Erstes Buch Buch der Kindheit I .
Das Gesicht des Doktors , das für gewöhnlich einen rötlich-kupferartigen Ton hatte , war blaurot geworden .
Der starke , breitschulterige Mann mit den aufgedunsenen Zügen und dem militärisch zugestutzten Schnurrbart fuhr einen Moment beinahe verlegen durch sein kurzgeschorenes Haupthaar .
Dann erhob er sich und packte den Knaben , der mit finsterem , trotzigem Blick vor ihm stand , an den Schultern .
" Du willst es nicht tun ? " fragte er und dämpfte seine Stimme zu jener Heiserkeit herab , die häufig gewaltsamen Zornesausbrüchen vorangeht .
Durch die Gestalt des Jungen , dessen schlanke , feine Glieder sich seltsam von dem wuchtigen , schweren Mann abhoben , ging einen flüchtigen Augenblick ein Zittern .
Aber auf dem edel geschnittenen Gesicht mit der kühnen , ein wenig gebogenen Nase , dem traurigen Mund und den dunklen , schier verwegenen Augen lag keine Furcht , weit eher der Ausdruck eines unbeugsamen und entschlossenen Widerstandes .
" Ich kann nicht und ich will nicht " , sagte er , während er die Hände zusammenpreßte , und seine Pupillen sich zu erweitern schienen .
Die breiten Hände des Doktors trafen den Knaben .
Der zuckte wie vor den Schuß gestelltes Edelwild zusammen ; kein Laut entrang sich ihm .
Nur ein schmerzensreicher Zug trat um den festgeschlossenen Mund .
" Du wirst abbitten , wirst deinem Ordinarius abbitten " , keuchte der Mann .
Der Junge schüttelte nur den Kopf .
" Wirst du ? "
" Ich kann nicht !
Ich habe nichts getan . "
Einen Augenblick sah sich der Doktor suchend im Zimmer um , bis sein Auge auf die Hundepeitsche fiel , die auf dem Schreibtisch lag .
Mit einem raschen Griff nahm er sie auf .
Er sah sein Opfer wutverzerrt an und fühlte , daß alle ruhige Überlegung mit ihm durchging .
Der Junge richtete den Kopf auf .
Seine Gesichtszüge waren Strafe gespannt und drückten beängstigende Entschlossenheit und unheilvolle Warnung aus .
Sie schienen zu sagen : Mißhandle mich nicht , ich spüre es kaum , aber du zerbrichst etwas in mir , daß nie mehr heilen wird .
Dieser Blick war wie ein Stachel , der sich dem Manne einbohrte und ihm den Rest seiner Besinnung nahm .
" Wollen sehen , wer stärker ist , ich oder du ! " -
und weit ausholend ließ er die Peitsche über den Körper des Knaben sausen .
Der Junge bäumte sich auf ; aber plötzlich die Zähne fest aufeinander beißend , schien er gleichsam zu wachsen .
Er stand gerade aufgerichtet da und beugte sich unter keinem der Schläge .
Eine Sekunde hielt der Doktor inne .
Er empfand es auf einmal , daß diese Stunde einen Kampf zwischen ihm und dem Sohne brachte , dessen Folgen in ihr Leben schneiden mußten .
Alles kam darauf an , wer der Stärkere blieb , und von neuem wollte er sich auf ihn stürzen , als die Tür sich öffnete und mit einem verzweifelten , leisen Aufschrei eine zarte , junge Frau in Todesängsten den Knaben deckte .
Die Reitpeitsche traf ihr Gesicht und schuf eine blutunterlaufene Strieme .
Der Doktor prallte verdutzt einen Schritt zurück .
" Gehe hinaus " , sagte die Frau zu dem Jungen in einem Ton , durch den unterdrücktes Schluchzen klang .
Der Knabe zauderte , dann beugte er sich vor den flehenden Augen der Mutter .
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte , war die Erstarrung des Doktors vorüber .
" Bist du toll geworden ? " brachte er mühsam hervor .
" Willst du mir die Brut vollends verpfuschen ? "
Er wollte sie beiseite schieben und dem Flüchtling nachstürzen .
" Nicht jetzt , um Gottes Willen nicht jetzt " , sagte sie und hob ein wenig die weißen , gefalteten Hände empor .
Er blickte das schlanke Persönchen mitleidig und ein wenig furchtsam von der Seite an .
Sie sah so zerbrechlich aus , und ein so weher Leidenszug lag auf ihrem Gesicht , aus dem zwei graue Augen sehnsüchtig , weit geöffnet und unendlich bange auf ihm ruhten .
Als er sie vor vielen Jahren kennengelernt , hatte er ihr gesagt , sie hätte den Heilandsblick , der ihm Angst und Demut einflößte .
Mit ihren Augen würde sie ihn lenken , reinbaden und von allen Schlacken läutern .
Ungläubig hatte sie ihn mit einem schmerzensreichen Lächeln angesehen , das im Laufe der Jahre immer mehr etwas Weltflüchtiges , Irres und Blutendes bekommen hatte .
Ein Freund des Hauses hatte einmal gesagt :
Die schreit aus tausend Wunden , wenn sie lächelt .
Als der Doktor sie jetzt mit einer gewaltsamen Bewegung zur Seite drängen wollte , da trat dies Lächeln auf ihre Züge und bezwang ihn , da es ihm Furcht und Grauen einflößte .
Er ließ sich schwer auf seinen Stuhl nieder , der unter dem Gewicht des Mannes stöhnte , und ohne sie anzublicken , sagte er :
" Das sind die Folgen deiner Erziehung .
Aufsässig und trotzig ist der Bursche ; weder in der Schule noch im Hause zu zügeln .
Vom Gymnasium will man ihn weisen , weil er den Geist der Zuchtlosigkeit auch auf die anderen überträgt , weil sein Beispiel gefährlich wirkt ; und wenn ich nicht mit den Herren bekannt wäre , wenn man nicht auf mich und meine Stellung Rücksicht nähme , so hätten wir ihn ganz im Hause , und der Tagedieb wäre fertig . "
Sie hatte die Arme herabsinken lassen , und an die Stelle gespannter Furcht war Müdigkeit getreten .
Kaum daß sie ihm zuhörte .
" Leistet er nicht in aller Form Abbitte , so kann er sehen , wo er bleibt " , fuhr der Doktor in dem gleichen Tone fort .
" Vor mir soll er sich nicht blicken lassen , oder ich schlage ihm die Knochen im Leibe entzwei .
Ich - "
Seine Stirn hatte sich gerötet , und er schien Willens , von neuem seinen Zorn zu entfachen .
Er war ärgerlich über sich selbst .
Er konnte es sich nicht verzeihen , daß er in solchen Momenten klein vor ihr wurde und sich lenken ließ .
Nachträglich wurmte es ihn , und mit einer raschen Kopfbewegung drehte er sich nach ihr um .
Aber der Platz war leer .
Er machte zuerst ein verblüfftes Gesicht , dann lachte er derb auf :
" Weibsbild - verflixtes , heiliges Weibsbild ! "
Schwerfällig erhob er sich und riegelte die Tür zu .
Dann warf er sich auf das dunkelfarbige , lederne Sofa und zündete sich eine Zigarre an .
Er blies den Rauch in großen blauen Wolken vor sich hin , die in die Höhe stiegen und den Operationstisch , den Instrumentenschrank und den großen , schwarzen Schreibtisch , auf dem sich geradlinig bis zur Decke das Büchergestell erhob , einhüllten .
Er wurde müde , zog die Decke über sich und noch einen halben Fluch auf den Lippen schlief er ein .
II. Nirgends im Hause hatte sie ihren verprügelten Leidensjungen gefunden .
Auch die Dienstboten wußten ihr keine Auskunft .
Den Garten , der in voller Sommerpracht stand , hatte sie schon flüchtig durcheilt .
Nun ging sie in bedrückter Sorge noch einmal zurück .
Sie ließ in ihrer Erregung das Gittertor offen und schritt an all der blühenden Herrlichkeit achtlos vorüber .
Dieser Garten , den sie eigentlich erst geschaffen hatte , war eine Sehenswürdigkeit der Stadt , auf die der Fremde aufmerksam gemacht wurde .
Hier standen düstere Pappeln und Ebereschen .
Dort Buchen dicht neben Erlen und nicht weit davon Birken mit ihren weißen Stämmen und feinen Zweigen , die wie weiches , seidenes Haar im Winde sich bewegten .
Dann kamen große Gebüsche , wo Rot- und Weißdorn wild verschlungen zusammenwuchsen und ein paar Schritte weiter ein kleines Stückchen Wiese , wo Schafgarbe , Huflattich , roter Sauerampfer , Hahnenfuß , Klee und Mohn , Ranunkeln und Anemonen bunt und lustig durcheinander wucherten .
Etwas entfernt davon , getrennt durch einen kleinen Kiesweg , sah man ein Stückchen Ziergarten mit farbenschillernder Nelkenpracht und starkem Rosenduft .
Schwertlilien und Levkojen , Tausendschönchen und Goldlack , Reseda und zarte sammetweiche Stiefmütterchen gruppierten sich um hochragende , schwermütige Zypressen .
Frau Tamara bemerkte nichts von alledem .
Ihr Blick wurde immer unruhiger .
Nun stand sie vor einem kleinen , dunklen Wasser , das von dichten Weiden eingeschlossen war , einen Augenblick still .
Die rätselhaften Bäume rauschten im Winde und spiegelten sich gespenstig in dem schwarzen Grunde .
Ihr klopften die Pulse .
Sie legte die weiße Hand , die groß und schmal war , an das pochende Herz und sah in ihrem furchtsamen Lächeln um sich .
Dann ging sie in zager Hoffnung noch ein Stückchen weiter , vorbei an der hundertjährigen Linde , wo ganz für sich ein stiller , einsamer Flecken grünen Rasenteppichs vor ihr lag .
Nun atmete sie tief auf .
Da lag ihr Junge mit geschlossenen Lidern , beinahe bewegungslos , wie ein zur Strecke gebrachter Edelhirsch , und fing mit seinen trotz des jugendlichen Alters ehernen Zügen die heißen Strahlen der Mittagssonne auf .
Und dicht neben ihm kniete ein zartes , kleines Mädchen mit schwarzen Locken , die bis zu den Schultern reichten und dunklen , braunen Augen , die in leidenschaftlicher Bewegtheit auf den Knaben gerichtet waren .
Aufmerksam betrachtete sie die beiden Kinder .
Auf dem Scheitel des Mädchens tanzten verwegene Lichtstrahlen , und die schwarzen Locken glitzerten und funkelten im Sonnengolde .
Das Kind rührte sich nicht .
Es blickte unverwandt auf den Knaben , der die Augen so fest geschlossen hatte und mit den Händen so trotzig die Ohren zuhielt , als wollte er allen Einflüssen der Außenwelt entfliehen .
Das kleine Mädchen drehte sich um , und wie es , gleichsam aus der Erde gewachsen , Frau Tamara vor sich sah , da zuckte es zusammen , aber es gab keinen Laut von sich .
Es erhob sich vorsichtig , und das Köpfchen ein wenig zur Seite geneigt , schritt es auf Frau Tamara zu .
" Tante Tamara ! " ...
Ihr dünnes Stimmchen zitterte wie vor verhaltenem Weinen .
Sie kam nicht weiter .
Die junge Frau beugte sich zu ihr herab und küßte sie auf die weiße , klare Stirn , die dem zarten Kindergesicht etwas Frühreifes und Ernstes gab .
" Gehe Bettina , pflück Blumen .
Ich will mit Thomas sprechen . "
Das Kind nickte , es fragte nichts weiter .
Mit seinem feinen Instinkt begriff es , und leise schwebte es davon .
Obwohl das kurze Gespräch nur geflüstert worden war , hatte es den Knaben doch aus seinen bleiernen Träumen aufgestört , und als er die Mutter jetzt vor sich sah , vermochte er sich nicht zu beherrschen .
Er blickte sie so stumm , so martervoll und so zerrissen an , er zeigte ihr so unverhüllt seine Leiden , daß die Frau in sich hineinstöhnte .
Sie kniete vor ihm nieder , ganz wie vorhin das kleine Mädchen , und nahm seine Hand .
Da bezwang sich der Junge .
Er wollte der Mutter zulächeln , aber die schrie auf .
Sie sah plötzlich ihr blutendes Lächeln auf seinen Zügen , und alles zog sich in ihr schmerzhaft zusammen .
" Junge , Junge , sieh mich nicht so an " , brachte sie jammervoll hervor .
Da schlang er seine Arme um sie und küßte sie demütig , zart und behutsam .
Und nun saßen sie eine Zeitlang still beieinander , empfanden jeder des anderen Nähe und sprachen nicht .
Aber auf einmal unterbrach Thomas die Stille .
" Tamara , ich soll abbitten , weil der Lehrer mir Unrecht getan hat .
Er hat mich bestraft für eine Sache , mit der ich nichts zu tun hatte .
Dagegen wehrte ich mich .
Ich wehrte mich dagegen " , wiederholte er , und eine Blutwelle des Zornes ging in der Erinnerung des ihm zugefügten Unrechts über sein Gesicht .
" Ich bin doch kein Sklave , Tamara " , fügte er hinzu und richtete sich aus seiner liegenden Stellung auf .
Sie schmiegte sich an ihn , als wäre der Junge , der vierzehn Jahre sein mochte , ihr Beschützer .
Man hätte sie für Geschwister halten mögen ; denn die zarte Frau , die im zweiunddreißigsten Jahre stand , sah um vieles jünger aus .
" Nein , du bist kein Sklave " , entgegnete sie , und trotz der heißen Sonnenwärme fröstelte es sie bei diesen Worten .
Das kleine Mädchen kam jetzt auf sie zugeeilt .
Es trug ein enganliegendes , schwarzes Kleid , das sich von dem weißen Gewande der jungen Frau düster abhob .
Die bewegten Kinderaugen leuchteten .
In der Hand hielt sie drei Laubkränze , mit denen sie wortlos Tante Tamara , Thomas und sich schmückte .
" Thomas , nun bist du ein König und hast eine Krone . "
" Und du bist die Königin " , setzte die Tante hinzu .
Das Kind schüttelte den Kopf .
" Die Königin bist du .
Ich bin die Prinzessin Bettina aus Indien . "
Das sagte sie fest und bestimmt wie ein unumstößliches Bekenntnis .
" Wo liegt denn Indien ? " fragte Frau Tamara .
Ein paar flüchtige Sekunden zögerte das Kind , ehe es entgegnete :
" Indien liegt im Monde . "
Da lachte Thomas hell auf und sprang in die Höhe .
III.
Aus der kleinen Stadt , in der sie lebte , war Frau Tamara niemals herausgekommen .
Die Mutter hatte sie früh verloren , und unter der Obhut eines verschlossenen Vaters , der , wie die Leute sagten , auf seine alten Tage immer sonderlicher wurde , war sie und die einzige Schwester aufgewachsen .
Sie war die bei weitem jüngere .
Die beiden Mädchen , die keinen Verkehr hatten , erwärmten sich gegenseitig .
Sie hatten beide etwas Marinhaftes , Weltabgekehrtes , Innerliches .
Die ältere spürte wohl etwas stärker einen Drang nach dem Gebrause einer Welt , die sie nur vom Hörensagen kannte .
Aber das kam nur selten und schüchtern zum Ausdruck .
Ihr Leben floß eintönig dahin .
Im Hause schalteten ihre weißen Hände , und wenn das Haus besorgt war , gingen sie in ihren weißen Kleidern Arm in Arm verschlungen durch den Garten .
Mochten die Syringen blühen , mochte es Rosenzeit sein , mochte die uralte Linde ihren schweren Duft ausströmen , oder weißer Schnee ein weiches Tuch über den Rasen decken .
Sie flüsterten sich leise , süße Dinge zu und schmiegten sich enger aneinander .
Sie sprachen vom Vater , der im weiten Umkreise trotz seines wortkargen Wesens der berühmteste Arzt war , oder sie erzählten sich von der seligen Mutter , die so frühzeitig nach der schwarzen Erde sich gesehnt hatte und ihnen beiden geglichen haben mochte , oder sie lachten vor stillem Glück in sich hinein und taten sich Blumen ins Haar .
Sie lösten die dichten Zöpfe und blickten verstohlen , verträumt , versonnen in das dunkle , kleine Wasser und dünkten sich wohl Nixen , Nymphen , Najaden und Sylphiden .
Dann brachen sie in ein rätselhaftes , silbernes Lachen aus , sahen sich beide großäugig verschreckt an und fürchteten sich fast selbander .
Sie kamen sich ins Leben verirrt vor .
Sie hatten Schmetterlingsflügel , die niemand anrühren durfte , und ohne daß die anderen es gewahr wurden , schwebten sie ihrem Sinnen nach über der Erde .
Sie waren mondscheinzart und leuchteten wie geheimnisvolle Sterne , die vor dem grellen Tageslicht verblassen .
Es kam auch vor , daß sich beide unversehens ganz plötzlich anblickten , und daß beider Augen von Tränen umflort waren .
Dann fühlte jedes einen nagenden Schmerz , der tief in ihm war , für den es keine Erklärung gab .
In solchen Augenblicken empfanden sie ihre Einsamkeit und spürten , daß sie entwurzelt dalagen , wie arme Pflänzchen , die man schonungslos aus dem Erdreich gerissen hatte und von den Sonnenstrahlen verdorren , oder von Fühllosen zertreten ließ .
Sie sahen sich wohl in ihrem Jammer , der zeit- und raumlos schien , an , aber niemals sprachen sie darüber .
Wenn die Nacht herniederstieg und ihre dunklen , riesenhaften Fittiche ausspannte und aus allen Ecken und Enden des stillen Hauses die Gespenster hervorlugten , wenn die Nixen und Najaden aus dem Garten herangeschlichen kamen in Begleitung von lauter seltsamen , fragwürdigen Gestalten , dann kroch die eine Schwester zur anderen ins Bett , dann hielten sie sich ihre Hände und lagen mit weit geöffneten , angstvollen Augen da und hörten auf ihr Atmen und auf das Pochen ihrer zarten Seelen .
Sah der Doktor mitunter seine beiden Mädel von der Seite prüfend und furchtsam an , so fuhr er wohl zaghaft mit fast scheuer Bewegung über ihr Haar , ohne auszudrücken , was er dachte .
Es kam aber eine Zeit , wo ein inneres Ängsten ihn ergriff .
Er sah seinen Körper absterben und bangte für seine stillen Wesen .
Damals gab es in der Stadt etwas Außergewöhnliches .
Ein junger polnischer Geiger machte die Provinz unsicher und gab auch hier sein mit großer Reklame angekündigtes Konzert .
Sarasate , sagten die einen ; Joachim , replizierten die anderen .
Man mußte hingehen .
Auch in das Doktorhaus waren Karten geschickt worden , und am Abend fand man sich wirklich in den hell erleuchteten Sälen der Ressource ein .
Die Mädchen blickten auf den Geiger wie auf eine Offenbarung .
Sie saßen Hand in Hand da , und viel später noch glaubten sie , daß ihre Hände in dieser Stunde zusammengewachsen seien .
Sie hörten Töne , die sie nicht nur bewegten und erregten , sondern auch in ihnen auslösten , was längst in ihnen nach Licht und Sonne sich sehnte .
Aber ihre Gesichter waren verstört , verirrt , verängstigt und verschüchtert .
Sie schämten sich und wünschten zu verbergen , was in ihnen arbeitete .
Sie schraken jedesmal zusammen , wenn der Geiger aufhörte und das Publikum in lautes Klatschen ausbrach .
Sie begriffen das Lärmen der Leute nicht .
Es kam ihnen auch rätselhaft vor und peinigend , daß jemand seine Seele gleichsam vor allen Neugierigen hinlegen konnte .
Sie wurden verwirrt von dem , was sie erlebten , und waren wie benommen , halb vor Entzücken und halb vor Schmerz .
Sie wußten , daß der Geiger noch in der Nacht abreisen würde .
Sie empfanden , daß er in ihr Leben Angst und Unruhe gebracht hatte , und wagten gar nicht das auszudenken , was nun kommen würde .
Sie mieden ihre Blicke und hatten dunkle Scheu eines vor dem anderen .
Sie hielten ihre Hände , aber es war ihnen doch , als wenn plötzlich eine Nebelwand sie trennte .
Und da trat etwas Unerwartetes ein .
Der Geiger hielt plötzlich im Spiel inne .
Ein kreidiger Ton färbte sein Gesicht .
Der Bogen glitt ihm zuerst aus der Hand , es war gerade noch Zeit , daß der Begleiter , der sich rasch erhob , ihn auffing .
Es schien nur natürlich , daß der Doktor aufstand und hinter das Podium trat .
Der Geiger mußte die Tournee abbrechen und wider Willen in der kleinen Stadt bleiben , die ihn am Krankenlager festhielt .
Er kam dann in das Doktorhaus , ein unsteter Geselle mit hochfliegenden Plänen , weltlicher Sehnsucht und phantastischem Künstlerherzen .
Eine wilde Genußsucht , ein gesteigertes Hochgefühl , dann wieder ein banges Zweifeln , zu dem sich eine sensitive Erregbarkeit gesellte , zerklüfteten ihn .
Aber in seinem ganzen Wesen lag doch eine pochende , jugendliche Kraft , ein verwegenes Siegergefühl und jene schwermütige Weichheit , die seiner Rasse eigentümlich ist .
Auch als er gesundet , blieb er .
Aus den Augen der Mädchen leuchtete ein Feuer , von dem er sich nicht trennen konnte .
Dabei zeigten ihm die Schwestern keinerlei Art von Entgegenkommen .
Doch wenn ein scheuer Blick , ein gedämpfter Ton ihn traf , so glaubte er einen Steg zu ihren Herzen zu finden .
Aber vielleicht war der Steg nur aus zartem Spinnengewebe .
Er wußte es lange nicht .
Er spielte ihnen oft stundenlang vor , und sie berührten zum Dank kaum seine Hand und mieden seine Blicke .
Es war ganz anders , als er es bisher kannte , und er verstand es nicht , warum sie mit ihrem Beifall so kargten .
Er begriff nicht , daß ihnen seine Kunst zu teuer war , daß sie sich scheuten , sie nackt zu entkleiden in leeren , dumpfen Worten .
Denn diese Art von Ehrfurcht war ihm fremd .
In dem Frauengarten , den er kannte , wuchsen so zarte Pflänzchen nicht .
Es kam ein junger , glitzernder Frühling übers Land und eine junge Sonne , die die Mutter Erde schämig küßte und liebkosend , weich und verstohlen die ersten Keime weckte .
In diesem Frühling huschten die Seelen der Schwestern wie Nachtfalter , die man nicht hört , voneinander fort .
Der Geiger freite noch im Frühling um die ältere .
Die wagte Tamara nicht anzusehen .
In der Brautzeit , die nicht lange währte , sprachen die Schwestern wenig .
In der Abschiedsstunde hörte Tamara ein paar herzzerreißende Worte ; dann küßten sich mit blassen , kalten Lippen das letztemal die Schwestern .
Und nun zog die große , tiefe , letzte Einsamkeit in das Doktorhaus .
Es war ein verzauberter Garten mit wunderlichen Hecken ; in dem saß und träumte wunschlos ein totes Mädchen , über dessen stille Blüte ein einziger Hagel hinweggegangen war .
In dieser Zeit des Dahindämmerns ohne Traum und Begehren suchte sie wohl manchmal der Vater im Garten auf und nahm schweigend ihre Hände , die er zärtlich streichelte .
Er sprach nie über die Dinge , die sie bewegten ; aber dennoch empfand sie deutlich , daß er in ihrer Seele zu lesen wußte , und sie blieb ihm Dank schuldig , weil er sie wie einen scheuen Vogel behandelte und durch kein lautes Wort ihren leisen Flügelschlag störte .
Aber bald sollte sie aus ihrer Totenruhe gewaltsam in das bewegende , unruhige Leben gedrängt werden , das sie nicht begriff , da es keinen Inhalt für sie hatte und ihr unmotiviert erschien .
Ein junger Arzt hatte sich in der kleinen Stadt niedergelassen .
Es hatte sich die Kunde verbreitet , daß der alte Herr , der eigentlich noch gar nicht alt war , sich seiner Praxis nicht mehr gewachsen fühlte .
Der Ankömmling machte seine Aufwartung und brachte so etwas wie eine frische Brise mit seiner robusten Lebenskraft in das gleichsam von tiefem Schlaf befallene Haus .
Er war ein Mensch , der aus kleinen Verhältnissen hervorgegangen war und das Leben nüchtern und praktisch ansah .
Seine Kultur war derb und ohne Schliff ; sein Hunger nach Geistigem nur mäßig .
Er hatte sich schlecht und recht als Student durchgehungert und lechzte nach sorgenfreien und materiellen Genüssen .
Er hatte das bonierte Selbstbewußtsein jener Menschen , die aus einer niederen Sphäre emporgestiegen sind und sich nun für die geistige Arbeit , die sie verrichtet zu haben glauben , schadlos halten wollen .
Er pochte auf sich und seine Korrektheit .
Er hatte etwas Gewalttätiges und Selbstherrliches .
Aber er war ein Staatsbürger comme il faut , der an den Überlieferungen starr festhielt und alles Bestehende als das Unumstößliche und Wahre , als das Gegebene und Reale auffaßte , das man zu achten hatte und nicht antasten durfte .
Er gehörte wie sein Vater , der ein kleiner Beamter gewesen war , zu den Korrekten im Lande , die sich reinlich zu scheiden hatten von den Schwarm- und Truggeistern , von den Fanatikern und Umstürzlern , mit einem Wort von jener Gruppe von Menschen , die er schlichtweg als Katilinarier bezeichnete .
Dabei steuerte er in allen Dingen mit klarem Blick auf das für ihn erreichbare Ziel hin .
Er hatte sich gesagt , daß er in der Großstadt mit seinen geringen gesellschaftlichen Beziehungen und seiner mittelmäßigen Begabung ein Hungerdasein führen würde , und deshalb hatte er ihr den Rücken gekehrt .
Bevor er noch das Doktorhaus betreten , hatte er kühl und sachlich mit der Möglichkeit gerechnet , in die Praxis seines älteren Kollegen , der noch dazu als ein wohlhabender Mann galt , hineinzuheiraten .
Als er dann Tamara sah , wurde aus dem Vorsatz ein fester Entschluß .
Das feine , überschlanke Wesen mit den schimmernden Augen rührte und bezwang ihn .
Er liebte sie wirklich in seiner Art , die gewiß nicht die ihrige war .
Er liebte sie mit dem geheimen Hintergedanken , daß seine knochige Struktur mit diesem gebrechlichen Geschöpf leicht fertig werden würde .
Ihre geistige Überlegenheit , die er wohl dunkel empfand , würde ihm zum mindesten durch seine grobe Kraft nicht drückend werden .
Denn allem Belastenden , allem , was ihn unsicher machen und aus dem Gleichgewicht bringen konnte , ging er vorsichtig aus dem Wege .
Er brauchte seine Gottähnlichkeit und Festigkeit .
Er trat fest und stark auf .
Unter seinen Füßen sollte es klirren und von seinen Tritten sollte es widerhallen .
Mehr der Instinkt als der Verstand leitete ihn in seinen Erwägungen bezüglich Tamaras .
Je öfter er in das Haus kam , desto begehrenswerter und holdseliger erschien sie ihm in ihrer Verschlossenheit , in ihrer milden Güte , in ihrer jungen Schönheit .
Allen Ernstes verliebte er sich in sie .
Er wurde so demütig , wie es ein Freier nur sein kann :
er wurde so zart , wie es ihm innerhalb seiner Natur nur möglich war .
In dieser Zeit kam das Beste , was in ihm war , zum Vorschein .
Er empfand ihre Reinheit als etwas Hohes , vor dem er sich beugte .
Er fühlte das Marinhafte , vor dem er den Blick senkte in Ehrfurcht und Aufwallung .
Eine Ahnung von seelischen Werten , die außerhalb seiner Kultur lagen , durchdrang ihn und erfüllte ihn zum erstenmal mit Bewunderung und ernstem Respekt .
Und eines Tages ging er entschlossen ins Doktorhaus , um es ihr zu sagen .
Er fand sie in dem verzauberten Garten , wo sie den Duft von süßen Syringen einsog und verloren um sich blickte , in den weißen Händen ein paar Lilien .
Als er so plötzlich und unvermutet vor ihr stand , fuhr sie wie aus einem schweren Traum empor ; dann aber faßte sie sich und hörte ihn mit einer Ruhe an , die ihn verwirrte und beinahe erniedrigte .
Sie ließ ihn sprechen und unterbrach ihn mit keinem Blick und keinem Wort , und als er sie endlich hilfesuchend ansah , entgegnete sie ihm , daß sie ihm so gut wie nichts zu geben habe ; denn fügte sie wehmütig hinzu , sie sei wunschlos .
Da versprach er ihr , daß er sie niemals quälen und zufrieden sein würde , wenn er sie nur sehen dürfte und sie bei sich wüßte .
Sie nickte ihm still und ernsthaft zu , und so holte er sich auch das Jawort von ihrem Vater , der erleichtert aufatmete , weil er nun auch sein zweites Kind versorgt glaubte .
Von der älteren kamen nur spärliche Nachrichten .
Sie sehnte sich nach dem Garten .
Sie klagte rührend , daß sie die Welt da draußen nicht verstünde .
Es klang aber aus ihren kargen Briefen , die sie an die Schwester schrieb , wie unterdrücktes Schluchzen , wie das unterwürfige Gebet einer wunden Seele , die sich still gebeugt hat .
IV. Frau Tamaras Ehe gestaltete sich so , wie sie es vorausgesagt hatte .
Sie war und blieb wunschlos , ohne daß sich der Doktor dadurch eigentlich bedrückt gefühlt hätte .
Er trat wie ein ehrenfester Bürger und sorgenfreier Mann auf , der den Kopf hoch trug , im Hause und bei den Patienten polterte , ein eifriges Mitglied der Gemeinde wurde , beim Kegeln und beim Skat pünktlich antrat , im übrigen an seinem Stammtisch wortreich politisierte , ohne es zu vergessen , in gewissen Zwischenräumen die Kirche aufzusuchen ; denn er liebte es , von seiner Gesinnung nach außen Zeugnis abzulegen .
Frau Tamara begleitete ihn niemals , und allmählich betrachtete er sie in seinem Inneren um ihrer Weltunfreudigkeit Willen als ein verschrobenes , krankhaftes Wesen , das die Pflichten einer braven Hausfrau arg verletzte und ihn um seine guten Rechte prellte .
Er suchte und wußte sich schadlos zu halten , und da sie seine Kreise nicht störte , ihn unbeobachtet die Rolle des schneidigen Kavaliers spielen ließ , in der er sich besonders wohl fühlte , so gab es eigentlich in ihrem Zusammenleben nach keiner Richtung hin Auseinandersetzungen .
Fühlte er auch noch manchmal ihre Überlegenheit , so betrachtete er sie doch andererseits halb mitleidig , halb geringschätzig als ein Wesen aus einer anderen Welt , das sich ohne Widerspruch beiseite schieben ließ .
Was in dem Inneren der Frau vorging , ahnte er nicht .
Sie blieb ihm genau so fremd und rätselhaft , wie sie ihn geräuschlos und auf ihre Art als etwas Fremdes , zu ihr nicht Gehöriges ausschied , das durch einen belanglosen Zufall mit ihr in Berührung gekommen war .
Kurz nach dem Tode des alten Herrn kam ihr Sohn zur Welt , den sie nach dem Vater Thomas nannte .
Von der Stunde hörte auch ihre eheliche Gemeinschaft auf .
Man war sich auf beiden Seiten klar , daß es nur ein Gemeinsames gab : das Kind .
Es sollte sich indessen bald herausstellen , daß der Junge eigentlich nur Frau Tamara gehörte , die nach seiner Geburt genau so mädchenhaft , sehnsüchtig und verträumt aussah wie zuvor .
Die Leute schüttelten über sie den Kopf und bedauerten den Herrn Doktor , der an eine so wunderliche Frau gekommen war .
Das Kind zog sich scheu vor dem Vater zurück .
Es mied seine Blicke und schrie auf unter seinen Liebkosungen .
Der Doktor empfand das als Trotz .
Der Junge wurde ihm schon in den ersten Lebensjahren gleichgültig .
Es wäre ihm komisch und erniedrigend vorgekommen , wenn er um des Kindes Liebe hätte werben sollen .
Man sah ihn eigentlich selten im Hause .
Man munkelte , daß er in einer Wirtschaft , die außerhalb der Stadt lag und einer Witwe gehörte , " etwas hätte " .
Die Leute drückten es so aus und lächelten dabei mit ihrem satten Lächeln , das sie für diskret hielten , weil es alles sagte .
Der Junge wuchs heran .
Ein widerspruchsvolles , seltsames Kind mit tiefliegenden Augen , deren verängstigtes Weinen nur die Mutter sah .
Die fand sich in ihm wieder und doch war er so ganz anders .
Er wurde schlank und zart wie ein feines Prinzenkind , obwohl sein Körper zäh , geschmeidig und stark war .
Er hatte die edlen Glieder der Mutter , aber in seinen Sehnen und Knochen war etwas vom Vater , mit dem er sonst äußerlich und innerlich nichts gemein hatte .
Die Mutter lenkte ihn mit einem Blick , mit einem sanften Wort , oder wenn alles in ihm sich aufrührte , so strich sie zärtlich mit ihrer Hand über sein Gesicht und seinen Scheitel , dann wurde er weich und folgsam .
Aber außer der Mutter hatte niemand Macht über ihn .
Er lehnte sich auf in Trotz und wilder , ungebeugter Kraft .
Es war das edle Blut , das sich nicht zähmen und nicht bändigen ließ .
" Der Junge wird wie die Mutter " , sagten die Leute mit unheimlichen Mienen , und dann sprach man noch vom Großvater , mit dem es eigentlich auch nicht recht geheuer gewesen war .
Der Junge und die Mutter hörten es nicht .
Sie suchten am liebsten die Einsamkeit des Gartens auf , dessen geheimnisvolle Reize , dessen tiefe Stille sie allein auskosteten .
Sie saßen unter der Blutbuche oder der blühenden Linde oder sie schritten zwischen Hecken und Sträuchern an Ginster und Goldlack vorbei und sahen den Schmetterlingen nach , die sich sonnten ; oder sie hörten auf das Jubilieren der Lerchen , das Schlagen der Nachtigallen , auf das Surren der Bienen .
Immer gab es ein Fest für ihre Augen oder ihre Ohren .
Durch ihre Stille ging der Feiertag .
Und wenn es Nacht wurde , so hörten sie , wie die Fledermäuse vorbeihuschten , deren feine Flügel nur sie sahen .
Oder der Mond goß sein weißes Licht über die Blumen , Gräser und Bäume , ganz anders wie über andere Gärten , und alles wurde feen- und zauberhaft in dieser heiligen Ruhe .
In wie unendlichen Farben schillerte dann der Garten , der wie ein unweltliches Geheimnis groß und majestätisch dalag .
Die Leute , die sie nicht kannten , hielten sie für Geschwister , und sie würden in ihrem Glauben noch bestärkt worden sein , wenn sie ihren Gesprächen hätten lauschen können .
Der Junge nannte sie : Tamara , niemals : Mutter , und der Name bekam in seinem Munde einen süßen Klang .
Sie war seine schöne Schwester , an der er schwärmerisch hing .
Sein Kindergemüt sah in ihr das mädchenhaft Holdselige , das Siechfürchtende , das Nichtwissende ; denn sie fürchtete sich wie er , und sie wußte nicht , wie er nicht wußte .
Nichts mütterlich Überlegenes , nichts mütterlich Verstehendes und Erziehendes verdunkelte ihr Verhältnis .
In dem gemeinsamen Denken und Empfinden lag das Band , das sie zusammenhielt ; und dieses Band wurde fester und ewiger , als sie es beide ahnen mochten , an einem Abend , den Thomas nie mehr vergessen sollte .
Damals zählte er elf Jahre , als ihn jene unruhigen Gedanken quälten , die plötzlich und unvermittelt jeden überfallen : die Gedanken vom Leben - und vom Sterben .
Er begriff es nicht , daß ein Augenblick kommen könnte , wo alles zu Ende wäre , wo man ihn hinaustrüge und in dunkle Erde scharrte .
An den Aufflug gen Himmel aus dieser furchtbar drohenden Tiefe glaubte er nicht .
Er wollte an andere Dinge denken , aber immer und immer wieder umklammerte und packte ihn diese eisige Vorstellung vom Sterben .
Er suchte es vor Tamara zu verbergen .
Er glaubte ihr sein Leid und seinen Schmerz ersparen zu können .
Er stöhnte in sich hinein ; und in der dunklen Nacht wurde alles um ihn lebendig .
Er hörte Töne und Tritte ; er sah Gestalten mit verzerrten Gesichtern und Leichenbittermienen , und immer wieder tauchten Kreuze und Grabsteine auf , er mochte vor ihnen fliehen , so weithin er wollte .
Warum mußte man sterben , und warum mußte man so sterben ?
Es graute ihm .
Schüttelfrost und Fieber stellten sich bei ihm ein , aber er bis sich die Lippen wund , um seinen Kummer verheimlichen zu können .
Er wollte diese schreckliche Finsternis , die ihn umgab , durchdringen .
Er faltete seine Kinderhände und betete demütig zu Gott , daß er ihm des Rätsels Lösung gebe .
Gott mußte auf ihn hören , Gott durfte nicht schweigen , wenn seine vergrämte Seele zu ihm schrie .
Er wand und krümmte sich vor Gott .
Er begriff nicht , wie die Menschen mit solchen Gedanken leben und lachen konnten .
Zuweilen sah er Tamara verstohlen von der Seite an und fragte sich heimlich , ob sie ihm nicht doch Trost in seinen Nöten gewähren könnte ; und als sie dann eines Abends an sein Bett trat , um nach harter Selbstüberwindung seinen Kopf zwischen ihre Hände zu nehmen und ihn vor Besorgnis bebend zu fragen :
" Thomas , was hast du denn ? " da gestand er ihr aufschluchzend seinen Gram .
Tamara hörte ihm eine Weile still zu .
Dann weinte sie mit ihm , ohne ihn mit Worten zu trösten ; aber ihr Weinen erlöste Thomas .
Die Mutter litt wie er ; es gab auf diese Rätsel keine Antwort .
Die Mutter belog ihn nicht ; sie weinte mit ihm ; das vergaß er ihr niemals .
Und wenn ihn auch in der Folgezeit seine düsteren Beklemmungen nicht losließen , so wußte er doch Rat , indem er Tamara aufsuchte und nicht von ihrer Seite wich .
Da trat ein Vorfall ein , der ihn im Zusammenhäng mit seinen inneren Erlebnissen von neuem rüttelte und schüttelte .
An einem Nachmittage wurde der Doktor zu einem Scheintoten gerufen und hieß Thomas mitgehen .
Der Junge kam ihm so zimperlich und verstört vor , daß es ihm an der Zeit schien , in die Art der Erziehung mit seiner starken Hand einzugreifen .
Thomas trug unter dem Arm eine kleine Elektrisiermaschine und schritt schweigend neben dem Vater .
Auf der Hausschwelle traten ihnen flehende Gestalten entgegen , die den Doktor bettelnd ansahen , als könnte er in die niedrige Stube das Heil bringen .
Der Doktor richtete den Apparat und hieß Thomas drehen , damit der Strom in Bewegung käme .
Dann elektrisierte er den Toten in der Herzgegend .
Thomas sah , während seine Hand sich mechanisch bewegte , mit starrer Miene auf das bleiche , wächserne Gesicht , in dem sich nichts mehr regte .
Er sah auf die entblößte Brust des Toten ; sah , wie der Vater sich über ihn beugte , um irgendeinen noch so schwachen Herzton zu vernehmen .
Und bei dem Vater stand mit verweinten Augen und aufgelösten Haaren eine noch junge Frau und neben ihr ein alter Mann , der mit verglastem Blick trübe und beinahe teilnahmslos zusah ; in den Winkel gekauert saßen ein Knabe und ein Mädchen , deren unterdrücktes Schluchzen Thomas hörte .
Dann erhob sich der Vater und sagte mit sicherer , kräftiger Stimme :
" Da ist nichts mehr zu machen ! "
Die Frau sah ihn betroffen an , als verstände sie die Worte nicht .
Aber der Vater kehrte sich nicht daran , tat den Apparat in den Mahagonikasten , hing wieder den Mantel um und verließ mit Thomas das Totenhaus .
Dem Jungen schlotterten auf dem Nachhausewege die Knie .
Den Kasten mußte er krampfhaft festhalten , damit er ihm nicht aus den Händen fiel .
So also sah der Tod aus , dachte Thomas , so starr , so bleiern , so blutlos .
Vor der unerschütterlichen Ruhe des Vaters angesichts dieses Schauspiels graute ihm .
Und doch empfand er zum erstenmal vor dem großen Manne eine Art von Ehrfurcht .
Der Vater war also mit allen diesen Dingen fertig und stand sicher und fest , ohne mit der Wimper zu zucken , dem Tode gegenüber .
Und von der Seite sah sich Thomas heimlich die robusten Knochen des Doktors an und das blühende Gesicht , das von Leben und Gesundheit strotzte .
Je mehr sie sich dem Hause näherten , desto freier atmete er auf ; und als er Tamara am Gartengitter stehen sah , da hielt es ihn nicht länger .
Mit einer raschen Bewegung drückte er die kleine Maschine dem Vater in die Hand und sprang ihm davon .
" Tamara " , sagte er und zog sie aufgeregt eine Strecke vorwärts , " jetzt weiß ich alles . "
Und flüsternd fügte er hinzu : " Ich habe den Tod gesehen . "
An dem Tage beschloß Thomas , Arzt zu werden , denn ein Doktor , so meinte er damals , habe Leben und Tod in den Händen .
Man brauchte ihn nur rechtzeitig zu rufen , damit er wie ein Helfer und Retter erschien. V .
Nach diesen großen Ereignissen trat in Thomas ' Kinderzeit für eine gute Weile Windstille ein .
Er hatte Zeit , mit seinen ersten Erlebnissen fertig zu werden .
Mit den Kameraden in der Schule sprach er darüber nicht .
Die waren aus einer anderen Welt und konnten ihn nicht begreifen .
Sie verstanden ihn ebensowenig wie die Lehrer , die nicht wußten , was sie mit dem grüblerischen , trotzigen und oft sogar verstockten Kinde anfangen sollten .
Es gab keinen unter seinen Erziehern , der eine Kinderseele vorsichtig und behutsam anzufassen vermochte .
Die Lehrer kümmerten sich daher so wenig wie möglich um ihn und ließen ihn unbeachtet , solange er sich ruhig verhielt , mit seiner Renitenz bei den Mitschülern keinen Schaden anrichtete und ihr Ansehen nicht untergrub .
Zuweilen waren sie über die Art seiner Fragen erstaunt , und wie er , ohne im mindesten ein Musterschüler zu sein , durch eine unerwartete Antwort sie verblüffte .
" Es steckt in ihm eine starke Kraft zum Guten oder zum Bösen " , sagte einmal ein Lehrer von ihm .
" Zu den Alltäglichen und Mittelmäßigen gehört er in keinem Fall . "
Thomas empfand die Schule wie einen Kerker .
Er wehrte sich gegen sklavischen Gehorsam ; er wehrte sich gegen die Lehrer , die unbedingte Demut verlangten .
Er warf den Kopf trotzig in die Höhe und sagte ihnen im stillen Fehde an .
In das Schulzimmer kam nach seiner Meinung kein Sonnenstrahl und kein Luftzug .
Die anderen Knaben erschienen ihm wie verkrüppelte Wesen .
Und die Lehrer mit ihren Schreckensgesichtern und all den grausamen Waffen , die sie für jedes Vergehen sofort bereit hatten , waren ihm finstere Kerkermeister , die er haßte .
Für ihn begann der Tag erst , wenn die grauen Mauern des Schulhauses hinter ihm lagen .
So wuchs er heran , einsam und ohne jeden Verkehr , ganz in dem innerlichen Zusammenhäng mit seiner jungen Mutter aufgehend , als eine neue Wendung in sein Leben trat .
Als er eines Tages aus der Schule heimkehrte , hörte er fremde Stimmen und sah , wie die Dienstboten flüsterten und auf den Fußspitzen einhergingen .
Und dann kam ihm Tamara so aufgeregt , wie er sie noch nie gesehen hatte , entgegen .
Und da erfuhr er denn in abgebrochenen , scheuen Sätzen , daß ganz plötzlich Tante Antoinette mit der kleinen Bettina angekommen sei , und daß ihr in dem kleinen Zimmer , wo sie ihre Jugend verlebt hatte , das Sterbelager gerichtet war .
Und als ihn Tamara ein paar Stunden später in das Zimmer führte , und die Antoinette , wie er sie später nannte -
denn den Begriff Tante hatte er sofort als lästig beiseite geschoben - ihm mit einem Todeslächeln die durchsichtige , welke Hand reichte , fing er bitterlich zu weinen an .
Aber in diesem Augenblick trat ein kleines Mädchen mit schwarzen Locken , das am Bettrande kauerte , auf ihn zu und sagte in leisem und gedämpftem Tone :
" Nicht weinen ; du störst sie ja . "
Da verstummte er und sah verwundert das kleine Geschöpf an , das wie ein Engelchen bei seiner Mutter die Totenwacht hielt , denn Antoinette trug bereits das Todesmal .
Er sah in ihrem Gesicht nur noch zwei unnatürlich weit geöffnete Augen , aus denen ein letztes , banges Feuer glimmte .
Die Antoinette war in die Heimat gekommen , weil sie draußen nicht sterben wollte .
An der Welt und dem Zusammenleben mit dem , der sie in die Ferne gelockt hatte , war sie langsam , tropfenweise verblutet .
Sie war gekommen , ohne sich anzumelden , und als sie die Schwester sah , da ging über ihr verfallenes Gesicht noch einmal ein schwacher Glücksschimmer .
Tamara wollte bei dem jammervollen Anblick jäh aufschreien , aber eine Stimme in ihr rief :
Sei still , gib keinen Laut von dir .
Um der Barmherzigkeit Willen , sei still .
Und so hörte sie allein den Schrei ihrer Seele , der sich ihr hatte entringen wollen .
Dann wurde die kleine Bettina hinausgeschickt , und die Schwestern blieben ein paar Stunden allein .
Ihre verschlossenen , einsamen Herzen brachen auf , während sie sich mit weher , halber Stimme vom Leben erzählten , an dem sie sich all die Jahre zerrieben hatten .
Und doch sagten sie nicht die Dinge , wie sie waren , und klagten nicht an , sondern die eine erriet aus Andeutungen , Blicken und Bewegungen das Schicksal der anderen .
Sie waren wie zwei junge , biegsame Stämmchen , deren Kronen der Sturm zerzaust hat .
Die Windsbraut hatte um sie gepfiffen und gezischt , und die Stämmchen hatten kaum hörbar geächzt und gestöhnt .
Der Glückstraum der Antoinette war nur kurz gewesen , und als sie erwachte , da grinsten und höhnten tausend schadenfrohe Kobolde ; und in die Einsamkeit ihrer Stunden drang dies heimliche , unterdrückte und doch so deutliche Gelächter .
Manches flüsterte sie Tamara nur ins Ohr , und ihr armes Todesgesicht rötete sich wohl noch einmal bei dieser Beichte .
Im fünften Jahre ihrer Ehe hatte sie Bettina das Leben gegeben , und in ihrem dunklen , grabverhängten Frühling , aus dem die Sonne sich hinweggeschlichen hatte , waren doch noch die Knospen des Mutterglücks aufgebrochen .
- Der Doktor brauchte die Schwägerin nicht lange zu beherbergen .
Der junge , sieche Leib sehnte sich der schwarzen Erde entgegen .
Sie hörte deutlich ihre Sterbeglocken , und keine Bitterkeit , nur tiefer , süßer Friede durchdrang sie .
Und als dann ihre Stunde kam , da hielt sie mit der einen Hand Bettina und mit der anderen Tamara , und ein leichterer Atem ging durch den Körper dieser , gleich der Schwester in die Welt Verirrten .
In der Todesstunde der Antoinette erkannte Tamara in heller Deutlichkeit ihr Schicksal .
Sie waren beide für die schwere Scholle zu leicht , zu duftend gewesen .
Ihre Welt hätte auf hohen Bergen liegen müssen , wo die Luft so dünn und klar war , daß gewöhnliche Menschenkinder sie nicht mehr ertragen konnten .
Dort wären sie zu ihrem Leben aufgeblüht .
Die kleine Bettina bekam ein schwarzes Kleid , aber Tamara hielt an ihrem hellen Gewande fest .
Sie wollte Thomas den Anblick der dunklen , düsteren Farbe ersparen .
Denn um ihren Jungen bangte und sorgte sie jetzt mehr denn je .
Thomas war von seinem stillen , zähen Widerstand gegen die Lehrer und den Vater zu offenem Kampfe übergegangen .
Es war bei ihm ein Rechtsbewußtsein gewaltsam zum Durchbruch gekommen , das an jeder Unbill Feuer fing wie der Stahl am Stein .
Mit Bettina vertrug er sich im ganzen nicht übel .
Sie hing an ihm mit schwärmerischer , demütiger , unterwürfiger Liebe .
Sie schlich ihm nach wie ein Hund , der von seinem Herrn nicht läßt , auch wenn er mit Füßen getreten wird .
Und in der Zeit , wo Thomas sich überall bedroht und von Feinden umlauert sah , konnte ihn ein unschuldiges Wort der kleinen Bettina so reizen , daß er gegen sie grausam zu werden vermochte .
Aber niemals wurde ihm Bettina böse .
Sie , die nach dem Tode der Mutter verschüchtert und verstört gewesen war , vergaß es dem trotzigen Vetter nicht , daß er in den Stunden , wo ihr kleines Seelchen wund und blutend dagelegen , sie wie ein krankes Vögelchen gehegt und gepflegt hatte .
Auch konnte er noch so streng und zornig gegen sie sein - das kleine Mädchen wußte aus Erfahrung , daß , sobald jemand sie anzurühren wagte , oder unfreundlich gegen sie im Hause war , Thomas in hellem Aufruhr sie schützte .
Wenn Thomas mit irgend jemand im Streit gewesen war und verbittert , innerlich vor Zorn kochend sich hatte flüchten müssen , so konnte er außer Tamara nur ihre Nähe ertragen ; und es gab gar kein größeres Glück für sie , als wenn sie dann still und lautlos bei ihm knien durfte .
Der Garten war ihr nicht fremd .
Er war ihr so heimisch , als wenn sie ihn all die Jahre gekannt hätte .
Denn mit jedem Strauch und jeder Blume dieses Gartens war sie längst aus den Erzählungen der armen Mama vertraut geworden .
Unter den wenigen Habseligkeiten , die die Flüchtlinge ins Doktorhaus hinübergerettet hatten , befand sich ein Gegenstand , an dem Bettina hing mit allen Kräften ihres Kinderherzens , und sein Wert wuchs für sie , als sie entdeckte , daß sie damit einen Zauberstab besaß , mit dem sie Thomas immer und immer wieder sanft machen konnte .
Das war eine kleine Geige , in die sie ihr Seelchen zu legen wußte .
Wenn sie in all der Pracht des blühenden Gartens unter den Bäumen stand und spielte , so horchte Thomas wie hingerissen auf die Wunderlaute .
Eines Tages überraschte Tamara die ahnungslosen Kinder .
Sie lauschte mit verstörten Zügen , und als die beiden sie plötzlich sahen , schrien sie erschreckt auf .
Sie blickten in das bleiche Gesicht der Tamara , in dem der Ausdruck einer ihnen fremden Pein lag .
Sie wehrte Thomas ab , entfernte sich ; aber niemals durfte Bettina in ihrer Gegenwart spielen .
Die Töne täten ihr weh , sagte sie schmerzhaft .
Thomas und Bettina begriffen es nicht , aber sie fügten sich scheu .
Seitdem holte die Kleine die Geige nur hervor , wenn sie sicher war , daß ihr Spiel allein von Thomas gehört werden würde .
Niemals sprach sie von ihrem Vater , und vor dem Onkel hatte sie gleich Thomas Furcht .
Sie mied seine Nähe .
Dem war der Familienzuwachs nicht gerade recht .
Er fühlte es dumpf heraus , daß die drei Wesen abgeschlossen und getrennt von ihm lebten ; und allen Ernstes versuchte er auf Thomas Einfluß zu gewinnen und ihn von den Rockschößen der Heiligen , wie er sich ausdrückte , loszureißen .
In den Begriff der Heiligen packte er seinen ganzen Zorn .
Er fand für sie keine andere Bezeichnung , und er meinte sie gleichfalls an den Pranger zu stellen , indem er alles Irdische von ihr abstäubte .
Als heilige Frau hatte sie für ihn etwas Puppenhaftes , Lebloses und Unempfindliches .
Er konnte gegen sie handeln , wie er wollte , brutal und ganz seinen rohen Sinnen folgend , sie spürte es nicht .
Herr war er nicht über sie geworden .
Ihre geistige Art hatte doch etwas Überlegenes , dem er sich nicht entziehen konnte , und gegen ihre stummen Blicke war er wehrlos .
Thomas fühlte es mit Angst und freudiger Genugtuung heraus , daß es zwischen den Eltern kein Gemeinsames gab , daß die Tamara ihm allein gehörte .
Indessen - er hatte auch Stunden , wo ihn sein Triumph beunruhigte , wo er sich mit Vorwürfen und Selbstanklagen quälte und sich verängstigt fragte , weshalb er sich so gegen den Vater wehrte .
Dann ertrug er ein ungerechtes Wort des Tadels leicht und ohne Widerspruch ; dann sehnte er sich sogar nach harter Strafe , die er nicht verdient hatte , um seine innere Ruhe wiederzufinden .
Er versuchte den Vater zu verstehen , zu begreifen und sich näher zu bringen .
Aber traf ihn in solcher Stimmung des Doktors derbe Energie , so waren all seine kindlichen Empfindungen fortgeblasen .
Er fühlte nur noch den Feind , gegen den er kämpfen mußte , wenn er sich nicht selbst verlieren sollte .
Der Vater und die Lehrer kamen ihm wie ungeschlachte Riesen vor , deren Körperlichkeit ihn mit Grauen erfüllte .
Mit ihren großen , schweren Händen suchten sie ihn zu erdrücken und mürbe zu machen .
Sie sahen nicht , was in ihm vorging , und daß er sich nur aufbäumte gegen ihre rohe Gewalt , die sich durchzusetzen wußte wider alle Billigkeit .
Gegen diese angemaßte Macht empörte sich Thomas ' Gerechtigkeitsdrang .
Und daß seine Schulkameraden sich de- und wehmütig beugten und sich so knechtisch unterwarfen , gerade das forderte seinen Mut und seinen Widerstand heraus .
Weder der Vater noch die Lehrer vermochten die dunklen Fäden seiner Seele zu entwirren .
Sie hätten es sich nicht träumen lassen , daß Thomas sich im stillen für sie schämte ; und doch war es so .
Er schämte sich , daß sie , die ihn an Wissen und Alter weit überragten , rechthaberisch und gewaltsam waren .
Nur Tamara erkannte die Wurzeln seines Trotzes .
Nur sie sah das edle Blut ihres Jungen , das allem Unreinen widerstrebte .
Die kleine Bettina aber , die noch fern von Erkenntnis war , glaubte in ihrem kindlichen Instinkt fest an Thomas , der für sie unantastbar und nicht zu beugen war .
VI. Thomas hatte nicht Abbitte geleistet .
Frau Tamara war in die Schule gegangen und hatte es ihm zu ersparen gewußt .
Sie hatte dort schweigend all die bösen Dinge vernommen , die in dem Schuldkonto ihres Jungen gebucht waren .
Dem Ordinarius wurde während seines langatmigen Vortrages ganz beklommen .
Die Wortlosigkeit und Würde der jungen Frau , über die man in der Stadt so Seltsames sprach , verwirrte ihn , und schließlich kam es ihm so vor , als ob er sich selber entschuldigen müßte .
Er machte dem Verklagten besonders zum Vorwurf , daß er auch den anderen Schülern sein aufrührerisches Wesen mitteilte und sich als ihr Anwalt aufspielte .
" Mit einem gewissen geistigen Hochmut hat er sich , wenn ich mich so ausdrücken darf , in die Rolle des Klassenretters hineingespielt und den Jungen die Köpfe verdreht .
Er hat etwas von einem Volksaufwiegler " , fügte er gezwungen lächelnd hinzu .
" Und dazu einen eisernen Trotz .
Ist er denn zu Hause ebenso ? "
Tamara schüttelte statt aller Antwort den Kopf .
Sie sah nachdenklich in das faltenreiche Gesicht des Lehrers , der Thomas so schlecht begriff .
Der Ordinarius sprach dann noch etwas von Rechtsfanatismus , einer gefährlichen Anlage , die man beizeiten ausroden müßte , ehe sie zu üppig ins Kraut schösse .
Und um mit etwas Gutem zu schließen , setzte er hinzu :
" Man könnte an den geistigen Fähigkeiten des Jungen seine Freude haben , wenn die Lehrer nicht durch seine Charakteranlage stutzig würden . "
Damit verabschiedete er verbindlich lächelnd die zarte Frau .
Langsam trat Tamara den Heimweg an .
Sie erwiderte verlegen die Grüße der Vorübergehenden , sah gedankenlos auf die grünen Fensterläden der kleinen Häuser , bis sie auf den Markt kam , wo das Rathaus und die alte Kirche standen .
Sie ging rasch über den Platz , bog um die Ecke und atmete erleichtert auf , als sie die Tür des alten Hauses öffnete und die steinernen Fliesen des Vorraumes unter ihren Tritten hallten .
Sie legte ihre Sachen ab und war gerade im Begriff , einen breitkrempigen Gartenhut aufzusetzen , als aus dem Nebenzimmer laute Stimmen zu ihr drangen .
Sie hörte wider ihren Willen von einer Frauenstimme die Worte :
" Du bist also spätestens um acht draußen ? " und die Antwort ihres Mannes :
" Gewiß , mein Schatz ! "
Die Hutbänder entglitten ihren Fingern , und sie jagte zum Garten .
Ein Ausdruck von Übelkeit lag auf ihrem Gesicht .
Erst als sie das Tor hinter sich geschlossen hatte , glätteten sich ihre Züge .
Sie strich mit der Hand über ihr Gesicht , als wollte sie etwas Unangenehmes verscheuchen , und ging langsam durch die Kieswege , um die Kinder zu suchen .
Die aber waren nirgends zu finden .
Da setzte sie sich auf eine niedrige Rasenbank , stützte die Ellbogen auf und träumte vor sich hin .
Alles um sie lag in tiefer Stille ; nur in ihrem eigenen Inneren hörte sie ein schmerzliches Hämmern und wehes Schlagen .
Sie hatte den Hut vom Kopfe genommen und das feine Haar gelöst , als müßte sie sich wärmen und schützen vor der inneren Kälte , die sie durchdrang .
Sie blickte sehnsüchtig in den blauen Himmel , der sich wolkenlos über ihr wölbte , und plötzlich kam sie sich weit entrückt vor , abgeschieden , leicht und frei .
Und dann kehrte sie in die Wirklichkeit zurück und sah sich ruhig und schön auf dem Totenbette liegen , und der innere Friede , den sie sich mühsam erkämpft hatte , lag auf ihren reinen Zügen , und die Kinder knieten am Bettrand und hielten ihre Hände und weinten nicht - denn Tamaras Totenruhe war ihnen heilig .
Da lächelte sie halb verzückt und blickte großäugig in die Sonne , die mit ihren letzten Strahlen ihr Madonnengesicht vergoldete .
VII.
Über dem Hause lag es wie Angst und Druck .
Frau Tamara mußte das Bett hüten ; und der Doktor fehlte jetzt häufig sogar bei den Mahlzeiten .
Thomas würdigte er keines Blickes und sprach kein Wort zu ihm , er tat , als existierte er nicht für ihn .
Bettina knurrte er unfreundlich an , so daß die Kinder wie erlöst waren , sobald er das Haus verließ .
Sie waren ganz auf sich allein angewiesen ; denn Tamara hatte die Gewohnheit , wenn sie sich elend fühlte , niemanden zu sich zu lassen , am wenigsten ihren Jungen , der sie im Zustand der Hilflosigkeit nicht sehen sollte .
Und während ihres Krankenlagers stellte es sich heraus , daß niemand mit Bettina so recht umzugehen wußte .
Man beklagte sich über sie beim Doktor .
Und der sah sie mit einem so finsteren Blicke an , daß ihr kleines Herz fast still stand .
Kam dann Thomas aus der Schule , so flog sie ihm förmlich entgegen , drückte sich an ihn und wich nicht mehr von seiner Seite .
Denn nur bei ihm fühlte sie sich sicher .
Einmal sagte sie zu ihm mit blitzenden Augen :
" Wenn ich groß bin , werde ich mir einen schwarzen Rappen kaufen und all die bösen Menschen niederreiten .
Zerstampfen werde ich sie " , setzte sie hinzu , " und nicht aufhören , bis sie in ihrem Blute - "
Thomas ließ sie nicht zu Ende sprechen .
Er packte sie an den Schultern und sah sie entsetzt an .
Er war ganz bestürzt von diesem Ausbruch ihres wild erregten Gemütes .
" Du könntest morden ? " fragte er beinahe scheu .
Sie zuckte nicht mit den Wimpern .
" Gewiß " , antwortete sie , " alle , die mir Böses tun .
Alle , die mich treten und so schlecht gegen mich sind . "
Er gab sie unvermittelt frei .
" Pfui Teufel " , sagte er mit tiefem Abscheu und wandte ihr den Rücken .
" Thomas ! " rief sie bebend .
Er drehte sich noch einmal um .
In ihren Augen standen schwere Tränen .
" Wenn du so zu mir bist " , brachte sie mühsam hervor , " tue ich was ! "
Und bekräftigend wiederholte sie noch einmal :
" Ich tue was ! "
Da wurde er weich und zärtlich .
Er dachte an den kleinen schwarzen See , in den sich die Äste der Weiden bogen , und wurde ganz beklommen .
" Ich weiß , was du denkst " , sagte er .
Sie blickte verwirrt zu Boden .
Er sah sie schon als kleines Wassernixchen mit triefenden , schwarzen Locken , die Augapfel sonderbar verdrehend , wie sie allnächtlich aus der Tiefe des unheimlichen , kleinen Wassers emporstieg und in verhexten Lauten , die schauerlich durch die dunkle Stille zu ihm drangen , seinen Namen rief .
Er schüttelte sich .
Dann lachte er heiter auf .
" Das könnte dir so passen , Bettinchen , da unten in das große Schloß zu steigen , Reigen zu tanzen und schlimme Lieder zu singen . "
Sie schüttelte ihre Locken und stimmte nicht in sein Gelächter ein .
" Gerne täte ich es nicht " , entgegnete sie ernst .
" Ich habe solche Angst davor .
Aber manchmal meine ich , wenn es nur dunkel wäre und ich heimlich davonlaufen könnte .
Hier hat mich doch keiner lieb .
Keiner ! "
" Und Tamara ? "
" Tamara " , wiederholte sie und sah ihn plötzlich mit einem Lächeln an , das nicht das eines Kindes war , sondern etwas untrüglich Wissendes barg .
" Tamara ist gegen keinen schlecht ; aber lieben tut sie nur dich . "
" Und habe ich dich nicht lieb ? "
Das Lächeln des kleinen Mädchens bekam jetzt etwas Erschütterndes .
Leise und verträumt entgegnete sie :
" Wenn du mich lieb hättest ! "
" Ich habe dich lieb . "
Einen Augenblick leuchtete es über ihr Gesicht .
Dann erwiderte sie wehmütig :
" Mich hat noch niemand gern gehabt . "
" Und deine Mama ? "
" Auch die nicht .
