[56] Auf einer Brücke

Die Flut erreichte den höchsten Stand.
Der Regen tropft leis auf See und Sand
Aus Frühlingswolken, die, schwammig und schwer,
Träg' wandern über das leere Meer,
Über des Deiches eiserne Bänder,
Über den Reichtum der Marschenländer.
Kein Vogel fliegt, kein Schiff ist in Sicht,
Der Leuchtturmwärter entzündet sein Licht.
Nordsee – Mordsee, was heuchelst du,
Heuchelst du heimtückisch ewige Ruh?
Nur von der verlassenen Hallig klagt
Der Avosetten und Tüten Geschrei;
Oder kreischt eine Wasserfei,
Von plumpen Tritonen verfolgt und gejagt?
Sonst ist's tot, kein Ruf, kein Ruderschlag,
Tot wie vor dem ersten Schöpfungstag.
Mir ist es, als ob im Luftgebilde
Gletscherspitzen und Eisgefilde
Wunderbar weiß sich im Dämmer recken,
Sich immer höher und höher strecken.
[57]
Eine große süddeutsche Stadt fällt mir ein,
Mit Siegesthoren aus Marmelstein,
Mit prächtigen Straßen und Prachtpalästen,
Mit bunten Fahnen und Festen und Gästen.
Auf einer Brücke bleib' ich stehn,
Und lasse die Welt vorübergehn,
Karrenschieber, Künstler, wer's immer sei,
Alles muß an mir vorbei;
Grad' trabt daher ein Chevauléger,
Da wend' ich mich, vor mir liegt Tegernsee,
Da muß es liegen, die Richtung stimmt,
Die mein Blick in die Berge nimmt.
Klar scheinen die Alpen, und Thäler und Schroffen,
So fern es auch ist, zeigen frei sich und offen.
Zu den Menschen dreh' ich mich wieder hin,
Unerklärliches zog mir durch Herz und Sinn ...
Und es streift ein hübsches Kind meinen Rock,
Im Scherze streck' ich ihr vor den Stock:
Halt, Mädchen, nicht weiter, erst will ich wissen,
Wo lagst du in deinen Wiegenkissen.
»San's narrisch, dös froagt's a mal loam,
I bin jo von Tegernsee dahoam.
Wo kimmst denn du her, aus woas für a'n Land?«
Lütt Deern, ick bün vun de Waterkant,
Wo de Seehund sick spölt vör'n Butendick,
De Regenbagen sick spegelt in'n Slick.
Und kurz und gut, es gab ein Verstehn,
Daß bald wir munter zusammengehn
In der lustigen, leuchtenden Bayernstadt,
Die so viel fröhliche Menschen hat.
Wir beide, dicht aneinander geengt,
Haben uns durch die Menge gedrängt.
[58]
Und trug sie sich auch in städtischer Tracht,
Das hat für mich nichts ausgemacht:
Auf ihren Zöpfen, für mich, saß der Miesbacher Hut
Mit den goldenen Quasten, wie stand er ihr gut.
Bei ihrem silberverschnürten Mieder
Sing' ich tausend Schnadahüpfl und Wasserfalllieder.
Wir gingen lachend straßauf, straßab,
Wir wären lachend gegangen in's Grab.
Schließlich, wo wir endeten dann,
Wo wir blieben: »geht Neam'd woas oan.«
Verschwunden ist längst die letzte Helle,
Verdrossen schweigt vor mir die Nordseewelle.
Nur einmal, durch die Stille, durchs nächtliche Gatter
Hört' ich kurz ein lebhaftes Entengeschnatter.
Ich aber denk' an die herrliche Stadt,
Die das Herz mir im Sturme genommen hat,
An Isargrün und Alpenschnee,
An das schwarze Katherl von Tegernsee.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Liliencron, Detlev von. Gedichte. Haidegänger. Auf einer Brücke. Auf einer Brücke. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-EE94-5