Caroline Auguste Fischer
Gustavs Verirrungen
Ein Roman

[Vorbemerkung]

[1] Man erzählt uns oft, was die Menschen sind; man beschreibt uns noch öfter – vielleicht ein wenig zu oft wie sie seyn sollen; aber man sagt uns, wie mich dünkt, noch immer nicht oft genug: auf welche Weise sie das werden, was sie sind.

[1] Ist diese letzte Bemerkung richtig, so hoffe ich, sie werde eine Entschuldigung für die Herausgabe des gegenwärtigen kleinen Romans enthalten.

[2]

Erstes Buch

1. Kapitel
Erstes Kapitel

Ich war achtzehn Jahr alt, und die ganze Welt lag wie ein Paradies vor mir. Meine Familie, meine Figur, mein Vermögen, alles versprach mir die glänzendsten Aussichten.

Meine Aeltern waren sehr frühzeitig gestorben, und ich wurde bey einer Tante erzogen. Sie war seit vielen Jahren Wittwe und außerordentlich reich. Meine [3] Vormünder hatten mich ihr gänzlich überlassen, und sie machte ihren Abgott aus mir.

Meine Figur war bezaubernd, und ich floß von Gesundheit über. Ich schien alle Reitze der Jugend und die ganze Kraft eines Mannes zu haben. Aber mein Temperament war noch unentwickelt, und ein rasches Pferd war mir lieber, als alle Mädchen in der Welt.

Doch die Natur blieb ihrem Plane getreu, und mein ganzes Wesen verwandelte sich. Ein neues Blut schien meine Adern zu durchströhmen, ein neues Herz in meiner Brust zu klopfen. Alle Bilder des Lebens schienen mir gleichsam aus der Dämmerung hervorzutreten, und eine Menge unbekannter Empfindungen wachten plötzlich in meiner Seele auf.

Ohne zu wissen, was mir fehlte, fing ich an eine Leere, eine Unruhe, eine Sehnsucht [4] zu fühlen, die mich unglücklich machte. Alle meine vorigen Beschäftigungen, alle meine bisherigen Vergnügungen konnten mich nicht mehr befriedigen. Alle meine Gedanken und Empfindungen schienen einem geheimnißvollen Ziele zuzufliegen, und alle Pulse meines Körpers klopften demselben mit Ungeduld entgegen.

Plötzlich fingen die Weiber an mir interessant zu werden, und es bedurfte nur eines Gegenstandes, um diese unbestimmte Neigung zu entwickeln.

[5]
2. Kapitel
Zweytes Kapitel

Der glückliche Zeitpunkt war näher, als ich dachte.

Eine halbe Stunde von unserm Guthe lag ein Städtchen, das von jeher sehr viel Anziehendes für mich gehabt hatte. Oft fand ich mich mitten zwischen den kleinen reinlichen Häusern, ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen war. Träumend ging ich dann in den Gasthof, ließ mein Essen unter die große Linde bringen, und bezahlte der dicken Wirthin gern die doppelte Zeche; wenn sie mir nur erlaubte, so wenig als möglich auf ihr Geschwätz zu antworten.

Nein, man sage, was man wolle! es giebt Ahnungen. – Unter dieser Linde[6] .... doch welch eine Ausschweifung! Zurück: zu dem schönsten Abende meines Lebens!

Es war ein Mayabend. Ich drängte mich mit meinem Pferde durch duftende Hecken, und jeder Athemzug vermehrte die Lebensfülle, die meine Brust mit schmerzhaftem Entzücken hob. Achtzehn Jahre und der May! – was brauche ich mehr zu sagen? – –

Schon erblickte ich die Linde; aber es war nicht mehr die sehnsüchtige Träumerey, die mich vormals bey ihrem Anblicke ergriff. Ich zitterte vor brennender Ungeduld, und sprengte mit dem heftigsten Galloppe in den Gasthof hinein.

Da flohen zwey weiße Gestalten vor mir auf die Wiese. Die letzte schlug die kleine Gatterthüre schnell hinter sich zu – aber wie glücklich! ihr Kleid ward von der Thüre festgehalten.

[7] »Ach!« rief sie – und ein Engelgesicht strahlte mir entgegen. »Ach!« – rief ich – und der Zügel sank mir aus der Hand. Ich vergaß ihr zu helfen, und sie vergaß ihr Kleid, vergaß, daß sie fliehen wollte. –

Endlich erwachte ich, sprang vom Pferde und eilte die Thür zu öffnen. Sie stammelte etwas von Dank und erröthete. Ohne zu wissen, was ich that, drückte ich einen brennenden Kuß auf das Kleid, aber plötzlich fühlte ich es von meinen Lipven entfliehen, und als ich wieder aufblickte, war auch sie verschwunden.

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3. Kapitel
Drittes Kapitel

»Wo bleibst du denn Marie?« – rief eine Stimme hinter der Laube – »Marie!« – wiederholte ich – und streckte meine Arme sehnsuchtsvoll nach der Laube aus. Aber wie? sah, hörte mich auch jemand? – der Gedanke trieb mir alles Blut in die Wangen, ich hatte nicht den Muth der Stimme zu folgen, und schlich träumend zu meiner Linde zurück.

Die dicke Wirthin hatte mich schon erwartet und kreischte mir nun zärtliche Vorwürfe wegen meines schnellen Reitens entgegen. Aber ob ich mich gleich dem Streicheln ihrer unsaubern Hände Preis gab; so konnte ich doch keine befriedigende [9] Nachricht wegen der Frauenzimmer von ihr erhalten. Im Gegentheil klagte sie sehr bitter über ihr geheimnißvolles Wesen, und meinte: es müsse – da sie eine Wohnung auf dem Lande suchten – mit ihrem Stande wohl nicht viel zu bedeuten haben. –

»Auf dem Lande!« – wiederholte ich, und plötzlich keimte in meinem Herzen die Hoffnung auf. Entzückt überließ ich mich diesem Gedanken, und hörte nicht mehr auf das Geschwätz der Wirthin. Sie begriff endlich, daß sie keine Antwort mehr von mir erwarten konnte, und ließ mich nun mit meinen Plänen allein.

Mit welchen Plänen! es galt nichts Geringeres als Marien die Wohnung meiner Tante anzubieten. Aber wie? – durch wen? – nun durch wen anders als durch mich selbst? – war ich nicht schön und liebenswürdig? sagte mir meine Tante das [10] nicht täglich? – hatten es mir die Blicke der Mädchen nicht oft genug wiederholt? und mußte ich nicht auf Marien selbst einen vortheilhaften Eindruck gemacht haben? –

Es war beschlossen: ich wollte sie aufsuchen, und – im Fall ich sie nicht fände – sie zu sprechen verlangen.

[11]
4. Kapitel
Viertes Kapitel

»Es kann nicht fehlen!« – sagte ich – und eilte im Fluge auf die Wiese. Aber wo blieb mein Muth und meine Selbstgenügsamkeit als mir die Graziengestalt entgegen kam! – ich zitterte so heftig, daß ich genöthigt war, mich an einen Baum zu lehnen; und so, mit dem Huthe in der Hand, in der Stellung eines demüthig Bittenden, erwartete ich sie.

Was ich sagte? was man mir antwortete? in der That, ich weiß es nicht mehr. Ich fand mich mit einem Mahle unter der Linde, Marien gegenüber. Freilich ward mein Antrag verworfen, freilich ahnete ich den Schmerz, der meiner wartete: aber voll [12] seeliger Trunkenheit in Mariens Nähe, wie hätte eine unangenehme Empfindung die herrschende bey mir werden können! –

Aber jetzt stand Marie auf. »Du siehst sie nicht wieder« – dachte ich, und mein Rausch war verschwunden. – Mit dem äußersten Ungestüm, die Augen unverwandt auf Marien – als wollte ich sie damit festhalten – gerichtet, ergriff ich die Hand ihrer Begleiterinn.

»Wäre es möglich Madam« – sagte ich mit einem Tone der das Mittel zwischen Befehl und Bitte war – »wäre es möglich daß Sie mir Ihren künftigen Aufenthalt verbergen, daß sie mir die Erlaubniß, Sie wieder zu sehen, versagen könnten?«

»Sie vergessen mein Herr« – erwiederte sie mit Kälte, – »daß man Gründe haben kann, gewisse Dinge zu verschweigen.« –

[13] Jetzt hatte ich alle Fassung verloren. »Madam« – sagte ich; und trat ihr gerade in den Weg – »wenn sie einen Augenblick bedenken wollten.« –

»Was wäre hierbey weiter zu bedenken?« – antwortete sie empfindlich.

»Ach Madam!« – fuhr ich fort – »wenn Sie wüßten wie sehr.« –

»Ich weiß! ich weiß mein Herr!« – unterbrach sie mich mit einem Lächeln, das mir durch die Seele ging.

»Mein ganzes Schicksal!« – rief ich aus.

»Es wird spät mein Herr.« – sagte sie mit einer Verbeugung, nahm Marien bey der Hand, und da stand ich. – –

[14]
5. Kapitel
Fünftes Kapitel

»Mein Pferd!« – rief ich, aus meiner Betäubung erwachend der Wirthinn entgegen – und stürmte – ohne mich weiter durch ihre Fragen aufhalten zu lassen – aus dem Städtchen hinaus.

Wie heftig erschrack meine gute, schwache Tante, als sie mich blas und entstellt in ihr Zimmer treten sah. Das ganze Haus gerieth in Bewegung. Es wurden Expresse zu dem Arzte und zu dem Chirurgus gesandt, und mir selbst schien es von Augenblicke zu Augenblicke gewisser: daß meine Gesundheit dieser heftigen Erschütterung nicht widerstehen würde.

[15] Welch ein unerhörter Zufall – es war der erste Wunsch in meinem Leben, der nicht augenblicklich erfüllt wurde. –

»Nein ich dulde es nicht« – rief ich aus – ich lasse sie mir nicht entreißen! ich will wissen, wer sie ist, wo sie bleibt, und wenn die ganze Welt sich dawider setzte!«

»Wer denn? – sagte meine Tante – zitternd vor Angst. »Wer denn?« – liebstes Kind! – ich will ja den Augenblick Anstalt machen. Ach hätte ich doch nur Ludwig nicht weggeschickt!«

»Nicht Ludwig, nicht Sie, kein Mensch kann mir helfen!« – rief ich, indem ich mich verzweiflungsvoll auf das Sopha warf und, taub gegen ihre Bitten, in ein langes, mürrisches Stillschweigen mich vertiefte.

Endlich sprang ich auf, lief zur Klingel, und schellte so heftig, daß die Fenster klirrten.

[16] »Was befehlen Ihro Gnaden? – rief ein allerliebstes kleines Figürchen in einem grünen Corsette zur Thüre hinein. –

»Ist mein Pferd« – hub ich an – und mein Ton wurde plötzlich sanfter. –

»O ja! – unterbrach sie mich – indem sie herzhaft vortrat und mir ein paar große schwarze Augen entgegenleuchten ließ; die keinen Augenblick an ihrer Allmacht zu zweifeln scheinen – »Das Pferd ist so eben in den Stall gebracht.«

»Der gnädige Herr werden doch wohl nicht wieder ausreiten wollen? – das arme Thier schien äußerst ermüdet.«

Die Figur war mir fremd, dieser zurechtweisende Ton war es noch mehr. Mit einem fragenden Blick wandte ich mich an meine Tante.

»Die neue Kammerjungfer« – sagte sie entschuldigend. – »Aber« – fuhr sie mit [17] einer bittenden Miene fort – »liebster Gustav! wäre es denn nicht möglich? daß Du vorher etwas ausruhen könntest?« –

»Das dächte ich auch« – fiel das grüne Corsettchen ein, und würde seine Beredtsamkeit aufs neue geübt haben; wenn nicht meine Tante mit der Hand auf die Thüre gedeutet hätte.

Jetzt da wir allein waren, und da sie mich in einer mildern Stimmung fand; gelang es ihr, mich zu einer ordentlichen Erzählung zu bewegen.

Wir berathschlagten bis tief in die Nacht und meine Tante entschloß sich, an Mariens Begleiterinn zu schreiben. Sie trug ihr in den schmeichelhaftesten Ausdrücken unser Landguth, und wenn sie dies nicht annehmen wollte, einen sehr angenehmen Meyerhof an, der eine Viertelstunde davon entfernt lag.

[18] Noch vor Tagesanbruch ward ein Bothe mit diesem Schreiben abgeschickt, und mit einem Herzklopfen, das mir fast den Athem benahm, hörte ich ihn vom Hofe reiten. »Ach!« – dachte ich – »welch eine Antwort wird er dir bringen?«

[19]
6. Kapitel
Sechstes Kapitel

»Wird es denn nimmermehr Tag werden!« – rief ich aus – indem ich die Thüre des Balkons auseinander schlug und mich trotzig – als müsse die Sonne meinen Befehlen gehorchen – auf das eiserne Gitter lehnte. Aber ach! noch verweilte die Sonne! – noch war kein Bothe zu hören. Halb vier Uhr war er weggeritten, jetzt repetirte meine Uhr – wie? sollte sie unrecht gehen? – erst vier!! – ach! das begriff ich nun wohl: vor einer Stunde war keine Antwort zu hoffen.

Unmuthsvoll streckte ich mich auf das Sopha, und der junge Despot, welcher vor einigen Augenblicken der Sonne gebiethen [20] wollte; lag nun bald vom Schlummer überwunden, seiner Stärke, wie seiner Schwäche sich nicht mehr bewußt.

Als ich erwachte, sah ich meine Tante mit einem offnen Briefe an meiner Seite sitzen.

»Sie haben?« – fragte ich – und streckte die Hand zitternd nach dem Briefe aus. –

»Ja, sie haben es angenommen« – fiel meine Tante ein – »aber mit einer Bedingung.«

»O alle mögliche! alle mögliche Bedingungen« – rief ich, und sprang vom Sopha auf.

Die Tante. Es wird dir schwer werden, lieber Gustav – aber es ist nun einmahl nicht anders.

Ich. Was? um Gottes willen! was wird mir schwer werden?

Sie. Sie nicht zu sehn.

[21] Ich. Sie nicht zu sehen! – wie, haben Sie recht gelesen? sieht das da?

Sie. Lies selbst. Wie ich dir sage: nur unter dieser Bedingung.

»Ach ich bin verloren! ich bin ein unglücklicher Mensch!« – Mit diesen Ausrufungen übertäubte ich jetzt alle Trostgründe meiner Tante.

Doch endlich legte sich der Sturm, ich fing an mich zu sammeln, und sah nun freilich wohl ein: daß meine Lage bey weitem nicht so hoffnungslos war; als sie es anfangs geschienen hatte, daß sich noch mancher bedeutender Vortheil von Mariens Nähe ziehen ließe, und daß es nichts weniger als unmöglich seyn würde, sie zu sehen; ohne von ihr gesehen zu werden.

Das unterscheidentste Kennzeichen der ersten, so wie der wahren Liebe – vielleicht sind diese beyden Worte gleichbedeutend – ist Genügsamkeit. Es bedurfte [22] nichts als die Hoffnung, Marien sehen und beobachten zu können; um den schwärzesten Unmuth durch die beseeligendste Phantasie zu verdrängen.

Den folgenden Abend wollten die Frauenzimmer nach dem Pachtergütchen abgehen: ich eilte daher, mich noch zuvor an dem Anblicke der Zimmer zu laben, welche nun bald alle meine Wünsche in sich schließen sollten. Meine Tante machte alle Vorkehrungen zur Einrichtung des kleinen Hauses: aber ob ich gleich jetzt zum ersten Mahl etwas der Dankbarkeit ähnliches für sie empfand; so war es mir dennoch nicht möglich, meine Begierde bis zu ihrer Abreise bezähmen zu können, und ich sprengte vom Hofe, noch ehe ihr Wagen vorgefahren war.

[23]
7. Kapitel
Siebentes Kapitel

»Die Kammer linker Hand,« hatte mir meine Tante gesagt. Jetzt stand ich in der Kammer.

Ach, Marie sollte sie bewohnen! – hier ein Clavier, dort ein Sopha, gegenüber ein grünes, seidnes Bettchen. Lange schon hatte ich es mit trunknem Auge betrachtet – endlich wagte ich es, mich zu nähern, die Vorhänge zu öffnen, und – plötzlich von einer Menge unbekannter Empfindungen ergriffen – sank ich mit einem Strohme von Thränen darauf hin.

Ach, welche Thränen! – gehörten sie dem Schmerze? dem Entzücken? – Ihr, die ihr die wahre Liebe kanntet, ihr mögt entscheiden.

[24] Das Geräusch eines Wagens weckte mich endlich aus meinem Taumel. Es war meine Tante, die, mit einer wirklich rührenden Sorgfalt nun alles anwendete, das einfache Häuschen zu einem kleinen Elysium umzubilden.

Indessen durchlief ich das ganze Gebieth, umarmte den Pachter, seine Frau, und alles, was mir in den Weg kam, beschenkte die Kinder, liebkosete dem Hunde, lachte und weinte, fragte, und hörte keine einzige Antwort. Ach, ich war glücklich, unaussprechlich glücklich! was kann man mehr seyn? –

Aber nun kam es darauf an, einen Ort aufzufinden, von welchem aus ich Marie beobachten könnte. Nach langem Suchen fiel meine Wahl auf eine große dickbelaubte Eiche, Mariens Zimmer gegen über. Zwar trennte sie ein Bach von dem Häuschen, aber ich konnte von ihrem Gipfel [25] den Garten und beynahe das ganze Gütchen übersehen.

Mehr als einmal bestieg ich sie, und berauschte mich in der reinen Lust, die ihre Zweige belebte. Je höher ich stieg, desto mehr schienen sich meine Empfindungen zu läutern, desto ruhiger klopfte mein Herz, und desto fester ward mein Entschluß: nichts zu thun, wodurch ich mich Mariens Liebe unwürdig machen könnte.

[26]
8. Kapitel
Achtes Kapitel

»Der Wagen! sie kommen, sie kommen!« – rief mein Heinrich, den ich auf den Weg geschickt hatte, mir am folgenden Abend entgegen. Mit einem Sprunge war ich aus Mariens Fenster, über den Bach, und schnell bis zum äußersten Gipfel meiner Eiche hinauf.

Der Wagen hielt, Heinrich öffnete den Schlag, und – o Gott, wie ward mir! – umfaßte Marie mit einer unerhörten Dreistigkeit, und hob sie, wie im Triumphe, aus den Wagen.

»Wer ist er, mein Freund?« – fragte Mariens Begleiterin, und Mariens Auge ruhte auf der herkulischen Gestalt. – [27] Ach, wie mir der Gedanke das Herz zerriß! er war doch noch männlich schöner, als ich – freylich auch ein Jahr älter. –

»Ich bin des Pachters Sohn,« – antwortete er mit einem Anstande, der mich zur Verzweiflung brachte, – »der junge Herr und ich wir sind Milchbrüder, und nun soll ich ihn begleiten, wenn er auf Reisen geht. Sollte noch irgend etwas fehlen,« – fuhr er fort, indem er die Hausthür öffnete – »so will ich bitten, daß Ihro Gnaden mich mit Ihren Befehlen beehren: es wird augenblicklich herbeygeschafft werden.«

Jetzt waren sie im Hause, und jetzt kochte mein Blut. Wie viel kostete es mich auf meiner Eiche den Augenblick abzuwarten, wo Marie in ihr Zimmer treten würde! – ach, ein Augenblick, nach dem ich so lange geschmachtet hatte. Endlich [28] öffnete sich die Thür, und – sollte ich meinen Augen trauen! – nur Marie und Heinrich traten herein, und sogleich schloß sich die Thüre wieder.