Die hat nur den Papa ... "
Sie brach hastig ab .
" Und der ? " fragte Thomas .
Sie wurde ganz blaß .
" Der ? "
Sie barg ihr Gesicht eine Weile in die Hände .
Dann ließ sie die Arme sinken und blickte den Jungen in fassungsloser Erregung an .
Und mit einer Ruhe , die zu ihrer inneren Bewegtheit in keinem Einklang stand und für Thomas etwas Eisiges hatte , fragte sie :
" Weißt du , wie das sechste Gebot lautet ? "
Thomas besann sich .
Sie kam ihm zu Hilfe .
" Du sollst nicht ehebrechen . "
" Ja , aber " , antwortete der Junge .
" Er hat meine Mama immer allein gelassen " , fuhr sie fort .
" Er hat sie nicht mehr leiden können . "
Thomas schwieg noch immer .
Bettina wurde unruhig .
" Begreifst du es denn nicht ? " fragte sie nervös .
Und ihren letzten Trumpf ausspielend , sagte sie :
" Ich habe es gehört , wie meine Mutter zu ihm gesagt hat :
» Warum faßt du mich immer mit glühenden Zangen an ? « "
" Er hat sie mit glühenden Zangen angefaßt ? "
" Meine Mutter hat es gesagt , ich habe es nicht vergessen .
Und dann ist er ganz von uns fortgegangen , und darum " fügte sie demütig und traurig hinzu , " sind wir zu euch gekommen .
So , nun weißt du alles . "
Thomas nickte .
Einen Augenblick blieb alles still .
Bettina warf ihren Kopf verwegen in die Höhe .
" Wenn ich ihn sehe , dann schieße ich ihn tot . "
" Deinen Papa ? "
" Das ist ganz egal " , entgegnete sie ruhig und gelassen .
Er erschrak vor der Kraft und Entschlossenheit des kleinen Bässchens und blickte sie mit Bewunderung an .
Bettina fühlte es .
" Ja , siehst du " , sagte sie , von ihrer eigenen Bedeutsamkeit geschmeichelt , " er hat die Mama getötet , ich töte ihn , das ist doch ganz in Ordnung . "
Thomas war sich darüber noch nicht ganz klar , und doch fand er es im Grunde logisch .
Gleichwohl wehrte er sich gegen sie .
" Du bist ein bißchen dumm " , meinte er kurz und bündig , als wollte er einen ihm lästigen Denkprozeß abkürzen .
" So , so , meinst du ? " gab sie zurück , und mit einer Überlegenheit , vor der ihm bänglich wurde , fügte sie hinzu : " Du wirst es ja sehen .
Ich weiß , was ich weiß . "
In diesem Augenblick hörten die Kinder die Stimme des Doktors .
Sie sahen sich bedeutsam an und räumten hastig das Feld , obwohl Thomas noch seinen Namen nennen hörte .
Wie verfolgte Sünder stiegen sie die Treppen empor , immer weiter , bis sie vor den Bodenkammern standen .
Sie krochen in einen der Verschläge hinein , an dem sich ein paar Latten gelöst hatten .
Die Dämmerung , die hereinzusinken begann , ließ gerade noch so viel Licht übrig , daß man die einzelnen Dinge unterscheiden konnte .
Die Kinder , die zum erstenmal den Bodenraum betraten , blickten neugierig um sich .
Und da sehen sie ein paar singende Engelgruppen , die ehedem in einer der Gartenlauben befestigt gewesen waren und später hatten weichen müssen .
Diese singenden Engel mit verletzten Nasen , verstümmelten Ohren , deren zum Lobgesang geöffnete Münder bereits abbröckelten , machten auf sie einen bedeutsamen und unheimlichen Eindruck .
Dann lagen da noch verschiedene Futterale , die sie behutsam öffneten .
Aus dem einen fiel ihnen eine Flöte entgegen , aus dem anderen eine Zither .
Ein Kasten , der daneben lag , enthielt ein altes Schachspiel aus Elfenbein .
In der Ecke befand sich ein länglich-runder , in die Höhe ragender Gegenstand , der mit einem schwarzen Tuch verhüllt war .
Vorsichtig traten sie an ihn heran .
" Was mag darunter sein ? " flüsterte Bettina .
Thomas schlug statt aller Antwort den dunklen Vorhang zurück .
Und nun schrien sie beide gellendes auf .
Ein Totengerippe starrte ihnen entgegen .
Aber sie faßten sich bald .
Die Bodenkammer kam ihnen auf einmal wie ein unheimlicher Winkel vor , in den sie ein merkwürdiger Zufall verschlagen hatte .
Da lag noch unendlich viel anderes altes Gerumpel , verstaubt , vermodert , das längst vergangenen Zeiten angehören mochte .
Sie fanden es beide in der Bodenkammer schön .
Sie bekamen jenes süße Angstgefühl , das den Kindern ein leichtes Gruseln schafft und ihnen doch verlockend und anziehend ist .
Sie sahen sich von geheimnisvollen Dingen umgeben und erdichteten sich zu jedem Stück eine Geschichte .
Sie schmiegten sich eng aneinander und schraken zusammen , wenn in ihrer Stille ein Geräusch vernehmbar wurde .
Und schließlich hockten sie auf zwei zerbrochenen Schemeln nieder , und Bettina fing unvermittelt bitterlich zu weinen an .
" Hast du Angst ? " fragte Thomas besorgt .
Sie drückte fester seine Hände und bewegte heftig den Kopf .
" Warum weinst du also ? "
Da blickte sie mit einem fremden Lächeln zu ihm empor , wie er es noch nie an ihr gesehen hatte , und antwortete :
" Ich weine , weil ich dich so sehr lieb habe , Thomas , und weil ich immer hier oben mit dir allein sein möchte . "
Und während sie das sagte , berührten ihre Haare sein Gesicht , so daß ihm wunderbar zumute wurde .
Er mied ihren Blick , aber dann schämte er sich dessen .
Die Dunkelheit brach herein .
Die Kinder unter dem Dachgiebel saßen noch immer schweigend und stumm nebeneinander .
Sie rührten sich nicht .
Unbestimmte Gefühle und Stimmungen erfüllten sie .
Thomas versuchte Bettinas Züge zu erkennen , aber er sah trotz aller Anstrengungen kaum noch ihre bräunliche Gesichtsfarbe .
Nur ihre Augen , die ernst , feierlich und durchdringend auf ihn gerichtet waren und aus ihrem Gesicht wie losgelöst schienen , so groß und glänzend kamen sie ihm vor , empfand er deutlich .
Und da auf einmal ohne Überlegung und ohne Absicht küßte er sie auf ihren kleinen , begehrlichen Kindermund mit den dunklen , Kirschchen Lippen .
Unmittelbar darauf umschlangen ihn zwei magere Kinderarme und drückten und preßten ihn so gewaltsam , daß er meinte , eine übernatürliche Kraft ginge von ihnen aus .
Und die kleine Bettina rückte ihm immer näher und goß verschwenderisch einen solchen Reichtum von Zärtlichkeiten über den Knaben , daß er ganz verwirrt und wie benommen wurde .
Ein dumpfes Glücksgefühl durchdrang ihn , und zugleich empfand er die Kleine so neu , so stark , so überlegen , daß er in seiner Schüchternheit sich trotz seines Alters ordentlich klein neben ihr vorkam .
Vom Rathaus schlug es die neunte Stunde .
Und jeder Schlag der Glocken tönte wie eine strenge Anklage in ihren Ohren wider .
Auf den Fußspitzen ging Thomas voran .
Bettinas Kleidchen blieb an einem großen Nagel hängen , so daß Thomas alle Mühe hatte , sie zu befreien .
Scheu und gegenseitig sich meidend , trippelten sie die Stufen herunter .
Es war ihnen , als ob sie etwas Böses begangen hätten .
Vor der Gesindestube machten sie Halt .
Thomas klinkte beherzt die Tür auf und trat mit einem dreisten , herausfordernden Blick in das erleuchtete Gemach .
Das Bäschen folgte in einiger Entfernung .
Die Dienstboten brachen mitten im Gespräch ab und blickten verwundert auf die Kinder , an deren Kleidern Staub und Moder hing .
" Wir möchten Abendbrot " , unterbrach Thomas das Schweigen .
Die Frauensleute , die offenbar geklatscht hatten und sich belauscht glaubten , knurrten etwas Unverständliches zur Antwort , und beruhigt verließen die Kinder mit einem gewissen Siegergefühl den Raum .
Aber beim Essen sprachen sie kein Wort miteinander .
Sie blinzelten sich nur hin und wieder verstohlen an und wünschten sich beklommen :
Gute Nacht !
Diese Dämmerstunde in der Bodenkammer aber blieb ihnen bis auf die kleinste Einzelheit im Gedächtnis haften .
Sie war ihnen ein teures Erlebnis , das sich in ihre Seelen prägte wie ein liebliches , zartes Bild , wie ein Geheimnis ihrer Jugend , dessen feinen Duft sie wie etwas Kostbares bewahrten .
Denn in dieser Stunde waren sie erwacht .
Die Bodenkammer wurde zu einem Schlupfwinkel , der ihnen und nur ihnen gehörte .
Sie hatten von nun an einen gemeinsamen Besitz , der sie innig verband und einen rätselhaft süßen Zusammenhäng zwischen ihnen schuf. VIII .
Im " Goldenen Löwen " saßen die Herren des Stammtisches in erregtem Gespräch .
Der Katasterkontrolleur hatte von Ehrwürden , dem neuen Pfarrer , haarsträubende Dinge zu berichten gewußt .
" Sie mögen es nun glauben , meine Herren , oder nicht .
An der Tatsache werden sie nichts ändern !
Der Herr Pastor kam in das Haus , als unser Doktor die Frau bereits völlig aufgegeben hatte , und der Hausvater und die Kinder flennend und schluchzend an ihrem Lager standen .
Die Frau sieht den Herrn Pastor mit aufgerissenen Todesaugen an , und was tut er meine Herren ?
Er schickt den Mann und die Kinder hinaus und setzt sich neben die Frau hin .
Erst spricht er zu ihr leise und läßt keinen Blick von ihr .
Dann streichelt er ihre Stirn , legt seine Hand auf ihr Haar , und der Frau ist zuerst , als ob ihr der Kopf springen sollte .
Ja , meine Herren , Sie sehen mich an und denken , das ginge alles nicht mit rechten Dingen zu .
Aber es kommt noch ganz anders !
Der Frau tritt der Angstschweiß auf das Gesicht , und der Herr Pastor beugt sich tief über sie herab und läßt sie nicht aus den Augen .
Sie kann sich auch gar nicht von ihm losreißen .
Dann ruft er das Dienstmädchen herein , hüllt die Frau in nasse Tücher , packt sie in eine dichte Wolldecke und befiehlt ihr zu schlafen .
Hierauf geht der Pastor ganz vorsichtig aus der Stube und sagt zu dem Mann :
er sollte auf Ruhe halten , denn seine Frau würde einen tiefen Schlaf haben und wieder gesund werden .
Na , und was soll ich Sie noch weiter aufhalten , meine Herren !
Die Geschichte traf genau so ein , und jetzt ist die Frau munter wie ein Fisch im Wasser . "
Die Herren hatten gespannt dem Erzähler gelauscht , nun trat eine Unterbrechung ein .
Alle waren eine Weile still mit ihren Gedanken beschäftigt .
Der Apotheker , ein kleiner Mann , der einen Vollbart mit ausrasiertem Kinn trug und durch eine blaue Stahlbrille seine Einäugigkeit zu verbergen suchte , kraulte sich auf seinem kahlen Schädel .
" Ich muß sagen " , begann er in etwas gespreiztem Ton , " daß ich derartige Vorfälle für höchst bedauerlich halte . "
Der Katasterkontrolleur unterbrach ihn mit einem derben Lachen .
" Meinen Sie damit " , warf er spöttisch hin , " daß die Frau ohne ihre Kräuter und Pillen gesund geworden ist ? "
Der Apotheker hob überlegen ein wenig die Achseln empor .
" Auf solche Attacken zu erwidern , halte ich unter meiner Würde " , entgegnete er streng .
" Ich für mein Teil bin der Ansicht , daß in unserer aufgeklärten Zeit , wo die Erkenntnis der Darwinschen Lehre immer weitere Kreise zieht , wo die Wissenschaft von Tag zu Tag , möchte ich sagen , wächst und vorwärts schreitet , solche rückläufigen , ja , ich sage es gerade heraus , solche reaktionären Heilbestrebungen eine unglaubliche Verwirrung anrichten .
Der Herr Pastor mag von den besten Ideen geleitet sein , und ich betone , meine Herren , daß ich an seiner Gutgläubigkeit nicht einen Augenblick zweifle - in der Sache selbst stiftet er nur Schaden .
Er pfuscht unserem Doktor auf unverantwortliche Weise ins Handwerk und stärkt bei unserer geistig ohnehin nicht gerade regsamen Bevölkerung den Aberglauben und den Überglauben . "
Er sah sich im Kreise um und fuhr mit etwas lauterer Stimme fort :
" Meine Herren , ich mache hier ganz bewußt eine Unterscheidung zwischen Aberglauben und Überglauben .
Sie wissen , ich bin ein guter Protestant und gläubiger Christ .
Aber ich bin gegen den Aberglauben , und ich bin noch mehr gegen den Überglauben .
Der Glaube in allen Ehren .
Den Glauben mag der Herr Prediger in dieser Zeit der Irreligiosität und des Aufruhrs kräftigen und festigen ; aber die Leute mit übernatürlichem Humbug zu ködern , dagegen - "
Der Sprecher kam nicht zu Ende .
Die Tür öffnete sich , und der Doktor trat ein .
Er wünschte " Guten Abend " und begegnete lauter verlegenen Gesichtern .
" Ah " , sagte er und gab seiner Stimme einen ironischen Ton , " ich habe die Herren in einer offenbar sehr anregenden Unterhaltung gestört . "
Und während er den Überzieher ablegte , fügte er hinzu : " Sie brauchen sich vor mir nicht zu genieren .
Die Sache läßt mich vollständig kalt ! "
" Ganz im Gegenteil " , unterbrach ihn eine dünne Fistelstimme .
Sie gehörte einem kleinen , verwachsenen Herrn , der auf seinen schiefen Schultern eine Art von Wasserkopf trug und mit seinen beweglichen , unruhigen Augen jetzt den Doktor anstarrte .
" Wie meinen Sie das , Herr Rechtsanwalt ? " fragte der Doktor ein wenig betroffen den Sprecher .
" Ja , sehen Sie " , entgegnete der und fuhr durch sein pfeffergraues , dichtes Haar , " der Fall ist doch interessant , als daß man ihn unerörtert lassen könnte .
Der Herr Katasterkontrolleur erzählte soeben , wie Sie erraten haben werden , von der magnetischen Kur des Herrn Predigers , und ich wäre in der Lage , den Herren mit noch ein paar anderen Heilversuchen des Herrn Predigers aufzuwarten , die sich ähnlich abgespielt haben und zufällig zu meinen Ohren gedrungen sind ; denn ich glaube , es wird Ihnen bekannt sein , Herr Doktor , daß Ehrwürden nicht selten über Land gerufen werden , nicht nur als Seelsorger , sondern auch - na , Sie verstehen mich schon !
Mit einem Wort , ich meine , es ist an der Zeit , einmal ruhig die Sache anzuschneiden , und niemand scheint mir geeigneter , sich über die Dinge zu äußeren , als Sie , Herr Doktor , wobei ich selbstverständlich " , setzte er etwas hastig hinzu , " von den materiellen Interessen absehe und mich einfach auf den Standpunkt stelle , daß das letzte Wort in solch einer Frage nur von einem Naturwissenschaftler gesprochen werden kann . "
Nach der etwas langatmigen Rede hielt er inne , und die Herren blickten gleich ihm in neugieriger Spannung auf den Doktor .
Der zwirbelte mit seinen fleischigen Fingern seinen Schnauzbart noch höher hinauf , räusperte sich ein wenig und sagte dann mit einem überlegenen Lächeln :
" Die Wissenschaft hat mit den Dingen so gut wie gar nichts zu tun .
Sie weist sie samt und besonders in das Gebiet der Kurpfuscherei zurück und läßt ihre Hand davon .
Du lieber Gott , wo sollte das hinführen , wenn wir derartiges ernsthaft behandeln wollten .
Wenn einer kommt und sagt , er sei imstande die Rose zu besprechen , und der Patient glaubt ihm , so soll er es in Gottes Namen tun .
Und wenn der Kranke die Heilung dann auf das Besprechen zurückführt , so sage ich ebenfalls :
In Gottes Namen !
Nur von der Wissenschaft wird man nicht verlangen , daß sie bei dem Humbug mittut .
Es ist das Kapitel vom Volta-Kreuz , in das ich alle die Chosen rubrizieren würde .
Das Volta-Kreuz ! "
Er lachte heiser auf .
" Es bleibt immer die alte Spekulation auf die Dummheit der Flachköpfe .
Es gibt selbstverständlich Salben , mit denen man jede Krankheit heilt ; bestimmte Teearten , die alles Unheil aus der Welt schaffen , und Essenzen , mit denen man bloß die Kopfhaut einzureiben braucht , um die schwersten Krankheiten zu überwinden .
Und mit dem Schwindel werden Millionen verdient ; man kennt das !
Wenn der Arzt nicht mehr helfen kann , geht man zum Kurpfuscher .
Der Kurpfuscher hilft immer !
Hilft so lange , bis das letzte Glied im Körper verpfuscht ist !
Aber das tut nichts .
Dem Kurpfuscher wird geglaubt ! "
Als niemand einen Einspruch wagte , meinte der Oberförster , ein großgewachsener Mann mit einem faltenreichen , ernstem Gesicht und einem langen grauen Vollbart :
" Ich bin nicht ganz der Ansicht des Doktors , der , wie mich dünkt , die Dinge ein wenig durcheinander wirft .
Schließlich folgt unser neuer Herr Pastor nur den Spuren unseres Herrn und Heilandes , der doch auf ähnliche Weise seine Kranken heilte : den Lahmen gehen , den Tauben hören machte und einem verblutenden Weibe , dem niemand helfen konnte , rettend zur Seite stand .
Und warum " , fuhr er fort , " soll es nicht übernatürliche Kräfte geben , die die Herren von der Wissenschaft nicht erkennen und gelten lassen , weil sie nicht in ihrem Besitz sind ?
Ich kann es mir sehr gut vorstellen , daß , wenn die Vorsehung dem einen dichterische , oder musikalische , oder was weiß ich für welche Anlagen mit auf den Weg gab , sie den anderen mit geheimnisvollen Kräften ausstattete , die ihm eben einen außergewöhnlichen Einfluß auf seine Mitmenschen einräumen .
Mit seinem starken Willen stählt und hebt er den Willen des Leidenden ; denn im letzten Grunde " , schloß er , " ist , so seltsam es klingen mag , Leiden und Sterben oft nur eine Sache des Willens .
Im übrigen will unser Pastor ja nicht übernatürlich wirken , - fällt ihm nicht im Traume ein .
Er glaubt an die Heilkraft des Wassers mehr als an Pillen .
Er glaubt , daß er auf den durch Krankheit Geschwächten Einfluß habe .
Und das leuchtet mir wenigstens durchaus ein :
Ein Arzt muß den Kranken in der Gewalt haben , sonst hole ihn der Teufel !
Sie mögen mich so spöttisch ansehen , wie Sie wollen , Doktor , Sie werden mich von meinen Ideen nicht abbringen . "
" Will ich auch gar nicht " , entgegnete der Arzt .
" Jeder muß nach seinem Rezept selig werden .
Aber an die übernatürlichen Geschehnisse , die wir nicht zu erkennen vermögen , glauben eben wir von der Wissenschaft nicht .
Jesus war in der Tat eine so starke Persönlichkeit , daß er auf gewisse Kranke und , soweit gebe ich Ihnen recht , auf gewisse willensschwache Menschen bedeutend wirkte .
Man nennt das " , fügte er dozierend hinzu , " Suggestionen austeilen .
In vielen Fällen handelt es sich hierbei um gewöhnliche Hysterie , und ich kann Ihnen aus meiner eigenen Praxis erzählen , daß ich an ein Bett gerufen wurde , wo eine junge Frau nach dem Urteil der Ärzte monatelang gelähmt dalag , so daß sie sich nicht rühren konnte , und wo ich einfach nach Erkenntnis des Falles sagte : Stehen Sie auf , meine Verehrteste , gehen Sie im Zimmer spazieren und in die frische Luft ; Sie sind völlig gesund - und ich versichere es Ihnen auf mein ärztliches Gewissen - und siehe da - die Schwerkranke stand auf und war gesund .
Also der Herr Oberförster ist einem kleinen Irrtum befangen , wenn er meint , daß die Wissenschaft nicht solche sogenannte Wunderkuren vollzogen , oder die Heilkraft des Wassers geleugnet hätte .
Aber sie tat das in vollster Erkenntnis , und ohne sich geheimer Kräfte zu rühmen .
Das hat indessen , wie ich bereits bemerkt habe , mit dem sogenannten Magnetismus nichts , rein gar nichts zu tun .
Mit dem nämlichen Rechte , mit dem der Herr Oberförster diese Art von Heilmethode verteidigt , kann er uns auch das Erscheinen von Geistern , die man sich nur heranzuklopfen braucht , glaubhaft machen .
Die einen nehmen seine Weisheit an , die anderen wehren sich zum mindesten so lange dagegen , bis sie den Geist mit eigenen Augen gesehen haben .
Mit solchen Phänomenen hat sich ein Teil der Menschheit zu allen Zeiten fruchtlos abgequält .
Man hat Sekten und Gemeinden daraufhin gegründet , und die Gesunden haben schließlich immer über alle die Narreteien und Teufeleien hinweggelacht .
Im übrigen - "
" Lupus in fabula ! " rief der Apotheker , und aller Augen waren auf die schlanke Gestalt des Eintretenden gerichtet , dessen bartloses , kluges Gesicht mit den dünnen Lippen , der großen , kühnen Nase , der schönen klaren Stirn und den freiblickenden hellen Augen , etwas Respektgebietendes und Überlegenes hatte .
Der Rechtsanwalt rückte sich mit einem schadenfrohen Lächeln den Kneifer zurecht und rieb sich verstohlen die Hände .
Das kann interessant werden , dachte er , wenn die beiden gegeneinander losgehen .
Der Doktor rückte unruhig auf seinem Stuhle hin und her , während der Oberförster dem neuen Gast freundlich Platz machte .
" Hat man mich denn schon gesteinigt ? " fragte der Prediger und sah die Herren mit einem klugen Gesichtsausdruck halb lustig , halb forschend an ; " denn der Lupus in fabula bin doch ich , und das Verbrechen , dessen man mich zeiht , besteht wohl darin , daß ich dem Doktor ins Handwerk gepfuscht habe ! "
" Den Nagel auf den Kopf getroffen " , sagte der Rechtsanwalt vergnügt .
" Wäre der Herr Pastor fünf Minuten später gekommen , so hätte er bereits das Resultat der Abstimmung vernommen :
denn wir standen dicht vor der Abstimmung .
Es ging auf die Formel :
Wird verbrannt ... wird nicht verbrannt .
Und was mich anbelangt , Herr Prediger , ich hätte für das Verbrennen gestimmt , denn ich bin von vornherein gegen Leute , die vor mir etwas voraus haben . "
Der Geistliche ging auf diese witzig sein sollende Erklärung nicht weiter ein .
" Ich bitte mich zu entschuldigen " , sagte er einfach , " wenn ich die Beteiligung an der Debatte ablehne .
Hier steht Meinung gegen Meinung ; da läßt sich schlecht streiten .
Ich Maße mir nichts Besonderes an , beileibe nicht !
Es sind die simpelsten Mittel , mit denen ich kuriere .
Aber wenn ich helfen kann , so helfe ich ; selbst auf die Gefahr hin , daß ich anderen in die Quere komme und mir selbst Konflikte schaffe ; denn die habe ich oft genug gehabt , meine Herren , und auf meine Art auszufechten gewußt .
Ich kenne all die Argumente , die die gelehrten Herren und der Pöbel gegen mich vorzubringen imstande sind , zur Genüge .
Ich habe sie tausendmal gehört , mich schiert das nicht .
Ich will und kann keine wissenschaftliche Erklärung zu den Dingen geben .
Meine eigenen Gedanken habe ich mir selbstverständlich oft genug darüber gemacht .
Und schließlich kommt es ja für mich auch wirklich nicht auf die Erklärung der Tatsachen an , sondern einfach darauf , zu lindern und zu helfen .
Wenn ich ein barmherziger Samariter bin , so bin ich es wider meinen Willen geworden ; denn ich selbst habe es eigentlich durch einen Zufall erfahren , daß meine Hände und mein Blick wohltun können . "
Er sagte das mit einem heiteren Ernst und einer freundlichen Sicherheit , die nichts Verletzendes hatte und doch ihrer Wirkung gewiß war .
Man sah es ihm an und hörte es bei jedem seiner Worte , er war ein Mann , der fest und ruhig auftrat und wie ein guter Reiter unerschütterlich im Sattel saß .
Der Katasterkontrolleur beugte sich ein wenig über den Tisch .
" Ist eine Frage erlaubt , Herr Prediger ? "
" Wenn ich Antwort stehen kann , gewiß . "
" Sie sagten , daß Sie durch einen Zufall - "
" Allerdings " unterbrach ihn der Prediger .
" Ich war in ein Haus gerufen worden , wo eine todkranke Frau vor dem Sterben geistlichen Trost wünschte .
Sie nahm von ungefähr meine Hand und blickte mich in Sterbensangst beständig an .
Als sie dann meine Rechte losließ , legte ich sie auf ihren Kopf , ohne mir irgend dabei etwas zu denken ; und als ich dann die Hand zurückziehen wollte , wehrte die Frau flehentlich ab .
Die Hand täte ihr so gut , meinte sie .
Und so saß ich stundenlang an ihrem Bett und half ihr , wenn ich mich so ausdrücken darf , über sie selbst hinweg .
Meine Herren , ich habe den Freund Hein nicht von ihrem Lager gescheucht , ich habe die Frau nicht dem Tode entreißen können .
Aber seit der Zeit bemerkte ich , daß meine Hand und mein Blick dem Kranken gut tun und sah keinen rechten Grund ein , dem siechen Leib die Hand und den Blick zu entziehen . Vielleicht " , setzte er langsam und etwas schwerfällig hinzu , " gibt es wirklich Dinge , denen man mit dem Grübeln und dem Verstande nicht beikommen kann .
Sie wissen doch wahrscheinlich alle , daß es sogenannte Brunnenfinder gibt : Leute , die man oft von weither in wasserdürre Gegenden ruft , damit sie die Stelle entdecken , wo der Brunnen gegraben wird .
Sie nehmen in die Hand eine Weidengabel und gehen den Ort auf und nieder , wo gegraben werden soll , und wenn sie an eine Stelle kommen , wo unter der Erde Wasser ist , da zuckt der Zweig in ihren Händen .
Dort gräbt man , und dort findet man Wasser .
Aber , meine Herren , Sie sind im Irrtum , wenn Sie glauben , daß die Weidengerte in jedes Menschen Hand zuckt .
Erklären können Sie die Sache nicht ; und dennoch ist sie - sie ist , wie so vieles andere , dem wir auch nicht auf die Spur zu kommen vermögen . "
Der Doktor hüstelte ein wenig , sah auf die Uhr und erhob sich .
" Es ist Zeit für mich " , meinte er , während er nach Hut und Stock griff .
Die ganze Unterhaltung war ihm widerwärtig .
Er fühlte die stärkere Persönlichkeit des Geistlichen und hielt die Debatte mit ihm für aussichtslos , selbst wenn er mit den ältesten und bewährtesten naturwissenschaftlichen Doktrinen gegen ihn zu Felde ziehen würde .
Er fühlte zu seinem Unbehagen , daß ihn selber die Ruhe des Predigers irritierte .
Das Volta-Kreuz in den Händen des Geistlichen mußte ja stärkere Wirkung tun , als wenn irgendein gewöhnlicher Hochstapler damit Handel und Wucher trieb .
Aber Hochstapelei blieb es , nur gehüllt in das härene Gewand der Christlichkeit .
Er wurde aus der ihm selbst unbequemen Gedankenfolge durch den Prediger herausgerissen , der plötzlich neben ihm stand , ebenfalls zum Gehen gerüstet .
Und so lästig ihm seine Begleitung war , er konnte sie schicklicherweise nicht abschütteln und mußte sich noch einen spöttischen Blick des Rechtsanwalts gefallen lassen , der vergnügt schmunzelnd zu ihm hinüberblinzelte .
Auf der Straße , die in Nebel gehüllt war , so daß man kaum ein paar Schritte vor sich sehen konnte , wehte ihnen eine warme , feuchte Nachtluft entgegen .
Der Geistliche unterbrach das Schweigen .
" Ich wollte Sie gelegentlich fragen , Herr Doktor , ob Sie nicht Ihren Jungen in die Konfirmationsstunde schicken wollen .
Er hat das Alter eigentlich schon überschritten und hätte bereits unter meinem Vorgänger - "
Er hielt inne , da der Doktor unvermittelt stehen geblieben war .
Die Geschichte war ihm unangenehm .
Auf der einen Seite war es ihm mehr als peinlich , irgendeine Pflicht als guter Staatsbürger zu verletzen ; auf der anderen widerstrebte es ihm , mit dem Geistlichen in eine nähere Berührung zu kommen , und dennoch war er in einer so eigentümlichen Stimmung , daß er nicht den Mut fand , die Sache hinauszuschieben .
Er fühlte sich auch geärgert , daß er an eine so wichtige Sache erinnert werden mußte .
" Ich werde Ihnen morgen den Jungen hinschicken " , sagte er rasch , " und nun verzeihen Sie , wenn ich mich von Ihnen verabschiede , ich habe noch einen Gang vor . "
Der Geistliche nickte , und die Herren trennten sich , indem der Doktor etwas ungeschickt einen gewissen inneren Abstand durch die Förmlichkeit seines Grußes anzudeuten suchte .
Der Geistliche fühlte das heraus und lächelte still in sich hinein .
Als der Arzt um die nächste Ecke gebogen war , beschleunigte er seine Schritte .
Er war erregt und auf sich selbst unwillig .
Die ganze Geschichte kam ihm wie ein fataler Rückzug von seiner Seite vor .
Er hätte das Gesalbader mit ein paar überlegenen Bemerkungen abtun müssen ; unter keinen Umständen hätte er zu dem pastoralen Erguß schweigen dürfen .
Er ging rascher seines Weges .
Fast aus keinem der Häuser drang ein Lichtschein auf die Straße .
Die Fensterläden waren geschlossen , und die Wege waren dunkel .
In dieser kleinen Stadt machte man früh Feierabend , und bevor die zehnte Stunde geschlagen , ruhte alles in tiefem Schlaf .
Der Doktor seufzte .
Was für ein verhungertes Studentenleben hatte er gehabt , und nun lag er eigentlich eingesargt und begraben in dem gottverlassenen Nest .
Er konnte sich satt essen und satt trinken .
Insoweit war die Spekulation richtig gewesen .
Aber ein wirkliches Heim hatte er nicht , denn da , wo er von Rechts und Ehe wegen hingehörte , gab es keinen Zusammenhäng .
Er fühlte es , daß sein Junge das geistige und seelische Erbteil von der Mutter hatte ; und zuweilen war in ihm eine Art von verbittertem Groll gegen diese Frau aufgestiegen , die ihn mit ihrem Schweigen von sich gewiesen , zwischen ihm und sich eine Bergwand aufgebaut und sein eigenes Kind ihm entfremdet hatte .
Das war sein Schicksal , daß er nachts sich fortschleichen mußte , daß er neue Ketten auf sich genommen hatte , die er bereits zu spüren begann .
Ein verstecktes Lächeln verzerrte seine hübschen , ausdruckslosen Züge .
Er sah es trotz der Dunkelheit .
Er sah es , als ob er statt der Nebel- eine Spiegelfläche vor sich hätte .
Er schritt noch kräftiger aus , bis er endlich vor einem kleinen Gehöft stand , das von der Stadt bereits weit entfernt , außerhalb ihres Weichbildes lag .
Er zog leise an der Glocke .
Hundegekläff antwortete ihm .
" Still , Kartusche , still " , beruhigte er mit gedämpfter Stimme das Tier .
Er mußte eine ziemliche Weile warten , dann hörte er den Schlüssel knacken , und von innen fragte eine Stimme :
" Bist du_es ? "
" Bin_es " , gab er kurz zurück .
Der Schlüssel drehte sich , und vor ihm stand eine kräftige , offenbar noch junge Frauensperson , die in der linken Hand eine kleine Laterne trug :
Über den Kopf hatte sie ein Tuch geschlagen , das bis zu den Schultern reichte .
Sie hatte eine weiße Nachtjacke an und sah müde und verschlafen aus .
" Du kommst aber spät " , murrte sie und schritt ihm voran in die Wohnräume , die im ersten Stock lagen , während sich die Wirtszimmer im Souterrain befanden .
Sie stellte die Laterne auf den Tisch und zündete im Wohnzimmer die Hängelampe an .
Dann nahm sie mit breiter Bewegung ihr Tuch vom Kopf , so daß man jetzt ihren nackten Hals und ihren starken Busen sehen konnte , der aus der geöffneten Nachtjacke schneeweiß hervorquoll .
Sie rieb sich mit der Hand die etwas müden , schmal geschlitzten , noch schläfrigen Augen und ließ sich auf dem breiten , schwarzledernen Sofa nieder , das im Hintergrunde des einfachen Zimmers stand .
" Einen aus dem Bette aufzustören " , sagte sie und zog den locker umgeworfenen Rock , der herabzurutschen schien , wieder zurecht .
Mit ihren breiten Hüften , dem großen , sinnlichen Mund , der kecken Stupsnase und der niedrigen , schräg abfallenden Stirn , an die sich dicksträhniges , braunes Haar schloß , das ihr jetzt aufgelöst über die weiße Jacke fiel , hatte sie für den Doktor etwas Anreizendes und Lockendes .
Das war das Kostüm , in dem sie am stärksten auf ihn wirkte .
Da gab es nichts Geistiges , das ihn störte - und sie wußte das und pochte darauf .
Mit dem Instinkte ihrer Frauennatur vermochte sie aus dem großen Menschen mit dem martialischen Aussehen mühelos die Mannesdemut herauszuschälen .
" Mache nicht so ein böses Gesicht " , sagte er in schon bettelndem Ton .
" Ach was ! "
Er ließ sich an ihrer Seite nieder und wollte seinen Arm um ihren Rücken legen .
" Laß man " , rief sie unwirsch .
" Was macht das Kind ? "
Sie sah ihn von der Seite scheel und zugleich forschend an .
" Du fragst viel nach mir und dem Wurm ! "
Ihr Ton reizte ihn und tat ihm doch gleichzeitig wohl .
Er hatte es in seinem Inneren gern , wenn sie ihn klein machte und mit ihm haderte , das erregte ihn merkwürdig .
" Wie kannst du nur so reden , du weißt , wie ich an dir hänge . "
" Weiß ich ? "
Sie stützte die Ellbogen auf ihren Schoß .
" Sei doch gut " , bat er von neuem .
" Ich komme müde und gehetzt zu dir , kann vor Ärger und Sorgen nicht aus noch ein , und du machst ein brummiges Gesicht .
Schäm dich , Marinka ! "
Sie lachte kurz auf .
" Was für Sorgen und was für Ärger hast du denn ? "
Er rückte noch näher an sie heran , und ohne daß sie widerstrebte , wurde er nun zärtlich .
" Du mußt jetzt doppelt gut zu mir sein ! -
Sieh Mal , es ist doch keine Kleinigkeit , wenn einem die Frau krank und elend daliegt , so daß man kein Ende absehen kann , und wenn einem obendrein noch die Patienten weggeschnappt werden . "
Auf die Züge der Frau trat etwas Lauerndes .
Sie richtete sich ein wenig empor , und auf ihr volles Gesicht fiel nun das grelle Licht der übelriechenden Petroleumlampe .
" Was fehlt ihr denn ? "
Der Doktor wandte sich ab .
Da nahm sie seine beiden Hände und streichelte sie .
" Sie hat_es auf den Lungen ! "
" Schlimm ? "
" Ja " , antwortete er .
Sie schwiegen beide eine Weile .
" Glaubst du , daß sie wieder gesund wird ? " nahm die Frau das Gespräch wieder auf .
" Gesund ? -
Nein ! "
Die Frau legte jetzt ihre Rechte auf seinen Schenkel .
" Muß sie sterben ? " fragte sie etwas leiser .
Der Doktor sah starr in ihre Miene .
Sie hielt seinen Blick ruhig aus .
" Wir müssen alle sterben ! " sagte sie gleichmütig .
" Der eine früher , der andere später ! "
Ihre ruhige und gelassene Art gab ihm seine Fassung wieder .
" Sie muß sterben .
Aber so etwas kann sich lange hinschleppen . "
Wieder verstummten sie .
Dann setzte sie sich plötzlich auf seinen Schoß .
Ihr Rock fiel wieder ein wenig herab , ohne daß sie es beachtete .
Ihm trat das Blut bis in die Schläfen .
" Nimmst du mich dann zu dir ins Haus ? "
Er nickte nur noch .
" Und wirst du mich dann heiraten ? "
Er wich ihr aus .
" Ob du mich heiraten wirst ? " wiederholte sie in ihrem eindringlichen , Antwort heischenden Ton .
" Ja ! " entgegnete er unsicher .
Sie erhob sich unvermittelt .
Er schritt in dem Zimmer auf und nieder .
Als sie wieder hereinkam , trug sie in ihren Armen ein kleines , pausbäckiges Mädelchen .
" Sieh nur zu , wie lieb es aussieht " , sagte sie , und ihre Stimme war plötzlich ganz verändert .
Zärtlich , freundlich , mütterlich gütig , als ob sie eine ganz andere im Hinausgehen geworden wäre .
" Es plappert in einem fort von seinem Papa . "
Sie gab ihm einen Klaps und sah ihn wieder herausfordernd an .
" Nun sei einmal gut zu ihm und küsse es " , bat sie schmeichlerisch .
Er beugte sich zu dem Kinde herab .
Er fühlte , daß sie einen Willen über ihn hatte , dem er sich nicht entziehen konnte .
Ihr derbes , gesundes Wesen , das nicht viel Federlesens mit ihm machte , tat ihm in solchen Stunden wohl .
Sie brachte das Kind , das unruhig zu werden begann , wieder in sein Bettchen .
" Kindchen muß still sein , Kindchen muß brav sein " , hörte er aus dem Nebenzimmer , und dann , wie sie ihm vorträllerte :
" Schlaf , Kindchen Schlaf . "
" Ein verflixtes Weibsbild " , dachte er .
Sie kam wieder herein und hielt ihm ihren Mund zum Kusse entgegen .
Sie war bedeutend kleiner als er , so daß er sich gehörig bücken mußte .
Nun hielt sie ihn mit ihren kräftigen , fleischigen Armen fest und grub ihre Lippen in die seinigen .
Als sie ihn losließ , bemerkte sie , wie rot und verlegen er aussah .
Sie stemmte die Hände in die Hüften und lachte laut auf , so daß er ihre großen , weißen Zähne sehen konnte , die so gesund waren , wie sie selbst .
Dann zwang sie ihn , sich wieder neben sie auf das Sofa zu setzen , und drehte ihm den Schnurrbart zurecht , der draußen in dem feuchten Nebel und nun beim Küssen aus der Fasson gekommen war .
" So 'n Schnurrbart " , sagte sie vergnügt , " hatte mein seliger Vater , der Feldwebel war . "
Sie merkte sofort , daß ihm der Vergleich nicht gerade wohl tat , und mit einem schlauen Seitenblick lenkte sie schnell zu etwas anderem über .
" Ärgere dich doch über den Pfaffen nicht " , sagte sie .
" Wenn einer sein Bein bricht , dann soll es der Pfaffe ihm erst gerade machen - den Tod und Teufel täte ich mich ärgern . "
Er küßte sie auf den Hals und ließ sich wohl sein , während sie durch sein Haar fuhr .
Sie löschte auf einmal die Lampe aus , und indem sie ihn mit sich zog , brachte sie in gedämpftem Ton und doch ganz deutlich die Worte hervor :
" Man sollte so einem armen Menschen das Sterben leichter machen " , und bekräftigend fügte sie hinzu : " Das wäre Christenpflicht ! "
Der Doktor entgegnete nichts mehr .
IX.
" Ist der Herr Prediger da ? "
Das Mädchen führte Thomas in das Arbeitszimmer , dessen Wände mit Bücherregalen angefüllt waren .
Der Schreibtisch , vor dem ein braunlederner , altväterischer Sessel stand , war ganz mit Papieren bedeckt , und inmitten dieser Papiere befand sich eine elfenbeinerne Statue des Erlösers am Kreuz .
Der Geistliche trat ein .
" Du bist also Thomas Track " , sagte er freundlich und sah ihn prüfend an .
Thomas erwiderte diesen Blick mit so ernster Ruhe und eisiger Zurückhaltung , daß der Prediger davon betroffen wurde .
Er hatte nicht ohne Absicht am Abend zuvor den Doktor an seine kirchlichen Pflichten gemahnt , und er gestand sich ohne weiteres ein , daß ihn keineswegs nur der Seelsorger geleitet hatte .
Ihm war vielmehr der Knabe , den er dem Äußeren nach kannte , sofort aufgefallen .
Er hatte das feine Empfinden für die Persönlichkeit ; und als er den Jungen das erstemal gesehen , witterte er in ihm eine von den eigenartigen Seelen , die man selten genug trifft .
Er lud Thomas zum Sitzen ein .
Aber der folgte nicht seinem Geheiß .
Da ließ er sich selber auf seinen Lehnstuhl nieder und tat , als ob er des Knaben Weigerung nicht beachtet hätte .
Er betrachtete mit innerem Wohlbehagen das edle Gesicht des Knaben und erschrak über den bitteren Leidenszug , der um den fein geschwungenen Mund sich eingegraben hatte .
Er blickte flüchtig auf die Statue und dann wieder zu Thomas hin .
Der Junge hat auch so ein Heilandsantlitz , dachte der Geistliche , und sein Gesicht mit der hohen Stirn bekam einen traurig milden Ausdruck .
" Wer sich zu Christus bekennt " , sagte er mit gedämpfter Stimme , " und den christlichen Glauben mit freiem Bewußtsein und unter eigener Verantwortung auf sich nehmen will , der muß in die Tiefen der Religion steigen , damit die feierliche Stunde ihn vorbereitet findet , und darum , denke ich , bist du zu mir gekommen . "
Thomas schüttelte den Kopf , und , indem er seine Augen fest auf den Prediger richtete , antwortete er :
" Ich will mich gar nicht zu Christus bekennen . "
Der Geistliche lächelte .
Aber sein Lächeln war schmerzhaft und verwundete Thomas .
" Du willst dich nicht zu Christus bekennen ? "
" Nein !
Ich glaube nicht ! "
" Warum glaubst du nicht ? "
Thomas zog finster die Brauen zusammen .
" Ich sage das nicht ! "
" Du sagst es nicht ? "
Er stand auf und trat dicht an ihn heran .
" Du sagst es nicht , mein Kind , weil du im Innersten gläubig bist . "
Thomas ' Miene wurde so traurig und schwermütig , daß sie den Prediger ergriff .
Nach einem kurzen Schweigen :
" Niemand , mein Junge , kann behaupten , daß er nicht glaubt .
Die Menschen , die das aussprechen , belügen sich und die anderen .
Wer lebt , der glaubt !
Nur was völlig abgestorben und ohne Bewegung ist - ist auch ohne Glauben - " Thomas zitterte .
" Der Glaube kann absterben " , antwortete er mit blassen Lippen , " in mir ist er tot .
Ich lüge nicht , Herr Prediger .
In mir ist es gerade so , wie Sie sagen - "
" Hast du jemanden auf der Welt lieb ? "
" Ja ! "
Er wurde rot dabei .
" Dann glaubst du ; denn es gibt keine Liebe ohne Glauben .
Wer über sich selbst hinaus geht und etwas hoch hält , ist gläubig .
Du kennst den Spruch : Wo Liebe da Glaube , und nur Glaube , wo Liebe .
Man kann seine Ehrfurcht von Gott trennen " , fuhr er eindringlich fort , " und ihr einen anderen Namen geben .
Es bleibt ein müßiges Spiel .
Ich sage es noch einmal : wo Ehrfurcht und Liebe ist , da ist Gott ; die Menschen mögen ihn leugnen , so viel sie wollen .
Die Menschen mißhandeln nur ihre eigene Güte .
Sie schämen sich ihrer ohne Nutz und Frommen .
Gott weiß das und lächelt dazu . "
" Kann man mich zwingen , kirchlich zu werden ? " fragte Thomas statt aller Antwort .
" Nein , man kann dich nicht zwingen . "
Thomas ' Brust arbeitete heftig , und auf seine Stirn trat ein feiner Angstschweiß .
Der Geistliche schien ihn mit seinen Augen durchdringen zu wollen .
Er spürte eine Macht , der er widerstreben wollte , ohne sich ihr doch entziehen zu können .
Aber plötzlich lachte er kurz und grell auf .
Er hatte sich selbst wiedergefunden .
Er richtete sich kerzengerade auf , und seine Augen sprühten .
Er wollte offenbar eine Frage hervorbringen ; aber eine Art von Grauen , das ihn schüttelte , schloß seinen Mund .
" Was hast du denn ? "
Thomas raffte sich mit Gewalt auf .
" Ich werde es Ihnen nachher sagen " , entgegnete er unsicher .
" Ich möchte eins von Ihnen wissen " , fragte er .
" Waren Sie , Herr Prediger , schon bei einem Schweineschlachten ? "
Der Geistliche sah ihn befremdet und verwundert an .
" Ich meine natürlich nicht das Wurstessen " , nahm der Junge das Wort wieder auf , und sein Ton klang spöttisch und herausfordernd .
" Ich meine , ob Sie dabei waren , wie so ein Schwein geschlachtet wird ?
Wie es aufschreit , daß es einem in den Ohren gellt und man es nie mehr vergißt .
Ich war dabei , Herr Prediger , ich habe es gesehen und gehört . "
" Und was willst du damit sagen ? "
" Ihre Menschen , die gütig und fromm sind und in die Kirche gehen , schlachten Schweine ! "
" Wie alt bist du ? "
" Ich werde fünfzehn ! "
Er warf den Kopf trotzig zurück ; er fühlte sich jetzt wieder auf sicherem Boden - " und lebendige Krebse " , setzte er höhnisch hinzu , " tut man in siedendes Wasser .
Und dem Federvieh dreht man den Hals um , und dem - soll ich noch weiter reden ? " brach er plötzlich ab .
Der Blick des Pastors , der sich zu ihn zu bohren schien , verwirrte ihn .
" Sprich nur weiter ! "
Der Knabe wiederholte mit einem Schaudern :
" Lebendige Krebse tut man in siedendes Wasser !
Die Krebse , sie geben keinen Laut von sich ; aber sie werden rot wie Blut , Herr Pastor .
Ich will sagen " - seine Stimme bebte vor Erregung - " ich will sagen , die Menschen morden das Vieh und das Tier ... und ... "
Er stockte .
Man sah es ihm deutlich an , wie es in ihm arbeitete und die Zunge ihm schwer wurde .
" Und ? " wiederholte der Prediger .
" Und morden sich selbst " , ergänzte Thomas .
" Wie meinst du das ? "
Es leuchtete kummervoll auf in den Augen des Jungen .
" Kennen Sie Bettina , Herr Prediger ? " fragte er kaum hörbar .
" Nein . "
" Bettina ist meine Kusine und wohnt bei uns .
Bettinas Mutter " - er hielt inne , aus seinen Augen drangen jetzt Tränen - " Bettinas Mutter " , wiederholte er , sich gewaltsam aufraffend , " kam todkrank zu uns und starb in unserem Hause .
Ihr Mann , Herr Prediger , hatte sie gemordet . "
Als der Prediger etwas einwenden wollte , fuhr er heftig und in überzeugtem Tone fort : " Das weiß ich ganz genau !
Er hat ihr kein Gift gegeben ; aber er hat sie zu Tode gequält .
Ich weiß das ganz genau .
Und dann könnte ich Ihnen noch etwas sagen , Herr Prediger , was ich mit eigenen Augen angesehen , was ich - "
Er verstummte und bis die Zähne aufeinander .
Sein Atem ging schwer ; sein Gesicht war kreidebleich geworden .
Er trug jetzt wirklich die Züge des Heilands .
" Willst du mir sagen , was du mit eigenen Augen gesehen ? "
" Das will ich nicht ; das kann ich nicht . "
Und bei diesen Worten zuckte es über sein Gesicht .
" Und gibt es noch andere Dinge , die in dir den Glauben getötet haben ? "
Ein schwer- und wehmütiges Lächeln verklärte sein Antlitz , das fast durchsichtig schien .
" Man hat mich bestraft und geschlagen " , - das Lächeln schwand und machte einem stolzen , unbeugsamen Ausdruck Platz - " weil ich denen half , die schwach waren ; weil ich das Unrecht , das man ihnen tun wollte , nicht litt , weil ich mich dagegen sträubte ! "
" Für wen bist du eingetreten ? "
" Für meine Mitschüler . "
" Und deine Lehrer haben dich deswegen bestraft ? "
" Ich sollte aus der Schule gewiesen werden , und zu Hause hat mich mein Vater geschlagen . "
" Der Erlöser hat auch Unrecht gelitten und ist an seinen Leiden verblutet .
Aber seine Dornenkrone schuf uns Erlösung ! "
" Wem schuf sie Erlösung ? " fragte der Knabe , und sein Gesicht war voller Leiden , und das blutende Lächeln seiner Mutter tauchte es in endlosen Gram .
" Bist du nun zu Ende ? "
" Ich habe noch vieles auf dem Herzen .
Aber ich darf Ihnen nicht alles verraten , nein , das darf ich nicht " , setzte er geheimnisvoll hinzu .
" Was quält dich denn sonst noch ? "
" Früher hat mich das Sterben gequält .
Daß die Schlimmen und die Guten so sterben müssen , das finde ich furchtbar .
Mama und ich , wir beide haben darüber in uns hineingeweint .
Finden Sie es schön , Herr Prediger ? "
" Wenn das Sterben leicht und frei ist , ja , dann finde ich es schön .
Wir werden zur Erde , zur Mutter Natur , aus der aller Reichtum und alle Werdekraft emporwächst . "
" Wir werden ja gar nicht wieder zur Erde , unser Fleisch bröckelt ab , und die Knochen , aus denen wir sind , die bleiben und sehen furchtbar aus .
Auf unserer Bodenkammer steht ein Skelett , das müssen Sie sich einmal anschauen !
Es ist so grausig , wenn man sieht , was übrig bleibt .
Das Fleisch bröckelt ab , die Seele steigt empor - sie steigt doch empor , Herr Prediger ? - und das Skelett bleibt übrig . "
Wie vom Frost geschüttelt , bedeckte er mit den Händen einen Augenblick sein Gesicht .
Dann ließ er die Arme schlaff sinken .
" Ja , das Skelett auf unserer Bodenkammer , Herr Prediger - "
" Wird auch zu Staub und Erde , wenn seine Zeit gekommen ist .
Denn was ist Zeit , wenn es sich um die Ewigkeit handelt ...
In welcher Klasse bist du eigentlich ? "
" Ich komme in die Ober-Sekunda . "
" Dann bist du ja schon ein gelehrter Herr , und man muß zu dir » Sie « sagen . "
" Man braucht das nicht ! "
" Du fühlst dich in der Schule unglücklich ? "
" Ich lasse mich nicht unterdrücken . "
" Glaubst du allen Ernstes , daß es einen Menschen gibt , der sich nicht unterordnen müßte ? "
" Um des Rechtes Willen darf sich niemand unterordnen .
Für das Recht soll er gegen jedermann kämpfen . "
" Auch gegen den Vater ? "
Thomas Lippen kräuselten sich zu einem beinahe verächtlichen Lächeln .
" Auch gegen den Vater . "
" Und hast du nach deiner ehrlichen Überzeugung immer recht gehabt , wenn du dich wehrtest ? "
" Ja , Herr Prediger ! "
" Hast du dich jemals gefragt , ob nicht vielleicht doch ein Teil der Schuld bei dir liegen könnte ?
Ob du dich nicht gegen deine Erzieher wehrst aus Trotz und Eigenwillen und ihnen dein Inneres verschließest , so daß sie nicht sehen können , was in dir vorgeht ? "
" Sie wollen es nicht sehen ; deshalb habe ich mich verschlossen . "
" Und vielleicht sind sie dennoch schuldlos , und vielleicht ist es ihr eigenes Unglück , daß sie Augen haben und nicht sehen und Ohren haben und nicht hören können .
Es gibt eine Sanftheit " , setzte er hinzu , " die edler ist als der Stolz . "
" Ich will nicht sanft sein .
Ich will wahr sein ! "
" Es kann eine Stunde kommen , wo dein Wille gebrochen wird , und die Stunde könnte hart und schlimm werden . "
In den letzten Worten lag ein Ernst und eine bange Drohung , daß Thomas stutzte und einen Augenblick eingeschüchtert dastand .
Jedoch er faßte sich bald .
" Mein Wille ist stahlhart . "
" Es gibt härtere Dinge als Stahl . "
" Gewiß , ich weiß es . "
Der Prediger erhob sich langsam .
Er fuhr leise mit seiner schlanken , weißen Hand über Thomas ' glühendes Gesicht .
" Du hast viele Dinge behauptet " , meinte er nachdenklich , " auf die ich dir nicht Rede gestanden habe - nicht , als ob mir die Antwort gefehlt hätte - sondern weil ich dir nicht im Sprunge antworten wollte .
Die Sache war mir zu ernst " , fuhr er beinahe achtungsvoll fort .
" Niemand wird dich zwingen , dich feierlich zum Christentum zu bekennen ; aber ich denke , du solltest jede Woche regelmäßig zu mir kommen , damit wir über alles das , was dich bewegt , sprechen könnten .
Vielleicht gibt es in der Heiligen Schrift Stellen , die härter sind als Stahl und härter sind als dein vorgefaßter Wille ; die könnte ich dir am Ende zeigen , und wir könnten uns freundschaftlich auseinandersetzen .
Ich will dich nicht beugen und gewaltsam dir deine Überzeugungen nehmen .
Bleibst du auch dann deines Sinnes , so will ich dir die Hand reichen und in Freundschaft von dir gehen , nicht in Haß .
Du bleibst in jedem Fall Herr in allen deinen Entschließungen .
Auch wenn du nicht zu mir kommen willst , so magst du es getrost sagen .
Selbst dazu soll dich niemand zwingen . "
Über Thomas' Züge ging ein sprachloses Erstaunen .
So hatte noch keine Seele zu ihm gesprochen ; solche Töne waren noch nicht zu seinem Herzen gedrungen .
Und dennoch bewegte ihn eine Art von Mißtrauen .
Er fühlte dunkel , wie jemand von ihm Besitz nehmen , ihn zu sich hinüberziehen und aus seiner einsamen Selbstfreiheit zerren wollte .
Dagegen lehnte er sich auf .
Der Prediger mochte fühlen , was in ihm vorging .
" Du sollst mir jetzt keine Antwort geben " , sagte er heiter , " überlege dir es ruhig und handle dann so , wie es dich treibt . "
Er reichte ihm die Rechte , und der Knabe empfand einen seltsamen Druck , der ihm stromartig durch den Körper ging .
Er entzog dem Geistlichen rasch die Hand , sah ihn von der Seite unsicher , fast furchtsam an und ging gesenkten Kopfes aus dem Zimmer. X. Tamara lag in ihren weißen Linnen und atmete die warme , weiche Luft des Sommers , die durch das offene Fenster hereinströmte .
Ihre Augen hatten den übersinnlichen , sehnsüchtigen Todesausdruck .
Ein Blutgefäß , das im rechten Auge gesprungen war und eine rötliche , feine Linie gezogen hatte , schien noch den rührenden und leidenden Ausdruck erhöhen zu wollen .
Ihr aufgelöstes Haar , in dem die funkelnden Sonnenstrahlen einen flirrenden Tanz aufführten , ergoß sich in leichten Wellen auf den weißen Kissen .
Sie fuhr mit den abgemagerten , schlanken Händen liebkosend durch die goldenen Strähnen und freute sich an ihrem Glanz und Schimmer .
Sie lag und träumte für sich und in sich hinein .
Von draußen drang plötzlich das Geräusch von Schritten in ihre Stille .
Sie richtete sich ängstlich - mühsam auf und lauschte .
Die Tür wurde von zitternden Händen aufgerissen .
Auf der Schwelle stand Thomas .
Das Gesicht der Kranken bekam etwas Hilfesuchendes und Verschüchtertes .
Sie zog unter der Decke ihre Glieder zusammen , als fröre sie ; dann sank sie erschöpft zurück und schloß beinahe ganz die Augen .
Thomas schlich an ihr Lager und sah nur einen schmalen , winzigen Streifen der hervorlugenden Pupille .
Er merkte aber , wie ihre Lider zitterten und ihre Wimpern sich bewegten , und wie sie abgezehrt mit eingefallenen Wangen dalag , auf denen ein mattes , trauriges Rot wie hingehaucht schien .
Er beugte sich zu ihr herab und küßte ihre Hand , die ihm so leicht und durchsichtig , so zart und zerbrechlich vorkam , daß sich ihm auf einmal unabweisbar die Schatten des Todes aufdrängten .
Da schlug Tamara die Lider auf und blickte ihn großäugig lächelnd an und streichelte ihn sanft .
Thomas wollte in Tränen ausbrechen ; aber vor diesem Lächeln schämte er sich seines Schmerzes , und indem er die Hände ballte , schluckte er es herunter .
" Weißt du , bei wem ich war , Tamara ? "
Sie schüttelte den Kopf .
" Beim Prediger Pauli . "
Und nun erzählte er ihr alles in erregtem Übereifer , ohne zu sehen , wie es schreckhaft über ihre Miene ging ; wie sie zuweilen zag widersprechen wollte , ohne sich doch aus ihrer Müdigkeit aufraffen zu können .
Erst als Thomas seinen Bericht geschlossen hatte , nahm er wahr , daß aus den Poren ihrer reinen , klaren Stirn Feuchtigkeit drang , daß ihre Nasenflügel bebten , daß ihre blutlosen Lippen zuckten .
" Was hast du denn , Tamara ? " , rief er entsetzt .
" Bist du böse , daß ich zu dir gekommen bin ? "
Und als sie noch immer schwieg , schluchzte er nun wirklich auf , und seine heißen Tränen fielen auf ihre Hand .
" Nicht böse sein , liebe , süße Tamara ! "
Da nahm sie seinen Kopf zwischen ihre Hände und küßte ihn .
" Und das hast du ihm alles gesagt , Thomas ? "
Er nickte .
" Du bist mir aber mutig , einem geistlichen Herrn solche Dinge ins Gesicht zu schleudern ! "
" Denke dir , Tamara , er ist nicht einen Augenblick zornig geworden .
Die Leute lieben ihn überhaupt , und in der Schule erzählen sie , daß er gar Wunderkuren macht und schon Schwerkranken geholfen hat .
Erst zuletzt habe ich Angst vor ihm gehabt .
Er kam mir so seltsam vor , wie ein Böser , der mich verwirren wollte .
- Glaubst du an Gott , Tamara ? " fragte er plötzlich ganz unvermittelt .
Sie schwieg .
" Ob du glaubst , Tamara ?
Sage mir es doch ! "
Sie sah ihn flehend an .
Da senkte er den Blick und seufzte .
Nach einer Weile :
" Soll ich zu ihm gehen , Tamara ? "
" Magst du denn nicht ? "
" Ich mag und ich mag nicht .
Ich habe Furcht vor ihm und bin neugierig .
Du mußt nämlich wissen " , setzte er gleichsam entschuldigend hinzu , " er ist nicht gewöhnlich ; er ist so ganz anders wie die Lehrer .
Kannst du es dir vorstellen , daß er " Du " zu mir gesagt und mich doch - ja , ganz gewiß - mit Respekt behandelt hat ? "
Sie sah forschend in sein Gesicht und strich ihm die widerspenstigen Haare aus der Stirn .
Aus seiner Bewegtheit und dem erregten Ton seiner Sprache erkannte sie die starke Wirkung , die der Prediger auf Thomas ausgeübt hatte .
" Er hatte eine so gute Stimme " , nahm der Knabe nachdenklich das Gespräch wieder auf , und kaum hörbar fuhr er fort : " Ich glaube , Tamara , es würde dir gut tun , wenn er an deinem Bett säße und mit dir spräche .
Was du wohl zu ihm sagen würdest !
Ich wäre gespannt darauf . "
Sie wehrte zuerst leise und furchtsam ab ; aber Thomas bekämpfte hartnäckig ihr leises Widerstreben .
Er hatte sich aus einem instinktiven Empfinden heraus , ohne daß er es klar wußte , fest an diesen Gedanken geklammert und ließ ihn nicht mehr locker .
Allerlei dunkle Vorstellungen regten sich in ihm , denen er nicht auf den Grund zu gehen wagte ; denn er fürchtete , ohne es sich einzugestehen , die rauhe Wirklichkeit .
Es war ja auch viel schöner , wenn man mit fest geschlossenen Augen in die sonnendurchzitterte Luft hängende Schlösser und Irrgärten , plätschernde Springbrunnen und stolze Freitreppen baute .
" Tu es , Tamara " , bat er von neuem und fühlte aus ihrer unentschlossenen Miene , daß er sie schon halb bezwungen hatte .
" Willst du ? "
Als schämte sie sich , flüsterte sie ihm ins Ohr : " Er wird es ja nicht zugeben . "
Thomas stutzte .
Daran hat er noch gar nicht gedacht .
Einen Augenblick wurde er verstört , und seine Züge arbeiteten unruhig .
Dann aber war er zu einem festen Entschluß gekommen , feierlich und bestimmt sagte er :
" Er wird es dir nicht verwehren , Tamara . "
Sein Ton klang ihr wie süße Musik .
Ihr Gesicht wurde strahlend .
Sie sah ihren Jungen so demütig , stolz und beglückt an wie ein kleines verliebtes Mädchen , das sein Glück noch gar nicht fassen kann .
" Komme , küße mich " , sagte sie zärtlich .
Thomas küßte sie , und ein ihm ganz fremdes Siegergefühl kam in ihn .
Er fühlte sich auf einmal so mächtig und gegen alle Widersacher gefeit .
Er hatte ganz vergessen , daß sie krank , schwach und elend dalag und empfand sie nur in ihrer feinen Schönheit .
Und wie er sie zärtlich ansah , da mischte sich in seine Stimmung etwas von jener verliebten Laune , die er für Bettina in letzter Zeit zuweilen spürte .
Er schämte sich dessen und wurde verlegen , just so wie Bettina gegenüber , und dennoch hatte er den Drang , es ihr zu sagen .
Er wandte das Gesicht von ihr , und während er blutrot wurde , flüsterte er :
" Tamara , du siehst wie eine schlanke , weiße Lilie aus ! "
Und ohne ihre Antwort abzuwarten , war er aus der Tür .
Mit erdfremden Augen blickte sie ihm nach .
Sie horchte auf das Verhallen seiner Schritte .
Als es ganz still geworden war , fuhr sie glättend über ihr weiches , wirr gewordenes Haar und schloß müde die Lider . - - -
XI.
Es ging Thomas in dieser Zeit eigentümlich .
So oft er aus der Schule kam und über Tamaras Befinden sich vergewissert hatte , drängten alle seine Wünsche zu Bettina .
Hatte er sie aber im Garten aufgespürt und sah er sie von weitem , so bog er rasch ab , um ihr nicht zu begegnen .
