644. Der Eremit auf Gschnaid.

Mündlich von Leutkirch.


Zwischen Frauenzell und Kemrazhofen an der wirtembergischen und bairischen Grenze liegt in einer einsamen öden Gegend ein dickbewaldeter Hügel mit einem ebenen, mächtig großen Platze oben. Dieser Hügel heißt »Gschnaid«.

Als vor Zeiten mal in Kempten ein Kloster aufgehoben wurde, zogen zwei Klosterherren aus, jeder den entgegengesezten Weg. Der Eine von ihnen kam auch in diese Wildniß. Alles war voll Moor und Sumpf, weithin war [419] kein Obstbaum zu sehen. Hier baute er eine Hütte und lebte von Wurzeln und führte ein gar frommes Leben. Aber er wußte nicht, wo er eine Quelle fände, um seinen Durst zu löschen. Da bemerkte er mal, wie alle Tage eine Schaar wilder Raben einem Orte unten an dem Hügel zufliege, und gewiß sei dort eine Quelle. Er zog ihnen nach und fand richtig ein Brünnlein, eine Viertelstunde über steilen Felsen drunten. Das Brünnlein selbst ergießt sich, kaum an's Licht getreten, schon wieder in einen Felsen. Dahin kam der Einsiedler täglich.

Mal nach langer Zeit kam auch der andere Einsiedler, der etwas jünger war, in diese Gegend, um den alten Freund aufzusuchen. Er hatte seine Fußspuren im Schnee (vom Brünnlein an) verfolgt und gelangte zu der Hütte. Da fand er den ehemaligen Freund, der aber nichts mehr von der Welt wissen wollte und ihn von dannen gehen hieß. Er solle nach vielen Jahren wieder kommen und dann nach ihm sehen, wenn er gestorben sei. Er kam dann nach langer langer Zeit wieder. Der Einsiedler hatte ihm streng verboten, Jemanden etwas von seinem Aufenthalt zu sagen. Da traf er die Hütte wieder, dabei ein Grab; drinnen lag sein Leichnam und alles mögliche Gestrüpp, verfaultes Holz etc. auf ihm. Man machte Anstalten, um ihn zu begraben und nach Frauenzell zu führen. Trug ihn herunter zum Brünnlein und lud ihn auf einen Wagen. Aber allemal kehrten die Zugthiere wieder um, dem Berge hinauf zu, und sie waren nicht weiter zu bringen. Darin sah man eine höhere Weisung und begrub den Leichnam droben. Bald erhob sich über dem Grabe eine kleine Kapelle und ein Kreuz. Allgemein war jezt die Verehrung des Einsiedlers, und die Kapelle wurde nach und nach eine berühmte Wallfahrt. – Eine [420] Unzahl, man sagt an die Tausende, kleiner und großer hölzerner Kreuze sieht man droben, ja bis an's Brünnlein herunter alles voll, und bis weit in den Wald hinein. Diese Kreuze werden oft von Wallfahrern zehn bis zwölf Stunden weit hergebracht.

Jeder Wallfahrer opfert nach Vermögen; alle möglichen Schmucksachen legt man auf die Altäre; der fromme Glaube weiß sogar von dem Opferbewahrer, der mal frevelte und etwas bei Seite that, daß er habe nicht mehr wegkommen können, bis er durch des Priesters von Frauenzell Hülfe befreit worden sei. Besonders häufig werden Werg und Garn unter dem Geopferten gesehen. Auch nehmen Augenleidende von des Eremiten Brünnlein Wasser mit; es soll heilsam sein. – Woher der Heilige war und wie sein Name gewesen, weiß Niemand.


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TextGrid Repository (2012). Birlinger, Anton. 644. Der Eremit auf Gschnaid. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-0733-5