334) Das Grundlos. 1

Unfern der nördlichen Spitze des Hakels sieht man am Abhange des Berges einen großen Erdfall, zum Theil mit Wasser ausgefüllt, am Rande mit hohem Schilf überwachsen und in der Mitte mit der längsten Stange nicht zu ergründen. Darum heißt er mit Recht: »der Grundlos!«

Hier stand einst vor vielen hundert Jahren, als noch das ganze Land mit Wald bedeckt war, im Dickicht eine Burg, der gewöhnliche Sammelplatz der Raubritter, welche die ganze Gegend umher unsicher machten. Hier theilten sie ihren Raub und die Ernten der zerstreuten Bewohner des Landes, die sie für sich zu arbeiten zwangen bis auf das Blut, besonders bei den Burgfesten. Hierher brachten sie auch ihre Gefangenen und die besten Töchter des Landmanns, die sie zum Hofdienst raubten. Hier schwelgten und lärmten und tanzten die fahrenden Ritter lange Tage und Nächte hindurch und mit Schrecken hörte der ferne Wanderer oft zwischen dem Lärm der Pauken und Trompeten das dumpfe Jammergeschrei derer, die in unterirdischen Höhlen gemordet wurden. Menschliche Hilfe war hier umsonst, denn mächtige verbündete Ritter schützten die Burg mit ihren Reisigen. Da nahte der Tag der Rache.

Einst verirrte sich an einem nebeligen Herbsttage ein hierher kommender Ritter aus Welschland mit seinem Knechte im Harzgebirge und kam zu dieser Burg, welche abwärts von der Straße, welche Reisende zu ziehen pflegten, im Walde dicht versteckt lag. Schon war die Nacht eingebrochen und rings um die Burgmauer her war weder Mensch zu sehen noch Thier. Doch hörten sie drinnen ein wildes Gekreische, wie von betrunkenen lärmenden Männern, und Hörner und Trompeten, begleitet vom Geheul großer Hunde. Die Reisenden pochten und riefen an einer Hinterpforte im Dickicht, aber zu ihrem Glück hörte Niemand ihr Klopfen noch Rufen, denn es tobte der Sturm in der Nacht und der Regen rasselte auf den Dächern.

Der Knecht, des Rufens müde, suchte ein Obdach und endlich fand er tappend und durch das Gebüsch sich drängend unfern dem Eingange der Burg eine gewölbte Vertiefung und in ihr eine Pferdekrippe, woran ein fressender Klepper stand. Froh über die Entdeckung brachte er seinen Herrn und die Pferde hierher und ließ sie an dem Futter sich laben, womit die Krippe angefüllt war. Der fremde Ritter, ermüdet von der langen mühevollen Reise, entschlief bald auf einem kleinen Heuschober, den er in einem Winkel der Höhlung auffand. Die ferne Musik und das eintönige Rasseln des Regens wiegte ihn in festen Schlummer.

Aber nicht so gut ward es dem Knechte; ihn erhielt die Sorge für seine Pferde und seinen leeren Magen wach, den die Musik und der Gedanke an den Schmaus, der dem Tanze vorausging, wenig beruhigten. Und dann wurde es ihm von Minute zu Minute grauenhafter in der dunkeln Höhle. [295] Er betastete ringsum den geräumigen gewölbten Stall, worin er mit seinem Herrn war, fand aber nichts als reichlichen Vorrath für die Pferde, deren leicht zwanzig hier Platz gefunden hätten. »Wer wohnt hier? Wem gehört der Klepper? wem das Futter, das Du Deinen Pferden giebst? Wie, wenn die Knechte der Tanzenden zurückkommen oder in dem Heu schlafend erwachen? Oder wohnen vielleicht gar Räuber und Mörder hier?« so durchkreuzten tausend Gedanken seine Seele und er konnte nicht schlafen.

Die steigende Furcht trieb ihn näher zu seinem Herrn hin und endlich warf er sich unmuthig auf das Heu, fiel aber in die Tiefe hinab. Unter ihm brachen einige morsche Stäbe; er fiel einige Fuß tief in eine unterirdische Höhlung und sein Gesicht und seine Hände berührten – o Schrecken! Menschenschädel und Menschengebeine, die hier zerstreut lagen.