Er wäre gern zu ihr gegangen und hätte zu ihr gesagt : Bettina , küsse mich ; küsse mich wie damals auf der Bodenkammer ; und dann würde er sie am liebsten mit seinen starken Armen in die Höhe gehoben haben , daß ihre Locken im Winde wehten , und ihre schwarzen , lachenden Augen um Gnade bäten .
Er träumte es sich so .
Und auf dem Heimweg vom Gymnasium malte er sich alle Wonnen seiner jungen Liebe aus .
Freilich , bevor er sie noch sah , wurde er verschämt und scheu .
Wie hatte er auch in Gedanken so keck und verwegen sein wollen , sie anzurühren , oder in seine Arme zu nehmen !
Und die Vorstellung gar , jemand könnte seine Zärtlichkeit belauschen , peinigte und marterte und demütigte ihn vor sich selbst .
Seine Liebe war ein heimlich verborgener Edelstein , der schon an Glanz und Pracht verlor , wenn ihn nur ein anderer sah .
Er allein durfte sich in der Dunkelheit an seinem leuchtenden Feuer erwärmen .
So verkroch er sich , sobald Bettina in Sehweite war .
Vor jedem lauten , häßlichen Ton bewahrte er seine Neigung .
Sie wäre ihm beschmutzt gewesen , wenn jemand sie überlegen belächelt hätte .
Bettina mißverstand es , daß er sie in seiner keuschen Liebe mied .
Sie glaubte , daß er ihr Küssen in der Bodenkammer übel aufgenommen habe und ihr böse sei .
Und nun wurde auch sie scheu und verlegen .
Aber gerade dieses gegenseitige Mißverstehen und zaghafte Davonflattern brachte ihre jungen Herzen nur noch näher zusammen .
Nach dem Gespräch mit Tamara drängte es ihn mit aller Gewalt zu dem Kusinchen .
Mit ihr mußte er beraten .
Er suchte sie im Garten , und als er sie nach einer Weile entdeckte , da blieb er wie gebannt in einiger Entfernung stehen und wagte nicht näher zu treten .
Sie stand unter einem Laubengang von Akazien in einem weißen Spitzenkleidchen .
Auf ihren schwarzen Locken , die im Winde wehten , trug sie einen Kranz weißer Blumen .
Und aus ihrer Geige holte sie wilde , übermütige Weisen , und ihr schlanker Körper schien wie geschwellt vor Lust und Erregung .
Als sie Thomas erblickte , brach sie mitten im Spiele ab und sah ihn in lieblicher Verwirrung an .
Auch er brachte zuerst kein Wort hervor .
Endlich sagte er :
" Weißt du , du kommst mir wie eine Sommerfee vor .
Ich kann es mir nicht vorstellen , daß der Garten ohne dich und deine Geige unser Garten wäre .
Es kann auch gar nicht anders sein " , fuhr er seltsam erregt fort .
" Es gibt halte Märchen , die keine Märchen sind , nämlich ... " - er stockte einen Augenblick - " nämlich " , begann er von neuem und brach eine Blume ab , " das ist eine Anemone , und du bist aus ihrem Kelch herausgewachsen .
Und eigentlich müßtest du nicht Bettina , sondern Anemone heißen , denn du bist geradeso wie die - "
Er brach verwundert über sich selbst ab .
Sie aber klatschte vergnügt in die Hände und strahlte vor Freude .
" Sprich weiter " , sagte sie , " es war zu hübsch . "
Und in sich versunken lächelnd , wiederholte sie :
" Also ich bin eine Sommerfee , und einmal war ich eine Blume .
Wie schön ist das , Thomas ! "
Und von neuem legte sie die Geige an ihr Kinn , sah ihn mit verlangenden , weit geöffneten Kinderaugen an und spielte nur für ihn .
Und der Ton klang voll , weich und blühend , als sollte er hineinströmen in all die Pracht dieses Spätsommertages .
Und Bettina selbst glühte vor Leben und innerer Bewegung .
" Kann denn noch jemand so spielen wie du ? " sagte Thomas in tiefer Bewunderung , als sie geendet .
Da trat auf ihr holdes Antlitz eine rätselhafte Schwermut .
" Wenn ich einmal so geigen könnte ! " meinte sie verträumt .
" So geigen wie er !
Nein " , fuhr sie fort , und ihre Augen blitzten und funkelten wie Wildfeuer , " ich wünschte , ich könnte besser spielen als er und er müßte es selbst eingestehen .
Du weißt , ich hasse ihn .
Ich könnte ihn , glaube ich , ertrinken sehen und würde mich nicht rühren , wie er sich nicht gerührt hat , als die Mama ...
Aber " - unterbrach sie sich , und ihr Auge bekam einen verzückten Glanz - " spielen tut er , ach , du kannst es dir nicht denken ! "
Sie lachte plötzlich boshaft auf , und in ihre kindliche Miene trat ein schadenfroher , häßlicher Zug .
Sie sah , wie Thomas davon betroffen wurde .
Da sagte sie erklärend :
" Eines Tages , als ihn eine abholte , und die Mama wieder so weinte , da bin ich in sein Musikzimmer gegangen und habe ihm seine beste Geige zerschlagen , und die Scherben " fuhr sie zitternd fort - " es waren lauter Scherben , Thomas , habe ich ihm auf den Flügel gelegt .
Du " - sagte sie , und ihre Stimme schlug vor Lust und Entzücken gleichsam über - " geschrien hat er am anderen Tage , geweint !
Ich stand im Nebenzimmer und hörte alles .
Und dann habe ich leise die Tür geöffnet , mich dicht vor ihm hingestellt und gesagt :
Ich war_es .
Denn zuerst hatte er geglaubt , die arme Mama hätte es getan .
An den Haaren hat er mich gerauft , Thomas , und mit den Füßen nach mir getreten !
Und von dem Tage an hat er mich so gehaßt wie ich ihn . "
Und als sie dem Knaben nun ihr großes Geheimnis , das sie all die Zeit still für sich getragen , gebeichtet hatte , da strahlte sie vor Vergnügen , und jede ihrer Bewegungen hatte etwas Katziges und ihre Miene etwas Raubtierartiges .
" Rauf du nur und tritt mich mit Füßen , habe ich bei mir gedacht - mir schadet_es nichts , und deine Geige ist doch entzwei . "
Aber auf einmal veränderte sie ihre Haltung , und mit trauriger , leiser Stimme sagte sie , ganz in der Erinnerung verwehter Töne schwelgend : " Ach , spielen tut er wie ein ... "
Sie lief plötzlich davon , um hinter Hecken und Büschen zu verschwinden .
Thomas sah nur noch , wie der Wind ihre Locken schüttelte , und wie die weißen Blumen auf ihnen tanzten .
Als sie nach einer kleinen Weile ohne die Geige zurückkam , schien sie Thomas völlig verändert .
So ruhig und wortkarg war sie , so ernst und verschlossen .
Da setzte er sich neben sie und erzählte ihr vom Prediger und der Tamara .
Sie hörte mit gefalteten Händen gläubig und furchtsam zu .
Und als er aufgehört hatte , brachte sie in festem Tone die Worte hervor :
" An deiner Stelle würde ich nicht zu ihm gehen .
Ich täte es ganz gewiß nicht !
Sieh Mal " , fuhr sie hastig überredend fort , " er will dich bestimmt anders machen . "
" Soll ich denn nicht anders werden ? " fragte er weich .
" Nein Thomas , gerade so sollst du bleiben . "
" Er wird aber nicht zu Tamara kommen , wenn ich nicht zu ihm gehe " .
Sie überlegte ein Weilchen .
" Dann mußt du doch zu ihm gehen " , meinte sie beklommen .
" Die Tamara hat so schön ausgesehen , und seine weiche Stimme wird ihr gut tun . "
" Wird es denn der Onkel erlauben ? " fragte sie scheu .
Thomas wurde verlegen und sprang auf .
" Soll ich es ihm jetzt sagen ? "
Sie stützte die Arme auf und grübelte ein wenig .
Es war ihr so seltsam und geheimnisvoll , daß sie in einer so wichtigen Sache entscheiden sollte .
Sie fühlte sich auf einmal so klug und erwachsen wie ein großes , feines Fräulein .
Thomas' Vertrauen schmeichelte ihr .
" Frag ihn gleich " , entschloß sie sich kurz .
" Dann wissen wir es doch . "
Dieses " wir " erschreckte sie und tat ihr doch unsagbar wohl .
" Warte auf mich " , sagte Thomas und ging .
Nun saß sie allein da mit brennenden Backen und klopfendem Herzen .
Sie hielt es nicht lange so aus , sprang an den Weiher , spiegelte sich in dem dunklen Wasser , hob dann ihr weißes Kleidchen ein wenig in die Höhe und tanzte leicht beschwingt , ihre Bewegungen zuweilen auf der glatten Spiegelfläche , die still und regungslos dalag , verfolgend .
Dann beugte sie sich über den Rand und haschte nach den langstieligen Wasserrosen , ohne darauf zu achten , daß das Wasser Kleid und Füße besprengte und vereinzelte Tropfen in ihr Gesicht spritzten .
Es begann zu dunklen , und Thomas kam nicht .
Aber aus dem Grunde des Weihers tauchten ihr gespensterhafte Schatten auf , die unheimliche Worte flüsterten .
Da schrie sie auf und jagte in das Haus . - - -
XII.
Die Leute rissen die Mäuler auf über die häufigen Besuche des Predigers im Doktorhause .
Wer hätte je gedacht , daß der Pfaff und Arzt unter den Verhältnissen solche Freundschaft schließen würden !
Als Thomas damals den Vater darum gebeten , hatte der hell aufgelacht und dem Jungen die Tür gewiesen .
Aber Thomas war nicht aus dem Zimmer gegangen .
Es war das erstemal nach der Prügelszene , wo sich die beiden wieder Auge in Auge gegenüberstanden .
Als der Junge sah , daß sein Spiel verloren sein könnte , sagte er drohend :
" Vielleicht stirbt sie , und dann hast du auch ihren letzten Wunsch - "
Er hielt inne , denn das veränderte Gesicht seines Vaters erschreckte ihn .
Des Knaben Worte hatten ihn getroffen und eingeschüchtert .
Er sah auf einmal hell in die Zukunft .
Sah Tamara auf dem Totenbette ; sah alles Kommende und sah , wie Thomas von ihm Rechenschaft fordern würde .
Der war sein ernsthafter Gegner , er spürte es , und der würde mit seinen Augen ihn verfolgen .
So willigte er schließlich ein .
Bei Lungenkrankheiten gab es keine Kurpfuscherei .
Und wenn sie des geistlichen Trostes bedurfte , warum sollte er ihn ihr nehmen ?
Es kam noch etwas hinzu , das ihn willensmürbe machte .
Er fühlte sich der anderen wegen unsicher , und der Geistliche konnte daraus unter Umständen einen Strick gegen ihn drehen .
Es war in jedem Falle ratsamer , sich gut mit ihm zu stellen , und praktischer und lebensklüger war es auch .
Den Leuten wurden die Mäuler gestopft , wenn der Prediger bei ihm verkehrte .
Damit zeigte er deutlich , daß er den Geistlichen in seiner Eigenschaft als Kurpfuscher nicht ernst nahm .
So willigte er unter innerem Widerstreben ein , ohne die Folgen vorauszusehen , die aus diesem Zusammenhänge erwachsen sollten .
Als Thomas dem Prediger die Botschaft brachte , erhellte sich das ernste Gesicht , und ohne zu fragen und zu forschen , versprach er zu kommen .
Nie in seinem ganzen späteren Leben vergaß Thomas den Augenblick , wo er den Prediger in Tamaras Zimmer führte .
Er sah , wie das Gesicht der Mutter sich zart rötete ; wie der Prediger sich tief zu ihr herabbeugte , ergriffen von der mädchenhaften Anmut und Schönheit dieser kranken Frau .
Und nach der ersten Minute sprachen sie miteinander wie alte Freunde , die sich nur durch einen Zufall jahrelang nicht gesehen hatten .
Und die Augen der Tamara leuchteten in einem Glück auf , das Thomas nur in spärlichen Momenten bei ihr wahrgenommen hatte .
Die Rosen im Zimmer dufteten milder , die Strahlen der untergehenden Sonne vergoldeten die Räume bis in den letzten Winkel .
Tamaras liebliche Züge dünkten dem Jungen wie das Gesicht einer Heiligen , die für ihre Seelenreinheit mit der Gnade des Himmels gesegnet war .
Und als dann zwei weiße Kerzen in silbernen Leuchtern entzündet waren , da verwandelte sich ihm das Krankenzimmer in eine Kapelle .
Und bald kam der Prediger jeden Nachmittag zu der scheidenden Frau .
Die Mütter der Stadt , die für ihre Töchter auf ihn spekulierten , denn er war ein Witmann , ohne Anhang und Kind , hielten sich im stillen darüber auf .
Aber sie hüteten sich ängstlich , daß die bösen Reden zu seinen Ohren kamen ; denn er hatte trotz seiner Güte und Sanftmut eine überlegene Würde , die ihre Zungen zügelte .
Schon wenn die Tamara seine Nähe fühlte , wenn er schweigend an ihrem Bette saß , und sie voll Liebe ansah , war sie glücklich .
Und er selbst freute sich auf die Stunde des Tages , wo er bei ihr sein durfte .
Leise , unhörbar , strömten ihre Seelen ineinander .
Niemals kam Thomas um diese Zeit in das Zimmer .
Er ahnte , was da vorging , und wollte auch nicht für einen Augenblick die späte Süßigkeit der Mutter verkürzen .
Einmal sagte die Tamara , und um ihre Mundwinkel zuckte es dabei wie in verhaltenem Weinen :
" All mein Leben bin ich mit einer großen Sehnsucht einsam einhergegangen .
Immer habe ich im stillen gebetet , es möchte jemand kommen und seine leichten Hände auf mich legen , mich mit guten Augen ansehen und mit warmer Stimme zu mir sprechen .
Aber niemand kam ; ich fror mit meiner Jugend .
Nein " , unterbrach sie sich , " ich will nicht ungerecht sein , Thomas kam , und auch in meinem Herzen wuchsen Frühlingsblumen .
Aber " , fuhr sie demütig fort , " es war doch etwas anders , wie ich mir geträumt hatte .
Und nun kommt die ganze Erfüllung , nun , wo ich sterben muß . "
Sie zürnte und haderte nicht , sie war so dankbar , daß ein freundliches Schicksal ihr einsames Leben , gerade als es verglimmen wollte , noch einmal erwärmte .
Er hörte ihr schweigend zu und spürte ihre Leiden .
Er spürte sie doppelt , weil er wußte , daß er hier nicht helfen konnte .
So schnitten ihm ihre Worte ins Herz , während er sanft ihre Hand streichelte .
Immer hatte er die Liebe gepredigt , obwohl sein eigenes Leben lieblos gewesen war .
Nun hatte er die Frau gefunden , wie er sie sich in stillen Träumen ersonnen hatte , edel und anmutig , hingebend und keusch , zärtlich und feinsinnig .
Und er durfte sie ansehen , die einem anderen gehörte , ohne gegen das Wort sich zu versündigen .
Er konnte sie mit seinen Augen begehren und nahm sie dem anderen nicht , der sie ja nie besessen hatte .
Sie war eine Blume , die erst im Sterben blühte .
Sie wußten das beide , wenn ihre Finger sich berührten und ihre ernsten Augen sich trafen .
Sie wußten , daß sie beim Todesmahl saßen und den milden , süßen Klang der letzten Glocken hörten .
Aus dem Kelche dieser Blume blühte Liebe und Leiden .
Sie fühlten es , daß neben ihrem Glück der Gram kauerte .
Sie gestand ihm , daß sie dahingeträumt hätte , ohne recht zu glauben und ohne zu beten .
Und er antwortete ihr voller Zuversicht , daß an ihrem Glauben nicht zu mäkeln wäre , denn ihr ganzes Leben sei ein einziges Gebet voll Selbstaufopferung gewesen .
Bei solchen Worten blühten auf ihrem schönen , verfallenen Gesicht Rosen auf , und sie strahlte in demütigem Stolze .
Sie durfte nur wenig sprechen , er litt es nicht .
Aber er erzählte ihr aus seiner Welt und von seinem Glauben , der anders war , als die Leute schlechthin meinten .
Oder er las ihr Dante und Goethe vor , und dann klang ihr seine Stimme wie Sphärenmusik , so daß selbst jene Geigentöne , die sie als tiefes Vermächtnis der Jugend still in sich trug , daneben verblaßten .
Von der Liebe des Petrarca erzählte er ihr , die ewig gewesen sei , obwohl sie ohne Erfüllung blieb .
Zwei Menschen , die sich nur einmal gesehen und in diesem einen schmerz- und wonnereichen Augenblick für ihr ganzes Leben durchleuchtet worden waren .
Das ergriff sie , so daß aus ihren bangen Augen glitzernde , schwere Tränen sich lösten .
Und wie er den Weg zu Tamaras Herzen gefunden hatte , so fand er ihn zu Thomas , der ihm atemlos lauschte , wenn er ihm den Sinn der Evangelien freilegte , die Gestalt des Erlösers ihm neu erschuf .
Hier hörte es Thomas zum erstenmal , daß Christus ' Leben und Sein als ein Bekenntnis des Glaubens an die Menschheit aufzufassen sei .
Der Leidende und ans Kreuz Geschlagene , der Wissende , der die Worte gesprochen hatte : Bevor der Hahn kräht , wirst du mich dreimal verraten , hatte nie an der Menschen Güte gezweifelt .
Thomas erfuhr , daß in dem Worte :
Ich bin des Menschen Sohn , ein Hohelied auf den Menschen enthalten sei .
Denn wenn Christus des Menschen Sohn war , so mußte die Menschheit in ihrem innersten Kern milde , fruchtreich und edel sein .
Und im Zusammenhäng mit dieser Lehre war es eins der ernstesten und schönsten Symbole , daß Christus auferstand , wenn die dunkle , geheimnisvolle Mutter Erde durch Schnee und Eiskrusten zu neuem Leben erwachte .
Und von der Mutter Erde , die alles gab , weil sie geben mußte , verschwenderisch und selbstlos , kam der Prediger auf die Mütter zu sprechen , die schmerzensreichen und beladenen .
Und aus allem hörte Thomas einen Lobgesang auf die Tamara heraus .
Freilich blieb er ein skeptischer Hörer , der beängstigende Fragen stellte und traurig den Kopf schüttelte , wenn die Antwort für ihn nicht befriedigend ausfiel .
Die Rätsel und scheinbaren Widersprüche des Glaubens , sagte der Geistliche , müsse man hinnehmen .
Man dürfe nicht auf die kleinlichen Einwände des Verstandes hochmütig pochen .
Dann senkte wohl Thomas den Kopf und schwieg .
Aber eine Stimme in seinem Inneren empörte sich und ließ sich nicht beruhigen .
Und noch mehr reizte ihn die kleine Bettina durch ihren Widerspruch , wenn er ihr von seinen Stunden erzählte .
Sie lachte wie ein kleiner Kobold und wehrte sich verzweifelt gegen den lieben Gott .
Und auf alle Einflüsterungen des Knaben , in dessen weichem Gemüt gütige Lehren feine Wurzelfäden schlugen , hatte sie immer die nämliche eintönige Antwort :
" Das ist ganz gut und schön , Thomas , aber die Mama ist allezeit so elend und traurig gewesen , und ich glaube , die Tamara auch . "
Im Gespräch mit Thomas pflegte sie auch nur " die Tamara " zu sagen .
" Der liebe Gott hat nicht geholfen " , schloß sie , " ich kann nicht beten . "
Da gab es Thomas auf , sie zu überzeugen ; denn gegen ihre letzte Weisheit , deren Stachel er ja selbst tief genug empfand , wußte er keinen Einwand .
Und niemand wußte einen , nicht Tamara , nicht der Prediger .
Das war die dunkle , düstere Kluft , über die auch er niemals hinwegkam. XIII .
Es kam die Zeit der reifen Trauben .
Der Garten leuchtete in den satten , tiefen Farben des Herbstes .
Das trockene , vom Sonnenbrand gedörrte Laub fiel leise knisternd von den Bäumen ; und die roten , gelben , grünen , blauen Blätter funkelten in goldener Buntheit , wenn die warmen Strahlen sie zum letzten Abschied küßten und noch einmal durchleuchteten .
Es war die Zeit der Erfüllung .
Die Trauben reiften , Äpfel und Birnen fielen schwer und saftig von den Bäumen , und die grüne Walnuß wiegte sich wuchtig in ihrer lästigen Hülle .
Und fast schien der Garten im Herbste noch schöner als im Sommer , geheimnisvoller , dunkler und rätselschwerer .
Auf der Spiegelfläche des schwarzen Weihers lag das gefallene Laub träge da , ohne sich zu rühren , nur zuweilen wurde es von einem Windstoß hin und her bewegt .
Die Kinder irrten durch die leeren Gänge und Alleen wie gescheuchtes Wild .
Sie mieden das Haus , in dem seit einigen Tagen eine fremde Frau das Regiment führte , die am schwarzen Gürtel den großen Schlüsselbund trug und so fest und sicher auftrat , daß es unter ihren Füßen schütterte und klirrte .
Es war die Witwe , die mit Luchsaugen Keller und Kammern revidierte und mit dem faulen Leben der Mägde kurzerhand aufgeräumt hatte .
Sie sah ihnen auf die Finger , daß die Frauenzimmer schon bei ihrem Nahen zusammenschraken .
Es hatte sie eine gewisse Mühe gekostet , in das Haus zu dringen ; aber ihrer Zähigkeit konnte der Doktor nicht Widerstand leisten .
Sie hatte ihn wie die Mägde gleichermaßen am Gängelbande .
Er suchte sich zu wehren ; und als er einwendete , es ginge doch wegen der Leute nicht , daß sie bei Lebzeiten seiner Frau das Haus betrete , da hatte sie ihn mit bösen Augen angesehen und aufgelacht ; und hartnäckig bestand sie darauf .
Gerade um der Leute Willen müßte sie jetzt die Zügel in die Hand nehmen , damit - fügte sie gedämpft hinzu - es ganz natürlich aussähe , wenn sie später blieb .
Ihre voraussehende Frauenlogik , die unbeirrt auf ihr Ziel ging , machte ihn mürbe .
Und als er noch schwankte und widerstrebte , legte sie ihre drallen Arme um ihn und flüsterte ihm etwas zu .
Da schielte er zur Seite und nickte nur noch stumm .
Sie strich ihm seinen forschen Schnurrbart in die Höhe , um ihn voll auf den Mund zu küssen ; und sie küßte ihn , daß ihm schwindlig wurde .
Dieses Weibsbild verstand sich auf die Liebe , die ihm gut tat .
Sie konnte in einer Weise mit ihm knurren und böse tun , die seinen Zorn weckte , aber ihn gleichzeitig noch mehr erregte und zu ihr zog .
Sie verstand es , ihn wie einen Hund zu behandeln und dann mit ihm schön zu tun , daß er sich wieder als Herr fühlen konnte .
Sie reizte ihn bis zum äußersten , obwohl sie genau wußte , daß er in solchen Momenten , unfähig jeder ruhigen Überlegung , sich an ihr vergreifen und sie an der Gurgel packen konnte .
Dann entwand sie sich ihm angstvoll , drückte sich in den dunkelsten Winkel , und in ihren breiten Hüften zitternd , blickte sie wie ein verprügeltes Tier , das immer neue Peitschenhiebe fürchtet , zu ihm empor .
So hatte sie es durchgesetzt , daß eine Magd das Kind und das entlegene Wirtshaus besorgte , in das ohnehin selten ein Mensch kam .
Und in der Tat , man konnte es natürlich finden , daß in dem Doktorhause ein energischer Wille die gelockerten Zügel der Wirtschaft wieder in die Hände nahm und nach dem Rechten sah .
Freilich , die Tamara fürchtete sich vor der fremden Hausgenossin wie die Kinder .
Und wenn die robuste Frau in das Zimmer trat und die Schlüssel am Gürtel klapperten , so drückte sich die Kranke scheu zur Seite und stellte sich schlafend , nur um sie nicht anzusehen .
Und wenn die Witwe mit ihren gesunden , breiten Händen sie auf dem Diwan hob , um die Betten zu schütteln , dann schlugen der Tamara die Zähne aufeinander , und der Angstschweiß trat auf ihre weiße , durchsichtige Stirn .
Sie machte ein weinerliches Gesicht und wagte in ihrer Schwäche nicht , sich zu wehren .
Einmal fand sie der Prediger schluchzend und verweint in ihren Linnen , und da gestand sie es ihm .
Über das Gesicht des Geistlichen ging ein schmerzhaftes , bitteres Zucken .
Aber von diesem Tage an durfte die Witwe das Gemach der Tamara nicht mehr betreten .
Der Prediger hatte es über den Kopf des Doktors hinweg der Frau gesagt ; und mit einem schlimmen Lächeln fügte sie sich .
Der Doktor hatte sie beruhigt und ihr gut zugeredet .
Man müsse alles meiden , erklärte er , wodurch man nach außen auch nur den geringsten Anstoß erregen könnte ; und darin stimmte die Witwe mit ihm überein .
Sie war ja doch bereits die Herrin .
Sie speiste mit dem Doktor und kujonierte die Mädchen ; und des Abends , wenn alles im Hause schlief , trafen sie sich in dem finsteren Garten , und der Kies knirschte unter ihren Schritten .
In den Bäumen raschelte es unruhig , dürre Zweige und fallendes Laub knisterten und knatterten , und dazwischen hörte man noch die getragenen Laute einsamer Nachtvögel .
Eulen und Käuzchen machten den Spaziergängern die Begleitmusik , und hin und wieder schwirrte eine Fledermaus ihnen zu Häupten , und vom Weiher tönte das Gequäke der Frösche zu ihren Ohren .
Der Doktor meinte einmal , daß die Nacht und der Garten gegen ihn revoltierten .
Er mochte im Inneren den Garten der Tamara überhaupt nicht leiden .
Die Frau hatte es auch versucht , auf die Kinder einzuwirken .
Aber Thomas hatte ihr die Fäuste und die Zähne gezeigt .
Und die kleine Bettina hatte sich wie ein zum Sprunge bereites Kätzchen geduckt und gebuckelt , so daß die Frau schon die Krallen zu sehen meinte , die ihr das weiche Gesicht blutig kratzen würden .
Zwar ließ sie die Kinder nicht aus den Augen , aber sie richtete nicht das Wort an sie und unterließ es , ihnen Weisungen zu geben .
Sie wollte unter keinen Umständen mit ihnen zusammengeraten ; denn sie fürchtete die beiden wie ihre Aufpasser .
In ihrem unreinen Frauenempfinden erkannte sie noch , daß die Augen der Kinder ahnungsvoll und durchdringend sind , daß sie mit unheimlicher Schärfe bis auf den Grund dunkler Seelen zu forschen wissen .
Und hier gab es einen Punkt , wo sie auch beim Doktor versagte .
Wenn sie sich über Thomas ' Aufsässigkeit beklagte , so mied er es , ihr Antwort zu geben ; sie fühlte es heraus , daß der große , starke Mann vor dem schlanken Jungem Pein empfand und hütete sich , an der Stelle zu bohren , von der ihr Unheil und Gefahr drohte .
Die Kinder lebten nur noch im Garten .
Und am liebsten schlichen sie hinein , wenn der Mond weiße Nächte schuf , Blutbuchen und Ebereschen , Pappeln , Weiden und Zypressen in sein silbriges Licht tauchte .
Dann war das Haus ein verwunschenes Schloß , in dem böse Wesen ihren Spuk trieben , dann rumorte , dampfte und zischte es unheimlich aus dem Weiher heraus , und zwischen Gebüschen und Sträuchern , in dunklen , hohen Baumkronen verschworen sich Unholde , Truggeister und Kobolde .
Die Kinder hörten deutlich ihr unterdrücktes , teuflisches Gelächter .
Hier schütteten sie sich ihre schweren Herzen aus ; hier klagten sie mit stummen Blicken , auch wenn sie nicht sprachen .
Denn auch im Schweigen verstanden sie sich .
Und nun fühlte es auch Bettina als ein Glück , daß der Prediger täglich ins Haus kam .
Die stille Eifersucht , die sie wohl gegen ihn hegte , löste sich auf .
Sie waren beide so hilfsbedürftig und trostsuchend .
Sie glaubten es fest , daß die fremde Frau am liebsten die Tamara morden würde .
Sie redeten es sich ein und überzeugten sich gegenseitig , und eine gewisse kindliche Wollust wurde in ihnen rege , wenn sie mit heißen Köpfen und fiebernden Pulsen Rachegedanken austauschten .
Einmal kam Thomas aus der Schule mit einem geschliffenen Dolchmesser , das er einem Vagabunden abgekauft hatte .
Er zeigte es der Bettina , und die sah ihn erschreckt und verständnisvoll an .
Sie gingen Hand in Hand und sprachen kein Wort , aber in dieser wortlosen Stille flochten sich ihre Nerven ineinander , und das Pochen ihrer Herzen tönte zusammen .
Am dunklen Abend aber zog Bettina ihren Nachtkittel an , stieg aus dem Bett und schlich sich in Thomas ' Zimmer .
Der Knabe fuhr aus unruhigem Schlafe auf .
" Ich bin_es , Thomas " , flüsterte sie bebend .
" Thomas , gib mir das Messer , ich kann sonst nicht schlafen .
Und der Ofen kommt wie ein großer weißer Mann auf mich zu und sieht mich so schrecklich , so furchtbar , so drohend an . "
In dieser Nacht war es Thomas , der sie auf die Stirn küßte .
" Gehe hinaus " , sagte er weich , " ich reiche es dir durch die Tür . "
Lautlos verließ sie das Zimmer .
Draußen stand sie zähneklappernd , bis ein sehniger , schneeiger Knabenarm ihr das Messer reichte .
XIV.
Am Martinitage fiel in schweren , weißen Flocken überreich der erste Schnee .
Über die Rasenflächen und verloschenen Blumenbeete legte er sich wie ein weites Grabestuch , wie eine Hülle über alles Leben .
Die Bäume mit ihren kahlen , in Schnee eingeschichteten Zweigen starrten in die nebelige Landschaft ; und die Wolken schienen so undurchdringlich und massig in ihrer blassen , Nachternen Farblosigkeit , als ob sie ihr Leichentuch bis ins Unbegrenzte ausspannen wollten .
Der Garten sah unheimlich aus .
Die Zypressen und Pappeln ragten in ihrem neuen Gewande gleichsam noch höher in die Luft - Todesbäume in bleicher Majestät .
Der Weiher lag in all dem Weiß so schmutzig und jämmerlich da , daß er einen traurigen Anblick bot .
Die Laute der Vögel waren verstummt ; nur ob der unerwarteten Kälte kümmerlich zwitschernde Sperlinge ließen sich vernehmen .
Der Doktor hatte einen Kollegen aus der nächsten Stadt zugezogen und mit ernster Amtsmiene ein feierliches Konsilium abgehalten .
Der fremde Arzt hielt er für dringend nötig , daß Tamara den Winter im Süden zubrächte .
Der Doktor nickte bekräftigend .
Aber die Kranke wurde so verwirrt , wehrte so bestimmt und entschieden ab , und erklärte so bestimmt , sie müßte kläglich zugrunde gehen , wenn man sie aus ihren vier Pfählen reißen wollte , daß man den Entschluß aufgab .
Der Doktor machte ein betrübtes Gesicht und zog resigniert die Achseln in die Höhe .
Der Kollege drückte dem gebeugten Manne tröstend die Hand und fuhr wieder davon .
Tamara atmete erst auf , als das Rollen seines Wagens längst verklungen war .
Es ging ihr in der Folge immer schlechter .
Sie magerte zusehends und rapide ab ; ihre Hände wurden immer zarter und leichter und ihre Züge bleich und durchsichtig .
Dennoch behielt ihr Gesicht seine Lieblichkeit und bekam durch die unergründlichen , immer größer werdenden Augen einen übersinnlichen Ausdruck .
Sie kämpfte vergebens gegen ihre Müdigkeit , und wenn sie die Augen schloß und der Spitzeneinsatz den edlen schlanken Hals freiließ , so glich sie bereits einer entschlummerten Heiligen .
Nur wenn der Prediger kam , raffte sie sich gewaltsam auf , und das Lächeln , das sie dann verklärte , hatte etwas Rührendes .
Es war , als wollte sie jeden Blick , jedes Wort von ihm einschlürfen und den letzten Brosamen , den letzten Tropfen ihres kargen Liebesmales behutsam auffangen .
Er saß an ihrem Bette immer mit der nämlichen Heiterkeit und Herzensgüte .
Und jeden Tag brachte er ihr etwas , das ihm selbst lieb und teuer war .
Einmal zog er einen dünnen , goldenen Reifen aus der Tasche und steckte ihn an ihren abgezehrten Finger ; der Reifen umschlang ihn , ohne herunterzugleiten .
" Dies ist der Trauring meiner Mutter , deren Hand der Ihrigen geglichen hat - "
Bei diesen Worten strich er sich flüchtig das Haar aus der Stirn und wagte es nicht , sie anzusehen .
Sie aber nahm seine Rechte , küßte sie und ließ sie nicht mehr los .
Seitdem trug sie den Ring ; er war ihr ein Talisman , auch wenn der Geber nicht bei ihr war .
Sie liebkoste ihn und drückte ihn an ihre blutlosen , dünnen Lippen .
Durch diesen Ring fühlte sie sich ihm vereint über das irdische Leben hinaus .
In einer Dämmerstunde sagte sie zu ihm auf den Ring weisend , glücksscheu :
" Damit haben Sie sich mir gelobt für alle Ewigkeit , für unsere Ewigkeit ! "
Bei dem tief bewegten Klange ihrer Stimme verlor er die mühsam beherrschte Fassung .
Er wandte sich zur Seite , und etwas wie ein Schluchzen drang zu ihr .
Da rief sie ihn leise bei seinem Namen - " Ulrich " - und schlang die dünnen Arme , auf denen die bläulichen Adern wie auf einem edlen Gestein durchbrachen , um ihn und küßte ihn keusch .
" Weine nicht , weil ich verglimmen will .
Mir gab das Leben - " sie stockte einen Augenblick , dann wiederholte sie , vor innerer Wärme erstrahlend : " mir gab das Leben die Erfüllung .
Alles , was von Sehnsucht in mir gewachsen ist , blüht sich aus , nun , wo ich deine Hand fasse , wo ich dich bei mir weiß . "
Sie sank vor Erschöpfung zurück , und eine lange Weile war es in dem Zimmer totenstill .
Es saß da , aufgerüttelt in den Tiefen seiner Seele , er rang mit sich , und sein Glaube wurde ihm in dieser Stunde schmerzensreich .
Er hörte plötzlich das Schärfen einer Sense , er hörte , wie sie über das schwere , wogende Korn fuhr , um es vom Erdreich zu trennen .
Er blutete bei diesem innerlichen Geräusch , dessen er lange nicht Herr werden konnte .
Und dann auf einmal glaubte er weiche Tritte zu vernehmen , und Gesichter stiegen im Dunkel des Gemachs vor ihm auf .
Ihm war , als ob in langem Zuge die Mütter dem Lager seiner Dulderin sich näherten , um sie mit wehen , sanften Lauten zu rufen .
Sie trugen leichte Gewänder , und ihre traurigen Augen blickten rein und edel .
Da trat er an das Fenster und sah in den weißen Garten .
Ihre Stimme rief ihn von neuem .
" Ich lege an dein Herz das Liebste , was ich lassen muß - den Jungen , dessen Sehnsucht so wund ist wie die meine .
Lege deine Hände wie auf mich - so auf Thomas .
Und auch für die kleine Bettina mußt du etwas tun " , setzte sie zaghaft hinzu , " du mußt ihm schreiben , daß er für - "
Sie brach kraftlos ab .
" Gehe jetzt " , bat sie demütig .
Als er schon an der Tür war , rief sie ihn zurück .
" Du , küsse mich ! "
Das war der Abend , an dem seine Lippen das erste- und letztemal die ihrigen berührt hatten - noch in der nämlichen Nacht erlosch sie still wie ein karges , blaues Flämmchen , das mit seinem unruhigen Flackern um ein Kleines mit dem Tode ringt .
XV.
Am frühen Morgen trat der Doktor an Thomas ' Bett .
Der Junge hörte ihn mit weit geöffneten Augen an , die glanzlos waren .
Er brachte kein Wort hervor .
Über sein Gesicht zuckte es beständig .
Er ging barfüßig in seinem dünnen Nachthemd in das Zimmer der Tamara , das er hinter sich schloß .
Er kniete vor ihrem Lager und ließ keinen Blick von ihr .
Sie lag da in tiefem Frieden , der Tod schien ihr süßes Antlitz noch verschönt zu haben .
Er konnte sich von ihrem Anblick nicht losreißen und wagte es nicht , sie anzurühren .
Eine Flucht von Gedanken durchkreuzte sein Hirn , aber nicht einen einzigen vermochte er festzuhalten .
Seine Lippen bewegten sich unaufhörlich , und in seinen Fingerspitzen klopfte es laut und vernehmlich .
Er sah sie plötzlich mitten auf der Schneewiese am Weiher liegen , und sie war weißer als der Schnee und hatte Lilien im Haar .
Da schoß es ihm durch den Kopf , daß man sie nur in ihrem Garten zur letzten Ruhe betten dürfte .
Draußen pochte es .
Er rührte sich nicht .
Er hörte den Vater seinen Namen nennen und hielt den Atem an .
" Thomas öffne " , klang es von neuem an sein Ohr .
Da schleppte er sich mühsam zur Tür und eilte wie gehetzt durch den langen Korridor in sein Zimmer .
Die Bettina stand bitterlich weinend in einer Ecke - er sah sie nicht .
Er warf die Kleider um sich , und ohne Hut und Mantel rannte er wie ein Verfolgter durch den grauen Morgen in das Predigerhaus .
" Die Tamara ist tot " , brachte er mühsam hervor und klammerte sich frierend an den Geistlichen ; und als über dessen Züge eine fahle Blässe glitt , und dann aus den stahlgrauen Augen unaufhaltsam die Tränen drangen , da brach auch der Junge in einem Weinkrampf zusammen , der seine Starre löste .
Und von dem Leiden des Mannes ergriffen , stammelte Thomas betroffen :
" Du ... du ... du ... "
Da sahen sich die beiden mit einem Blick an , den sie nie in ihrem Leben vergaßen .
XVI.
Aus tausend Knospen brach der Mai und aus tausend Blüten der junge Frühling .
Im Garten sproßte und keimte es .
Aber weder das erste Grün der Blätter und des Rasens , noch das neugierige In- die-Sonne-Lugen der Christblumen und Ranunkeln , des violetten Krokus , der Anemonen und Narzissen , noch der Duft , der von all den Blüten und Blättern die wärmedurchzitterte Frühlingsluft tränkte , konnte die Gemüter der Kinder freudig stimmen .
Da , wo der Garten an das Haus grenzte , standen in voller Pracht die Kirschbäume .
Thomas , der sonst immer , innerlich jubelnd , die weißen , wie aus feinstem Silber getriebenen Blüten bewundert hatte und sich von diesem zarten Anblick nicht hatte losreißen können , ebensowenig wie von den samtenen , weichen Weidenkätzchen am Weiher , blickte teilnahmslos in die erwachende und erwachte Natur .
Der Garten war wie ein Paradies , in dem alles rein und keusch und unberührt nach Entfaltung und Wachstum rang .
Wo das Auge hinsah , sproßte es auf unter den verliebten Strahlen der Sonne , die kosend und schmeichlerisch die dunkle , unergründliche Mutter Erde umfing .
Und das Ohr hörte das erste Zwitschern und Tirilieren , die gedämpften Jubeltöne und leisen Lieder heimgekehrter Vogelschwärme .
Die Kinder kauerten an dem Hügel der Tamara und blickten sich traurig aus verstörten Augen an .
Aus dem Hause drang die helle , schrille Stimme der Frau , die hinter den Mägden wie der Teufel her war .
Thomas und Bettina haßten sie und zeigten es ihr mit grimmigem Trotz .
Die Frau lachte dazu mit verschränkten Armen .
Sie fühlte sich als die starke Herrin ; sie wußte , daß ihre volle Lebenskraft mit diesen zarten Geschöpfen leichtes Spiel haben würde .
Ihr Gehöft lag jetzt völlig einsam und verlassen da .
Ohne Scheu hatte sie ihr kleines Mädchen ins Haus genommen , und das frohe , lustige Geschrei des pausbäckigen , drallen Kindes brachte etwas Bewegung in die angstvolle Eintönigkeit .
Thomas und Bettina hatten das kleine Wesen , das die Ärmchen nach ihnen ausstreckte , barsch und finster von sich gewiesen .
Doch das Püppchen ließ sich nicht schrecken .
Es trippelte so liebebedürftig ihnen nach , es warb so kindlich unschuldig um ihre Gunst , daß sie sich ihm nicht entziehen konnten , so sehr sie sich auch wehrten .
Der Doktor wich Thomas ' Blicken aus , obwohl er im allgemeinen eine heitere und freie Miene zur Schau trug .
Die neue Ordnung der Dinge war ihm bequem und sagte ihm zu .
Nur die Kontrolle des Knaben störte ihn , und Bettinas forschende Hexenaugen , hinter denen er beständig Schadenfreude und Spott witterte , waren ihm lästig .
Er knurrte schon , wenn ihm das Mädchen in den Weg trat , und darin begegnete er sich vollkommen mit der Frau , die am liebsten mit der Kleinen kurzen Prozeß gemacht hätte .
Die Kinder flüchteten in den blühenden Garten und berieten ihr Schicksal .
Sie fühlten sich im Hause wie in einem finsteren Kerker und sehnten sich nach Licht und Luft .
Thomas knirschte vor verhaltener Wut , wenn ihm die Frau bei den Mahlzeiten das Essen zuteilte .
Er rührte keine Speise an , und auf sein Geheiß mußte Bettina das nämliche tun , bevor nicht die Frau gekostet hatte .
Er hielt hartnäckig an dem Verdachte fest , daß man sie am liebsten still und geräuschlos aus dem Wege räumen wollte , und Bettinas aufgeregte Phantasie bekräftigte ihn darin noch mehr .
Eines Tages teilte Thomas dem Prediger , der mit seiner Güte und Milde vergebens die Kinder zu beruhigen versucht hatte , seinen festen Entschluß mit .
Wieder stand er in dem Studierzimmer des Geistlichen , aber diesmal nicht in empörtem Widerspruch , sondern hilfe- und stützesuchend .
" Wir müssen aus dem Garten " , sagte er bitter , " der mir und Bettina gehört .
Wir müssen unter fremde Leute , weil wir in dem Hause , das mein und Bettinas Haus ist , keine Ruhe finden .
Wir müssen fort " , fuhr er hastig und sich überstürzend fort , " weil wir Angst haben , man könnte uns ein Leid antun . "
Und plötzlich wild aufschreiend , rief er :
" Das ist Gottes Gerechtigkeit , daß wir aus unserem Garten müssen - " und fast zusammenbrechend barg er das Gesicht in die Hände .
Der Prediger drückte ihn an sich und legte nur stumm seine Hand auf des Knaben weiches Haar .
" Schilt mich doch " , sagte er verzweifelt und gramvoll ( seit dem Tode der Tamara nannte er ihn du ) , " daß ich Gott lästere .
Aber du siehst es ja , du siehst es ja " , wiederholte er noch einmal , " Gott hat uns verlassen . " XVII .
Noch am nämlichen Tage sprach der Prediger mit dem Doktor .
Dann wurde ein Brief an den Vater der Bettina gesandt , und kaum eine Woche später verließen die Kinder das Haus .
Bettina schluchzte leise in sich hinein , während Thomas krampfhaft die Hände ballte , als ihre letzten , sehnsüchtigen Blicke den Garten umfingen , der in seinem neuen Glanz , in seinem Knospen und Blühen wie ein Mysterium vor ihnen lag .
Und als der davonrollende Wagen den Garten hinter sich gelassen hatte , da glaubten sie es zu fühlen , daß der Frühling von ihnen für immer geschieden sei .
Zweites Buch Sturm - Drang - Liebe I.
Die Sonne war durch Winternebel und Winterstürme gebrochen und schien lachend in siegreicher Milde über den in Schnee und Eis gehüllten Tiergarten .
Sie blinzelte über die weißen Rasen und die weißen Baumriesen hinweg ; sie spiegelte sich in den prächtigen Häusern der Tiergartenstraße , warf ihre Lichter auf Spaziergänger und auf Karossen , die in stolzem Korso aneinander vorüberfuhren .
Eine blasse Dame , um deren schlanke Glieder Zobel sich schmiegte , und deren rabenschwarzes Haar durch ein Pariser Hutmodell neuester Mode verborgen wurde , saß zurückgelehnt in den weichen Polstern ihrer dahinrollenden Chaise .
Sie sprach leise Worte zu dem verkümmerten Knaben , der an ihrer Seite hockte .
Der Junge mit dem riesengroßen Schädel , den abstehenden , schlappen Ohren und den schmalen Augen , die nur wenig geöffnet schienen , lächelte zuweilen wehleidig und matt .
So zart und gebrechlich er aussah , so alt waren seine Gesichtszüge .
Die Pupillen der blassen Dame hatten die Farbe dunkler , glanzloser Kohlen ; sie schienen verschleiert , beinahe erloschen , aber sobald der Junge lächelte , leuchteten sie auf .
Sie hüllte ihn zärtlich in Decken , damit kein Windzug ihn träfe .
Wenn sie von den Vorübergehenden , oder aus fremden Wagen heraus gegrüßt wurde , nickte sie kaum merklich und ein wenig stolz zurück .
Ihre Miene hatte etwas Müdes und Schmerzensreiches .
" Fahren Sie nach der Voßstraße 7 " , befahl sie dem Kutscher .
Der nickte , und die Pferde jagten in der angegebenen Richtung .
Die Dame schloß müde die Augen .
Der Kutscher blickte lässig in die Sonne .
Er hielt die Zügel locker in den Händen und langweilte sich offenbar .
Als der Wagen von der Königgrätzerstraße in die Voßstraße bog , raste ein Fleischerfuhrwerk so dicht an ihm vorbei , daß sie beinahe aneinander geprallt wären .
Der Fuhrmann rief dem herrschaftlichen Kutscher ein paar derbe Flüche zu .
Während der vergebens nach einem Schutzmann auslugte , scheuten seine Pferde und jagten davon .
Aus der Equipage drangen ein paar ängstliche Schreie .
Der Kutscher suchte die Zügel fester zu halten , aber die Rappen bäumten sich energisch auf ; eine unglückliche Bewegung - und ehe er sich versah , rutschte er vom Bock herunter und wurde zur Seite geschleudert .
Der Wagen raste ohne Lenker durch die einsame Straße ; vereinzelte Passanten schrien kreischend auf - jetzt geriet er hart an die Bordschwelle .
Der Junge hatte sich wütend und ungebärdig von der jungen Frau losgelöst und taumelte heraus .
In diesem Augenblick stellte sich ein Droschkenkutscher den empörten Tieren entgegen , packte das eine am Zügelgebiß , und indem er seine ganze Kraft aufbot , gelang es ihm , den Wagen zum Stehen zu bringen .
Die Dame lag halb bewußtlos da .
Ein junger , hochragender Mensch hob ihr das wimmernde Kind hinein ; sie drückte es angstvoll an sich , während sie zu dem Droschkenkutscher einige hilflose Worte stammelte und mechanisch ihr Portemonnaie zog , um ihm ein Goldstück vorsichtig zu reichen .
Der brummte ein paar Dankesworte und fuhr streichelnd über die Pferde , die erschöpft und atemlos schnaubten .
Inzwischen hatte sich ein Auflauf um das Gefährt gebildet .
Man hörte ein paar derbe Witze , und wie jeder Neuhinzukommende Aufklärung verlangte .
Die Dame war um das Kind bemüht , das kläglich jammerte und zitterte .
Sie wollte gerade an den Fremden das Wort richten , als ihr Kutscher mit verzerrtem Gesicht und blutender Stirn herantrat .
Er wollte etwas zu seiner Entschuldigung sagen , aber sie wies ihn nur verstört auf seinen Sitz .
Dann wandte sie sich mit bebender Stimme an den jungen Menschen .
" Ich bitte , kommen Sie zu uns herein , ich habe eine solche Angst , allein zu fahren ! "
Der Angeredete wurde blutrot und sprang , ohne ein Wort zu entgegnen , in den Wagen .
" Nach Hause ! "
Die Menge stob auseinander ; und unter dem immer kläglicher werdenden Weinen des Randes bewegte sich die Karosse wieder fort .
" Hast du etwas , Bubi ?
Wo tut's dir denn weh ? " fragte die Dame besorgt , und über ihr bleiches Gesicht rannen unaufhaltsam Tränen .
In den häßlichen Zügen des Jungen zuckte es bei ihren Fragen ; der Fremde betrachtete scheu die beiden Insassen .
Er fühlte sich unbehaglich .
Eine ganze Weile schien die Dame nicht die mindeste Notiz von ihm zu nehmen .
Sie war nur mit dem Kinde beschäftigt , das sich allmählich zu beruhigen begann .
Der Wagen bog in die Charlottenburger Chaussee ein .
Sie wandte sich plötzlich an den jungen Menschen , der ein schmales , edles Gesicht hatte , durchdringende , scharfe Augen und einen tiefen Leidenszug um den Mund .
" Wie freundlich , daß Sie mitgefahren sind .
Ich danke Ihnen aufrichtig . "
" Sie haben keinen Grund ! "
Sie blickte überrascht und neugierig zu ihm empor .
In seiner Stimme lag etwas Seltsames .
Auch das Kind schielte zu ihm hinüber .
Eichen- und Buchenpartien , dicht beschneit , tauchten in raschem Fluge auf , man sah noch eine lange Strecke Weges das Brandenburger Tor , auf dem der grüne Siegeswagen ganz in goldene Sonne getaucht schien .
Die Dame fror , und ihre Zähne schlugen hörbar gegeneinander .
Vor einem palastartigen Hause der Lichtenstein-Allee hielt die Equipage .
Ein Diener kam eilfertig aus dem Portal und zog eine erschreckte Grimasse .
Er nahm den Jungen in seine Arme .
Aber der hatte sich eines Besseren besonnen , entwand sich ihm - und siehe da - er stand auf den dünnen Beinchen , die im Vergleich zu dem Riesenkopf wie armselige Spargel sich ausnahmen .
Die Dame lächelte glückselig .
" Oh , bitte , wollen Sie nicht einen Moment eintreten ? "
Er suchte nach einer Ausrede und nahm eine ablehnende Haltung ein .
Da sah sie ihn herausfordernd an , daß er ihr schweigend folgte .
Unklar empfand er , daß in ihrem Wesen etwas Lockendes lag .
Die Wohnung befand sich im Hochparterre .
Man schritt durch ein elegantes Vestibül und kam in einen Salon modernsten Stils , der in den einfachen und raffinierten Formen van de Waldes eingerichtet war .
Ein zweiter Diener hatte der Dame die Sachen abgenommen .
Nun stand sie in einem englischen Kostüm , das ihren Wuchs und ihre eleganten Formen hervortreten ließ , vor ihrem Gaste .
Ihr dunkles Haar hatte sich etwas gelöst und rahmte ihre weißen Züge mit den erloschenen Augen ein .
Schmale , schneeweiße Finger tasteten auf der Tischplatte nervös hin und her .
Der junge Mensch stand unbeweglich vor ihr .
Sie bat ihn , Platz zu nehmen und einen Augenblick auf sie zu warten .
Dann eilte sie aus der Tür , um wenige Minuten später mit dem Jungen wieder zu erscheinen .
" So , Bubi , nun bedanke dich recht herzlich .
Denn gottlob " , fuhr sie fort , " sind wir mit dem bloßen Schrecken davongekommen .
Der Junge hat ein paar blaue Fleck und blutige Schrammen auf dem Schienbein , ist aber , wie Sie sich überzeugen können , sonst munter und vergnügt . "
" Wie heißt du ? " fragte der Junge .
Er verbeugte sich leicht vor der Dame , und zu ihr gewandt , entgegnete er :
" Ich heiße Thomas Druck . "
" Und mein Name ist " , erwiderte sie errötend , " Frau Bankdirektor Berg . "
Sie flüsterte dem Jungen etwas ins Ohr .
Der reichte Thomas die Hand und brachte ein paar einstudierte Worte hervor , ehe er sich aus dem Zimmer schlich .
" Es ist mein einziges Kind " , sagte sie nach längerem Schweigen .
" Sie haben mich zu wirklichem Danke verpflichtet - mich und meinen Mann " , fügte sie hinzu , " der momentan leider nicht zu Hause ist . "
Thomas lächelte verlegen - die Dame nahm es für Spott .
" Sie lachen mich aus ? "
Ihre Augen schimmerten plötzlich .
" Tat ich das ? " fragte er unsicher .
Das Gesicht der Dame verzerrte sich ein wenig wie das eines verwöhnten , ungezogenen Kindes .
Ganz unvermittelt brachte sie hervor :
" Warum verhöhnen Sie mich ? "
" Ich ?
... Ich ?
... " stammelte er , und gleichzeitig fühlte er , wie eine zwiespältige und rätselhafte Stimmung über ihn kam .
Dann entgegnete er scheu , indem er es mied , sie anzusehen :
" Wenn ich Sie verletzt habe , so bitte ich um Entschuldigung ; indessen " -
er stockte - " indessen " , wiederholte er , " Sie sind doch selbst daran schuld .
Sie überhäufen mich mit Dankesworten , die offenbar an eine falsche Adresse gerichtet sind .
Den Droschkenkutscher haben Sie abgelohnt , damit ist die Sache wohl für Sie erledigt . "
Und etwas schroff setzte er nach einer kleinen Pause hinzu : " Ich liebe derartige dramatische Szenen nicht . "
Ihr Gesicht war bei seinen Worten noch bleicher geworden .
Das erschreckte ihn ; aber in dem plötzlichen Gefühl einer drohenden Gefahr erhob er sich , nahm seinen Hut und schickte sich zum Gehen an .
Da trat sie dicht vor ihn .
" Oho " , rief sie , und ihre Stimme war erregt , " das geht denn doch nicht .
Erst nennen Sie mich eine Komödiantin , und dann wollen Sie fliehen ! "
Er schüttelte verneinend den Kopf .
" Das taten Sie . Ja , Sie taten es .
Zu einer dramatischen Szene " -
sie lachte etwas gezwungen und heiser auf - " gehört die Kulisse " - sie wies auf ihr Zimmer - " und die Schauspielerin . "
Sie verbeugte sich ernst und feierlich vor ihm .
" Übrigens , ich sehe vollkommen ein , daß ich Sie über Gebühr mit meinen Empfindungen belästigt habe ! "
Sie brach ab , als fürchtete sie , zu viel zu sagen .
Aber plötzlich änderte sie ihren Tonfall , und mit einer freimütigen Bewegung reichte sie ihm ihre Hand , die eisig kalt war , und mit dem eleganten Lächeln einer Weltdame setzte sie hinzu : " Ich will nicht mit Ihnen hadern . "
Wieder betrachtete Thomas sie forschend .
Ihre Sicherheit befremdete ihn , und die Pracht , die ihn umgab , störte ihn .
" Ich bin skeptisch gegen Gefühlsaufwallungen " , meinte er verlegen und mehr für sich .
" Und gesellschaftliche Formen , hinter denen so oft nichts steckt , sind mir geradezu unangenehm . "
" Gefühlsaufwallungen und gesellschaftliche Formen ? "
Er wurde durch den Klang ihrer Stimme betroffen .
Sie war ihm mit einem Male ganz nahe gerückt .
" Das ist oft dasselbe " , gab er zur Antwort , und jetzt lächelte er beinahe sanft .
An sein sanftes Lächeln , das ihr nicht entgangen war , klammerte sie sich fest .
" Ich sehe " , sagte sie freudig , " daß Ihr Gesicht gut sein kann . "
Dieses Wort verletzte ihn von neuem .
Sein Blick wurde finster und verschüchterte sie .
Er verwünschte sich im stillen .
Warum war er nicht wenigstens vor dem Portal des Hauses zurückgeblieben ?
Nun sah er sich den Quertreibereien einer eleganten Dame ausgesetzt , denen er nicht zu entkommen wußte , die ihn wehrlos machten trotz seines Widerstandes .
Sie mochte ahnen , was in ihm vorging , denn sie erhob sich unvermittelt .
" Ich will Sie nicht länger aufhalten ; ich fürchte mich vor Ihrem Zorn ! "
Das war nun wieder so eine Schlinge - Thomas fühlte es .
Sie legte Schlingen aus mit jedem Wort , und er war nicht fähig , sie zu zerreißen .
Ihre Stimme und ihr blutleeres Gesicht taten ihm so weh .
Er konnte es sich nicht erklären , aber dem war doch so .
Er strich sich das widerspenstige , glänzende braune Haar aus der weißen Stirn zurück und blickte sie ernst an , und ohne sich über seine Worte klar zu sein , sagte er :
" Weshalb soll ich denn zornig auf Sie sein ?
Sie ...
Sie ... frieren ja ! "
Sie hob erschreckt ihren Kopf zu ihm empor und blickte in das rote Feuer des Kamins , das dem Zimmer eine warme , wohlige Stimmung gab .
Dann zog sie die Schultern ein wenig zusammen und sah in halb neugierig , halb lauernd an .
" Nicht wahr , Sie werden wiederkommen " , bat sie im Tone eines verzogenen Kindes .
" Herr Thomas Druck , wenn Sie wirklich nicht böse sind , dann werden Sie wiederkommen . "
Ganz zerstreut setzte sie hinzu : " Ich muß Sie schon gesehen haben , ganz bestimmt ! "
Sein Gesicht bekam etwas Wundes und Verstörtes .
Aber gleich darauf wurde seine Miene weich .
Wieder nahm sie die Veränderung seiner Züge wahr .
" Wo wohnen Sie ? " fragte sie schüchtern .
Der Ton ihrer Stimme betäubte ihn .
" Luisenstraße 15 ! "
" Übrigens " , sagte sie ganz unvermittelt , " jetzt weiß ich , wo ich Sie gesehen habe .
Ich wußte , daß ich Sie schon gesehen hatte .
Es war in den Premieren des Deutschen Theaters .
Sie standen im Stehparkett .
Ist das richtig ? "
Und ohne seine Antwort abzuwarten , setzte sie rasch hinzu :
" Sie sind mir jedesmal aufgefallen ! "
" Das ist lange , lange her " , antwortete er verwirrt .
Sie reichte ihm die Hand , und eine Minute später stand er aufatmend in der frischen Natur .
Aber trotz der Kälte und des schneidenden Windes , der mittlerweile durch die Straßen pfiff und die Baumkronen schüttelte , fühlte er noch etwas wie einen schweren Druck .
Langsam schritt er dahin , den weiten Tiergarten im Rücken lassend .
Auf der Lichtenstein-Brücke blieb er stehen und blickte nachdenklich über den lang hingezogenen Kanal hinweg , auf dem im Frühling die mit Ziegelsteinen beladenen Spreekähne durch mühselige Stöße der Schiffer Vorwärtsgestakte wurden .
Es war um ihn still , und die Stille tat ihm wohl ; denn für gewöhnlich führte ihn sein Weg durch das brausende und bewegte Berlin , das mit seinem Häusermeer , mit dem Gedränge seiner Menschen , die aneinander arbeits- und erwerbswütig vorüberjagen , ihn berauschte und quälte .
Wenn er bei seinen Spaziergängen durch die Straßen in all die versorgten und verkümmerten Gesichter sah , in die das Leben so niederträchtige Striche eingemeißelt hatte , so drängten sich ihm die widersprechendsten Empfindungen auf .
Diese Männer , die ihm verarbeitet und demütig , in ihrer Lebenskraft gebrochen und wutentstellt erschienen , niedrige Knechte in der Tretmühle des Lebens , oder diese Frauen mit den wissenden Mienen , mit den eingefallenen Backen und den aufgedunsenen Leibern erregten in ihm Haß und Mitleid .
Er haßte sie , weil sie ohnmächtig waren , sich zerreiben , zermahlen und zerstören ließen ; er haßte sie , weil das brutale Leben alles Feine und Edle wie Mehltau hinweggeblasen hatte , weil sie so dumpf unter ihrer Bürde ächzten und ihre Kraft und Schönheit verloren hatten .
Und er empfand das tiefste Mitleid mit ihnen , wenn er von ihren Zügen den Gram ablas und den Jammer .
Denn seit er zu denken angefangen , hatte er nicht aufgehört , über den Gram des Volkes zu grübeln .
Er schämte sich seiner gesättigten Existenz .
Doch die frische Spannkraft seiner Jugend scheuchte die Weichheit seines Fühlens hinweg .
Auch gab es Augenblicke , wo er an der Reinheit seiner Gedanken zweifelte und sein Mitgefühl für das geknechtete Volk nur durch die eigene Verbitterung sich erklärte ; weil er selbst heimatlos und von der Scholle verjagt war , darum kümmerte er sich in freien Stunden um die Enterbten .
Er sah sich in tausend Widersprüchen befangen und erkannte es ganz deutlich , daß sein Leben und sein Mitleiden auseinandergingen , daß der Glanz seiner jungen Jahre und seine Genußempfänglichkeit ihn oft blendeten , so daß er in dem Strudel des Lebens die Wellen des Mitleids nur leise rauschen hörte .
Dann machte er sich sein ganzes Streben zum Vorwurf und empfand es als sündig und leichtfertig , daß er mit hingebendem Ernste seine naturwissenschaftlichen Studien durchführte und selbständig zu werden suchte ; daß er nach angestrengter Arbeit , bevor er zu den Freunden ging , in Theatern und Konzerten Erholung suchte .
Den dumpfen Stimmen seines Gewissens stellte er die Frage entgegen :
Warum mißhandelt ihr meine Jugend und Empfänglichkeit ?
Ich führe nicht das Lodderleben der anderen , warum mißgönnt ihr mir meinen kargen Frühling .
Viele der Kameraden , die er um sich sah , lebten sorgenlos dahin , ohne Skrupel und Gedanken .
Sie würden ihn ausgelacht haben , wenn sie in sein Innenleben hätten blicken können .
Was half ihm das ?
Er war so , wie er war , und kam über die einsamen Stunden des Nachdenkens , in denen er sich selbst kasteite , nicht hinweg .
Lange hatte er hier völlig allein gelebt , bis er einen Kreis seltsamer Menschen gefunden , mit denen er häufig zusammenkam .
Sein Alleinsein hatte die Bitterkeit in ihm noch geschürt .
Die Stadt , das Haus und den Garten der Kindheit hatte er nicht mehr gesehen .
Der Vater hatte bald die Witwe geheiratet , und der Sohn hatte jeden Zusammenhäng mit ihm verloren .
Sie sahen sich nicht und hörten so gut wie nichts voneinander .
Nur mit dem Prediger hatte er Fühlung .
Ihm schüttete er sein leidenschaftliches Herz aus und wartete hungernd auf die Tröstungen , die aus der Heimat kamen .
Und dann gab es noch eine Seele , mit der er zusammenhing - Bettina .
Aber die war weit weg .
Sie studierte am Pariser Konservatorium und schrieb ihm bunte , krause Briefe in kleinen Hieroglyphen , deren Sinn oft noch schwieriger als ihr Wortlaut zu entziffern war .
Aber aus allem klang ein Ehrgeiz heraus , der ihn schreckte und auch mit Unwillen gegen sie erfüllte .
Sie schrieb beständig von ihrer Kunst und von dem , was sie werden wollte .
Dazwischen freilich kindlich unbeholfene , liebe Worte für ihn .
Aber doch nur ganz gedämpft und nebenbei , wie eine Sache , die sie eigentlich nicht recht ernst nahm , und die sie sich mehr zu einer Art von Erinnerungssport gemacht hatte .
Es war nicht mehr die Bettina der Kindheit .