Mariens Blick fiel zuerst auf einen großen Rosenstrauch, den ich auf ihren Tisch hatte setzen lassen. Sogleich pflückte Heinrich die schönste Rose davon ab. »Ach, Schade!« – rief Marie. »Schade?« – wiederholte Heinrich – indem er ihr die Blume anboth – »o mein Gott! was wäre wohl Schade!« – und seine großen, brennenden Augen vollendeten die Ausrufung.

Jetzt trat das andere Frauenzimmer in die Thür, und jetzt konnte ich mich nicht mehr halten. Unvermerkt sprang ich vom Baume, und eilte den Verräther – so nannte ich ihn in meinem Herzen – aufzusuchen, und ihn augenblicklich zur Rede zu stellen.

[29]
9. Kapitel
Neuntes Kapitel

»Hier her!« – sagte ich im gebietherischen Tone, als er um die andere Ecke des Gartens biegen wollte – »wer hat dir erlaubt, in Mariens Zimmer zu treten?«

Er. Ihre Tante.

Ich. Das ist eine Lüge!

Er. – Indem er mich mitleidig ansah – »Meynen Sie mich?«

Ich. »Dich!« – sagte ich – und griff an den Hirschfänger.

Er. Wollen Sie hauen oder schlagen? – beydes wäre lächerlich; denn ich wette, Sie wissen nicht warum.

Ich. »Bube!« – rief ich, und jetzt flog der Hirschfänger aus der Scheide. – »Bube, ich werde!« –

[30] »Was wirst du, Gustav?« – wiederholte er, indem er ruhig vor mich hin trat – und plötzlich fiel mir die große Narbe in die Augen, die er davon trug, als er mich – ich war damals zehn Jahr alt – vom Pferde riß, in dem Augenblicke, da ich in Gefahr war, geschleift zu werden.

»Was wirst du?« – fragte er noch einmal – und ich lag in seinen Armen.

Nein, ich war nicht böse! – verzärtelt, verzogen, heftig, aufbrausend war ich; keinen Widerspruch konnte ich dulden: darum hatte man auch Heinrich schon vor drey Jahren aus der Gegend entfernt. Aber jetzt, da er, mit so mannichfaltigen Kenntnissen bereichert, zurückkehrte, so fest und doch so sanft, so männlich und doch so kindlich sich anschließend – jetzt mußte ich ihn lieben.

»Ach, Heinrich!« – sagte ich, und drückte ihn fest an meine Brust – [31] »Heinrich! was denkst du von Marien?« –

Er. Daß sie ein Engel ist, und daß ich sie haben müßte, wenn ich sie bekommen könnte, und wenn du sie nicht schon hättest.

Ich. Ach, Gott! ich habe sie noch nicht!

Er. Geduld! Geduld! es wird alles gut werden.

Ich. Ja; aber wann? –

Er. Nun das weiß man freylich nicht; aber sey nur ruhig: ich glaube wirklich, sie liebt dich.

»Heinrich,« – rief ich, und erstickte ihn fast mit meinen Küssen – »woher glaubst du das? woher vermuthest du das?

Er. Ey nun, das läßt sich nicht gut sagen! genug – das war nicht zu verkennen – ihr Auge suchte etwas, was es nicht fand – sie war unruhig, und wollte [32] es verbergen. – Nun? warum denn mit einem Male wieder so tiefsinnig?

Ich. Aber Heinrich, du gabst ihr doch die Rose – warum thatest du das?

Er. Ey, mein Gott! weil ich es nicht lassen konnte.

»O Heinrich!« – rief ich erschrocken – »also thust du doch manchmal etwas blos weil du es nicht lassen kannst!« –

Er. Allerdings! alles Unschuldige, alles, was weder mir noch andern schaden kann, thue ich ohne Bedenken, wenn mich meine Neigung dazu treibt. Oder – wie ich vorhin so leichtfertig weg sagte – wenn ich es nicht lassen kann.

Ich. Ach, Heinrich! du wirst sie lieben.

Er. Ey das versteht sich! ich liebe sie ja schon jetzt.

Ich. Sie wird dich wieder lieben. –

Er. Hahahaha! ich dachte gar! mich, [33] den Pachterssohn! – mich in meiner grünen Jacke! –

Ich. Höre, Heinrich, du mußt mir etwas versprechen.

Er. Nun?

Ich. Du darfst sie nie wieder anrühren. – Wie du schweigst? – Heinrich, was sagtest du vorhin? Du würdest nie etwas Schädliches thun – sieh, dies wäre sehr schädlich; denn, bey Gott, dein oder mein Leben! –

Er. Nun! nun! nur nicht wieder so hastig!

Ich. Heinrich! liebst du mich nicht mehr?

Er. Das ist ja eben das Unglück! gerade weil ich Sie liebe –

Ich. Wie? gerade deswegen wirst du nicht versprechen!

Er. Werde ich versprechen

»O Heinrich!« – rief ich, und schloß [34] ihn aufs neue in meine Arme – »was soll ich für dich thun? was willst du haben?«

Er. Haben! – ich will doch nimmermehr hoffen –

»O sey nicht böse! sey nicht böse!« – sagte ich, und zog ihn mit auf den Weg nach unserm Guthe – »laß uns überlegen, was jetzt anzufangen ist.«

[35]
10. Kapitel
Zehntes Kapitel

»Wecke mich ehe die Sonne aufgeht« – hatte ich zu Heinrich gesagt. Aber noch ehe Heinrich erwachte war ich auf dem Wege zu meiner Eiche. Ach Mariens Vorhänge waren dicht geschlossen, alles lag noch im tiefen Schlummer, auch die Sonne verweilte und nur der freundliche Haushund kam mir schmeichelnd entgegen gesprungen.

Ich bestieg meine Eiche, und beschloß: sobald die Sonne hinter dem Berge hervorgegangen seyn würde, Marien mit meiner Flöte zu wecken. Aber schon lange war das liebliche Thal erleuchtet; und noch [36] zitterten meine Lippen unentschlossen an der Flöte.

Wie? sollte ich ihren Schlummer unterbrechen! – ich konnte es nicht wollen, ich konnte es nicht lassen – anfangs stahlen sich nur einzelne Töne aus der Flöte: aber ehe ich es gewahr wurde bewegten sich meine Finger unwillkührlich, und bald fand ich mich mitten in einem Adagio, in welches sich meine ganze Seele ergoß.

Mariens Vorhänge bewegten sich, meine Flöte schwieg, und von dickbelaubten Zweigen beschattet; starrte ich jetzt unverwandt nach ihrem Fenster. Jetzt öffnete es sich. O Gott! wie ward mir! Sie war es selbst. –

Ohne zu wissen was ich that, breitete ich meine Arme aus – und ach, da ließ ich meine Flöte fallen. Aber wie glücklich! Marie bemerkte es nicht, und noch ehe ich mich von meinem Schrecken erholen konnte[37] – sah ich sie in den Garten treten: wahrscheinlich um den unsichtbaren Flötenspieler zu suchen.

Noch wehten die langen blonden Locken ungefesselt um den schönen Hals, und das dünne Morgengewand raubte mir keine Bewegung des reizvollsten Körpers.

Welch ein Zauber liegt doch in einer vollendeten weiblichen Schönheit! – jede thierische Begierde verstummt, die Seele versinkt in tiefe Ruhe, und der sinnlichste Mensch begreift bey ihrem Anblicke: daß es noch etwas wünschenswertheres als Sinnlichkeit gebe.

Marie durchsuchte den ganzen Garten. Endlich kam sie an eine kleine Brücke die über den Bach nach der Wiese führte; wo mich meine Eiche vor ihren Augen verbarg. Sie schien unentschlossen: ob sie sich über die Brücke wagen sollte – aber ein Bologneserhund, der sie begleitete, war ihr [38] schon zuvorgekommen. Er tummelte sich mit einem Stück Holze – o Himmel es war meine Flöte! – auf der Wiese herum.

»Eine Flöte!« – rief Marie; und eilte schnell hinter dem Hunde her. Aber jedes Mal wenn sie nahe daran zu seyn glaubte ihn zu erhaschen; machte er sich plötzlich mit possierlichen Sprüngen auf und davon.

Jetzt näherte sich der Hund dem Bache, und jetzt wollte Marie das Aeußerste versuchen: aber indem sie sich hinüber beugte um die Flöte zu retten, verlor, sie das Gleichgewicht und sank tief in das hohe Schilf hinein.

Ein Schrey, ein Sprung, und sie lag in meinen Armen. –

Nein, dieser Augenblick war einzig in meinem Leben, und wird es bleiben.

[39]
11. Kapitel
Eilftes Kapitel

»O mein Gott!« – rief sie; und wand sich aus meinen Armen.

»Können Sie mir verzeihn!« – sagte ich und umfaßte ihre Knie.

»Es wird unsre Abreise beschleunigen« – antwortete sie wehmüthig, und wollte sich entfernen.

»Marie!« – rief ich außer mir – Marie! verlassen Sie mich nicht! verlassen Sie mich so nicht!

Sie. Welche Unvorsichtigkeit von mir, hier her zu kommen! – aber wie konnte ich vermuthen! – Sie hatten Ihr Wort gegeben.

[40] Ich. Ich werde es halten! ich werde es von nun an halten; und sollte es mir das Leben kosten! – aber um Gottes Willen sprechen Sie nicht von Abreisen, von Entfernung!

Sie. Sie zwingen uns dazu, wenn auch unsre Umstände .....

Ich. Ach werde ich nie etwas davon erfahren? – werde ich nie wissen wem ...

Sie. Das hängt nicht von mir ab.

Ich. Marie! theure Marie! ich heiße Gustav. – Sie lächeln? – o Marie! ein einziges Mal, nur ein einziges Mal sagen Sie: Gustav ich hasse dich nicht – – Marie hassen Sie mich? – Marie! Marie! können Sie mich lieben? – –

»Meine Mutter ist aufgestanden« – rief sie erschrocken – »Ihre Fenster sind offen. – O mein Gott! warum bin ich hier her gekommen!

[41] »Bereuen Sie es Marie?« sagte ich, indem ich ängstlich ihre Hand ergriff – o Marie! nur das einzige Wort! – Wer weiß ob wir uns wieder sehn – Marie! bereuen Sie es? –

Sie schwieg – aber noch eine Secunde und alles war verwandelt. – Dieser Blick! dieser Händedruck! – sie war fort, aber der Himmel blieb in meinem Herzen.

Heinrich kam mir mit Vorwürfen entgegen. In einer andern Stimmung würden sie mich aufgebracht haben – Jetzt aber ließ ich ihn gelassen fort reden. Erst lange nachdem er mir mehrmals die wahrscheinlichen Folgen meiner Unvorsichtigkeit vorgestellt hatte; fing ich an mein Unglück zu begreifen.

Aber es wirkte nur auf meinen Verstand, mein Herz war noch immer voll Entzücken.

[42] »Sie liebt dich!« war mein letzter Gedanke, an diesem traurig - schönen Tage – sie liebt dich! war mein Erster am folgenden Morgen beym Erwachen.

[43]
12. Kapitel
Zwölftes Kapitel

Als ich mich den andern Morgen nach einer durchwachten Nacht, wieder auf den Weg zu meiner Eiche machte: kam mir Heinrich mit einem blassen und verstöhrten Gesicht entgegen.

»Was ist dir?« – fragte ich; und zitterte vor der Antwort.

Er. Marie ist krank.

Ich. Woher weißt Du das?

Er. Die Mutter hat es mir gesagt. Auch ist der Reisewagen reparirt und eine Menge Briefe geschrieben worden.

Ich. Wohin?

[44] Er. Zwey nach England, einer nach Hamburg, die Andern? ..... habe ich vergessen.

Ich. O mein Gott!

Er. Sie sind zu rasch gewesen. –

Ich. Konnte ich anders!

Er. Ja aber nun – –

Ich. Ach Heinrich hilf mir!

Er. Gern! gern! aber wie? – wer kann sie halten? – sie sind frey, und man versprach ihnen einen ruhigen Aufenthalt.

Ich. Heinrich ich muß sie sehen!

Er. Wen?

Ich. Wenigstens die Mutter.

Er. Ich will mein Möglichstes thun: aber ich zweifle.

Er ging, und kam mit der Antwort zurück: es sey heute unmöglich. »Aber morgen« – rief ich. – »Auf morgen – sagte er – habe man weder ab noch zusagen wollen.«

[45] Ich. Und Marie?

Er. Hat sich den ganzen Tag nicht sehen lassen.

»Meine Flöte«! – rief ich – meine verdammte Flöte ist an Allem Schuld! und jetzt würde ich sie an einem Baume zerschmettert haben, wenn sie mir Heinrich nicht entrissen hätte.

Gieb mir sie wieder – sagte ich wehmüthig; indem ich mich unter meine Eiche warf – gieb mir sie wieder! ich liebe sie doch noch: denn nur sie kann sagen was ich leide.

Er gab sie mir; aber ich vermochte keinen Ton heraus zu bringen. Ach! kann der höchste Schmerz noch klagen! – –

Heinrich bezeigte mir sein Mitleid; aber es rührte mich nicht. In Wehmuth [46] versunken, saß ich an meine Eiche gelehnt, die Augen unverwandt auf Mariens Fenster gerichtet.

»Es kann nicht schlimmer werden als es schon ist«! – rief ich endlich; indem ich mich aufrafte. Wenigstens will ich sie noch einmal sehen! werde daraus was da wolle! –

Jetzt war ich an Mariens Fenster. Ich wußte daß es sich nach innen öffnete. Mit einer Art von Verzweiflung stieß ich dagegen. Es mußte nicht recht geschlossen gewesen seyn; denn es sprang augenblicklich auf, und Marie fiel mit einer Ausrufung des Schreckens in ihren Sessel zurück.

Sie hatte geschrieben, und ihre Augen waren roth von Weinen.

[47] »Ach Marie«! – sagte ich; und streckte meine Arme sehnsuchtsvoll nach ihr aus. –

»Meine Mutter«! – antwortete sie mit halb erstickter Stimme.

Ich. Marie! werden Sie reisen?

Sie. Ich fürchte es.

Ich. Werden wir uns wiedersehen?

Sie. Ach Gott!

Ich. Marie haben Sie mir nichts zu geben? – haben Sie kein Andenken für mich? –

Sie stand auf und schien sich dem Fenster nähern zu wollen; aber plötzlich trat sie zurück, und eine hohe Röthe überzog ihre Wangen.

[48] »Marie!« – sagte ich – warum gehen Sie zurück? – wollen Sie mich noch unglücklicher machen? – wollen Sie mich aufs Aeußerste brinaen? –

Blaß und erschrocken näherte sie sich jetzt dem Fenster.

Ich bedeckte ihre Hand mit brennenden Küssen; und beschwor sie: ihre Abreise wenigstens um einige Tage zu verzögern; als plötzlich ein Geräusch an ihrer Thüre entstand.

»Ein Andenken Marie!« – rief ich; und Liebe und Verzweiflung kämpften in meinem Herzen. »Ein Andenken«! – wiederholte ich; und versuchte einen goldnen Ring von ihrem Finger zu ziehen. Das Geräusch verstärkte sich, ihre Hand konnte nicht widerstehen – der Ring war mein! – noch einen Blick in das Himmelauge, und ich war verschwunden.

[49] Ach! am folgenden Morgen waren auch sie verschwunden, und keine Spur von ihnen zu entdecken.

Da fällt eine Thräne auf meine Hand – sie gehört der ersten Liebe – wer darf sie tadeln?

[50]

Zweytes Buch

1. Kapitel
Erstes Kapitel

»Lassen Sie uns reisen! – sagte Heinrich, als wir eines Abends sterbens müde und abermahls vergeblich von unsern Streifereyen zurückkehrten – »lassen Sie uns reisen! hier finden wir sie doch nicht!«

»Du hast Recht!« – rief ich – reisen wollen wir! gleich über Hamburg nach England; da müssen wir sie finden!

Heinrich. Da gewiß am wenigsten.

[53] Ich. Warum?

Er. Weil sie England mehr vermeiden als suchen werden. Mehrere Aeußerungen der Mutter verriethen das.

Ich. Aber Engländerinnen waren sie; das ist gewiß.

Er. Nach ihrer Aussprache kam es mir selbst so vor. Das widerspricht aber meiner Vermuthung ganz und gar nicht. Glauben Sie mir, lassen Sie uns nach Berlin gehn.

Ich. Sollten sie da seyn? –

Er. Wer weiß! – überdem war es ja auch unser Plan über Berlin und Wien nach Italien zu reisen.

Ich. Ach Berlin, Wien, Italien, die ganze Welt ist mir zuwider, finde ich sie nicht; so ist mir das Leben eine Last.

Er. Fassen Sie Muth! es müßte ...

Ich. Muth! zu einem Leben ohne Liebe? –

[54] Er. Wer sagt das?

Ich. Ihr, Ihr Alle! mein steifer Herr Hofmeister dazu. – Gottlob daß ich ihn endlich einmal los bin! – ginge es nach Eurem Willen, so säße ich den ganzen Tag und schwitzte über großen Quartanten. Ach das ekelhafte Gewäsch von Pflicht! wie ist es mir doch in den Tod zuwider! Pflicht! Pflicht und nichts als Pflicht! – der Henker hole Eure Pflicht! – meine erste Pflicht ist mich glücklich zu machen! –

Er. Mögten Sie nur den rechten Weg dazu nicht verfehlen; wenn Sie doch einmal nicht mehr als glücklich seyn wollen.

»Nein bey Gott!« rief ich, mit einem bittern Lächeln – »mehr will ich nicht seyn! Und mein hochweiser Herr Professor, womit könnten Sie denn sonst noch [55] dienen? – was kann man denn mehr seyn als glücklich?« –

Er. Gut.

»Höre!« – sagte ich ärgerlich – »nur nicht wieder mit deinen Rasereyen! – mach Anstalt zur Reise! morgen will ich mit der Tante sprechen.«

[56]
2. Kapitel
Zweytes Kapitel

Meine Tante konnte und durfte nun freylich keinen andern Willen haben, als den Meinigen; gleichwohl that ich dieses Mahl was sie wünschte, und nahm meinen Weg nach Berlin. Theils weil ich keine Hoffnung hatte, Marie in England zu finden, theils weil mich in Berlin ein angenehmer Zirkel von Freunden und Bekannten erwartete.

Ich bekam Empfehlungsbriefe die Menge und noch vor Ende des Junius waren wir vollkommen einheimisch daselbst.