Laut schreiend raffte er sich auf von dem verwünschten Ort, kroch zitternd hervor und wankte der Thüre des Stalles zu, vergessend seines Herrn und seiner Pferde. Hier saß er vor dem Gebüsch, das den Eingang umkleidete, vom Winde durchströmt, vom Regen durchnäßt und klapperte mit den Zähnen. Allgemach schwiegen die Hörner und Trompeten und bald war rings um ihn eine Todtenstille, die ihm noch grauender war. Jetzt schlug die Thurmuhr zwölf und jedes Haar auf seinem Kopfe sträubte sich auf. Denn angstvoll erwartete er in jedem Augenblick die Erscheinung der Geister der Erschlagenen und so wagte er nicht, in die Höhe noch vor sich noch hinter sich zu sehen. Zusammengekrümmt, die Augen mit den ausgespreizten Fingern bedeckt, saß er da. Plötzlich fielen einzelne Strahlen wie von einer auflodernden Fackel auf das Gebüsch und im Augenblick war Alles wieder verschwunden. Oft glaubte er entferntes Kettengeklirr und dumpfes Aechzen zu hören; er horchte und plötzlich war Alles wieder still. In jedem Augenblick erwartete er vor Angst zu sterben und überlebte doch alle diese Schrecken. Jetzt schlug endlich nach langem vergeblichen Harren die Thurmuhr Eins. Das Gewölk zertheilte sich; einzelne Strahlen des Mondes fielen auf ihn durch die Gebüsche und Hoffnung und Lust zum Leben kehrten zurück in sein Herz. Bald stand der volle Mond in seiner Pracht da am heitern nicht mehr bewölkten Himmel. Und nun wagte es der Knappe einige Schritte vorwärts zu thun, um sich umzusehen, wo er sei. Er entdeckte bald eine nicht sehr hohe Mauer, auf der mehrere kleine Thürme standen, und nicht weit von dem Stalle, von einigen mächtigen Eichen überdeckt, ein eisernes Fallgatter, das den Eingang in den Burghof verschloß. Mit immer wachsendem Muthe (denn vorbei war die Gespensterstunde und der Mond leuchtete ihm) nahte er sich mit leisem Tritt dem Fallgatter und sah hinein in den Burghof, sah am Ende desselben das Thürmlein, das hinauf zum Rittersaal führte. Auf der Mitte des Hofes stand eine Rugesäule (d.h. ein Roland, als Zeichen der peinlichen Gerichtsbarkeit) mit ausgespreizten Armen. Mit einem Male zeigte sich hier dem Knechte ein wundersames Abenteuer. Drei große Hähne stiegen majestätisch herab von dem runden Dach des Burgverließes und wandelten langsam über den Hof, dem geharnischten Schwertträger zu. Dann hoben sie sich zugleich im Fluge; der größte Hahn, höher und stärker befiedert als ein Adler, setzte sich auf den Kopf der Rolandssäule, die andern nahmen Platz auf seinem Ellenbogen. Und nun krähten sie alle drei zugleich dreimal, daß der Hof und der nahe Wald wiederhallten. Alles still, dann erscholl es wie aus [296] dumpfer Ferne: »Wehe, wehe, wehe!« Siebenmal krähten nun noch lauter die Hähne und das »Wehe, wehe, wehe!« erscholl zum zweiten Male. Neunmal krähten noch lauter die Hähne und nun erhob sich der große Hahn hoch in die Lüfte und schrie: »Wehe, wehe, wehe! Heute noch versinkt die Raubburg!«

Taumelnd wankte der Knecht nach dem überwölbten Stalle zurück, rüttelte zitternd seinen Herrn, der wie im Todesschlaf dalag, bis er endlich erwachte und verkündete bebend wie Espenlaub ihm die unerhörte Märe, während er die noch nicht gesattelten Rosse zäumte. Kopfschüttelnd strafte der Ritter aus Welschland seinen Knecht Lügen und glaubte dennoch die Erzählung und schauderte daß zusammen bei dem »Wehe, wehe, wehe!« Und ohne zu säumen eilten beide von dannen durch Gebüsch und Hecken, bis sie endlich die gebahnte Straße fanden. Jetzt ging ihnen lang erwünscht die Sonne auf, aber halb verfinstert und wie mit einem Trauerflor umschleiert. Schon sahen sie von weitem die beglänzten Thurmspitzen Magdeburgs. Da hörten sie, in weiter Ferne hinter sich, ein dumpfes Getöse, wie von einem fernen Donner. Sie blickten zurück und sahen eine große dicke Dampfsäule aufsteigen, wie aus einem feuerspeienden Berge. »He«, rief der Knecht, »gewiß ist dort die verruchte Burg versunken! Aus dem Schwefelpfuhl, worein die Unholde stürzten, steigt jener Dampf auf!« »Komm«, sprach sein Herr, »wir wollen dorthin zurückkehren um die wunderbare Geschichte zu sehen; ich habe so in dem Stall meine Handschuhe, das Abschiedsgeschenk meiner Verlobten, zurückgelassen.« Aber höchlich weigerte sich deß der Knecht und zürnend und drohend ritt der Ritter aus Welschland allein der aufsteigenden Dampfsäule zu. Zitternd folgte ihm endlich der Knecht in weiter Entfernung. Nach einigen Stunden erreichten sie die Gegend, wo der Dampf aufbrodelte, der Ritter befahl seinem Knecht hineinzureiten in die Dampfwolke, um seine Handschuhe zu holen. Der Knecht bebte zurück, da riß der Ritter zähneknirschend sein Schwert aus der Scheide und stieß es dem Knecht in die Brust. Noch jetzt siehst Du unfern des Grundloses den Stein, wo der Herr seinen zögernden Knecht würgte und bei Sonnenfinsternissen noch hier und da Tropfen des Bluts, das den Stein überspritzte.