Deren Bild war verblaßt , so daß er es kaum noch wahrzunehmen glaubte .
Vor ihm tauchte eine andere auf , die ihm zuweilen kindisch und eng erschien , über die er hinausgewachsen war , und die er wohl kaum begriff .
Er fühlte den Unterschied der Jahre und der Lebenserfahrung .
Er stand im zweiundzwanzigsten Lebensjahre , während Bettina in das sechzehnte schritt .
Als er jetzt in das dunkle Wasser des Kanals blickte , da fiel ihm der Weiher im Garten ein und dicht am Weiher das Stück Wiesenland , wo er so oft mit geschlossenen Lidern die heißen Strahlen der Sonne aufgefangen , oder geraden Auges in sie hineinzublicken versucht hatte , und wie er dann plötzlich aufschrak , wenn er die Tamara mit ihren leisen Schritten kommen hörte , oder wenn Bettina sich neben ihn kauerte und behutsam und vorsichtig seine Hand ergriff .
Und nun lag das alles weit zurück ; neue Bilder stiegen vor ihm auf , trieben ihn zum Sturmschritt , oder lähmten ihn .
Er schlug den Kragen seines Mantels hoch und raffte sich auf .
Er wollte nicht in Erinnerungen aufgehen und weichlich werden .
Rasch schritt er fürbass , den Kanal entlang in der Richtung der Gedächtniskirche .
Das Haus in der Lichtenstein-Allee und seine Herrin beschäftigten ihn und ließen ihn nicht mehr los .
Was die Freunde sagen würden , wenn sie von seinem Abenteuer wüßten !
Aber sie würden nichts erfahren ; denn schon morgen , nein , schon jetzt war das Heute für ihn versunken .
Bei diesen Gedanken wurde er rot wie ein Schuljunge .
Er lachte scheu in sich hinein .
Ein paar trübe Vorstellungen gingen ihm durch den Kopf und peinigten ihn .
Er griff in die Taschen des langen schwarzen Mantels , der gut zu ihm paßte , und holte einen Tabaksbeutel und eine kurze , englische Pfeife hervor .
Er stopfte sie rasch , entzündete sie und blies in kurzen Stößen den Rauch in die kalte Luft .
Auf einmal fuhr er zusammen .
Er fühlte auf seiner Schulter einen leichten Schlag und drehte sich verwundert um .
Vor ihm stand ein schmächtiger , kleiner Mensch mit verhungertem Aussehen , einer niedrigen , aber ausdrucksvollen Stirn , trüben Augen und einer auffallend dünnen Nase , unter der ein schwacher rötlicher Schnurrbart sproßte .
" Ah , Heinsius , wo kommen Sie her ? "
Er schüttelte dem anderen die Hand .
Der schrie förmlich auf .
" Um Himmels Willen erdrücken Sie mich nicht !
Wo ich herkomme ?
Frage !
Wie üblich vom Frondienst . "
" Also aus der Schule ! "
" Stimmt ! "
Thomas blieb stehen .
" Eigentlich begreife ich nicht , daß Sie über Ihren Beruf so stöhnen . "
Heinsius betrachtete ihn mitleidig .
" Begreifen Sie nicht ?
Finde ich ausgezeichnet !
Begreife ich nicht ! "
Er stieß die Worte verbittert und gehässig hervor .
Thomas blickte flüchtig auf .
" Nein , wirklich nicht !
Schließlich ist doch das Lehren keine Kleinigkeit !
Sie können doch den Kindern etwas geben ! "
Der Volksschullehrer sah Thomas mit einer niederträchtigen Überlegenheit an .
" Glauben Sie wirklich ?
Hm .
Sie sind ja ein Optimist ! "
" Bin ich ! "
Sie gingen schweigend nebeneinander her .
" Hören Sie , mein Lieber " , nahm der Volksschullehrer das Wort wieder auf , " dumpfen Schädeln Heimatkunde und Bibel einzutrichtern - und zwar so einzutrichtern , daß der Schulinspektor zufrieden ist und man nicht den Laufpaß bekommt - na , reden wir darüber nicht .
Wenn ich zum Pferdestehlen Talent hätte , ich wüßte , was ich täte !
Und wenn ich nicht verhungern müßte - ich ließe heute lieber denn morgen den Karren im Dreck stehen .
Ich - "
Ein Hustenanfall schnitt ihm das Ende ab .
Sein kümmerliches Gesicht nahm dabei eine stumpfe Röte an , und Thomas betrachtete verlegen die armselige Gestalt .
Als der Krampf vorüber war , sagte der Volksschullehrer :
" Wissen Sie , was Sie jetzt gedacht haben ? "
Thomas zuckte mit den Achseln .
" Sie haben gedacht :
wie lange wird es diese Jammerfigur noch machen ?
Bitte , das haben Sie gedacht !
... Ich bin für die Religion der Freude und für das Leben , statt dessen sehe ich schlaffe und verwelkte Körper mit dumpfen Hirnen , die ich malträtieren muß .
Ich möchte mich täglich und stündlich gegen die Gesellschaft auflehnen und empören , und statt dessen soll ich Katzbuckel und Bücklinge vor dem Rektor und Schulinspektor machen .
Ich möchte genießen , und statt dessen hungere ich .
Ich möchte leben , und statt dessen sieche ich dem Sterben entgegen .
Ich möchte " , schloß er kaum hörbar , " etwas Bestimmtes arbeiten , aber wenn ich aus meinem Kerker komme , ist mir der Kopf wie mit Blei gefüllt , und der ganze Körper schmerzt mich . "
Blutige Flecken tauchten auf seinen Backenknochen auf , und in seinen Augen flackerte es unruhig .
" Verzeihen Sie , daß ich Ihnen mein Lamento aufgezwungen habe .
Es war aber gerade heute so viel Not über mich gekommen , daß ich zu ersticken drohte .
In solcher Stimmung pflegt man redselig zu werden . "
Und ohne eine Antwort abzuwarten , sprang er mit einem behenden Satz auf einen gerade vorüberfahrenden Pferdebahnwagen und nickte ihm noch flüchtig von ferne zu .
Hm , dachte Thomas , das ist auch so ein Schinderdasein , dieses von Bitterkeit zerfressene Leben in einem so schwachen Körper !
Und er erinnerte sich , daß man Heinsius im Kreise der Freunde die Totenmaske nannte - daß er sich selbst einmal in einer aufgeräumten Galgenhumorstimmung den Namen gegeben hatte .
Wie eine Totenmaske ging er durch das Leben , das für ihn keine Hoffnung und keine Früchte trug , das nur blutende Wunden zeigte und in jeder Nacht blutige Tränen brachte .
Thomas fühlte sich so eng zusammengeschnürt und von all dem Jammer gepackt , daß ihm seine Jugend und körperliche Kraft , sein Lebensdrang und seine Sorgenfreiheit wie ein Brandmal dünkten , dessen er sich schämte .
Seine Stirn zog sich in unendlich viele Falten , und sein Auge bekam einen suchenden , tastenden , unsicheren Ausdruck .
Eine Reihe von Vorstellungen arbeitete in ihm und verursachte ihm stechende Schmerzen .
Er blickte verstört auf .
Wagengerassel und Menschengewühl rissen ihn aus seinen Grübeleien .
Er stand in einem Brennpunkt des brausend bewegten Großstadtlebens , denn ohne des Weges zu achten , war er an die Kreuzung der Bülow- und Potsdamerstraße gekommen , wo ein betäubender Lärm ihn umtoste .
Pferdebahnen , elektrische Wagen , Omnibusse , Droschken , Equipagen , Lastfuhrwerke und dazwischen dunkle Schwärme von Menschen , wie rastlose Ameisen sich fortbewegend , elegante Gestalten und zerlumpte Tagelöhner , glänzende Uniformen , Kommis und kleine Mädchen , die in die Geschäfte eilten , Schutzleute , die gravitätisch auf und nieder schritten , alles huschte , tanzte , jagte , sauste in buntem , wirrem Durcheinander , wie ein gauklerisches Schattenspiel am lichten Tage mit hexenhafter Geschwindigkeit an ihm vorüber .
Er sog mit allen Poren diesen Duft des Großstadtlebens ein und fühlte sich befreit und leicht .
Und dazwischen tauchte in unbestimmten Linien , fast wie in dämmerigen Nebel gehüllt , das Bild einer blassen Dame auf. II .
Es war acht Uhr abends .
Aus dem großen Universitätsgebäude unter den Linden , das so frei und stolz daliegt , strömte eine Anzahl von Studenten aus den letzten Kollegien auf die Straße .
Unter ihnen befand sich Thomas Druck , der in seinen freien , von der Medizin nicht besetzten Stunden nationalökonomische Vorlesungen hörte .
Er kam aus einem Kolleg des Professors Wagner , das über die Arbeiterfrage gehandelt hatte .
Er war müde und abgespannt .
Er warf einen flüchtigen Blick auf die marmornen Statuen der beiden Humboldt , die als Schutzhelm der Geistesfreiheit vor der Universität gleichsam Posten stehen .
Langsam und gemächlich schlenderte er dann dahin .
Vor den Auslagen mancher Fenster verweilte er und betrachtete sie zerstreut .
Er hatte bald die Friedrichstraße erreicht , und von da ab beschleunigte er seine Schritte .
An der Weidendammer Brücke machte er einen Augenblick halte und sog den frischen Geruch der aufgestapelten Äpfel ein , die in den Spreekähnen verladen waren .
Und als er längst hinter der Brücke war , hatte er noch diesen Duft in der Nase und freute sich an dem sinnlichen Behagen , das ihn dabei durchströmte .
Er bog in eine Seitengasse ein und nun führte ihn der Weg durch schmale Straßen .
Vor einem verräucherten , alten Hause blieb er stehen und trat in den engen Flur , der durch eine schmutzige , übelriechende Petroleumlampe dürftig erhellt war .
Er schritt über den Hof bis zum Treppenhaus und stieg die Stufen empor , die schief und abgetreten waren .
Ganz oben im vierten Stock , der unter dem Dache lag , schöpfte er Atem .
An der Tür war ein kleines Messingschild befestigt , auf dem stand : Brose , Maler .
Von drinnen hörte er laute Stimmen .
Er pochte mehrere Male , bis ihm von einer großen , vierschrötigen Frau geöffnet wurde , die auf den ersten Anblick einen geradezu grotesken Eindruck hervorrief .
Zunächst fiel einem die unmäßig entwickelte Nase auf , die das ganze Gesicht zu beherrschen schien .
Unter ihr sproßte etwas , das einem schon stark im Werden begriffenen Schnurrbart verzweifelt ähnlich sah .
Dabei hatte sie dicke Lippen , eine niedrige Stirn , unter der kleine Äuglein energisch und gutmütig zugleich in die Welt blickten .
Vor allem aber wirkte sie ungeheuer schwer und massig durch ihre breiten Hüften .
Sie hatte unbedingt etwas Imposantes .
" Guten Abend " , sagte Thomas , und die dicke Frau nahm seine Hand , die sie mit einem so nachhaltigen Drucke festhielt , daß Thomas sie ihr lachend entwinden mußte .
Die Händedrücke der Liers hatten in dem Kreise eine gewisse Berühmtheit .
" Sie kommen aber 'n bißchen spät " , meinte sie und half ihm die Sachen ablegen .
" Die anderen sind fast alle schon da . "
" Wie geht es denn ? " fragte er statt aller Antwort , während er seinen Mantel unterzubringen suchte .
" Schlecht ! "
Thomas sah sie mit einem verschmitzten Lächeln an .
" Lachen Sie nur nicht " , sagte sie in einem Ton , der halb komisch , halb unwillig klang .
" Er hat jetzt sein Ideal erreicht - er schläft nur noch ! "
" Da kann man ja gratulieren ! "
Sie stemmte die Arme in ihre breiten Hüften und sah ihn verdächtig an .
" Sie wollen sich doch nicht über meinen Mann lustig machen ? " fragte sie , und aus ihrem Ton klang eine gewisse Gereiztheit wider .
Thomas lachte hell auf .
" Fällt mir nicht im Traum ein .
Es ist doch eine bekannte Sache , daß die Dichter gern schlafen . "
" Uzen Sie mich ? "
" Ich denke gar nicht daran .
Aber Sie werden mir zugeben , daß der Herr es denen , wenn irgend welchen , im Schlafe gibt - also muß er schlafen . "
Sie erwiderte trocken :
" Allen Respekt vor Ihnen - aber das Dichten stellen Sie sich doch ein wenig leicht vor .
Sie dürfen mir es schon glauben " , setzte sie ernsthaft hinzu .
Die Tür des großen Zimmers wurde aufgerissen .
" Wo bleibt er denn ? " rief eine Stimme heraus .
Nun traten sie in einen saalförmigen Raum ein , der Oberlicht hatte und offenbar Atelier war .
Zunächst konnte man das nicht ohne weiteres konstatieren , denn Wolken von Rauch und Qualm drangen einem entgegen .
In einer Ecke befand sich ein riesiger eiserner Ofen , der überheizt war und eine furchtbare Glut ausströmte .
Die im Zimmer waren aber so in Bewegung und Erregung , daß sie davon nichts zu merken schienen .
Eine große Hängelampe verbreitete ein zweifelhaftes Licht , das durch ein paar Kerzen verstärkt wurde .
An den Seiten standen Staffeleien , an den Wänden hingen Skizzen und Bilder .
Ganz verborgen war ein niedriges , altmodisches Klavier .
War der Blick erst durch den Qualm und Rauch gedrungen , so entdeckte er eine lang aufgestellte Tafel , die sich durch den korridormäßigen Raum zog und von Stühlen umgeben war .
" Kommen Sie Mal " , sagte die Hebamme und faßte Thomas energisch am Arm .
Dann schleppte sie ihn vor einen jungen Mann mit außerordentlich sympathischen Gesichtszügen , , die etwas Weiches , Edles , Freundliches und Schläfriges hatten .
Seine Gestalt war jünglinghaft und biegsam , sein Auge braun und groß , bald von melancholischer Düsterheit , bald sanft und kindlich .
Der etwas breite , sinnliche Mund war von einem zarten Flaum beschattet .
Er hatte prachtvolle , gesunde Zähne und volles schwarzes Haar , das vor Jugend glänzte .
Er streckte mit einer anmutigen Bewegung Thomas die Hand entgegen und lächelte seine riesige Frau gutmütig an .
Er war mindestens zwölf Jahre jünger als sie und konnte kaum das vierundzwanzigste Jahr überschritten haben .
" Weißt du , was er sagt ? " rief sie und wies auf Thomas hin - " er sagt , daß das Schlafen schädlich ist , und er muß es ja wissen , da er Medizin studiert .
Und die Ärzte , mit denen ich zusammenkomme , meinen es auch . "
Der junge Mann lächelte wieder .
" Das ist ein so schwieriger Punkt " , entgegnete er .
Und etwas maliziös fügte er hinzu : " Darüber hat man schon sehr viel nachgedacht , mein Kind ! "
Dieses Wort wirkte auf sie offenbar beruhigend .
Immer wenn er " Mein Kind " zu ihr sagte , fühlte sie sich besiegt .
" Wenn du bloß schlafen würdest , ginge es ja noch .
Aber Sie machen sich gar keinen Begriff " wandte sie sich an Thomas , " wo der überall seine Nächte studienhalber zubringt !
Am Tage ist er hektisch und in der Nacht elektrisch " , schloß sie , und nun lachte sie wirklich ein wenig bitter auf .
Der junge Mann machte einen schüchternen Versuch , seine Arme um ihre breiten Hüften zu legen - das mußte natürlich mißlingen , aber schon die Absicht versöhnte sie .
Sie gab ihm einen schmatzenden Kuß und mischte sich unter die anderen .
Diese Ehe war unter besonderen Bedingungen zusammengekommen .
Die Liers war im Armenbezirk des Nordens seit mehreren Jahren Hebamme , und er hatte bei ihr in seiner Studentenzeit als Aftermieter gewohnt .
Sie hatte ihn wie ein Kind verhätschelt und schließlich , als er von der Bücherei und den Studien zum Dichten überging , eines schönen Tages geheiratet .
Miete hatte sie nie einen Pfennig von ihm erhalten , und auch für seine leibliche Kost hatte sie all die Jahre gesorgt .
Da hielt sie es für praktischer , wenn sie ihn kurzerhand zu ihrem Eheherrn machte .
Sie liebte ihn mit einer kräftigen , gutmütigen und zornigen Liebe zugleich .
Niemand durfte gegen ihn etwas sagen .
Aber sie selbst nahm ihn zuweilen heftig ins Gebet .
Und die Eingeweihten wollten wissen , daß es Dinge gab , wo ihre Liebe in solche Heftigkeit umschlug , daß der Dichter Liers die Gewalt ihrer festen und starken Hände zu spüren bekam .
Denn diese Hände waren ein Unikum .
In der ganzen Umgegend sprach man mit Furcht und Hochachtung von ihnen .
Es war im Viertel eine bekannte Geschichte , daß sie bei der Niederkunft einer elenden , armen Frau den Gatten , der ein Tagedieb war und sich aufspielte , buchstäblich verhauen hatte .
Vor ihrem Manne hatte sie an sich einen großen Respekt , wie ihr überhaupt geistige Dinge durchaus imponierten und sie selbst denkscharf und mit einem gesunden Mutterwitz begabt war .
Dazu hatte sie viel im Leben gesehen und beobachtet und wußte aus ihrer Praxis launig zu erzählen .
Niemand in dem Kreise hatte sich über die Heirat gewundert , oder sie gar übel genommen .
Man betrachtete vielmehr die Geschichte als einen Glücksfall für den Dichter , den sie alle gern hatten wegen seines Leichtsinns , seiner Schnurren und seiner merkwürdigen Lebensauffassung , die in einem Hasse gegen alle Arbeit gipfelte .
Und weil er nicht nur theoretisch , sondern tatsächlich seine Grundsätze durchführte , und zu keiner regelrechten Beschäftigung und Arbeitsweise zu bringen war , respektierte man ihn .
Man sah in ihm einen Menschen von Prinzipien , der es für selbstverständlich hielt , daß ihn diese gutmütige Person versorgte und bemutterte .
Freilich , mit dem Bemuttern hatte es nach einer bestimmten Richtung hin gewisse Schwierigkeiten , und gerade daraus entwickelten sich die ernsthaften Konflikte in ihrem Zusammenleben .
Eine Klingel ertönte .
Das Gewirr und Gebrodel der Stimmen hörte allmählich auf , und die Anwesenden setzten sich um die lange Tafel .
Derjenige , der das Zeichen zum Schweigen gegeben hatte , war der Hausherr , eine muskulöse Gestalt , schlank und von feinem Gliederbau mit einem glattrasierten Gesicht , das einem Römerkopfe glich .
Er trug das Haar kurz geschoren , und auf seinen Zügen lag etwas Versonnenes und Grüblerisches , aber vor allem unbeschreibliche Güte .
Er war salopp gekleidet und trug weiße , wollene Wäsche , die einen famos geformten , edlen Hals frei sehen ließ .
Er mochte in der Mitte der Dreißig stehen .
Seine Frau saß neben ihm .
Sie trug volles , rotes Haar und war über den ersten Frühling hinaus .
Sie hatte ernste und durchfurchte Züge , die etwas Strenges , Ehernes und beinahe Kriegerisches zeigten und ihrem Alter nach schwer zu bestimmen waren .
Ihr Aussehen war in der Regel finster und zeigte die Spuren eines harten Lebenskampfes .
Aber sobald sie die Augen auf ihren Mann richtete , kam in ihr Gesicht beinahe etwas Schwärmerisches , so daß es wunderbar verklärt und anziehend wurde .
Der Maler begrüßte die Anwesenden , und auf die Hängelampe deutend , sagte er :
" Das Nachtlicht hat zu glühen begonnen , und wenn es auch nur einen spärlichen Schein von sich gibt , so leuchtet es doch wie eine gütige Sonne in unsere Dunkelheit und wirft die ersten Schimmer der Freude und Helle auf die finsteren Wege , die uns noch von der Zukunft absperren .
So begrüße ich denn euch , Freunde , die ihr wieder im Nachtlicht zusammengekommen seid , um hier gemeinsam zu denken und zu empfinden .
Nunmehr erteile ich zum Verlesen des Protokolls Herrn Blinsky das Wort . "
Am untersten Ende der Tafel erhob sich ein kleiner Herr mit dünnem Haarwuchs und einer Utopistenstirn .
Der Kopf war von einem verhältnismäßig großen grauen Vollbart eingerahmt ; in dem charakteristischen Gesicht fielen sofort die hellen Augen auf , die aus den Höhlen hervorzuquellen schienen .
Man kam beim Anblick dieser Augen , die hinter goldenen Brillengläsern ruhten , sofort auf den Verdacht , daß ihr Besitzer an der Basedowschen Krankheit litt .
Mit einer Stimme , die eine ostpreußische Tonfärbung hatte , las er : " Protokoll der letzten Sitzung der Teilnehmer am Nachtlicht :
Lissauer spricht über Zionismus .
Er legt die Bestrebungen des Zionbundes dar und sucht nachzuweisen , daß die modernen Juden , vergewaltigt und unterdrückt , als Fremde in fremden Staatswesen leben .
Nur der engste Aneinanderschloß mit dem Ideal einer in sich beruhenden und nur auf sich stehenden Gemeinschaft bedeutet für den modernen Juden die Befreiung aus Wirrsal und Ketten .
An die Ausführungen des Vortragenden knüpft sich eine lebhafte Debatte , indem die Stellung des Judentums im Völkerkonzert beleuchtet wird .
Die Ideen des Vortragenden werden scharf zurückgewiesen und von einigen Rednern als lächerlich gekennzeichnet .
Es wird geltend gemacht , daß die Kulturaufgabe der Juden gerade durch ihr Zersplittertsein eine solche Bedeutung bekam .
Es wird vor allen Dingen darauf hingewiesen , daß in unserem Kreise , wo die Entstaatlichung und Heranbildung der freien Persönlichkeit Lebensziel und Lebensarbeit ist , derartige Sonderbestrebungen , die mehr aus einem irregeleiteten Gefühl als aus einer tiefen Erkenntnis entspringen , keinen Boden haben .
Nicht das unterdrückte Judentum , sondern der unterdrückte und zur Freiheit sich erhebende Mensch nehme unsere Anteilnahme in Anspruch .
Gegenüber dieser Aufgabe sei die Judenfrage für unseren Kreis von keiner Bedeutung .
Am Schlusse der Diskussion schränkt Lissauer seine Thesen ein . "
" Hat jemand gegen das Protokoll etwas einzuwenden ? " fragte Brose .
Ein kleiner , buckliger Mann mit einer mächtig ausgearbeiteten Stirn und fanatisch glühenden Augen und einem dünnen , schwarzen Schnurrbart unter der semitisch gebogenen Nase und pechschwarzen Haaren , die glatt zurückgekämmt waren , erhob sich .
Es war Lissauer .
" Ich möchte nur bemerken " , sagte er , " daß ich in meinem Vortrage nicht nur eigene Anschauungen , sondern mehr noch ein Referat über die Ideen anderer gegeben habe , ohne mir damit so vollkommen zu identifizieren wie das Protokoll voraussetzt . "
" er schnappt ab ! " rief seine Frau , eine magere Person , die neben ihm saß .
Sie war auffallend häßlich , ohne doch abstoßend zu wirken .
Sie hatte einen flachen Brustkasten , ganz dünnes , schmutzigbraunes Haar , das in einen armseligen Knoten auslief , eng zusammenstehende Augen und aufgeworfene Lippen .
Auf der rechten Backe zeigte sich ein großes Muttermal , das wie ein roter Brandflecken aussah .
Aber ihre braunen Augen hatten Intelligenz und Leuchtwärme .
Lissauers waren russische Juden , die nach Berlin übergesiedelt waren und hohe Protektion gefunden hatten .
Die Frau tat nichts Lieberes , als ihre Geschichte zu erzählen , die immer mit einem Hymnus auf ihren Mann endigte .
Professor der Medizin hätte er werden können , wenn er nur gewollt hätte !
Als armer Student hatte er im Moskauer Krankenhause gelegen und dem Chefarzt eines Tages eine Theorie zur Behandlung des Karzinoms überreicht - die Augen hätten die Professoren aufgerissen !
Er sollte sich taufen lassen , man würde für seine Ausbildung sorgen und ihm eine glänzende Karriere sicheren .
Sie schwelgte in Erinnerungen .
Ihre Augen funkelten , und mit freudigem Frauenstolz berichtete sie weiter , wie er noch siech und elend das Krankenhaus verlassen habe , um keinerlei Versuchung auf sich wirken zu lassen .
Dann hatte er sie kennengelernt , die sich in seinen Buckel und seine hohe Stirn verliebte .
Er aber hätte sie auf ihr brandiges Muttermal geküßt , und so seien sie Mann und Weib geworden .
Lissauer hatte die Medizin an den Nagel gehängt , um freier Schriftsteller zu werden .
In ihm , dem verkümmerten Menschen , wucherte verletztes Ehrgefühl und der ganze Groll des mißhandelten und getretenen Juden .
Er haßte bitter alles Bestehende - er haßte diese emporgekommenen westeuropäischen Juden , die in ihrem Wohlleben und Schlemmerdasein die Sache der Glaubensgenossen verkuppelt hatten .
Der Gedanke an Zion erfüllte ihn mit Ernst und Feierlichkeit .
Sein Denken ging nicht darüber hinaus .
Bevor er geheiratet hatte , war er nur von der einen Idee erfüllt , die große jüdische Kolonie ins Leben zu rufen .
Mit dem leidenschaftlichen Temperament eines Menschen unseres Jahrhunderts , der alles feste Land hinweggleiten sieht , hatte er sich an diesen Plan geklammert .
Es war der letzte Posten , den es zu verteidigen gab .
Er verbiß sich in sein Zionistentum , je mehr er dunkel zu ahnen begann , daß die Verachtung gegen das Wesen des Staates überhaupt von ihm Besitz genommen hatte .
Wenn die Lissauer auf ihren Mann zu sprechen kam , so hob sie sich das Beste für den Schluß auf .
Und dieses Beste bestand darin , auf welche Art sie aus dem Elend herausgekommen waren .
Sie hatte das Genie in den Fingern und Benjamin Lissauer hinter der Stirn , und so hatten sie sich nicht nur körperlich , sondern auch mit ihren Intelligenzen vermählt .
Benjamin hatte ihr das Modell zu dem Korsett gezeichnet , wie es eben nur ein gelehrter Doktor kann , der die Anatomie des Körpers kennt .
Dieses Wort " Anatomie " sprach sie jedesmal mit gespreizter Betonung aus .
Und jetzt hatte sie in der Wilhelmstraße ihr Atelier , wohin die feinen Damen strömten .
Die Dicken wurden dünn und verloren ihre Hüften , und diejenigen , die keine Brüste hatten , erschienen in ihrem Kunstwerk voll und stattlich .
Sie alle bekamen bei ihr Figur - das hatte sich windschnell in der Stadt verbreitet .
Jeder Käuferin teilte sie beim ersten Besuch mit , daß zu ihren Kundinnen die Prinzessin von Hohenlohe zählte .
Ihre Korsetts waren unzerreißbar - aber die Prinzessin bestellte alle sechs Wochen ein neues .
Die Prinzessin konnte es sich eben leisten .
Seit sie die Hohenlohe zu ihren Kundinnen zählte , waren die Korsetts um ein Erkleckliches teurer geworden .
Sie schüttelte sich vor Lachen , wenn sie die Geheimnisse der eitlen Damen zum besten gab .
" Sie glauben an mir , wie an das Evangelium . "
Und während sie ihre Korsetts schneiderte , konnte ihr Mann schriftstellern und an seinem Ruhm arbeiten .
Sie sah mit einem heiligen Respekt zu ihm auf ; und inmitten ihres Redeschwalls verstummte sie , wenn einer seiner strengen Blicke sie traf .
Denn dieser kleine , bucklige Fanatiker war der Herr im Hause , der die Zügel in starken Händen hielt .
Da niemand mehr zum Protokoll das Wort verlangte , eröffnete der Maler die Tagesordnung .
Das Thema lautete : " Freie Diskussion über die religiösen Empfindungen im Menschen . "
Man suchte dem Begriff des religiösen Empfindens zuerst historisch beizukommen .
Der Volksschullehrer Heinsius wies auf die verschiedenen Zeiten hin .
Für ihn war Religion eine Ausgeburt menschlicher Schwäche , Feigheit und Niederträchtigkeit .
Er liebte die starken Ausdrücke , und in abgerissenen Sätzen , die zuweilen von einem trockenen , kurzen Husten unterbrochen wurden , erklärte er , daß die Wurzeln der Religion in dem Elend und in dem Jammer der Menschen ihren Halt fänden .
Und vom religiösen Empfinden , führte er weiter aus , sei man zum Jenseitswahn , Jenseitsspuk , zur Entelechie , zur Unsterblichkeit gelangt .
Ein freches Gaukelspiel , durch das man sich für die Lasten und den Gram auf Erden im Himmel entschädigen wollte .
Es sei ein hervorstechender Zug in der jüdischen Glaubenslehre , daß sie sich von solchem Unfug freigehalten habe .
Er zog ein Notizbuch aus der Tasche , blätterte darin , und las mit lauter Stimme :
" Im Prediger Salomonis 3,19 bis 22 lesen wir :
» Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh ; wie dies stirbt , so stirbt er auch , und haben alle einerlei Odem , und der Mensch hat nichts mehr denn das Vieh , denn es ist alles eitel .
Es fährt alles an einen Ort ; es ist alles von Staub gemacht und wird wieder zu Staub .
Wer weiß , ob der Geist des Menschen aufwärts fahre und der Odem des Viehes unterwärts unter die Erde fahre .
Darum sage ich , daß nichts besseres ist , denn daß ein Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit , denn das ist sein Teil .
Denn er will ihn dahin bringen , daß er sehe , was nach ihm geschehen wird . « "
Er hielt einen Augenblick inne und sah über die Tafel hinweg .
" Ich bin noch lange nicht fertig " , begann er von neuem .
" Der Prediger Salomonis sagt ferner Kapitel 2 , Vers 16 :
» Denn man gedenkt des Weisen nicht immerdar , ebensowenig als des Narren , und die künftigen Tage vergessen alles ; und wie der Weise stirbt , also auch der Narr ! « "
" Wollen Sie uns etwa die ganze Bibel vorlesen ? " rief jemand .
Er lachte hart auf .
" Bitte unterbrechen Sie mich nicht " , entgegnete er , und seine Stimme überschlug sich fast .
" Es kommt noch ganz anders .
Im Buche Hiob , Kapitel 14 , kann man des weiteren lesen :
» Ein Baum hat Hoffnung , wenn er schon abgehauen ist , daß er sich wieder verändere , und seine Schößlinge hören nicht auf .
Ob seine Wurzel in der Erde veraltet und sein Stamm in dem Staube erstirbt , so grünet er doch wieder vom Geruch des Wassers und wächst daher , als wäre er gepflanzt .
Wo ist aber ein Mensch , wenn er tot und umgekommen und dahin ist ?
Wie ein Wasser ausläuft aus dem See , und wie ein Strom versieget und vertrocknet , so ist ein Mensch , wenn er sich legt , und wird nicht aufstehen und wird nicht aufwachen , solange der Himmel bleibt , noch von seinem Schlaf erwecket werden . « "
Er hielt inne .
Er war ganz blaß geworden und rang nach Atem .
Man sah ihm gleichsam die Wonne an , die ihm die vorgelesenen Stellen bereiteten .
" Ich könnte Ihnen noch eine Unmasse solcher Zitate geben .
Ich verzichte darauf .
Aber ich rufe Ihnen die Stelle aus der Odyssee ins Gedächtnis , wo Achilleus im Hades sagt , er möchte lieber der niedrigste Knecht auf Erden , als der Fürst der Schatten sein .
Sie sehen also , daß die altjüdische und die griechische Anschauung sich decken ; nur , daß die Juden auf den Hades freiwillig verzichten . "
Nach diesen Worten sah er plötzlich die Anwesenden starr an , und mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu :
" Wir wollen nicht die Enterbten an der Tafel des Lebens sein .
Man soll uns nicht wie verhungerten Hunden die Brosamen des Jenseits hinwerfen , man soll uns zu trinken und zu essen geben und unseren Anteil uns nicht vorenthalten .
Der Himmel und das Leben nach dem Tode ist ein Glaube für Sklavenseelen ! "
Er ließ sich erschöpft nieder ; und nun tobte die Debatte .
Stud. theol. Bechert bat um das Wort .
Und indem er Heinsius fest und feindselig ansah , begann er :
" Der Vorredner hat mit ein paar billigen Zitaten und Fragen das religiöse Empfinden und den Glauben abtun wollen und gerade das als Fortentwicklung geleugnet , was den Wesenskern des christlichen Bekenntnisses ausmacht .
Solche Freigeisterei " , sagte er mit gehobener Stimme , " hat etwas Armseliges und Dilettantisches .
Die Heilige Schrift mag sich im Alten Testament und in den Evangelien so viel widersprechen , wie sie wollen - der Glaube , der unverbrüchliche Glaube an ein Jenseits ist etwas , das keine menschliche Gewalt zu tilgen vermag .
Wer religiös ist , der glaubt , glaubt bedingungslos , der beugt sich dem Dogma . "
" Das tun alte Weiber und Kinder " , schrie Heinsius dazwischen .
" Das ist nicht wahr " , fuhr der Studiosus unbeirrt fort , " das tun die erleuchtetsten Geister .
Und diejenigen Intelligenzen , die das leugnen , haben nach meiner Überzeugung ein sittliches Manko . "
Die nächsten Sätze sprach er in scharf akzentuiertem , gellendem Tonfall : " Blind soll man glauben , bedingungslos , weil der menschliche Geist zu schwach und zu erbärmlich ist , um etwas Größeres als den Glauben zu schaffen .
Man wird erst frei , stark und tüchtig , wenn man alle hämischen Zweifel beiseite wirft und sich an Christus klammert .
Wer den Buchstaben leugnet " , schloß er , auf seine Backenknochen traten Fleck , " leugnet den Sinn der Religion überhaupt . "
Am untersten Ende der Tafel hatte sich ein ärmliches schwarz gekleidetes Mädchen mit glattem , blondem Scheitel und schwärmerisch umflorten Augen , dünnen Lippen und einem weichen , runden Kinn vornübergeneigt und dem Sprecher gierig gelauscht .
Bei seinen letzten Worten rief sie wie verzückt :
" Ich glaube , glaube , glaube ! "
Es entstand eine peinliche Stille .
Alle hatten das Gefühl , als ob die beiden Sprecher ohne Milde und Güte - in Zorn und Verbitterung ihren Bekenntnissen Ausdruck gegeben hatten - das Instrument klang so verstimmt , daß seine Töne den Hörern wehe taten .
Das ekstatische Mädchen hieß Maria Werft .
Sie flüsterte ihrem Nachbar , dem Mechaniker Fründel , etwas zu .
Der aber schien ihrer Worte nicht zu achten .
Vor ihm lag ein weißes Blatt Papier , auf dem er beständig Bemerkungen stenographierte .
Auf seiner untersetzten , stämmigen Figur ruhte ein milchfarbiges Vollmondgesicht , in dem es unaufhörlich arbeitete und zuckte .
Man sah es ihm deutlich an , wie krampfhaft er zugehört hatte und das Gehörte zu verdauen suchte , und wie er mittels der niedergeschriebenen Notizen für sich einen Schatz nach Hause zu tragen bemüht war .
Unter der niedrigen , ausdrucksvollen Stirn glühten zwei japanisch geschlitzte Augen wie Leuchtfeuer und gaben dem bartlosen Frauengesicht etwas geistig Ringendes .
Die Stille wurde unterbrochen durch die Stimme des Malers , der unter dem Eindruck der Reden unruhig geworden war .
" Wer in das Nachtlicht kommt " , sagte er , " bringe Frieden und keinen Kampf .
Wir sind hier als Bedürftige des Geistes und suchen uns nahe zu kommen .
Es sage jeder seine Meinung - aber niemand eifere !
Wer mit uns den Weg suchen will , sei uns willkommen .
Wer in Feindseligkeit uns mit Augen des Hasses betrachtet und unser Ringen nicht erkennen will , der bleibe uns fern !
Dieser Raum sei eine Freistatt für Suchende , ein Nachtlicht in unser aller Finsternis . "
Nicht der Inhalt seiner Worte , sondern die Art , wie er sie gesprochen , wirkte auf die Anwesenden .
Es ging von ihm eine Reinheit und ein Mitleiden aus , das die Hörer aufwühlte .
Sie empfanden , daß ein innerlich Kämpfender vor ihnen stand , der Trost zu bringen suchte .
Der Student der Theologie erhob sich .
" Ich bin ein Christ " , rief er , " und stehe hier , das Evangelium und den Glauben zu künden ; ich bin unter Ihnen ein Gast , wie Jesus ein Gast war .
Ich werde wiederkommen , und man wird mir nicht die Tür weisen . "
Niemand antwortete .
Alle Blicke waren auf einen mageren Menschen gerichtet , der an der Seite der Frau Liers sich erhoben hatte .
Er hatte dünne , blonde Locken und gleichsam zurückgesunkene Augen .
In seiner Stirn waren tiefe Furchen .
Die Nase war scharf geschnitten und auffallend dünn , und sein Mund schien in einer einzigen , kaum sehbaren Linie zu verschwinden .
Er hielt eine wundervolle , weiße , edle Hand quer über die Brust .
Obwohl er ganz leise sprach , so wurde doch jeder Laut deutlich verstanden .
Seine Stimme klang melodisch , und im Moment der Erregung strahlte sie ein inneres Feuer aus .
Dieser Mann hieß Abraham Gebhardt und war Musiker .
" Wer die Religion leugnet " , begann er , " leugnet sich selbst .
Wie könnt ihr gegen euch wüten , deren Bestes im religiösen Empfinden gegründet ist ?
Da , wo die Religion abgestorben ist , ist Zersetzung und Fäulnis .
Religion , nicht Kirche , ist Zusammenhäng mit der Gegenwart , ist ein Überglied in die Zukunft . "
Und plötzlich flackerte es in seinen Augen auf , und sie schienen aus ihren Höhlen hervorzudrängen und sich in alle die bohren zu wollen , die an seinen Lippen hingen .
" Ich bin Musiker " , rief er , " und kann Ihnen sagen , was Sie selbst empfunden haben .
Wo die Musik erhaben wird , da kommt sie aus dem tiefsten Grunde religiöser Naturen .
Bachs H-Moll-Messe - Beethovens Neunte Symphonie - was sind sie anders als die großartigsten Evolutionen religiös Erleuchteter !
Sie brauchen keine Dekorationsfetzen und kein Rampenlicht .
Sie sind die höchste , innerlichste Kunstoffenbarung .
Unsere Musik dagegen ist armseliges Stückwerk aufgeputzter Virtuosen , leere , kalte Formel ohne Inhalt . "
Er schwieg eine Sekunde .
Seine glänzenden , hellgrauen Augen waren durchsichtig geworden und schienen mit der weißen Farbe beinahe eins zu werden .
Sie hatten etwas schreckhaft Visionäres .
" Da , wo die Freude groß und tief und der Schmerz rein ist , haben sie einen religiösen Grundton .
Wer das erlebt hat , kann es nicht leugnen .
Und was " , fuhr er fort , " ist Rembrandts Christus , der Moses des Michelangelo , was sind die Madonnen des Raffael anderes als sehnsüchtig losgerungene Religion ?
Und diese Art des Empfindens hat nichts Feiges , nichts Schwaches .
Sie ist das von Natur Beste und Zarteste in uns .
Noch im verkommensten Wesen stößt man , wenn man alle Krusten , Hüllen und Schlacken loslöst , auf eine Stelle , die da widertönt : Religion ist Ehrfurcht , Sehnsucht .
Mit einem Worte " - und jetzt sah er sich im Kreise um , und ein wunderbar schönes , gütiges Lächeln lag auf seinen Zügen - " mit einem Worte " , wiederholte er noch einmal : " Religion ist das Menschliche . "
Thomas Druck hatte den Musiker nicht aus den Augen gelassen .
Bei all den Reden , die er gehört hatte , wurde seine Miene immer verängstigter , unruhiger und , man konnte beinahe sagen , verwirrter .
Er suchte immer dem Redenden in die Seele zu folgen .
Er suchte aus dem Klange der Stimme und aus dem Ausdruck der Züge sich das rätselhafte Innenleben dieser Menschen klarzulegen und mißtrauisch nachzuforschen , inwieweit sie sich selbst belogen , oder in ihr Dunkel ein armseliges Lichtstümpfchen gesetzt hatten und sich in gottesjämmerlicher Ergebenheit und Bescheidenheit nun für erleuchtet hielten .
Vielleicht waren es auch nur eitle Klopffechter und redselige Schwachköpfe , die sich gegenseitig an dem Schwall ihrer Reden berauschten .
Er schüttelte den Kopf und wehrte solche Anklage heftig ab .
Er fühlte , wie ein Weinen in ihm aufstieg , und er empfand nun deutlich , daß sie alle da saßen und rangen .
In der Notdurft ihres Lebens kämpften sie um einen Besitz , an den sie sich über den Tag hinaus klammern konnten , der ihnen Halt gab und sie hinaustrug über den lächerlichen und kümmerlichen Ehrgeiz des Tages , über seine Not und seine Erniedrigung .
Und da erschien ihm auf einmal das Atelier wie ein heller , erleuchteter Saal , und die Armseligen , die hier saßen , gezeichnet vom Leben , hatten festliche Gewänder an , und der Ausdruck des Kummers war von ihren eingefallenen Gesichtern geschwunden , auf denen Friede und Versöhnung lag .
Dann wandelte sich ihm das Bild , es waren keine Mauern mehr , die ihn umgaben , sondern auf lachender , blühender , wogender , goldener Flur saßen sie alle beim Erntefest .
Männer und Frauen in weißer Gewandung , der blaue Himmel wölbte sich über sie , die Strahlen der Sonne brannten nicht , keine Leidensmienen , nur helle , beglückte Gesichter - und brausend , voll und tönend vernahm er das " Freude , schöner Götterfunken " .
Sie tranken aus großen Krügen und saßen beim Muttermal .
Die Mutter Erde hatte sie geladen und gab ihnen reichliche Speise und reichlichen Trank , und jeder fühlte sich mit dem anderen und alle mit der Mutter Erde verbunden , die nicht schwarz , nicht düster , nicht geheimnisvoll , sondern Licht und quellend und fruchtbar war .
Aber mit einem Schlage versank alles .
Er hörte nur noch ein leises Zischen und Rollen , dann fiel ein schwarzer , dunkler Vorhang wie ein düsteres Leichentuch über die strahlende Herrlichkeit , und Frösteln überfiel ihn und Kälteschauer .
Mit gläsernen , ausdruckslosen Augen sah er empor und blickte auf die breithüftige Gestalt der Frau Liers , die ihm unkenntlich schien .
Eine von den schwarzen Frauen , umgeben von aller Erdenlast und allem Erdenschlamm ; oder eine von den dunklen , staubbeladenen , schmerzensreichen Müttern , die sich durch das Häusermeer der Straßen schleppten und hinter sich das Kreuz schleiften .
" Gott , o Gott " , murmelte er leise , " hilf mir ! "
In diesen wenigen Lauten lag ein Aufschrei seines gequälten Herzens .
Nun sah er wieder zu ihr empor und lauschte .
Sie hielt die Hände gestützt auf eine schwarze Ledertasche , die vor ihr lag und das Handwerkszeug ihres schweren Berufes enthielt .
Und jetzt kam sie Thomas ganz anders vor - gütig und liebreich .
" Ich bin nur simpel " , vernahm er , " und der Meinige sollte reden , aber er ist ein Dichter und kann nur träumen , nicht reden - vom Arbeiten ganz zu schweigen " , fügte sie verschmitzt und mit einem Anklang von Lustigkeit hinzu .
Indessen wurde unmittelbar darauf ihr Gesicht wieder ernst .
" So ungelehrig und simpel ich bin , weswegen ich eigentlich das Maul hier hübsch halten müßte , so habe ich doch vieles gesehen und erlebt , was so leicht in kein Buch zu schreiben ist .
Und wenn mein Dichter nicht bloß Gedichte machte - den Stoff bekäme er billig bei mir .
Sie dürfen es mir schon glauben , man kennt sich aus und weiß , was hier unten los ist .
Wenn man bei siebzehnhundert Kindern mitgeholfen hat , ist das keine Kleinigkeit !
Und da sieht man auch , wie der Herr Gebhardt recht hat , wie das Religiöse herauskommt , wenn es den Weibsleuten an den Kragen geht , ans Sterben ; oder aber , wie ihnen zumute ist , wenn sie so hilflos und elend daliegen und das neue Leben neben ihnen quietscht und schreit und strampelt .
Denn es ist ja ganz schön " , fuhr sie fort , " mit der H-Moll-Messe und der Neunten Symphonie , die wir armen Leute nicht kennen , und von der wir nie etwas gehört haben .
Von mir will ich nicht reden , denn mein Dichter hat mich Mal mitgenommen .
Das eine oder das andere habe ich gehört , welches von beiden , weiß ich natürlich nicht .
Aber darauf kommt es auch gar nicht an " , fuhr sie fort , und ihr dickes , gutmütiges Gesicht hatte nichts Einfältiges und Dummes mehr , " sondern , was ich sagen wollte , ist das :
Wenn eine Frau Mutter wird , so macht sie alles das durch , was ein großer Maler oder Musiker während seines Werkes erlebt .
Denn für eine Frau ist das die letzte Offenbarung , und da meine ich eben , da kommt bei ihr erst die Religion heraus .
Da empfindet sie alles das und fühlt es am Fleische und im Geiste . "
Und jetzt erhob sie ihre Stimme , als sei die Erleuchtung über sie gekommen :
" Nämlich ! " rief sie überlaut , " Fleisch und Geist werden eins , und so eine arme und gequälte Frau hat ihre innerste Offenbarung , ohne alle die künstlichen Dinge zu kennen , von denen der Herr Gebhardt so schön gesprochen hat .
Und doch hat er recht .
Wir hören am deutlichsten unsere Religion , wenn der Schmerz und die Freude am tiefsten sind , und ich kann Ihnen sagen , das ärmste , bekümmertste und elendste Weib fühlt noch etwas davon ! "
Liers drückte ihr die Hand .
" Sie hat das Schönste von allem vorgebracht ! " rief er .
" Man merkt , sie ist die Frau eines Dichters .
Sie hat das Mysterium des Weibes bloßgelegt .
Seht sie euch an , wie sie in heiliger Freude strahlt ! "
Und alle blickten auf die große , dicke Frau , die schamrot wurde und , um ihre Verlegenheit zu maskieren , zwischen die breiten Hände den Kopf des Dichters nahm , auf dessen Stirn sie einen lauten Kuß drückte .
Nach dem kleinen Intermezzo kam eine leichtere und fröhliche Stimmung in den erregten und erhitzten Kreis .
Die Liers war bald von den weiblichen Mitgliedern umschwärmt .
Dennoch merkte man sofort , daß das eigentlich geistige Zentrum unter ihnen die Malersfrau war .
Sie hatte etwas Besonderes , eine persönliche Art , die in ihren Bewegungen und in ihrer Sprechweise zum Ausdruck kam , etwas Adeliges .
Sie fühlten , daß diese Frau etwas wie ein Schicksal mit sich trug , über das sie in großartigem , innerem Kampfe hinweggekommen sein mußte - denn einen Hauch von Reinheit spürte jeder , der in ihre Nähe kam .
Sie sprach leise in Maria Werft hinein , die in fromm gebeugter Haltung , die blassen Hände gefaltet , vor ihr stand und nur ab und zu schwärmerisch zu ihr aufblickte .
Neben der Liers stand ein Frauenzimmer in einem roten Flanellkleid , das einen fest gebauten , kräftigen Körper umschloß .
Sie war sorgfältig und mit Geschmack gekleidet und strotzte vor Gesundheit .
Ihre frischen Lippen , ihre Stupsnase und ihre runden , schwarzen Augen waren in ewiger Bewegung .
An den Fingern trug sie in paar goldene Ringe mit schönen Steinen , die in der ganz auf Einfachheit gestimmten Umgebung auffallen mußten .
Sie bewegte sich frei und ungezwungen und sah klug und energisch aus .
Sie nannte sich Charlotte Ingolf und studierte Medizin .
Man war in lustigem , ungebundenem Gespräch .
Die Männer traten zu den Frauen heran .
Man erzählte sich aus seinem Berufsleben und teilte sich die kleinen Freuden und großen Plagen mit , die die verflossene Woche einem jeden beschert hatte .
Der Mechaniker Fründel debattierte noch eifrig mit Studiosus Bechert weiter ; und immer hatte er sein weißes Papier und seinen Bleistift in der Hand , um auch hier , mitten im Gespräch , Bemerkungen zu notieren .
Da auf einmal tönte draußen die Glocke .
Alle horchten verwundert auf .
Aber die Malersfrau schritt gemächlich zum Entree ; denn es kam öfter vor , daß ein Mitglied noch spät in der Nacht Einlaß begehrte .
Bald darauf kam sie in Begleitung eines jungen Mädchens zurück , auf das sich die erstaunten Augen aller richteten .
Die Eintretende trug ein weißes Cape mit schwarzen Streifen und eine Pelzmütze , unter der widerspenstige Locken hervordrangen .
Sie hatte ein Gesicht , dessen eigenartige Schönheit frappierte .
Ihre Züge waren von einer auffallenden Strenge und Herbheit .
Aber Nase und Stirn hatten klassische Formen .
Das Gesicht war oval geschnitten ; sobald sie sprach , bildeten sich in den Backen Grübchen .
Unter seidenen , langen Lidern blickten zwei wild begehrende Augen hervor , deren Farbe nicht zu bestimmen war ; zuweilen schienen sie braun , dann nahmen sie einen schwarzen Ton an , und nicht selten erschienen sie wiederum in ein helles Grün überspielen zu wollen .
Sie hatte einen fein geschnittenen Mund , der leise geöffnet war und blendend weiße Perlen hervorlugen ließ .
Mit einem leichten Neigen des Kopfes ging sie an den Anwesenden vorüber , gerade auf Fründel zu , dem sie ein paar für die anderen nicht hörbare Worte zuflüsterte .
Ebenso konnte niemand seine Antwort vernehmen .
Aber darauf nahm er ihr das Cape ab , und sie reichte ihm auch die Pelzmütze - und da erschien sie noch schöner .
Wie eine schwere , leuchtende Krone trug sie das überreiche , schwarze Haar .
Und von ihren Reizen stach seltsam das armselige , zerschlissene grüne Sammetkleid ab , das dennoch ganz ihrer Eigenart entsprach .
Fründel stellte vor :
" Josefa Gerving . "
Sie schien zuerst ein wenig verlegen , aber bald gewöhnte sie sich an ihre Umgebung .
Der Studiosus Bechert trat an sie heran und blickte mit naiver , nicht im mindesten unterdrückter Neugier zu ihr empor .
Es schien , als ob ihr Anblick ihn mehr interessiere als der Dialog mit Fründel .
Niemand außer Thomas Track sah , daß der Mechaniker ihn mit einem geringschätzigen , höhnischen Lächeln , das schnell verschwand , einen Augenblick betrachtete .
Jemand fragte die Josefa , weshalb sie so spät gekommen sei .
Und bei dieser Frage errötete sie .
Sie sah rasch und scheu zu Fründel herüber , ohne daß dessen Miene sich bewegte und veränderte .
Im Gegenteil , er war offenbar auf ihre Antwort gespannt .
Sie sagte : " Ich habe bis zur Dunkelheit Akt gestanden und war müde geworden .
Als ich nach Hause kam , schlief ich vor Mattigkeit ein .
Erst vor einer halben Stunde wachte ich auf . "
Bechert war gerade im Begriff , an Fründel eine entrüstete Frage zu richten , als zum Erstaunen aller es von neuem klingelte .
Der Gast , der diesmal eintrat , hielt sich nur wenige Sekunden auf .
Es war ein Arbeiter mit struppigem Vollbart , der dringend nach Frau Liers verlangte .
Die Liers sprach mit ihm ein paar Worte - dann hatte sie auch schon einen langen Mantel umgeworfen , ihre Tasche ergriffen und um den Kopf ein dickes Tuch geschlagen .
Der Maler hielt sie fest .
" Nur eine Minute noch " , rief er , und seine Stimme hatte etwas Freudiges , " das ist der Augenblick , die Sitzung zu schließen , denn eine Zeitlichkeit bricht an , der neue Mensch will geboren werden ! "
Bei seinen Worten trat eine lautlose Stille ein .
Es wurde allen sonderbar zumute , erst als die große , in ihren dunklen Mantel gehüllte Frau und der Arbeiter , der verwundert und verlegen dreinschaute , das Atelier verließen , löste sich der Bann .
Aber gleich darauf war alles in wildem Aufbruch begriffen , und die engen , schmalen Stiegen dröhnten unter den Tritten der Nachtlichtgesellschaft .
III.
Der Abend war nun einmal angebrochen - man wollte sich nicht trennen .
Man bog durch Seitengassen in die Friedrichstraße ein und ließ das bewegte Nachtleben dieser seltsamsten Straße Berlins auf sich einwirken .
Es herrschte eine Fülle und ein Gedränge , als wäre es heller , lichter Tag .
Alles , was in der Großstadt zu Gaste war , schien sich hier noch ein nächtliches Stelldichein zu geben .
Wie ein schmaler , langer Korridor zieht sich die Straße hin , und wohl eine volle Stunde braucht der Fußgänger , der sie durchschreiten will .
Die Nachtlichtgesellschaft ging wie eine kleine Karawane befremdender Gestalten ihren Weg .
Die Vorübergehenden starrten ihnen ins Gesicht , und manche lachten ob des wunderlichen Zuges .
Thomas empfand die Straße wie einen furchtbaren Irrgarten , wie ein entsetzliches Bild der Verführung , der Prunksucht und des Jammers .
Bierpaläste und anrüchige Lokale kündeten sich durch weiße , rote , grüne , blaue Laternen an .
An den Häusern waren in allen Farben schillernde Transparente befestigt , die für den Großstadtschacher arbeiteten , auch in der Nacht , die doch dem Frieden und dem Schlaf gehört .
Verrückt gebaute Kasten , alten Postkutschen nicht unähnlich , wurden von matten Gäulen gezogen und schleppten die Schwärmer heim .
Die Schaufenster der Geschäftsläden waren geöffnet und oft sogar durch elektrisches Licht erhellt ; vor gierigen Augen lag in buntem , wirrem Durcheinander aufgestapelt , was saurer Fleiß geschaffen .
Hier holländische Schnäpse - dort seidene Blusen - da riechende Wasser , dicht daneben elegantes Schuhwerk - in einer anderen Auslage amerikanische Kassen , die durch einen Mechanismus bewegt , unaufhörlich mit ihren Kupons arbeiteten .
Und in dem Gedränge genießender Menschen bewegten sich verkrüppelte Gestalten .
Verwachsene Kinder mit blassen , lasterhaften Gesichtern verkauften Wachsstreichhölzer .
Zeitungsverkäufer schrien mit heiseren , versagenden Stimmen aus .
Blumenverkäuferinnen suchten ihre welke Ware noch an den Mann zu bringen .
Händler , die kleine Hündchen an sich gedrückt hielten , spähten nach Liebhabern .
Mädchen aus der Heilsarmee schwirrten mit ihren breitkrempigen Hüten vorüber und boten den " Kriegsruf " an .
In den noch geöffneten Zigarrenläden standen sorgenlos lachend und mit den Verkäufern plaudernd vereinzelte Dandies .
Geputzte Damen mit geschminkten Gesichtern und auffallenden Kostümen huschten wie dreiste Nachtvögel vorüber .
Alles das sah Thomas , und er glaubte , daß ihn die Dinge niemals vorher so geschmerzt hätten .
Jemand kam auf den Gedanken , ein paar der " feinen " Lokale des Nordens abzuklappern - man müßte auch diese Seite der Großstadt kennenlernen .
Man kam in eine Kneipe , die einem Bretterverschlag glich .
Es war ein großer Raum , der achthundert Personen faßte und am oberen und unteren Teil eine Bühne zeigte .
Kommis voyageurs und Ladenmädchen , Bürgersleute , Arbeiter , ein paar Postbeamte saßen friedlich nebeneinander und erbauten sich an den Kunstgenüssen .
Frauenzimmer in entsetzlichen Maskeraden mit stumpfen Mienen sangen der lauschenden Versammlung gewagte Couplets vor .
Sie hatten in ihren Kehlen keinen Ton - und dennoch wurden ihre kreischenden , unmöglichen Laute bejubelt und beklatscht .
Man drängte zum Ausgang .
Studiosus Bechert sagte im Tone trauriger Entrüstung :
" Das sind die Trauerandachten , die unser Volk hat . "
Vor einer anderen Kneipe , ein paar Schritte weiter , stand der Wurstmaxe , ein großer Kerl , mit einem gerade gezogenen Scheitel und einem entsetzlich langen , spitz gedrehten Schnurrbart .
An seiner weißen Schürze , die den ganzen Körper deckte , trug er einen durch einen Gurt befestigten Kessel , in dem seine " Wiener und Jauerschen " schmorten .
In einem blauen Beutel hatte er eine Kognakflasche .
Jeden vorübergehenden Jüngling hielt er an und duzte ihn , indem er schwadronierend ihm seine Ware anbot .
Und all die Jünglinge schienen ihn zu kennen .
An jedem Finger seiner Hand trug er Messingreifen , in denen geschliffene Gläser von einer lächerlichen Größe als Simili-Brillanten gefaßt waren .
Mit seinen negerhaft geschmückten Händen fuchtelte er in der Luft umher .
Sein Redeschwall setzte nicht eine Sekunde aus .
Dabei hatte dieser Fleischergeselle den schnarrenden Ton eines Leutnants .
In der aufdringlichsten , gemeinsten Weise , immer abgerissene Sätze hervorsprudelnd , kramte er vor den Passanten der Straße die Geheimnisse seines Viertels aus .
Er kannte die Geschichte jeder Dirne , er führte über sie alle gleichsam Buch .
Auch in dieses Lokal , vor dem der Wurstmaxe Posten stand , begab man sich .
Es war das nämliche Schauspiel , nur daß diesmal noch eine Damenkapelle aufspielte .
Ein Arbeiter mit einem erloschenen , krankhaften Gesichtsausdruck hing mit seinen Blicken wie gebannt an dem Podium .
Man blieb kaum fünf Minuten .
Der üble Geruch stieg einem zu Kopf .
Die Frauen der Gesellschaft hatten neugierig die Vorgänge betrachtet , und die Studentin sagte beim Hinausgehen nachdenklich :
" Wie will man mitreden , wenn man alles das nicht gesehen hat . "
Bei diesen Worten lachte Josefa spöttisch auf , und alle drehten sich nach ihr um .
Sie ging an Fründels Arm , und ihr Gesicht hatte etwas bewußt Schadenfrohes .
" Warum lachen Sie ? " fragte die Studentin .
Und alle blieben mitten auf der Straße plötzlich stehen , um die Antwort der Josefa zu hören .
Josefa schwieg .
Vor einer kleinen Konditorei mit niedrigen Fenstern stand der Zug still .
Man trat ein .
Der Raum , der aus drei engen Zimmern bestand , war dicht gefüllt .
An den kleinen Marmortischen saßen nur Studenten und lachende Mädchen .
Es herrschte unter ihnen ein eigentümlich kameradschaftlicher Ton .
Die Mädchen hatten sich den studentischen Jargon der jungen Leute angewöhnt .
Die eine rief :
" Ich komme dir 'n Stück ! " die andere schrie :
" Auf dein Spezielles einen Halben ! " und eine dritte , die etwas Anstößiges gesagt hatte , hob ihr Glas in die Höhe und sagte : " Ich löffle mich mit einem Ganzen ! "
Die Studenten hatten verhältnismäßig frische Gesichter .
Man sah es ihrer Kleidung und ihrem ganzen Gebaren an , daß sie nur über einen bescheidenen Wechsel verfügten .
Und diese Frauen , die mit ihnen zärtlich taten , ihnen ihre Erlebnisse erzählten und andererseits genau von ihrem Treiben Kenntnis zu haben schienen , verkehrten mit ihnen gewiß aus keinen eigennützigen Gründen .
Den Rest ihres Idealismus und ihrer Sehnsucht trugen sie in das enge Studentencafe , das mit schlechten Abdrücken und lächerlich geschmacklosen Portieren geschmückt war .
Sie erschienen hier anspruchslos , gutartig und nett .
Jede Nacht konnte man hier die nämlichen Gestalten sehen , die auch eine Art von Abendgesellschaft bildeten .
Die Leute vom Nachtlicht wurden von verwunderten Gesichtern angestarrt , und sie selbst blickten befremdet auf diese Art von Geselligkeit .
Man setzte sich .
Die Studentin , Charlotte Ingolf , drängte sich neben Josefa .
Sie nahm sie scharf ins Auge .
" Wenn man jemanden auslacht , Fräulein , so muß man ihm wenigstens den Grund sagen ; ich nehme Ihnen das Auslachen an sich nicht übel , fügte sie methodisch hinzu , " aber wissen möchte ich - "
" Sie ist störrisch " , entgegnete statt ihrer der Mechaniker .
" Wenn sie nicht will , will sie nicht .
Ich kenne sie . "
" Du kennst mich nicht ! " schrie das Mädchen , und ihre Stimme klang zornig .
" Gut , ich kenne dich nicht ! "
" Weswegen ich gelacht habe ? "
Sie warf den Kopf wie eine Fürstin zurück .
" Ich lache , wenn die feinen Damen ein Zipfelchen Elend sehen und dann meinen , sie kennen uns , sie kennen das Volk ! "
" Ich bin keine feine Dame . "
" Gegen mich sind Sie eine Dame . "
" Vielleicht haben Sie recht ! "
Josefa bis sich auf die Lippen .
" Warum kränkst du die Dame ? " fragte der Mechaniker .
" Ich kränke niemanden . "
Sie suchte sich zur Ruhe zu zwingen , aber aus ihren Augen zuckten Flammen .
Liers blickte sie starr an , und dem Musiker flüsterte er zu :
" Haben Sie je so etwas Schönes gesehen ? "
Josefa fühlte seinen Blick .
Sie nahm bloß die Hand des Mechanikers und streichelte sie .
Neben Thomas Druck saß Maria Werft .
Sie trank nur tropfenweise ihren Kaffee .
Einmal glaubte sie , daß Thomas es bemerkt hätte , da sagte sie halb entschuldigend :
" So eine Tasse kostet fünfundzwanzig Pfennig ; nur am Nachtlichtabend trinke ich solchen Extrakt . "
Und bedrückt fügte sie hinzu : " Wie kann man fünfundzwanzig Pfennig für so eine Tasse Kaffee verlangen ? "
Stud. theol. Bechert hatte Lissauer in ein Gespräch verwickelt .
" Mir sind die Juden sympathisch " , meinte er , " die die Fahne von Zion hochhalten . "
Lissauer sah spöttisch zu ihm empor .
" Es wäre ihnen wohl angenehm , uns los zu werden ? "
" Das ist eine Frage für sich ! "
" Gnädiger Herr , glauben Sie ? " fragte Maria Werft plötzlich Thomas Druck .
Bei diesen Worten zitterte sie .
" Warum nenne Sie mich » gnädiger Herr « ? "
" Sie sind doch ein gnädiger Herr ? " gab sie ängstlich zurück .
" So etwas dürfen Sie nie zu mir sagen , es schmerzt mich .
Im übrigen " , fügte er ernsthaft hinzu , " ich weiß nicht , ob ich glaube . "
" Oh ! " machte sie verwundert .
An einem Nebentische verabschiedeten sich zwei hochgewachsene Mädchen .
Sie wollten noch in Embergs Tanzsäle und suchten die Studenten zum Mitgehen zu verleiten .
