996. An Nanda Keßler

996. An Nanda Keßler


Wiedensahl 13. Nov. 94.


Meine liebe Nanda!

Das rothe Büchlein hat mich von Anfang bis zu Ende sehr intereßirt. Behandelt es doch die eleganten Miethverhältniße der weiblichen Unterstübchen zu Paris gar eingehend und, wie's scheint, mit völliger Sachkenntniß. Schon die Einleitung ist meisterhaft zweckentsprechend. Wie der raffinirte Koch das Wildpret erst etwas faul werden und Hautgout kriegen läßt, um es dem Gaumen des Gourmands desto reizender zu machen, so bereitet der Verwesungsgeruch bei der Sargöffnung gut vor auf das Patschuliparfum, vermischt mit dem Hauch einer kranken Lunge, womit alles, was folgt, fortwährend durchduftet ist. Um Liebe, die dadurch versöhnt, daß sie auf Kinder reflectirt, handelt es sich nicht; sondern diese Leutchen, die sonst nichts thun wollen, geben oder nehmen Geld für die Befriedigung des animalischen Triebes, ein Pläsir, das sie nur durch Putz, Eßen, Trinken, Spiel und Theater unterbrechen. Dem Helden der Geschichte (eine Art höherer Louis, er mag sagen, was er will) gehen bei jeder Gelegenheit vor Geilheit die Augen über; er dankt sogar Gott für seine liederlichen Genüße, bei denen die meisten Menschen doch wenigstens wittern, daß sie Sache des Teufels sind. So, denk ich, hat der antike Gauner, nach einem gelungenen Streich, dem Merkur, dem Gotte der Spitzbuben, sein Opfer gebracht. Der Vater ist köstlich. Als coulanter Biedermann hat er natürlich gegen eine Maitreße des Söhnchens nichts einzuwenden, aber so wie ihm die Consequenz nicht paßt, wird er entrüstet, plömerant, ja niederträchtig beredtsam. Tiefes Mitleid dagegen erregt die Heldin des Stücks – unbefangen in voller Verderbniß – lügend und betrügend, wie selbstverständlich – gewöhnt an kostspielige Nichtigkeiten, daher gedrängt zum schändlichsten, oft widerwilligem, Gelderwerb – endlich verliebt, wie eine vergiftete Fliege und krank zum Sterben. Noch Großmuth dazu wäre gar nicht mal nöthig gewesen; auch der gemeinste Verbrecher kann großmüthig sein. Und in all das hinein spielt so ein angenehm niedliches Christenthum, das den schwierigsten der Knoten durch ein paar leichte Handgriffe und Zeremonien auf das Bequemste zu lösen verspricht. – Ein charakteristisches Zeitgemälde. – Ob man's aber lieben, ob man dafür schwärmen soll, das frage den Hudi. – Nicht als wär ich prüd, als möcht ich nicht gelegentlich hören oder sagen, was die Spatzen auf dem Dache pfeifen. Ein guter Champagner, wenn's sich grad paßt, und wär's ein Gläschen zu viel; sogar ein scharfer Schnaps oder zwei auf der Bauernkirmes – alabonheur! – aber nur kein Morphium nicht!

So siehst du denn, daß ich dein Büchlein getreulich gelesen habe, wenn es auch nicht grad die "versöhnende" Wirkung gemacht hat, wie Du zu meinen schienst.

Sei bedankt, liebe Nanda, und herzlich gegrüßt mit den Kindern von

Deinem alten, fast braven,

Onkel Wilhelm. [44]

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TextGrid Repository (2012). Busch, Wilhelm. Briefe. 996. An Nanda Keßler. 996. An Nanda Keßler. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-187C-9