Heinrich warf sich nun von Neuem auf seine Bücher, während ich auf den Spaziergängen herumstrich, und keinen Abend [57] das Schauspiel verfehlte, um Marie wo möglich zu entdecken.

Das Einzige, was mich noch etwa außerdem beschäftigte: war Musik und Geschichte. Musik, um für meinen Schmerz einen Ausdruck zu finden, undGeschichte, um Heinrich durch Thatsachen niederzuschlagen; wenn er etwa für gut finden sollte, mir seine Puppe die Vervollkommung des Menschengeschlechts anzupreisen,

Ach meine, durch die Liebe genährte und unterdrückte Sinnlichkeit, und die beständig getäuschte Hoffnung Marie zu finden – alles gab meinem Charakter jetzt eine Bitterkeit, welche bey dem gänzlichen Mangel an Selbstüberwindung oft in eine Art von Wuth überging.

Mehrere meiner Empfehlungsschreiben waren schon abgegeben, aber noch hatte ich mich zu keinem Besuche entschließen [58] können. Im Gegentheil war ein alter Freund meiner Tante wirklich durch mich beleidigt.

Er begegnete mir auf einem Spaziergange, und erkundigte sich mit vieler Theilnahme nach meinem Befinden. Meine Tante hatte mich allenthalben als krank angekündigt; und leider war es dem Herzen nah nur gar zu wahr.

Aber in dem Augenblicke, da ich ihm meine Dankbarkeit bezeigen wollte; ward ich ein Frauenzimmer gewahr, das mir eine auffallende Aehnlichkeit mit Marien zu haben schien. – Mehr bedurfte es nicht, um mich den guten alten Mann und alles was er mir sagte, vergessen zu machen. Ich eilte hinter dem Frauenzimmer her, und wurde erst spät meine große Unhöflichkeit gewahr.

Aehnliche Züge, besonders das anscheinend zwecklose Verfolgen der Frauenzimmer, [59] erwarben mir bald den Nahmen des schönen Verrückten, und es wurde für die Damen ein interessantes Geschäft, sich einander zu erzählen: wann, wo, und wie oft, sie den schönen Verrückten gesehen hatten.

Jetzt drang man mit einer Menge Einladungen auf mich ein, und ich mußte mich, ohngeachtet meines großen Widerwillens, entschließen, wenigstens mit einem Hause den Anfang zu machen.

[60]
3. Kapitel
Drittes Kapitel

»Ein Ball? – ja das lasse ich mir gefallen! – Marie – wer weiß – o Gott wenn es möglich wäre! – ja! ja ich nehme es an! überdem finde ich dort eine Menge Bekannte, und kann bey der Gelegenheit am besten eine Auswahl treffen.«

Da war ich denn mitten unter einem Haufen geschminkter und ungeschminkter Schönen. – Ach, ich suchte ein Mariengesicht, aber es war nicht zu finden. Nackte Arme, zur Schau ausgestellte Busen, übermäßig zärtliche Augen. – Das alles wirkte freylich auf meine Sinne, aber mein Herz fühlte sich dennoch verwaist.

[61] Indem nun Sinnlichkeit und Schmerz sich meiner abwechselnd bemeisterten; fiel es mir auf, daß Alt und Jung, sobald der Tanz geendigt war, nur immer nach einer Seite des Zimmers hinströmte.

Neugierig drängte ich mich vor, die Ursache davon zu entdecken, und wurde zu meinem größesten Erstaunen, mitten in einem Zirkel von jungen Männern und blühenden Mädchen eine Person gewahr, welche weder schön noch jung und beynahe in ein sehr einfaches graues Kleid verhüllt war.

»Unbegreiflich!« – sagte ich zu meinem Nachbar – wegen dieser Person drängt sich alles dahin! –

Er. Sehr begreiflich; wenn man sie kennt.

Ich. Aber wer ist sie denn?

Er. Die Tochter des berühmten R.

[62] Ich. Mein Gott, die Freundinn meiner Tunte! ich habe ein Empfehlungsschreiben an sie; aus Furche habe ich es noch nicht abgegeben.

Er. Wovor fürchten Sie sich denn?

Ich. Himmel, eine alte Jungfer! –

Er. Ja, aber was für Eine! –

Ich. Wahrhaftig, Sie könnten mich neugierig machen! –

Er. Das wünsche ich um Ihrentwillen.

Ich. Wohl gar eine Gelehrte?

Er. Freylich, wenn Sie es so nennen wollen. Doch wenn Sie selbst kein Gelehrter sind; so können Sie Jahre lang mit ihr umgehen, ohne etwas davon gewahr zu werden.

Ich. Nun, das nenne ich mir ein Wunder!

Er. In der That, ein Wunder von Sanftmuth, Bescheidenheit und überschwenglicher Herzensgüte.

[63] Ich. Sie werden ja recht warm.

Er. So wie jeder, der von ihr spricht.

Ich. Aber wie konnte diese Person unverheurathet bleiben?

Er. Ihr Bräutigam starb; und nachher hat sie sich zu keiner Verbindung wieder entschließen können. Aber was fehlt Ihnen? Sie werden blas.

»Wahrscheinlich die eingeschlossene Luft« – sagte ich stotternd und eilte nach Hause.

»Ach Unglückliche!« – rief ich – »so fandest du nie wieder, was du verlorst! und doch hast du das Leben ertragen. Dich muß ich kennen lernen!«

[64]
4. Kapitel
Viertes Kapitel

Den folgenden Tag ließ ich mich bey ihr melden und ward, zu meiner großen Freude, sogleich angenommen. Kaum hatten wir eine halbe Stunde mit einander gesprochen; so war mir, als hätten wir uns Jahre lang gekannt, und als könne ich ihr die geheimsten Empfindungen meines Herzens entdecken.

Ihr schönes offnes Auge schien lange gewöhnt, über den Kummer dieser Erde hinwegzublicken, und in ihrem Gesichte herrschte eine Ruhe, welche unmerklich in die Seele des Andern überging.

In allem was sie sagte, lag ein so großer, schöner Sinn, den man aber erst lange [65] nachher entdeckte, wenn sie wieder geschwiegen hatte. In dem Augenblicke wo sie sprach, schien sie bey ihrem äußerst einfachen Wesen, etwas ganz gewöhnliches zu sagen. Man kann denken, ob ich sie ungern verließ. –

Ich hatte sie um die Erlaubniß gebeten, sie wieder zu sehen, und sie hatte sie mir in einem Tone gegeben, der sehr deutlich verrieth, wie weit sie sich über die Jahre hinausglaubte, wo Mangel an Zurückhaltung gefährlich werden kann.

In der That nutzte ich jetzt diese Erlaubniß auf das Aeußerste; es verging kein Tag, wo ich sie nicht wenigstens einmal sah, und bald ward es mir zum süßen Bedürfniß, ihr alle meine Gedanken und Empfindungen mitzutheilen.

Stundenlang unterhielten wir uns von Marie, und von allem was ich gehoft und gelitten hatte. Ach, so wie sie mich verstand; [66] konnte mich Heinrich nimmermehr verstehen. – Nein! dieses gänzliche Dahingeben in ein fremdes Interesse vermag kein Mann von sich zucrzwingen.

Mein bitterer, verschlossener Gram sing endlich an, sich immermehr in zärtliche Wehmuth zu verwandeln; aber die Leidenschaft hatte meinen Körper schon zu sehr erschüttert: und ich fühlte bestimmt, daß ich einer ernstlichen Krankheit nicht entgehen würde.

»Wenn ich krank werde« – sagte ich zu Sophien – »so bleibe ich bey Ihnen. Nicht wahr? Sie verstoßen mich nicht?« –

Sie antwortete mir mit einem gutherzigen Lächeln; und dachte freylich nicht, daß dieser Fall jemals kommen würde.

Aber als wir eines Abends im traulichen Gespräche neben einander saßen, überfiel mich plötzlich ein Schwindel, und als [67] ich das Bewußtseyn wieder erhielt, fand ich mich auf einem Bette, in einem unbekannten Zimmer, Sophie und den Arzt an meiner Seite.

[68]
5. Kapitel
Fünftes Kapitel

»Wo bin ich?« – rief ich aus – »was für ein Zimmer ist das?«

»Das Schlafzimmer von Mlle. R.« – sagte der Arzt – »was Sie auch sobald noch nicht verlassen werden.«

»Glauben Sie wirklich?« – fragte Sophie erröthend. –

»Daß unter vierzehn Tagen an keine Veränderung zu denken ist« – antwortete der Arzt. »Ich müßte mich sehr irren oder die Masern sind im Anzuge, und Ihre Frau Tante hat mir Ihre Gesundheit zu dringend empfohlen, als daß ich Sie einer so guten Pflege entziehen sollte.«

[69] »Verhalten Sie sich nach meiner Vorschrift,« – fuhr er, zu Sophien sich wendend, fort – »morgen früh komme ich wieder.«

Jetzt waren wir allein. Sophie stand am Fenster.

»Warum so fern?« – sagte ich, und streckte bittend meine Hand nach ihr aus –

»Sie wünschen etwas, Herr von S. – vielleicht zu trinken?« – antwortete sie, und ihre Miene war ein Gemisch von zärtlicher Wehmuth und lieblicher Verschämtheit. –

»Ja, ich wünsche etwas,« – wiederholte ich, und indem sie mit besorgter Neugier näher trat, schlang ich meine beyden Arme um sie und drückte mein Gesicht fest an ihre schöne Brust – »ja, ich wünsche ewig an diesem großen Herzen zu ruhen! dann sollte mich kein Unglück treffen, und [70] alle kleinlichen Leidenschaften würden auf immer von mir entfernt bleiben.«

»Mein lieber Sohn!« – sagte sie, und ich fühlte ihre Lippen auf meiner Stirne – »ich bitte Sie, seyn Sie ruhig! Sie haben jetzt etwas Fieber, und die Erschütterungen könnten Ihnen sehr nachtheilig werden.«

»Sie haben jetzt etwas Fieber!« – wiederholte ich empfindlich, und verbarg mein Gesicht in die Kissen.

Lange spielte ich so den Beleidigten, hoffend, sie würde mich durch irgend etwas zu versöhnen suchen; aber als ich endlich wieder aufblickte, sah ich das Zimmer leer, und bald darauf, statt ihrer, Heinrich hereintreten.

[71]
6. Kapitel
Sechstes Kapitel

»Was willst du?« – rief ich ihm ärgerlich entgegen – »doch wohl nicht den Krankenwärter machen?«

»In der That, das war meine Absicht!« – sagte er, indem er mich mit seinen großen redlichen Augen unbeschreiblich theilnehmend ansah.

»Du begreifst aber,« – fuhr ich ungeduldig fort – »daß das nicht angeht. – Sollen wir der guten Person zwey Menschen statt Einem aufbürden?«

Er. Sie hat mich aber selbst darum gebeten.

Ich. Wer?

Er. Mlle. R.

[72] »Ich will nach Hause! ich will nach Hause!« – rief ich, von Fieberhitze glühend – und in dem Augenblicke trat Sophie herein.

»Mein Gott! was ist denn vorgefallen?« – fragte sie erschrocken.

»Ich will nach Hause!« – rief ich abermals – »Sie haben keine Zeit, mich zu warten! jetzt ist es auch einerley, ob ich genese!« –

Das Fieber nahm zu, und von nun an wußte ich nicht mehr, was mit mir vorgieng.

Einst dünkte mich, ich erwache von einem langen schmerzhaften Traume. Da sah ich Sophien schlummernd an meiner Seite sitzen. Ihr Kopf hatte keinen Ruhepunkt und wollte so eben auf eine scharfe Ecke des Bettes sinken, als ich ihn leise mit meinem Arme auffing.

[73] Aber in dem Augenblicke fühlte ich einen so lebhaften Schmerz, daß ich nur mit der äußersten Anstrengung einen lauten Schrey zurückhalten konnte.

Ich bemerkte Binden an meinen Armen, sah eine Menge Flaschen und Schachteln auf dem Tische, und fing an zu muthmaßen: daß das Alles wohl mehr als ein Traum seyn könnte.

Die Uhr schlug zwey, das Nachtlicht brannte sehr dunkel; aber ich konnte demohngeachtet eine große Veränderung in Sophiens Gesichte wahrnehmen.

Die schöne Ruhe war aus ihren Zügen verschwunden, und ein leidenschaftlicher Gram schien an die Stelle derselben getreten zu seyn.

»Große, liebenswürdige Seele!« – dachte ich – »bin ich es? – hast du um mich getrauert? – Ach so war deine Ruhe auch nur Täuschung, und so vermag[74] der Gram über dich, was er über uns alle vermag! – Was werde ich hören müssen! – Wie viel magst du für mich gelitten haben!« –

[75]
7. Kapitel
Siebentes Kapitel

»Ah! bin ich doch eingeschlummert!« – sagte sie, als sie von einem Zucken meines Armes erwachte, und suchte ihre Verwirrung zu verbergen.

»Aber, meine theure Sophie!« – fiel ich ein, indem ich auf die Flaschen zeigte – bin ich denn wirklich so krank gewesen?«

Sie. Leider mehr, als Sie wissen und glauben werden.

Ich. Aber sagen Sie mir doch ....

Sie. Ihr Freund Heinrich wird Ihnen alles erzählen. Er ist hier im Nebenzimmer. Erlauben Sie, daß ich ihn rufe. Ich werde den Augenblick wieder bey Ihnen seyn.

[76] Jetzt nun sagte mir Heinrich, daß ich nicht die Masern, aber ein sehr heftiges Brustfieber gehabt, fortwährend phanthasirt, und Marien mit lauter Stimme gerufen hätte.

Daß Sophie die Einzige gewesen sey, die sich mir habe nahen dürfen, und daß ihre Gesundheit von den vielen Nachtwachen außerordentlich gelitten habe.

»Demohngeachtet,« – setzte er hinzu – ist sie mild und thätig geblieben. Marie hatte die Gestalt, diese hat das Herz eines Engels!

»Welche würdest du vorziehen?« – rief ich, indem ich schnell seine Hand ergriff.

Er. Sonderbare Frage! was meynen Sie damit.

Ich. Nun welche würdest du zur Gattin wählen?

Er. Sophie auf keinen Fall!

[77] Ich. Was!

Er. Und darüber wundern Sie sich? –

Ich. Mit Recht. Sagtest du nicht eben: sie habe das Herz eines Engels? und was findest du Tadelhaftes an ihrer Gestalt?

Er. Nichts. Sie vergessen aber, daß sie wenigstens zehn Jahr älter ist, als ich.

Ich. Was macht das?

Er. Sehr viel! – Alles! – nach wenigen Jahren würden wir beyde elend seyn.

»Geh! Geh!« – rief ich, und riß meine Hand aus der seinigen. – Laß mich ruhn! ich will schlafen.

Er ging. Wehmüthig sah ich ihm nach. »Ach, daß er immer Recht haben muß!« – dachte ich, und sank auf mein Kissen.

[78]
8. Kapitel
Achtes Kapitel

Jetzt kam Sophie. Ich hatte nicht den Muth die Augen aufzuschlagen. Mich dünkte, sie könne in meiner Seele lesen. – Ach, wie ich mit mir selbst kämpfte! – eine unwiderstehliche Kraft zog mich hin zu ihr, eine Andere stieß mich zurück.

Ihre Stimme hatte etwas unbeschreiblich Rührendes; und ich fragte nach verschiedenen Kleinigkeiten, blos um sie sprechen zu hören. Sie schien nicht ruhiger, als ich, und vermied absichtlich die Gelegenheit, mir näher zu kommen.

»Aber, meine theure Sophie!« – hub ich endlich an – »Soll mit meiner Krankheit denn mein ganzes Glück verschwinden?[79] – wollen Sie sich mir nun gar nicht mehr nahn?« –

Sie wollte antworten; aber die Empfindung schloß ihr den Mund. Mit einer unterdrückten Thräne im Auge reichte sie mir die Hand.

War sie wirklich so schön? oder war es Dankbarkeit, und von neuem erwachte Sinnlichkeit, die sie mir in diesem Augenblicke so reizend machte? – Genug, die Zukunft verschwand vor meinen Augen; und mit dem ganzen Wahnsinn der Leidenschaft that ich ihr das Bekenntniß meiner Liebe.

Ach ich hatte keinen andern Namen für meine Empfindung! – arme Weiber! Wie oft ist dies der Fall bey uns Männern, und wie schrecklich müßt ihr für diesen Irrthum büßen! –

Erst lange nachher habe ich begriffen: in welch einen peinlichen Zustand dies unbesonnene [80] Geständniß Sophien versetzen mußte. Ihr Verstand war im heftigsten Kampfe mit ihrem Herzen, und die Blässe, welche plötzlich ihr Gesicht überzog, bewieß nur gar zu sehr: wie viel sie von diesem Augenblicke für ihre Ruhe befürchtete.

[81]
9. Kapitel
Neuntes Kapitel

Lange noch vermochte ihre große Seele der Leidenschaft zu widerstehen; aber eben dadurch wurde diese bey mir nur desto mehr gereitzt. Es blieb mir nicht verborgen, welchen Eindruck ich auf andere Frauenzimmer machte; und meine Eitelkeit war auf das empfindlichste gekränkt.

Schon ahnte ich, bey allem, was Sophie für mich that, wie theuer ich ihr seyn mußte. – Aber konnte das nicht Freundschaft, nicht Edelmuth seyn? – Gegen wen handelte sie nicht schön, nicht groß? Wie! sollte ich mit dem zufrieden seyn, was sie für Alle empfand? –

[82] »Nein!« – rief ich – »Noch heute soll sie mir sagen, ob sie mich liebt! bey Gott! ich will wissen, woran ich bin!«

Sie sagte es endlich. Aber wie sagte sie es! – Mir war, als dachte mit einem Male eine andere Seele in mir; als schlüge ein anderes Herz in meiner Brust; als könnte ich nie wieder etwas Schlechtes thun, oder wollen.

Nein! so uneigennützig, so wahrhaft himmlisch bin ich nie von einem Weibe geliebt worden! Was hätte aus mir werden können, wenn dieser große Charakter nicht auch seine Schwächen, freilich seine schönen, menschlichen Schwächen gehabt hätte! –

[83]
10. Kapitel
Zehntes Kapitel

So lange das Bekenntniß der Liebe noch nicht über Sophiens Lippen gekommen war, herrschte eine schöne Mäßigung in ihrem Betragen; aber jetzt fing diese an immer mehr zu verschwinden.

Sie hatte mir ihren guten Ruf, ja sogar ihre freundschaftlichen Verbindungen aufgeopfert; jetzt wollte sie alles in mir wiederfinden. Ich ward ihr Abgott; und alle ihre Gedanken und Empfindungen bezogen sich nur auf mich.

Unser ganzes Verhältniß war mit einem Male verwandelt. Das Wesen, das vormals so weit über mich erhaben schien, lag jetzt zu meinen Füßen, verehrte meine [84] Worte wie Orakelsprüche, und zitterte, wenn ich die Stirn runzelte.

Welcher Mann hätte ein solches gänzliches Dahingeben ertragen, welcher Mann hätte es verdienen können! – mich bethörte es so sehr, daß ich von dem achtungsvollsten Betragen zur beleidigendsten Unart überging.