" Impossibile - habe gerade noch eine Mark " , entgegnete der eine .
Das Mädchen lachte und zeigte dabei ihre weißen Zähne .
" Ich kann dir borgen , ich bin bei Kasse ! "
Der Student lehnte es kurz ab , und die beiden verließen das kleine Cafe .
" Warum sind Sie den ganzen Abend so still gewesen ? " fragte die Maria wieder leise .
" Es gab so viel zu sehen und zu hören . "
Sie nickte .
Thomas hatte mit ihr ein unsagbares Mitleid und den Drang , gegen sie freundlich zu sein .
Sie merkte das und wurde noch bleicher .
" Was ist Ihnen ? " fragte er .
" Gar nichts , gar nichts " , antwortete sie hastig und legte die Hand an ihr klopfendes Herz .
" Ich bin so glücklich " , fügte sie , nur für ihn hörbar , hinzu .
Sie erzählte ihm unaufgefordert von sich .
Sie hatte fünf Geschwister ; auch ihre Eltern lebten noch .
Aber sie sei von ihnen gegangen , denn sie sei die einzige , die die Gnade und den Glauben habe .
Darum sei sie zu Hause gepeinigt worden und darum sei sie davongelaufen .
" Denken Sie " , sagte sie noch einmal , " ich bin die einzige , die die Gnade und den Glauben hat !
Frau Brose hat mich ins Nachtlicht gebracht .
Sie glaubt zwar auch nicht , aber Gott wird ihre Seele retten ! "
Sie sah zu der Malersfrau hinüber , und es schien , als ob diese , so entfernt sie von ihr saß , doch jedes Wort gehört habe .
Sie nickte ihr lächelnd zu .
Was sind das alles für Menschen ! dachte Thomas im stillen , und immer beklommener wurde ihm zumute .
Ganz unvermittelt stand die Josefa auf .
Sie zog ihr weißes Cape an und setzte sich die Pelzmütze auf .
Der Mechaniker ging gerade auf Thomas zu .
" Würden Sie vielleicht das Fräulein nach Hause bringen ? " fragte er .
Erklärend fuhr er fort : " Ich habe da noch einige Sachen von Abraham Gebhardt zu hören , die mich festhalten . "
Thomas erhob sich .
Es war keine Zeit , Fragen zu stellen ; auch hatte er kein Verlangen danach .
Die Ingolf schickte sich ebenfalls zum Gehen an .
Studiosus Bechert sah ungeduldig auf seine Uhr ; aber Lissauer ließ ihn nicht aus dem Gespräch .
Als Thomas mit den beiden Mädchen das Kaffee verließ , saß Maria Werft wie verloschen mit gefalteten Händen da und starrte , gleichsam abwesend , vor sich hin. IV .
Die Mansardenwohnung im vierten Stock der Luisenstraße hatte eine Glocke , die durch einen langen , schon verbogenen und verkrümmten Draht zum Schellen gebracht wurde .
Unten am Draht war ein weißer , porzellanener Griff befestigt , der an verschiedenen Stellen Sprünge und Risse hatte .
Eine Dame stand vor der niedrigen Tür .
Tief verschleiert .
Sie las scheu auf einer Visitenkarte :
Thomas Druck , cand. med. Sie trug weiße Glacehandschuhe mit dünnen , schwarzen Streifen .
Die Dame zögerte .
Der Griff der Glocke war staubig .
Behutsam ergriff sie ihn und läutete zaghaft .
Sie stand in banger Erwartung da .
Niemand öffnete .
Die Dame zog ein zweites Mal an dem Griff .
Niemand regte sich .
Da entschloß sie sich , herzhaft an dem Draht zu ziehen - und nun drang ein quälender Ton an ihr Ohr .
Gleich darauf hörte sie humpelnde Schritte .
Eine alte , weißhaarige , gebückte Frau öffnete vorsichtig eine Türspalte .
Als sie die Dame sah , rief sie : " Jesus Maria ! " -
und unwillkürlich wischte sie sich mit einer schmutzigen , groben Schürze das runzlige Gesicht .
Die Dame fragte mit einer Stimme , die freundlich und demütig klang :
" Kann ich vielleicht Herrn Thomas Druck sprechen ? "
Die Alte sah sie eine Weile sprachlos , wie eine Erscheinung , an .
Die Dame begann sich unbehaglich zu fühlen .
" Nun gewiß können Sie das , nun gewiß " , sagte sie endlich .
" Da will ich gleich Mal - "
" Ach nein , führen Sie mich , bitte , an seine Tür , ich möchte ihn überraschen . "
" Nun , wie Sie möchten ! "
Durch den engen Eingang schritten sie .
Er war ein ziemlich langer , schmaler Korridor , in den sie traten .
Vor der Tür am untersten Ende machte die Alte Halt und verschwand , nachdem sie noch einen erschreckten Blick auf den Besuch geworfen hatte .
Die Dame klopfte mit dem Zeigefinger .
In dem weißen Handschuh entstand ein Geräusch , als ob eine Naht sich spannte .
Jemand , schien es ihr , kam von innen auf die Tür zu .
Sie wurde blaß .
" Herein ! " rief eine Stimme .
Sie öffnete , und zitternd stand sie , ohne sich zu rühren , auf der Schwelle des Mansardenzimmers .
Dieses schräge Zimmer war weiß getüncht .
Die Decke schien getragen durch schwere Querbalken , deren Farbe an verschiedenen Stellen absprang .
Ein eisernes Bett , ein eiserner Waschtisch , ein armseliges , grünes Sofa und ein viereckiger Tisch , rotbraun angestrichene Bücherregale machten sein Mobiliar aus .
In der Ecke stand als einziger Schmuck ein uraltes Pult aus Mahagoniholz .
Sie hatte sich getäuscht .
Thomas Druck war nicht aufgestanden - er saß an dem Tisch und schrieb .
Er drehte sich nicht um , auch als die Tür geöffnet war .
Sie dachte einen Augenblick daran , wieder davonzuschleichen .
Aber dann schüttelte sie den Kopf und schloß die Türe , die sie offen gelassen hatte .
Durch dieses Geräusch gestört , wandte er sich .
Und nun malte sich auf seinen Zügen Staunen und Verwirrung .
Er glaubte wohl auch einen Augenblick zu träumen und rieb sich die Augen .
" Ich bin es " , sagte die Dame .
Er erhob sich schwerfällig .
Und während er sich mit der einen Hand auf den Tisch stützte , ohne ein Wort des Grußes zu finden , machte er mit der anderen eine einladende Bewegung .
Sie setzte sich auf das verschlissene Sofa , aber sie berührte es kaum .
Sie wartete , daß er etwas sagen sollte .
Aber er schwieg und sah sie nur unverwandt an .
" Ich habe auf Ihr Kommen gewartet all die Tage ; Sie aber kamen nicht " , brachte sie endlich hervor , und es war ihm , als ob ihre Stimme weinerlich klang .
" Warum kamen Sie nicht ?
Sie mußte wissen , daß ich auf Sie wartete . "
" Ich wußte es . "
" Und dennoch kamen Sie nicht ? "
" Ich hatte Furcht . "
" Vor mir ? "
Bei dieser Frage sah er , wie die toten Augen leuchteten .
" Vor Ihnen und vor dem großen Hause ! "
" Oh " , machte sie schüchtern , und zum erstenmal sah sie sich instinktiv in dem ärmlichen Zimmer um .
Sie blickte ihn großäugig und furchtsam an .
" Wie die Sonne hier scheint , und wie Licht es ist ! "
" Ja " , entgegnete er einfach .
" Sie müssen zu uns kommen . "
Sie trat plötzlich auf ihn zu .
Er spürte einen feinen Duft wie von süßen Blumen , den sie ausströmte .
Er blickte auf die Erde und streifte ihre weißen Handschuhe .
Er glaubte , daß ihm schwindelte .
" Soll ich gehen ? "
" Ja ! "
Sie kehrte ihm den Rücken und wandte sich zur Tür .
Aber dann drehte sie sich noch einmal um , und ihr bleiches Gesicht war durchsichtig .
Sie hatte ihre Hände geballt , und er sah , wie die schwarzen Seidenfäden über ihre Knöchel gingen .
" Sie weisen mich von Ihrer Schwelle ? "
Durch ihre Stimme klang etwas wie verhaltene Klage .
Da nahm er ihre Hand und führte sie in das Zimmer zurück .
Seine Miene war hilfesuchend und verzweifelt .
" Was haben Sie ? "
" Ich leide . -
Ich werde zu Ihnen kommen , aber " - er stockte - " haben Sie Mitleid . "
Da ging etwas Unaussprechliches auf ihrem Gesichte vor .
Es schien sich zu spannen ; er sah es deutlich , wie ihr Hals klopfte , und wie auf ihre marmorweißen Züge ein paar flüchtige , rote Flecken traten , die sie festlich erhellten .
Und wie leuchtete ihr Auge !
Niemals , nein , niemals hatte er etwas Derartiges gesehen .
Es brannte ihm in die Seele .
Und wie sie ihn groß und voll anblickte , schien sie wie berauscht , wie eine Siegerin .
Sie sagte jedoch nichts und reichte ihm nur zum Abschied die Hand , die er einen Augenblick in der seinigen hielt .
Und diese Hand klopfte , als ob sie springen wollte , er spürte es deutlich .
Als sie das Zimmer verlassen hatte , horchte er eine Weile stumm und lautlos , bis ihre Schritte verhallt waren .
Er setzte sich wieder an die Arbeit .
Er wollte seine Gedanken über das religiöse Empfinden niederschreiben , die er an jenem Abend ängstlich für sich behalten hatte .
Denn auch ihm war es eine Erkenntnis , daß ein heiliger Glaube dem neuen Menschen innewohnen müßte .
Ein Glaube , den er sich erringen und erkämpfen , für den er sein Herzblut hergeben müßte .
Aber sein Arm versagte .
Das weiße Papier lachte ihn höhnisch an .
Und von den bereits beschriebenen Blättern erhoben sich die schwarzen Buchstaben übergroß und nahmen verteufelte Fratzen an , drohten ihm und höhnten ihn aus .
An kalten , dunklen Winterabenden , wenn der Schnee stöberte , oder der Wind in langgezogenem , jammernden Tönen pfiff , hatten sich bei ihm daheim in der Gesindestube die Dienstboten gruselige Geschichten von der weißen Dame erzählt .
Und den Frauenzimmern waren die Köpfe rot geworden vor Furcht und Aberglauben .
Er war einmal dazu getreten - sie hatten aufhören wollen .
Doch eine unwiderstehliche Kraft hatte sie getrieben , weiter zu erzählen , immer schrecklichere und verwegenere Dinge .
Er hatte an der Tür gestanden und lautlos zugehört .
Dann war er abends zu Bett gebracht worden ; die ganze Nacht hatte er die weiße Dame gesehen .
Das fiel ihm jetzt alles ein .
Vielleicht war sie ihm heute wirklich erschienen und riß ihn mit sich fort ?
Hatte ihm nicht in seinem Inneren vor etwas Derartigem gebangt ?
Und hatte er nicht gerade deshalb jeden Gedanken an sie wie etwas Sündiges von sich gewiesen ?
War er nicht gerade darum ihrem Drängen gegenüber starr und fest geblieben , obwohl ihn geheime Wünsche zu ihr zogen ?
Und was half nun all sein Wehren !
Wie ein unbezwingbares Schicksal war sie in seine Mansarde gestiegen , hatte ihn überfallen und niedergerungen . -
Er wollte den Weg zur Klarheit finden .
Das Leben , das auf ihm wuchtete , wollte er sich rein gestalten , sich die Bahn schaffen , die abseits von den ausgetretenen Pfaden lag .
Und den dunklen , geheimnisvollen , stillen Wünschen der Kindheit wollte er Erfüllung geben .
So hatte er den Kreis von Menschen gesucht , die gleich ihm nach einer höheren Lebensführung sich sehnten - und nun kam die weiße Dame und legte über all sein Wollen und Grübeln eine weiße , schwere Wolke und graue , undurchdringliche Nebel .
Er mußte es sich eingestehen , daß er all die Tage trotz seines Widerstrebens keine Stunde sie vergessen hatte .
Wo er ging und stand , hatten ihn diese toten Sterne , die nur zuweilen inneres Leben verrieten , verfolgt .
An den Wänden und Dielen seiner Kammer waren sie hin und her geschwirrt ; und auf dem Pflaster der Straße , unter dem Getriebe all der Menschen waren sie dicht hinter ihm gehuscht und hatten ihn nicht mehr aus ihrem Bann gelassen .
Er hatte das Schattenspiel zu beschwören gesucht - mit den Augen der Maria Werft , aus denen Glaube und Einfalt strahlten - mit dem düsteren Feuer der Josefa Gerving - mit dem fröhlichen , lachenden Blick der Charlotte Ingolf .
Vergebliche Liebesmüh !
Es pochte von neuem an seine Tür .
Die alte Frau reichte ihm einen Brief .
Sie blieb eine Sekunde im Zimmer stehen , als wartete sie irgendeines Befehls .
Dann lahmte sie schwerfällig hinaus .
" Ah , Bettina ! "
Er öffnete hastig das Kuvert .
Es waren winzige , kleine Buchstaben , mit zitternder Hand hingeworfen .
Er las : " Lieber Thom !
Was habe ich denn getan , daß Du mir nicht antwortest ?
Ich liege krank , und draußen ist es kalt und unfreundlich .
Und wenn ich Schritte höre , denke ich , jetzt kommt ein Brief von Thom .
Ach , Thom , warum tust Du das ?
Es ist so furchtbar , allein zu sein .
Ich habe keinen Menschen der mit mir spricht .
Die Wirtin bringt mir mein Essen , und einmal am Tage kommt der Doktor .
Das ist alles .
Ich liege jetzt schon vierzehn Tage .
Das einzige , was ich habe , ist die Geige .
Die liegt auf meinem Bett .
Ich streichle sie - und dann denke ich an Dich , Thom , an Dich und den Garten .
Der Doktor sagt , ich hätte mich überarbeitet .
Das ist aber reiner Unsinn .
Ich muß den ganzen Tag spielen , von früh bis Abend .
Ich kann ja so wenig ; und vor allem , ich kann nicht das , was ich können will .
Thom , bist Du mir böse ?
Du schreibst so seltsames , kaltes Zeug .
Wenn ich Deine Briefe lese , friere ich jedesmal .
Gute Nacht , Thom , ich bin schrecklich müde und die Stirn tut mir so weh .
Vergiß die Bettina nicht ganz und schreibe ihr einmal . "
Als er diesen Brief gelesen hatte , da tauchte die ganze Kindheit vor ihm auf .
Er war in dem Garten - ging an Rotdorn und Buchen vorbei zum Weiher , wo die Tamara vor ihm stand im weißen Kleide und Bettina ihr zu Füßen kauerte .
Er sah die Bodenkammer mit all ihren wunderlichen Heimlichkeiten - und er sah den Vater und die fremde Frau , und im Hintergrunde stand der Prediger und blickte ihn ernst , milde und gütig an .
Eine schneidende , bittere Sehnsucht durchdrang ihn .
Aber dann schwanden die Bilder , und vor ihm stand sie , die in seine Mansarde gekommen war , um ihn zu holen .
Und wieder vernahm er ihre schmeichlerische , verlockende Stimme - und wieder sah er ihre Augen .
Er lächelte durch sein Weh hindurch .
V. Er war zum Thé dansant in die Lichtenstein-Allee geladen .
Es war Abend , und er mußte sich eilen , wenn er rechtzeitig hinkommen wollte .
Er hatte lange gezögert ; allein die Sehnsucht und der Drang sie zu sehen , waren übermächtig ihn ihm .
Und dann erinnerte er sich , daß er ihr sein Wort gegeben hatte .
Er stand da in seinem langen , braunen Jägerrock , der bis zum Halse geschlossen war und nur einen schmalen Streifen des Kragens offen ließ .
Er war erregt und voll freudiger Erwartung , als er die Treppe hinunterging .
Er vergaß alles , nur von dem einen Gedanken erfüllt , daß er sie wiedersehen würde .
Er war mit seinen zweiundzwanzig Jahren rein und keusch geblieben .
In einem inneren Stolz und Adel hatte er sich für kostbares Gut gehalten , das nicht befleckt wenden durfte .
Seit es ihm in der Bodenkammer dunkel und mystisch aufgegangen war , daß es zweierlei Geschlechter gab , die bang und begehrend zueinander drängten - damals , wo Bettinas schwarze Seidenlocken ihn leise gestreift , hatte er wohl manche stürmische Stunde erlebt .
Sein junges Blut hatte gepocht und gegen ihn sich empört .
Und in schlaflosen Nächten hatte er den wilden Geist des Fleisches gespürt .
Aber dann war jedesmal über ihn eine feine Scham gekommen und vor allem ein ernster , starker Wille , sich selber zu meistern und Herr über die dunklen Triebe zu werden .
Und mit einem trockenen Schluchzen hatte er sich in die Kissen gegraben und mit festgeschlossenen Augen sich gewehrt .
Dann war die Arbeit und das Studium an ihn herangetreten ; der Drang nach innerer Befreiung und der Gram um das Volk .
Alles das hatte von seiner Seele Besitz genommen und sein leidenschaftliches Begehren gebändigt .
Diese inneren Erlebnisse gingen ihm durch den Kopf , als er langsam in die Dorotheenstraße einbog , um dort auf die gelbe Pferdebahn zu springen , die ihn nach der Lichtenstein-Allee bringen sollte .
Er setzte sich in den Wagen und nahm ein kleines , grünes Büchlein hervor : die Gedichte des Angelus Silesius .
Er las :
Ich wurde das , was ich war , und bin , was ich gewesen , und werde es ewig sein , wann Leib und Seele genesen .
Mensch , alles , was du willst , ist schon zuvor in dir :
es liegt nur an dem , daß du nicht wirkst herfür .
Nichts Stärkres ist als Gott - doch kann er nicht verwehren , daß ich nicht , was ich will , soll wollen und begehren .
Nichts ist , das dich bewegt - du selber bist das Rad , das aus sich selbst läuft und keine Ruhe hat .
Mensch , was du liebst , in das wirst du verwandelt werden :
Gott wirst du , liebst du Gott , und Erde , liebst du Erden .
Der Zufall muß hinweg und aller falscher Schein - du mußt ganz wesentlich und ungefärbt sein !
Mensch , werde wesentlich ; denn , wenn die Welt vergeht , so fällt der Zufall weg - das Wesen , das besteht .
Eine tiefe Unruhe kam über ihn .
Seine Lippen bewegten sich , und seine Stirn zog sich in Falten .
Eine Zeitlang beherrschte ein grüblerischer Ausdruck sein Gesicht ; dann aber glättete es sich , und um seinen Mund trat das blutende Lächeln der Tamara .
Gott wirst du , liebst du Gott , und Erde , liebst du Erden - wiederholte er .
Und dann las er noch einmal ganz langsam und ganz in Feierlichkeit getaucht den letzten Vers : Mensch , werde wesentlich ; denn , wenn die Welt vergeht , so fällt der Zufall weg - das Wesen , das besteht .
Er fragte sich gequält : war diese Weise aus einer versunkenen Zeit ein gauklerischer Wort- und Begriffverdreher , der wie ein Zirkusmann mit den Dingen jonglierte und auch das Verschiedenste zusammenbrachte ?
In jedem Verse fand er einen Widerspruch zum anderen .
Er war gebunden und gefesselt , bestimmt und festgelegt , und über ihm stand Gottes Stärke .
Und doch konnte Gott nichts gegen sein Wollen und Begehren , und doch konnte er trotz alles Gebundenseins nach dem Wesentlichen streben .
Waren das die Kunstgriffe eines pfäffischen und pfiffigen Clowns ?
Oder lag in solchen Wiedersprüchen eine wunderbare Einheit ?
Er klappte das Buch zu und tat es in seine Manteltasche .
Er fühlte sich so schwer und beladen .
Und wieder blickte er zurück : " Tamara " , flüsterte er vor sich hin .
Und ihre sylphidenhafte Gestalt beugte sich über ihn , ihre alabasternen Arme umschlangen ihn , ihr reiner Hauch umwehte ihn .
Vielleicht war sie die einzige , die in ihrer Unbewußtheit wesentlich war .
Und vielleicht war alles Große überhaupt unbewußt und konnte nicht durch Fleiß und Müheaufwand erreicht werden ?
Hinter der Tamara tauchte der Schatten des Vaters auf , dem er immer so feindselig sich entzogen hatte .
Wie kam es , daß er zu ihm keine Beziehungen hatte , daß sie wie zwei Fremde aneinander vorübergeschritten waren und heute sich kaum kannten ?
Hatte er sich jemals bemüht , diesen Mann mit den robusten Knochen und dem brutalen Lebensdrang menschlich zu begreifen ?
Hatte er für ihn je etwas anderes als Härte übrig gehabt ?
Der Pferdebahnwagen bog in die Lichtenstein-Allee ein .
Er erhob sich rasch und sprang vom Perron .
Ein paar Schritte und er stand vor dem Bergischen Hause .
Eine Equipage nach der anderen fuhr vor das Portal .
Und alle Fenster des Parterregeschosses waren hell erleuchtet .
Aus dem Hintergrunde der Straße ragte der Tiergarten in seiner kahlen Dunkelheit , und über den alten Baumriesen wölbte sich der Himmel mit glühenden Augen .
Gerade und aufgerichteten Hauptes schritt er in seinem schwarzen Havelock durch das Portal .
Aus dem Entree hörte er die Stimmen der letzten Gäste , die vor ihm gekommen waren .
Er wartete einen Augenblick .
Dann klingelte er .
Ein Diener in Gala öffnete und sah ihn verwundert an .
Gleich darauf schien er ihn jedoch zu erkennen .
Indessen sagte er kein Wort , und auch das glattrasierte Gesicht wurde sofort wieder ruhig und unbeweglich .
Er half ihm beim Ausziehen des Mantels .
Aber nun war es doch mit seiner Ruhe zu Ende , er hüstelte vernehmlich und betrachtete von oben bis unten das seltsame Kostüm des neuen Gastes .
Thomas war noch so von seinem Grübeln beherrscht , daß er es nicht einmal merkte .
Er strich sich das Haar zurück - der Diener öffnete die Tür - und eine Sekunde später fand er sich von strahlender Helle umgeben , die ihn blendete .
Er sah in diesem Lichtgefunkel nur einen Schwarm von Menschen , schwarze Rockschöße und weiße Seide , die von bunten Farben wirr unterbrochen wurde .
Er stand unbeweglich in der Tür .
Er merkte plötzlich , oder es kam ihm so vor , daß unter den Menschen ein Gewisper und Geflüster entstand , und daß aller Blicke auf ihn gerichtet waren .
Er stand in der Tür und rührte sich nicht .
Da kam sie mitten aus dem Gedränge der Fremden auf ihn zu .
Sie war ganz in Seide gekleidet , nur der Hals und obere Teil des Busens waren frei und hoben sich leuchtend von dem dunklen Stoff ab .
Gelbe , volle Rosen hatte sie sich in ihr nachtfinsteres Haar geflochten .
Sie reichte ihm die Hand und sagte : " Ich danke Ihnen , daß Sie gekommen sind . "
Da war es ihm in dem fremden , strahlenden Raum , der ihm vorher so kalt und unheimlich vorgekommen war , als ob er die größte Gnade empfangen hätte .
Nun wurde alles um ihn wahrhaft Licht und festlich .
Diener in Escarpins und Gamaschen trugen auf silbernen Tabletten Kognaks und heißen Tee .
Überall hörte er freudige Laute , feines Gelächter und galante Reden .
Die Damen hatten das Haar seltsam frisiert , und die edlen Steine leuchteten und funkelten ihm von allen Seiten entgegen .
Sie trugen die Kleider weit ausgeschnitten und waren stolz auf ihre Gottesschönheit .
Und wieder sahen alle verwundert auf ihn .
Er indessen schritt sicher an ihrer Seite .
Scheu und Bedrückung war von ihm genommen , er hielt den Kopf hoch und sah jeden groß und ernst an .
Viele , viele Jahre später mußte er an diese Stimmung zurückdenken , und immer war es ihm ein Trost , daß er sein Haupt nicht geduckt und vor niemandem sich gebeugt hatte .
Ein massiger , kleiner Herr mit einem vorgeschobenen Spitzbauch , einem stark gelichteten Schädel und einem dichten , pechschwarzen Schnurrbart unter einer auffallend gekrümmten Nase kam auf ihn zu .
In der Rechten hielt er einen goldenen Kneifer , mit dem er , wie mit einem Taktstock , beständig hin und her pendelte .
Sie stellte ihn als ihren Gatten vor .
Er kniff die kleinen Äuglein zusammen , reichte ihm seine fleischige Hand und begrüßte ihn mit eifriger Freundlichkeit .
Er redete alles in einem nasalen Ton und hatte in jeder seiner Bewegungen etwas Dirigierendes und Protektormäßiges .
Er sprach beständig davon , wie sehr er in Thomas ' Schuld stehe .
Thomas zuckte verlegen mit den Achseln , er begriff das Gerede nicht .
Eine Dame , mager und ziemlich groß , mit einer überschlanken Taille und einem überpuderten Gesicht , gesellte sich zu ihnen .
Der Hausherr stellte sie als seine Mutter vor .
Sie sprach affektiert und spielte sich als jugendliche Frau auf .
Einmal gab sie mit ihrem schwarzen Federfächer ihrem Sohne einen Schlag .
Ein paar Umstehende lächelten beifällig .
Überhaupt jeder , der mit dieser Dame sprach , lächelte beifällig .
Name auf Name schwirrte an sein Ohr .
Immer wieder verneigte er sich förmlich .
Kommerzienräte und Doktoren , Rechtanwälte , Maler , Schriftsteller , alles war in diesem Kreise versammelt .
Einmal hörte er dicht hinter sich , wie ein junges Fräulein zu ihrem Courmacher sagte :
" Sehen Sie nur diesen Apostel , wie originell !
Bergs haben doch immer etwas Apartes ! "
Der Herr entgegnete :
" Sie können es sich leisten ! "
Merkwürdig , alles das machte ihn nicht zornig .
Er sah nur sie - und jauchzte .
Jedesmal , wenn sie einen Augenblick frei hatte , kam sie auf ihn zugeeilt ; und niemanden blickte sie an wie ihn .
Was kümmerte es ihn da , ob die Menschen die Köpfe zusammensteckten und über ihn tuschelten !
Man ging zu Tisch .
Während man sich setzte , wurde aus dem Hintergrunde Musik vernehmbar , Kleider rauschten , sinnenfrohes , leises Lachen drang zu ihm .
Und sie tat ihren Arm in den seinigen und sagte ihm , daß er ihr Tischherr sei .
Ihr Herr für heute abend , fügte sie hinzu , und aus ihrer Stimme klang bewegte Freude , die ihn bezauberte .
Er fühlte , daß sie sich an ihn schmiegte , und vor niemandem Scheu hatte , sich zu ihm zu bekennen .
Von allen Ecken und Enden der Tafel sah man verwundert auf das Paar .
Aber dann ging es von einem zum anderen im Kreise herum , er habe die Dame des Hauses und das Kind gerettet .
Und darum seien die Bergs bestrebt , ihn vor aller Welt ostentativ auszuzeichnen .
Von diesem Unsinn erfuhr Thomas nichts .
Er kam auch nicht dazu , irgendwelche Beobachtungen anzustellen .
Er sah und hörte nur sie .
Er und sie saßen an der Freudentafel und tranken aus kristallenen Gläsern den roten und den goldenen Wein .
Er und sie berauschten sich an der Tafel des Lebens .
Er und sie blickten sich tiefäugig an und verstanden sich wortlos - und alles um sie versank .
Er spürte es , daß dicht neben ihm das Glück saß , das übermächtige Glück , das den tiefen , magischen Schein des durch alle Dunkelheit leuchtenden Mondes , den schwermütigen Glanz aller Sterne und das glitzernde Licht und die belebende Wärme der Sonne hatte .
Er spürte es und empfand , wie seine Seele sich weitete und zu einem Garten wurde , in dem es grünte , knospte , keimte und blühte .
" Trinken Sie doch " , sagte sie leise zu ihm .
Er erwiderte :
" Ich sehe Sie an und bin im Rausch . "
Hors d'oeuvre wurde aufgetragen ; es barg alle Kostbarkeiten des Meeres .
Der Diener reichte ihm die Schüssel .
Der graue , körnige Kaviar , die roten Hummern glänzten ihm entgegen .
" Essen Sie " , bat sie .
" Ich sehe Sie an , und bin gesättigt . "
Sie neigte die Augen .
Die Damen lachten silbern ; die Herren in ihren weißen gestickten Chemisettes erzählten interessante Dinge und schenkten den Damen den Wein ein .
Immer neue Marken kamen auf die Tafel , und jeder Gang enthielt eine neue Delikatesse .
Was das Meer barg , was unter der Sonne wuchs und reifte , was das Land trug , sah diese Tafel .
Und alles war durch Menschenkunst , so weit es nur anging , in neue und komplizierte Formen gebracht .
" Bei Bergs ist alles magnifique " , sagte ein Herr ihm gegenüber .
" Berg ist ein Lebenskünstler , so 'ne Diners gibt es in ganz Berlin nicht mehr - gibt_es nicht mehr , ich versichere Ihnen .
Sie müssen wissen , ich komme überall hin ! "
Er sprach so laut , daß es die Herrin des Hauses hören mußte .
Thomas sah sich den Mann genauer an .
Er trug einen gerade geschnittenen Spitzbart .
Man merkte es ihm an , mit welchem Verständnis er den Wein auf der Zunge spürte , und mit welcher Feinfühligkeit sein Gaumen auf die Speisen reagierte .
Er sah lustig und vergnügt aus , obwohl seine Züge ein wenig verlebt waren .
" Wer ist das ? " fragte Thomas .
Sie nannte ihm den Namen eines Malers , der in der Berliner Gesellschaft verkehrte und in den Kreisen des Berliner Westens dank seiner geselligen Vorzüge seine entwertete Leinwand verkaufte .
Thomas erinnerte sich an Brose , der im Norden der Stadt kümmerlich mit seiner Frau sich von Porzellanmalerei nährte , um das große , künstlerische Problem , dem er nachging , zu lösen :
er wollte das flache , ärmliche Land , da , wo es hart an die letzten Häuser der Großstadt stößt , und wo Himmel und Erde gleichsam sich berühren , malen .
Das Problem der Horizontlinie nannte er es .
Wie würden sich die Brose hier ausnehmen ?
Schon im nächsten Augenblick vergaß er diese Gedanken .
" Wie lange währt noch Ihr Studium ? " fragte sie ihn unvermittelt .
" Ich bin in einem Jahre Arzt . "
" O , wie schön !
Wie alt sind Sie dann ? "
" Dreiundzwanzig Jahre ! "
" Ah , das ist ja kolossal ! "
" O nein , das ist etwas ganz Gewöhnliches . "
Und ablenkend fuhr er fort : " Darf ich übrigens wissen , wie Sie heißen ? "
" Regine . "
Er wollte etwas antworten , aber sie unterbrach ihn .
" Sprechen Sie jetzt , bitte , nicht zu mir .
Da unten sitzen ein paar nichtswürdige Damen , die uns beobachten .
Sie ahnen gar nicht " , fügte sie bitter hinzu , " wieviel Niederträchtigkeit in diesem Saale ist . "
Unwillkürlich wandte er den Blick nach der bezeichneten Stelle .
Da saß die alte Frau Berg in eleganter , jugendlicher Robe ; und in ihrer Nähe ein paar gleichalterige Damen , die ebenfalls wie junge Frauen sich herausstaffiert hatten .
Der Maler ihnen gegenüber fing seinen Blick auf , und sich direkt zu ihm hinüberbeugend , meinte er respektvoll und bewundernd :
" So , mein Herr , sehen heute unsere Großmütter aus .
Wenn ich ein Festredner wäre , würde ich aufstehen und auf die moderne Großmutter toasten . "
Thomas dachte an weißhaarige Frauen voll Güte und Resignation .
Und wieder fühlte er sich beklommen .
Jemand hielt jetzt eine Rede auf die Gastgeber .
Thomas erfuhr , daß Berg nicht nur ein Finanzgenie , sondern auch der feinste Gourmand der Berliner Gesellschaft sei .
Und Frau Berg war eine Königin , wie sie in Weisheit schon von ihren Eltern genannt worden war .
Bei dem Teil der Rede hatte Thomas einen schlechten Geschmack im Munde .
Er blickte starr auf seinen Teller und schämte sich .
Alles kam ihm so grob , so unverschleiert , so taktlos vor .
Sie sagte : " Ich verstehe Sie und weiß , was in Ihnen vorgeht .
Ich weiß es .
Und darauf stoße ich mit Ihnen an . "
Es dauerte nur einen Augenblick , aber von neuem zog das Glück in ihn ein und verdunkelte trübe Vorstellungen .
Nun kam der Festredner auch auf sie zu .
Die gnädige Frau reichte ihm ihr Glas und lächelte .
Er sah es und wollte es nicht sehen .
Warum lächelt sie ? fragte er sich dennoch .
Die Tafel wurde aufgehoben .
Man ging in den Musiksaal .
Ein berühmter Cellist trug mehrere Stücke vor .
Ein Rechtsanwalt flüsterte trocken seinem Nachbar zu :
" Seine Witze sind mir lieber ! "
Eine Dame sang und verzog dabei ihr Gesicht zu einer Grimasse .
Dann trat ein Herr auf .
Man flüsterte sich zu , daß er ein Tenor der Königlichen Oper sei .
" Was , meinen Sie , kostet das Konzert ? " fragte ihn plötzlich jemand .
Thomas zuckte verlegen mit den Achseln .
" Nun , ich will es Ihnen sagen .
Der Cellist bekommt fünfhundert Mark .
Berg gibt ihm fünfhundert Mark , obwohl er es auch mit zweihundertfünfzig tun würde .
Darin ist er groß .
Ich sage Ihnen , dieses Konzert allein kostet mehrere Tausend Mark .
Wenn man Sie hier lanciert , können Sie ihr Glück machen .
Bergs haben manchen schon - "
Aus Thomas ' Augen schoß ein Blick , daß der redelustige Herr mitten im Satze abbrach .
Nach jeder Nummer wurde heftig applaudiert , und die gnädige Frau und der Hausherr sagten den Künstlern angenehme Worte .
Der Tenor fächelte sich mit einem seidenen Tuche das Gesicht .
Ein Schwarm von jungen und alten Damen umringte ihn .
Herr Berg kam auf Thomas zu und klopfte ihm auf die Schulter .
" Sehen Sie , junger Freund , so ein Tenor - vernarrt sind die Weiber in ihn .
Dumm ist das Luder ... dumm - " er tupfte sich an die Stirn und pendelte mit dem Kneifer .
" Aber das tut nichts , tut absolut nichts ! "
Er nahm Thomas unter den Arm und zog ihn in das angrenzende Rauchzimmer .
Zigarren , in Stanniol eingewickelt , in Kistchen verpackt , die nur zehn Stück enthielten , wurden herumgereicht .
" Rauchen Sie sie mit Verstand , das Stück kostet zwei Mark " , flüsterte ihm der Cicerone des Hauses Berg zu .
Er war ernüchtert , er lehnte dankend ab und ging langsam wieder in die anstoßenden Gemächer , um sie zu sehen .
Aber er fand sie nicht .
Er lehnte sich in eine Ecke und starrte vor sich nieder .
Er wurde auf einmal unendlich traurig und verstört , und alle Wärme war von ihm genommen .
Etwas wie nagenden Schmerz fühlte er .
Aus einer Gruppe von Herren und Damen trat ein verhältnismäßig junger Mann mit einer Art von aufgeblasenem Froschgesicht , dünnem Haupthaar und einer Glatze , die einer Tonsur glich , nachlässig auf ihn zu .
Er schlenkerte auffällig mit den Armen hin und her , hatte aber in seinen Bewegungen und in seinem Sprechen eine unverschämte Selbstsicherheit .
" Gestatten Sie mir , daß ich mich Ihnen vorstelle : Rechtsanwalt Kornfeld ! "
Thomas nannte seinen Namen und schwieg .
" Merkwürdige Gesellschaft hier , was ?
Sie sind in diesen Kreisen offenbar fremd " , fuhr er fort , ohne eine Antwort abzuwarten , " ich sehe es Ihnen an .
Immerhin , man kann hier Beobachtungen machen , Studien - und ich glaube " , fügte er kokett lächelnd hinzu , " Sie machen Studien , junger Freund .
Sie haben so etwas in Ihrem Blick .
Übrigens wer macht nicht Studien !
Einer beobachtet den anderen !
Uns Rechtsanwälten drängt sich ja das Leben in seiner Mannigfaltigkeit förmlich auf .
Wenn ich Zeit hätte , ich könnte Kommentare schreiben .
Man kann behaupten , nirgends strömt das soziale Leben so zusammen wie in dem Büro eines beschäftigten Anwalts .
Man kommt mit allen Schichten der Bevölkerung in Berührung .
Welch ein Schmutz !
Aber ich kann Ihnen versichern , je höher man steigt , desto schlimmer wird es . "
Mit dieser Bemerkung schloß er seine etwas langatmige Rede und sah Thomas herausfordernd an , als wollte er ihm eine Entgegnung abzwingen .
Der brachte kein Wort hervor .
" Wissen Sie " , nahm der andere , ohne sich beirren zu lassen , das Gespräch wieder auf , " ich wette , Sie sind Fanatiker , ich verstehe mich auf Physiognomien .
Sozialist sind Sie , Marxist , fanatischer Marxist .
Ich sage es Ihnen auf den Kopf zu , die Verelendungstheorie ... "
Thomas war von dieser Redseligkeit , die durch nichts ins Wanken kam , denn doch etwas betroffen .
" Können Sie mir das alles vom Gesicht ablesen ? "
" Ja , denn Ihre Züge lügen nicht .
Sie haben " , sagte er geschraubt , " das Antlitz des Märtyrers ! "
Thomas bemerkte , daß die Gruppe , aus der der Advokat zu ihm getreten war , sie aufmerksam beobachtete .
Ein kurzes , abwehrendes Wort schwebte ihm auf der Zunge .
Der Rechtsanwalt kam ihm jedoch zuvor .
" Wissen Sie , darin Stimme ich Ihren Parteigenossen vollkommen zu : der Liberalismus hat abgewirtschaftet .
Ich bin absolut nicht Sozialist , aber ich wähle sozialdemokratisch .
Es ist die einzige Partei , die der Regierung energischen Widerstand leistet , die Kerle fallen wenigstens nicht um ! "
" Warum erzählen Sie mir das alles ? "
Er hatte Mühe , seine innere Gereiztheit zu verbergen .
" Warum sprechen Sie von Gesinnungsgenossen , die Sie mir aufbürden ?
Sie irren ; wenn es Sie beruhigt , ich bin nicht Sozialdemokrat . "
" Donnerwetter , das hätte ich nicht für möglich gehalten . Übrigens " , setzte er nach einer kleinen Pause hinzu , " Sie brauchen sich in diesem Hause nicht zu genieren .
Man denkt hier sehr frei . "
Die Zornadern auf Thomas ' Stirn schwollen .
" Ich geniere mich nirgends .
Und wenn ich etwas zu bekennen habe , so gibt es keine Rücksicht , die mich davon abhalten könnte . "
Die Herren und Damen standen jetzt dicht um sie herum und hatten einen Kreis gebildet .
" Wenn es indessen Ihre Wißbegierde befriedigt " , sagte Thomas , " so kann ich Ihnen mitteilen , daß ich deshalb nicht Sozialdemokrat bin , weil mir die Konsequenzen dieser Partei unklar vorkommen ; weil mir die Idee einer Massenherrschaft ebenso verächtlich ist wie die des Einzelregimes ; weil ich an die letzten Erkenntnisse des Sozialismus nicht glaube . "
Kornfeld machte ein verschrecktes Gesicht .
" Sie sind ja 'n Ketzer " , brachte er etwas verstimmt hervor .
Ein Herr lachte .
" Da sind Sie aber schön reingefallen , lieber Rechtsanwalt ! "
Die Damen horchten interessiert auf .
Eine sagte : " O wie schade , er hat etwas von Ferdinand Lassalle . "
" Übrigens ein feiner Kopf " , meinte ein anderer .
" Der Mensch hat Intelligenz , unzweifelhaft ! "
Kornfeld faßte sich wieder .
" Erlauben Sie Mal , Sie wollen mir doch nicht einreden , daß Sie Gegner des Sozialismus sind und zu den staatserhaltenden Parteien gehören ? "
" Ich versuche niemandem etwas einzureden .
Ich gehöre vorläufig keiner Partei an .
Ich suche meinen Weg , und ich ahne ihn dunkel .
Von Ihren Ideen und Anschauungen liegt er weit ab . "
" Hm , sehr interessant .
Wirklich sehr interessant .
Wo liegt Ihr Weg , wenn man fragen darf ? "
Sein Ton klang scharf und spöttisch .
Er spielte sich als Kriminalist auf und nahm eine inquisitorische Miene an .
Er wollte ihn offenbar reizen und zu Unvorsichtigkeiten verleiten .
Thomas schaute sich mit verwirrten Augen um .
Was wollten die fremden Menschen von ihm , und wo war sie , die ihn solcher Pein aussetzte ?
" Wo also liegt Ihr Weg ? "
Da richtete er sich empor , und seine schlanke , feine Gestalt glich einer Edeltanne .
Er war etwas blasser geworden , und seine Nasenflügel bewegten sich .
Über der Nasenwurzel hatte sich eine tiefe Falte eingegraben .
" Mein Weg liegt " , sagte er mit verschleierter Stimme , " bei Angelus Silesius im Nachtlicht . "
Man starrte ihn mit verdutzten Gesichtern an .
" Wer ist Angelus Silesius ?
Ist das 'n Utopist , 'n Sozialreformer ? "
Thomas beherrschte sich .
" Nein , Herr Rechtsanwalt , der ging auf die Seele .
Nur auf die Seele , obwohl er sich " , fuhr er langsam und nachdenklich fort , " mit dem Körperlichen beschäftigte - denn , wenn er Sie interessiert - er war Leibarzt des Herzogs Sivius Nimrod von Öls . "
" Ach so , der Mann ist tot ?!
Sie kommen uns mit den Toten ! "
Leises Gekicher entstand .
" Angelus Silesius lebt ; und im Vergleich zu diesem Lebendigen erscheinen Sie mir wie ein Leichnam .
Darf ich ihn zitieren ? "
Er vergaß auf einmal , wo er war , und wer um ihn stand .
Seine Gestalt wuchs , sein Auge wurde innerlich .
Aus verschiedenen Zimmern hatten sich die Gäste inzwischen hinzugesellt ; alle führten vor ihm einen Schattentanz auf .
Er stand plötzlich auf einer Kanzel .
Die Schatten verkörperten sich zu einer Gemeinde der Andächtigen , der Durstenden , die von ihm Zuspruch erwarteten .
" Der Zufall muß hinweg und aller falscher Schein - du mußt ganz wesentlich und ungefärbt sein !
Mensch werde wesentlich ; denn , wenn die Welt vergeht , so fällt der Zufall weg - das Wesen , das besteht - " rief er mit vibrierender Stimme .
" Der Mensch ist pathologisch " , raunte ein anwesender junger Arzt der Dame des Hauses zu .
Auch die kleine Gestalt des Rechtsanwalts reckte sich .
Jetzt glaubte er ihn soweit zu haben , um das Spiel lustig und siegreich zu Ende zu führen .
Einige wollten Fragen stellen , andere gaben ein unterdrücktes Gelächter von sich .
Der Rechtsanwalt machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung .
Niemand sollte ihm dazwischen kommen .
Er war es , der das Kreuzverhör leitete .
" Was hat der Leibarzt des Herzogs mit dem Nachtlicht zu tun ? " begann er von neuem .
Es war klar , jetzt mußte die Geschichte zu Ende kommen .
Auch der Arzt stellte sich in Positur .
Das Gesicht Thomas Drucks wurde hilflos , ehe er entgegnete :
" Im Nachtlicht finden sich gehetzte Seelen , die den Spuren des Angelus Silesius folgen .
Menschen , die wesentlich sein wollen . "
Auf das Wort " wesentlich " hatte er einen seltsamen Ton gelegt , und seine Miene hatte einen beinahe weltscheuen Ausdruck bekommen .
Das Gelächter und Gekicher war verstummt , und statt dessen trat nun ein peinliches Schweigen ein .
Thomas wollte noch etwas sagen , aber er brachte keinen Laut mehr hervor .
Es flirrte ihm vor den Augen , und eine Art von Schwindel ergriff ihn .
Er schloß einen Augenblick die Lider und wortlos murmelte er :
" Hilf mir ... hilf mir . "
Der Rechtsanwalt holte aus einer Seitentasche einen Klemmer hervor , den er sorgfältig mit einem weißen Taschentuche putzte , und brach die Stille mit den Worten :
" Jetzt weiß ich es , Sie sind ein Revolutionär , Sie sind ein Revolutionär , obwohl Sie uns sorgfältig Ihre geheimsten Gedanken verschwiegen haben .
Sollte Ihnen jemals etwas passieren , so bitte ich Sie , sich an mich zu wenden .
So ein Prozeß würde mich berühmt machen .
Also vergessen Sie mich nicht ! "
Diese Worte gaben Thomas seine äußerliche Fassung wieder .
Er blickte sein Gegenüber lange und durchdringend an .
Dann verbeugte er sich plötzlich vor allen , ergriff eine Sekunde die Hand der gnädigen Frau , die ganz aschfahl geworden war , und verließ gerade und aufgerichtet den Saal .
Und etwas später , er wußte nicht wie , war er in dem dunklen Tiergarten , heraus aus all dem Glanz , und schritt an den kahlen Räumen vorbei , über die die Mondsichel ein gelbes , grünes Licht warf .
Was hinter ihm lag , kam ihm fremd , verwunderlich und seltsam vor .
Aber in der Herzgegend fühlte er einen stechenden Schmerz .
VI.
In einer Dachkammer am Grünen Weg , der weit im Osten Berlins gelegen ist und so recht eigentlich zur Armeleutegegend gehörte , wohnte der Mechaniker Fründel .
Fründels Kammer glich mehr einem engen , dumpfen Loch .
Eine Kiste , die in der Mitte stand und als Tisch diente , ein eisernes Bettgestell , zwei Stühle und eine Schüssel füllten den Raum .
Die Kiste war bedeutungsvoll .
Hier wusch sich der Mechaniker , hier hielt er sein Mittagsmahl ab , und hier brannte die kleine Lampe , wenn er des Abends über seinen Büchern hockte .
Er war ein fleißiger , arbeitsamer Mensch , der , wie die Leute sagten , ein schönes Stück Geld verdiente .
Er hätte es wohnlicher haben können , aber jeden Groschen , den er erübrigte , trug er in den Buchladen .
Außerdem hatte er eine Notkasse , in die er mit peinlicher Gewissenhaftigkeit seine Steuern entrichtete .
Es war in der neunten Stunde , als die Tür seines Zimmers geöffnet wurde und Josefa Gerving eintrat .
Sie sagte kaum " Guten Tag " , sondern machte sich sofort an der Kiste zu schaffen , aus der sie einen Spiritusbrenner , eine Kasserolle , zwei Tassen mit Teelöffeln , eine Teekanne , zwei Teller mit Messern und Gabeln , Tee , Butter und Brot hervorförderte .
Es stellte sich heraus , daß die Kiste auch der Speiseschrank und Kochherd war , denn auf ihre obere Fläche hatte man ein Eisenblech festgenagelt , um sie für diesen Zweck brauchbar zu machen .
Der Mechaniker nahm wortlos die Bücher weg und entzündete noch eine Kerze , die er auf den Stuhl stellte .
Er rückte ihn an das Bett und setzte sich auf den Rand des Gestelles .
Er las unaufhaltsam mit angestrengtem Gesichtsausdruck , während Josefa Wasser zum Tee aufsetzte , das Brot strich und mit Blutwurst belegte , die sie in einem kleinen Paketchen mitgebracht hatte .
Zuweilen blickte sie zu ihm hinüber , aber er sah niemals auf , ja , schien es nicht einmal zu bemerken .
Sie aber sah ihn an mit Liebe und Zorn und atmete unruhig dabei .
Sie goß den dampfenden Tee in die Tassen und rief ihn leise bei seinem Namen : " Frank ! "
Vorher hatte sie noch ein weißes Tüchelchen über die Kiste gebreitet .
Jede ihrer Bewegungen hatte Anmut .
Es las noch den Satz zu Ende und legte das Buch aufgeschlagen auf das Bett , ehe er seinen Stuhl heranrückte .
Langsam schlürfte er den Tee .
Er schien aber mit seinen Gedanken weit entfernt zu sein , denn er blickte beständig vor sich nieder .
" Frank , was hast du ? "
" Nichts ! "
Ein vergrämter , bitterer Zug grub sich um ihre Mundwinkel .
Sie erhob sich und trat an seine Seite .
" Du willst mich los werden , ich fühle es .
Du bist meiner überdrüssig und willst mich los werden ! "
Er hob die Achseln ein wenig in die Höhe .
" Quäle mich nicht !
Was soll ich dir darauf antworten ? "
" Du kannst mir eben nichts antworten " , gab sie gereizt zurück .
" Du kannst es nicht , und deshalb - "
Er lachte kurz auf .
" Du bist ein Weibsbild ; lange Haare und kurzer Verstand . "
" Ich brauche auch keinen Verstand ; ich hasse diesen Verstand .
Ich hasse diese Bücher " , sagte sie in wütendem Ton und warf einen verächtlichen Blick auf die Diele , wo sie aufgestapelt dalagen .
Er ging nicht darauf ein .
" Laß mich den Tee wenigstens in Frieden trinken .
Was willst du eigentlich von mir ? "
" Dich " , rief sie mit erstickter Stimme , " dich will ich . "
Sie löste auf einmal ihre Haare .
" Mit meinen langen Haaren will ich dich umschlingen und festhalten .
Ich lasse dich nicht .
Hörst du ?
Ich lasse dich nicht .
Und alle diese elenden Bücher verbrenne ich .
Ich verbrenne sie " , fügte sie erregt hinzu .
" Du bist ein Kindskopf und bringst uns gewaltsam auseinander . "
Die letzten Worte sprach er nachdenklich und fest .
Sie horchte mißtrauisch auf .
" Ich ?
Ich ? " fragte sie verwundert und starrte ihn verständnislos an .
" Ja , du , du bringst es so weit , du allein !
Ich bin nicht bloß dazu da , um an deiner Schürze zu hängen .
Ich habe andere Dinge vor - Dinge , von denen du nichts verstehst und nichts verstehen kannst .
Ich lasse mich nicht von dir bewachen und auf Schritt und Tritt verfolgen . "
Und plötzlich in hellen Zorn kommend , schrie er :
" Du bist doch kein Hund , der einem auf den Fersen nachkriecht ! "
Sie hatte ihm lautlos zugehört .
" Du irrst dich " , entgegnete sie , " ich bin ein Hund ; gerade wie ein Hund bin ich . "
Ihre Augen glänzten .
Ihre letzten Worte fühlte er wie Peitschenhiebe .
" Ich lasse mich aber nicht von einem Hunde beschnüffeln , belauern , bewachen ! "
Seine Stimme schnappte über .
" Hunde in Menschengestalt ... "
Ihre Augen trafen sich und beide Gesichter waren verzerrt .
Er wurde jetzt ganz bleich .
" Siehst du denn nicht , daß ich meine Freiheit brauche ?
Ich brauche sie wie die Luft .
Siehst du denn nicht , wie ich mich quäle ?
Ich quäle mich - "
Er lachte niederträchtig auf mit einem häßlichen Lachen , das alles in einem Menschen umdreht .
" Bist du jetzt fertig ? "
" Ja , ich bin fertig . "
" So bin ich an der Reihe . "
Und ohne seine Antwort abzuwarten :
" Weißt du , was du mir damals gesagt hast ?
Weißt du , was du mir versprochen ?
Weißt du , wie du mich zu dir gezogen hast , obwohl ich mich gegen dich wehrte ?
Denn " , fuhr sie mit gesteigerter Erregung fort , " ich wußte es , ich wußte es dunkel , weshalb ich mich wehrte - ich wehrte mich gegen dich , weil ich in dich sah .
Und weißt du , wie du mich zu dir zwangst ?
Wie du mich niederwarfst - wie ich in ohnmächtiger Wut dir unterlag ?
Wie ich dich zuerst haßte ?
Wie ich mich von dir zertreten fühlte ? "
Aus ihrer weißen Stirn drang ein leichter Schweiß , und auch ihre Backen schienen feucht zu werden .
" Ich sah , daß du mich wegwerfen würdest , wegwerfen wie eine ausgepreßte Zitrone ... und jetzt bist du dabei , leugne es nicht . "
Und mehr für sich in Erinnerung zurücktauchend :
" Was hat er mir nicht damals alles gesagt !
Wie hat er mich in meinem Schmerz und meinem Zorn gehätschelt und ist gut und zärtlich gegen mich gewesen !
... Und das soll jetzt alles fortgeblasen , aus sein ? " schluchzte sie krampfhaft .
Und plötzlich stampfte sie mit dem Fuße auf .
" Sage mir , ob du dein Wort brechen willst ?
Sage es mir ? "
Sie stand in gekrümmter Haltung , wie eine zum Sprung bereite Katze , vor ihm .
Er glaubte ihre Krallen zu sehen , mit denen sie ihn zerkratzen würde .
Und dennoch erwiderte er gelassen :
" Es gibt Worte , die man brechen muß .
Dieses sage ich nicht in Bezug auf dich , aber es bleibt dabei : Worthalten kann meineidiger sein als Wortbrechen . "
Sie zitterte .
" Ich gehe nicht von dir .
Ich bin ein Hund " , murmelte sie vor sich hin .
Sie hatte jetzt ihre drohende Haltung aufgegeben und war wie gebrochen .
" Stoß mich nicht von dir " , wimmerte sie .
" Ich kann ohne dich nicht sein , du weißt es . "
Die Worte kamen wie ein Gebet von ihren Lippen .
Und ganz verschüchtert und scheu sah sie aus .
Da zuckte es über seine Miene .
Sie sah , daß er mit sich zufrieden war ; und doch rührte sie sich nicht , sondern wartete ganz still auf seine Antwort .
Er drückte sie auf den Stuhl nieder , und willenlos folgte sie ihm .
Sie war wirklich ein Hund , und er war ihr Herr .
Er ließ ihr Haar wie Wellen durch seine Hände gleiten und sprach ruhig auf sie ein .
Und immer redete er von seiner Freiheit und von all den Dingen , die ihn quälten und auf ihm lasteten .
" Was kann ich dafür , daß , wenn ich vom Schraubstock komme , mir die Gedanken durch den Kopf gehen und mich erdrücken ?
Warum gehe ich nicht ins Wirtshaus , oder lege mich aufs Fell ?
Immer ist etwas in mir , das arbeitet , und wenn ich ruhen will , so pocht es laut und vernehmlich - du darfst es mir glauben - es pocht laut und vernehmlich und reißt mich aus der Ruhe . "
Sie hörte ihm andächtig wie ein folgsames Kind zu .
All ihr Trotz und Widerstand war von ihr genommen .
" Alles wäre gut " , fuhr er fort , " wenn du mich nicht beständig aufstören wolltest .
Du darfst nicht mit all deinen Klagen zu mir kommen .
Du solltest eigentlich nur kommen , wenn ich dich rufe .
Alles wäre dann gut " , sagte er noch einmal .
" Nichts ist schlimmer als der Zwang ; und dann " - dozierte er gleichsam lehrhaft weiter - " ist es auch ein Verbrechen , wenn ein Mensch sich so an den anderen kettet ; ein Verbrechen gegen den anderen und ein Verbrechen gegen sich selbst .
Jeder muß danach trachten , fest auf beiden Füßen zu stehen , leicht und fest , und alles überflüssige Gepäck muß er abschütteln .
Das muß er .
Ich wünschte , du könntest mir folgen ; nur nicht wie ein Hund winseln !
Nur nicht Ketten hinter sich herschleifen !
Gemein ist das , geradezu gemein ! "
Sie gab keine Antwort mehr .
Sie sah nur todestraurig auf all die Bücher , die auf den Dielen lagen .
Diese Bücher waren es , die all das Unheil angerichtet , ihn ihr weggestohlen hatten .
Er fing ihren Blick auf und lächelte überlegen .
Man konnte seine weißen , kräftigen Zähne sehen .
" Ganz falsch " , sagte er , " ganz falsch .
Denn die Bücher kamen erst " , erklärte er , " als es in mir zu arbeiten anfing . "
" Die Bücher ? " wiederholte sie , und wieder wurde ihre Miene finster , und wieder schielte sie nach ihnen hin .
" Du möchtest sie am liebsten verbrennen , oder in den Kehricht werfen " , sagte er gleichmütig .
" Ja " , antwortete sie mit heißer Stimme , " das möchte ich .
Früher saßest du bei mir und hörtest auf alles , was ich sagte .
Und du lachtest , wenn ich dir von den Schnurren der Maler erzählte .
Du warst fröhlich und gut gegen mich .
Auch damals " , fuhr sie nachdenklich fort , " konntest du streng und hart sein - aber ich brauchte dich nur zu küssen , und du warst wieder gut .
Weißt du , weshalb du damals gegen mich hart warst ? "
" Ich weiß es nicht " .
" Du weißt es nicht ? " nahm sie sein Wort auf und machte ein trauriges Gesicht .
" Du warst hart , wenn ich einen anderen ansah .
Aber deine Härte tat mir wohl und jetzt ... "
Er stand auf .
" Ich will das nicht länger hören " , stieß er kurz hervor - und seine knabenhaften , weichen Züge wurden drohend - " ich will es ein für allemal nicht ! "
Sie erwiderte nicht .
Sie deckte schweigend die Kiste ab , holte aus dem Korridor Wasser und wusch Teller , Tassen und Bestecke ab .
Dann stellte sie alles in das Innere der Kiste , zog ihr Cape an , setzte sich die Mütze auf und blieb noch eine Sekunde im Zimmer stehen .
Er las wieder und kümmerte sich nicht um sie .
Sie ging aus der Tür .
Er hörte , wie sie die ersten Stufen hinabging , und atmete erleichtert auf .
Aber gleich darauf kehrte sie zurück und kam von neuem in seine Kammer .
Er lachte laut auf , höhnisch und unverschämt .
" Ich wußte es " , sagte er .
" Das sind alles eure verfluchten Komödien .
Ihr wartet ab , ob man euch nicht doch nachläuft , und wenn ihr euch getäuscht habt , kommt ihr zurück .
Ganz gemeine Handwerkskniffe " , schloß er erbost .
" Gut , es soll so sein " , antwortete sie , und sie lächelte ihm milde und freundlich zu , ohne im mindesten durch seine bösen Worte gereizt zu sein .
Das verdroß ihn eigentlich noch mehr .
Aber unter keinen Umständen wollte er sich von ihr aus der Fassung bringen lassen .
Er bezwang sich .
" Mache es dir ruhig bequem " , meinte er gelassen , " ich werde dich nicht stören . "
Und er rückte seinen Stuhl dicht an die Kiste und las weiter .
Sie stand eine Weile ihm im Rücken und blickte auf die gedruckten schwarzen Buchstaben ; sie atmete unruhig und sah verstört aus .
Dann wandte sie sich hastig ab und legte sich auf das Bett .
Sie fühlte , daß sie weinen mußte , aber sie bis sich auf die rote Lippe , denn weinen wollte sie nicht .
So weinte sie ohne Tränen .
Ein Wimmern und Stöhnen wollte sich ihr entringen .
Sie kratzte sich die Nägel ins Fleisch und so stöhnte sie , ohne einen Laut von sich zu geben .
Er las .
Er sah nichts .
Er hörte nichts .
Er las und las .
Sie schloß die Augen , bis sie vor Müdigkeit einschlummerte .
Um einhalb zehn Uhr wurde die Tür geöffnet .
Der Mechaniker schrak auf .
Auf der Schwelle stand Liers .
Er kaute an dem schwarzen , glänzenden Schnurrbart und schien verlegen und wagte nicht näherzutreten .
Er war blaß und verschlafen , aber er lächelte auf eine eigenartige Weise , und sein Lächeln hatte etwas Gewinnendes und Reizvolles .
Fründel streckte ihm die Hand entgegen .
" Es ist nett , daß Sie zu mir kommen " , sagte er harmlos und tat plötzlich , als ob er nicht im mindesten erstaunt wäre .
" Die Liers wurde gerufen " , antwortete der Dichter .
" Ich begleitete sie , sah noch Licht bei Ihnen und faßte mir ein Herz .
Denn Sie müssen wissen , für mich beginnt der Tag erst abends .
Übrigens tut es mir leid , daß ich Sie gestört habe . "
" Das ist nicht schlimm . "
" Es tut mir leid , um meinetwegen ! "
" Das ändert die Sache .
Aber weshalb tut es Ihnen leid ? "
" Weshalb ?
Es ist mir unangenehm , wenn ich jemanden arbeiten sehe .
Ich schäme mich für ihn und für mich . "
" Das ist auch eine Auffassung ! "
Fründel lachte .
" Es ist die einzige Auffassung .
Es ist die gegebene Auffassung , mein Herr ; wir sind nicht dazu da , um zu arbeiten , wir sind zum Genusse da , zur Lebensfreude ! "
Fründel nahm aus dem noch aufgeschlagenen Buche ein weißes Blatt Papier und notierte .
" Um Gottes Willen , Mensch , was tun Sie ? "
" Ich schreibe Ihre Worte auf . "
" Sie sind ja gemeingefährlich .
Mir ist es schon neulich aufgefallen .
Sie nageln einen jeden fest .
Wollen Sie uns bei Gelegenheit denunzieren ? "
" Ja " , antwortete der Mechaniker mit festem Ton .
" All ' die Brocken , die Sie mir hinwerfen , nehme ich auf .
Und dann siebe ich sie , und dann sehe ich , was übrig bleibt .
Nur so kommt etwas für mich bei der Geschichte heraus . "
Liers betrachtete verwundert und auch ein wenig scheu den merkwürdigen Menschen .
" Sie sind aus schwerem Stoffe ; man muß sich vor Ihnen in acht nehmen . "
" Das ist richtig , ich bin schwer und versuche leicht zu werden , Sie dürfen es glauben , das ist saure Arbeit . "
Der Dichter nahm das Buch in die Hand und las : " Der Wert des Lebens .
Eine Denkerbetrachtung im Sinne heroischer Lebensauffassung von Doktor E. Dühring . "
- " Sind Sie Dühringianer ? " fragte er respektvoll .
" Ich bin Fründel " , entgegnete der andere .
" Oder richtiger ausgedrückt " , fuhr er spöttisch fort , " ich bin der sich suchende Fründel .
Denn , lieber Herr , ich suche mich ! "
" Ach " , sagte Liers , " was seid ihr für schwerfällige Kumpane , Sie und Thomas Druck !
Auch der sucht sich .
Er hat es mit den nämlichen Worten wie Sie ausgedrückt .
Sie sind meine zweite Bekanntschaft , die sich sucht .
Kinder , ihr müßt viel Zeit haben ! "
" Thomas Druck " , wiederholte der Mechaniker - er wollte eben an Liers eine Frage richten .
Aber der hatte sich plötzlich umgedreht und stand wie erstarrt vor der schlafenden Josefa , die er jetzt erst bemerkt hatte .
Und ganz hingerissen sagte er mehr für sich : " Oh , ist die schön ! "
" Dafür kann sie nichts " , bemerkte der Mechaniker trocken .
Liers zuckte zusammen .
Seine Schlaffheit war von ihm genommen .
Der Anblick der schlafenden Josefa hatte ihn aufgerüttelt .
