[100] Gedanken eines Lebendig-Begrabenen

1

Ei, wie das kracht! – Abscheuliches Geroll
Von Schutt und Erde, polternden Gebeinen!
Ich kann nicht lachen und kann auch nicht weinen –
Es nimmt mich wunder, wie das enden soll!
Nun wird es still. – Sie trollen sich nach Haus
Und lassen mich hier sieben Fuß tief liegen;
Nun, Phantasie! laß deine Adler fliegen,
Hier schwingen sie wohl nimmer mich heraus!
Das ist jetzt eine wunderliche Zeit!
Im dunklen Grab kein Regen und kein Rühren,
Indes der Geist, als Holzwurm, mag spazieren
Im Tannenholz – ist das die Ewigkeit?
Die Menschen sind ein lügnerisch Geschlecht,
Sie haben selbst den Erdboden belogen,
Den ernsten Moder schnöd mit mir betrogen –
Weh, daß die Lüge an sich selbst sich rächt!
Die Lügner gehn von hinnen ungestraft,
Ach, aber ich, die Lüge, ich muß bleiben,
Daß sich erbost der Tod an mir kann reiben,
In Tropfen trinkend meines Lebens Saft!

[101] 2

Da lieg ich nun, ohnmächtiger Geselle,
Geschieden von der ganzen, weiten Welt!
Versprengter Tropfen von der Lebensquelle,
Ein Baum, noch grünend, ist er auch gefällt!
Wohlan! ich will, was kommen soll, erwarten;
Still und behaglich ist's im Grabe hier,
Ich fühle nicht die Glieder, die erstarrten;
Doch hell und heiter glimmt die Seele mir.
Hätt ich nun einen ewigen Gedanken,
An dem man endlos sich erproben mag,
So möcht ich liegen in den engen Schranken,
Still und behaglich, bis zum Jüngsten Tag.
Vielleicht, wer weiß, wüchs er zu solcher Größe,
Zu solcher Stärke, daß er, ein Vulkan,
Im Flammenausbruch dieses Grab erschlösse,
Vorleuchtend mir auf neuer Lebensbahn.
Wie wundersam, wenn über meinem Haupte
Der Abendtau die matten Blumen kühlt:
Ob wohl, lustwandelnd dann, der Pfarrherr glaubte,
Daß unter ihm ein Wetterleuchten spielt?
Daß, glänzend in des eignen Geistes Strahlen,
Hier unten eine Menschenseele denkt?
Vielleicht sind dieses der Verdammung Qualen:
Heimlich zu leuchten, ewiglich versenkt.

[102] 3

Ha! was ist das? Die Sehnen zucken wieder,
Wie Frühlingsbronn quillt auferweckt das Blut,
Es dehnen sich die aufgetauten Glieder,
Und in der Brust schwillt junger Lebensmut!
Nun ist's geschehn – nun bricht herein der Jammer!
Ich überschau mein grausiges Geschick!
Ich messe tappend meine Totenkammer,
Die Späne knirschen unter dem Genick.
Halt an, o Wahnsinn; denn noch bin ich Meister
Und bleib es bis zum letzten Odemzug!
So scharet euch, ihr, meine Lebensgeister,
Zu kämpfen mit dem wilden Sinnentrug!
So öffnet euch, krampfhaft geballte Fäuste,
Und faltet euch ergeben auf der Brust!
Wenn zehnfach mir die Qual die Stirn umkreiste:
Fest will ich bleiben und mir selbst bewußt!
Von Erdenduldern ein verlorner Posten,
Will ich hier streiten an der Hölle Tor!
Den herbsten Kelch des Leidens will ich kosten:
Halt mir den Becher, göttlicher Humor!

4

Sie haben mir, als sie der Tod belogen,
Wie's scheint, die Sonntagsweste angezogen:
In ihren Taschen fand ich einen alten
Zahnstocher und ein Bleistift aufbehalten.
[103]
Einst gab es Tage, wo man zum Geleite
Den Toten Schwert und Pfeile legt' zur Seite: –
Schmählich Jahrhundert du, das seinen Leichen
Zahnstocher nur und Bleistift weiß zu reichen!

