigen erhalten gerade von vorn gesehen; der untere Theil fehlt zwar, aber das Obere ist gut erhalten.

Daß Sie die Abhandlungen der deutschen Societäten auf Ihre Acten als einen tüchtigen Mittelpunct [52] vereinigt, dazu wünsche Glück; wenn Sie gleich im Sondern und Ablehnen manches Unerfreuliche werden zu erfahren haben.

Inwiefern jene wandernde Societät, durch mehrere Jahre fortgesetzt, auf das ungesellige Deutschland einigen Einfluß haben wird, muß sich zeigen; es ist wunderbar genug, aber ganz naturgemäß: das Mindeste, was ein Franzos nur schreibt und vorträgt, ist als an eine große Gesellschaft gerichtet, der er zu gefallen, die er zu überreden wünscht; der Deutsche, wenn er es sich selbst recht macht, glaubt alles gethan zu haben.

Lassen Sie mich zu Ihren Acten zurückkehren und nach meiner Überzeugung versichern, daß Ihnen ein wichtiger Schatz in die Hände gegeben ist. Sie klagen über einen gewissen Mangel der Darstellung, dessen einige Mittheilende sich schuldig machen; leider ist dieses nicht nur ein Mangel an Geschmack, sondern das Übel liegt viel tiefer: es ist ein mangel an Methode, an diesem aber ist Schuld Mangel der Anschauung, Mangel daß man nicht recht deutlich weiß, was man und wohin man will. Dagegen werden z.B. die Aufsätze unsres Carus, unsres d'Altons immer gehaltreich, abgeschlossen und hinlänglich seyn.

Ihr künftiges Geschäft, die Naturforscher zu übersehen, zu controlliren, zu redigiren, wird Ihnen Männer [53] der Art immer schätzenswerther machen, andern werden Sie nachhelfen und sie auf den rechten Weg leiten.

Das Unglück ist bey den Selbstwollen unsrer Zeit, das durch die ganze Welt geht, daß niemand den gebahnten Weg verfolgen mag (zum praktischen Ziel, worauf doch alles ankommt, damit Erkennen und Wissen in That verwandelt werde), daß niemand zu denken scheint, die Chaussée sey dazu da, um vom Fleck zu kommen. Jeder sucht sich ein Abweglein, aals wenn das Leben ein Spazierengehen wäre. Eigentlichst aber ist dieß der Fehler der Deutschen, in welchen die Engländer niemals verfallen, auch machen sich die Franzosen der neusten Zeit desselben nicht schuldig. Man darf nur sehen, was im Globe, in der Revue encyclopédique pp., in den Werken des Baron Dupin für ein ungemessenes Treiben in's thätige und wirkende Leben obwaltet.

Lassen Sie mich jetzt nähere Veranlassung nehmen! Wenn Sie für gerathen halten, die mitgetheilten Zeichnungen des Os intermaxillare verkleinern, stechen und drucken zu lassen, so will ich meine Gedanken gern einmal wieder auf diesen Gegenstand wenden, um bey dieser Gelegenheit den Begriff des Typus, nach dem sich alles bildet, wieder in Anregung zu bringen. Denn es scheint wunderbar, ist aber den Beschränkungen des menschlichen Geistes ganz gemäß, daß man die Consequenz der Idee nicht in der Erscheinung verfolgen mag, sondern daß man sich an Ausnahmen ergötzt, [54] in ihnen ergeht und die Wissenschaft wie das Leben verschleifet. So lies't man in einem beyliegenden Heftchen das ich übrigens nicht schelten will, Seite 6 der angestrichenen Stelle, das in Wien ausgegrabene urweltliche Thier habe »acht Mahlzähne in den Kinnladen, keine Eck- oder Hundszähne und zwey Stoßzähne in der obern Kinnlade, welche eben so wie bey dem Elephanten in dem Zwischenkiefer-Knochen eingekeilt sind, welcher bey andern Thieren die Schneidezähne trägt.« Kann man unbestimmter, ja ungeschickter sprechen? Es ist bey dieser Art Menschen, als wenn die Worte gar keinen Werth hätten; es mußte heißen: »acht Mahlzähne in den Kinnladen, zwey ungeheure Eckzähne in der obern Kinnlade wie der Elephant, deren weite Alveolen zu bilden der Zwischenkiefer-Knochen, welcher selbst keine Schneidezähne hervorbringt, eine Lamelle hergibt.«

Was soll in obiger Stelle »eingekeilt« heißen? Ein Keil wird von außen eingetrieben, ein solches Wort paßt nicht dahin, wo vom Organismus die Rede seyn soll.

Bey Ausbreitung des Wissens und der Wissenschaft ist nicht zu hindern, daß sich halbfähige Menschen damit abgeben, und bey diesen verwandelt sich aller Gehalt sehr schnell in Worte, in welchen zuletzt weder Anschauung noch Gedanke noch Begriff noch Wissen übrig bleibt, sondern deren man sich zu leerem Spiel als Rechenpfennigen bedient. Dagegen habe ich mich [55] mein ganzes Leben gewehrt, aber nur mein Inneres zu vertheidigen; das Beharren, Schweben und Schwanken des Äußern rührt mich wenig. Daher möchte ich wohl Zeit erübrigen, um den Abschluß meiner Überzeugungen nicht als Lehre, sondern als Bekenntniß hinzulegen, und wo möchte dieß wohl sicherer geschehen als bey Ihnen? Farbenlehre, Meteorologie, Geognosie, Verwandtschaft der physikalischen Erscheinungen unter sich, auch herauf- und herabwärts in die materiellere und geistigere Welt.

Hiezu werden neu Auftretende höchst förderlich seyn; wie uns denn in den Berliner Jahrbüchern ein trefflicher Recensent, das Werk des Dr. Ohm [besprechend]: Die galvanische Kette mathematisch bearbeitet, Muth und Anlaß gibt, die Physik mit Ernst von der Mathematik zu trennen und sie ihr selbstständig gegenüber zu setzen, um eine reinere, beiden Theilen vortheilhaftere Verbindung und Wechselwirkung dadurch zu gewinnen.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1828. An Christian Gottfried Daniel Neesvon Esenbeck. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7343-3