" Nehmen Sie es mir nicht übel , Sie Suchender , Sie sind ein Hornvieh . "
Und ganz außer sich setzte er hinzu : " Und denken können Sie auch nicht .
Sie ist schön - basta .
Sie ist eine Augenweide - basta .
Daß ihr die Schönheit in den Schoß gefallen ist , was ändert das daran ?
Der eine hat_es , der andere nicht . "
Er drehte sich wieder um .
Er war wie außer Rand und Band .
Und andächtig betrachtete er sie von neuem .
Fründel gab ihm einen Wink .
" Kommen Sie einmal näher " , sagte er leise .
" Ich will Ihnen einmal sagen , weswegen Sie hier heraufgekommen sind , und weshalb Sie mir neulich Ihren Besuch ankündigten : Sie hofften , die bei mir zu treffen ! "
Liers wurde rot wie ein Schuljunge .
" Es ist gut , daß Sie nicht schwindeln .
Ich finde auch gar nichts dabei .
Man muß sich in sie verlieben , das ist ganz natürlich , ist mir gerade so gegangen .
Und nun versuchen Sie Ihr Heil bei ihr " , fügte er noch leiser hinzu .
" Finden Sie Gegenliebe , so ist nichts dagegen zu sagen .
Josefa kennt mich gut genug .
Sie weiß , daß ich ihre Freiheit nicht antasten werde . "
Liers stand wie verblüfft da .
So etwas hatte er noch nicht erlebt .
Jemand besaß das Herrlichste auf Erden und sagte zu dem anderen : Geben Sie sich Mühe , es mir zu stehlen ; ich wünsche Ihnen viel Glück dazu .
Vielleicht gelingt es Ihnen !
Der Mechaniker machte ein überlegenes Gesicht .
" Wir hängen doch an keiner Sklavenmoral ? "
Und in ganz ernstem Ton : " Es gibt nur eines : weder wollen wir Besitzende noch Besessene sein .
In uns frei müssen wir werden .
Darauf kommt alles an ! "
Der Dichter hörte nicht mehr .
Er stand wieder an ihrem Lager .
Josefa schlug eben die Augen auf .
Sie tat einen kleinen Schrei , ehe sie mit einem Satze aus den Kissen war , und warf verschlafene Blicke erst auf den Mechaniker und dann auf Liers .
Die Haare fielen ihr wirr über die Schultern und gaben ihr etwas Nixenartiges .
" Denke dir " , redete der Mechaniker sie an , " er ist in dich vernarrt .
Er hat es nicht aushalten können und ist am späten Abend noch heraufgekommen .
Eben hat er gebeichtet .
Nun sage ihm etwas Liebes ! "
Liers stand erstarrt da .
Der Mensch machte sich über ihn lustig .
Dieser Bursche mit dem Milchgesicht und den arbeitsschwieligen , breiten Händen .
Josefa war sprachlos ; und in ihrer Verwirrung erschien sie dem Dichter mystisch .
Bewegt sah er ihr ins Gesicht :
" Es ist alles wahr ; nur daß er es aus mir herausgelockt hat . "
Die Josefa stieß eine gellende Lache aus .
" Du willst mich verkuppeln ! " rief sie , und Cape und Mütze an sich raffend , ohne sie anzuziehen , jagte sie wie gehetzt aus der Tür , die Treppe hinunter .
Fründel verlor nicht seine Fassung .
" Gehen Sie ihr nach " , sagte er , " aber eilen Sie sich !
Sie ist flinker als ein Jagdhund ! "
Der Kerl ist verrückt , dachte Liers .
Er ist sicherlich verrückt , kalkulierte er weiter .
Dennoch folgte er dem Rate .
Er hörte noch , wie der Mechaniker ihm nachrief :
" Sie wohnt Große Frankfurter Straße neunzehn . "
- - -
VII.
Neben Thomas Druck schritt ein lächerlich dünner Herr mit einem verschossenen Tiroler Hütchen und einem zerschlissenen , grauen Mantel , der ins Grünliche schillerte .
Er hatte todestraurige und todesklare Augen .
In einer menschenleeren Allee des Tiergartens machte der Mann halte , und ein sanft gebieterischer Blick brachte auch Thomas zum Stehen .
" Sie sind auf falschem Wege " , beginnt er nach einer Pause des Schweigens .
" Sie sind ein Suchender , der absichtlich in die Irre geht .
Sie sind doppelt unredlich , denn Sie betrügen sich selbst .
Man beginnt mit der Wahrheit am eigenen Fleisch . "
" Ich verstehe Sie nicht " , antwortete Thomas finster .
" Doch - Sie verstehen mich ! "
Aber Thomas schüttelte energisch den Kopf .
Da zuckte es um die dünnen Lippen des Fremden .
Er fuhr mit der Hand über seine große Stirn und über sein ärmliches rotes Haar .
" So werde ich es Ihnen sagen ! "
Thomas nickte lautlos und wagte nicht , seinen Augen zu begegnen .
" Warum werfen Sie begehrliche Blicke auf eine fremde Frau ? "
" Tat ich das ? " fragte er erschreckt und leise .
" Sie taten es .
Sie vergriffen sich mit Ihren Blicken an dem Eigentum eines anderen .
Sie gingen in dies Haus voll Stolz und Arglist .
Sie zogen in selbstgefälliger Eitelkeit den Rock Ihrer Bedürftigkeit an .
Sie wollten auffallen und hervorstechen - aus Eitelkeit . "
" Nein , das wollte ich nicht ! "
" Sie sahen diese Frau an " , fuhr der Fremde unbeirrt fort , " und fühlten sich in Ihrem Inneren gekränkt , wenn sie zeitweise Sie mied .
Sie sprachen mit dem Mann dieser Frau , in dessen Hause Sie Gast waren .
Sie hörten gleisnerisch auf seine Worte , und im geheimen dachten Sie daran , sannen Sie auf Mittel und Wege , ihm sein Wertvollstes zu stehlen .
Sie leben also nicht im Einklang mit Ihrem Empfinden ; Sie sind unrein .
Die Reinen streben nicht nach fremdem Besitz . "
Der Fremde schwieg .
Thomas war zunächst niedergerungen und fassungslos .
Erst die letzten Worte rüttelten ihn auf .
" Herr , was ist Besitz ? "
" Was mir von Rechts wegen gehört " , antwortete der armselige Herr .
" Nichts besitzen wir von Rechts wegen " , rief Thomas laut mit überzeugter Stimme .
" Diejenigen , die das Land an sich gerissen haben und es ausschlachten mit dem Schweiße und der Arbeit der Mühseligen - besitzen die es zu Recht ?
Oder hat der einen Anspruch darauf , der mit seinem sauren Fleiße sät und erntet ? "
Der Herr schwieg , und Thomas fuhr fort : " Besitzt der Vater seinen Sohn , den er in die Welt gesetzt hat , wenn er an seinem Leib und seiner Seele keinen Anteil nimmt ?
Oder dessen Leib er nur kennt , nicht aber die Seele ?
Besitzt ein Mann ein Weib und ein Weib einen Mann , weil sie in einer Stunde ihres Lebens auf ein weißes Papier ihren Namen gesetzt und einen Eheschein ausgefertigt haben ?
Besitzen sie sich nicht vielmehr nur solange , als sie ihre Arme um sich schlingen und eines zum anderen sagt :
ich besitze dich , weil du mich liebst , weil du in mir lebst , solange du mich liebst ? "
Thomas geriet in tiefe Erregung .
" Ich frage Sie : Wird Besitz durch Zwang und Übermacht - wird ein heiliges Recht auf Besitz durch solch unnatürliche Mittel errungen ?
Sie antworten mir nicht .
Ich sage Besitz ist etwas , was nun und nimmer von Dauer ist , was von Stunde zu Stunde erkämpft sein will .
Mein , dein und sein " , rief er mit zorniger Stimme , " sind Begriffe nicht für die Ewigkeit , nicht für die Zeitlichkeit , nicht für die Stunde .
Das Land , das ich zu bebauen aufhöre , versagt mir die Frucht ; nur meine Arbeit gibt mir jeweiligen Besitz .
Und in der Liebe nützt mir nicht einmal meine Arbeit und nicht meine Menschlichkeit .
Man gibt sich oder versagt sich .
Man gibt sich , weil man sich geben muß , und versagt sich aus dem nämlichen Grunde .
Und handelt man anders , so handelt man sündig . "
Der Fremde hatte schweigend zugehört , dann entgegnete er ruhig ; " Sie sind ein Suchender in Verirrung .
Besitz , wie Sie ihn auffassen , ist etwas Niedriges und Minderwertiges .
Sie sind ein Suchender ohne Gerechtigkeit und Sittlichkeit .
Sie stützen sich vielleicht auf Recht und Sitte , die wandelbar sind " , erklärte er gleichsam das Vorhergesagte , " aber Sie vergessen , daß es Gerechtigkeit und Sittlichkeit gibt , die ohne Wandel , die ewig sind .
Wer sich selbst besitzt , dessen Streben nach vergänglichen Werten hört auf , denn er hat in sich den Maßstab der Ewigkeit .
Vergessen Sie das nicht " , setzte er in gedämpftem Tone hinzu , " und verlassen Sie die Irre , denn noch einmal : Sie sind ein Suchender , der irrt . "
Thomas wollte erwidern , aber der Fremde schloß ihm mit einer Handbewegung den Mund .
Er suchte die Lippen zu öffnen , aber der Fremde war verschwunden .
Thomas schluchzte mit trockener Kehle in sich hinein .
Er wollte dem Fremden nacheilen , aber eine dunkle Mauer türmte sich vor ihm auf und verdunkelte alles um ihn .
In diesem Augenblick erwachte Thomas Druck . - - - VIII .
Es schlugen die Wogen über ihm zusammen .
Sturmflut , gegen die es kein Siechwehren gab .
Frau Berg stand vor ihm in seinem dürftigen Zimmer und nestelte nervös an dem weißen Schal , der über ihr Nerzjackett fiel .
" Warum sagen Sie kein Wort ?
Ich stehe vor Ihnen wie eine Bettlerin , und Sie sagen kein Wort . Habe ich Ihnen etwas getan ?
So reden Sie ! "
Und gereizt fuhr sie fort : " Bevor einer für schuldig erklärt wird , klagt man ihn an und läßt ihn sich verteidigen . "
Und als er noch immer schwieg , sagte sie , und ihr Ton klang wild und höhnend :
" Sie haben wohl Angst vor mir ? "
" Ich hatte Furcht vor Ihnen " , antwortete Thomas und seine verstörten Züge belebten sich , und aus seinen eingesunkenen Augen sprühte etwas wie Rauflust .
" Sie wollten damit ausdrücken , daß Sie mit mir fertig sind ? "
Sie verschränkte ein wenig die Arme , und ihre Lippen kräuselten sich hochmütig .
" Ich finde es unerhört " , brachte sie dann mit feindseliger Stimme hervor .
" Aber wenigstens antworten sollten Sie mir .
Kann ich etwas dafür , daß ein taktloser Bursche Sie in meinem Hause überfiel ?
War es das ? "
Und ohne seine Entgegnung abzuwarten , zog sie aus ihrem Muff einen weißen Bogen , den sie ihm reichte .
" Lesen Sie " , sagte sie in befehlerischem Ton .
Er überflog flüchtig die Zeilen :
" Gnädige Frau !
Ich habe heute Ihren Brief empfangen , in dem Sie mir Ihr Haus verbieten .
Ich bin ebenso überrascht wie befremdet ; vor allem bin ich der Überzeugung , daß Sie keineswegs im Sinne des Herrn Track gehandelt haben .
Und im Gefühle des mir getanen Unrechts erwarte ich mit Ruhe meine Genugtuung .
Sie werden mich zurückrufen .
Wenn Sie es wünschen , werde ich Herrn Track aufsuchen und ihm die Frage vorlegen , ob ich ihn verletzt habe .
Ich sehe Ihrer Antwort entgegen und zeichne mit dem Ausdruck der Hochachtung Rechtsanwalt Kornfeld . "
Thomas gab ihr das Blatt zurück .
" Der Mann hat vollkommen recht " , entgegnete er kalt .
" Der Mann kann mich nicht verletzen . "
Sie starrte ihn an .
" So war ich es also ? "
" Sie waren es .
Ich war ein Gast in Ihrem Hause , aber Sie dachten nur an sich .
Genau wie damals " , setzte er zornig hinzu , " wo Ihrem Kutscher das Blut aus seiner klaffenden Stirn strömte und Sie dies Blut nicht sahen .
Sie sahen auch mein Blut nicht .
Sie empfanden es nur peinlich , daß in Ihrem Festsaal - - "
Er brach mit einem kurzen Lachen ab .
Sie war um einen Schatten bleicher geworden und verbarg ihr Gesicht in den Händen .
Dann ließ sie die Arme schlaff sinken .
Ihm schien es , als ob auf ihr Gesicht Furchen traten , die auftauchten , um gleich wieder zu verschwinden .
Sie stand eine Weile bewegungslos da .
" Das sagen Sie mir ? " flüsterte sie endlich .
" Nun gut ; übrigens Sie haben ganz recht , Herr Thomas Druck " , fügte sie , sich aufraffend , hinzu .
" Es ist genau so , genau so ist es .
Sie sind ein Seher , Sie haben in mich geschaut . "
Und auf einmal wuchs sie vor ihm .
Ihre Miene wurde hart und stolz , und mit einem kaum merklichen Nicken ihres Kopfes verließ sie die Mansarde .
Thomas trat ans Fenster .
Unten stand ihr Wagen , und auf dem Bock saß der nämliche Kutscher , der damals aus der Stirnwunde geblutet hatte .
Thomas sah , daß er einen Zigarrenstummel in der Hand hielt und gemächlich zu rauchen schien .
Und jetzt trat die gnädige Frau aus dem Tore seines Hauses - und jetzt stieg sie in den Wagen - und jetzt jagte sie davon .
Sie sah sich nicht mehr um .
Thomas blickte ihr nach .
Er horchte auf das Davonrollen der Räder .
Er lachte in sich hinein , um etwas zu betäuben , das in ihm schmerzhaft war .
Er fühlte aber , daß dies Lachen ihm wehe tat und seinen Schmerz noch mehr aufstörte .
Er riß die Fenster auf , denn es war ihm auf einmal dumpf und eng zwischen seinen niedrigen vier Wänden .
Eine beklemmende Unruhe kam über ihn .
Er setzte sich an seinen Tisch und zog einen Briefbogen hervor .
Er fühlte dunkel , daß sie Herrin über ihn war , und empfand das mit Schmerz und Freude .
Er schrieb mit großen , fahrigen Buchstaben :
" Ich will Sie heute abend sehen , Sie werden zu mir kommen , ich bin von acht Uhr ab zu Hause .
Thomas Druck . "
Und ohne über seine Handlungsweise nachzugrübeln , ohne sich einen Begriff zu machen , was er tat , steckte er diesen Bogen in ein Kuvert , siegelte es zu , warf sich seinen Mantel um , und den Hut in der Hand haltend , eilte er die Treppen hinunter .
Er jagte gleichsam zum nächsten Briefkasten , als könnte er verfolgt werden und jemand ihm Einhalt tun .
Erst als er den Brief in den blauen Kasten geworfen hatte , fiel ihm ein , daß er nicht frankiert war ; dennoch atmete er tief auf , pfiff wie ein übermütiger Junge eine leise , lustige Melodie vor sich hin und schritt durch die Straßen wie im Rausche . - - - IX .
Es kam der Abend .
Thomas hatte keine Lampe angezündet , er fürchtete sich vor dem Licht .
Das Dunkel und die Finsternis stimmten besser zu seinen unruhigen Gedanken .
Er durchmaß aufgeregt die kleine Kammer , zuweilen hielt er inne und lauschte .
Aber es blieb still , kein Geräusch regte sich , eine Totenruhe umgab ihn .
Es war ganz schwarz in dem Zimmer , und keinen Gegenstand konnte sein Blick durchdringen .
Er setzte sich auf das Sofa und drückte die Hände gegen die Augen .
Und nun sah er aus dem tiefen Dunkel erlesene Farben leuchtend hervortreten .
Einmal hatte die Finsternis goldene Reifen bekommen , in denen Regine wie ein seltsames Bild eingerahmt war .
Und plötzlich löste sich der Hintergrund in eine weiße Lichtgestalt auf - und das war sie .
Da nahm er erschreckt die Hände fort .
Und nun horchte er jählings auf und hielt den Atem an .
Er hörte ihren Gang - sie war es , sie mußte es sein .
Er öffnete mit unsicheren Fingern die Tür , und am Geländer tastend , schritt er die Stufen der ersten Treppe hinunter .
Auch auf der Treppe dieses Hauses war kein Licht - aber plötzlich stand er ihr gegenüber , und ihre Hände fanden sich ohne Worte .
Einen Augenblick standen sie so still und fühlten nur ihren Atem .
Aber dann machte sie sich los und schlang ihre Arme um ihn .
" Da bin ich " , sagte sie und küßte ihn durch ihren Schleier hindurch .
" Du ...
Du ... " stammelte er verwirrt .
Es war aber ganz hell um ihn ; der Himmel hatte sich geöffnet , und Engel in weißen Kindergewändern jauchzten ihm zu .
Das dauerte nur ein Sekunde .
Sie hatte sich in seinen Arm gehängt , und vorsichtig führte er sie hinauf , behutsam , wie ein zerbrechliches Wesen , das schon durch eine unglückliche Bewegung Schaden nehmen konnte .
Er wollte Licht anzünden , aber sie sagte bloß :
" Bitte , bitte " , und da ließ er es dunkel .
Und wieder küßte sie ihn ; aber diesmal hatte sie den Schleier ein wenig gehoben .
Er zog sie so heftig an sich , daß sie aufschrie , aber sogleich sagte sie , daß das nichts zu bedeuten habe .
" Ich wußte , daß du kommen würdest . "
" Ja " , entgegnete sie , " ich wartete nur auf deinen Ruf .
Du mußtest mich ja rufen . "
Er zog sie ans Fenster , das er öffnete .
Das Schneegestöber fuhr ihnen in die Gesichter , und sie lachten wie Kinder .
Aber er bekam Angst , sie könnte sich erkälten , und schloß hastig den Flügel .
Nun zündete er Kerzen an .
Sie stand in einem englischen schwarzen Tuchjackett da , das ganz schlicht und einfach war ; auf dem Kopfe trug sie einen gewöhnlichen grauen Filzhut , der nur durch eine Hahnenfeder geschmückt war .
Niemals hatte sie ihm besser gefallen als in dieser Tracht .
Sie sah wie ein taufrisches Mädchen aus , wie ein kleines schlankes Fräulein .
Und sie fühlte das .
Ihre Züge hatten etwas Keckes , Unternehmendes , Leuchtendes .
" Oh " , meinte sie , " wie schön ist es , zu seinem Liebsten zu schleichen .
Nie wußte ich , daß das so schön sein könnte ! "
Bei diesen Worten jedoch drehte sie sich um und mied ihn .
" Komme " , bat sie leise .
Er zog den Mantel an , und wieder verschleierte sie sich .
Und der weiße Schleier mit den schwarzen Punkten gab ihr einen besonderen Reiz .
Sie legte ihren Arm in den seinigen , und trotz der Dunkelheit sprangen sie wie Kinder sorglos die schiefen Stiegen hinab .
Sie spürten es nicht , daß unten auf der Straße ein harter Wind ihnen entgegenschlug und ihre Haare zerzauste .
Sie schmiegten sich enger aneinander und gingen durch das Schneegestöber und Lichtgefunkel wie ein verliebtes , junges Paar .
" Wunderst du dich denn nicht , daß ich bei dir bin ? "
" Nein , ich wundere mich nicht . "
Und das " Du " durchdrang ihn wie ein linder , süßer Feuerstrom .
In dieser Stunde war er stark sondergleichen .
Er hatte die Kraft eines Bären , dem niemand nahekommen durfte .
" Mein Mann ist verreist .
Er hat Aufsichtsratssitzung . "
Die Erklärung ihres Kommens ernüchterte ihn einen Augenblick .
Er wollte es gewaltsam vergessen und glaubte schon damit fertig zu sein , als er an der Ecke der Straße zusammenschrak .
Ein Herr mit einem grünen Tiroler Hut , einem zerschlissenen , grauen Mantel war an ihnen vorübergehuscht .
" Ist dir etwas ? "
" Nein ? "
Sie drückte ihn inniger an sich , und der Herr , dessen dünnes , rotes Haar unter dem Tiroler Hut nur noch matt aus der Ferne herüberschimmerte , war vergessen .
Er atmete wieder befreit auf .
" Ich bin jung " , sagte er mehr für sich , " ich habe das Recht zur Liebe und zum Leben . "
Und noch einmal wiederholte er es sich :
" Ich bin jung . "
" Niemand sieht mich , und niemand erkennt mich " , unterbrach sie glückselig die Stille .
" Und wenn dich jemand erkennt ? "
" Nein , niemand erkennt mich ! "
" Und wenn doch ? "
Sie blieb stehen und sah befremdet in seine gespannten Züge .
" So würde es nichts schaden " , erwiderte sie leise .
" Ich liebe dich ... ich liebe dich . "
Die Menschen drängten an ihnen vorüber .
Alles eilte in dem störrischen Wetter nach Hause .
Doch die beiden hatten keine versorgten und verkümmerten Gesichter .
Sie lachten und sprachen laut und fröhlich mit einander , und Thomas summte es durch den Kopf :
O Welt , wie bist du wunderschön !
Auf sein heißes Gesicht fielen die Schneeflocken und taten ihm wohl .
Und die bittere Kälte ging durch seine Glieder und stärkte ihn .
Er dachte nur eines : dieser dunkle Winterabend möchte nicht enden .
Einmal starrte ihnen jemand dreist ins Gesicht , so daß Regine zusammenzuckte ; aber gleich darauf lächelte sie wieder .
Sie kamen in ein Weinrestaurant der Friedrichstadt .
Ein befrackter Kellner , diensteifrig , mit einem unterwürfigen Gesicht , machte eine einladende Handbewegung und führte sie in ein kleines elegantes Zimmer .
" Wenn die Herrschaften mich brauchen , so bitte ich zu klingeln " , sagte er diskret und verschwand sofort wieder .
Sie sah sich neugierig in dem Raum um , zog das Jackett aus und stand in einem bescheidenen braunen Kleide vor ihm .
Sie klatschte ein wenig in die Hände .
" Zu wissen , daß du mich lieb hast ! " rief sie wie verzückt .
" Komme , zieh mir die Handschuhe aus . "
Er versuchte es und stellte sich dabei ganz ungeschickt an .
" Ach , was bist du für ein Bär " , lachte sie .
" Nein , nein , du bist kein Bär .
Du siehst aus wie ein verkleideter Fürst . "
Und ganz ernsthaft setzte sie hinzu :
" Es würde mich nicht wundern , wenn du plötzlich ohne viel Aufhebens sagen würdest :
Ich bin der Fürst Schuwalow . "
" Weshalb gerade Schuwalow ? " fragte er erstaunt .
" Ach , nur so , nämlich ein russischer Fürst wäre mir am liebsten . "
" Muß es ein Fürst sein ? "
" Es muß nicht , denn in dieser Stunde bist du für mich ein Fürst . "
" Ich bin es ! "
" Ich glaube , du bist es wirklich , du verstellst dich und hältst alle Welt zum Narren .
Du wohnst in einer Dachkammer , weil du all der Pracht müde bist .
Ach " , sagte sie , " es muß zu schön sein ! "
Etwas klang durch ihr lustiges , einfältiges Reden , das ihn traurig machte .
" Komme , laß uns einkaufen , ich will bei dir oben essen . "
Er nickte nur und klingelte .
Der Kellner kam auf der Stelle .
" Sie ... "
Thomas stockte und wußte im Augenblick nicht , wie er die gnädige Frau titulieren sollte .
Und ganz hilflos brachte er die Worte hervor :
" Wir müssen doch nach Hause . "
Er drückte dem Kellner einen Taler in die Hand .
Der Garcon verbeugte sich tief , redete ihn mit " gnädiger Herr " an und reichte ihm den Mantel - und wieder waren sie auf der Straße .
Es war zu seltsam , es war zu merkwürdig , es war zu schön !
Und auf einmal hielt er seine Schritte an und fragte sie :
" Sage mir , ob ich träume , sage mir , ob ich wach bin . "
" Du bist wach " , antwortete sie glücklich .
Sie gingen in einen Delikateßladen .
Die gnädige Frau kaufte ein : ein halbes Viertel Astrachaner Kaviar , ein halbes Viertel Spickgans , ein halbes Viertel Zunge , ein halbes Viertel geräucherten Lachs , ein halbes Viertel Blasenschinken , eine kleine Dose Brie und Gorgonzola und ein Viertelpfund Butter .
" Willst du noch etwas , Kind ? " fragte sie .
" Nein " , stotterte er verlegen und gab seinen Zettel an der Kasse ab .
Er bezahlte gegen fünf Mark .
Es kam ihm in diesem Augenblick lächerlich wenig vor .
In einem Teegeschäft wurde Tee gekauft .
Dann trat man den Heimweg an .
Die alte Frau , bei der Thomas wohnte , sah ihn wirr und verständnislos an ; sie begriff ihn nicht .
Sie verstand auch nicht , daß die gnädige Frau sie um Teller , Bestecke und ein Tischtuch bat .
Die gnädige Frau ging mit ihr in die Küche , und die Alte humpelte unterwürfig an ihrer Seite .
Nach einer Weile kam sie wieder herein .
Sie hatte kein weißes Tischtuch , nur eine rotgepunktete Kaffeekränzchendecke , aus früheren Tagen hatte sie gefunden und ein paar kleine Servietten in der nämlichen Farbe .
Aber Teller hatte sie , einfache weiße , und schwarze Messer und Gabeln , ein wenig stumpf und wackelig , aber zur Not doch noch verwendbar .
Sie deckte den Tisch , während die Wirtin auf einem armseligen , kleinen Herde das Wasser für den Tee zum Sieden zu bringen sich mühte .
Nie hatte Thomas ein solches Glück empfunden .
Jetzt , dachte er in seiner hellen Freude , bekomme ich eine Vorstellung , wie es ist , wenn Mann und Frau zusammenhausen ; wie sie den Tisch deckt und sich auf jeden Bissen freut , den man gemeinsam essen wird .
Wie man dazwischen lacht , sich in zärtlichem Verlangen ansieht - nur an sich denkt und alles andere vergißt .
Und es kam ihm vor , als ob es gar kein anderes Glück gäbe als das , wenn Mann und Weib zwischen vier Pfählen sich gegenüber säßen .
" Du , ich muß noch einmal hinunter " , sagte sie .
Und ohne sich das Jackett zuzuknöpfen , den Filzhut ein wenig schief auf dem Kopf , nickte sie ihm lustig zu und eilte an ihm vorbei .
Das Warten wurde ihm zur Ewigkeit .
Er sah auf die Uhr .
Er trat an das Fenster .
Er schritt durch das Zimmer .
Er zählte .
Er wurde ängstlich und die Furcht stieg in ihm auf , alles sei ein Mummenschanz gewesen - und nun , nachdem sie ihn in Rausch und Freude gebracht , kehre sie ihm hinterlistig den Rücken und lasse ihn in seiner Einsamkeit .
Da kam sie herein .
Das Haar war ihr wirr , die Augen funkelten .
Aus weißem Seidenpapier nahm sie Veilchen und Maiglöckchen , Christblumen und Anemonen .
Und die legte sie bunt durcheinander auf die Kaffeedecke mit den roten Punkten .
Und nun war das Zimmer ein Garten im Winter , und die Christblumen und Anemonen schufen ihm das Bild der Heimat .
Der Tisch war an das wurmstichige Sofa gerückt .
Die Alte brachte das dampfende Getränk herein , dessen Farbe rotgolden war .
Regine hatte mit behenden Fingern die Brötchen mundgerecht gemacht , und den ersten Kaviarbissen mußte er aus ihrer Hand nehmen .
Sie zwitscherte wie ein Vogel , sprühte vor innerer Lebendigkeit , lachte vergnügt , sah ihn dann wieder großäugig und leuchtend an und bewegte ihn bis in die Tiefe .
" Sage , wie lieb du mich hast ! "
" Ich kann es gar nicht sagen ! "
" Sage es , ich bitte dich ! "
Seine Halsmuskeln zitterten , seine Lippen bewegten sich beständig .
Sie sah seine Qual .
" Sage es , bitte " , wiederholte sie noch einmal .
" Ich habe dich so lieb , daß ich zum erstenmal begreife , begreifen kann , wie ein Mensch um seiner Liebe Willen alles andere vergißt . "
Er machte eine kleine Pause .
Sie ließ ihn in ihrer Erwartung nicht los .
Da sagte er langsam und fast für sich :
" Ich verstehe , daß ein Mensch aus Liebe zum Strauchdieb und Mörder werden kann ; denn " , fuhr er fort , " es gibt für ihn keinen Willen mehr , eine dunkle Macht treibt ihn mit einer blutigen Peitsche . "
Sie sah ihn ein wenig scheu von der Seite an .
" Oh , das ist schön , wenn ein Mensch so liebt ! "
Er wurde von dieser Antwort ganz betroffen .
Sie merkte es und nahm seine Hand zwischen die ihrigen .
" Ich meine " , brachte sie freudig hervor , " dies ist das Tiefe und Wahre .
Alle Vernunft , aller nüchterner Verstand hört auf , alle kleinlichen Erwägungen fallen ; man liebt sich einfach und vergißt alles .
Es gibt keine Religion , es gibt keine Rücksicht , es gibt keine Moral mehr .
Man wird , wie du es so prachtvoll ausdrückst , zum Strauchdieb oder gar Mörder . "
Sie war vor Erregung ganz blaß geworden .
Nichts Totes war mehr in ihrem Blick , und wenn ihre Augen sonst stumpfen , schwarzen Kohlen glichen , so hatte sie sie selbst zu strahlenden Diamanten umgeschliffen .
" Du wunderst dich über mich , ich sehe es dir an , du wunderst dich , daß man mit Freude zu so schrecklichen Dingen sich bekennen kann ; aber glaube mir , noch vor acht Tagen hätte ich nicht gewußt , daß so etwas aus mir herauskommen könnte .
Du bist daran schuld , du allein .
Und dann " , setzte sie hinzu , und ihr Gesicht bekam einen tüftelnden und grüblerischen Ausdruck , " kannst du es nicht verstehen , daß jemand , der in einem goldenen Käfig gefangen ist , neidisch auf die Freiheit der anderen ist ?
Und daß ihm die Liebe erst dann groß , stark und übermächtig vorkommt , wenn sie alle Schranken durchbricht und nicht vor Diebstahl " - ihre Stimme wurde fiebrig - " und nicht einmal vor Mord zurückschrickt ? "
Sie lachte in heißer Erregung plötzlich auf .
" Ich komme mir selbst jetzt fremd und wunderlich vor .
Nie , nein , nie hätte ich gedacht , daß ich solche Dinge mit dir reden könnte . "
Sie rückte ganz dicht an ihn heran , erhob sich ein wenig und schlang ihre Arme um seinen Hals .
" Sprich , wenn so etwas in uns ist , muß es dann nicht wahr und tief sein ? "
Ihre Worte machten einen sichtlichen Eindruck auf ihn , und das spürte sie .
" Da ist etwas in deiner Frage " , entgegnete er , " das an die letzten Dinge rührt , und worüber sich mancher schon den Kopf zerbrochen hat .
Was in uns ist , ist tief ; was ist , ist wahr und notwendig , mag es uns auch Hemmnisse und Leiden , Krankheit und Seuchen schaffen ! "
Sie legte ihre beiden Hände an die Stirn .
" Du , das begreife ich alles nicht , ich kann nicht denken . "
" Doch , du kannst .
Du mußt .
Dinge , die wir nicht fassen können in unserer Beschränktheit , die uns verwirren und lähmen , haben in der Natur ihr Ziel und ihre Bestimmung ; und mögen sie zum Kampf oder Tode führen , so bedeuten sie doch Leben und Entwicklung .
Denn was ist das Sterben anderes als Werden und Entwicklung ; das , was stirbt , macht dem , was stärker und jünger ist und zu neuer Entwicklung führt , einfach Platz .
Und so kann man wirklich sagen , alles , was in uns und um uns ist , steht mit der Natur im innigsten Zusammenhäng , wenn wir es auch oft nicht zu begreifen vermögen .
Aber " , fügte er hinzu , " in uns ist eine solche Unendlichkeit von Trieben , Instinkten , Empfindungen , die gegenseitig sich befehden und aufeinander lauern , daß auch hier wohl eine Auslese sein muß ; und es kommt schließlich wohl wirklich nur darauf an , daß das herrscht , was für unser Sein bestimmend ist . "
" Das ist alles so schwer und rätselhaft " , meinte sie .
" Ja " , antwortete er leise und nickte ihr zu ; weil wir selber Rätsel sind , ist alles in uns ohne Lösung .
Man ahnt sie wohl , aber niemand hat mit Bestimmtheit sagen können , daß er das Richtige getroffen hat .
Hast du dich niemals mit diesen Dingen beschäftigt ? "
" Nein , ich habe mir alles Denken abgewöhnt .
Ich lebe nur so dahin und denke nicht .
Er sagt : Denken ist überflüssig " , fügte sie scheu hinzu und mied es , ihn anzusehen .
Dieses " Er " brachte ihn für eine kleine Weile um alle Stimmung .
" Und hast du niemals religiöse Vorstellungen gehabt , in denen sich solche oder ähnliche Ideen kreuzten ? "
" Nein , ich habe keine Religion .
Ich lebe dahin und glaube an nichts .
An nichts glaube ich . "
Und langsam und bedächtig , aber in völlig bestimmtem Tone setzte sie hinzu : " Es ist mir völlig gelungen , alle die Vorstellungen von Gott zu vergessen .
Gott ist in mir erloschen .
Auch denke ich nie ans Sterben ; niemals gehe ich auf einen Kirchhof , und keine schwarzumränderte Todesanzeige darf mir gezeigt werden .
Ich will einfach nicht daran erinnert werden , ich will nicht " , schloß sie mit dem Ausdruck eines trotzigen und eigensinnigen Kindes .
Er hatte ihr aufmerksam und angestrengt zugehört .
Ist das nicht alles so wie bei mir ? dachte er im stillen .
Und er erinnerte sich an seine Knabenzeit , wo ihm der Sterbegedanke Schmerz und Pein gebracht , wo die Tamara mit ihm in den Kissen geweint und er erst Ruhe gefunden hatte , als er aufhörte , über alle die Dinge zu grübeln .
Sie waren eine Spanne Zeit in Gedanken versunken und fuhren zusammen , als die Alte den Kopf in die Tür steckte , über den sie wie eine Haube ein schmutziges , graues Tuch geschlungen hatte .
" Wünschen Sie noch etwas , Herr Doktor ? " fragte sie in gebückter Haltung .
" Von wegen weil ich müde bin und Schlaf in den Augen habe . "
" Gehen Sie ruhig zu Bett ! "
Aber sie ging nicht sofort , sondern trat in das Zimmer ein , und indem sie einen unterwürfigen Knicks machte , sprach sie mit einem lächerlich ehrfürchtigen Ausdruck : " Gute Nacht die gnädige Frau - " und reichte Regina wie ein Kind die alte , runzelige Rechte .
Regine berührte sie kaum .
Ja , sie schüttelte sich beinahe wie im Frost bei dem Anblick der Wirtin .
Sie murmelte etwas Unverständliches , zog ein Goldstück aus der Tasche und drückte es ihr in die Hand , aber so flüchtig , daß sie sie nur streifte .
Die Frau machte ein verblüfftes , beinahe entsetztes Gesicht , sah Thomas Track einen Moment verwirrt an und ging hinaus .
Nach einer kurzen Stille sagte Regine und zog die Schultern zusammen , als ob sie fröre .
" Glaubst du auch daran , daß alte Weiber Unglück bringen ? "
Er gab ihr keine Antwort .
Es war so merkwürdig in dem engen Raum geworden .
So ernst , so feierlich .
Alle Liebesworte waren verstummt , und schwermütige Gedanken und Stimmungen hatten sich hereingeschlichen .
Sie waren gekommen wie Diener in alten Häusern , die unhörbar , gleichsam auf Filzsohlen in den Festsaal treten und den Gästen den Becher und die Speise reichen .
Es lag auf ihnen wie ein Alp ; aber dieser Alp hatte bei alledem etwas von Süße , das sie noch enger verknüpfte .
Sie standen beide auf einmal wie verabredet auf und traten an den armseligen , weißen Kachelofen und legten auf die Fliesen eng ihre Hände nebeneinander .
Sie lachten zusammenklingend auf , denn der Ofen war kalt .
Aber ihre Hände , die sich trafen , zitterten und strahlten Wärme aus .
Sie sprachen kein Wort .
Dann verließen sie ihren Platz , und während sie ihr Jackett anzog und den Hut aufsetzte , sagte sie :
" Wenn du wüßtest , wie schön das war ! "
Und dann nahm sie , ehe er es abwehren konnte , seine Hände und küßte sie .
Er durfte sie nicht nach Hause begleiten .
In einer geschlossenen Droschke verließ sie die Luisenstraße .
Bevor sie einstieg , sahen sie sich noch lange , lange an .
Als Thomas wieder heimkam , entkleidete er sich nicht , sondern las , bis es graute , aber was er gelesen hatte , wußte er nicht . - - - X .
Am anderen Morgen erwachte er , noch immer in seinem Stuhle sitzend .
Das Buch war seinen Händen entglitten .
Der Kopf tat ihm weh .
Er mußte sich langsam und mühsam an die Vorgänge des verflossenen Abends erinnern ; alles kam ihm wie in Nebel gehüllt vor , auch glaubte er , geträumt zu haben .
Und erst allmählich , als Einzelheiten lebendig in ihm auftauchten , zweifelte er nicht mehr , daß die gestrige Nacht mit ihren Erlebnissen in Wirklichkeit gewesen war .
Er dachte zurück bis auf den Tonfall jedes Wortes , bis auf den wechselnden Ausdruck ihrer Züge ; zuweilen schloß er die Augen , um den Erinnerungseindruck ganz stark sich wachzurufen , und schließlich blieben alle seine Gedanken an ihrem Worte haften :
" Was in uns ist , ist wahr . "
Aber was ist in uns ? spintisierte er weiter .
Was bleibt in uns übrig , wenn alle Krusten und Hüllen gefallen sind ?
Und gab es eine Möglichkeit , daß man mit saurem Schweiße unaufhörlich in sich das Erdreich aufschüttete , bis man an die Wurzeln seiner Persönlichkeit kam ?
Und wie viele gelangten bei dieser Arbeit zum Ziele ?
Das Innere des Menschen war ein Urwald , in dem alles durcheinander wucherte , was Jahrtausende hineingetragen .
Gift- und Schlingpflanzen , kriechendes Gewürm , leuchtende Käfer , unheimlich gebildet , wuchsen neben hochstämmigen Bäumen , bewegten sich neben tummelnden Ameisen und schwärmenden Waldbienen .
Das Innere des Menschen war ein Urwald , in dem beim Erwachen des Frühlings ein schläfrig süßer Duft aus dem Erdreich stieg , wo aus der Stille und Einsamkeit ein unheimliches Leben herausschlich .
Spechte wetzten die Schnäbel , Auerhähne balzten , der Kuckuck machte sich in langgezogenen Tönen vernehmbar , Eichhörnchen huschten behende die Stämme empor , das welke Laub fiel geräuschlos hernieder , und wer Ohren hatte , vernahm , wie alles in der Natur summte und sich losrang und nach Erwachen und Leben gierte .
Unzählige Stimmen , Laute und Geräusche , ein Gewisper und ein Geflüster , eine Regsamkeit und ein Bewegungsdrang , die alles in Aufruhr versetzten .
Einem Urwalde glich das Innere des Menschen .
Kahl und abgestorben liegt es da , bis all das unheimliche Leben plötzlich wie mit einem Schlage das Unterste zu oberst kehrt .
Und selbst wenn man jeden dieser Laute deutlich vernähme , wer vermochte sich einen Einklang zu schaffen , wer vermochte durch die Finsternis und das Urgestrüpp sich einen Weg zu bahnen ?
Und wer hatte die Kraft und den Mut , den Weg zu gehen ?
War es nicht viel besser und lebenstüchtiger , wenn man das Hören allmählich verlernte ?
Wenn die unendlich vielen Stimmen verstummten , wenn man die empfindlichen und trostlosen Geräusche überschrie , wenn man das Keimen und Wachsen nicht mehr sah ?
Lief nicht schließlich das ganze Leben des Menschen darauf hinaus , dem inneren Auge das Licht zu nehmen , den inneren Ohr den Ton ?
War es nicht vermessen und die Jugend untergrabend , auf die Suche zu gehen nach dem , was in uns ist ?
Aber war dieses Suchen nicht unsere Sehnsucht ?
Und war man überhaupt noch ein hochragender Mensch , wenn man seiner Sehnsucht die Flügel beschnitt und sie wie arme gefangene Vögel erdkriechend machte ?
Aber was war denn die Sehnsucht ? schrie er sich heftig an .
Vielleicht war sie nur ein dumpfes Gespenst , leer , inhaltlos , das ihn verfolgte wie sein Schatten und nicht einzufangen war , ein Phantom , ein Reflex !
Ja , ein Reflex ! erwiderte er sich selbst .
Aber wie der Schatten ein Reflex von etwas Körperlichem , etwas Seiendem , also ein Abbild vom Wesen der Dinge , also wirklich existierend , also etwas Wesentliches , vielleicht das Wesentliche !
Seine Ideen schmerzten ihn .
Er entkleidete sich und verwandelte sein Zimmer in eine Badestube .
Er goß das kalte Wasser wie einen Strom über seinen Körper , schüttelte sich wie ein nasser Pudel und warf sich , ohne sich abzutrocknen , in das Bett .
Er hatte das Gefühl , daß es töricht und unvernünftig wäre , heute in ein Kolleg zu gehen .
Er würde gedankenlos in die Luft starren und kein Wort verstehen .
Und wenn er doch etwas verstünde , so würde es ihm kindisch und belanglos vorkommen .
Das war das letzte , was er dachte .
Nur noch unklare , unbestimmte Empfindungen durchwogten ihn .
Er fühlte wohl , wie der nasse Körper unter den Decken und Kissen sich trocknete und Wärme aufnahm , wie es ihn durchrieselte , als ob durch sein Blut ein Feuerstrom geleitet würde .
Aber das alles kam nicht mehr zu klarem Bewußtsein in ihm ; er hörte auch nicht mehr , wie seine Wirtin hereinkam , um das Zimmer aufzuräumen .
Sie sah sich kopfscheu in der Nässe um und holte einen schmutzigen , baumwollenen Lappen , mit dem sie stöhnend über die Dielen fuhr .
Hierauf stellte sie sich vor sein Bett und betrachtete ihn neugierig .
Er atmete schwer und schien unruhig zu träumen .
Sie legte ihre welke Hand , die sie vorher an ihrem Rocke trocknete , einen Augenblick auf seine Stirn ; dann schüttelte sie das Oberbett , daß der Wust der Federn nach unten kam und die Brust nicht beschwerte .
Und mit sich selbst zufrieden , räumte sie gemächlich den Tisch auf , tat die Speisereste und das Geschirr auf ein Tablett , besah sich sorgfältig die rote Decke , die sie an längst vergangene Zeiten zu erinnern schien , und trippelte , mit ihrem Kram beladen , schwerfällig hinaus .
Er schlief bis zwei Uhr mittags .
Als er das Bett gekräftigt verließ , beherrschte ihn nur noch die eine Vorstellung : es gibt nichts Schöneres und Besseres , als verliebt zu sein , ich bin jung , ich bin glücklich , ich bin verliebt !
Und herzhaft sprang er in seine Kleider und pfiff dabei eine Melodie .
Wie kann man nur so kindisch sein , immer zu grübeln , sagte er zu sich selbst .
Wer nicht genießt , lebt nicht .
Und sein ganzes Leben betrachtete er auf einmal in einem völlig anderen Lichte .
Alle seine Ideen kamen ihm wie Jugendeseleien vor ; erst seine Liebe hatte ihn gereift und zum Manne gemacht .
Er zündete sich seine Pfeife an und schritt auf die Straße . - - -
XI.
Er ließ sich treiben .
Es war ihm so wunderlich in seiner neuen Freiheit .
Er begriff auf einmal das Selbstbewußtsein der Reichen .
Er kam sich ja selbst wie ein Millionär vor !
Die Straße gehörte ihm und war in einen Garten verwandelt .
Durch schattige Alleen ging er , auf Rasenbänken ließ er sich zeitweilig nieder und fing die Sonne auf , die ganze Sonne als sein persönliches Eigentum !
Dann verließ er den Garten und bewegte sich wieder in dem lebendigen , unübersehbaren Gewoge der Großstadt .
All die fleißigen Bienen schwärmten an ihm vorbei und brachten in den Bienenstock den Honig , den sie aus tausend Blüten gesogen hatten .
Jemand trat an ihn plötzlich heran , jemand , der einen Zylinder trug und funkelnagelneue , rotbraune Glaces .
" Ah , Sie verzeihen , Sie sind Herr Thomas Druck ? "
" Gewiß , der bin ich . "
Er nimmt für einen Augenblick die kurze Pfeife aus dem Munde .
" Ah , Sie gestatten , daß ich Ihnen gratuliere .
Alle Welt spricht von Ihrem Glück .
Wie viele haben sich vergebens bemüht , bei der gnädigen Frau zu reüssieren , und nur Ihnen ist es gelungen , Ihnen allein !
Ah , Sie sind ein Sonntagskind , ich gratuliere ! "
Und der Herr zog devot den Zylinder , reichte ihm die mit dem funkelnagelneuen Glacehandschuh bekleidete Rechte und entfernte sich .
Das kam ihm natürlich vor .
Es konnte gar nicht anders sein .
Er blies den Rauch in großen Wolken von sich .
Er fühlte , wie fest und sicher er schritt , und trotz des Geräusches der Straße hörte er seine eigenen Tritte .
" Herr Druck ...
Herr Druck - "
Rief ihn jemand ?
Er drehte sich um .
Dummheit , er vernahm doch nicht etwa bereits Stimmen ?
" Herr Druck ... "
Wieder blickte er sich um .
Das war ja unerhört , wie er sich selber narrte !
Er hob den Kopf in die Höhe .
Jetzt konnte einer rufen , so viel er wollte , er würde sich den Teufel darum kümmern .
Aber in dem Augenblicke erschrak er .
Er erinnerte sich deutlich , daß die Stimme , die er gehört hatte , der des Herrn Berg glich .
Aber Herr Berg war verreist - und doch war es der nämliche nasale Ton ; und wie kam es , daß er gerade in der Sekunde , wo er auf der Höhe des Ruhmes stand und auf alles unter sich beinahe verächtlich herabsah , ihn hörte ?
" Herr Druck ... "
Er sah verstört auf und taumelte .
Hart an der Bordschwelle starrte ihm aus einem Wagen das wohlgenährte Gesicht des Bankiers entgegen , und Herr Berg winkte ihm lebhaft mit der fleischigen Hand .
Nun erkannte er auch , daß beim Kutscher auf dem Bock ein eleganter Handkoffer stand .
Er trat scheu näher .
" Die Kehle kann man sich ja nach Ihnen ausschreien .
Kommen Sie 'n bißchen in meinen Wagen . "
Thomas bekam Angst .
Er glaubte vorübergehend wirklich zu halluzinieren , mit dem Gehör und mit dem Gesicht .
Dennoch sagte er laut : " Sie verzeihen , ich habe es eilig . "
" Kommen Sie nur !
Ein junger Mensch hat immer Zeit " , erwiderte Berg und zog ihn trotz seines Widerstrebens in den Wagen .
" Es ist wirklich angenehm , daß Sie der erste waren , dem ich begegnet bin .
Sie sehen mich erstaunt an , Sie fragen wieso ?
Sehr einfach !
Man ist abergläubisch ; wir Börsenleute sind abergläubisch .
Ich bilde mir jetzt ein , daß ich in den nächsten Tagen Glück haben werde .
Sie habe ich zuerst gesehen - Sie müssen nämlich wissen , ich komme soeben von einer kleinen Spritztour zurück - Sie sind 'n anständiger Mensch .
Also , ich werde Glück haben , ich bin überzeugt davon .
Mensch , was machen Sie für eine sauertöpfige Miene " , unterbrach er sich .
" Was wollen Sie ?
Ihnen steht doch die ganze Welt offen !
Frieren Sie ?
Wollen Sie meine Decke ? "
" Ich danke ! "
Dennoch legte Herr Berg fürsorglich die Reisedecke über ihn .
" Wissen Sie " , begann er von neuem , " ist doch angenehm , wenn man wieder nach Hause kommt .
Hatte da 'ne Sitzung im Aufsichtsrat , langweilig gewesen , scheußlich langweilig !
Meine Frau hat keine Ahnung , daß ich komme ; ich liebe Überraschungen . "
Diese Worte sagte er leiser und sah Thomas lächelnd an .
Der senkte die Augen .
Ist das ein niederträchtiger Mensch , dachte er im stillen .
Er weiß alles , und zieht mich auf .
Er spielt mit mir wie der Untersuchungsrichter mit dem Verbrecher .
Der Bankier zog ein Etui aus der Tasche und drückte an dem Knopf .
Ein unheimlich funkelndes Brillantenkollier strahlte Thomas entgegen .
" Bringe ich ihr mit !
Was soll man tun ?
Man muß sich beliebt machen .
Ich versichere Ihnen , das ist schwerer als Sie denken .
Sie hat alles .
Gibt überhaupt nichts mehr , womit man sie sozusagen bluffen könnte .
Glauben Sie mir , die Leute , die alles haben , gehen an ihrem eigenen Überfluß zuschanden .
All die kleinen Freuden existieren für sie nicht .
Schadet nichts , sie ist dankbar und freut sich doch . "
Er lachte lustig und begann plötzlich mit seinem Kneifer zu pendeln .
" Am Ende tut sie nur so , aber das ist schließlich egal , finden Sie nicht ? "
Thomas hatte auf die letzten Worte gar nicht gehört .
Er sah nur dieses entsetzliche Traktieren , das ihm auf die Nerven fiel .
Was wollte der Mensch von ihm ?
Er wäre am liebsten aus dem Wagen gesprungen .
Eine Sekunde dachte er daran , ihm folgendes entgegenzuhalten : Bilden Sie sich nicht ein , daß ich ein Dummkopf bin ; ich merke genau , daß Sie alles wissen .
Ich leugne es nicht .
Hätte ich Sie nicht zufällig getroffen , so wäre ich in Ihre Wohnung gekommen , um Ihnen eine Erklärung abzugeben .
Eine Erklärung war ich Ihnen schuldig , und Sie können sich darauf verlassen , ich hätte sie abgegeben .
Ich finde es aber nicht nobel , Fallen zu stellen und Schlingen zu legen .
Im Gegenteil , das ist hinterlistig und gemein .
Ich sage Ihnen das geradezu .
Warum stellen Sie mich nicht Auge in Auge ?
Der Bankier nahm unvermittelt seinen Arm .
" Beneiden Sie mich ? " fragte er .
Thomas war empört .
In welch infamer Weise geht der Mensch gegen mich vor ?
Mit Fallstricken sucht er mich zu vernichten .
Warum legt er nicht herzhaft das Gewehr an , zielt und trifft ?
" Ich beneide Sie nicht " , antwortete er scharf .
" Ich glaube Ihnen aufs Wort .
Neidische Menschen sind mir unangenehm , sind mir widerlich ; und im Vertrauen " - er senkte ein wenig die Stimme - " Sie haben keinen Grund dazu .
Sehen Sie , da sammle ich Kapitalien an , bin an allen großen Unternehmungen beteiligt und speichere Reichtümer auf .
Für wen ?
Für sie und meinen Jungen , der siech und elend ist .
Sie kennen doch meinen Jungen ?
Sie sind ja Mediziner , glauben Sie , daß er mit dem Körper - " er brach mitten im Satze ab , und über sein dickes , im gewöhnlichen Leben schlaues Gesicht legten sich Schatten .
Nur die mechanische Bewegung mit dem Kneifer machte er nach wie vor .
" Wieso muß ich zu solch einem Kinde kommen ? " fragte er leise .
" Und glauben Sie , daß es so leicht ist , mit so einer Frau zusammen zu leben ?
Ich sage Ihnen , solche Frauen haben Mücken , von denen Sie sich keinen Begriff machen können .
Wenn so eine Frau den Teufel herauskehrt , dann ist es aus , dann gibt es kein Rezept , lieber Doktor .
Sie können_es machen , wie Sie es wollen , falsch machen Sie_es immer . "
Er hob jetzt das Pincenez ein wenig in die Höhe , und indem er Thomas mit halb eingekniffenen Augen ein wenig anblinzelte , fuhr er fort : " Man muß noch froh sein , wenn man so einer Frau nichts anderes vorzuwerfen hat . "
Er hielt inne .
Aha , dachte Thomas , jetzt ist der Moment gekommen ; jetzt geht er aufs Ganze .
Er rückte sich in Positur und faßte einen festen Entschluß .
Unter keinen Umständen wollte er sich dem boshaften Kreuzverhör noch länger unterziehen .
" Herr Berg ... "
Der Bankier wehrte ab .
" Ich weiß , was Sie vorbringen wollen .
Bitte sehr " , sagte er , indem er die Hand ein wenig hochhob , " ich weiß es genau . "
Thomas flirrte es vor den Augen .
" Sie wollen sagen , wie komme ich dazu , einem mir beinahe wildfremden Menschen alle die Dinge zu beichten ?
Ja , sehen Sie .
Wie Sie damals in meinem Hause diesen Schlingel , der sich mit Ihnen einen faulen Witz machen wollte , heimgeleuchtet haben , da wußte ich , daß Sie ein ehrlicher und aufrichtiger Mensch ohne Falsch seien . Vielleicht " , fuhr er überzeugend und ernsthaft fort , " der einzig ehrliche und wahrhaftige Mensch in der ganzen Gesellschaft .
Sie haben Schrullen , sind 'n Idealist , sind 'n bißchen hier " - er wies auf die Stirn - " aber das tut nichts , Sie sind rein und durch und durch anständig .
Wer , wie ich , mit so viel Gesindel zusammenkommt , hat dafür einen Blick und eine Wertschätzung . "
Bei den Worten war Thomas alles Blut aus dem Gesicht getreten .
War das alles noch teuflische Ironie , oder war es Wahrheit ?
" Solche Menschen wie diesen Schwätzer von Kornfeld muß ich um mich dulden , solche Menschen , die mir unangenehm sind .
Warum ?
Meine Frau wünscht es .
Tun Sie mir einen Gefallen , hören Sie ? "
" Ich höre . "
" Essen Sie heute abend bei mir .
Machen Sie keine Umstände , unvorbereiteterweise ! "
Jetzt war alles klar .
Er wollte ihn in seinem Hause haben ; er wollte ihn seiner Frau gegenüberstellen ; er wollte ihn in Sicherheit wiegen , und um jeden Verdacht zu ersticken , hatte er den Rechtsanwalt bei ihm angeschwärzt , der vielleicht , nein bestimmt , ebenfalls zu diesem merkwürdigen Souper zwecks Aufnahme des Protokolls geladen war .
Dennoch war er seiner Sache nicht völlig sicher und wußte nicht , ob das Manövrieren des Herrn Berg auf einen vagen Verdacht oder eine untrügliche Wissenschaft zurückzuführen war .
Er wollte vorsichtig sein , obwohl ihn seine Vorsicht innerlich schmerzte und ihm schimpflich vorkam .
Und bei dieser Erwägung kreuzten sich tausenderlei Gedanken in seinem Hirn .
Vorsicht war Hinterlist , war der Beginn zur Niedertracht und Ehrlosigkeit .
Vorsichtig waren die im Lande , die sich duckten und die Buckel krümmten , die durch Kriechen und Streben emporkommen wollten ; vorsichtig waren die Einbrecher und Diebe , die Lichtscheuen und Erbärmlichen .
Bei diesen Vorstellungen , die mit beängstigender Schnelligkeit in ihm auftauchten , wurde ihm schlecht zumute .
Es war ihm , als ob ein Fremdkörper in seinem Inneren rumorte , und als ob er nicht den Mut habe , ihn beherzt herauszuziehen .
Er bildete sich auch ein , daß sein Mißtrauen und sein Widerstand durch das ewige Taktschlagen mit dem Kneifer hervorgerufen sei .
- " Ich muß leider ablehnen " , sagte er langsam , " ich habe nämlich eine - " er stockte , dann fügte er renommistisch hinzu : " eine wichtige Zusammenkunft . "
" Lassen Sie sie schießen .
Meine Frau würde sich gewiß freuen . "
Thomas' Erregung hatte ihren Höhepunkt erreicht .
Was meinte er damit , daß seine Frau sich freuen würde ?
Es war sonnenklar , der Mensch spielte mit ihm , trieb ihn in die Enge wie ein knifflicher Staatsanwalt - und wieder schwankte er .
Aber , wie war es , wenn er nur von Einbildungen gehetzt wurde und in der Tat die Gelegenheit hatte , sie sorglos wiederzusehen , unvermutet .
Eine heftige Freude erfaßte ihn bei dieser Idee .
Er wies sie sofort zurück und schämte sich .
" Kommen Sie doch " , bat Herr Berg von neuem .
" Ich kann wirklich nicht " , entgegnete er scheu .
" Im Gegenteil , ich muß mich sofort von Ihnen verabschieden . "
" Na , denn 'n andermal .
Kutscher , halten ! "
Thomas sprang aus dem Wagen und lüftete den Hut .
" Ich empfehle mich , Herr Direktor . "
" Keinen Gruß für meine Frau ? "
" Gewiß , gewiß " , stotterte Thomas mit Anstrengung , denn seine Zunge bewegte sich schwer .
Und wie angewurzelt blieb er noch eine Weile stehen und sah dem davonrollenden Wagen nach .
Dann ging er langsam weiter . Habe ich nun alles das erlebt ? fragte er sich schmerzhaft .
Vielleicht sind es nur wirre , krause Träume ?
Ich werde annehmen , daß ich alles geträumt habe , dachte er bei sich , zum mindesten die wahnsinnigen Schlußfolgerungen über Bord werfen .
Was soll mir das ?
Ich bin doch nicht dazu da , rief er sich erbittert zu , um mir mein eigenes Glück zu zerstören .
Ich habe ein Recht auf Liebe .
Mein Hemd ist mir näher als mein Rock .
Was geht mich dieser Herr an ?
Er lebt in einer Welt wilder Genüsse und Spekulationen , und ich bin schließlich nicht verantwortlich dafür , wenn sie mich liebt .
Ich werde mit Regine sprechen und wir werden dann beide vor ihn hintreten ; denn so viel steht fest , es ist unwürdig und gemein , mit seiner Leidenschaft wie mit einem gestohlenen Gute sich zu verkriechen und trübe Schlupfwinkel aufzusuchen .
Es ist unzweifelhaft ein entsetzlicher Schlag , der den Ahnungslosen trifft , vorausgesetzt , fügte er bei sich mißtrauisch hinzu , daß er wirklich ahnungslos ist .
Aber wenn draußen auf dem empörten und von Sturm gepeitschten Meere die Wogen über armseligen Brettern zusammenschlugen und die Menschen samt ihrer Habe verschlangen , so konnte auch niemand verantwortlich gemacht werden .
Und wenn die schwarze Pest ausbrach , und ohne zu sondern , die Guten und die Schlimmen hinwegraffte , so hörte auch die Frage der Gerechtigkeit auf .
Was war überhaupt das Schicksal des einzelnen gegen das dunkle Walten der Naturkräfte !
Und dennoch bedeutete das Schicksal jedes einzelnen unendlich viel ; und jeder mußte , wollte er sich behaupten , seinen Anspruch auf Glück und Liebe mit starken Händen festhalten .
Sie und er gehörten zusammen .
Sie und ihn hatte das rätselhafte Leben zusammengebracht .
Sie und er mußten ihren Weg gehen , mochte der andere darüber zugrunde gehen .
Das stand für ihn unverbrüchlich fest - wenigstens in diesem Augenblicke .
So ...
Er klopfte die Pfeife aus , die ihm längst verglommen war , und blickte gedankenlos in die blauen Blitze der elektrischen Wagen .
Und dennoch , all sein Wehren nützte nichts .
Er hatte einen nagenden Gram , gegen den er vergebens ankämpfte .
Er fühlte sich aus seinem tiefen und freudigen Rausch aufgerüttelt , und die gemeinen Alltagssorgen bissen ihn wie giftige Schlangen .
Ich muß stark sein , sonst verblute ich daran , sagte er zu sich selbst .
Ich muß Klarheit schaffen , denn ich bin ein Mensch , der ohne Klarheit nicht sein kann ; ich brauche die Klarheit wie die Luft ; ich kann nur leben mit der Achtung vor mir selbst .
Aber was ist eigentlich Achtung ?
Quäle ich mich nicht mit lauter Gefühlsduseleien ?
Er schritt durch das Brandenburger Tor .
Die breiten Linden lagen im grauen Nebel vor ihm , der selbst die elektrischen Lampen in seinen Dunstkreis zog .
Alles verschwamm durcheinander .
Er blickte befremdet um sich .
In seinen Grübeleien hatte er gar nicht darauf geachtet - keine drei Schritte weit konnte man sehen .
Die Auslagen waren gleichsam verschwunden .
Man vernahm das Gerassel der Wagen und sah sie nicht .
Man hörte die Stimmen der Menschen , aber die Gesichter blieben verschleiert .
Jemand beugte sich dicht an sein Ohr und flüsterte ihm zu :
" So ist das ganze Leben .
Die Dinge und die Wahrheit sind ganz nahe , aber die meisten sehen sie nicht , sie gehen im Nebel .
Und zu diesen » Meisten « gehören Sie , Herr Thomas Druck . "
" Ich ? "
" Ja , Sie ... Sie ! "
Und jetzt blickte ihm der Mensch gerade ins Auge .
" Ah , Sie sind es " , sagte er zitternd .
" Ich bin es " , entgegnete der Herr mit dem verschlissenen grauen Mantel und dem eingedrückten Tiroler Hut . - - -
XII.
Die Lissauer war wie benommen .
Ihr Gesicht war vor innerer Erregung fleckig geworden , und das Brandmal auf ihrer Backe trat noch brandiger als gewöhnlich hervor .
Aber sie ließ den kleinen Blinsky , der verlegen vor ihr stand und unter seinen Brillengläsern furchtsam zwinkerte , nicht aus den Augen .
Sie achtete nicht darauf , daß ihr dünnes Haar zerzaust und unordentlich herunterfiel .
Als sie sich endlich gefaßt hatte , fuhr sie Blinsky grob und rücksichtslos an :
" Wie kennen Se meinen Mann hineinziehen in dieser Geschichte ?
Wirr missen uns sauer genug unser Geld verdienen . "
Der schmächtige Mensch strich mit seiner dünnen Hand über das spärliche Haar .
Er lächelte trübe , und in den hervorquellenden Augen flackerte es unruhig .
" Brose muß geholfen werden " , sagte er mit unsicherer Stimme , " sonst geht er kaputt . "
" Muß ? " erwiderte sie höhnisch .
" Übrigens " , fuhr sie mißtrauisch fort , " was geben Sie denn ? "
" Dasselbe ! "
Die Frau schlug die Hände zusammen .
" Mehr haben Se ja selber nicht " , schrie sie entsetzt .
" Se sind ja närrisch ; närrisch sind Se . "
In diesem Augenblicke trat ihr buckeliger Mann in das Zimmer .
Sie stellte sich in Positur .
" Ich werde geben hundert Mark vier Brose ; nicht einen Groschen mehr und nicht einen Groschen weniger " , sagte sie herausfordernd .
Lissauer schüttelte den Kopf .
" Mache keine Sperenzchen " , antwortete er .
" Für ein halbes Jahr muß Miete bezahlt werden .