5

Ins Innre jedes Sarges sollte man
Hell von Metall 'nen Spiegel schlagen an,
Der, wie man sagt, in tiefster Dunkelheit
Getreu die Leichenzüge konterfeit.
Das wär ein Schatzfund, wenn aus Gras und Kraut
Man grauend diese Bilder dann erschaut',
Wie hingehaucht, vom Rost leicht überwebt,
Unheimlich hell vom Sonnenlicht belebt!
Die man lebendig einst zu Grabe trug,
Gesunden Herzens in die Erde schlug:
Mit den zerrißnen Zügen wären sie
Die Perlen einer Totengalerie.
Wenn irgendwo ein reicher König praßt,
Der Licht und Leben und die Jugend haßt,
Doch heuchlerisch um tote Musen freit:
Ihm wär ein solcher Kunstschatz dann geweiht!

6

Horch! Stimmen und Geschrei, doch kaum zu hören,
Dumpf und verworren tönt es, wie von ferne,
Und ich erkenn sie, die allnächtlich stören
Der Toten Schlaf, den stillen Gang der Sterne.
[104]
Der trunkne Küster, aus dem Schank gekommen,
Setzt sich noch in den Mondschein vor dem Hause,
Kräht einen Psalm; doch kaum hat sie's vernommen,
So stürzt sein Weib hervor mit Zorngebrause,
Heißt ihn hereingehn und beschilt ihn grimmig,
Hell kräht zum Mond indessen der Geselle:
So mischet sich, erbost und eulenstimmig,
Ihr Zanken in sein trunkenes Gebelle.
Sie muß ganz nah sein, da ich es kann hören,
Die überkommne, alte Pfründerhöhle;
Laß sehn, ob das Gesindel ist zu stören:
Schrei, was du kannst, angstvoll gepreßte Kehle!
Die Tür schlägt zu – der Lärm hat sich verloren,
Es hülfe nichts, wenn ich zu Tod mich riefe;
Sie stopfen furchtsam ihre langen Ohren
Vor meinem Hilferufen aus der Tiefe.

7

Läg ich, wo es Hyänen gibt, im Sand,
Wie wollt ich hoffnungsvoll die Nacht erharren,
Bis eine käme hungrig hergerannt,
Mich heulend aus der lockern Gruft zu scharren!
Wie wollt ich freudig mit dem wilden Tier
Dann um mein Leben, unermüdlich, ringen!
Im Sande balgt' ich mich herum mit ihr,
Und weiß gewiß, ich würde sie bezwingen.
Und auf den Rücken schwäng die Bestie ich
Und spräng im Leichentuch, wie neugeboren,
[105]
Und singend heimwärts und schlüg wonniglich
Dem Arzt den Totengräber um die Ohren.

8

Als endlich sie, nach langem, schwankem Lauf,
Am Grab noch hoben diesen Deckel auf:
In jenem Augenblick hab ich gesehn,
Wie just die Sonne schied im Untergehn.
Erleuchtet von dem abendroten Strahl
Sah ich all die Gesichter noch einmal,
Den Turmknopf oben in der goldnen Ruh –
Es war ein Blitz, sie schlugen wieder zu.
Ich sah auch zwischen Auf- und Niederschlag,
Daß Märzschnee dicht auf allen Gräbern lag;
Das Wetter muß seither gebrochen sein,
Denn feucht dringt es durch diesen engen Schrein.
Ich hör ein Knistern, wie wenn, mählich, leis,
Sich Schollen lösen aus des Winters Eis;
Ich hör ein feines Rieseln, wie wenn sacht
Das Erdreich aus dem starren Schlaf erwacht.
O wehe, wehe mir! nun darf es kühn
Hinaus in Gottes freien Himmel blühn!
O wehe mir! ich bin ja auch erwacht
Und kann nicht regen mich in Grabesnacht!
Wie jedes Samenkorn sich mächtig dehnt,
Der junge Halm nach jungem Licht sich sehnt,
So reck ich meinen armen, armen Leib –
Oh, 's ist ein fruchtlos grimmer Zeitvertreib!
[106]
Hört man nicht klopfen laut da obenwärts
Hier mein lebendiges begrabnes Herz?
O wüßten sie, wie es da unten tut!
Fluch über die gedankenlose Brut!
Wie munter quillt der kühle Erdensaft!
Lösch aus nur meines Lebens Fieberkraft!
Zu allen Fugen rinnt es mir herein,
Und oben ist's nun warmer Frühlingsschein.