Aber gerade das stille, von aller Leidenschaft entfernte Wesen war es ja auch, was mein unruhiges Herz zu Sophien geneigt hatte. – Ich wähnte, sie sollte mich heilen, sie sollte über die Stürme des Lebens mich erheben – und ach! jetzt ward sie selbst davon ergriffen. Was ich suchte, was ich liebte, war verschwunden – ich Grausamer hatte selbst nicht geruht, bis es zerstört war.

Ihr unglücklichen Weiber! wie könnt ihr so thöricht seyn, eure ganze Glückseligkeit den Händen eines Mannes, eines [85] angebohrnen Feindes, zu vertrauen! – Nein, wollt ihr euch nicht dem schrecklichsten Elende Preiß geben: sucht immerhin uns glücklich zu machen, aber hofft es nie durch uns zu werden.

[86]
11. Kapitel
Eilftes Kapitel

Die Periode, wo Sophie meinen Geist und mein Herz beschäftigt hatte, war also vorüber, und der Wahn von ihrer höheren, mir noch unbekannten Glückseligkeit verschwunden. Ach sie suchte diese Glückseligkeit ja bey mir, durch mich – Beweiß genug, daß es ihr daran fehlte.

Mein Geist ahnte nichts Neues mehr; und so war die ganze Scene verwandelt. Vormals schien mir aller Erdengenuß in ihre Nähe gebannt; jetzt ward sie von einer Oede umgeben die mich elend machte.

Nun hätte die Sinnlichkeit eintreten und mich, wenigstens für einige Zeit noch täuschen [87] können; aber Sophie war zu rein, und ich zu neu, als daß von dieser Seite für uns etwas zu hoffen gewesen wäre.

Mein Unmuth nahm täglich zu. Ich konnte es Sophien nicht verzeihen, mich, oder vielmehr sich selbst, so schrecklich getäuscht zu haben, und der tollkühne Glaube: sie können nie aufhören mich zu lieben – trieb jetzt meine Unart auf das Aeußerste.

Ach noch heute erröthe ich vor den Mißhandlungen, zu welchen ich mich verirrte! – ich wollte – ohne es mir deutlich bewußt zu seyn – die Gelegenheit herbeyführen, mich von dem Anblicke einer Person zu befreyn, welche nur schmerzhafte Gefühle in mir er regte. Gleichwohl würde die Gewißheit: sie könne sich wirklich von mir losreißen – höchst wahrscheinlich eine plötzliche Verwandlung meiner ganzen Empfindungsart hervorgebracht haben.

[88] Doch woher sollte diese Gewißheit kommen? – Sophiens Liebe schien nur mit ihrem Leben aufhören zu können, und eher würde ich an dem Meinigen, als an ihrer Dauer gezweifelt haben.

Aber meiner Eitelkeit und meinem Glauben stand eine harte Prüfung bevor; und ich selbst mußte sie herbeyführen.

[89]
12. Kapitel
Zwölftes Kapitel

Nimmermehr! rief Heinrich; – als ich mich meiner unumschränkten Herschaft über Sophien rühmte – nimmermehr kann diese geistvolle Person so ganz zum Kinde geworden seyn!

Gut! – sagte ich – Du sollst einen Beweiß haben der keinen Zweifel übrig lassen wird. Bist Du morgen bey Ms?

Er. Das versteht sich! Sie wissen, daß ich niemahls fehle.

»Halte dich in meiner Nähe« – erwiederte ich – »das Uebrige wird sich finden«

[90] Ungeduldig eilte ich am folgenden Tage meinem bevorstehenden Siege entgegen, und zürnte schon, daß Sophie so lange verweilte. Endlich erschien sie, und von dem Augenblicke an, war es mein unablässiges Bestreben, ihre Geduld durch tausend Unarten, eine immer kränkender als die andre, zu ermüden.

Aber mit himmlischer Sanftmuth und bewundernswürdiger Feinheit, wußte sie sie alle so zu mildern, und den Augen der Gesellschaft zu entziehn, daß ich beynahe verzweifelte, meinen Zweck zu erreichen.

Doch als sie sich eben mit Heinrich in einem interessanten Gespräche befand, glaubte ich etwas Entscheidendes wagen zu müssen.

Sophie! – sagte ich; und drängte Heinrich [91] zur Seite! – machen Sie mir doch einmal die Schnalle fest!

Eine hohe Nöthe überflog ihre Wangen; aber ohne weiter auf mich zu achten, setzte sie ihr Gespräch mit Heinrich fort.

Nun Sophie? haben Sie mich nicht verstanden? – sagte ich trotzig; indem ich den Fuß auf einem Stuhle ruhen ließ.

Sehr gut Herr v. S. – antwortete sie, mitleidig lächelnd – ich bedaure, daß Sie sich nicht recht wohl befinden; und in dem Augenblicke nahm sie Heinrichs Arm und entfernte sich in das Nebenzimmer.

Da stand ich, und war ungewiß: ob ich träumte oder wachte. – Den ganzen Abend würdigte sie mich keines Blickes mehr; und eine traurige Ahnung von[92] dem was meiner warte, durchdrang mein Herz.

Den andern Morgen eilte ich in ihre Wohnung; aber man sagte mir: sie sey zu einer Freundin aufs Land gereist, und diesen Morgen sey ein Zettel an Heinrich abgegangen.

Was ist es? – rief ich diesem entgegen – um Gottes willen was ist es? was hat sie dir geschrieben?

Daß sie Ihnen ein für alle Mal ihr Haus verbietet; und daß sie während Ihres hiesigen Aufenthalts, einen andern Wohnort wählen würde.

Heinrich! – rief ich; und warf mich an seine Brust – wirst Du mich auch .... [93] vor Schmerz konnte ich nicht weiter sprechen; aber er errieth mich.

Nein! – sagte er – dafür sey Gott! wie könnte ich dich jetzt verlassen da du die Hölle in deinem Herzen haben mußt! –

[94]

Drittes Buch

1. Kapitel
Erstes Kapitel

Als Marie mich verließ; haßte ich jede Zerstreuung. Jetzt aber floh ich die Einsamkeit eben so sehr, wie ich sie damals gesucht hatte.

Ach Mariens Verlust hatte nur mein Herz, nicht mein Gewissen verwundet. Jene Wunden heilt die Einsamkeit, diese macht sie tödtlich. Das empfand auch ich; und so stürzte ich mich ohne Rückhalt in[97] den Strudel der gesellschaftlichen Vergnügungen.

Lange suchte ich einen Gegenstand um die schreckliche Leere in meinem Busen auszufüllen; aber da war nichts Marien, nichts Sophien ähnliches zu finden. Man wollte mit aller Gewalt von mir bemerkt seyn, und ich war noch zu sehr verwöhnt, um nicht durch eben dieses Bestreben zurückgeschreckt zu werden.

Schon fing die Langeweile an, sich meiner in den großen Zirkeln zu bemächtigen; als der Zufall mir entgegenführte, was ich so lange vergeblich gesucht hatte.

Einst da ich mich im Schauspielhause meinen gewöhnlichen Träumereyen überließ; ward meine Aufmerksamkeit durch zwey weibliche Stimmen angezogen, welche aus der benachbarten Loge zu kommen schienen.

Noch waren die Lichter nicht angezündet, und das Geräusch der Kommenden ließ [98] mich nur einige Worte erhaschen; doch begriff ich, daß die Rede von den Männern war.

Die Kommenden machten eine Pause – ich horchte –

»Ach ich dächte gar! – sagte die eine Stimme – zum Auslachen sind sie gut; und dazu habe ich sie gebraucht«.

Die andre Stimme wandte etwas ein; aber es ging für mich verloren, so wie alles was sie nachher zum Gespräche beytrug.

»Glaubst Du« – fuhr die erste Stimme fort – »daß es jemahls Einer von ihnen redlich mit uns gemeynt habe? –

Die andre Stimme – – –

Die Erste. Ja so lange wir ihre Sinnlichkeit beschäftigen.

Die Andre – – –

Die Erste. Komödie! nichts als Komödie! so bald es gegen uns geht, sind sie alle Freunde!

[99] Abermahls das Geräusch der Kommenden. – – Die Lichter wurden angezündet; aber noch blieben meine Frauenzimmer im Hintergrunde der Loge.

Hätte ich mich hervorgewagt; so würde es hell genug gewesen seyn um sie beobachten zu können: aber für jetzt interessirte mich ihr Gespräch mehr als ihre Gestalt, und ich beschloß ruhig in meinen Winkel zu verharren.

Ziemlich klug berechnet – doch jetzt begann das Orchester zu stimmen, und von nun an war es unmöglich etwas zu verstehen.

[100]
2. Kapitel
Zweytes Kapitel

Sehen willst du sie wenigstens! – dachte ich; und trat vorn in die Loge. Auch meine Sprecherin näherte sich jetzt; doch so, daß sie mir den Rücken zuwandte. Aber das Gesicht der andern Stimme konnte ich ziemlich genau beobachten.

Es war halb in eine schwarze Florkappe gehüllt; und schien nicht zu den jüngsten zu gehören. Doch war es nichts weniger als unangenehm; und ein Zug von sanfter Melancolie erhob es sogar bis zum Interessanten.

Aber ich hatte nicht lange Zeit; diesen Beobachtungen nachzuhängen. Die außerordentliche Lebhaftigkeit meiner Sprecherin [101] machte mir so viel zu schaffen, daß ich bald nichts mehr sah und hörte als sie.

Mit unbeschreiblichem Muthwillen fiel sie jetzt noch immer über die Männer her; ein Einfall jagte den andern, und es lag so viel wahrer Witz in dem was sie sagte: daß es mehrmals der äußersten Ueberwindung bedurfte, um nicht, auf Kosten meines eigenen Geschlechts, in ein lautes Lachen auszubrechen.

Dabey war der niedliche Körper in unaufhörlicher Bewegung; die schwarzen Locken flogen hin und her auf dem blendenden Halse, und die runden Aermchen gesticulirten so lebhaft; daß ich mich häufig genöthigt sah, ihnen auszuweichen.

Doch vergebens! – indem ich mich, um ein abermahliges Lachen zu verbeißen, auf den Rand der Loge bückte, bekam ich einen so heftigen Stoß in meine Frisur, daß die Sprecherinn und ich, plötzlich in [102] eine kleine Wolke von Puder gehüllt wurde.

Ein so anhaltendes, so sonderbar abwechselndes, aber auch zugleich so unbeschreiblich reizendes Lachen, als worin sie jetzt ausbrach, erinnere ich mich wirklich nicht in meinem Leben gehört zu haben.

Vergebens winkte, ermahnte ihre Begleiterin, vergebens bat ich, ohngeachtet meiner Unschuld, tausendmahl um Verzeihung – es half alles nichts. – Jedes Mahl wenn sie mich wieder ansah, begann es von neuem, und weckte meine Sehnsucht, das reizende Geschöpf in meine Arme zu schließen so sehr, daß ich sie zuletzt äußerst ernsthaft bitten mußte, mich zu verschonen.

Wußte sie was in mir vorging – oder was war es sonst, was sie plötzlich so rührte? mich dünkte, als steige eine Thräne in ihr großes funkelndes Auge, und als [103] zitterte ihre schöne Hand in der Meinigen.

Eben so unbekümmert wie vorhin bey ihrem Lachen, war sie es jetzt bey unsrer gewiß sehr auffallenden Attitude. Schon zweymahl hatte ich ihre Hand geküßt; aber noch immer zog sie sie nicht zurück, und sah mich dabey an, als wolle sie mich bis auf das Innerste der Seele erforschen.

Meine Verwirrung war aufs höchste gestiegen, als der Vorhang aufflog, und sie, wie aus einem Traume erwachend, und mit einem Tone, der eine abschlägige Antwort unmöglich machte, mir sagte: »morgen kommen Sie zu mir. Mein Kammerdiener wird Ihnen meine Adresse bringen.«

[104]
3. Kapitel
Drittes Kapitel

Es versteht sich, daß ich nicht säumte. Mein Wagen hielt – der Adresse zufolge – vor einem Pallaste, dessen Inneres der Pracht des Aeußerem vollkommen entsprach.

Eine Menge schwarzer und weißer Bedienten strömten mir entgegen, und man führte mich in einen Sallon, der mit wahrhaft asiatischer Ueppigkeit möblirt war.

Endlich erschien sie selbst in ein sehr einfaches aber äußerst reizendes Morgengewand gehüllt. Die dunkeln Haare hoch auf dem niedlichen Köpfchen befestigt, so [105] daß jede Bewegung des blendenden Halses sichtbar wurde.

Ein paar schwarze, funkelnde Augen, von zwey langen Augenbraunen umkränzt, ein aufgestülptes Näschen, ein verwegnes Rosenmäulchen, das alle Augenblicke ein paar Reihen Perlenzähne verrieth, und ein rundes, aber unbeschreiblich leichtfüßiges Figürchen – das alles, mußte ich mir gestehen, machte freylich kein regelmäßig schönes, aber doch ein höchst anziehendes Ganzes aus.

Sie setzte sich, und winkte mir, mich neben sie zu setzen. Jetzt wollte ich reden; aber sie bedeutete mir Stillschweigen, und betrachtete mich fortwährend mit einer sonderbaren, gespannten Aufmerksamkeit.

Aeußerst verlegen, wie ich diese Aufnahme deuten sollte, ergriff ich ihre Hand und ließ meine Blicke für mich sprechen, als zwey schwarze sehr prächtig gekleidete [106] Mädchen, das Eine mit dem Frühstück, das andre mit einer Laute hereintraten.

Die Laute begann und das schwarze Mädchen unterhielt uns, während des Frühstücks mit einigen sehr angenehmen Liedern, welche durch ihre schöne Stimme außerordentlich gehoben wurden. Aber jetzt winkte Gräfin B., und beyde Mädchen verschwanden.

[107]
4. Kapitel
Viertes Kapitel

»Ich habe Sie vorhin nicht reden lassen – hub sie an – weil ich es nicht leiden kann, daß man mich unterbricht, wenn ich etwas überlege.« Sie gefallen mir und ich denke eine Ausnahme mit Ihnen zu machen.

»Ich habe zwar über sie gelacht,« und habe Ihnen auf diese Weise als Mann Gerechtigkeit widerfahren lassen, aber es schmerzt mich und ich mag nun ein für alle Mahl nicht, daß mich etwas schmerzt.« –

Hier hielt sie einen Augenblick inne; aber plötzlich fuhr sie mit einer possierlichen Heftigkeit heraus: »ich kann Ihnen [108] nicht helfen! Sie müssen Ihre Frisur abschaffen!«

»Wie gern!« – antwortete ich – »wenn ich Ihnen dann besser gefalle.«

»O verstehn Sie doch!« – rief sie ungeduldig – »Sie gefallen mir ja recht sehr! aber die Erinnerung an die fatale Scene mißfällt mir.«

»Es war mir unmöglich, bey ihrem komischen Ernste das Lächeln zu unterdrücken.«

»Ja ja! ich weiß es wohl!« – fuhr sie fort – »daß man gewöhnlich das nicht so gerade heraus sagt; aber das Leben ist zu kurz, und ich bin des Zwangs zu wenig gewohnt, als daß ich mich da bey langenWenns und Abers aufhalten sollte.«

»Die Hauptsache ist nun« – indem sie vor einen Spiegel trat, und ihre Haare [109] noch etwas höher steckte – »ob ich Ihnen gefalle?« –

Jetzt setzte sie sich wieder, stützte den Kopf auf ihren schönen Arm, diesen auf ihr Knie, und ihre großen, brennenden Augen ruhten unverwandt auf mir.

»Theure Gräfin!« rief ich – »gebe der Himmel, daß ich Ihnen so sehr, und so lange gefalle, als Sie mir gefallen werden!«

»Wahrhaftig, Sie haben Recht!« – antwortete sie; und eilte das Zimmer auf und ab – »doch wenn ich bedenke« – indem sie den Finger an das Stumpfnäschen legte, und vor mir stehen blieb – »Nein! nein! ich kann doch sehr lange etwas lieben! – kommen Sie! kommen Sie! Sie müssen überzeugt werden!«

[110]
5. Kapitel
Fünftes Kapitel

Wir traten in eine Gallerie, welche mit Gemälden von den besten italiänischen Meistern geziert war.

»Sehen Sie!« sagte sie; indem sie mich auf einige der vorzüglichsten aufmerksam machte – »das hat mich ein ganzes Jahr lang beschäftigt. Hier saß ich und zeichnete vom Morgen bis in die Nacht, vergaß Essen und Trinken, Schauspiel, Spaziergänge, Bekannte und Freunde darüber.«

»Aber endlich – nun ja endlich ward ich es müde. – Ach es war doch alles todt! konnte mir nicht antworten, konnte mich nicht verstehen!« –

[111] »Nun warf ich mich auf die Musik. Mich dünkte die Töne nannten das was mir fehlte. – Ja sie nannten es wohl; aber das machte mir schmerzhafte Empfindungen; und die hasse ich nun ein für alle Mahl. Können Sie es mir verdenken, daß ich die Musik verließ?«

»Hinaus in die schöne große Natur – dachte ich; und ging auf meine Güter. Stellen Sie sich um Gotteswillen vor! ich hielt es ganzer zwey Jahre aus, und brachte eine Menge Pflanzen, Steine und andere Kramereyen mit, die mich noch volle sechs Monate beschäftigten.«

»Hierauf legte ich eine kleine Menagerie von Federvieh an; und ich versichere Sie, das war wirklich amüsant!«

»Aber endlich« – sagte ich lächelnd. »Nun ja!« – antwortete Sie – »endlich ward es mir langweilig. Aber bedenken Sie auch! es war immer das ewige[112] Einerley. Die Dinger legten Eier, brüteten, pflegten ihre Jungen; und jedes Frühjahr ging die ganze Geschichte von vorn wieder an!«

»Aber jetzt« – fuhr sie fort – »will ich Sie überzeugen: daß ich wirklich einer dauernden Anhänglichkeit fähig bin.

»Milly! Milly!« – rief sie zur Thüre hinaus – »wo ist Hannibal? laß ihn geschwinde einmal herkommen!«

»Hannibal!« – dachte ich – »was Henker!« –

Indem trat Milly, eine hübsche Blondine, mit einem ungeheuren, aber sehr schön gezeichneten Hunde herein.

Hannibal machte anfangs Miene nicht viel von mir übrig zu lassen; aber auf einen Wink seiner Gebieterin lag er zu ihren Füßen.

»Sehen Sie« – sagte sie – »diesen Hund habe ich nun schon fünf Jahre, [113] und halte noch außerordentlich viel auf ihm. Es ist ein Landsmann von Milly, ich habe ihn mit aus England gebracht, nachher hat er mit uns die Reise nach Westindien, und durch den südlichen Theil von Europa gemacht.

»Nach Westindien?« – wiederholte ich.

»Ach es ist ja wahr!« – fuhr sie fort – »das habe ich Ihnen noch nicht gesagt. Nun, morgen sehen wir uns wieder.« –

Jetzt reichte sie mir die Hand zum Kusse, Hannibal sah mich sehr tückisch an, und Milly begleitete mich wehmüthig lächelnd bis zur Thüre.