Der Ritter weilte, bis die Sonne höher stieg und nur noch eine dichte Dampfsäule die Mitte der Schreckensgegend verhüllte. Er sah nun vor sich einen See, der immer größer wurde, je mehr der Nebel sich in der Mitte zusammendrängte, und fand endlich am Ufer die Krippe, an der in der Nacht sein Streitroß stand, und in ihr – o Wunder! die Handschuhe, die seine Verlobte ihm gegeben. In tiefem Nachdenken versunken stand der fremde Ritter aus Welschland, den stieren, starren Blick auf seine Handschuhe gerichtet. Bald aber weckte ihn ein Zetergeschrei aus seinem Hinstarren. Er blickte auf, die Sonne hatte jetzt die Mitte des Himmels erreicht und die ganze Dampfwolke niedergedrückt. Da sieht er das Dach der immer tiefer einsinkenden Burg ganz mit Menschen bedeckt, die in der größten Herzensangst immer höher klommen, je näher ihnen das Wasser des immer steigenden Sees kam. An der Kleidung unterschied er etwa acht Ritter und zwölf Knappen. Am lautesten schrie »Zeter und Wehe« über sich und die Andern ein dickes ungestaltes Weib mit feuerrothen Augen und Haaren. Um die Hände frei zu haben, hatte sie in der Angst ihres Herzens ein großes Schlüsselbund sich um den Hals geworfen. Denn dieser Unholdin waren die [297] Schlüssel anvertraut gewesen über die Keller, Gewölbe und die unterirdischen Gemächer der Raubburg, in welche sie die unglücklichen Schlachtopfer der Räuber herabgestürzt hatte. Jetzt kam ein gräßlicher Anblick: zahllose Gerippe von Erschlagenen und Erwürgten klimmten eins nach dem andern von der entgegengesetzten Seite das Dach hinauf, setzten auf den First sich hin und blickten zähnefletschend auf die Unholde, die in der Todesangst nicht über sich und nicht unter sich zu sehen wagten. Dann aber erhoben sich die Gerippe und schlugen mit ihren Knochenhänden und mit den Ketten, womit sie belastet waren, auf ihre Peiniger.

Zuerst stürzte in die Fluthen die Schaffnerin mit dem Schlüsselbunde um den Hals und wurde in dem Augenblick in eine ungeheure Karausche verwandelt. Dann wurden die Raubritter herabgepeitscht; sie verwandelten sich, sobald sie das Wasser berührten, in sechsfüßige Hechte; zuletzt stürzten die Knappen zeterschreiend herab und wurden Karpfen, ohne von ihrer Größe oder Schwere zu verlieren. Und so verfolgen seit Jahrhunderten bis auf den heutigen Tag die ausgehungerten Hechte die Karpfen und die Karausche im Grundlos, ohne Ruhe noch Rast. Uebertäubt die Ermattung den Hunger, so jagen die Gerippe in der Tiefe des Wassers sie wieder auf. Noch jetzt sehen die Bewohner der Gegend die moosbedeckten Karpfen, die kleinen schwimmenden Inseln gleichen, und die centnerschwere Karausche mit den feuerrothen Augen, das große Schlüsselbund um den Hals, auf der Oberfläche des Sees. Aber in demselben Augenblick tauchen sie wieder unter, geschreckt von ihren Verfolgern.

Fußnoten

1 Nach Otmar S. 251 etc.

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TextGrid Repository (2012). Grässe, Johann Georg Theodor. Sagen. Sagenbuch des Preußischen Staats. Erster Band. Provinz Sachsen und Thüringen. 334. Das Grundlos. 334. Das Grundlos. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-5A00-D