Dazu kommen noch die Schulden .
Verdienen kann er nichts , denn er liegt krank zu Bette . "
Die Frau wischte sich den Schweiß von der Stirn .
" Wie kommen wirr denn aber dazu ?
Wirr sind doch mit die Leute nicht verwandt ?
Und du hast mir immer gesagt , über das Geld habe ich zu verfügen , ich habe das Geld verdient .
Wenn wirr werden anfangen mit Brose , wird morgen kommen Heinsius und übermorgen am Ende gar der Herr Liers !
Wirr sind doch nicht daßu da , um uns fier die anderen zu schinden .
Wenn der Herr Blinsky meschugge is , brauchen wirr es doch nicht ßu sein ? "
" Hast du jetzt ausgeredet ? " fragte Lissauer .
Sie nickte und mied es , ihn anzusehen .
Sie hatte Furcht vor seinen strengen Augen , die sie durchbohren zu wollen schienen .
" Du wirst das Geld geben ! "
" Lissauer , tu mir das nicht an ! "
Er nahm ihre Hand , die vor Aufregung zitterte .
" Du sollst mich ansehen " , sagte er rauh .
Ihre Augen richteten sich flehentlich auf ihn .
Er wandte sich zu Blinsky : " Hast du so was schon erlebt ? "
Die Lissauer fing zu heulen an .
" Sieh dir bloß meine Hände an " , rief sie ununterbrochen und zeigte ihre vom Nähen zerstochenen Fingerspitzen .
" Du kannst froh sein " , entgegnete er , " daß es bloß deine Finger sind , bei Brose sind es die Lungen ! "
Sein Gleichmut , der durch nichts zu bewegen war , brachte sie aus der Fassung .
" Ich werde geben zweihundert Mark " , rief sie noch immer schluchzend .
" Fünfhundert ! "
" Du wirst mich unter die Erde bringen . Dreihundertfünfzig " , wimmerte sie .
Lissauer zuckte zusammen .
Er ließ ihre Hand los , " Komme , Blinsky . "
Er drehte ihr den Rücken .
Sie war sofort an seiner Seite .
" Lissauer , was haste vor ? "
" Laß mich , ich bin dir keine Rechenschaft mehr schuldig . "
" Lissauer , ich wer geben virrhundertfinfundsiebzig Mark . "
Ihr Gesicht war krampfhaft verzerrt , ihre Stimme klang heiser .
Man konnte es deutlich merken , wie sie litt .
Der Mann wurde weich .
" Meinethalben . "
Und ein wenig spöttisch lächelnd , wandte er sich an Blinsky :
" Du kannst es mir glauben , mit jedem neuen Hundertmarkschein wird sie geiziger ; das ist bei ihr geradezu eine Krankheit .
Sie möchte sich den Bissen vom Munde absparen , bloß um - "
Die Lissauer ließ ihn nicht ausreden .
Sie packte den kleinen Blinsky an den Schultern .
" Bloß um uns ein sorgenfreies Alter zu schaffen " , schrie sie wütend , " bloß um uns vor dem Betteln zu schützen . "
" Man ist nicht bloß für sich da " , meinte Blinsky und vermied es , sie anzusehen .
Sie lachte spöttisch .
" Man is bloß fier sich da " , stieß sie hervor .
" Das haben se ja erst neulich im Nachtlicht beschlossen ! "
" Du hast das nicht ganz verstanden " , warf Lissauer dazwischen .
" Du redest in der letzten Zeit überhaupt ein bißchen viel " , bemerkte er scharf .
" So ?
Hm ! " machte sie , bis die Lippen aufeinander und ging in das Nebenzimmer .
" Das ist bereits bei ihr pathologisch ; das Geld hat sie rein verrückt gemacht ! "
Blinsky nickte stumm .
Die Lissauer kam mit einer eisernen Schatulle wieder herein .
Sie öffnete sie , und ihr Blick hatte etwas Düsteres und Melancholisches , während sie die Goldstücke herausnahm .
Sie zählte Lissauer das Geld auf dem Tische vor .
Sie fühlte , wie bei der Berührung des harten Metalles es in ihren Händen klopfte .
" So " , sagte sie aufatmend und schloß die Schatulle .
" Das sind nur vierhundertsiebzig Mark " , sagte Lissauer trocken .
Sie lachte über das ganze Gesicht und hatte die Tür hinter sich zugeworfen und abgeriegelt , ehe er sich_es versah .
" Komme " , sagte der buckelige Mann zu dem Freunde , " ich bin froh , so viel herausgeschlagen zu haben . " - - - XIII .
In der letzten Sitzung des Nachtlichts , in der Thomas aus einer inneren , unbestimmten Scheu nicht zugegen war , hatte Brose zum Entsetzen aller plötzlich einen Blutsturz gehabt .
Niemand wußte , daß der große muskulöse Mann schon seit längerem mit seinen Lungen zu tun hatte , denn zu niemandem sprach er von seinen Leiden .
Nun waren sie alle plötzlich Zeugen seines Zusammenbruchs gewesen , der um so erschütternder auf sie gewirkt , als die Malersfrau zuerst wie ein versteinertes Bild des Jammers neben ihrem Mann gekauert hatte .
Am anderen Tage hatte sie sich verstört Blinsky offenbart .
Der kleine Mann hatte begriffen und es ihr angesehen , wie sie ihren Stolz und ihr Selbstgefühl blutig geschlagen und mit Füßen getreten hatte , um sich so ein Geständnis abzuringen .
Leise und demütig hatte er ihre großen Hände gestreichelt .
Der Doktor hatte eine geordnete Lebensweise angeordnet ; vor allem außerordentliche Pflege und vorzügliche Ernährung .
Der Maler selbst hatte von der wirtschaftlichen Kalamität seines Hauses keine Ahnung .
Er war wie ein großes Kind .
Und all ihre Mühe zielte darauf , ihn in seiner Unwissenheit zu erhalten .
Die Porzellanmalerei wurde immer schlechter bezahlt , und der Absatz war immer geringer geworden .
Außerdem wußte sie , welch eine Überwindung ihrem Mann diese Arbeit kostete .
Sie selbst war unermüdlich tätig .
Ihr ganzes Sein hing an diesem einen Menschen , der für sie die Menschlichkeit überhaupt darstellte .
Sie war die Tochter eines Generals und hatte um seinetwillen das elterliche Haus , die Familie verlassen und mit allem gebrochen , was sie an die Vergangenheit knüpfte .
Es gab keine Stunde , in der sie ihren Schritt bereute .
Immer hatte sie dumpf gegen die Dogmen revoltiert und gegen die Ketten sich aufgelehnt , die sie im Hause einengten und in ihr Fleisch schnitten .
Immer hatte sie in dunkler Sehnsucht gewünscht , sich loszuringen , bis sie ihn getroffen hatte .
Er hatte ihr eine Idee von Freiheit und Menschenwürde gegeben , die sie aus allen dumpfen Ängsten löste .
Mit linden Händen hatte er die Scherben und Trümmer , die auf ihr lasteten , fortgeräumt , und wo sie wund und blutend war , hatte er sie mit Balsam geheilt .
Das , was er von tiefster Freiheit besaß , baute sich auf dem Grunde der Güte auf , und diese Güte hatte ihr Leben voll Not und Entbehrung sonnt und vergoldet .
Als sie ihr einziges Kind verloren , hatte sie sich noch enger an ihn angeschlossen , der ihr das Evangelium der höchsten Treue gegen sich selbst offenbart hatte .
In ihre herbe Frauennatur war eine unbeugsame Entschlußkraft eingezogen , und gerade weil sie so viel morschen Ballast fortwerfen , so viel Schutt und Asche abtragen mußte , ehe sie wiederaufbauen konnte , hatte ihre neue Weltanschauung und Betrachtungsweise von Menschen , Dingen und Zuständen tief in ihrem Erdreich Wurzeln geschlagen .
Sie war stolz darauf , daß sie sich zu dem Maler mit ganzer Seele bekennen konnte , und sie fühlte sich ihm zu Danke verpflichtet bis zum letzten Atemzuge , daß er sie so behutsam zu sich hinaufgezogen hatte .
Sie liebte ihn als Charakter , und sie hing an ihm als Frau ; alles an ihm erfüllte sie mit Hingebung .
Als ein altes , herbes Mädchen war sie ihm in die Ehe gefolgt , aber an ihrem Herde glomm noch einmal das Feuer der Jugend auf und brachte ihr Wärme und Leidenschaft .
Eine edle , süße Scham erfüllte das altjüngferliche Mädchen , das trotz seiner dreißig Jahre innerlich jung geblieben war .
Und nun folgten vier Ehejahre voll Entbehrungen und Kümmernissen , voll feinstem Zusammenleben und Zusammenwachsen .
Mochte der Körper darben ; die Seele feierte Feste .
Man stieg auf hohe Gipfel und zündete Freudenfeuer an .
Die Zweiheit hörte auf , man wurde eines .
Erst als des Malers Leiden sich herausstellte , fielen schwere , dunkle Schatten über ihr Glück .
Es war jetzt ein ewiges Bangen und Sorgen , das sie allein mit sich herumtrug ; denn in seiner Gegenwart war sie heiter , und wenn sie innerlich blutete , sah sie ihn mit lachender Miene an , und niemals sprach sie zu den Freunden von dem , was auf ihr lastete .
Erst in der bittersten Not war sie zu einem Dritten gegangen .
Es handelte sich um ihn - da gab es keine feigen Bedenken . - - - XIV .
Alles das erzählte der Volksschullehrer Heinsius mit verkniffenen , bleichen Lippen Thomas .
Und aus seinen Blicken funkelten Unversöhnlichkeit und wilder Haß .
- " Er geht an der Proletarierkrankheit zugrunde wie ich " , sagte er .
" Wir sind das Kanonenfutter in Friedenszeiten .
Das ist die Gerechtigkeit des Staates , daß wir nicht einmal in unserem Elend uns nähren können !
Dieser Mensch muß auf Porzellan malen , und ich ? " -
er blinzelte Thomas mißtrauisch an .
" Erfüllt Sie denn das gar nicht mit Zorn ? " fragte er heftig .
" Man soll nach einem Hungerdasein in seinen besten Jahren zugrunde gehen , so elend krepieren !
Ist man dazu geboren ?
Und dann kommt diese Gesellschaft und will einen mit Jenseitswahn und ausgleichender Gerechtigkeit da drüben trösten !
Aufhängen an allen Laternenpfählen sollte man diese Schwindler und Hochstapler !
Das sind die Demagogen " , schrie er heiser , " Demagogen im schlimmsten Sinne !
... Sie reden ja gar nicht .
Machen Sie sich über mich lustig ?
Ich sage Ihnen , es ist mir damit heiliger Ernst , und bevor sie mich einscharren , will ich mich noch um Kopf und Kragen reden .
Einmal es hinausbrüllen , einmal wenigstens dem Gesindel den richtigen Spiegel vorhalten , daß es seine Fratzen sieht . "
Thomas sah den erregten Menschen mitleidig an .
" Ich bin " , brachte er langsam und zögernd hervor , " nicht ganz Ihrer Ansicht .
Ich empfinde wie Sie das furchtbare Mißverhältnis zwischen den Besitzenden und den Ausgeschlossenen ; aber " , fuhr er nachdenklich fort , " mir kommt es so vor , als ob der leibliche Mangel nicht so schlimm ist wie der geistige Hunger .
Ein Mensch wie Sie hat wenigstens ... "
Heinsius fiel ihm ins Wort .
" Ich weiß schon , was Sie vorbringen wollen ; aber kommen Sie mir nicht damit " , sagte er gereizt .
" Kommen Sie mir um Gottes Willen nicht mit der Kunst als Surrogat .
Ich pfeife auf die ganze Kunst ! "
" Ich habe das zwar nicht sagen wollen .
Aber was heißt das , Sie pfeifen auf die Kunst ?
Shakespeare und Goethe lassen Sie doch gelten , Homer und Dante ?
Und die großen Musikanten Bach , Beethoven ? "
Heinsius sah ihn höhnisch an .
" Niemanden lasse ich gelten " , erwiderte er grinsend .
" Mit Autoritäten bin ich fertig - Gott sei Dank .
Die Dichter " - er lachte - " die sind auch nur für den satten Magen .
Nun , ich gönne sie dem Pack .
Ich gönne Ihnen ihren Wust von unklaren Vorstellungen und Gefühlsduseleien . "
Thomas Druck war ganz verblüfft .
" Das kann doch nicht Ihr Ernst sein ? " fragte er zaghaft , " Sie können doch nicht solche Werte leugnen ? " setzte er beinahe schüchtern hinzu .
" Ich leugne sie . "
Heinsius riß die kleinen , trüben Augen weit auf und fuhr nervös mit Daumen und Zeigefinger durch seinen dürftigen rötlichen Flaum .
" Ich leugne sie .
Ich leugne diese Gemütsathleten , die mit ihren unsauberen Empfindungen die Köpfe verwirren und mit ihren erhitzten Phrasen die Hirne benebeln .
Ja , mein verehrter Herr , ich leugne sie .
Ich leugne alles , was sich von der Vernunft entfernt und dem einsichtigen Denken .
Ich danke für Gefühle .
Sie mögen kommen , woher sie wollen .
Ich habe mir als kleiner Bengel den Magen damit verdorben - Gott sei Dank , ich habe dieses Zeug ausgebrochen !
Die Kunst ist nur für die Schmarotzer da , für Tagediebe und Lumpen , für die Denkträgen .
Wir brauchen überhaupt keine Kunst .
Würdige Zustände brauchen wir ! Freiheit ... Freiheit im tiefsten Sinne .
Alle Hirne und alle Gedanken haben sich darauf zu richten , wie man die Hungernden sättigt , wie man uns aus der Kerkerluft in die Freiheit bringt ... alles andere , mein verehrter Herr , ist Kräftevergeudung , ist Verbrechen .
Wer statt dessen Dichter liest , stiehlt meinem Herrgott " - dieses " meinem " betonte er seltsam - " die Zeit , und die Zeit ist kostbar . "
" Das kann nicht Ihr Ernst sein .
Sie können doch unmöglich alle Kultur leugnen ? "
" Sie haben recht , ich kann etwas nicht leugnen , was überhaupt nicht vorhanden ist ... nämlich , es gibt keine Kultur ; die Menschheit hat die Jahrtausende nur dazu verwandt , um mit allen Mitteln und Kräften eine Unkultur zu schaffen . "
Thomas zuckte ärgerlich mit den Achseln .
" Das sind Schlagworte und Paradoxe , mit denen ein ernsthafter Mensch jemanden , den er auch ernst nimmt , nicht drangsalieren sollte .
Ich kann nur annehmen , Sie erlauben sich mit mir einen schlechten Spaß . "
Heinsius kniff die Augen zusammen .
" Sie irren .
Wer , wie ich am Scheidewege steht , sozusagen bereits jenseits ist , hat keine Zeit zum Spaßen mehr .
Das ist mir alles blutiger Ernst .
Das sind die einzigen Erkenntnisse meines lumpigen Daseins .
Es ist ein Beweis meiner Achtung , daß ich sie Ihnen gegenüber ausspreche ; mir scheint " , fuhr er bissig fort , " ich habe Sie etwas überschätzt .
Sie halten sich noch mit Gefühlen auf . "
Das Gesicht dieses verhungerten Menschen tat Thomas weh .
Dennoch bemerkte er :
" Sie sprechen etwas viel vom Sterben ; Sie kokettieren ein wenig damit .
Ich finde das nicht gerade geschmackvoll . "
" Sie machen einen kleinen Denkfehler , mein Verehrtester !
Es kommt mir nicht darauf an , was Sie finden , sondern einzig und allein darauf , was ich finde .
Das ist für mich überhaupt der Punkt , um den sich alles dreht .
Nur vor den Leuten , die mir mein Brot geben , von denen ich abhängig bin , buckle ich mich noch ; ich warte nur den Augenblick ab , wo ich sie nicht mehr nötig habe und mir Luft machen kann ... ich brauche nämlich Luft , ich ersticke fast .
Warum lächeln Sie denn so spöttisch ? "
" Ich habe gelächelt , aber nicht spöttisch .
Und ich lächelte , weil ich die Quelle Ihrer Weisheit und Weltanschauung entdeckte . "
" Es fällt mir nicht ein , die zu leugnen ; ich mache daraus kein Hehl .
Ich verdanke diese Weisheit , die einzige fundamentale , die ich gefunden habe , Max Stirner .
Der war auch ein armer , verhungerter Lehrersmann .
Übrigens hat das mit meiner Anschauung von Kunst nichts zu tun , und außerdem - Sie mögen mir das glauben oder nicht - bin ich ganz selbständig zu meinen Ideen gekommen .
Nur ihre klassische Aufzeichnung fand ich bei ihm ; ich habe keinen besseren Wunsch für Sie , daß das Sie auch einmal zu so innerlicher Freiheit kommen .
Sie tragen auf der Stirn so ein Leidensmal ...
Sie haben auch etwas von den Gezeichneten .
Ich wünsche Ihnen guten Appetit für die lange Wanderung .
So lange Sie auf Ihrem Wege als Zehrbrot Gefühle mit sich schleppen und davon sich sättigen , wird es mit dem Vorwärtskommen ein bißchen hapern .
Leichtes Gepäck , junger Mann , leichtes Gepäck ... darauf kommt alles an .
Und man wird erst leicht , wenn man den ganzen Plunder verbrannt hat " - und während seine Stimme überschlug , sagte er noch einmal :
" Es gibt nur eins : die Freiheit !
Man hat sie , wenn man jedes Dogma , es sei , wie es sei , zerrissen hat . "
Eine Weile schritten sie stumm nebeneinander .
" Ich möchte wissen " , unterbrach Thomas plötzlich das Schweigen , " welches Ihre letzten Gedanken und Empfindungen sein werden , wenn es wirklich ernst wird .
Ich wünsche allerdings , daß dieser mein Wissensdurst noch lange unbefriedigt bleiben möchte .
Vielleicht gibt es doch noch in Ihrem Leben Entwicklungsstadien , in denen Sie über Ihre jetzigen Anschauungen hinauskommen . "
Da lächelte Heinsius eigentümlich .
Es war ein Lächeln , das Thomas nicht zu entziffern vermochte .
Es lag darin etwas von höherer Schelmerei und von tragischer Wehmut .
" Ich werde Ihnen Ihren Wunsch erfüllen ; Sie sollen meine letzten Aufzeichnungen erhalten , ich verspreche es Ihnen ! "
Sie waren vor dem Hause angelangt , in dem das Atelier Brose sich befand , und stiegen gemeinsam die Treppe hinauf .
Thomas hörte den schweren Atem des Volksschullehrers , er glaubte das Pfeifen seiner Lungen zu vernehmen - es war eine schauerliche Musik , zu der der Meister Hein den Takt schlug .
Er als Mediziner wußte , daß es hier keine Hilfe gab .
Er spürte es , daß der Tod neben ihm schritt - er hörte sein Rascheln und Wehen , und in seine Erregung , in seinen Lebensdrang und seine Lebensfreude fiel ein eisiger Reif .
Leise und behutsam klopfte er an die Tür , die zum Atelier führte . - - - XV .
Die Liers öffnete und streckte ihnen die derben Hände entgegen .
Das große Frauenzimmer zog ein schiefes Maul , um das Weinerliche in den groben Zügen zu verbergen .
Und zu Thomas sagte sie leise , indem sie ihn beiseite zog :
" Herr Doktor , der macht es nicht mehr lange . "
Sie traten in das Schlafzimmer ein , in dem eine peinliche Sauberkeit herrschte .
Brose lag in schneeweißen Kissen und lächelte milde .
Die Malersfrau saß an seinem Bett und hielt seine rechte Hand .
Eine Elster spazierte in Freiheit auf den Dielen des Zimmers einher , und dicht über dem Bett hingen zwei Vogelbauer , in denen eine Grauamsel und eine Feldlerche leise zwitscherten ; auf einen kleinen Nachttisch lief innerhalb von vier starken Drahtwänden eine weiße Maus mit roten , winzigen Äugelein hin und her .
Der Maler , der ein Tierfreund war , hatte sich seine Kameraden aus dem Atelier ins Krankenzimmer bringen lassen .
Heinsius ging mit einer Art von Galgenhumor auf seinen Leidensgefährten zu .
Der war auch ein fälliger Wechsel auf die Nichtswürdigkeit des Daseins .
Es tat ihm wohl , gerade in einem Menschen wie Brose seinen Gram und seine innere Not bestätigt zu sehen .
" Na , lieber Bruder in Christo " , sagte er lustig , " Sie scheinen sich ja ganz munter zu befinden . "
" Ja " , antwortete Brose .
" Und wenn Sie meinen , in Christo gleich in homine , so akzeptiere ich Ihren Gruß . "
" Das meine ich zwar nicht ; aber es schadet nichts .
Nicht in Christo , nicht in homine sondern einfach in me , zu deutsch : in mir . "
" Lieber Heinsius , das ist ja dasselbe " , erwiderte der Maler und lächelte fein .
Und sich an Thomas wendend :
" Sehen Sie mich nicht mit so verzweifelt medizinischen Blicken an ! "
Die Malersfrau schielte ängstlich zu dem Angeredeten hinüber .
" Das tue ich auch gar nicht " , antwortete Thomas .
Die Brose machte ihm Platz .
" Es ist doch etwas sehr Feierliches " , nahm der Maler das Wort wieder auf , " euch hier zu sehen .
Ihr bringt mir Blumen " - er wies auf ein paar dunkle Rosen - " ihr seht mich gut an und sprecht mit mir gut ; es kommen Augenblicke , wo ich mich euch ganz nahe fühle , fast so nahe wie meiner Seele " - er zeigte auf seine Frau - " und fast so nahe " , setzte er hinzu , " wie es sein sollte .
Von dieser Warte aus gesehen , hat das Kranksein etwas Feines und Schönes in sich . "
" Lieber Maler , Sie sind ein Schönfärber " , warf der Volksschullehrer dazwischen .
" Sie irren , ich sehe nur ein wenig tiefer . "
" Das ist alles ganz schön " , drohte Frau Liers , " aber Sie dürfen nicht so viel sprechen . "
Er schüttelte den Kopf .
" Tut mir wohl ; nur keine Rezepte , Kinder , ich bin gegen alle Rezepte . "
Frau Brose erhob sich und schritt dem Atelier zu , wohin ihr die anderen außer Thomas folgten .
Eine Weile war es still .
Dann beugte sich der Maler aus seinem Bett zu Thomas hin , und sein Gesicht nahm einen ängstlichen Ausdruck an .
" Sie müssen wissen " , sagte er , indem er die Stimme senkte , " daß der äußere Zusammenbruch schneller gekommen ist , als ich glaubte .
Ich dachte , es würde noch ein paar Jahre gehen . "
" Das wird es auch noch . "
Brose wurde nervös .
" Nein , nein , nein " , entgegnete er , " ich mache mir nichts vor , und meine Freunde dürfen es auch nicht .
Es wird mit mir sehr schnell zu Ende gehen , und ich betrachte es an sich als ein Glück .
Zu Ende gehen mit den paar äußerlichen Scherben , an denen nichts gelegen ist .
Meine Ewigkeit bleibt .
Sie machen ein verblüfftes Gesicht !
Ich will auch jetzt nicht über meine Ewigkeit sprechen , darüber ein anderes Mal .
Es sind andere Dinge , die mich im Augenblick beschäftigen .
Ich halte es für ein wirkliches Glück " , fuhr er fort , " wenn die Geschichte rasch zum Abschluß kommt .
Siech und krank sein , ist an sich schlimm ; aber schlimmer noch ist es , anderen zur Last zu fallen , und am furchtbarsten für mich , ihr , deren Leben ein einziger Opferdienst gewesen ist - und über sie wollte ich mit Ihnen reden .
Ich kenne Sie noch nicht lange , und dennoch komme ich mit einer Bitte .
Darf ich ? "
" Sie dürfen " , entgegnete Thomas bewegt .
Der Maler wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn .
" Ich bin der Ansicht , daß Sie Güte in sich haben und mit dem Menschentum es ernst nehmen , hinaus über das leere Wort .
Und darum frage ich Sie : wollen Sie ihr zur Seite stehen ?
Sie wird sich Ihnen nicht aufdrängen .
Sie ist in sich tüchtig , von edler Kraft und festem Eigenwillen .
Aber dennoch , es könnten Stunden kommen , wo sie einer zuverlässigen Hand bedürfte .
Vor dem Tode bekommt man , wenn ich mich so ausdrücken darf , etwas Hellseherisches - und so sehe ich den Weg voraus , den sie nehmen wird .
Auf diesem Wege stehen nur Dornen , an denen sie sich blutig ritzen wird .
Sie hat einen starken Körper - aber eine wunde Seele .
Seien Sie ihr Arzt , wenn sie blutet ; verbinden Sie ihre Wunden - ich bitte Sie flehentlich " , flüsterte er mit höchster Anstrengung .
" Lassen Sie sie nicht verbluten .
Lassen Sie sie nicht aus den Augen ! "
Er sah Thomas durchdringend an und hing an seinen Lippen .
" Ich verspreche es Ihnen , so wahr ich Thomas Druck heiße ! "
Der Maler fiel in die Kissen zurück , schloß die Augen , und auf seinem Gesicht lag für kurze Zeit Frieden und Glück .
" Sie ist mit den anderen hinausgegangen , weil sie wußte , daß ich mit Ihnen sprechen wollte .
Was es ist , weiß sie nicht . "
Er nahm Thomas ' Rechte und streichelte sie , wie man ein Kind streichelt .
" Ich habe in meinem Leben " , begann er von neuem , viel durchgemacht und viel gesehen .
Gehungert habe ich vom ersten Tage an ; aber durch all den Hunger bin ich gegangen , ohne den Rücken zu beugen .
Und wenn es noch so dunkel war , durch ein Spältchen glimmte das Nachtlicht .
Manches Mal habe ich gemeint , ich hätte mich durchgehungert und äße edles Brot .
Aber immer stellte es sich heraus , daß mir der Magen schwer davon war , und daß ich schließlich Kieselsteine geschluckt hatte , die ich mit aller Gewalt und nur mühsam wieder loswerden konnte .
Und dennoch bin ich weiter gegangen , ein verirrter Wanderer mit zerbrochenen Gliedern und mattem Körper , der vor dem Einbruch der Nacht doch noch eine gastliche Stätte zu finden hoffte . "
Er seufzte .
" Was war das für ein weiter , mühseliger Weg !
Und trotz allem bin ich der Wanderung froh , die , Sie mögen sagen , was Sie wollen , in das gelobte Land führt .
Ich stand auf dem heiligen Berge .
Ich sah von dem Gipfel in das Reich der Freude , und die rote , sinkende Sonne vergoldete es mit ihren letzten Strahlen .
Im Abendrot liegt das Reich der Freude !
Es steht unter dem Zeichen der inneren Freiheit , und überall , allüberall sehe ich seine Bannerträger , die mit fliegenden Fahnen durch das Land eilen . "
Er hatte die edlen , schlanken Hände gefaltet auf das weiße Linnen gelegt und blickte beinahe schwärmerisch Thomas Druck an .
" Wie kommt man zur Freiheit ? " fragte er bebend und hörte , wie sein Herz schlug .
" Indem man treu gegen sich selbst ist .
Indem man sich sucht , und nicht aufhört , sich zu suchen , indem man sein Göttliches entdeckt .
Wir leben wie elende Knechte , weil wir in uns selbst herrenlos sind ; denn , glauben Sie mir , es gibt eine Sünde , und die ist wider den eigenen , heiligen Geist !
Wir haben den heiligen Geist in uns und kreuzigen und martern ihn .
Alle äußere Freiheit ist erst von Segen , wenn wir die innere haben .
Fallen und straucheln Sie über tausend Gestrüpp , über Waldwurzeln und Felsblöcke , aber - straucheln Sie nicht über sich selbst .
Sie weinen ? " fragte er .
" Warum weinen Sie ? "
Und mit reinster Güte blickte er in das weinende Gesicht des Thomas Druck .
Thomas raffte sich zusammen .
" Ich sehe mich weit von Ihnen und weit von dem Ziele " , entgegnete er gedrückt .
" Für Sie gibt es keinen Zorn und keine Bitterkeit .
Sie sind bereits in einem Festsaal , der hell erleuchtet ist , in dem mehr als tausend Kerzen brennen . "
Brose wehrte ab .
" Sie irren .
Ich sehe den Festsaal und den Kerzenschein - aber ich habe meinen Zorn und meine Bitterkeit .
Und mein Zorn und meine Bitterkeit sind mir heilig !
Zorn und Bitterkeit sind das Eisen , aus denen man die Waffen schmiedet , um die alten Tore zu stürmen .
Der Zorn und die Rache sind uralt ; sie kommen von dem alten Judengott Jehova und sind das beste und edelste an ihm .
Verlernen Sie nicht den heiligen Zorn !
Der Zorn und die Rache , die ich im Sinne habe , sind die mächtigsten Hebel , mit denen man innere und äußere Knechtschaft aus den Fugen hebt .
Ich bin von Kindesbeinen in mir still gewesen , aber meinen Zorn und mein Rachegefühl , die hörte ich wachend bei der Arbeit und im tiefsten Schlafe , im schwersten Traum .
Die Edlen sind zornig " , schloß er kaum hörbar .
Vor Thomas stiegen weiße Nebelsäulen auf , undurchdringliche Nebel .
Seine Schläfen hämmerten , der Kopf tat ihm weh , und es war ihm , als ob seine Augen , vor denen es beständig hin- und herflimmerte , plötzlich geschwollen wären .
Zuletzt sah er nichts mehr .
Das Zimmer verschwand , die Züge des Malers waren nicht mehr sichtbar - es wogte durcheinander , alles aufgelöst in Dunkelheit .
Aber brausende Töne vernahm er , in wuchtigen Akkorden , wie aus einer Messe des Johann Sebastian Bach .
Da erhob er sich und schlich , unbemerkt von den anderen , davon .
Als Thomas die frische Luft entgegenschlug , begann er allmählich wieder klar zu werden und das Erlebte nachdenkerisch in sich zu verarbeiten .
Was für eine Freiheit hatte Heinsius im Sinn und welcher Freiheit war der Maler nachgestrebt ?
Es war klar , daß sie beide blutig gerungen hatten , um schließlich mit zerlöcherten Lungen zu ihrem Ziele , das ihm so verschieden dünkte und doch den gleichen Namen trug , zu gelangen .
Und vielleicht hatte er in beschränktem Hochmut den Volksschullehrer abgefertigt , der mutig und folgerichtig ohne Erbarmen gegen sich selbst seine Bahn zurückgelegt hatte .
War das wirklich Unsinn , was er von den Gefühlen sagte ?
Litt er , Thomas Druck , am Ende nicht selber an einem Überschwang von Empfindsamkeit , der sein klares Denken einlullte ?
Vielleicht waren die Gefühle nur Krankheitsträger , die wie Irrlichter von klarer Erkenntnis und strenger Aufrichtigkeit ablenkten ?
Und vielleicht war seine Auffassung über Kunst ihm nur platt erschienen , weil sie ihm neu war ?
War sie deshalb weniger logisch im Gedankengange dieses armen Burschen , und war es schließlich nicht geistiger Hochmut , die Lebensresultate eines anderen Menschen mit einer billigen Redensart einfach von der Hand zu weisen ?
Wo blieb da die gewissenhafte Nachprüfung , des Siechhineinversenken in das Denken anderer ?
Er fröstelte .
Das Denken anderer ! -
Was ging es ihn an ?
Man hatte genug zu tun , wenn man sich selber befühlte , betastete , beklopfte , wenn man das Hörrohr an seine eigene Seele legte und auf die innersten Herzenstöne lauschte ! -
Er empfand über sich Ärger .
Sein eigenes Bewegtsein und unruhiges Schwanken verdroß ihn .
Er begann sich zu schämen .
Wie hatte der Maler auf seine Rührung einen Dämpfer gesetzt , und wie gründlich hatte er ihn mißverstanden !
Er blieb stehen , zog das Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß ab ; er hatte plötzlich einen üblen Geschmack auf der Zunge , und wieder begann ein dumpfes Gefühl seinen Kopf zu beschweren .
Gewisse Wendungen Brose fielen ihm ein , die seine kindlichen Tränen hervorgelockt hatten .
Nichts hatte auf ihn empfindlicher und schmerzhafter gewirkt , als des Malers Idee von der Treue gegen sich selbst .
Er fühlte es jetzt ganz deutlich und sah klar , daß Brose mit diesem Worte die Wundeste Stelle in ihm getroffen hatte .
Er war aus seinem Geleise gleichsam mit Gewalt geschleudert worden , weil er sich gegen sein Innerstes vergangen hatte .
Daß er für Regine überstark und übermächtig empfand , war ein Heiliges , und hier sprach er sich von allem Makel frei - es war vielleicht ein Verhängnis , aber niemals eine Schuld .
Die Schuld begann erst von dem Augenblick an , wo er kriechend und duckmäuserisch geworden war .
Es hatte nur eine Möglichkeit gegeben , schlicht , offen und bündig dem Manne die Wahrheit zu bekennen , diese Bündigkeit hatte er außer acht gelassen , aus Bequemlichkeit und niederträchtiger Feigheit !
Er blickte sich verlegen um , als ob ihn jemand in seinen innersten Gesprächen belauschen könnte .
Aber die Menschen schritten gleichgültig an ihm vorüber , niemand bekümmerte sich um ihn .
Wie konnte ich so handeln ? fragte er sich scheu .
Wie war das möglich ?
Es verhielt sich genau so , wie der Maler gesagt hatte : er war über sich selbst gestrauchelt !
Das stand fest .
Unwiderleglich fest .
Er konnte sich nicht rein waschen .
Ich bin jetzt auf dem besten Wege , dachte er weiter , die Psychologie des Verbrechens zu begreifen .
Ich fange an , zu verstehen , wie man dazu kommt , sein Innerstes zu verleugnen und das Gemeine in sich zu entdecken .
Wenn mir jemand das vorausgesagt hätte !
Ah , dachte er , das ist das Erbteil vom Vater her ; , aber in dem Augenblicke , wo dieser Gedanke entstand , empfand er ihn wiederum als einen Selbstbetrug und eine jämmerliche Selbstverteidigung .
Es war sehr bequem , sich auf solche Weise den Rücken zu decken .
Und doch unterlag es für ihn keinem Zweifel , daß die Tamara nie und nimmer auf einen derartigen Irrweg hätte geraten können !
Die Urreinheit ihres Wesens hatte sie davor behütet .
Er kam wieder zu seiner Verbrechertheorie zurück .
Es gibt also dunkle Mächte , die einen treiben , Einbruch zu verüben oder , wie Brose es ausdrückte , den heiligen Geist in sich zu kreuzigen .
Es war nur ein Zufall , wenn die Sündigen diesen dunklen Mächten entgingen .
Es konnte eine Stunde kommen , die die Auslösung des Verbrecherischen im Menschen besorgte .
Das Verbrecherische stand tief im Dunkel ; es hielt mit weit aufgerissenen Augen Wacht , hatte seine Netze weit ausgespannt und wartete auf den Fange - und er war in diese Netze gegangen .
Er zappelte darin wie ein verängstigter Fisch , der mit seinem Schwanze um sich schlägt und seine Äuglein komisch aufreißt .
Er blieb mechanisch vor einer Litfaßsäule stehen und starrte auf die bunten , angeschlagenen Zettel : Ball in Joachims Festsälen , las er ...
Letztes Philharmonisches Konzert unter Nikisch .
Extravorstellung im Zirkus Busch , Götterdämmerung , Die Dame vom Maxim .
Er las die Titel , und sie kamen ihm komisch und verrenkt vor - tolle Aushängeschilder von Narren für Narren .
Er drehte sich erschreckt um .
Jemand hatte ihn gezupft .
Der Student der Theologie Bechert stand dicht vor ihm und grinste ihn an , wie es ihm dünkte .
" Ah , guten Tag " , sagte er zerstreut .
" Sie wollen wohl heute ins Theater gehen ? "
" Hm , ja " , machte er und wußte eigentlich nicht , was er geantwortet hatte .
" Sind Sie schon einmal in Joachims Ballsälen gewesen ? "
Thomas starrte ihn verständnislos an .
" Wissen Sie " , sagte plötzlich der andere unvermittelt , " ich würde nicht ungern Ihrem Nachtlichtverein beitreten , aber , offen gesagt , es stört mich , daß Sie Juden aufnehmen .
Sie sollten unbedingt auf eine rein arische Zusammensetzung halten .
Hören Sie zu ? "
" Nein " , entgegnete Thomas und verschwand mit einem kurzen Gruß .
Studiosus Bechert blickte ihm betroffen nach und fuhr mit Zeigefinger und Daumen von der Stirn bis zum Kinn über sein glattrasiertes Gesicht .
Als Thomas nach Hause kam , fand er zu seiner Verwunderung in seiner Wohnung Blinsky vor , der ihn noch nie besucht hatte .
" Verzeihen Sie " , sagte er schüchtern , " wenn ich Sie aufstöre . "
Dann reichte er ihm zur Erklärung einen ärmlichen Briefbogen , auf dem in unsicherer , tastender Hand zitterige Buchstaben mit blasser Tinte geschrieben standen .
Er war von Maria Werft , die Blinsky in rührendem Ton um Hilfe bat .
Sie lag seit vierzehn Tagen krank und konnte ihre Miete nicht bezahlen .
Zwischen den Zeilen war außerdem zu lesen , daß sie halb verhungert sei .
Am Schlusse stand :
" Wenn Sie mir nicht helfen können , so zeigen Sie diesen Brief dem gnädigen Herrn Thomas Druck .
Aber wenn Sie mir helfen können , so zeigen Sie ihm den Brief nicht . "
Blinsky erzählte stockend , daß er sein Letztes für den Maler Brose hergegeben habe .
Er schämte sich bei diesem Bekenntnis und vermied es , Thomas anzusehen .
Er wurde erst ein wenig freier und lustiger , als er weiter berichtete , wie man der Lissauerin ebenfalls eine bestimmte Summe Geldes abgenötigt habe .
Das sei der Grund , weshalb er sich an ihn wenden müsse , da seine Hilfsquellen erschöpft seien .
Thomas dankte , und ohne seinen Mantel abzulegen , begleitete er Blinsky .
Den Brief der Maria Werft , der ihre Adresse enthielt , steckte er in seine Seitentasche .
Blinsky verabschiedete sich rasch , und Thomas stand plötzlich vor dem Delikatessengeschäft , wo Regine an jenem denkwürdigen Abend die Leckerbissen für ihr Liebesmahl eingekauft hatte .
An diesem Abend hungerte vielleicht bereits die Maria Werft und marterte ihr leeres Hirn mit den entsetzlichen Fragen , die die Not stellt .
An diesem Abend dachte sie vielleicht in ihrem armseligen Bettgestell an ihn , den sie so hartnäckig " gnädiger Herr " titulierte .
" Gnädig " - wieviel Knechtseligkeit und wieviel niedrige Komik lag in diesen Worten !
Er fragte sich , wie er dazu kam , auch nur einen Groschen überflüssiges Geld für sich in Anspruch zu nehmen .
Im Grunde genommen lebte er wie ein Schmarotzer ; während die Leute vom Nachtlicht sich krank und elend darbten , saß er in seinen vier Wänden und naschte Kaviar und Lachs .
Ich bewege mich doch auf einer ganz falschen Linie , fuhr er sich grimmig an .
Ich verwechsele die Begriffe .
Nicht daß ich Kaviar und Lachs esse , ist ein Verbrechen ; erbärmlich ist nur , daß die Dinge liegen , wie sie liegen .
Daß an der Freudentafel nur eine Handvoll Menschen sitzt , während die anderen mit gierigen Blicken und ausgehungerten Magen feindselig daneben stehen .
Er trat in den Laden , und jede Einzelheit des Abends fiel ihm ein .
Und wieder drangen warme Glückswellen zu seinem Herzen , wieder sah er sie , die sich zu ihm bekannt hatte .
Ein Kommis fragte ihn , was er befehle .
" Ich befehle nichts ! "
Und beinahe grob fügte er hinzu :
" Wie können Sie sich selbst so erniedrigen ! "
Der Kommis lächelte bescheiden , im stillen dachte er :
Was ist das für eine überspannte Kruke .
Thomas kaufte zwei Mandeln Trinkeier , Schinken , Würste , eine Brust Spickgans , mehrere Flaschen Ungarwein , und zuletzt ließ er noch eine Dose mit Kaviar füllen .
Sie sollte es gerade so gut haben wie er an jenem Abend .
" Dieses alles packen Sie in einen Korb " , sagte er langsam , " und schicken ihn nach der Bärwaldstraße 14 , Hof , vier Treppen , abzugeben an Fräulein Maria Werft , beim Flickschneider Kessel wohnhaft . "
Wieder lächelte der Kommis .
Er hatte seine eigenen Gedanken .
Thomas sah es nicht , er war ganz mit sich beschäftigt , während der Kommis von einem Block einen weißen Zettel riß , auf dem er die einzelnen Posten des Einkaufs notiert hatte .
Diesen Zettel gab Thomas an der Kasse ab .
Die Kassiererin wartete eine Weile vergebens , daß er sich dazu bequemen würde , den Beutel hervorzuziehen .
Andere Kunden drängten sich heran .
" Ja , das macht dreiundzwanzig Mark fünfzig " , sagte sie und sah ihn von oben bis unten an .
Sie erinnerte sich , daß dieser Mensch vor wenigen Tagen erst , ebenfalls zur Abendzeit , mit einer pikfeinen Dame hier gestanden hatte .
Thomas zuckte ordentlich zusammen und legte einen Hundertmarkschein hin .
Die Kassiererin gab ihm heraus , und er verließ eiligst das Geschäft .
Als der Laden sich geleert hatte , sagte der Kommis zur Kassiererin :
" Das scheint ein toller Hecht zu sein ! "
Sie nickte verständnisvoll .
Thomas ging zum nächsten Postamt , wo er den größeren Rest der Summe an die Maria Werft sandte ; er beschloß in der Stunde , keinen Pfennig mehr für sich zu behalten , als er zu seinem dringendsten Lebensunterhalte bedurfte .
Einen Augenblick tat ihm das wohl , aber gleich darauf raunte ihm eine Stimme zu : Täusche dich doch nicht , das tust du alles aus purem Egoismus , einzig aus dem Grunde , um an gewissen , brüchigen Stellen eine Schutzmauer gegen dich selbst aufzurichten .
In dieser Sekunde tiefster Seelenpein trat das blutende Lächeln der Tamara auf seine Züge .
XVI.
" Guten Tag " , sagte eine helle Mädchenstimme , und lachend fügte sie hinzu : " Sie sehen ja aus , wie ein Nachtwandler . "
Das Mädchen stellte sich unter eine elektrische Bogenlampe dicht vor den Angeredeten und sperrte ihm den Weg .
Der zog die Arme , die er bisher verschränkt über den Rücken gehalten hatte , hervor und grüßte ein wenig linkisch und hochmütig .
Er legte nur flüchtig die Hand an den Hut .
" So sagt man doch nicht guten Tag " , brummte er etwas ärgerlich und aus der Fassung gebracht .
Die Studentin Charlotte Ingolf errötete .
" Sie entschuldigen " , sagte sie kurz .
" Gewiß " , erwiderte Mechaniker Fründel .
Sie schritten nebeneinander .
Die Ingolf lachte .
" Ich werde mir durch Sie Eisbär nicht die Laune verderben lassen ! "
" Will ich das ? "
" Warum sind Sie denn so grob ? "
" Ich bin niemals grob .
Sie haben mich mitten in einer Sache gestört , und das war mir unangenehm . "
Er holte eine Zigarre hervor , und sie bemerkte , daß er vergeblich nach Streichhölzern in seinen Taschen suchte .
" Bitte " - sie reichte ihm ein kleines , silbernes Etui hin .
Er betrachtete es spöttisch , blieb stehen , ohne sich um sie zu kümmern , und zündete sich seine Zigarre an .
" Ich müßte mich eigentlich bei Ihnen entschuldigen , daß das Ding aus Silber ist . "
Sie zeigte ihre weißen Zähne .
" Bei mir ? "
Er zog die Achseln empor .
" Was macht die Josefa Gerving ? "
Der Mechaniker gab auf diese Frage keine Antwort .
Er beschäftigte sich offenbar wieder mit sich und nahm keine Notiz von ihr .
" Sie amüsieren mich königlich ! "
" Na , sehen Sie ! "
" In der Tanzstunde waren Sie wohl niemals ? "
Er verzog seinen Mund .
" Ich pfeife lieber , als daß ich tanze . "
" Ich merke es . "
" Übrigens , es ist der reinste Unsinn " , sagte er , " daß ihr Weibsleute Höflichkeiten von uns verlangt !
Weshalb denn eigentlich ?
Erst mault ihr von der Gleichberechtigung der Geschlechter - macht man dann Ernst , dann wollt ihr wie die rohen Eier angefaßt werden ! Übrigens " , unterbrach er sich , " diese ganze Frauenbewegung ist ein ekelhafter Schwindel !
Ein paar Weiber sind rabiat geworden und faseln von gleichen Rechten .
Sind denn die Hirne gleich ?
Aber " , fuhr er bissig fort , " da sitzt eben der Hase im Pfeffer .
Die Handwerkskniffe - alles Äußerliche kapiert ihr wie die Affen , mit einer Fixigkeit , daß man sagen kann , Geschwindigkeit ist keine Hexerei !
Aber das andere !
Der Geist , wo bleibt der Geist ?
Mit allem Gezeter und Geschrei seid ihr erbärmliche , kleine Weibchen geblieben , verstehen Sie mich , erbärmliche , kleine Weibchen , die das Hirn des Mannes austragen möchten !
Ich bin gegen die Frauen-Emanzipation .
Kennen Sie Proudhon ?
Lesen Sie ihn .
Man muß ihn lesen , hören Sie !
Er ist ebenfalls gegen diesen Schwindel - übrigens noch aus anderen Gründen !
Er meint , das Weibsgeschlecht wird dadurch ausschweifend und lasterhaft - ich dagegen glaube , es wird untauglich und verkümmert für die Mutterschaft .
Es vergißt sich selbst . "
Die Ingolf fühlte , daß ihr Selbstbewußtsein neben diesem durch nichts zu bewegenden Klotz von Menschen zu schwinden drohte .
Sie wehrte sich dagegen .
Sie war gereizt durch seine brüske Überlegenheit .
Sie wollte ihm einfach den Rücken kehren , ihm mit gleicher Münze dienen und ohne Gruß davonlaufen .
Aber etwas Unbestimmtes bannte sie .
Sie bildete sich ein , daß der Bursche sie psychologisch interessiere .
" Thomas Druck ist ein feiner Kopf " , bemerkte sie unvermittelt .
" Finden Sie ? "
" Allerdings .
Und Sie sind anderer Ansicht ? "
" Ich kenne ihn noch nicht genügend .
Nur kommt es mir vor , als ob er etwas schwärmte . "
" Sie sind gegen Schwärmer ? "
Der Mechaniker rückte sich den Hut etwas zurecht .
" Mit solchen Fragen fängt man Bauern ! "
Die Ingolf zog die Stirn empor .
" Wofür halten Sie mich ? " fragte sie erbittert .
" Zunächst für eine Studentin der Medizin . "
" Und dann ? "
" Das weiß ich noch nicht . "
" Sie denken doch nicht etwa gar - ? "
Sie hielt inne .
" Nein , ich denke das nicht .
Es könnte doch aber sein .
Ich stecke ja nicht in Ihnen .
Es laufen jetzt so viele Frauenzimmer herum " , fuhr er langsam und unbeirrt fort , " die unter allerhand Masken spionieren und die dunklen Geschäfte der Polizei verrichten .
Sie haben doch gehört von solchen Agenten und Agentinnen unserer Sicherheitsbehörde ?
Sie können es doch einem nicht übel nehmen , wenn er vorsichtig ist .
Nein , das können Sie nicht ! "
Die Ingolf war grau wie Kalk geworden .
" Das ist eine gemeine Zumutung " , stammelte sie .
" So etwas kann man nur einem wehrlosen Frauenzimmer sagen ! "
Eine kleine Weile atmete sie heftig .
" Wissen Sie , was ich glaube ?
Toll sind Sie , einfach toll . "
Und bissig fügte sie hinzu : " Haben Sie vielleicht einmal einen Schädelbruch gehabt ?
Oder sind Sie einmal geisteskrank gewesen ?
Oder stammen Sie vielleicht aus einer Familie , in der sich Geisteskranke befinden ?
Mit einem Wort : Leiden Sie an Verfolgungswahn ? "
" Sie stellen wenigstens die Fragen klipp und klar " , entgegnete er ohne jede Gereiztheit .
" Also : Schädelbruch ausgeschlossen .
Geisteskrankheit ebenfalls .
Erbliche Belastung zweifelhaft .
Verrückte gibt es in jeder Familie .
Es ist schnuppe , ob sie interniert sind , oder nicht .
Wieviel auf mich gekommen ist , bleibt dahingestellt .
Ich halte mich für absolut - für absolut gesund . "
" Man müßte Sie einmal untersuchen " , erwiderte sie ernsthaft , aber um ihre Lippen zuckte es wie in verhaltenem Lachen .
" Sie sind Adeptin der Medizin ? "
" Stimmt .
Und Sie sitzen am Schraubstock ? "
" Stimmt ebenfalls , wenigstens was den Tag anbelangt .
Und bei Nacht suche ich meine Vernunft zu erweitern . "
" Das ist sehr löblich , aber Sie müssen fleißig weiter arbeiten .
Vernunft erweitern ist eine schwierige Sache .
Man gerät da leicht auf Holzwege .
Man sieht doppelt , oder man sieht statt rot blau oder schwarz . "
" Hm " , machte der Mechaniker .
" Auf den Kopf gefallen sind Sie auch nicht ! "
" Gott behüte mich davor !
Nach so einem kleinen Schädelbruch wird man schwachsinnig . "
" Man verliert nur seinen Verstand " , bemerkte er trocken , " wenn man vorher welchen gehabt hat . "
" Aber es kommt auf die Nuancen an . "
" Das stimmt ! "
Sie waren vor ihrer Wohnung in der Dorotheenstraße angelangt .
" Wollen Sie bei mir eine Tasse Tee trinken ? "
" Ist der gut ? "
" Ich hoffe . "
" Dann nehme ich an . "
Sie wohnte vorn in der zweiten Etage , in einem Zimmer mit Extraeingang .
Es war groß , geräumig und elegant eingerichtet ; ein japanischer Wandschirm verbarg ihr Bett .
Die Möbel waren aus schwerer Eiche , und ein wirklich bequemes und prachtvolles Sofa lud zum Sitzen ein .
Die Lampe brannte bereits , als sie eintraten .
Des Mechanikers erster Blick fiel auf die eichenen offenen Schränke , die mit Büchern vollgestopft waren .
Auf dem Schreibtische , der eine breite , außergewöhnlich große Platte hatte , lagen verschiedene Bände der Königlichen Bibliothek .
Der Mechaniker schlug einen Band auf .
Es war Häkel Schöpfungsgeschichte .
Er blickte sich voll Neid um .
Die Bücher hypnotisierten ihn .
" Jeder Student kriegt von der Königlichen Bibliothek Bücher geliehen ? " fragte er .
" Das hat mit dem Studieren nichts zu tun .
Jeder Mensch kriegt sie . "
" Ich auch ? "
" Sie auch , wenn Sie einen Bürgen haben . "
" Bürgen ... " er lachte höhnisch .
" Ich habe keine Bürgen . "
" Sie könnten die Bücher durch mich bekommen " , sagte die Ingolf , ohne ihn anzusehen .
" Man hat das Recht , mehrere Bände jeden Tag zu erheben . "
" Sie wollten ? "
" Gewiß .
Es ist zwar verboten , sie weiter zu verleihen , aber ich würde mich in diesem Falle nicht daran kehren . "
" Hm " , meinte er .
" Ich würde das unbedingt annehmen . "
Er setzte sich auf das Sofa , ohne irgendwelche Gene .
Aber eine gewisse Erregung kam über ihn .
Die Möglichkeit , alle Bücher zu erhalten , die er brauchte , erfüllte ihn rauschartig .
Die Ingolf drückte auf einen Knopf .
Ein Stubenmädchen mit einer weißen Schürze trat ein .
" Bitte , besorgen Sie uns etwas Abendbrot mit Tee " , bat sie gelassen .
" Der Tee muß gut und stark sein , besser als sonst . "
Sie blickte schelmisch zu ihm hinüber .
Er rührte sich nicht .
Er dachte nur an die Bücher .
Als das Mädchen das Zimmer verlassen hatte , trat er dicht vor sie hin , so daß sie einen gelinden Schreck bekam .
" Das mit den Büchern fasse ich als ein festes Versprechen auf , das Sie mir nicht mehr brechen dürfen ! "
Sie reichte ihm die Hand , in die er geradezu feierlich einschlug .
Dann fing sie plötzlich unaufgefordert von sich zu erzählen an , vergnügt und lustig , und obwohl er ihr gerade keine auffällige Teilnahme entgegenzubringen schien , ließ sie sich in ihrem Plaudern doch nicht stören .
Und dabei sah sie ihn mit guten , zuweilen aufleuchtenden Augen an .
Aus dem Holsteinischen stammte sie .
Sie waren zugezogene Leute , merkwürdigerweise aus dem Elsaß ins Holsteinische verschlagen .
Ihr Vater war Fabrikant gewesen und hatte ein kleines Vermögen hinterlassen , das den einzelnen Kindern eine gewisse Selbständigkeit ermöglichte .
" Aber Philister sind sie durch und durch , und wenn die jetzt wüßten , daß ich einen solchen Herrn wie Sie zu Gaste habe !
Einen solchen Herrn ! " wiederholte sie mit einem Anflug leiser Koketterie .
" Die Augen würden sie aufreißen , starr würden sie vor Schrecken werden ! "
Er , in einem trockenen und gleichgültigen Ton : " Mein Vater ließ sich zum Krüppel schießen ; meine Mutter stand zeitlebens am Waschtrog .
Die Hände hätten Sie sehen sollen , diese breiten , roten , großen Hände , die beständig nach grüner Seife rochen - und die Geschwister ... na , eins starb immer nach dem anderen .
Die Frau wusch eigentlich nur für den Totengräber - und die Hebamme .
Erbaulich , was ?
- Mir ist es hier ein bißchen zu warm ! "
Er stand auf und riß , ohne zu fragen , die Fenster auf .
Die Ingolf verfolgte erregt jede seiner Bewegungen .
Sie fühlte deutlich , daß dieser Mensch auf sie einwirkte .
Das Stubenmädchen trat ein und deckte sorgfältig den Tisch .
Sie stellte eine Schüssel mit Aufschnitt , Butter , Brot und japanisches Teegeschirr auf den Tisch .
Messer und Gabeln waren aus Britannia , die Teller aus edlem Porzellan , und alles sah wohlig und sauber aus .
Die Studentin goß den Tee ein , der Mechaniker schloß die Fenster und setzte sich wieder auf das Sofa .
Er aß vor sich hingrübelnd , sie scheinbar völlig wieder vergessend .
Sie merkte , daß er weder Manieren noch Lebensart hatte , wie ein Raubtier die Bissen verschlang und mit einer Schnelligkeit das Brot hinunterwürgte , die etwas Groteskes und Abstoßendes hatte .
Dennoch nahm sie an diesen Äußerlichkeiten keinen Anstoß - und darüber wunderte sie sich selbst im stillen .
Sein Gesicht zog sie an , weil es ihr zu raten aufgab .
Niemals hatte sie einen Menschen mit solcher Hingebung sich mit sich selbst beschäftigen sehen .
Wenn er angestrengt nachdachte , oder in Eifer geriet , so grub sich zwischen den Augenbrauen eine so tiefe Falte , daß seine Miene einen Ausdruck vergrämten , fanatischen Insichgekehrtseins bekam .
Sie betrachtete ihn gespannt und erschrak vor seiner Selbstsicherheit ...
Sie beobachtete ihn unverhüllt und , wie es ihr selbst vorkam , mit einer unverschämten Dreistigkeit .
Und alles das berührte diesen Menschen nicht im geringsten .
Er aß weiter , ohne sich stören zu lassen .
" So ! "
Er wischte sich mit der geballten Hand den Mund ab und legte Messer und Gabel beiseite .
Sie war nicht imstande , ein unterdrücktes Lachen völlig hinunterzuschlucken .
Er merkte es sofort .
" Na " , sagte er , auf die Serviette deutend , " auf das bißchen Kultur brauchen Sie sich weiter nichts einzubilden . "
Er war aber auch nicht einen Deut peinlich berührt .
Sie dagegen blickte doch ein wenig verlegen beiseite .
Er ging ungeniert an ihren Schreibtisch und stöberte unter den Büchern .
Er schlug ein kleines Büchlein auf .
Es war Taines Philosophie de l'art .
" Sie lesen das französisch ? "
" Ja . "
" Sie beherrschen die Sprache vollständig ? "
" Ich glaube . "
" Können Sie auch Englisch ? "
" Ich bilde es mir ein . "
" Sie sprechen und lesen es ebenfalls vollkommen ? "
" So wie das Französische . "
Ein unverhüllter Neid trat auf seine Züge , in denen es wieder zu arbeiten begann .
Er hatte eine Bemerkung auf der Zunge , aber er unterdrückte sie .
Er ging mehrere Male in dem Zimmer auf und nieder , als wenn er der Herr darin wäre , und stellte sich dann dicht vor sie hin .
" Ist es schwierig , Sprachen zu erlernen ? "
" Nein " , entgegnete sie , " denn jeder Kellner kapiert sie .
Man braucht nur viel Zeit , wenn man es nicht richtig anfängt . "
" Hm .
Haben Sie Talent zum Unterrichten ? "
" Wie meinen Sie das ? "
" Ich meine , ob Sie sich zutrauen , einen gescheiten Unterricht in diesen Sprachen zu erteilen , bei dem man schnell vorwärts käme ? "
Sie antwortete langsam :
" Ich habe noch nie daran gedacht , Sprachlehrerin zu werden ; dennoch traue ich mir zu , einen leidlich intelligenten Menschen ins Französische und Englische einzuführen . "
Er sah sie mit festgeschlossenen Lippen kühl und durchdringend an .
" Wollen Sie mich unterrichten ?
Ein Honorar würde ich Ihnen nicht zahlen " , setzte er hinzu , " Sie müßten es rein aus Interesse an meiner Person tun . "
Sie war doch etwas verblüfft .
" Aus Interesse an Ihrer Person ? "
" Nun ja , ein gewisses Interesse nehmen Sie doch an mir " , entgegnete er fest und bestimmt , als ob dagegen kein Widerspruch möglich wäre .
Übrigens , wenn Sie nicht wollen , ich bitte niemanden . "
Sie warf den Kopf in die Höhe und sagte : " Ich will . "
Und tief aufatmend fügte sie hinzu : " Ich habe keine Furcht vor Ihnen . "
" Sie haben unter Ihrer schweren Kindheit gelitten " , fragte sie nach einer Weile , und aus ihrer Stimme klang Mitleid .
Er lachte kurz auf .
" Ich leide an solchen Dingen nicht .
Ich habe sie nicht nur an mir , sondern an tausend anderen beobachtet .
Sie stählen mich nur ; sie haben ganz im Gegenteil den festen Grund für meine Auffassung von Menschen und Verhältnissen gelegt .
Insofern bin ich ihnen dankbar . "
Die Ingolf brach das Thema ab , und sprunghaft , ohne Übergang , bemerkte sie :
" Sie sagten vorhin , Thomas Druck sei ein Schwärmer .
Könnten Sie mir das näher begründen ?
Ich habe für diesen Menschen ein lebhaftes Interesse .
Seine ganze Art hat etwas tief Bewegendes . "
" Schwärmer " warf er hin , " leiden an einer bestimmten Krankheit .
Sie wollen erlösen .
Sie gehen am Erlöserwahnsinn zugrunde .
Sie werden ans Kreuz geschlagen - oder sie schlagen sich selbst ans Kreuz .
In der Sache läuft das auf eins hinaus . "
" Sie halten den Erlösergedanken für etwas Pathologisches ? "
" In Bezug auf die Allgemeinheit - ja .
In Bezug auf den einzelnen - nein . "
" Wie meinen Sie das ? " brachte sie kleinlaut und bedrückt hervor .
In seinen schmalen und geschlitzten Augen funkelte es auf .
" Der einzelne bin ich selbst , nur ich kann mich erlösen . "
" Aha " , rief sie , " Sie stehen auf einem ähnlichen Standpunkt wie der Volksschullehrer Heinsius ? "
" Es ist eine Ähnlichkeit vorhanden " , bestätigte er .
" Indessen " , setzte er in eigentümlichem Tone hinzu , " ich glaube , daß ich über ihn hinausgehe . "
" Alle Ihre Propheten " , rief sie erregt , " sollte man an den Laternenpfählen aufhängen , und ihre Lehren sollte man wo sie gedruckt sind , einstampfen , daß nicht ein Buchstabe übrig bleibt ! "
Die Züge des Mechanikers wurden fanatisch .
" Unsere Lehre " , antwortete er , und die Ingolf spürte , daß er sich jetzt an seinen eigenen Worten berauschte , " ist wie jene wunderbare Schlange , der tausend neue Köpfe wachsen , wenn man ihr einen abschlägt . "
" Und welches wird das Ende des Thomas Druck sein ? " fragte sie .
" Ich prophezeie nicht .
Haben Sie aber einmal seinen Hals gesehen ? "
" Ja " , erwiderte sie , " er hat einen schlanken , edlen Hals . "
" Er hat den Hals des Egmont " , sagte der Mechaniker .
" Sie erinnern sich der Stelle bei Goethe ? "
" Ich erinnere mich . "
Ihr Gesicht war erregt und bleich geworden .
" Sie lesen Goethe ? "
" Ich habe ihn ehedem gelesen . "
" Und das , glauben Sie , ist das Schicksal des Thomas Druck ? "
" Ja . "
" Nein , ich glaube es nicht ! "
Sie glühte am ganzen Körper .
" Das ist es nicht , das wird es nicht sein ! "
Mechaniker Fründel zog seinen Mantel an und nahm den Hut in die Hand .
Er lächelte boshaft und niederträchtig .
" Ich will Ihnen für das gespendete Abendbrot , die versprochenen Bücher , den in Aussicht gestellten Unterricht eine kleine Weisheit schenken .
Spitzen Sie die Ohren " , fügte er bissig hinzu .
" Ich höre . "
Und er in leisem Ton , jede Silbe akzentuierend : " Alles , was zugrunde geht , ist wert , daß es zugrunde geht ... gute Nacht , Fräulein Ingolf ! "
" Gute Nacht - Herr Fründel ! " XVII .
Herr Berg begrüßte Thomas mit ungeheuchelter Freundlichkeit und führte ihn gleich zu Tisch .
Die gnädige Frau kam herein , als die Suppe bereits aufgetragen war .
Sie sah blaß und leidend aus und reichte ihm stumm die Hand .
Ihr Anblick ergriff ihn .
Und wenn er in der Laune des Verliebten zuerst unmutig gewesen war , daß sie ihn nicht vor ihrem Manne begrüßt hatte , so verflog das schnell .
Auch der Junge saß bei Tisch und redete ihn zutraulich mit " Onkel Thomas " an .
Sein schwächliches Körperchen trug ein altes und kluges Gesicht .
Thomas war der einzige Gast .
Und während der Mahlzeit zog ihn der Hausherr beständig ins Gespräch .
Sie war einsilbig , nervös und von einer zitternden Unruhe .
Mehrere Male fuhr sie ihren Mann an , als er das Wort an sie richtete .
Der Junge schielte ordentlich verschreckt zu ihr hinüber , er schien die Zustände der Mutter zu kennen .
Auch Herr Berg mied es , sie anzureden .
