678. Wie ein Sohn seinen Vater übel berichtet mit den Glossen des Rechts.

(S. Hennenberger S. 478.)


Ein Preuße, so vor einer Stadt auf einem Gartengrundstück wohnte, hatte einen Sohn von gutem Kopf, dem er soviel von seinem Vermögen [623] vorstreckte, daß derselbe beim Studiren bleiben konnte. Dieser war lange in Welschland zu Bologna bei einem großen Herrn, der ward mit der Zeit Regent, förderte diesen, daß er Doctor ward, und schenkte ihm alle seine Bücher, die großes Geld werth waren, nämlich wegen der Glossen, die damals selten waren. Nun kam er aber mit den ererbten Büchern wieder nach Preußen, seinem Vater in seinem Alter zu helfen, zog mit ihm in seinen Garten und las fleißig. Einstmals setzte sich der Vater zu ihm und fragte den Sohn mancherlei, was ihm dieser auch alles berichtete, auch warum der Orden vom Lande zum großen Theil gekommen sei, denn er habe oftmals ungerechte Urtheile über die armen Unterthanen gefällt, was Gott nicht ungestraft lassen könne. Nun fragte ihn der Vater weiter, was die schöne und grobe Schrift und auch die kleine mit etlichen rothen Buchstaben in seinen köstlichen Büchern zu bedeuten habe. Da antwortete der Sohn: »Die grobe Schrift ist der rechte Text und Wahrheit des Rechten, welches vor allen Dingen gehen sollte, aber die kleine Schrift ist die Betrügerei, wie man das Recht beugen, vermengen, aufschieben und verfälschen soll, daraus dann oftmals der Recht hat, Unrecht bekömmt. Die rothen Buchstaben bedeuten aber die Worte des Rechtes, auf welche man kann eine Betrügerei finden.« Der Vater schweigt still, verzieht bis der Sohn auf einen Abend in die Stadt zu einer Collation geht, da nimmt er eine Scheere, und wo er kleine Schrift fand, da schnitt er sie weg. Wie der Sohn zu Hause kam, fand er das Haus überall mit Glossen, die aus seinen Büchern geschnitten waren, bestreut und fragte zornig, wer das gethan habe. Der Vater antwortete bald, er habe es gethan und sagte dann weiter: »Mein lieber Sohn, ich habe Euch von dem Meinen, so viel nur möglich war, vorgestreckt, daß Ihr die Wahrheit und Gerechtigkeit lernen sollet, so sehe ich aber nun nach Euerem Bericht, daß Ihr wenig Recht, aber viel Betrügerei in Euern Büchern mitgebracht habt, so doch zuvor schon genug in Preußen ist. Damit nun nicht noch mehr fremde in das Land komme, habe ich sie aus Euern Büchern herausgeschnitten. Denn so der Orden schon damit um das Land gekommen, so möchte es auch leichtlich geschehen, daß ich damit um meinen guten Garten käme!« Da sprach der Sohn zum Vater: »Ihr habt mir recht gethan, denn hätte ich Euch recht unterwiesen, so wäre mir recht geschehen. Die ausgeschnittene Betrügerei würde in viele Häuser getragen und dies gelobt und belacht werden!« Doch ist die Glosse trotzdem überall in das Land gekommen und gar fleißig verwahrt worden, und es heißt: »Practica est multiplex, qui non intelligit, est simplex«, denn sie noch manchen Schaden thut.

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TextGrid Repository (2012). Grässe, Johann Georg Theodor. Sagen. Sagenbuch des Preußischen Staats. Zweiter Band. West- und Ostpreußen. 678. Wie ein Sohn seinen Vater übel berichtet. 678. Wie ein Sohn seinen Vater übel berichtet. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-3810-6