Ein Tagewerk

1

Vom Lager stand ich mit dem Frühlicht auf
Und nahm hinaus ins Freie meinen Lauf,
Wo duftiggrau die Morgendämmrung lag,
[325]
Umflorend noch den rosenroten Tag;
Mich einmal satt zu gehn in Busch und Feldern
Vom Morgen früh bis in die späte Nacht,
Und auch ein Lied zu holen in den Wäldern,
Hatt ich zum festen Vorsatz mir gemacht.
Rein war der Himmel, bald zum Tag erhellt,
Der volle Lebenspuls schlug durch die Welt;
Die Lüfte wehten und der Vogel sang,
Die Eichen wuchsen und die Quelle sprang.
Die Blumen blühten und die Früchte reiften,
Ein jeglich Gras tat seinen Atemzug;
Die Berge standen und die Wolken schweiften
In gleicher Luft, die meinen Odem trug.
Ich schlenderte den lieben Tag entlang,
Im Herzen regte sich der Hochgesang;
Es brach sich Bahn der Wachtel heller Schlag,
Jedoch mein Lied – es rang sich nicht zu Tag.
Der Mittag kam, ich lag an Silberflüssen,
Die Sonne sucht ich in der klaren Flut
Und durfte nicht von Angesicht sie grüßen,
Der ich allein in all dem Drang geruht.
Die Sonne sank und ließ die Welt der Ruh,
Die Abendnebel gingen ab und zu;
Ich lag auf Bergeshöhen matt und müd,
Tief in der Brust das ungesungne Lied.
Da nickten, spottend mein, die schwanken Tannen,
Auch höhnend sah das niedre Moos empor
Mit seinen Würmern, die geschäftig spannen,
Und lachend brach das Firmament hervor.
[326]
Von Osten wehte frisch und voll der Wind:
»Was suchst du hier, du müßig Menschenkind,
Du stumme Pfeife in dem Orgelchor,
Schlemihl, der träumend Raum und Zeit verlor?
Dir ward das Leichteste, das Lied, gegeben,
Das, selbst sich bauend, aus der Kehle bricht;
Du aber legst dein unbeholfen Leben
Wie einen Stein ihm auf den Weg zum Licht!«
Sprach so der Wind? O nein, so sprach der Schmerz,
Der mir wie Ketten hing ums dunkle Herz!
Ein fremder Körper ohne Form und Schall,
So, deuchte mir, lag ich im regen All.
Und Luft und Tannen, Berge, Moos und Sterne,
Sie schlangen lächelnd ihren weiten Kranz;
Wie an der Insel sich das Meer, das ferne,
Brach sich an mir ihr friedlich milder Glanz.

2

Aber ein kleiner goldener Stern
Sang und klang mir in die Ohren:
»Tröste dich nur, dein Lied ist fern,
Fern bei uns und nicht verloren!
Findest du nicht oft einen Klang,
Wie zu früh herübergeklungen?
Also hat sich heut dein Sang
Heimlich zu uns hinübergeschwungen!
Dort, im donnernden Weltgesang,
Wirst du ein leises Lied erkennen,
Das dir, wie fernester Glockenklang,
Diesen Sommertag wird nennen.
[327]
Denn die Ewigkeit ist nur
Hin und her ein tönendes Weben;
Vorwärts, rückwärts wird die Spur
Deiner Schritte klingend erbeben,
Deiner Schritte durch das All,
Bis, wie eine singende Schlange,
Einst dein Leben den vollen Schall
Findet im Zusammenhange.«

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Ein Tagewerk. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9F48-5