[114]
6. Kapitel
Sechstes Kapitel

»Warum lächelte Milly so wehmüthig?« – sagte ich zu mir selbst, als ich von der sonderbaren Scene betäubt zu Hause kam.

»Wie! sollte Gräfin B. wohl gar ihre Leute auf westindisch behandeln? und solltest du vielleicht nichts als ein Sclave mehr für sie seyn? – Dem muß man auf die Spur kommen, und zwar morgenden Tages!« –

Sie selbst führte die Gelegenheit herbey.

»Sie haben eine Eroberung gemacht!« – rief sie mir am folgenden Morgen entgegen – »Milly ist mit ganzer Seele die Ihrige! – Sie hält ordentliche Reden zu[115] Ihrem Lobe, und bemüht sich darin, das Unbegreifliche begreiflich zu machen.«

Ich. Das Unbegreifliche! –

4Sie. Ja, denn sie behauptet: Sie wären ein Mann, und doch zugleich auch keiner. –

Ich. Sonderbar! und das soll zu meinem Lobe gereichen? –

Sie. Allerdings! Daß Sie das Aeussere eines Mannes haben, läugnet sie zwar nicht; aber doch will sie, ich weiß nicht, was, in Ihren Zügen entdeckt haben. – Sie sollen sanft, treu, außerordentlich zärtlich, nichts weniger als ungerecht, auffahrend, tyrannisch oder etwas dem Aehnliches seyn. –

»Nun frage ich Sie aber: ob dies, sobald Sie für einen Mann gelten wollen, nicht der baareste Unsinn ist?« –

Ich. Theure Gräfin! was haben Ihnen doch die Männer gethan? –

[116] Sie. Warten Sie! warten Sie! das muß Ihnen Milly beantworten!

Jetzt sprang sie zur Klingel, und Milly erschien.

»Milly!« – sagte sie – »erzähle dem Herrn doch ein wenig von meinem Manne.

»Ach der Lord« – begann Milly im gebrochnen Teutsch – »war der bravste Herr von der Welt! er liebte seine Leute wie ein Vater, und betete Mylady an.«

»Freylich war er nahe an 60 und Mylady kaum 17. – Er hatte das Podagra, und das machte ihn manchmal ein wenig mürrisch; aber« ....

»Kleine Hexe!« – rief die Gräfin – »was ist das für ein albernes Erzählen? – Ruf mir Robert, ich sehe schon, was da herauskommen wird!« –

Jetzt stand Robert vor uns; ein hübscher, rothwangiger Junge, mit hochgelben Locken.

[117] »Mein Haushofmeister« – sagte die Gräfin zu mir. –

»Höre, Robert!« – fuhr sie, sich zu ihm wendend, fort. – »Milly wollte sich da eben in das Lob meines Mannes vertiefen; du, hoffe ich, wirst ein bessers Gedächtniß haben. Nicht wahr? du hast es noch nicht vergessen: wie ich von ihm gepeinigt worden bin?«

Robert. Nun ja, das ist wahr! Mylady hat viel ausgestanden! –

Die Gräfin. Den ganzen Tag eingesperrt! –

Rob. Und die immerwährenden Klagen! –

Die Gräf. Ja, und Vorwürfe oben drein! wenn ich einmal ausgehen wollte –

Rob. Und ein ganzes Heer Wächter! –

Die Gräf. Als ob ich gleich davon laufen würde! –

[118] Rob. Ach Gott ja! Mylord war sehr wunderlich! aber er liebte Mylady von ganzer Seele. –

Die Gräf. Ja, so sehr, daß er mir beynahe die Luft zugemessen hätte! –

Rob. Freilich! Freilich! – aber nun sollte Mylady das doch endlich einmal vergessen, und Unsereinen ....

Die Gräf. Nun? – was Unsereinen? – heurathen und auch ein Mädchen unglücklich machen lassen? –

Rob. Großer Gott! würde ich dann Milly unglücklich machen?

Die Gräf. Nun! nun! macht mir den Kopf nicht zu warm! sonst könnt ihr's noch erleben, daß ich euch zusammenkuppeln lasse! wenn ihr's denn schlechterdings nicht besser haben wollt. Aber das sage ich euch! kommt mir nachher nicht mit Klagen! –

[119] »Nimmermehr! nimmermehr Mylady!« – rief Robert, und küßte ihr mit Inbrunst die Hand.

Milly hatte gehorcht, und stürzte sich jetzt auf die andre Hand ihrer Gebietherin.

»Schon gut! schon gut!« – sagte die Gräfin – »eßt mich nur nicht ganz auf! Jetzt geht an Eure Arbeit, und daß ich euch heute nicht wieder zusammen erblicke!

[120]
7. Kapitel
Siebentes Kapitel

»Aber das war doch hart! liebe Gräfin!« – sagte ich, als Milly und Robert uns verlassen hatten. –

»Nichts weniger!« – antwortete sie – »hätte ich nicht aus allen Kräften dagegen gearbeitet, so wären sie seit zwey Jahren verheurathet, und einander schon so überdrüßig, daß sie sich kaum mehr sehen möchten.«

»Dieß ist die schönste Zeit ihres Lebens. Ich habe sie so viel als möglich zu verlängern gesucht; aber die kleine Gans hat mich den ganzen Tag mit ihrem Geschnatter verfolgt. Sie meynt: daß wenn ich nur erst einmal ordentlich liebe, ich [121] ganz anders von der Ehe denken, und minder streng gegen Robert seyn würde.«

Ich. Sollte sie so ganz unrecht haben? liebe Gräfin. –

Sie. Ach wie kann ich denn das wissen! ich habe ja niemals ordentlich geliebt.

Ich. Niemals! –

Sie. Nun ja! manchmal kam es mir freilich so vor, aber in kurzer Zeit sah ich, daß ich mich geirrt hatte.

Sie schwieg, und ich war zu empfindlich, um antworten zu können.

»Mit Ihnen« – hub sie endlich wieder an – »dünkt es mich nun freilich etwas Anderes; aber eine Heurath möchte ich doch um alles in der Welt nicht darauf wagen! –

Ich. Und das sagen Sie mir so ohne alle Schonung! –

[122] Sie. Warum nicht? – Möchten Sie lieber, daß ich Sie betröge? –

Ich. Um des Himmels Willen nicht!

Sie. Nun sehen Sie wohl! – Glauben Sie mir! überlassen Sie das alles der Zeit. Nur sie kann uns lehren, wie viel wir uns werden können.

»Aber mit dem Grafen« – sagte ich ziemlich unmuthig – »waren Sie nicht so vorsichtig.« –

»Nein, wahrhaftig nicht!« – antwortete sie – »aber ich war ein Kind, und mein Vater, ein westindischer Pflanzer, glaubte mich und sein ungeheures Vermögen keinen bessern Händen anvertrauen zu können. Aber die Trennung von mir kostete ihm das Leben; während ich von nichts als von Bällen, Assembleen und neuen Moden träumte, und die Reise nach England so leicht wie eine Spatzierfahrt machte.«

[123] Jetzt meldete Milly einen sehr vornehmen Besuch, und ich war froh, unter diesem Vorwande mich entfernen, und meine üble Laune den Augen der Gräfin entziehen zu können.

[124]
8. Kapitel
Achtes Kapitel

»Wie ist es denn?« dachte ich, als ich zu Hause kam – »liebst du dieses sonderbare Wesen? oder liebst du es nicht? – Willst du dich der Gefahr aussetzen, wie ihre Vögel und Hühner verabschiedet zu werden, oder kannst du dir mit Hannibals glücklichem Schicksale schmeicheln?« –

»Poßierlich!« – rief ich lachend – »Hannibals Nebenbuhler! – müssen doch sehen: ob wir ihm den Rang abgewinnen können!«

Jetzt erwachte meine Eitelkeit, und nun dachte ich nicht mehr daran, mir Rechenschaft von meinen Empfindungen zu geben.

[125] Meine Besuche bey der Gräfin wurden häufiger, und mit jedem fühlte ich mein Herz, oder vielmehr meine Sinnlichkeit, mehr angezogen.

Sie war zu lebhaft, und ich zu jung, als daß wir nicht bald alle mögliche Arten, uns unsre sogenannte Liebe zu beweisen, versucht haben sollten.

Muß ich der Neuheit des Vergnügens, der Jugendkraft meines Körpers, oder der reizenden Zauberin allein, den unaussprechlichen Wonnetaumel danken, in den ich versank? – ich weiß es nicht! – aber, mit einer Art von Dankbarkeit bekenne ich noch jetzt: daß ich den höchsten sinnlichen Genuß nur in ihren Armen gefunden habe.

Alles um mich her war verwandelt! – es war eine andere Sonne, die mir jetzt leuchtete! – es war eine andere Luft, die meine Brust belebte! – so hatten die Blumen niemals geduftet! – so hatten die [126] Vögel niemals gesungen! – ach! und die Nacht! – sie war zu kurz – aber wie beseligend war sie! –

Doch bald hatte ich keinen Sinn mehr für das, was mich umgab. Nur durch Amalia dacht ich, empfand ich – nur in ihr, nur mit ihr wollt ich leben – alles Andre war todt für mich.

Meine Anhänglichkeit war Leidenschaft, meine Leidenschaft war ein schnell um sich greifendes verzehrendes Feuer geworden.

Auch sie fühlte es in ihrem Busen – eine Trennung von wenigen Augenblicken, und wir wollten beyde verzweifeln. – Ach! wir glaubten ewig nur ein Wesen ausmachen zu müssen. – –

[127]
9. Kapitel
Neuntes Kapitel

Weckte sie Leichtsinn, oder Vernunft? – genug sie erwachte zuerst aus dem schönsten der Träume, und wollte auch mich daraus wecken.

Die Grausame! fühlte sie nicht daß es mein Leben galt? – fühlte sie nicht, daß die erbärmliche Wirklichkeit die sie mir anprieß, mich elend machte! – jetzt da ich sie mit der namenlosen Womne, die mein ganzes Wesen durchströmte, und die sie Täuschung nannte, vergleichen konnte! –

Ach die Kalte! Treulose! ich suchte sie wieder an meinem brennenden Herzen zu erwärmen – aber das göttliche Feuer [128] drang nicht bis zu dem ihrigen! – sie war und blieb todt in meinen Armen.

Da schäumte ich vor Wuth – da lief ich hinaus in Sturm und Regen und wußte nicht wo ich war, und kannte mich selbst nicht mehr. Das Herz wollt' ich mit eignen Händen mir zerfleischen, in die Fluth wollt' ich mich stürzen, um den verzehrenden Brand in meinem Innern zu löschen.

Ach Gott! da zog es mich wieder gewaltsam zu ihr hin – da fühlte ich, daß ich noch lebte, und nur lebend sie noch sehen, sie noch umarmen konnte. –

Da gingen die wonnevollen Stunden noch einmal wehmüthig lächelnd vor mir vorüber. – »Flieht nicht! flieht nicht auf ewig«! – rief ich; und breitete meine Arme weit aus, als wollte ich meine ganze scheidende Glückseligkeit noch einmal umfangen.

[129] Aber es war nur die Luft die ich umarmte – und das Wesen was in diesen Armen sonst vor Wonne erbebte – das Wesen war fern – vergaß mich vielleicht – dieser Gedanke öffnete eine Hölle! – ich stürzte zurück, und fand mich an ihrer Thüre, ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen war.

[130]
10. Kapitel
Zehntes Kapitel

Ich hörte ihre Stimme! – es waren schmeichelnde Worte die sie sprach – meine Hand zitterte an der Thüre – sie sprang auf. –

Da lag das verhaßte Thier an ihrer Seite, und sein Kopf ruhte auf ihrem Schooße. Sie gab ihm die zärtlichsten Namen; mehr als ein Mal beugte sie sich zu ihm nieder; und kaum athmete ich vor Angst: ihre Lippen würden es berühren.

Hölle und Tod! jetzt wirklich! –

»Den Hund weg!« – schrie ich – »habe ich Ihnen das nicht hundertmal verboten! –

[131] Verboten! – sagte sie; spöttisch lächelnd – so was verbietet sich auch! –

Den Hund weg! – schrie ich noch einmal; und sah sie vor meiner Stimme erblassen: aber das Thier blieb auf seiner Stelle.

Zum dritten Male wollte ich ihr zurufen, aber die Wuth verschloß mir den Mund. Noch war ich in meiner Jagdkleidung; ein Griff an das Messer, und der Hund lag blutend zu meinen Füssen.

Jetzt erst fühlte ich mein Unrecht; und hoffte noch er sey nicht tödtlich verwundet: aber als ich das Messer aus seiner Seite zog; starb er unter meinen Händen.

Schon so manches Thier hatte ich erlegt; aber das hatte ich nie dabey empfunden. In der That, es war das Vorgefühl von der Angst eines Mörders. Ich stand da wie ein Verurtheilter und hatte [132] nicht den Muth die Augen zu ihr aufzuschlagen.

Aber als ich es endlich wagte – o Gott! da lag sie blaß, entstellt und ohne Bewußtseyn auf der Lehne des Sopha's.

Um Hülfe konnt' ich, durft' ich nicht rufen. – Alles triefte von Blut. – Mit unaussprechlicher Bangigkeit schloß ich sie in meine Arme, bedeckte ihren Mund mit tausend brennenden Küssen, beschwor sie zu erwachen, mich nicht so fürchterlich zu bestrafen. Endlich schlug sie die Augen auf; und ich athmete wieder.

[133]
11. Kapitel
Eilftes Kapitel

Aber wie schlug sie sie auf! – ich dachte sie würde mit dem ersten Blicke mich tödten. – Jetzt sah sie auf den Hund; und stieß ein durchdringendes Geschrey aus.

Milly stürzte erschrocken herein; und blieb wie versteinert als sie ihre Gebieterin mich laut als einen Mörder anklagen hörte.

»Ein Mörder!« – rief sie – o Gott! wen hat er denn ermordet? –

Statt aller Antwort zeigte Amalia auf den Hund; und warf sich wimmernd neben ihn hin.

Ich wollte sie aufrichten, aber wüthend stieß sie mich von sich.

[134] »Aus meinen Augen!« – schrie sie – »und daß ich dich niemahls wieder erblicke!«

Ich bat, ich flehte, – vergebens! – auch Milly sah jetzt mit Abscheu auf mich.

»Milly« – rief ich – »bey Gott! ich bin unschuldig! – sie hat mich gereizt! hat mich auf das Aeußerste gereizt!

Diese Beschuldigung trieb Amaliens Wuth bis zur Raserey. –

Ich hatte ein Weib geliebt; aber das war kein Weib, das war kein menschliches Wesen mehr, was ich da vor mir sah. –

Meine Liebe entfloh; und das Gefühl wie tief ich gekränkt war, kehrte in seiner ganzen Stärke wieder zurück.

»Ruhig Madame! ruhig« – rief ich – »was Sie wünschen soll geschehen! auch ich verlange nicht Sie wieder zu sehen! – trösten Sie sich! Hannibal ist zu ersetzen! –

[135] In der That! ich ruhte nicht eher, bis ich einen eben so großen und noch schönern Hund aufgetrieben hatte. Diesen schickte ich der Gräfin, mit einem Zettel, den sie wahrscheinlich Niemand mitgetheilt haben wird; und kündigte Heinrichen an: daß ich entschlossen sey morgenden Tages Berlin zu verlassen.

Nichts von Allem was er mir einwandte, vermochte etwas über mich; und ich reiste mit dem festen Entschlusse ab: eine vollgenügende Rache an dem ganzen weiblichen Geschlechte zu nehmen.

[136]

Viertes Buch

1. Kapitel
Erstes Kapitel

Die Freude meiner Tante, mich nach einem Jahre wieder zu umarmen, war unbeschreiblich. Sie fand mich größer, männlicher, und wollte einen besondern Zug von Erfahrung in meiner Phisiognomie entdecken.

Ich lächelte schweigend und nahm mir die neue Kammerjungfer ein wenig in Augenschein. Es war noch dieselbe kleine [139] Brünette im grünen Corsettchen, und, wie wie mich dünkte, nichts weniger als zu ihrem Nachtheile verändert.

Auch sie war gewachsen; war noch voller und blühender; aber, wenn ich nicht irrte, auch um ein ganz Theil stolzer geworden.

Diese Vermuthung fand sich durch die Aeußerungen der Bedienten vollkommen bestätigt.

Nach ihrer Aussage, war Röschen die grausamste, widerspenstigste Schöne auf dem Erdboden; und sie würde – meynten sie – eher einen Mann zu ihren Füssen sterben lassen; als einen mitleidigen Blick auf ihn werfen.

»Kinder! Kinder!« – sagte ich – »ihr macht es auch gar zu arg!« –

»Nein gnädiger Herr!« – rief Friedrich der Jäger, ein hübscher, schlanker Bursche – »Gott soll mich verdammen! [140] wo die kleine Hexe nicht ein Herz von Stahl und Eisen hat!«

»Hm!« – antwortete ich – der Rechte ist noch nicht gekommen!« –

Friedrich. Ja das sagt sie auch! – und da mögte man gleich! .... Na ich will es noch erleben! –

»Sey ruhig Friedrich!« – unterbrach ich ihn – »es giebt ja der hübschen Mädchen mehr; und ein Bursche wie du, findet allenthalben noch eine Frau.«

»Ja!« antwortete er mißmüthig – »das sagen die Andern auch! – aber wenn man einmal seinen Kopf darauf gesetzt hat; so ärgerts einen doch!« –

[141]
2. Kapitel
Zweytes Kapitel

Friedrich hat Recht! – dachte ich – seinen Kopf muß man nun freylich nicht darauf setzen; aber zum Spas kann man doch sehen was an der Sache ist. –

»Höre! Röschen! – sagte ich am folgenden Morgen; als ich ihr im Garten begegnete – man hat dich erschrecklich bey mir verklagt.«

»Bey dem gnädigen Herrn?« – fragte sie; und ward roth bis an die Augen.

Ich. Ja! bey mir. Du bist ja ein entsetzliches Mädchen! bringst alle Männer zur Verzweiflung. –

Sie. Oh da hat gewiß Friedrich einmal wieder geschwatzt! der hat immer dummes Zeug im Kopfe!

[142] Ich. Er findet dich liebenswürdig! kannst du das dumm nennen? das thut mir leid! – da wirst du mich auch dumm, sehr dumm nennen müssen! –

»Ach!« – rief sie lebhaft – »mit dem gnädigen Herrn, das ist ja ganz was anders!« –

»Wirklich? liebes Mädchen!« – sagte ich; indem ich ihre Hand zärtlich in der meinigen drückte, und meinen Ton so treuherzig als möglich zu machen suchte.

Mit dem Tone gelang es mir so ziemlich; aber ich mogte doch ein gewisses schalkhaftes Lächeln bey ihrer Naivetät nicht ganz unterdrückt haben. Sie fühlte jetzt was in ihrer Antwort lag, und ihre Verwirrung war unbeschreiblich.

