[1r]

Sieh', liebster Freund, da bin ich schon wieder, oder richtiger,
ich bin in Gedanken noch gar nicht fort, wenigstens nicht weit.
Der Körper hat sich dieses mal bey mir flüchtiger erwiesen
als die Seele, wie ja dieß übrigens auch, gehörig erwogen,
das rechte Verhältnis zwischen beyden ist, obschon du, nach
deiner schlauen Weise, vielleicht dennoch meinen wirst, daß
es mit diesem Verweilen, gerade bey mir, nicht ganz mit
rechten Dingen zugehe. Nun du hast ja Geduld genug gehabt
mit dem Anwesenden und so wirst du wohl auch den Abwesen-
den, und gleichwohl Gegenwärtigen, nach seiner Weise, die wie
du weißt noch nicht die schlimmste ist, gewähren lassen. Ohne
recht zu wissen, wie mir geschehen, und noch viel weniger
wie mir weiter geschehen werde, habe ich vorgestern Abend,
schwankend zwischen Heimath und Fremde, zwischen Nähe
und Ferne habe ich vorgestern Abend1 die vier ersten
Meilen zurückgelegt. Ungewöhnlich schnell, "um Mitter-
nacht" - war ich in Potsdam; während meine Reisegenossen
schlaftrunken im Passagierzimmer sich durch Kaffee zur
weitern {Farth} zu stärken suchten, so unternahm ich, gleich-
falls im Vorübergehenden, während der kurzen Rast,
eine einsame Wanderung durch die stillen Straßen und
dieses Mal seh ich mich, nachtwandelnd aber nicht träumend,
durch meinen Genius besser geleitet als früher bey hellem
Sonnenschein. Ich war so schnell orientiert, im eigentlich-
sten Sinn, und daher meiner Sache so gewiß, daß es
mich gar nicht in Verwunderung setzte als ich vom Nachtwäch-
ter, auf die Frage wem das gegenüberstehende Haus gehöre
[1v]die erwartete Antwort erhielt. Du siehst wohl, daß ich nicht
umsonst so fleißig die Vielheit der Welten studiert habe,
oder wie hätte ich sonst unter den vielen Sternen über mir,
so schnell das ferne schlummernde Doppelgestirn aufzufinden
vermocht. Ich wäre wohl geblieben bis daß ich die Lerche
vernommen hätte, allein das unerwünscht dem Kanal ent-
lang tönende Posthorn übernahm diese Mal die Rolle der
Lerche und so mußte ich denn fort trotz dem daß sie zog.
Noch eine Stunde etwa brachte ich wachend zu, wunderbar
bewegt, und dann übte die Natur ihr wohlthätiges Recht und hüll-
te mich in ihren nächtlichen Mantel ein. Erst kurz vor Beelich
eben da die Sonne aufging im reinen Osten, schlug ich die Au-
gen wieder auf: ich meinte in die ihrigen zu sehen und fühlte
mich so frisch und gestärkt als könne mir kein Leid widerfahren.
Und so habe ich denn auch meinen Weg bis hierher weiter
fortgesetzt, andern Sinnes zwar wie ehedem, aber doch im
ganzen getrostern Muthes, als ich glaubte daß es mög-
lich seyn würde. Wem ich das verdanke, ob der Philo-
sophie
oder, wie Deine Frau meinen würde, meinem leich-
ten, das will ich für jetzt nicht weiter untersuchen,
genug ich nehme es dankbar an und denke "der Weg ist
begonnen, vollende die Reise". Die trüben Stunden blei-
ben ohnehin nicht aus, aber auch darauf bin ich gefasst,
da ich den ῤυθμος kenne, der uns treibt. Eurer habe
ich diese beyden Tage her, gar vielfältig und liebe-
voll gedacht um so mehr, da ich weiß daß Ihr die Einzi-
gen seyd die mir auf meiner {Farth} in die heimathliche
Fremde ein treues Geleit geben. Dir, liebster Freund,
sollte ich übrigens meinen, müßte es bey allem Wohlwol-
len gegen mich, lieb seyn daß Du mich auf eine Weile we-
[2r]nigstens los geworden bist, denn ich bin dir doch wohl diese letz-
ten Monate hindurch, wenn auch nicht2 direkt, doch indirekt et-
was zu eintönig geworden. Ich fühle das selbst lebhaft
und weiß es dir freylich dank, daß du mich immer so ge-
duldig angehört hast. Sollte ich mich noch ausdrücklich ent-
schuldigen, so würde ich mich auf den ernsten Kant berufen
dessen Satz, daß das Ich alle unsere Vorstellungen beglei-
tet, sich an mir, seit ich mein unmittelbares Ich verlohren
habe, auf eine sehr anschauliche Weise bestätigt hat. Doch
ich sehe wohl auch das Philosophieren hilft mir zu nichts
und auch du würdest nichts damit ausrichten wenn du dar-
auf ausgehen wolltest, mich mir selbst dadurch wiederzu-
geben. Am besten wird es immer seyn wenn du mich,
wozu du wohl ohnehin geneigt bist, reden läßt, bis
daß ich müde werde und das ist gegenwärtig der Fall;
ich bin diese letzte Nacht, bey einigem Kopfschmerz, schlaf-
los zusammengeschüttelt worden und verlange nunmehr, nach-
dem ich diesen Abend, bis daß es finster geworden war,
im Saalthal herumgewandert bin, nach Ruhen. Morgen
früh um 4 Uhr geht es über Eisleben und Sangerhausen
nach dem Landgut meiner Mutter, wo zwey meiner Ge-
schwister mich erwarten. - Deiner Frau von mir al-
les Gute und Wohlwollende; was ich ihr von Herzen
wünsche, ist bald gesagt, aber viel: ein heiterer Sinn, -
ohne den nun einmal nicht durchzukommen ist. - Wenn sie
sonst nach dem Inhalt dessen was ich schreibe frägt, so
magst du ihr immerhin meine Briefe zeigen, da sie ja
von sich behauptet mir anzusehen wie mir zu Muthe ist,
und es übrigens, wofür ich ihr gar sehr danke, wohl mit
mir meint. Laß mich bald etwas von dir hören und grüße, mit den besten Wünschen von mir, unsren lieben Meister.

LvH.
habe ich vorgestern Abend]
nicht]
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TextGrid Repository (2023). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 22. August 1822. von Henning an Unbekannt. Z_1822-08-22_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-C4A3-B