775. An Friedrich August von Kaulbach

775. An Friedrich August von Kaulbach


Wiedensahl 5. Juni 1889.


Lieber Fritz!

Neulich z.B. setzte der Naturforscher, indem er zugleich mit dem Zeigefinger nach einem saftigen Kastanienbaum hinwies, auf die Lehne seines Gartenstuhles einen sogenannten Maikäfer. Dieser, munter bis zur einen Ecke marschirend, blickte stutzig in die Tiefe. »Hier ist's aus mit dem Verkehr«, denkt er, kehrt um bis zur Mitte, bleibt hocken, erwägt alles mit Muße, setzt sich schließlich in Krabbeltrab und gelangt richtig an die andere Ecke. Wieder ein Malefizabgrund. »Na, denkt er, dann so werd ich gefälligst mal fliegen.« Er druckt und druckt. Er hebt seine braunlackirten Frackschöße, er entfaltet die verprömmelten Unterflügel. Jetzt geht's los. Nein, doch nicht. Aber jetzt. Nein, doch nicht. Aber nu. Nein, doch nicht. Wahrhaftig. Burr! Dort schweimelt er hin, grad noch über die Gießkanne weg, rechts um die Remontantrose, links um den Rothdorn, scharf am Zwetschenbömeken vorüber. Aaah! Da kommt verquer das langgestreckte Erbsenbeet, grad sorgsam gestiefelt, ein unendliches Wirrsal von dürrem Gezweig. Schwungvoll saust er hinein. Hupp! geht's hier. Hupp! geht's da. Surr butz! Da liegt er. Verschämt krault er zurück in die nahe hainbüchene Hecke und setzt sich bescheiden in's schattige Laub. »Nun seh ich's wohl«, sprach der aufmerksame Naturforscher, »ein Vogel, ein sehr gewandter, ist der Maikewwer nicht.« – Ich wollte neulich nach München. Ich war nicht da, glaub ich. Zwei mal sah ich vom Harz in die Richtung nach Kaßel, zwei mal von Kaßel in die Richtung nach dem Harz. Und, das muß man sagen, ein herzgewinnender Frühling war's heuer, voll Herrlichkeit, wie nie, obschon voll Ungeziefer, wie ein polnischer Jud.

Hoffentlich habt Ihr ihn, du nebst Gemahlin, in ungetrübtem Behagen, Licht, Luft und Duft und Farb und Wärme, ohne Mucken und Raupen, mit Sinn und Seele ausgiebig genießen können. Leb fernerhin wohl, lieber Freund! Sei bedankt für deinen angenehmen Brief (für den Vogel bedankt' ich mich schon) und denk gelegentlich auch mal wieder an deinen ollen

W.B.

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TextGrid Repository (2012). Busch, Wilhelm. Briefe. 775. An Friedrich August von Kaulbach. 775. An Friedrich August von Kaulbach. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-1FA3-4