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In das Stammbuch
der Frau Hofmarschall von Spiegel

Januar 1821
Der Dichtung Faden läßt sich heut nicht fassen;
Ich bitte, mir die Blätter weiß zu lassen!
Am 25. Februar 1824
Seit jenen Zeilen bis zum heutigen Tage
Sind fast zweihundert Wochen fortgeschritten,
Und immer ist es noch die alte Klage,
Als lasse sich die Muse nicht erbitten;
Doch wenn ich sie im stillen ernstlich frage,
Versetzt sie mich mit Adlerflug inmitten
Von jener Feier einzigen Augenblicken,
Wie es erscholl im freudigsten Entzücken:
»Nun geht es auf, das Licht der Morgenländer,
Die Tochter von Byzanz. Ihr seht sie hier!
Als Kaiserskind trägt sie die Goldgewänder,
Und doch ist sie des Schmuckes höchste Zier.
Die goldnen Schuhe, jene teuren Pfänder,
Die Liebesboten zwischen ihm und ihr,
Sie bringt der Zwerg, die frohste Morgengabe:
Ein Liebespfand ist mehr als Gut und Habe.«
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Da sprach das Lied so heiter als bedächtig
Von König Rothers unbezwungner Kraft,
Dem, wie er schon in Waffen groß und mächtig,
Auch Liebe nun das höchste Glück verschafft.
»Als Pilger klug, als Gast freigebig, prächtig,
Hat er als Held zuletzt sie weggerafft
Zum schönsten Glück, zum höchsten Mutterlose:
Von ihnen stammt Pippin und Karl der Große.«
Wie denn das Gute, Schöne nimmer schwindet
Und, immer wirkend, immer sich erhält,
Sich ungesäumt zum höchsten Wahren findet,
Als lebend zu Lebendigem gesellt;
Und glücklich ist, wer ihnen sich verbindet.
Beständig bleibt ihm die bewegte Welt;
So war's auch mir im Augenblick, dem süßen,
Nach langer Zeit die Freundin zu begrüßen.

Notes
Entstanden 1821 und 1824, Erstdruck 1827.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Goethe, Johann Wolfgang von. 39. In das Stammbuch der Frau Hofmarschall von Spiegel. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-5E45-6