9

Tief im Gehirne brennt mich diese Stille!
Wenn ich verzweifelnd einen Augenblick
Geruht, wie mir befahl mein schwacher Wille,
So kehrt die Angst verdoppelt mir zurück.
Und vor den Augen stets die schwarze Hülle,
Sie tun mir weh, so offen starren sie.
Wie brennt mich im Gehirne diese Stille –
Ihr Nachbarn! schreit ihr denn im Schlafe nie?
Horch – endlich zittert es an meine Bretter!
Was für ein geisterhaft metallner Klang,
Was ist das für ein unterirdisch Wetter,
Das mir erschütternd in die Ohren drang?
Jach unterbrach es meine bangen Klagen,
Ich fuhr zusammen, still, fast hoffnungsvoll –
Eilf – zwölf – wahrhaftig, es hat zwölf geschlagen,
Das war die Turmuhr, die soeben scholl.
Die große Glocke ist's im hohen Stuhle,
Die klingt ins tiefste Fundament herab,
[107]
Bahnt sich den Weg in diesem Leichenpfuhle
Und singt ihr Lied in mein verlaßnes Grab.
Das ist gewiß, gesteh's nur, armer Racker!
Wohl so poetisch, wie wenn vordem ich
Am Mittag oft vom fernen Frühlingsacker
Bei diesem Klang vergnügt nach Hause schlich.
Gewiß sind jetzt die Dächer warm beschienen
Vom sonn'gen Lenz, vom jungen Ätherblau;
Nun kräuselt sich der Rauch aus den Kaminen,
Die Leute lockend von der grünen Au.
Was höhnst du mich, o Glockenton, im Grabe
Und mehrest meine namenlose Qual?
Entdeckst mir plötzlich, daß ich Hunger habe
Und nicht kann hin zum ärmlich stillen Mahl?
Ich hab mein Teil gehungert doch dort oben,
Und nun im Grabe wieder hungert's mich –:
Ist dieser Stern aus Hunger denn gewoben,
Und mehrt der Hunger mit der Tiefe sich?
Halt aus, mein Herz! wir müssen ihn bezwingen,
Es ist ein feiger, schmählich gift'ger Feind!
Auf dem Geworfnen laß uns grimmig ringen
Mit andern, die sich gegen uns vereint!

10

Zwölf hat's geschlagen – warum denn Mittag?
Vielleicht der Mitternacht ja galt der Schlag,
Daß oben nun die stillen Sterne gehn;
Ich weiß es nicht, ich kann es ja nicht sehn!
[108]
Ha, Mitternacht! Ein heller Hoffnungsstrahl!
Der nächtlich schon so manches Grab bestahl:
Der Totengräber schleicht nun wohl herbei
Und macht erschrocken mich Lebend'gen frei! –
Doch was für Kleinod sollt er suchen hier?
Er weiß zu gut: er findet nichts bei mir!
Ein golden Ringlein nun erlöste mich –
Du bittre Armut, jetzt verfluch ich dich!

11

O ich mag rufen, schreien, wie ich will,
Es wird mein Angstruf nimmermehr vernommen;
Da oben bleibt es, wie da unten, still,
Wer sollte auch zu diesem Hügel kommen?
Denn meine Mutter ist romantisch nicht,
Und, alt und schwach, bleibt einsam sie zu Hause;
Wenn ihr das Herz ob meinem Tode bricht,
Sie birgt's und weint in der verschloßnen Klause.
Ja hätt ich ein verlaßnes Liebchen nun,
Das vor dem Morgenrot zu klagen käme,
Auf meiner kühlen Erde auszuruhn,
Und meinen Jammer wonnevoll vernähme!
Warum hab ich's der einen nicht gesagt,
Daß junge Liebe mir im Herzen sprosse?
Ich hab gezaudert und es nicht gewagt –
Die Krankheit kam und diese tolle Posse.

[109] 12

Wenn einsam sie vielleicht und ungeliebt,
Nachdenklich manchmal ihre Augen senkt,
O wüßte sie dann, daß ein Herz es gibt,
Das hier im Grab lebendig an sie denkt!

13

Da hab ich gar die Rose aufgegessen,
Die man mir in die starre Hand gegeben!
Daß ich noch einmal Rosen würde essen,
Ich hab es nie geahnt in meinem Leben.
Ich möcht nur wissen, ob es eine weiße,
Ob eine rote Rose das gewesen?
Am letzten Blatt, das spielend ich zerreiße,
Möcht ich es fühlend mit den Fingern lesen.
Wie vielen Gärten voller Knospenprangen
Bin ich gedankenlos vorbeigezogen!
Voll Geigen hat der Himmel mir gehangen –
Nur fand ich nicht den rechten Fiedelbogen.
Blühn wohl auch Rosen an des Himmels Bächen? –
Was kümmert's mich? Noch will ich es nicht wissen!
Will erst noch dieser Erde Rosen brechen!
He! laßt mich los aus diesen Finsternissen!
Ich will nicht sterben! Jung sind meine Sehnen
Und rasch noch die Gelenke meiner Knochen;
Ahnt niemand meine zornig-heißen Tränen?
Auf! holla! schlechter Kasten, sei zerbrochen!
[110]
– Wie Felsen halten diese Bretterstücke,
Und keine Fuge weicht, wie ich mich dehne;
Erschöpft und keuchend lehn ich mich zurücke,
Die nassen Haare voller Hobelspäne.