»Habe ich dich böse gemacht? mein süßes Mädchen!« sagte ich; und fand meinen Ton jetzt meisterhaft – »wie innig leid würde mir das thun!« –

[143] »Ach Gott nein!« – antwortete sie – »ich bin nur böse auf mich selbst, weil ich immer so schwatze wie es mir in den Mund kömmt.«

»Thue das immer lieber Engel!« – fuhr ich fort; indem ich meinen Arm um ihre Hüften schlang. –

»Niemand kann es besser mit dir meynen als ich. Sieh mich als deinen Freund, als deinen Bruder an!«

»Ach lieber Himmel!« – unterbrach sie mich – »wie könnte ich denn das!«

»Das kannst du! das mußt du!« – wiederholte ich; und drückte schnell einen Kuß auf ihren niedlichen Mund.

Sie verschwand mit einem Schrey; und ich ärgerte mich, durch eine einzige Aufwallung beynahe alles verdorben zu haben.

[144]
3. Kapitel
Drittes Kapitel

Von diesem Augenblicke an, vermied sie mich eben so absichtlich, wie ich sie suchte, und ich war nahe daran, mit Friedrich einerley Schicksal zu haben: als ich mich noch zur rechten Zeit eines Mittels erinnerte, das ein sehr erfahrner Mann, mir als untrüglich empfohlen hatte.

»Röschen!« – sagte ich eines Tages zu ihr; als sie sich abermahls aus meinen Armen wand. »Du hast Recht! mein Stand wird eine ewige Scheidewand zwischen uns bleiben! – Nein! ich will dich nicht unglücklich machen! – Wohlan! ich entsage dir! Du bist mir von nun an heilig!« –

[145] Ihre Bestürzung war zu groß, als daß sie hätte gewahr werden können, wie scharf ich sie beobachtete. Schweigend, mit niedergeschlagenen Augen, schlich sie in ihr Kämmerchen; während ich mit triumphirendem Lächeln mich zurückzog, um meines Sieges desto gewisser zu bleiben.

Es war unverkennbar! mit jedem Tage kam ich ihm näher. Zwar schien es, als hätte ich aller Hoffnung auf ewig entsagt – keinen Blick, kein Wort, viel weniger eine Berührung erlaubte ich mir. Mein Ton, der anfangs noch etwas zärtlich wehmüthiges hatte, ging allmählich in den freundlich ruhigen Ton eines milden, gütigen Herrn über: und in wenig Wochen war keine Spur mehr von unserm vorigen Verhältnisse zu entdecken.

Das war zu viel für Röschen! das hatte sie nicht erwartet. – Wie! gar keine Klagen! – keine Verzweiflung? – so ruhig, [146] so schnell, so ganz und gar konnte ich ihr entsagen! –

Sie ertrug es nicht; – die Rosen ihrer Wangen verblühten, das schöne Feuer ihrer Augen erlosch, und bald wurde ihre Gesundheit so sehr angegriffen, daß sie das Bette nicht mehr verlassen konnte.

[147]
4. Kapitel
Viertes Kapitel

Da war es, wo ich sie erwartete! – ach was kostete es, mich bis dahin zu bezähmen!

»Jetzt keine Zeit verloren!« – rief ich – »sonst mögte alles verloren seyn.

Das Schicksal kam mir zu Hülfe.

»Was mag unserm Röschen fehlen?« – sagte meine Tante – »sollte es die Liebe seyn?« –

»Wer weiß!« – antwortete ich – »wohl möglich.« –

»Friedrich« – fuhr sie fort – »hat sich viel Mühe um sie gegeben, sie wollte aber damals nichts davon hören.« – »Wenn ich wüßte, daß es das wäre – nun da könnte man noch wohl helfen!«

[148] »Wenn ich ihm ein hundert Thaler mehr und ihr eine hübsche Ausstattung gäbe; so könnten sie auf dem Lande schon ganz gut davon leben.

Ich. Weiß denn Röschen, liebe Tante, daß Sie so darüber denken.

Die Tante. Freylich! aber wie ich dir sage, sie warf das alles weit von sich weg! und wenn ich nachher wieder davon anfing; so bekam ich eine spitzige Antwort.

Wie wäre es? wenn du einmal mit ihr sprächest? –

Ich. Ich? –

Die Tante. Nun ja! warum nicht? – thue es immer lieber Gustav! ich wette das kleine dumme Ding weiß selbst nicht was sie will.

»Wohl möglich!« – dachte ich; indem ich mich schweigend entfernte und den Weg zu Röschens Kammer nahm.

[149] Leise öffnete ich die Thür – da lag sie und schlummerte. Ein hohes Roth färbte ihre Wangen, ihr Athem war schnell und fieberhaft, und eine lebhafte Phantasie schien ihre Seele zu beschäftigen.

»Sieh dahin hast du sie gebracht!« – rief mein Gewissen. – Eine unbeschreibliche Rührung ergriff mich. Mein Kopf sank auf ihre Hand; und eine brennende Thräne, die darauf fiel, erweckte sie aus ihrem Schlummer.

[150]
5. Kapitel
Fünftes Kapitel

»Helft! helft! er ertrinkt!« – rief sie – »wir ertrinken Alle!«

Bey den letzten Worten sank ihre Stimme so hoffnungslos; daß das Herz mir vor innigem Mitleiden erbebte.

Länger hielt ich mich nicht! – mit unaussprechlicher Reue schloß ich sie in meine Arme. »Mein theures, geliebtes Mädchen! – rief ich – Erwache! erwache! – nein, du wirst nicht sterben! Du bist gerettet! bist in meinen Armen! –

Jetzt schlug sie die Augen auf. – Welch ein Blick! – er verrieth meine ganze Schuld und alle ihre Leiden.

[151] »Großer Gott!« – rief sie – »also ist es wahr! also ist es doch kein« – Traum wollte sie sagen – aber hier sah sie sich um und verstummte. –

»Ja!« – sagte ich – »mein süßes Mädchen! es war ein Traum! aber daß ich dich unaussprechlich liebe, daß ich dich in meinen Armen halte, das ist Wahrheit! –

Ach wie sehr fühlte ich diese Wahrheit! – zwar war ich fest entschlossen alles wieder gut zu machen; meine Sinnlichkeit zu bekämpfen; ihre Unschuld zu ehren; sie wo möglich zu einer Verbindung mit irgend einem rechtschaffenen Manne zu bereden. – – Aber ach! so reizend, so duldend war sie nie gewesen – so tief hatte mich ihr Anblick niemahls erschüttert.

»Fliehe! fliehe!« – rief mein guter Engel – »noch ist es Zeit!« –

In der That, ich riß mich auf von ihrem Lager – ich wollte gehen. – Aber [152] da sah sie mich an mit ihren großen schmachtenden Augen, als müßte sie auf ewig von mir Abschied nehmen.

Ich trat zurück – – und bald war es zu spät zum Fliehen. – –

Nein! diesen Flecken in meinem Leben werden niemals die Thränen der bittersten Reue vertilgen! wohl giebt es einen Himmel und eine Hölle! denn sie sind in unserm eigenem Herzen!

[153]
6. Kapitel
Sechstes Kapitel

Röschens Verzweiflung, meine Angst – – ach ich muß davon schweigen! – ich ertrage die Erinnerung nicht! –

Noch immer hoffte ich, daß die unglückliche Stunde keine weitern Folgen haben würde, und brachte es endlich dahin, Röschen das nemliche glauben zu machen.

Aber leider sahen wir nur zu bald, daß wir uns geirrt hatten, und daß es nothwendig war, Röschen auf das schleunigste vor den Beobachtungen der Bedienten zu schützen.

Der Nachsicht meiner Tante gewiß, wollte ich ihr alles entdecken. Aber Röschen [154] versicherte: daß sie lieber in den Tod gehen, als sich dieser Schande aussetzen würde.

Vielleicht wäre es noch möglich gewesen, sie zu bereden, wenn nicht gerade jetzt Friedrichs eifersüchtige Tücke sie aufs Aeußerste gebracht hätte. –

Schon lange war unser Einverständniß von ihm bemerkt worden, und er hatte nur bis jetzt den Unwissenden gespielt, um sich plötzlich auf das Empfindlichste zu rächen.

Erbittert, daß die Gelegenheit dazu noch immer nicht erschien, konnte er sich nicht enthalten, Röschen mit äußerst kränkenden Anmerkungen zu verfolgen.

Das unglückliche Mädchen, war ihrer Schuld sich bewußt, und hatte stillschweigend alles erduldet. Aber das war Friedrichs Plane zuwider. Er wünschte zu größern und öffentlichern Mißhandlungen [155] berechtigt zu werden, und da er sich hierin getäuscht fand; so beschloß er auf eine andere Weise – es koste was es wolle, seine Rache zu befriedigen.

[156]
7. Kapitel
Siebentes Kapitel

Leider war ich genöthigt, mich wegen einer Erbschaftsangelegenheit auf einige Tage zu entfernen. Erst nach meiner Rückkehr sollte für Röschen gesorgt werden. Ihr Zustand hatte sie mir doppelt interessant gemacht, und ich hoffte noch immer, sie in meiner Nähe behalten, und meine Tante für sie gewinnen zu können.

Die Unglückliche! warum ahnete sie allein, was ihr bevorstand! – warum konnte ich mich, ohngeachtet ihrer rührenden Bitten, aus ihren Armen reißen! – Nein, niemals würde ich mich von ihr getrennt haben, wenn ich gewußt hätte, was ihr drohte.

[157] Kaum hatte ich mich entfernt, als Friedrich zu Röschens Vater eilte, ihm unser ganzes Verhältniß entdeckte, und den ohnehin jähzornigen Mann bis zur rasendsten Wuth erbitterte.

Ein Brief voll der fürchterlichsten Drohungen meldete Röschen seine nahe Ankunft.

Dies war genug um das bedauernswürdige Mädchen zur Verzweiflung zu bringen.

Sie kannte ihren Vater und hoffte kein Erbarmen von ihm. Ohne Rath, ohne Schutz und ohne Trost, glaubte sie nur durch eine schleunige Flucht sich vor seinem Zorn sichern zu können.

Ich kam zurück – und niemand wußte wo sie geblieben war.

Mein Schrecken bey dieser Nachricht, mein Gram da ich nach unzählig mißglückten Versuchen, endlich die Hoffnung sie wieder zu finden, aufgeben mußte – wer [158] begreift das nicht? wem brauche ich es zu schildern? –

Wie ein Verbannter irrte ich umher. Das Leben, ich selbst, alles war mir verhaßt – und wahrscheinlich würde ich einer unheilbaren Melancolie nicht entgangen seyn; hätte mich nicht Heinrich gerade jetzt an die Reise nach Italien erinnert.

Diese Reise, war längst unter uns verabredet; er hatte in Berlin alles dazu veranstaltet, und erwartete jetzt nur meinen letzten Entschluß.

[159]
8. Kapitel
Achtes Kapitel

Da waren wir denn in dem Lande der schönen Wunder! Heinrichs Entzücken stieg jeden Augenblick; aber für mich blieben sie todt, die Werke der unsterblichen Kunst.

Nur einem kraftvollen Herzen offenbart sich ihr hoher Geist – das Meinige war durch die Leidenschaften entnervt.

Aber der üppige Himmel wirkte desto mehr auf meine gereitzten Sinne. Bald entflohen alle traurigen Vorstellungen, und mein kochendes Blut mahnte mich nur zu sehr, daß ich mich in dem Lande des Genusses befände.

Die italiänischen Frauenzimmer haben ein zu günstiges Vorurtheil für alles, was [160] einem deutschen Manne ähnlich sieht, als daß ich lange nach Abentheuern hätte schmachten müssen.

Im Gegentheil bothen sie sich mir so häufig an, daß nur die Wahl mich verlegen machen konnte. Aber diese Verlegenheit verschwand, sobald die Marquise P. mich mit gütigem Auge bemerkte.

Sie wollte gefallen und – sonderbar genug – demohngeachtet gefiel sie wirklich. Ihre außerordentliche Schönheit, ihr blendender Witz rissen auch dann noch hin, wenn man am meisten auf seiner Huth zu seyn glaubte. Bald sah man sich gefesselt, und verlohr mit der Freiheit die Neigung ihren Verlust zu beklagen.

Die italiänischen Frauenzimmer sind wohl geneigt mit Grausamkeit zu endigen; aber nicht, wie die deutschen, damit anzufangen. Die Marquisin blieb der Sitte ihres Landes getreu, und bald waren[161] wir auf das Innigste mit einander verbunden. –

Will man eine sinnliche Anhänglichkeit Liebe nennen, so muß man gestehen: daß die italiänischen Frauenzimmer lieben, statt daß die deutschen sich nur lieben lassen.

Die Deutsche ist glücklich, wenn sie umarmt wird – die Italiänerin will selbst umarmen – und das, was in Deutschland Verderbniß und Unnatur heißen würde, ist in der Nähe des Vesuvs Natur.

[162]
9. Kapitel
Neuntes Kapitel

So sehr mir die Marquise den Aufenthalt in Neapel interessant machte, so unangenehm war er für Heinrich.

Er litt unbeschreiblich unter dem Einflusse des brennenden Himmels, und sehnte sich nach Raphaels unsterblichen Werken zurück, um seine Phantasie wieder mit erhabenen Bildern anzufüllen.

Vergebens war mein Rath, sich dem Einflusse des Clima's nicht zu widersetzen – vergebens mein Spott, da mein Rath nichts helfen wollte. Er wankte nicht in seiner unerbittlichen Strenge gegen sich selbst. »Nein!« rief er – »ich kann mein edleres Selbst nicht dem unedleren aufopfern!« –

[163] »Edleres! unedleres Selbst!« – wiederholte ich – »welche verworrene Begriffe! Ist irgend etwas unedel, was die Natur befiehlt?« –

Er. Die Natur befiehlt Ordnung, und besieht nur durch sie. Ich handle dieser Ordnung zuwider, wenn ich mich zu den Thieren erniedrige. Für sie mag Sinnlichkeit Zweck seyn – für mich kann sie nie etwas Anderes als Mittel werden.

Ich. Lauter Extreme! – Wer sagt dir: daß du dich zu den Thieren erniedrigen sollst? – Liebe die Person, mit der du dich sinnlich verbindest, so ist der Unter schied, der dir so gewaltig am Herzen liegt, erwiesen.

Er. Lieben! – Wie kann ich sie lieben, wenn ich sie nicht achte! – Wie kann ich sie achten und lieben und sie unglücklich machen wollen? –

[164] Ich. Mache sie glücklich! das hängt ja nur von dir ab.

Er. Wollte Gott, daß es so wäre! aber ich kann noch nicht heurathen.

Ich. Also für das liebliche Ehestandsjoch sparst du dich, opferst die schönsten Jahre des Genusses einer Chimäre auf? –

Er. Immerhin! mir ist diese Chimäre Wahrheit!

Ich. Hm! – Was ist Wahrheit! –

Er. Alles, was den Menschen veredelt, istmenschliche Wahrheit.

»Ich bleibe hier!« – rief ich ärgerlich – »was du thun willst, hängt von dir ab.«

»Was ich thun will« – antwortete er mit Festigkeit – »wirst du sehen. Ich habe deiner Tante versprochen, dich nicht zu verlassen. Ich halte es, aber ich rette mein Herz!« –

[165]
10. Kapitel
Zehntes Kapitel

Der edle, vortrefliche Mensch! wie rettete er es! –

Von nun an sah ich ihn nur des Morgens. Nachmittags, wenn ich nach ihm fragte, wußte Niemand, wo er war – aber des Abends kam er gewöhnlich todtmüde, und mit Schweiß bedeckt wieder zu Hause.

Seit jenem Streite waren wir etwas gespannt, und ich hatte nicht den Muth, ihn zu fragen: wo er gewesen sey? – aber die Neugier trieb mich, ihm eines Tages unbemerkt zu folgen.

Wir waren schon weit von der Stadt, als ich ihm zwey halb nackte Kinder entgegenlaufen [166] sah. Sie schrien laut vor Freuden, und das Eine ruhte nicht, bis er es auf den Arm nahm, während das Andre sich an seine Kleider hing, und so von ihm mit fortgezogen wurde.

Sie gingen zu einem Hüttchen, wo ihm drey andere Kinder entgegen sprangen, und ihn laut jubelnd hinein führten.

Ich war zweifelhaft, ob ich ihm folgen sollte, als er aus einer andern Thür heraustrat, einen Pflug anspannte, und auf das benachbarte Feld zog.

Ich hatte mich hinter ein Gebüsch versteckt, und sah, wie er das Feld sehr ernsthaft auf und ab pflügte.

Mit jeder Furche, die er zog, verschwand eine Falte von seiner Stirn, und wenn er nach dem Hüttchen blickte, so strahlte sein Gesicht von einer beynahe überirdischen Heiterkeit.

[167] »Ah! doch wohl eine Liebschaft,« – dachte ich – »und wahrscheinlich eben so romantisch, wie er selbst. Das muß man doch ein wenig näher betrachten!« – und so schlich ich unbemerkt zu dem Hüttchen.

Ich fand einen abgezehrten Greis auf einem ziemlich reinlichen Lager. Er erzählte mir: daß sein Sohn – der Vater der fünf Kinder – auf einer Reise krank geworden, und daß seine Schwiegertochter ihrem Manne sogleich gefolgt sey, um seine Pflege zu übernehmen.

»Jesus Maria!« – rief er – »was wäre nun aus uns geworden, wenn Gott uns nicht einen Engel gesandt hätte? – Ja, einen Engel! denn er ist mehr als ein Mensch! er hat übermenschliche Kräfte! – mich trägt er wie ein Kind wohin er will, und was mein Sohn mit mehrern Arbeitern nicht bezwingen konnte, das ist ihm allein wie Kinderspiel.«

[168] »Sehen Sie! sehen Sie!« – fuhr er fort – »dort geht er und pflügt unsern Acker. Wenn meine Kinder nur erst wieder zurück sind! sie werden ihn anbeten!«

»Ach! wie mir so wohl geworden ist, daß ich es doch einen Menschen habe erzählen könne!«

Meine Augen wurden naß; ich drückte dem Alten sprachlos die Hand; ließ unvermerkt meine Börse auf dem Tische, und eilte, ohne auf das Feld wieder hinzublicken, in die Stadt.

[169]
11. Kapitel
Eilftes Kapitel

Die Marquise erwartete mich, aber ohngeachtet meine erste Empfindurg mich trieb, Heinrich zu fliehen, so war es mir dennoch unmöglich, diesen Abend ohne ihn zuzubringen, und um ihn nicht zu verfehlen, eilte ich sogleich auf sein Zimmer.

Alles, was ich hier fand, überzeugte mich von seinem unabläßigen Streben nach Vervollkommnung. Seine Papiere verriethen ein so tiefes und ausgebreitetes Studium, daß ich jetzt sehr wohl begriff: warum er sich des Morgens vor jedem Besuche verleugnete.

Endlich kam er, und ich sprang auf, um mich an seine Brust zu werfen. Aber [170] es war etwas so Hohes, Ueberirdisches in seinem Wesen, daß meine Arme unwillkührlich sanken, und meine Knie sich beugten. Wer wüßte, was ich gethan haben würde, hätten mich nicht Schaam und Stolz aufrecht erhalten.

Aber sie siegten und der Neid erwachte mit ihnen. Ich both ihm einen kalten guten Abend, entschuldigte mich, daß ich in seinen Papieren gekramt hätte, und eilte sehr übler Laune auf mein Zimmer.

Hier bestürmten mich eine Menge unangenehmer Empfindungen, und die Marquise würde sich eben nicht geschmeichelt gefunden haben, wenn sie gewußt hätte, was mich so spät noch zu ihr führte.

Ihr spöttischer Witz, der mit vormals so reitzend schien, dünkte mich diesen Abend beleidigend; bald waren wir in einer sehr unfreundschaftlichen Stimmung, und versöhnten [171] uns nur auf Kosten meiner Ruhe und meiner Gesundheit.

Diese hatte seit einiger Zeit merklich gelitten, und ich konnte mir nicht verbergen, daß das etwas zu lebhafte Temperament der Marquise die Ursach davon war.

Die Anmerkungen meiner Bekannten, – Heinrichs thränenvolles Auge, wenn ich nach einer leichten Geistesanstrengung mich erschöpft und muthlos fühlte – ach das Alles machte mich freylich für Augenblicke aufmerksam; aber dann rissen mich wieder Sinnlichkeit und Gewohnheit dahin, und bald fing ich an, an mir selbst zu verzweifeln. –

Ich war verlohren, wenn mich der Zufall nicht rettete.

[172]
12. Kapitel
Zwölftes Kapitel

Eines Tages, als ich früher wie gewöhnlich zur Marquise ging, fand ich sie nicht zu Hause, aber ihre Zimmer offen. Es hatte mich Niemand von ihren Leuten bemerkt, und ich beschäftigte mich, einige neue Schriften, die ich in ihrem Kabinette fand, zu durchblättern, als ein Wagen vor dem Hause hielt.

Sie war es selbst. Ich beschloß, mich ganz still in dem Kabinette zu verhalten, um sie nachher angenehm zu überraschen. Die Thüre war nur angelehnt, und ich konnte das ganze daran stoßende Zimmer beobachten.

Sie erkundigte sich im Hereintreten: ob ich da gewesen sey? –

[173] »Nein!« – sagte die Kammerjungfer.

»Nun, gleichviel!« – antwortete die Marquise – »laß mir Anton herauf kommen.«

»Gleichviel!« murmelte ich zähnknirschend, und schon hatte ich die Hand an der Thüre, als ein Geräusch mich wieder zu mir selbst brachte.

Es war der geliebte Anton. Ein langes, keuchendes Gerippe, in der Livree der Marquise. Man schleppte ihn in die Mitte des Zimmers, wo er wie eine leblose Masse auf das Sopha niederfiel.

Aber sobald sich die Marquise ihm näherte, flog eine Fieberröthe über seine eingefallnen Wangen, und in seinen erstorbnen Augen loderte plötzlich eine wüthende Gluth.

Sie sagte ihm: daß sie seinetwegen mit einem Arzte gesprochen, und alle Hoffnung zu seiner Besserung habe. Jetzt wollte sie [174] seine Hand ergreifen, aber mit Abscheu stieß er sie von sich.

»Lassen Sie mich!« – schrie er – »Sie allein haben mich in dies unabsehbare Elend gestürzt! – ich verfluche Sie und alle ihre Aerzte!« –

»Was soll ich hier? – wollen Sie sich an meiner Marter weiden? – Bey Gott, ich schwöre Ihnen!« – – Hier schloß die Wuth ihm den Mund, und er sank ohnmächtig auf das Sopha zurück.

Die Marquise rief ihre Leute, der Unglückliche ward fortgeschleppt, und da sie selbst ihm folgte, so nutzte ich den Augenblick, um dieser Hölle zu entfliehen.

Eine Minute wollte die Rache mich zurückhalten; aber der Abscheu überwand, und ich stürzte über die Straße, als ob alle Geister des Abgrundes mich verfolgten.

Heinrich hatte mich kommen sehen, und eilte mir erschrocken entgegen.

[175] »Was ist es!« – rief er – »um Gottes Willen, was ist es?« –

Mit einem Strohm von Thränen sank ich in seine Arme. »Rette mich! rette mich!« – rief ich, »großer, edler Mensch! verstoß mich nicht von deinem Herzen!«

»Ich dich verstoßen! – antwortete er – »nimmermehr! – Komm, erzähle mir, was dich so heftig erschüttert.« – Und da ich ihm Alles gesagt hatte, rief er begeistert:

»Willkommen! willkommen! mir und der Tugend! Jetzt ist ein Rückfall unmöglich! jetzt bist du für ewig gewonnen!« –

[176]

Fünftes Buch

1. Kapitel
Erstes Kapitel

Jetzt bedurfte es keiner Ueberredung, um mich von Neapel zu entfernen, und schon am folgenden Tage waren wir auf dem Wege nach Rom, wo wir uns gleichwohl, der Vorschrift des Arztes zufolge, nur kurze Zeit verweilen durften.

Er hatte mir gerathen, durch die Schweiz zu gehen, und den Winter im südlichen Frankreich zuzubringen; und ich [179] war auch um so mehr geneigt, dieser Vorschrift zu folgen, da ich durch Heinrich, welcher mit Sophie im fortwährenden Briefwechsel stand, wußte: daß sich dieselbe seit mehrern Monaten in Avignon aufhielt.

Ihr und Mariens Bild wurden jetzt die herrschenden meiner Seele und oft so in einander verschmolzen, daß sie mir zuletzt nur ein Wesen auszumachen schienen.

Ich wollte mich der Tugend widmen; aber meine Phantasie bedurfte einer menschlichen Gestalt, sie zu umhüllen, und indem Sophie mir für die Tugend selbst galt, schmückte ich sie mit allen jugendlichen Reitzen Mariens.

Italien hatte ich nur durchgejagt, jetzt würde die Sehnsucht nach Avignon mich wahrscheinlich verleitet haben, die Schweiz eben so zu durcheilen, wenn es mir meine zerrüttete Gesundheit nicht unmöglich gemacht hätte.

[180] Ich mußte in Chamouny ein Häuschen miethen, und meine Reise nach Avignon wenigstens um einen Monat verschieben.

Wer war froher, als Heinrich! –

»Nur hier wirst du genesen!« – rief er – »nur hier wirst du den Adel der Menschheit begreifen!« –

Aber ach! was ihn mit Muth und Freude erfüllte, erregte mir nur Schauder, und wenn ich die schroffen Felsen hinanblickte, so dünkte mich, sie würden über mir zusammenstürzen.

Oft wollte ich es wagen mich durch die Aussicht von ihren Gipfeln zu erheitern; aber schon auf der Hälfte des Weges sank ich kraftlos zu Boden, und wir mußten nach Genf eilen, um einer ernsthaften Krankheit zuvorzukommen.

[181]
2. Kapitel
Zweytes Kapitel

An den Ufern des reizenden Sees, verwandelte sich meine Schwermuth in sanfte Melancolie. Heinrich hatte geirrt, nicht die erhabne, nur die liebliche Natur konnte mich heilen. – Jene zeigt sich dem Schuldigen wie eine strenge, unerbittliche Richterin, diese wie eine milde segnende Mutter.

Mein krankes Herz bedurfte der Schonung, meine ermattete Seele einer leichten geistigen Nahrung – wo hätte ich sie mehr finden können, als in dem gebildeten Genf? –

In der That, meine Heiterkeit wuchs zusehends, mit jedem Siege über meine [182] Sinnlichkeit fühlte ich mehr Kraft, sie zu bekämpfen, und ich ward mit Heinrich um so inniger verbunden, je mehr ich durch mich selbst die Möglichkeit einer ungeheuchelten Jugend begreifen lernte.

So glaubt der prüfende Mensch nur dann erst an das Göttliche, wenn er es in seinem eigenen Herzen entdeckt. Ach was nicht vom Anfange in ihm war, bleibt ihm auf ewig verborgen! – Die Dinge sind ihm nur das, was er sie werden läßt, nicht sie, nur sich selbst erkennt er in ihnen. Von allem was ihn umgiebt, kann er nur sagen es scheint – von seinem Gewissen allein es ist.

[183]
3. Kapitel
Drittes Kapitel

Von dem allen war ich jetzt lebhaft überzeugt; aber dennoch erwachte manchmal der Geist des Widerspruchs in mir. Ich konnte es Heinrich nicht verzeihen, daß er mich so tief hatte sinken lassen; ob er mir gleich bewies: daß er ohne Gewaltthätigkeit nichts mehr für mich habe thun können.

»Zugegeben!« – rief ich – »aber leugne es wenn du kannst! ihr laßt dem Laster nicht Gerechtigkeit widerfahren; und dadurch stürzt ihr uns arme sinnliche Menschen. Eure Tugend hat noch immer die Mönchsgestalt, und Euer Laster ist ein [184] zähnfletschendes Ungeheuer. Ach wir Unglücklichen! so erscheint es uns nicht! –

»Wenn ich nicht irre« – antwortete er, mit seinem zärtlich wehmüthigen Lächeln – so declamirte ein gewisser junger Mann in seiner Kindheit, den Vers des ehrlichen Gellert recht artig: Des Lasters Bahn ist Anfangs zwar ein breiter Weg durch Auen – – – –

»Ach geh doch!« – rief ich – »ich wußte damals eben so wenig von welchen Auen die Rede war, als ich jetzt die Auen im Monde kenne! – das ist eben das Unglück, daß Ihr genug gethan zu haben glaubt, wenn Ihr uns schwatzen lehrt.

Heinrich. Nun, das dächte ich wäre doch jetzt bey der Erziehung nicht mehr der Fall.

Ich. Jetzt! – jetzt mehr als jemahls! und was wird Euer Zögling antworten? wenn ihm die Völker am Ufer des Ganges, [185] die Insulaner der Südsee, oder einige arabische Horden versichern: daß sie ganz andere Begriffe von Tugend haben als er? –

Er. Das was etwa ein Grieche, der den Apoll für das Ideal der menschlichen Gestalt ausgäbe, einem Chineser, einem Neger, oder einem Feuerländer antworten würde; wenn einer von diesen Leuten behauptete: daß nur seine Nation Begriffe von wahrer Schönheit habe, und daß der Apoll des Griechen, nichts mehr und nichts weniger als ein ungeschlachter Geselle sey, an dem sie nimmermehr Gefallen finden würden.

Ich. Nun?

Er. Lieben Leute, würde er etwa sagen, wenn ich nicht irre: so nennt Ihr Euch Menschen, weil Ihr durch einen Nahmen Euren Unterschied von den Thieren bezeichnen wollt?

[186] Ich. Das sollt' ich meinen! –

Er. Nun könnte man glauben: daß Ihr um so mehr diesen Namen verdient, je mehr Ihr Euch wirklich von den Thieren unterscheidet. –

Ich. Allerdings!

Er. Freund Chineser und Du mein guter Schwarzer, haltet Euch einen Augenblick ruhig. – Seht hier habe ich Eure Köpfe gezeichnet, und den Kopf meines Apolls darunter. Findet Ihr sie ähnlich?

Ich. Angenommen: Ja.

Er. Aber jetzt müßt Ihr mir versprechen: daß Ihr nicht böse werden wollt; wenn ich eine kleine Veränderung mit Euren Köpfen vornehme. –

Nun wohlan! Sieh lieber Chineser! ein paar Striche, und du bist in eine Katze verwandelt. Du mein guter Schwarzer mit noch wenigeren in einen Affen. Den armen Feuerländer kann ich, um den letzten [187] darzustellen, beynahe ganz unverändert lassen. Aber was fange ich mit meinem Apoll an! – Dieses herrliche Oval, diese gebietende Stirn, dieses göttliche Auge, diesen lieblich - majestätischen Mund, finde ich bey keinem Thiere.

Lasset Eure geschicktesten Zeichner und Naturforscher herkommen, nehmt die unsrigen dazu, ich wette, sie sagen dasselbe.

Könnt Ihr es mir nun verdenken: wenn ich Ihn den wahren Menschen nenne? –

Ich. Es war ein Gott! –

Er. Immerhin! nenne das Ideal der Menschheit einen Gott, und denjenigen, der sich diesem Ideale zu nähern strebt, einen werdenden Gott – ich habe nichts dagegen.«

Ich sank an sein Herz und verstummte.

[188]
4. Kapitel
Viertes Kapitel

So sehr auch Genf der Stimmung meines Gemüths zusagte: so eilte ich dennoch, sobald meine Gesundheit nur einigermaßen wieder hergestellt war, unsere Reise nach Avignon zu beschleunigen.

Aber bey unsrer Ankunft, war Sophie verschwunden. Ich verwünschte mich und meine Reise – faßte und verwarf alle Augenblicke einen andern Entschluß, als Heinrich mir mit einem offnen Briefe entgegen kam.

»Tröste dich!« – sagte er – »ich weiß wo sie ist.«

»Wo, wo?« – rief ich. –

[189] Er. In Berlin! Dort erwartet dich ein Glück, auf das du gewiß nicht mehr rechnest. –

Ich. Ein Glück! – welch ein Glück? – erkläre dich!

Er. Raube dir und mir nicht die Freude der Ueberraschung, und sorge jetzt für deine Gesundheit! –

Ich. Peinige mich nicht! die Freude der Ueberraschung kann nicht so groß als die Quaal der Ungewißheit seyn.

Warum glänzt dein Auge so freudig? – warum siehst du mich so bedeutend an? – Heinrich! wenn du jemals mich liebtest, sage was weißt du!

O Gott! wäre es möglich! darf ich ihn nennen den Nahmen! – weißt du wo...

»Marie ist« – fiel er ein; und wir lagen einander sprachlos in den Armen.

»Erzähle! erzähle! – rief ich, als ich mich wieder erholt hatte – »wer fand sie? [190] wo war sie in der langen schrecklichen Zeit? –

Er. In Hamburg. Wir hatten richtig vermuthet: sie ist eine Engländerin, aber von deutschen Aeltern gebohren.

Ihr Vater, ein reicher Banquier aus Yarmouth, verlor durch den Sturz eines Londner Handelshauses sein ganzes Vermögen, nur der Mutter ihres ward gerettet. Diese eilte auf Befehl ihres Mannes, mit Marien nach Deutschland. Hierher wollte der Vater, sobald seine Angelegenheiten nur einigermaßen geordnet seyn würden, ihnen folgen. Aber nagender Gram und übermäßige Arbeit, warfen ihn aufs Krankenlager – er mußte sie schleunig wieder zurück rufen, und starb nach wenig Tagen in ihren Armen.

Nun würden sie die Ruhestätte des geliebten Mannes nicht verlassen haben, wenn ihre Freunde in Deutschland sie [191] nicht vermocht hätten, einen Ort zu verlassen, wo sie nur Ursach zu Thränen fanden.

Jetzt leben sie in Berlin, und Sophie, die sie in dem Hause ihres Bruders kennen lernte, und durch die Beschreibung ihrer ersten Reise aufmerksam gemacht wurde, entdeckte bald, daß sie sich nicht in ihren Vermuthungen geirrt, und daß sie jetzt wirklich die Marie vor sich hatte, mit der ein gewisser junger Mann so oft ihre Einbildungskraft beschäftigte.

Marie bedurfte einer Freundin, wie konnte sie eine edlere als Sophie finden? bald hatten sie kein Geheimniß mehr vor einander, und Sophie ward von Allem unterrichtet.

[192]
5. Kapitel
Fünftes Kapitel

»Wovon? wovon?« – rief ich. –

Er. Nun! daß sie einst dich geliebt habe. –

Ich. Ach geliebt habe! nicht mehr liebe! – nein! nein! sie kann mich nicht mehr lieben! sie kann einen Verworfnen nicht lieben, der sich ihrer unwürdig gemacht hat.

Er. Sey ruhig! fasse dich! die verlorne Unschuld kehret nie wieder, wohl aber die Tugend. Du wirst ihr von nun an dein Leben widmen, du wirst Mariens würdig werden.

Ich. O Gott mit diesem zerrütteten Körper! mit dieser ermatteten Seele! –

[193] Er. Muth! Muth! es kann noch alles gut werden! Jugend und Mäßigkeit, Arbeit und Hoffnung werden dich stärken. Die Natur, die große gütige Mutter! ist nur unerbittlich gegen den der zu spät wiederkehrt.

Ich. Ach und wenn sie dich sieht!

Er. So sieht sie einen Freund von dir.

Ich. Heinrich sieh mich an! hast du sie niemals geliebt? –

Er. Willst du eine sinnliche Erschütterung Liebe nennen – ja so habe ich sie geliebt, so liebe ich sie vielleicht noch wenn ich sie wiedersehe.

Ich. Grausamer!

Er. Warum fragtest du? sollte ich lügen? –

Ich. Sage mir, sage mir! wünschest du sie zu besitzen? – hast du es nie gewünscht? –

Er. Wie meinst du das? –

[194] Ich. Wünschest du daß sie deine Gattin, die Gefährtin deines Lebens werde? –

Er. Nein, bey Gott nicht! dazu kenne ich sie zu wenig!

Ich. Aber warum schlägst du die Augen nieder? – wie? – was verbirgst du mir? –

Er. Eine unedle Empfindung.

Ich. Heinrich – eine unedle Empfindung! – –

Er. Warum nicht? Heinrich ist ein Mensch. –

Ich. Heraus mit dieser unedlen Empfindung! nun? – was zauderst du? –

Er. Wohlan, du willst es! – ich ward mir durch deine Fragen, aber auch nur erst durch sie bewußt: daß ich zwar niemahls daran dachte, mit Marien rechtmäßig verbunden zu werden, aber, daß ich demohngeachtet oft lebhaft wünschte, mit ihr vereinigt zu seyn.

[195] »Halt ein!« – schrie ich; und taumelte zurück in meinen Sessel – »halt ein! das ist zu viel!«

O Gott! – rief er; laut schluchzend in meinen Armen – sieh wie diese fürchterliche Offenheit dein Herz zerrissen hat! –

Aber sey ruhig! noch ist alles ein Traum! – ich will mich bestrafen für diesen Traum! ich gehe nicht mit nach Berlin! ich verlasse dich! – jetzt gleich, jetzt augenblicklich will ich Anstalt dazu machen!

Er ging – und mir war als schiede die Hoffnung auf ewig von mir.

[196]
6. Kapitel
Sechstes Kapitel

Jetzt kämpften Dankbarkeit und Eifersucht einen schrecklichen Kampf in meinem Herzen. Ich erinnerte mich des ersten Blickes den Marie auf Heinrich warf – und die Eifersucht wollte die Oberhand gewinnen – aber dann traten wieder alle schönen erhabenen Aufopferungen des Freundes vor mir hin – und die Dankbarkeit siegte.

Nein! – rief ich – nein! er soll nicht reisen! mit ihm verläßt mich mein Schutzgeist! ohne ihn verzweifle ich an mir selbst! nie kann ein menschliches Wesen mir das werden, was er mir war. – Wohlan! es ist Zeit, daß auch ich einmal ihm und der Tugend ein Opfer bringe! –

[197] Schnell eilte ich auf sein Zimmer; aber man sagte mir, daß er im Garten sey. Hier suchte ich ihn lange vergebens; bis ich ihn endlich einen langen Gang tief mit sich selbst beschäftigt, hinauf gehen sah.