14

Viel besser wär's, zerschnittner Tannenbaum,
Du ragtest als ein schlanker Mast empor,
Bewimpelt, in den blauen Himmelsraum,
Vor einem sonnig heitren Hafentor!
Da, müssen wir einmal beisammen sein,
Lehnt' ich an dich im schwanken Bretterhaus;
Du aus dem Schwarzwald, jenseits ich vom Rhein,
Kamraden, reisten wir ins Meer hinaus.
Und bräch das Schiff zu Splittern auseinand,
Geborsten du und über Bord gefällt,
Umfaßt' ich dich mit eisenfester Hand:
So schwämmen beide wir ans End der Welt.
Am besten wär's, du stündest hoch und frei
Im Tannenwald, das Haupt voll Vogelsang:
Ich aber schlenderte an dir vorbei,
Wohin ich wollt', den grünen Berg entlang!

15

Der erste Tannenbaum, den ich gesehn,
Das war ein Weihnachtsbaum im Kerzenschimmer;
Noch seh ich heiter strahlend vor mir stehn
Das grüne Wunder im erhellten Zimmer.
[111]
Da war ich täglich mit dem frühsten wach,
Den Zweigen gläubig ihren Schmuck zu rauben;
Doch als die letzte süße Frucht ich brach,
Ging es zugleich an meinen Wunderglauben.
Dann aber, als im Lenz zum ersten Mal
Ich mich in einen Nadelwald verirrte,
Mich durch die hohen, stillen Maste stahl,
Bis sich der Hain zu jungem Schlag entwirrte:
O Freudigkeit! wie ich da, ungesehn,
In einem Wald von Weihnachtsbäumchen steckte,
Dicht um mein Haar ihr zartes Wipfelwehn,
Das überragend kaum die Stirn mir deckte.
Ein kleiner Riese in dem kleinen Tann,
Sah ich vergnügt die Weihnachtsbäume sprießen;
Ich faßte keck ein junges Tännlein an
Und bog es kindlich ringend mir zu Füßen.
Und über mir war nichts als blauer Raum;
Doch als ich mich dicht an die Erde schmiegte,
Sah unten ich durch dünner Stämmchen Saum,
Wie Land und See im Silberduft sich wiegte.
Wie ich so lag, da rauscht' und stob's herbei,
Daß mir der Luftdruck durch die Locken sauste,
Aus tiefer Luft schoß senkrecht her ein Weih,
Daß seiner Flügel Schlag im Ohr mir brauste.
Als schwebend er dicht ob dem Haupt mir stand,
Funkelt' sein Aug gleich dunklen Edelsteinen,
Und ringsum an der Schwingen dünnem Rand
Sah ich die Sonne durch die Kiele scheinen.
[112]
Auf meinem Angesicht sein Schatten ruht'
Und ließ die glühen Wangen mir erkalten;
Ob welchem Inderfürst von heißem Blut
Ward solch ein Sonnenschirm emporgehalten?
Wie ich so lag, erschaut ich plötzlich, nah,
Wie eine Eidechs mit neugier'gem Blicke
Vom nächsten Zweig ins Aug mir niedersah,
Wie in die Flut ein Kind von schwanker Brücke.
Nie hab ich mehr solch klugen Blick gesehn
Und so lebendig-ruhig, fein und glühend;
Hellgrün war sie, ich sah den Odem gehn
In zarter Brust, blaß, wie ein Röslein, blühend.
Ob sie mein blaues Aug wohl niederzog?
Sie ließ vom Zweig sich auf die Stirn mir nieder,
Schritt abwärts, bis sie um den Hals mir bog,
Ein bunt Geschmeide, ruhend, ihre Glieder.
Ich hielt mich still und fühlt mit lindem Druck
Den feinsten Puls auf meinem Halse schlagen;
Das war der schönste und der reichste Schmuck,
Den ich in meinem Leben je getragen.
Damals war ich ein kleiner Pantheist
Und ruhte selig in den jungen Bäumen:
Doch nimmer ahnte mir zu jener Frist,
Daß in denselben – solche Bretter keimen.