Leise folgte ich ihm nach. Er sprach mit sich selbst und ich hörte Mariens Namen und den meinigen. Aber was war das, was er mit so heißen Küssen und mit Thränen bedeckte? jetzt stand er am Ende des Ganges, ich dichte hinter ihm. – Gott! es war Mariens Bild! – ein lauter Ruf des Schreckens verrieth mich; er kehrte sich um und wir verstummten vor einander.

»Nimm es!« – sagte er endlich – »damit keine Erinnerung mir übrig bleibe!

»Woher? – stammelte ich, und die Eifersucht erwachte mit allen ihren Quaalen.

Von mir selbst – antwortete er – Ich mahlte es in Neapel aus der Phantasie, [198] als mich die Sinnlichkeit am schrecklichsten bestürmte. Es hat mich gerettet. –

»Verräther!« – schrie ich wüthend und riß ihm das Bildniß aus der Hand – »warum nicht auch mich? ach Schlange, die ich in meinem Busen nährte, jetzt kenne ich dich! und wohl mir, daß ich dich kenne, ehe du das Herz noch ganz mir zernagst! –

Geh! verlaß mich, ich werde keine Thräne um dich weinen! O der unerhörten Treulosigkeit! er hatte das Mittel, mich zu retten, und er gebrauchte es nicht! – Nur einen einzigen Blick auf diese himmlischen Züge, und ich wäre nie bis zum Thiere hinabgesunken! Aber ich sollte sinken! ich sollte, damit er allein! – o ich darf es nicht ausdenken! ich darf nicht! –

»Unglücklicher!« – rief er – als ich dies Bild mahlte; warst du schon ohne [199] Rettung verloren. Ich gehe! mögest du dir selbst vergeben, so wie ich dir vergebe. Noch war ich zweifelhaft, ob ich dich verlassen dürfte; aber jetzt bin ich es nicht mehr. Ich habe nur gelobt, mich nicht von dir zu trennen, bevor du es selbst verlangtest. Du hast es verlangt – ich bin meines Wortes entbunden.«

Leb wohl! genieße ein Glück, worauf ich um deinetwillen Verzicht gethan hatte – was ich dir mit der Ruhe meines Lebens erkauft haben würde.

Leb wohl und vergiß mich, wenn du kannst.

[200]
7. Kapitel
Siebentes Kapitel

»Vergiß mich, wenn du kannst – der Stolze!« – rief ich – »er weiß nur zu gut was er mir war! – aber bey Gott er wird sehen, daß ich ihn entbehren kann! – Noch ist nicht alles verloren! noch bin ich auch ein Mann! Fort, fort! hier ist doch alles todt! – ohneihn – wollt ich sagen – ohne Marie« – setzte ich schnell hinzu. –

Ich will hin zu ihr! ich will ihr alles bekennen! sie wird mich nicht verstoßen! sie wird mir den Muth zum Leben wieder geben! Ach wie war ihr ganzes Wesen so weiblich! nur bey ihr werde ich wahre Duldung finden.

[201] O ich Thor! daß ich sie bey einem Manne, bey einem eben so harten und unbiegsamen Wesen als ich selbst suchen konnte! –

Ohne Gewaltthätigkeit – sagt er – war ich nicht zu retten? – ach sie würde mich gerettet haben durch die Gewalt der Liebe! durch eine andere Liebe als die Seinige, erhaben über Vorwürfe und Beleidigungen.

Aber sein Stolz war gekränkt; weil ich mich einigemahl vergeblich bitten ließ, weil ich hart gegen ihn war, da er mich zurückhalten wollte. – Nein! nur in einem weiblichen Herzen wohnt die wahre Liebe! – der Mann liebt nur sich selbst.«

Jetzt verließ ich den Garten, um Befehle zu meiner Abreise zu geben. Ich fürchtete Heinrich zu treffen und doch überfiel mich eine unaussprechliche Traurigkeit; als ich die Bedienten mit seinen Sachen [202] beschäftigt sah, und von ihnen hörte: daß er selbst schon fort sey.

Ich eilte auf sein Zimmer und ward mir erst hier bewußt: daß ich noch an der Aussage der Bedienten gezweifelt hatte.

»Der Grausame!« – rief ich – »so konnte er mich wirklich verlassen? – er hat mich niemahls geliebt! wie wäre es sonst möglich!« –

»Wohlan! keine Schwäche mehr! in Marien finde ich alles wieder.

[203]
8. Kapitel
Achtes Kapitel

Jetzt dünkte mich Alles den Schneckengang zu gehen. Meine Leute liefen sich aus den Athem, und doch hatte ich sie nie so unerträglich langsam gefunden. Endlich waren sie zur Abreise bereit, und mein Wagen flog auf den Weg nach Berlin.

Welche Tage! welche endlosen Nächte! ehe wir die geliebte Stadt erreichten. Wir waren noch zehn Meilen davon, und schon wollte mir die Brust vor Sehnsucht und Ungeduld zerspringen. Ich bat, ich flehte, ich versprach, die Pferde stürzten, und wir waren noch immer nicht da. –

[204] Endlich erblickten wir die Thurmspitzen, und jetzt ward mir der Wagen zu enge. Ich eilte im Fluge vorauf, und in wenig Minuten stand ich vor Sophien, stumm vor Schmerz und Entzücken.

Holdselig lächelnd, reichte sie mir die Hand. Ich sah es: sie hatte mir vergeben und die Ruhe war in das schuldlose Herz zurückgekehrt. Ach ohne mich, wäre sie nie daraus gewichen! –

Sie kam meinen Fragen nach Marien zuvor. Man sprach von einer Heyrath welche die Mutter begünstigte; aber Marie hatte sich standhaft geweigert.

Das unbändige Klopfen meines Herzens nahm zu, und ohne weiter Rücksicht auf Sophie zu nehmen, drang ich mit Ungestüm darauf Marien vorgestellt zu werden.

Sophie machte mehrere Schwierigkeiten. Ich überwand sie alle, und am folgenden [205] Tage – doch wozu eine Beschreibung, welche die Wirklichkeit nimmermehr erreichen kann! ich sah sie wieder, und fühlte: daß man nur einmal liebt.

[206]
9. Kapitel
Neuntes Kapitel

Ihre Schönheit hatte sich bis zum Idealischen, und meine Liebe bis zur Anbetung erhoben. Auch bemerkte ich: daß sie denselben Eindruck auf Andre machte. Die lauteste Gesellschaft verstummte bey ihrem Eintritt, und die sinnlichsten Männer nahten sich ihr mit schüchterner Ehrfurcht.

Kaum wagte ich den Gedanken: daß sie die Meinige werden könnte – jede Berührung schien mir Entheiligung – der Seligkeit einer Umarmung wäre ich jetzt noch erlegen.

Aber wie? Wenn ich sie verlöhre! – bey dieser Vorstellung verschwand jede Bedenklichkeit. [207] Ich flog hin zu ihr, ich umfaßte ihre Knie, ich stammelte unzusammenhängende Worte, ich benezte ihre Hände mit Thränen der Angst, der Reue und des Entzückens. –

Sie verstand mich – ich ahnte es, und nun erst wagte ich es sie anzublicken. Doch aufgestanden wäre ich nicht; hätte sie mich nicht zu sich erhoben.

Jetzt lag ich sprachlos in ihren Armen – ihr Mund näherte sich dem meinigen, und bald wußte ich: daß ich das höchste Leben gelebt hatte.

[208]
10. Kapitel
Zehntes Kapitel

Mein Vermögen und meine Familie dienten mir statt aller übrigen Empfehlung. Die Mutter willigte ein, und ich versank in einen Taumel von namenlosen Entzücken.

Tausend Mal mußte Marie mir wiederholen: daß sie mich liebe, daß sie die Meinige werden wolle, daß das Alles kein Traum sey – ach ich zweifelte dennoch daran. Der Tag wo wir verbunden werden sollten, erschien, und mein Zustand gränzte an Wahnsinn.

Ich sah sie ankleiden, ich sah den Kranz auf ihre Locken befestigen, man ermahnte [209] mich zu eilen, man wiederholte mir alle Augenblicke: daß man auf mich warte, daß ich noch in meinen gewöhnlichen Kleidern sey. – Ich begriff nur halb was man von mir wollte, und wahrscheinlich würden die Gäste wieder davon gegangen seyn; wenn man nicht Marie vermocht hätte mich in mein Zimmer zu schicken.

[210]
11. Kapitel
Eilftes Kapitel

So hatte sich dann der kühnste meiner Träume in Wirklichkeit verwandelt! – vor den Augen aller Neider durfte ich sie mein nennen – aber dennoch zitterte ich vor ihnen. Ich führte den Engel schnell in mein väterliches Erbe, und ein Paradies blühte um mich auf. –

Sophie hatte uns begleitet, und wollte sich nicht mehr von uns trennen. Ihr liebendes Herz war zu groß für die Eifersucht, und ihre enthusiastische Anhänglichkeit für alles jugendliche und Schöne, verbunden mit ihrer Kenntniß der Mahlerey, machte, daß sie Mariens tadellose Gestalt beynahe noch mehr als ich zu schätzen wußte.

[211] Täglich zeichnete sie das reizende Weib in andern Stellungen, und alles Feuer der Jugend und der hohen Begeisterung strahlte von ihrem Gesichte, wenn sie der ätherischen Gestalt mit ihrem Pinsel gegenüber saß.

Sie behauptete: nie etwas Vollkommneres gesehen zu haben, und forderte mich immer von neuem auf, Marien mit den griechischen Urbildern der Schönheit zu vergleichen.

»Ich muß Sie noch Zeichnen lehren!« – rief sie – »damit Sie wissen: was Sie an ihr haben.«

[212]
12. Kapitel
Zwölftes Kapitel

Ach, mein Glück war keines Zuwachses, aber wohl einer Abnahme fähig! –

Marie schien nicht ruhig – und, o Gott! endlich mußte ich es mir gestehen – Marie schien nicht glücklich. – Sie leugnete das; aber es war nur gar zu sichtbar. Sophie selbst bemerkte es, und forschte mit mir vergebens nach der Ursache.

Sie suchte die einsamsten Spaziergänge – und wenn ich sie dann überraschte; so waren ihre Augen von Weinen entzündet, und aus ihren Zügen sprach die trostloseste Schwermuth.

Meine Bauern verehrten sie wie eine wohlthätige Gottheit, und es war zum Gesetz [213] bey ihr geworden jeden Abend einen Gang durch das Dorf zu machen, um den Bedürfnissen dieser guten Leute augenblicklich abzuhelfen.

Vormahls kehrte sie mit himmlischer Heiterkeit von diesen Spaziergängen zurück – jetzt ward ihre Schwermuth sichtbar dadurch vermehrt.

O Gott! was sollt' ich glauben? – ich ahnete mein Unglück, und dennoch suchte ich mich immer zu täuschen. Aber mein böser Geist verführte mich endlich ihr eines Abends unbemerkt zu folgen.

Sie nahm wie gewöhnlich den Weg zum Dorfe, und nachdem sie sich kurze Zeit bey einem Greise, der ihr laut segnend mit den Augen folgte, verweilt hatte, sah ich sie in ein Hüttchen treten, wo ein junges Weib sie an der Thüre empfing.

Sie gingen in das Stübchen, dessen niedrige Fenster mir nichts von dem was [214] darinn vorging verbargen. Schon brannte das dunkle Lämpchen auf dem altvätrischen Tische und ein Kind von kaum zwey Jahren, stützte das Engelköpfchen auf den Rand desselben, und sah unverwand in die Flammen.

Marie trat leise ihm gegenüber, und winkte der Mutter sich still zu verhalten. In der That, der Anblick hatte etwas unbeschreiblich Anziehendes. Alle Ahnungen des verwickelten Erdenlebens, und seiner räthselhaften Bestimmung, schienen durch die Flammen in der Seele des Kindes geweckt zu werden, und ich selbst vergaß, über den holdseligen Knaben was mich hier her geführt hatte.

Aber ein Laut der innigsten Wehmuth aus Mariens Munde erinnerte mich daran. Mit einer Heftigkeit, die ich niemahls an ihr bemerkt hatte, riß sie das Kind an ihr [215] Herz, und bedeckte es mit Thränen und mit zahllosen Küssen.

»Ach wenn Sie doch auch so Eins hätten« – sagte das junge Weib; und winkte dem Knaben, der sich los machen wollte, zu bleiben.

»Nimmermehr! nimmermehr!« – rief Marie laut weinend. Der Knabe floh in die Arme seiner Mutter, und ich in den nahen Wald; als wollte ich der rächenden Natur entfliehen. –

[216]
Von Heinrichs Hand

So weit schrieb mein unglücklicher Freund; als eine gefährliche Krankheit ihm auf lange Zeit jede Geistesanstrengung unmöglich machte.

Zwar fanden wir noch manche abgerissene Aufsätze von seiner Hand; welche uns überzeugten: daß er ein sechstes Buch den vorhergehenden fünfen habe hinzufügen wollen. Aber theils waren sie so unleserlich geschrieben, daß es unmöglich schien, einen vollständigen Sinn heraus zu bringen; theils verrieth das Wenige was wir entziffern konnten, eine so ungerechte Strenge gegen sich selbst: daß wir uns an seiner[217] Asche versündigen würden, wenn wir es mittheilen wollten.

Aber wenn er seine Verirrungen schilderte; so fordern uns Dankbarkeit und Gerechtigkeit auf: seine Rückkehr zur Tugend, und seinen Edelmuth nicht zu verschweigen.

Wo die Wahrheit so schön, und so rührend ist, da kann man des Schmuckes entbehren. – Dieser Gedanke giebt mir Muth den Faden seiner Geschichte wieder aufzunehmen.


Mariens Geheimniß war verrathen – und mein unglücklicher Freund trug die Hölle in seinen Busen. – Er hatte in Stunden der innigsten Vertraulichkeit meiner Neigung zu ihr erwähnt, und wenn Marie jetzt bey meinem Namen erröthete; [218] so gesellten sich alle Qualen der Eifersucht zu den Martern der Selbstverachtung, und der trostlosen Verzweiflung. –

Er ward krank, glaubte sein Ende nahe, und konnte – was auch sein Herz dabey leiden mogte – die Begierde nicht unterdrücken, mich noch einmal zu umarmen.

Ich sah Marie wieder – aber ich hatte mit ihm an einer Brust gelegen, – ich hatte so Manches für ihn, und mit ihm gelitten – ich konnte jetzt nur Sinn für seinen Verlust haben.

Doch er sollte für dieses Mal uns noch erhalten werden. Der Arzt rieth zu einer Veränderung des Aufenthalts, wir wählten Berlin, und Marie begleitete uns. Ach wer konnte ahnen was seiner dort wartete! –

Schon glaubten wir ihn völlig wieder hergestellt. Mariens unnachahmliche Sorgfalt, und ihr seelenerschütterndes Leiden bey seiner Gefahr, schien alle Spuren der Eifersucht [219] aus seinem Herzen vertilgt zu haben. Zwey Mal wollte ich mich von ihm trennen, aber er beschwor mich, ihn nicht mehr zu verlassen.

So durch die reinste und zärtlichste Freundschaft vereinigt; sahen wir einer heitern Zukunft entgegen. Marie lebte nur in ihrem Gustav – hatte Alles vergessen, was ihr vormahls noch wünschenswürdig schien, und meine Empfindung gegen sie waren mit einer so tiefen Achtung verbunden: daß wir alle unsre Ruhe für immer gesichert glaubten.

Aber mein unglücklicher Freund konnte seinem Schicksale nicht entgehen. Ein Fremder, der ihm empfohlen und mit seinem Gemüthszustande unbekannt war, verleitete ihn, nachdem sie von mehrern Merkwürdigkeiten der Stadt zurückkamen, die Charite zu besuchen.

[220] Hier fand er Röschen, das bejammernswürdige Mädchen, deren Unschuld er vormahls geraubt hatte, in dem qualvollsten und schauderhaftesten Zustande.

Sie war völlig unkenntlich, aber ein Schrey des Entsetzens verrieth sie. – Man brachte meinen unglücklichen Freund, ohne Bewußtseyn, in Mariens Zimmer, und mehrere Tage vergingen, ehe wir hoffen konnten, daß er es jemahls wieder erhalten würde.

Endlich erkannte er mich, und – – – doch es ist mir unmöglich die Leiden dieser schönen, gefallenen Menschenseele zu schildern. – Ach wir litten selbst zu viel – wir verloren die Fähigkeit zu beobachten.

Aber mit einem Male schien eine neue Lebenskraft ihn zu erfüllen. Er erhob sich ohne alle Hülfe von seinem Lager – sein Auge glänzte, seine Lippen bewegten sich, [221] ein großer Entschluß schien plötzlich in seiner Seele zu reifen.

Er befahl seinen Wagen bereit zu halten, und kündigte uns an: daß er bis zum Ende des Sommers auf eins seiner benachbarten Güter gehen würde.

Mariens wiederholte Bitten ihn zu begleiten, waren vergeblich. Er behauptete: nur durch eine gänzliche Abgeschiedenheit von Allem was er liebe, geheilt werden zu können. Der Arzt trat auf seine Seite, und so blieben wir das Herz voll schmerzhafter Ahnung zurück.

Schon war die bestimmte Zeit vorüber, und noch hatten wir ihn nicht gesehen. – Marie war entschlossen, auf die Gefahr seines Unwillens, ihm zu folgen, als der Arzt ihr entdeckte: daß Gustav daran arbeite, sich für immer von ihr trennen zu lassen. Er halte sich ihrer nicht würdig, [222] und die Sache würde vielleicht schon entschieden seyn, wenn er sie nicht übernommen, und Gustav auf diese wohlthätige Weise getäuscht hatte. Er hoffte, daß eine kurze Trennung hinreichen würde ihn vor allen ähnlichen Gedanken zu bewahren.

Jetzt flog Marie zu meinem unglücklichen Freunde; aber sie kam zu spät. – Ein Nervenfieber hatte ihn aufs Krankenlager geworfen, und wir sahen bald, daß alle Hoffnung dahin sey.

Mit einem Blick der höchsten Liebe legte er Mariens Hand in die meinige, und verschied in unsern Armen. –

Sechs Söhne und vier Töchter blühen um uns auf; aber ihr Lächeln hat die Erinnerung seiner Leiden nicht in unserm Herzen vertilgen können.

Die theuren, geliebten Kinder! sie haben sein Grab mit Rosen bepflanzt, und kennen [223] ihn unter den Namen des unglücklichen Freundes.

Mein ältester Sohn, ein Jüngling von siebzehn Jahren hat seine Geschichte gelesen, und oft, wenn seine jüngern Brüder den Hügel umschwärmen, sehe ich ihn gedankenvoll an Gustavs Grabe verweilen.

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TextGrid Repository (2012). Fischer, Caroline Auguste. Romane. Gustavs Verirrungen. Gustavs Verirrungen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-A7DA-F