[113] 16

Der schönste Tannenbaum, den ich gesehn,
Das war ein Freiheitsbaum von fünfzig Ellen,
Am Schützenfest, im Wipfel Purpurwehn,
Aus seinem Stamme flossen klare Wellen.
Vier Röhren gossen den lebend'gen Quell
In die granitgehaune, runde Schale;
Die braunen Schützen drängten sich zur Stell
Und schwenkten jauchzend silberne Pokale.
Unübersehbar schwoll die Menschenflut,
Von allen Enden tönten Männerchöre;
Vom Himmelszelt floß Julisonnenglut,
Erglühnd ob meines Vaterlandes Ehre.
Dicht im Gedräng, dort an des Beckens Rand,
Sang laut ich mit, ein fünfzehnjähr'ger Junge;
Mir gegenüber an dem Brunnen stand
Ein braunes Mädchen von roman'scher Zunge.
Sie war zuhinterst vom Misokkertal,
Trug Alpenrosen in den schwarzen Flechten;
Sie füllte ihres Vaters Siegpokal,
Drein schien ihr Aug gleich Sommersternennächten.
Sie ließ in kindlich unbefangner Ruh
Vom hellen Quell den Becher überfließen;
Indessen wallten flatternd ab und zu
Die Fahnenzüg' mit buntem Wehn und Grüßen.
Als sie mich sah, warf sie mir wohlgemut
Aus ihrem Haar ein Röslein in den Bronnen,
[114]
Schlug gegen mich in Wellen schlau die Flut,
Bis ich erfreut den Blumengruß gewonnen.
Ich fühlte da die junge Freiheitslust,
Des Vaterlandes Lieb im Herzen keimen;
Es wogt' und rauscht' in meiner Knabenbrust
Wie Orgelsturm von ries'gen Tannenbäumen.

17

Ich muß ein Weilchen wohl geschlafen haben,
Denn wie aus Träumen schein ich mir erwacht;
Bin ich leibhaftig, wirklich denn begraben?
Noch immer diese enge, schwarze Nacht?
Mein Atem ist wohl heftig, rasch gegangen,
Indes der Traum die Wirklichkeit mir barg;
Ich fühl den Tau an meinen Schläfen hangen,
Die Luft ist heiß und dumpf in diesem Sarg.
O traurig, übertrauriges Erwachen!
O Augenauftun ohne Morgenlicht,
Wo keine Wolken durch die Fenster lachen,
Sich keine Reb um klare Scheiben flicht!
Doch wohl mir, daß ich heiße Tränen finde,
Da ich auch gar hier so verlassen bin!
O Kindestränen, fließet, fließet linde,
O Heimatsquell, ström unaufhaltsam hin!

[115] 18

Ich bin befreit, mein Weh hat sich gewendet,
Und ich empfind es: ich bin nicht allein; –
Der seine Strahlen durch das Weltall sendet,
Er strahlt mich an durch diesen Totenschrein.
Getrennt bin ich von meinem herben Leiden,
Ich bändige den Leib mit starkem Mut;
Wie wildes Meer, von dem ich mich will scheiden,
Laß brausen ich mein krank und siedend Blut.
Ja, toset nur, ihr ungetreuen Wogen!
Ich übersing euch, wie ein Ferg am Strand!
Lange genug bin ich mit euch gezogen:
Nun tausch ich euch an festes Blütenland.
Es ist noch gut geworden, und geschlagen
Hat mich der Herr mit einem Rosenstab;
Geläutert will ich meine Seele tragen
Zu ihm empor aus diesem Erdengrab.
Weil ich so sehr geliebt die grüne Erde,
Lebt ich so bang und tief in sie hinein; –
Wie ich in ihrem Schoß noch leiden werde:
Sie soll mein lieblichstes Gedenken sein!

19

O teure Luft! Mit jedem Odemzug
Vergeud ich sie, die unentbehrlich ist!
Fern bin ich euch, Berghöhen, Wolkenflug,
Wo man dies Gut nicht achtet und nicht mißt.
[116]
Hier eingeschlossen mit der Todesqual,
Der unsichtbaren, Stirn an Stirn gepreßt,
Umschlingt sie mir Haupt, Glieder, Herz zumal
Mit Schlangenringen, unbarmherzig fest.
Nun geht's ans Sterben – strenge Seelenzucht,
Der ich mich scheidend unterwerfen soll!
Mein Denken schwindet mir in dunkler Flucht –
Matt schlägt das Herz – bald bricht's – erwartungsvoll –

Notes
Entstehungszeit unbekannt. Erstdruck 1846.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Gedanken eines Lebendig-Begrabenen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9DE0-C