" Meine Frau " , sagte er einmal , devot lächelnd , " hat heute ihren Tag .
Weh dem , der ihr verfällt !
Nehmen Sie sich in acht , ich rate es Ihnen .
Das heißt " , fügte er hinzu , " Sie stehen ja bei ihr in Gunst und dürfen schon etwas wagen . "
Bei diesen Worten blickte sie ihn bitterböse an .
Sie tat den Mund auf , als ob sie eine gereizte Bemerkung machen wollte , dann aber schloß sie verächtlich wieder ihre Lippen .
Als der servierende Diener einmal durch eine ungeschickte Bewegung ein Geräusch hervorrief , konnte sie sich nicht beherrschen .
" Sie sind wohl toll geworden ? " schrie sie .
Und als der eingeschüchterte Mensch etwas erwidern wollte , wies sie ihm mit einer herrischen Bewegung die Tür .
Vater und Sohn sahen sich gleichzeitig an und blickten starr auf ihre Teller .
Was hat sie ? fragte sich Thomas im stillen und wußte sich keine Antwort .
Ihr Benehmen machte ihn ratlos und quälte ihn .
Er hatte die Einladung nur angenommen , um Klarheit zu schaffen , und nun schuf ihre Art alles verwirrter und unklarer denn je .
Warum zeigte sie ihm offenkundig dieses Zerrbild ihres eigenen Ich_es ?
Und dennoch fühlte er , wie stark er sie liebte .
Sie konnte sich ihm zeigen , wie sie wollte , seine Leidenschaft erfüllte ihn und ließ alles , was sie tat , in einem anderen Lichte erscheinen .
In jeder Sekunde hatte er tausend und eine Entschuldigung für sie bereit .
Die Tafel wurde aufgehoben .
" Sie entschuldigen , wenn ich mich ein Stündchen lege " , sagte Herr Berg , " aber in meinem Alter ... "
Er nahm den Jungen mit und wollte , ohne ein Wort an sie zu richten , aus dem Zimmer gehen .
Als er schon in der Tür stand , wandte er sich noch einmal um .
" Darf ich der Gnädigen gesegnete Mahlzeit wünschen ? "
Sie nickte ihm flüchtig zu .
Er machte noch eine Handbewegung gegen Thomas und verschwand .
Eine Minute horchten beide .
Dann drückte sie an der elektrischen Glocke .
" Ich wünsche von niemandem gestört zu werden " , sagte sie zu dem eintretenden Diener .
Ihr Ton klang herrisch .
" So , jetzt komme " , flüsterte sie .
Sie zog ihn leise an der Hand durch eine Flucht von Zimmern in ein kleines Damenboudoir .
Sie schloß die Tür , ging dann auf ihn zu und sah ihn eine flüchtige , kleine Weile in tiefer , verhaltener Erregung an .
Alles Herrische war von ihr gestreift .
Ihre Gestalt hatte etwas Hilfloses und Zerbrochenes .
Ihre Wortlosigkeit schien zu sagen : Sieh , ich liege am Boden , hebe mich auf .
Diese ihre verwandelte Haltung bewegte Thomas bis ins Innerste ... das war die Regine , an der er hing , die von seinem ganzen Wesen Besitz genommen hatte .
Er legte seine zitternde Hand auf ihr dunkles Haar .
Seine Berührung nahm ihr den Rest ihrer Selbstbeherrschung .
Ohne einen Laut hervorzubringen , zog sie ihn wie eine Dürstende an sich und küßte ihn leidenschaftlich .
Und nun vergaßen sie alles .
Es kam eine Trunkenheit über sie , die jeden Gedanken an die Außenwelt aus ihrer Erinnerung trieb .
All ihr Empfinden und Denken war nur darauf gerichtet , sich für die lange Trennung schadlos zu halten .
Thomas war , als ob ihre Blicke alle Vorstellungen und Gedanken , in denen er früher gelebt , ausbrannten .
Er sah in ihren Augen keine Tränen , und dennoch waren sie feucht und schluchzten in tiefer , unsagbarer Freude , die sich ihm mitteilte .
Alles , was sie sprach , klang ihm wie leise , gedämpfte Sphärenmusik , die aus weiter Ferne kam und seine Sinne betörte .
Er fühlte auch , wie sein Haar zitterte , wie sie es streifte .
" Schließe die Augen ! " Thomas gehorchte .
Sie küßte ihn im Kranze - den Hals , das Ohr , die Stirn , die Augen und zuletzt den Mund .
" Du darfst dich nicht rühren " , flüsterte sie , und immer wieder küßte sie ihn .
" So , jetzt sieh mich an " , sagte sie plötzlich .
Und fiebernd raunte sie ihm zu :
" Wenn du wüßtest , wie ich mich nach dir sehne ! "
Sie riß ihn mit sich fort und entzündete seine junge Manneskraft .
" Du zerdrückst mich ja " , stöhnte sie einmal , aber als er nachlassen wollte , setzte sie unter Tränen lächelnd schnell hinzu :
" Nein , zerdrücke mich ; ich will , daß du mich zerdrückst ! "
Das brachte ihn zur Besinnung .
" Ich will dich nicht zerdrücken , ich will mit dir leben " , antwortete er ernst .
Sie duckte sich wie ein Kätzchen und blinzelte mißtrauisch zu ihm hinüber , als verstünde sie nicht den ganzen Sinn seiner Worte .
Er wollte sprechen , aber von neuem verschloß sie ihm mit tausend Zärtlichkeiten den Mund .
Nur ganz dunkel fühlte er eine Auflösung seiner Kräfte .
Er fühlte , wie sein Wille weich wurde , wie aller Widerstand in der Glut dieses Liebesfeuers zerfloß .
Er wollte sich dagegen wehren .
Er wollte das , was er sagen mußte , sagen ; aber er empfand nur eines , daß es ihm in dieser Stunde unmöglich war .
Sie fuhr auf einmal empor und trat horchend an die Tür .
Und diese Bewegung rüttelte ihn und brachte ihn von neuem zur Besinnung .
Sie strich sich die Haare zurück , und voll schmerzlicher Hingebung sagte sie : " Komme hinein , er wartet gewiß schon . "
Aber als sie in sein Gesicht blickte , sah sie darauf einen todesscheuen Ausdruck und eine furchtbare Leblosigkeit .
Auch war es ihr , als ob es in seinen Augen zu bluten anfing .
" Was hast du ? " schrie sie entsetzt auf und schmiegte sich sofort wieder an ihn .
In der Stunde erkannte sie deutlich , daß er jedes Wort gleichsam wie mit einer Zange aus sich herausholen mußte ; sie fühlte instinktiv die Anstrengung , die ihn das Sprechen kostete .
" Ich muß noch mit dir reden .
Versprich , daß ich heute noch mit dir reden kann " , brachte er mühsam hervor .
" Ich verspreche es dir , du wirst mich begleiten , zu Bekannten begleiten , die ich aufsuchen muß .
Und jetzt komm. "
Im Herrenzimmer war zum Kaffee gedeckt .
Die gnädige Frau verließ Thomas auf einen Moment .
Er stand allein und lehnte sich an die Wand .
Wenn ich nur nicht umfalle ...
Ich darf nicht umfallen ...
Es verstrich eine Zeit , die ihm ohne Ende vorkam .
Als sie wieder eintrat , bemerkte er sofort auf ihrem Gesicht einen Ausdruck nervöser Unruhe .
" Was ist denn ? "
" Nichts , nichts " , entgegnete sie zerstreut und suchte ihm zu verbergen , was in ihr vorging .
Da blickte er sie tieftraurig an .
" Ich suche meinen Mann " , sagte sie erklärend und sich gleichsam entschuldigend .
Dabei mied sie es , ihn anzusehen .
" War er vielleicht hier ? " fügte sie rasch hinzu , um in Thomas jeden anderen Gedanken zu verscheuchen .
" Nein " , antwortete er schmerzhaft .
" Ja , wo steckt er denn ? "
Sie drückte an einem elektrischen Knopf .
Unmittelbar darauf erschien ein Diener .
" Ist der Herr ausgegangen ? "
Der Diener zuckte mit den Achseln .
" Ich weiß es nicht , gnädige Frau , ich bin eben erst gekommen , ich hatte ... "
" Das ist mir ganz gleichgültig ! "
Sie fixierte ihn scharf .
" Fragen Sie den Portier , ob der Herr bereits fort ist ! "
Der Diener verschwand .
Wieder verstrich eine Spanne Zeit , die in beiden eine Art von banger Stimmung aufwachsen ließ .
" Er ist doch um die Zeit immer noch da " , brachte sie geärgert hervor .
" Ich muß ihm doch sagen , daß ich fortgehe , daß ich - " sie brach ab , denn plötzlich schien sie zu merken , wie sie mit jedem Worte Thomas peinigte .
Sie hatte die Vorstellung , daß sie sich an ihm versündigt hätte .
Er litt durch sie .
Sie wollte wieder gutmachen , was sie an ihm verschuldet .
Mit einem glücklichen Lächeln , das ihre Miene verklärte , zog sie ihr seidenes Taschentüchlein hervor und drückte es ihm in die Hand .
In diesem Augenblick erschien Herr Berg auf der Schwelle .
Sein Gesicht war verzerrt , es hatte etwas Verweintes und Vergrämtes .
Er blickte Thomas eine flüchtige Weile verständnislos und beinahe blöde an und suchte über ihn hinweg Regine zu begegnen .
" Was hast du denn ? " fragte sie unwirsch ; aber aus dem Ton ihrer Stimme klang doch etwas wie Angst .
Er gab keine Antwort , sondern stierte sie nur fassungslos an , und seine Züge schienen noch weinerlicher zu werden .
Um Gottes Willen , dachte Thomas , was ist das ?
Ihm war es , als ob er jeden Halt verlöre , als ob unter ihm die Erde sich auftäte und er langsam herabgezogen würde .
Nimm dich zusammen , schrie er sich innerlich an .
Nimm dich zusammen , wiederholte er noch einmal und ballte fest die Hände .
Regine warf den Kopf zurück und ging ganz dicht auf Berg zu .
" Willst du mir jetzt sagen , was mit dir ist ? "
Ihr Blick und ihre Stimme schienen ihn einzuschüchtern .
Er wollte sprechen , aber nur ein paar lallende Laute entrangen sich ihm .
Sie lachte kurz und haßerfüllt auf .
Ihr Lachen schreckte ihn und brachte ihn in die Wirklichkeit zurück .
Er sah einfältig empor .
" Man hat ... man hat mich ... " stammelte er langsam - wieder machte er eine kleine Pause - " man hat mich soeben benachrichtigt " , fuhr er dann , gleichsam sich überstürzend , fort , um unmittelbar darauf wieder in eine Art von Stottern zu verfallen - " daß ... daß ... daß meine ... Mutter vom ... vom Schlage getroffen ist ...
Sie ...
Sie ... entschuldigen " , wandte er sich mit Anstrengung an Thomas .
Der murmelte ein paar nichtssagende Worte und taumelte aus dem Zimmer .
Auf der Straße war er ein paar Minuten wie benommen .
Das Erlebnis der letzten Stunde hatte ihn vor sich selbst gedemütigt .
Was spielte er für eine Rolle ?
Bin ich das ?
.. .
Bin ich das wirklich ?
... Er kam sich so getreten vor .
Er empfand einen nagenden Schmerz , den er nicht loswerden konnte .
Sein Gesicht verzog sich in einem fort .
Es arbeitete in ihm .
Immer sah er diesen mißhandelten und gedrückten Ehemenschen vor sich .
Die Erinnerung an die verstörten Züge verfolgte ihn .
Ah ... er atmete erleichtert auf und zog ihr seidenes Tüchlein hervor .
Er sog den Duft des Parfüms ein - und fühlte , wie alle seine Martern leise sich davon stahlen .
Einen Augenblick dachte er noch daran , daß das auch eine Art von Betäubung sei , daß er aus Schwäche und Furcht zu vergessen suchte ... er lächelte befremdet .
Dann aber sah er nur noch sie .
Ihr Haar berührte ihn .
Er fühlte voller Süße ihren Atem .
Ihre Lippen beugten sich sehnsüchtig zu ihm hin. XVIII .
Zu Hause humpelte die alte Frau ihm entgegen .
" Herr Doktor " , sagte sie wichtig , " Herr Doktor ... "
Sie hielt einen Moment inne und riß die kleinen Augen auf , in denen immer noch das Feuer der Neugier glitzerte .
Dabei suchte sie in der Tasche und zog endlich ein zerknittertes Telegramm hervor .
" Vor einer Stunde ist es gekommen ! "
Was war das ?
Während er ihr das Telegramm aus den Händen nahm , durchdrang ihn ein rätselhaftes Empfinden .
Es war ihm , als müßte es etwas Schreckliches enthalten , und er stierte die Frau wie geistesabwesend an .
Dann schlich er an ihr vorbei in sein Zimmer .
Ich bin bereits so feige geworden , dachte er , daß ich nicht einmal den Mut habe , es zu öffnen .
Er zündete die Lampe an .
Auf dem Tisch lag noch ein Brief .
Die Handschrift kam ihm bekannt vor .
Aha , es waren die Schriftzüge der Maria Werft .
Was wollte sie denn noch ? fragte er sich ungeduldig .
Und mit einer hastigen Bewegung riß er das Kuvert auf .
Er las : " Gnädiger Herr !
Ich liege auf den Knien und danke Ihnen in Christi Namen .
Am liebsten möchte ich all die wunderbaren Dinge aufheben und sie immer und immer wieder betrachten und zu mir sagen : das hat mir alles mein gnädiger Herr geschenkt !
Es ist viel zu schade für mich ; und das viele Geld !
Sie hätten sehen sollen , gnädiger Herr , was die Wirtsleute für Augen gemacht haben .
Ich bin jetzt wie eine Prinzessin .
Nein , ich bin nicht wie eine Prinzessin , ich bin demütig in Christo .
Gnädiger Herr , alles kam so , weil ich so innig glaube .
Es küßt Ihnen die Hände Maria Werft . "
Das ist ja entsetzlich , murmelte er vor sich hin , die wunderlichsten Widersprüche bewegten ihn .
Das ist rührend und kindisch zugleich .
Und woher weiß sie , daß ich es bin ?
Er erinnerte sich , daß er beim Absenden des Geldes mit ganz undeutlichen Buchstaben einen nicht zu entziffernden Namen aufgegeben hatte .
Diese Seele klammert sich an mich , dachte er weiter , und er hatte die üble Vorstellung , die jemand erfaßt , der einem siechen , kranken Menschen aus Langeweile ein Almosen hingeworfen hat und nun von dessen redseligem Dank gepeinigt wird .
Man will seine Almosen gedankenlos hinwerfen , aber man will mit so einem Bettler nichts weiter zu tun haben .
Man gibt ja gar nichts aus einem inneren Drange heraus ; man gibt aus Bequemlichkeit , Selbstberäucherung , Hochmut und Furcht !
Wer gibt , wie Christus gab ?
Er trat an das Fenster und blickte in das Dunkel .
Er schämte sich seines Unmuts gegen das dürftige , arme Mädchen , das elend in schmutzigen Kissen lag und für einen flüchtigen Augenblick in seinem Glauben einen Prinzessinnenrausch gehabt hatte .
Aber warum läßt sie mich auch nicht in Frieden ? sagte er zur eigenen Entschuldigung .
Warum heftet sich dies Weibsbild an meine Fersen ?
Warum ?
... Warum suche ich nach innen und außen Befreiung ?
Tue ich nicht genau das gleiche ?
Ist nicht diese Anschauung einfach lächerlich und anmaßend ?
Wieder fiel ihm das Telegramm ein , das er gewaltsam zu vergessen gesucht hatte .
Er nahm es in die Hand , als ob er es seinem Gewichte nach wägen wollte .
Was bin ich für ein Kindskopf ... ich war doch früher nicht so .
Ich war früher beherzt , aufrichtig und mutig ... und jetzt - was ist aus mir geworden !
Er warf den Kopf ein wenig zurück und öffnete die Depesche .
" Komme zehneinhalb Uhr Bahnhof Friedrichstraße an Bettina . "
Also das war es , sagte er ganz leise vor sich hin , und seine Gesichtsfarbe bekam einen fahlen Ton , und es war ihm , als ob kein bittereres Ungemach ihm widerfahren konnte als ihre Ankunft jetzt und zu dieser Stunde .
Er hatte alle Erinnerungen an sie begraben .
Es war ihm zu Zeiten gelungen , sie aus seinem Gedächtnis zu streichen ; denn der Gedanke an die kleine Bettina und die Tage der Jugend hatte etwas Mahnendes gehabt an übernommene Verpflichtungen , an Wünsche von ehedem und an tausenderlei damit verknüpfte Dinge .
Mit alldem war er fertig geworden .
Eine ganz andere Sehnsucht erfüllte ihn , und den Zusammenhäng zwischen der Kindheit und dem Heute glaubte er niedergerissen zu haben .
Und nun kam sie !
Weshalb kam sie jetzt ?
Mitten in sein neues Glück , in seinen Rausch gleichsam hineingeschneit ?
Gab es da eine geheime innere Verbindung ?
War das einer der feinen Fäden , die das Schicksal bisweilen zu spinnen pflegt , um daraus ein unsichtbares Netz zu knüpfen ?
Und sollte er darin gefangen werden ?
Oder sollte ihm ein Strick gedreht werden , um ihn elend zu würgen ?
... Mensch , das sind ja alles Einbildungen , krankhafte Fluchtideen ! fuhr er ich selbst an .
Aber dann fiel sein Blick zufällig in den Spiegel - und da erschrak er .
Seine Augen waren geschwollen und seine Züge entstellt .
Das ist ganz gleichgültig , flüsterte er sich zu , merkwürdig bleibt die Geschichte in jedem Fall .
In dem Exempel ist ein Rest , mit dem ich nicht fertig werde .
Er schloß plötzlich den alten Sekretär auf und entnahm einer Schublade zwei noch geschlossene Briefe von Bettina .
Er hatte sie nicht geöffnet , weil es ihm in seiner Verfassung schmerzhaft gewesen war , in ihnen zu lesen .
Und ohne die Hülle zu lösen , tat er sie wieder an ihren alten Platz .
Wie seltsam und verschlungen war alles !
Hier in seiner Mansarde , hier inmitten des brausenden Lebensstromes pochte unvermutet mit kaum hörbaren zarten Fingern die Kindheit an seine Türe .
Wieviel Jahre waren vergangen , daß sie sich nicht mehr gesehen hatten !
Mußten sie sich nicht als zwei fremde , neue Menschen gegenübertreten ?
Er suchte sie sich zurückzudenken in ihren schwarzen Zigeunerlocken , dem blassen Gesicht und dem dunklen Trauerkleide , so , wie er sie das erstemal gesehen .
Und dann in dem lichten weißen Gewande , wie sie leichtfüßig mit ihm durch den Garten gejagt war , ihre kleinen Hände an sein klopfendes Herz gelegt und demütig sich an ihn gehängt hatte .
Das Stück Wiesenland im Garten , der Weiher , die Christblumen und Anemonen , ihr Haus mit der Vorhalle aus steinernen Fliesen , die Tamara , die dunkle Bodenkammer mit den zerbrochenen Figuren und dem Skelett , das auf ihre Phantasie so grausam gewirkt - alles tauchte in greller Deutlichkeit unvermittelt dicht nebeneinander auf , und unzählige Einzelheiten , an die er Jahre hindurch nicht gedacht hatte , stellten sich ein .
Ein bitteres Gefühl über sich selbst durchdrang ihn .
Wie bin ich schlecht und hart geworden , dachte er .
So schmiedet man sich selbst zurecht .
So hämmert einen das Leben !
War sie nicht seine arme , kleine Bettina , die in die Einsamkeit und den Kampf hinausgestoßen war ?
Und verbanden ihn nicht brüderliche Empfindungen , die nichts und niemand auflösen konnte ?
" Ah , es ist gut , daß Sie kommen " , sagte er zu der alten Frau , die ihren Kopf in die Türe steckte - sie sah ihn fragend und neugierig an - " nämlich " , fuhr er fort , " ich bekomme Besuch , noch heute abend .
Eine Kusine von mir , die aus Paris ... "
Die Alte lächelte verschmitzt .
Er hielt ganz verblüfft inne .
" Sie sind wohl verrückt geworden ? " und in kaltem und gelassenem Tone :
" Was denken Sie denn von mir ?
Soll ich Ihnen sagen , was Sie denken ? " setzte er gereizt hinzu .
" Sie denken : erst hat dieser Herr eine vornehme Dame bei sich zum Abendbrot gehabt , und jetzt kommt er gar mit einer Pariser Bekanntschaft , die er für seine Kusine ausgibt !
Haben Sie das gedacht oder nicht ? " fragte er grob .
Die Alte wand sich vor Verlegenheit .
" Um Gottes Willen , wo werde ich denn " , antwortete sie entsetzt .
" In meinem Alter denkt man überhaupt nicht mehr " , fügte sie gleichsam entschuldigend hinzu .
Und etwas bissig bemerkte sie nach einer kleinen Weile : " Leute von meinem Stand haben gar nicht das Recht zu denken , Herr Doktor ! "
" So ?
Haben sie nicht ?
Das ist mir ganz neu !
Übrigens , was soll denn der Ton , den Sie mir gegenüber anschlagen ?
Denn Sie schlagen mir gegenüber einen Ton an , den ich bisher von Ihnen noch nicht gehört habe . "
Und mit erhobener Stimme :
" Ich verlange , daß man mir mit der nämlichen Achtung entgegenkommt , die ich selbst ... "
Die Frau schlug die Hände zusammen .
" Was ist denn mit Ihnen los , Herr Doktor ? " stammelte sie und strich sich eine der silbernen Haarsträhnen zurück , die ihr in der Aufregung wirr über die Stirn gefallen war .
" Was mit mir los ist ? " -
er witterte bereits in jedem Wort einen Angriff - " Sie halten mich wohl für verrückt ?
Sie können es geradeheraus sagen .
Es ist mir sogar lieb , wenn Sie aufrichtig sind .
Ja , es liegt mir daran , jetzt Ihre Meinung über mich zu wissen .
Ich forder Sie in allem Ernste auf , mir Ihre Meinung zu sagen . "
Er ließ sie nicht aus den Augen , und die Frau krümmte sich unter seinen Blicken , die sie bannten .
" Meine Meinung über Sie ? ...
Meine Meinung ?
... was liegt an meiner Meinung ?
... Sie wollen meine Meinung wissen ? " wiederholte sie noch einmal ...
" na , gut ... ich brauche sie nicht zu verbergen ... meinem Schöpfer habe ich gedankt , daß ich einen so anständigen Mieter wie Sie gekriegt .
Alles war gut und schön , bis " - sie machte eine kleine Pause - " bis " , nahm sie dann langsam das Wort wieder auf , " diese Dame zu Ihnen kam .
Seit der Zeit , Herr Doktor , ist es mit Ihnen anders geworden .
Wenn Sie es durchaus wissen wollen ... das ist meine Meinung .
Der Herrgott helfe mir ... aber das ist meine Meinung ! "
Er sah die Alte lange und traurig an .
" Es ist gut , daß Sie mir das gesagt haben .
Ich danke Ihnen .
Ich danke Ihnen aufrichtig . "
Er nahm ihre runzelige Hand und hielt sie einen Moment .
" Es ist nämlich vollkommen richtig " , setzte er ruhig hinzu , als fühle er sich zu dieser Erklärung verpflichtet .
" Es ist vollkommen richtig , ich bin ein anderer geworden .
Und auch mit dem Datum haben Sie recht .
Ich habe gar keinen Grund , Ihnen etwas vorzuflunkern ; ich habe gar keinen Grund , Ihnen das mitzuteilen ; indessen , ich will es Ihnen mitteilen .
Nicht weil ich mich bei Ihnen entschuldigen möchte - man kann nicht eine Grobheit begehen und sich dann einfach entschuldigen - , sondern weil ich eben Lust verspüre , es Ihnen mitzuteilen .
Verstehen Sie mich ?
Es ist nämlich nicht ganz leicht , mich zu verstehen .
Dahinter liegt eine ganze Reihe von Begebenheiten " , fügte er mehr für sich hinzu .
Die Alte nickte stumpfsinnig .
" Das liegt im Blute " , meinte sie .
" So was liegt im Blute . "
" Ich danke Ihnen " , antwortete er feierlich .
Aber in dem Augenblicke wirbelten hundert Vorstellungen in ihm durcheinander , und eine Unzahl von Fragen kreuzten sich in ihm .
Weshalb bin ich in dieser Stunde wie ich bin ? forschte er .
Weshalb komme ich aus dem Gleichgewicht ?
Warum verliere ich meine Ruhe und fliehe vor mir selbst ?
Weshalb bin ich von Ängsten verfolgt , und aus welchem Grunde werde ich plötzlich zeremoniell ?
Kann ich mich erkennen oder kann ich mich nicht erkennen ?
Und er erinnerte sich auf einmal daran , daß jemand zu ihm gesagt hatte , daß die Forderung " Erkenne dich selbst " den größten Unsinn in sich schließe .
Mit seinem Kopfe kann man sich nicht erkennen .
Das ist im Endresultat nichts anderes als die Geschichte von der Schlange , die sich in den eigenen Schwanz beißt .
" Wollen der Herr Doktor noch etwas ? " fragte die Alte .
Er erwachte aus seinen Grübeleien .
" Das Fräulein " , nahm er unvermittelt die Unterhaltung wieder auf , " kommt heute um halb elf Uhr an .
Ich wollte wissen , ob Sie einen Raum haben , wo sie schlafen könnte ? "
" Gewiß ... gewiß habe ich das .
Ich habe doch meine gute Stube mit dem Ledersofa .
Wenn das Fräulein auf dem Ledersofa schlafen wollte ... einen Stand Betten habe ich auch und frisches Überzeug , und reine Wäsche kratze ich auch noch zusammen .
Sie müssen nämlich wissen , daß ich das alles verpackt habe seit dem Tode meines seligen Mannes .
Was sollte ich auch mit all den Betten , lieber Herr !
So was wird einem nachher zur Last . "
Sie wurde immer redseliger .
Er dämmte ihren Wortstrom mit einem " Schon gut " zurück .
" Also kann das Fräulein hier wohnen .
Sie heißt Bettina " , setzte er mit einem stillen Lächeln hinzu .
Die Alte wurde jetzt ganz aufgeregt .
" Ich muß mir sputen ! "
Sie entfernte sich rasch .
Er blickte auf seine Uhr .
Es war halb neun .
Er schüttelte sich vor Frost .
Ihn fror , obwohl man bereits im April stand .
Es war allerdings ein unheimlicher Winter gewesen , der kein Ende hatte nehmen wollen .
Und erst ganz schüchtern , zaghaft und vorsichtig hatte sich in den letzten Tagen etwas Frühlingswärme hervorgewagt .
Er war todmüde .
Und so erschöpft und matt kam er sich vor !
Die Augen fielen ihm fast zu vor Schläfrigkeit .
Noch einmal zog er die Uhr und blickte mechanisch auf das Zifferblatt .
Wie merkwürdig so ein Zifferblatt aussieht !
... Und wie merkwürdig ist so eine Uhr mit ihrem Räderwerk , ihrem weißen Zifferblatt und ihrem unheimlichen Ticktack .
Man trug eine Maschinerie bei sich , die die unendliche Zeit endlich machte , endlich für den flüchtigen Tag und die flüchtige Nacht .
Wie närrisch war das eigentlich , wie sonderbar , wie unheimlich !
Stunden , Minuten und Sekunden gaben sie an .
Die Zeit wird eingeteilt in Stunden , Minuten , Sekunden , wiederholte er sich .
Es war zu lächerlich und komisch .
Und eine Spirale hatte solch ein Ding und ineinander geschlungene Räder , alles höchst einfach und doch höchst kompliziert und geheimnisvoll !
Hm ...
Ich kann also laut diesem Zifferblatt noch reichliche anderthalb Stunden schlafen .
Er löschte die Lampe aus , warf sich auf das Bett und zog seinen Paletot über sich .
Anderthalb Stunden , flüsterte er mehrere Male vor sich hin und schlief sofort ein .
Er träumte wirres und krauses Zeug .
Aber zuletzt sah er eigenartige Gestalten in seltsamem Reigen tanzen .
Es sah schnurrig und teuflisch aus .
Die Männer machten Clownsprünge , und die Frauen , die Kränze in den Haaren hatten , verwegene Trachten trugen , wandten und drehten sich so schnell , wirbelten so unaufhaltsam , kreisten so ungestüm , daß ihm schwindelig wurde .
Es war ein jähes Durcheinander , in das er keinen Sinn und Verstand bringen konnte ; aber die Mienen der tanzenden Männer und Frauen waren boshaft und abscheulich .
Auch glaubte er ein verächtliches Gekicher zu vernehmen , das ihm schadenfroh und bösartig in den Ohren klang .
So , jetzt werden wir fliegen , rief eine Stimme , und dann flogen sie alle in die Höhe .
Die Männer hatten glänzende , silberne Pickelhauben auf dem Kopfe , und die Weiber waren wie Walküren gegürtet .
" Wir fliegen , wir fliegen " , so summte es beständig um ihn , und dazwischen immer dieses niederträchtige und gemeine Lachen , das ihm wehe tat .
Es war Schlag zehn Uhr , als er erwachte .
Langsam und schwerfällig mußte er sich auf alles besinnen .
Die Wirklichkeit kam ihm zuerst wie ein Traum und der Traum wie die Wirklichkeit vor .
Erst als er Licht angezündet hatte und die Depesche auf dem Tische liegen sah , stellte sich das klare Bewußtsein bei ihm ein .
Er zog sich hastig an und stürmte die Treppen hinunter .
XIX.
Als er am Bahnhof Friedrichstraße ankam , war es ein viertel elf .
Er hatte noch eine gute Viertelstunde .
Dennoch trat er sofort in den Bahnhof , löste aus dem Automaten eine Bahnsteigkarte und sah sich in dem Getriebe um .
Man stand dicht vor dem Osterfeste , und die Urlauber in ihren bunten Uniformen , die kleinen Handkoffer mit sich führend , drängten neben den anderen zu den Schaltern .
Aber auch das übrige Reisepublikum war zahlreich vertreten .
Dieser und jener trat an den Zeitungsstand , um ein Abendblatt oder ein Buch zu kaufen .
Die Gepäckträger in ihren blauen Hemden gaben geschäftig die großen Koffer der Reisenden auf , und beständig fuhren neue Droschken vor .
Es war ein rastloses Getümmel .
Viele , die in ihrem Reisefieber um eine gute Weile zu früh gekommen waren , eilten mit erregten Gesichtern in die anstoßenden Wartesäle .
Alles schien Thomas maßlos übertrieben .
Drei Damen , ganz in Schwarz gekleidet , eine ältliche Frau und zwei junge Mädchen mit tollen Frisuren , fielen ihm in dem Schwärm der Menschen auf .
Er sah plötzlich die Gestalt des Rechtsanwalts Kornfeld auftauchen und wandte sich rasch ab .
Diejenigen , die es besonders eilig hatten , schufen sich mit den Ellenbogen Bahn .
Man stieß und puffte einander rücksichtslos .
So wie auf diesem Bahnhof ist das ganze Leben , dachte er bei sich .
Jeder sieht nur sein Ziel .
Jeder trachtet nur nach seinem Platze , sucht krampfhaft mitzukommen , unbekümmert um den anderen , gierig nach dem besten Kupee .
Und alle sind friedlos und eigensüchtig .
Er stieg langsam die Treppe empor , die zu dem Fernverkehr führte .
Er war gerade im Begriff auf den Perron zu treten , als ihn der Beamte mit den Worten anfuhr :
" Wollen Sie nicht Ihre Fahrkarte abgeben ? "
Eine Weile suchte er in allen Taschen , bis er sie fand .
Der Mann machte eine unwirsche Bemerkung .
Thomas hörte sie nicht mehr .
Er trat in die mächtige , bogenförmige Halle .
Es wimmelte auch hier von Menschen .
Auf den Schienen stand ein Zug , der in wenigen Minuten abgehen mußte .
Er war dicht besetzt .
An einem Kupeefenster hingen ein paar rote Kinderhüte .
Aus den verschiedenen Waggons sahen die eingepferchten Menschen heraus und sprachen mit ihren Angehörigen , die sie auf die Bahn begleitet hatten .
Eine junge Frau hatte zwei Kinder an den Armen , und an jeder Seite ihres Rockes hingen ebenfalls zwei Würmer , aber trotz der Plage lachte sie über das ganze Gesicht und zeigte ihre gesunden , starken Zähne , die aus dem roten Munde hervorleuchteten .
In den Wagen vierter Klasse war das Gedränge am stärksten .
Ein paar polnische Handelsjuden im schmutzigen Kaftan und mit dünnen , langen Haaren , die bis zu den Schultern reichten , gestikulierten in ihrer lebhaften , aufdringlichen Art .
In einer Ecke saß ein Mann mit einem schlecht geschnittenen grauen Vollbart .
Er hatte ein melancholisches , müdes Gesicht und stierte teilnahmslos vor sich hin .
Eine ältliche Frau mit versorgten und verkümmerten Zügen , die Hände über den Schoß gefaltet , saß apathisch neben ihm . -
Wieder aus einem anderen Fenster blickte ein junges Paar , das sich zärtlich umschlungen hielt und allerhand dummes , lebenslustiges Zeug schwatzte .
Er schritt den Zug entlang .
In der zweiten Klasse setzte sich ein vornehm gekleideter Herr eben eine Reisemütze auf und entledigte sich seiner Zugstiefel , um sie mit weichen Filzschuhen zu vertauschen .
Dann ließ er sich nieder und legte eine elegante Reisedecke über seine Knie .
Dicht daneben standen ein paar Ausländer mit slawischem Gesichtsschnitt .
Er hörte eine fremde Sprache , die wie russisch klang .
Ein Mensch neben ihm sagte mit scharf akzentuierter Stimme :
" Dieser Eisenbahnzug repräsentiert unseren Klassenstaat . "
Er drehte sich flüchtig um .
Ein gellender Pfiff ertönte - aus allen Fenstern wehten Taschentücher - aus der Lokomotive stieg der Dampf empor , und unmittelbar darauf setzte sich der Zug in Bewegung .
Eine Minute später war der Perron vollkommen leer und das Bild gänzlich verändert .
Öde und wunschlos lag er da , alles Leben und alle Bewegung war geschwunden .
Er sah jetzt fast wie eine Leichenhalle aus , so einsam , so melancholisch , so regungslos .
Thomas schritt die Schienen entlang .
Sich still hier hinlegen , dachte er , und das Ungetüm über sich hinbrausen lassen , und alles ist vorbei , kein Grübeln , keine Sehnsucht mehr - nur Grabesruhe und Frieden .
Vor dem Bücher- und Zeitungsstand , der auch hier oben aufgestellt war , machte er Halt .
Ohne Interesse blickte er auf die vielen schwarzen Zeitungsblätter , die gelb gehefteten Bücher und sonstigen Druckschriften .
" Wünschen Sie etwas ? "
" Ich danke . "
Der Mann , der mit dem Bücherständer den Zug entlang gelaufen war , trat hinzu .
Thomas schritt weiter .
Da hinten war eine kleine Bude , in der Erfrischungen , Selters , Bier , Apfelsinen und andere Früchte feilgehalten wurden .
Es fiel ihm ein , daß er nicht einmal eine Blume für sie mitgebracht hatte .
Er sah auf die Uhr .
Es waren noch sechs Minuten .
Entschlossen flog er mit ein paar schnellen Sätzen die Treppe wieder hinab , und atemlos erwischte er eine Händlerin , der er einen Veilchenstrauß abkaufte .
Als er wieder auf den Bahnsteig kam , fehlten nur noch zwei Minuten .
Der Zug war bereits signalisiert .
Eine nervöse Unruhe ergriff ihn .
Wie mochte sie aussehen ?
... Würde er sie erkennen ?
Würde er verlegen sein ?
Wie würde überhaupt das erste Wiedersehen sich gestalten ?
Wieder ertönte ein langgezogenes , schrilles Pfeifen .
Es klang stöhnend und klagend , und ging ihm durch die Glieder .
Er sah jetzt die beiden hellerleuchteten Augen des Zuges - in wenigen Sekunden würden sie sich gegenüberstehen .
Ein leichtes Zittern überfiel ihn .
Noch ein paar Stöße - und der Zug hielt .
Er hatte es gar nicht bemerkt , daß der Perron sich wieder gefüllt hatte , und daß außer ihm eine Reihe Menschen mit fahrigen Blicken von Kupee zu Kupee rannten .
Auch sein Auge irrte suchend umher .
Aber auf einmal fühlte er sich umschlungen , und eine liebe , süße Stimme rief jauchzend nur das eine Wort :
" Thom , Thom ! "
Da ergriff ihn die alte Herzlichkeit , und leise sagte er :
" Bettina . "
Sie hatte einen hellgrauen Reisemantel aus Gummistoff an und einen schwarzen , schmucklosen Filzhut auf .
Über den Schultern hing an schmalem , langem Riemen eine gelblederne Tasche .
In der Hand trug sie ihren Geigenkasten .
Er sah sie verwundert und in unverhohlener Neugier an .
Der bauschige Mantel hüllte ihre schlanke , unentwickelte Gestalt ein ; aber ihr Gesichtchen trug die alten Kinderzüge , nur daß es bleich und überarbeitet war .
Aus ihren großen Augen loderte das alte , unruhige Feuer .
Es dünkte ihm , als ob diese Augen etwas rätselhaft Suchendes , Forschendes und geheimnisvoll Unberührtes hätten .
Aus ihrem elenden Gesichtchen blickte ihm die Heimat und der Garten entgegen .
Und aus ihrer Stimme tönte in unsagbar keuscher Innigkeit die ganze Kindheit !
Nur ein feiner Schleier lag über ihrer Sprache , ein Anflug von ausländischem Akzent , der sie noch reizvoller , fremder und eigenartiger machte .
Er ergriff plötzlich ihre mageren Hände , die nicht bekleidet waren und streichelte sie sanft .
Und bei dieser Berührung fing sie unaufhaltsam zu weinen an .
- " Was ist dir denn ? " fragte er erschreckt .
" Ach Thom , ich bin so glücklich ! "
- Sie gab ihm ihr kleines Portemonnaie und nahm vertraulich seinen Arm .
Und wie Kinder , wie Bruder und Schwester schritten sie nebeneinander der Treppe zu , die nach dem Ausgange führte .
Sie traten auf die Gasse , die gegenüber dem Bahnhof , seitwärts der Friedrichstraße und dem Verkehrsstrom liegt .
All die dicht nebeneinander postierten Hotels mit ihren großen Aufschriften : Aachener Hof , Stadt Magdeburg , Coburger Hof und noch etliche andere sahen herausfordernd auf das kleine Fräulein .
An der Ecke glänzte ihnen in funkelnden , kleinen Flammen das Transparent " Wintergarten " entgegen .
" Ich soll doch nicht in einem der fremden Häuser wohnen ? " fragte sie ängstlich .
" Nein du wohnst bei mir . "
Sie atmete tief auf und zeigte ihm ihr glückstrahlendes Gesicht .
Es fiel ihm plötzlich ein , daß er ihr Gepäck vollkommen vergessen hatte .
Sie kehrten noch einmal um .
Am Gepäckschalter kam ein armseliger Korb zum Vorschein .
Als sie in der Droschke saßen , schmiegte sie sich dicht an ihn .
Für nichts hatte sie ein Auge .
Nichts sah sie und nichts wollte sie sehen .
" Ich habe dich gleich erkannt " , sagte sie triumphierend .
" Gerade so bist du , wie ich dich mir vorstellte ; so groß und schlank und schön " , fügte sie kindlich hinzu .
Und gleichzeitig : " Sieh mich um Gottes Willen nicht an .
Ich bin so furchtbar häßlich .
Nein , sieh mich nicht an ! "
Er lachte und nannte sie gutmütig eine kleine eitle Person .
Etwas Unerklärliches , Merkwürdiges , das ihn seltsam berührte , schimmerte bei seinen Worten aus ihren Augen .
Aber als wollte sie ihn ablenken , nahm sie seine Hände und ließ sie nicht mehr los .
" Was magst du für Augen gemacht haben , als du plötzlich mein Telegramm bekamst ! "
Und sie lachte schalkhaft in sich hinein .
" Immer stellte ich es mir vor , was wird er für Augen machen , wenn er das Telegramm liest !
Hast du dich sehr erschreckt ? "
Sie wartete nicht auf seine Antwort .
" Du mußt nicht glauben , daß ich immer so häßlich bin " , sprudelte sie hervor .
" Du kannst dir denken , daß so eine Reise viel Geld kostet , und daß ich all die Zeit gespart habe . "
Ihr Gesicht glänzte .
" Wenn du wüßtest , wie wenig ich in den letzten Wochen gegessen habe !
Bei jedem Bissen , den ich zu mir nahm , sagte ich zu mir :
was willst du denn eigentlich , Bettinchen , du bist ja satt , du bist ja vollkommen satt !
Und wirklich , dann war es mit allem Appetit zu Ende . "
Sie schwatzte in einem fort und blickte dabei ununterbrochen bewundernd zu ihm empor .
" Thom , ich freue mich so ! "
" Bist du müde ? "
" Ich bin gar nicht müde , ich wünschte nur , daß diese Fahrt nie ein Ende hätte . "
Es rührte und bewegte ihn , wie unverhüllt und ungekünstelt sie ihrer Freude Ausdruck gab .
" Thom , ich werde zehn Tage bei dir bleiben , wenn du es erlaubst .
Erlaubst du es ? "
Zehn Tage ! ...
Er wurde innerlich unruhig .
Aber laut sagte er :
" Ich freue mich ja so sehr , Bettina . "
Und gleichzeitig flüsterte eine Stimme in ihm :
Jetzt belügst du sie schamlos .
" Ich will nichts von der Stadt sehen , nirgends will ich hingehen ; ich will nur immer bei dir bleiben , von früh bis abends .
Darf ich , Thom ? "
- " Ja , du darfst . "
Die Droschke hielt , und er half ihr beim Aussteigen .
Der Kutscher trug den Korb die engen Stiegen hinauf .
In der Tür stand bereits die alte Frau und knickste .
Sie hielt ein schlecht riechendes Ollämpchen in der Hand , mit dem sie Bettina beleuchtete .
Sie schien zufrieden , denn ihre welken Züge glänzten .
" Guten Tag , junges Fräuleinchen .
Ich bin die Wirtin vom Herrn Doktor .
Kommen Sie nur , und machen Sie sich_es bequem ! "
Aber Bettina folgte nicht sogleich , sondern blickte sich erst nach Thomas um , ob er auch käme .
Sie traten in das Zimmer , das allen Schmuck und alle Herrlichkeiten der alten Frau enthielt .
Ein Glasschrank barg den verwelkten Myrtenkranz , den Silberkranz , bemalte Teller und Tassen , große Glasglocken , ein paar Krüge aus Zinn , eine mit Silber beschlagene Bibel und ähnliche Dinge mehr .
Auf dem ledernen Sofa waren die Betten getürmt , und über dem Sofa hingen ein paar schlechte , alte Familienbilder .
" Das sind alles handfeste Linnen " , sagte die alte Frau , auf die Betten weisend , " die stammen noch von meiner Großmutter her .
Solche Gewebe , Fräulein , gibt es heute nicht mehr ; Sie können danach im ganzen Lande suchen - viel werden Sie nicht finden ! "
Bettina nickte , stellte den Geigenkasten auf den Tisch , zog den Mantel aus und sah sich im Zimmer um .
- " Ah , Sie meinen das Waschwasser ! "
Die Alte führte sie in eine Ecke , wo sich ein kleines , eisernes Gestell befand .
Thomas war unbemerkt hinausgegangen .
Sie knöpfte sich ein wenig die Taille auf und wusch sich Hände und Gesicht .
Dann nestelte sie rasch die Knöpfe wieder zu , ordnete vor einem kleinen Spiegel ihr wildes , schwarzes Haar und bat die Frau , sie zu Thomas zu führen .
Vor Thomas' Tür nahm sie die Hand der Alten , und in einem Gefühl von Dankbarkeit und Rührung küßte sie sie .
Die Wirtin wich erschreckt einen Schritt zurück .
" Da bin ich , Thom . "
Und ohne es auszusprechen , schien es in ihrem Blick zu liegen :
Nun sieh mich gehörig an und sage , wie du mich findest .
Sie trug ein grünes Tuchkleid , dessen Rock und Taille mit einem schmalen Pelzstreifen besetzt waren .
Aber sie vergaß bald ihren eigenen Wunsch und betrachtete nur ihn .
Und darin lag etwas von Anstrengung und Mühseligkeit .
Jeden Zug schien sie ergründen zu wollen , und ihr Gesicht wurde für eine Spanne Zeit sehr ernst und sehr nachdenklich .
Dann ging sie im Zimmer auf und nieder , warf zuweilen einen flüchtigen Blick auf den gedeckten Tisch , die Bücher , den Schreibsekretär .
" Wenn ich dir klar machen könnte , wie eigentümlich es mir ist , hier auf und ab zu gehen .
So ein merkwürdiges Gefühl ist es , das einen Menschen beschleicht , Thom , der nach langer Reise an seinem Ziele ist .
Man ist gar nicht müde , obwohl man doch eigentlich allen Grund dazu hätte .
Man ist so erregt , daß man die ganze Nacht aufbleiben möchte , um alles , was man auf dem Herzen hat , zu erzählen .
Thom , man hat so viel zu erzählen , und man weiß nicht , wo man eigentlich beginnen soll . "
- " Ja , es ist so !
So , wie du sagst , ist es ! "
Er machte mit der Stirn eine Bewegung , und es schien ihr , als ob seine Augenbrauen zusammenkämen .
" Weißt du , Thom " , begann sie wieder und sah ihn von neuem an , " du bist gerade so geworden , wie ich es mir dachte .
Und manches , was ich in deinen Briefen nicht verstand , verstehe ich jetzt . "
Und langsam , mehr für sich :
" Etwas ist in deinem Gesicht , was auch in deinen Briefen war . "
" Was ist es , Bettina ? "
" Thom , du hast etwas Vergrämtes .
Man sieht ... ich sehe , daß irgend etwas an dir frißt . "
Er stutzte aufhorchend .
Alles , was sie sprach , klang so schlicht und einfach , so ernst und so bewegend .
Er fühlte , daß er ihr gegenüber unsicher wurde .
Er fühlte , daß sie noch mit der alten Treue in ihm zu lesen verstand , und daß es kein Verbergen vor ihr gab .
Sie setzten sich nebeneinander auf das Sofa .
Er errötete flüchtig .
Hier an der nämlichen Stelle hatte auch sie gesessen , und es war anders , ganz anders gewesen !
Ihr entging nicht die Veränderung seiner Farbe - aber sie schwieg .
" Sieh einmal " , entgegnete er , und der alte , vertrauliche Zusammenhäng hatte sich unversehens eingestellt , " wie du in mich schauen kannst .
In den ganzen Jahren habe ich immer versucht , in mir sicher zu werden .
Ich habe danach gerungen mit meinen besten Kräften , Bettina .
Ich habe versucht - ich weiß nicht , ob du das verstehst - , in meine Widersprüche , in mein Streben irgendeine Einheit zu bringen , und das ist alles " , fügte er leise hinzu , " vergeblich gewesen .
Ich bin älter geworden , aber ich bin gerade noch so unsicher und hilflos wie damals .
Ach , was schwatze ich für dummes Zeug " , unterbrach er sich .
" Ich schwätze dir von mir vor , und du bist hungrig .
Komme , laß uns vergnügt sein ! "
" Ich bin weder müde noch hungrig " , antwortete sie gedrückt .
Er goß ein helles , dünnes Bier in die Gläser , und mit den harten , ungeschliffenen Wassergläsern stießen sie an .
Es gab keinen Ton .
Aber plötzlich ging die Tür auf , und die Wirtin brachte auf einem Tablett eine Flasche mit rotem Wein und edle Gläser .
Es kam so unerwartet und wirkte überraschend .
Und wie sie wieder allein waren , und jetzt die Gläser hell erklangen , blitzte in Bettinas Augen etwas von der alten Schelmerei auf .
Sie trank mit einem Zuge aus und sah ihn mit weit geöffneten Augen froh und lachend an .
Ihr ganzes Wesen riß ihn für Momente hin , aber dazwischen dachte er immer nur an Regine und fragte sich , was wäre , wenn Bettina alles wüßte .
Sie fing unvermittelt laut zu lachen an , so daß er ganz verdutzt wurde .
" Was hast du denn ? "
" Ach , es ist zu komisch !
Du mußt es hören .
Eines Tages kommt mein Vater nach Paris , um dort zu konzertieren .
Ich hatte keine Ahnung .
Er hatte depeschiert , ich soll in sein Hotel kommen .
Ich frage nach ihm , und es wird mir gesagt , ich sollte warten .
Ich warte eine Ewigkeit dicht vor seiner Türe .
Endlich kommt eine verschleierte Dame heraus , und ich werde eingelassen .
Und wie steht er vor mir ? "
Sie lachte von neuem .
" Er hatte ein scharlachrotes Jackett an , von dem sich seine schwarzen , zerzausten Haare abhoben .
Er stand vor dem Spiegel , und ohne sich nach mir umzukehren , befahl er :
Warte einen Augenblick .
Und was tat er ?
Er färbte sich vor dem Spiegel seinen Schnurrbart !
Thom , ich mußte mich zusammennehmen , um nicht laut loszulachen .
Er färbte sich mit der größten Sorgfalt seinen Schnurrbart , jedes einzelne Haar , möchte ich sagen .
Dann kam er auf mich zu und wollte mich küssen .
Aber da hättest du mich sehen sollen .
» Du willst mich doch nicht schwarz machen ? « sagte ich ziemlich grob .
Er sprach dann eine Viertelstunde nur von seinen Erfolgen .
Endlich gab er mir eine Geige und befahl mir , ihm etwas vorzuspielen .
Und nun hättest du sehen sollen , was geschah !
Er wurde ganz blaß und sah mich verwundert an .
Thom , du magst es glauben oder nicht , er war neidisch , daß ich etwas gelernt habe .
Und dann klopfte es wieder , und wieder kam eine Dame .
Er schickte mich schleunigst fort . "
" Wie spielte er denn ? " fragte Thomas teilnahmslos und zerstreut .
Sie überhörte den Ton .
" Wie ein fahrender Virtuose .
Er hat sich verludert .
Sehr elegant , wie die Franzosen sagen , aber es steckt nichts dahinter .
Nach dem Konzert packte er mich am Handgelenk und fragte mich :
» Und was sagst du ? «
» Zu genial « antwortete ich .
Von dem Moment war es vollkommen aus zwischen uns .
Und erst später merkte ich , was ich für eine Riesendummheit begangen hatte .
Ich wollte aus Paris fort , um hier weiter zu studieren .
Hätte ich ihm etwas vorgeschwindelt , er würde es am Ende zugegeben haben .
Jetzt aber haßt er mich , du darfst es mir glauben .
Nein , wie er aussah in seinem scharlachroten Jackett und seiner schwarzen Mähne !
Und immer sah ich ihn mit neuen Damen .
Einmal sagte er verächtlich zu mir :
» Daran kannst du es sehen , wie man mich feiert , du Grünschnabel . «
Ich antwortete ganz frech : » Daran kann man nichts weiter sehen , als daß es tolle Frauenzimmer gibt . «
Er behauptete , ich sei temperamentlos " , und leiser , mit vibrierender Stimme fügte sie hinzu : " Oh , wenn er mich kennte ! "
Ihre Augen funkelten .
Sie sprang auf einmal auf und stellte sich vor Thomas hin .
" Nämlich , ich habe sein Temperament , nur stärker und wahrhaftiger , aber ich habe noch etwas anderes " , setzte sie feierlich und voll stolzen Selbstgefühls hinzu :
" Ich habe etwas in mir , was ich allein besitze , ich kann es nicht ausdrücken und nicht erklären .
Ich fühle Beethoven , wie ich unseren Garten in allen seinen Knospen , Blättern , Blüten und Blumen fühle .
Wenn ich fertig werde , spiele ich Beethoven , wie nur ich ihn spielen kann .
Oh " , fuhr sie fort , " was habe ich gearbeitet !
Was habe ich geweint Tag und Nacht !
Was war ich verzweifelt ! "
Es glitzerte und leuchtete in ihren Augen ; sie war ganz Bewegung und Erregung ; sie war wie ein in Glut getauchter Körper .
Aber nach diesem kurzen Rauschgefühl brach sie plötzlich wie haltlos zusammen , und ein bitterer Zug grub sich in ihren linken Mundwinkel tief herab bis zu dem feinen Kinn .
" Das ist alles Unsinn .
Ich werde das nie erreichen .
Ich bleibe zeitlebens eine Stümperin .
Ich kann nichts und werde nichts können .
Ich quäle mich , und alles ist umsonst .
Das , was ich will , kann ich nicht , ich kann es einfach nicht , hörst du ? "
" Vielleicht willst du zuviel ? "
Etwas Bitteres und Leidvolles trat in ihre Züge .
Dann wechselte sie rasch den Ausdruck , und wieder lächelte sie unerforschlich und zugleich tief freudig .
" Immer , wenn ich glaubte , ich sei an der Grenze angelangt , ich könne nicht weiter trotz aller Arbeit und allem Fleiße - denn fleißig war ich , Thom - sagte ich mir :
Was würdest du für Augen machen , wenn ich nur einigermaßen so spielen könnte , wie ich es mir vorstellte !
Und so bist du es gewesen , der mir immer weiter geholfen hat ! "
Er fuhr sich verlegen mit der Hand über die Stirn .
Und ablenkend fragte er :
" Bist du denn so ehrgeizig ? "
" Für jemanden , der einen tiefen Begriff von der Kunst hat , ist nichts schlimmer als die Mittelmäßigkeit .
In jedem anderen Berufe , glaube ich , ist mittelmäßiges Können respektabel - in der Kunst ist es beinahe ein Verbrechen . "
Ihm kam das überreizt und überspannt vor .
Wie kann nur solch ein fiebernder und treibender Wille in ihr arbeiten , dachte er bei sich und betrachtete sie von der Seite .
Ihre Gestalt sah mager und dürftig aus , und ihre Formen waren eckig , unentwickelt und noch kindlich .
Aus ihrem Gesicht sprach ein unaufhaltsames Ringen und eine gewaltige Überarbeitung ; und doch glich es noch genau dem der Kleinen Bettina , nur daß in seine feinen Linien etwas Rastloses und gleichzeitig ein edler Ernst gekommen war .
Er sagte sich , daß trotz ihres Ehrgeizes sich in ihr Gesicht nichts Gemeines und Gieriges , eher eine Art von Großzügigkeit hineingemeißelt hatte .
Sie nahm plötzlich die Geige aus dem Kasten und löschte mit einer raschen Bewegung die Lampe aus .
" Warum machst du dunkel ? "
" Laß mich " , bat sie leise .
Und nach einer kleinen Weile begann sie zu spielen .
Da vergaß er alles .
Er lauschte und hielt zuweilen den Atem an .
Das war eine Leidenschaftlichkeit , die mit sich fortriß .
Das war ein Durchsetzen der ganzen Persönlichkeit , das in diesem Spiele zu ihm drang .
Immer spürte er sie , die Bettina heraus .
Doch war es nicht das zarte , schmächtige Persönchen , mit den dünnen Armen , um dessen Körper die Kleider viel zu weit und lappig hingen - es war , als ob ein aus seinen dunklen Tiefen emporstrebender Geist alle Hüllen von sich geworfen hätte .
Er fühlte , daß das , was sie ihm hier gab , ihr Urwesen war , und daß sie sich vielleicht nie wieder so nackt und unverhüllt zeigen würde wie in dieser Stunde , wo ihr Spiel die dunkle Mansarde in ein weißes , unerhörtes Licht tauchte .
Er stand unter dem Eindruck und hörte , wie sein Herz pochte .
Er empfand sie als ungebändigt und zügellos , und es kam ihm auf einmal vor , als ob seine kleine Bettina ein edler Vollbluthengst wäre , der sich mit seiner wilden Kraft von dem Wagen , an dem man ihn gespannt , gewaltsam losgerissen hatte und mit schnaubenden Nüstern , den weißen Schaum vor dem Gebiß , in wilder Freiheit dahinraste .
Ja , sagte er leise zu sich , so ist es .
Und er freute sich , daß er dieses Bild für sie gefunden hatte .
Sie hatte mitten im Spiel aufgehört , die Geige auf sein Bett gelegt , und sich an ihn schmiegend , vor Erregung zitternd , flüsterte sie :
" Bist du zufrieden , Thom ? "
Der Klang ihrer Stimme traf ihn bis ins Innerste , und er glaubte auch im Dunkel ihre Augen zu sehen , die , von ihrem eigenen Spiel erinnerungstrunken , auf ihn gerichtet waren .
Und nicht nur das .
Aus ihren Augen redete laut ein Gebet zu ihm .
Er hörte es :
Nimm mich und küße mich wie früher !
Nimm mich und sage mir tausend gute Sachen !
Mit all meiner Kunst bin ich elend ohne dich .
Da nahm er ihren Kopf und küßte sie auf die Stirn , keusch , beinahe priesterlich .
Und dieser Kuß enträtselte ihr alles , machte sie aus tausend Wunden bluten .
Sie entwand sich ihm und verhüllte sich mit ihren durchsichtigen Händen die Augen .
Und nun weinte sie in sich hinein , wie er niemals einen Menschen hatte weinen sehen .
Und alle Dunkelheiten und Finsternisse der Nacht legten sich auf sie beide .
XX.
In dieser ganzen Nacht lag sie mit starren , aufgerissenen Augen in ihren Kissen .
Sie fror , und in kurzen Pausen schlugen ihre Zähne aufeinander .
Sie lag nicht ausgestreckt da , sondern hatte die Knie fest an den Körper gepreßt .
Sie war von der langen Reise wie zerschlagen , aber das fühlte sie nicht .
Sie stöhnte , ohne einen Ton von sich zu geben .
Niemals war sie in der großen , fremden Stadt Paris so einsam gewesen , so trostlos , so verlassen , so entwurzelt , wie hier .
Immer hatte sie ihre Sehnsucht gehabt und ihre Träume , an die sie sich geklammert wie ein elendes , schwächliches Kind an seine Mutter .
" Das ist nun alles zu Ende " , flüsterte sie einmal vor sich hin und erschrak vor dem Klang ihrer eigenen Stimme .
Von den alten wurmstichigen Tapeten knisterte und knatterte es in die Stille hinein , vielleicht waren es hungernde Mäuse , die unter dem einsamen Schweigen der Dunkelheit hervorkrochen und mit ihren scharfen , weißen Zähnchen beknabberten , was ihnen in den Weg kam .
Sie hielt es nicht aus , und in ihrem dünnen Hemdchen stieg sie aus dem Bett und tastete nach den Streichhölzern .
Sie entzündete eins und nahm von der Lampe Glocke und Zylinder .
Um ein Haar wären sie ihren Händen entfallen , die so kraftlos waren wie ihre Seele .
Und wieder legte sie sich .
Dann richtete sie sich halb auf und stierte dumpf und besinnungslos vor sich hin .
So verharrte sie eine geraume Weile .
Als sie wieder in sich wach wurde , begann sie , sich zu martern und darüber zu grübeln , wie es gekommen sei .
Sie begriff alles .
Sie begriff sein Schweigen und seine kalten Briefe , die jedesmal ein Frösteln in ihr hervorgerufen hatten .
Hätte man mich nur bei ihm gelassen , so wäre es anders geworden ... Nein , das ist nicht wahr , daran liegt es nicht .
Er hat mich nie lieb gehabt , es war nichts weiter als Mitleid .
Sie bekam einen Haß auf dieses Mitleid , das sie belogen und hinterlistig überfallen hatte .
Durch dieses Mitleid war sie in sein Garn gegangen und flatterte darin wie ein verängstigter , hilfloser Vogel .
Was war das für eine Unglücksstimme gewesen , die sie all die Monate vor ihrer Reise gewarnt hatte ?
Sie dachte an die schmutzige , kleine Blechbüchse , in die sie ihre erhungerten Groschen getan hatte .
Sie dachte an die kindische Freude , wenn ein Frank zum anderen sich gesellt hatte .
Sie dachte an die zärtlichen Blicke und Empfindungen , die sie für die harten Geldstücke gehabt hatte .
Und wie sie sich alles vorgestellt hatte ... und die lange endlos dünkende Fahrt ; die Minuten hatte sie gezählt !
Es war ein Glücksstrom gewesen , der ihre Poren erweitert und sie rein und empfänglich gestimmt hatte .
Wie gläubig war sie gewesen in ihrer Freude und in ihren zauberhaften Vorstellungen von diesem Wiedersehen !
Sie bis sich die Zähne in die Unterlippe , daß das Blut herausdrang und ein paar Tropfen auf den weißen Überzug fielen .
Was wird nun jetzt ?
Irgend etwas muß werden , das stand ihr fest und klar .
Das ganze Leben würde sich anders gestalten - fremdartig und kalt , wie sie es sich niemals hätte ausmalen können ... das war also das Leben - das Leben und das Schicksal der Bettina !
Sie faltete plötzlich die Hände .
Lieber Gott , schließe meine Augen für immer , betete sie .
Sie stellte sich vor , daß er dann an ihrem Lager knien und sie nicht nur auf die Stirn küssen würde .
Auf die Stirn hatte er sie geküßt - so kalt und gönnerhaft !
Nein , dazu war sie zu stolz .
Er durfte sie nicht im Tode küssen .
Ein weißer Zettel mit schwarzen Buchstaben würde ihm überreicht werden , auf dem stünde :
Ich liebe dich .
Küsse mich nicht .
Bettina .
Sie wollte in ihrer Liebe keine Gnade ... aber Gott schloß ihre Augen nicht ...
Gott war hart und ohne Erbarmen .
Von klein auf hatte Gott sie herumgestoßen .
Der einzige Mensch , der ihr nahestand , sorgte kaum für ihren kargen Unterhalt und kümmerte sich nicht um sie .
Sie sah ihn wieder in dem roten Jackett mit den wilden , wirren Haaren , und die fremden Damen , die aus und eingingen , sah sie .
Sie fand ihn jetzt gar nicht mehr komisch .
Er war ein Fürst in seinem roten Jackett , streng unnahbar .
Er hatte den Ruhm und hatte die Liebe !
Er kam ihr auf einmal wie ein Kardinal vor .
Sie wußte selbst nicht , wie diese Idee sich ihr aufzwang ...
Wenn Gott sich nicht dazu entschloß , ihre Augen für immer zu schließen , so konnte er es doch zum mindesten so einrichten , daß sie mit dem grauen Morgen einschlief und , wenn sie erwachte , am ganzen Körper gelähmt dalag .
Gelähmt für immer !
Dann mußte man sie irgendwohin schaffen und für ihren Unterhalt aufkommen .
Sie würde mit niemandem mehr sprechen , nur ihre Geige würde neben ihr auf dem Stuhle liegen , und sie würde sie zuweilen an sich drücken und streicheln ... aber nie mehr würde sie spielen !
Und auf einmal erfüllte sie eine unsinnige Furcht - würde sie überhaupt noch spielen können ?
Würde sie nach diesem Erlebnis noch spielen können ?
Vielleicht hatte sie es verlernt und konnte dem Instrument keinen Ton mehr entlocken .
Und während der Gedanke in ihr aufstieg , glaubte sie es felsenfest .
Wieder wollte sie herausspringen , um auf der Stelle sich zu überzeugen , aber ihr fiel ein , daß ihre Geige ... die unselige Geige in seinem Zimmer lag .
Es fiel ihr ein , daß sie irgendwo gelesen hatte , daß jemand durch die Erschütterung seiner Seele mit einem Schlage seine Sprache verloren hatte .
Er konnte kein Wort mehr sprechen .
Nur ein paar Lieder konnte er singen ; ein paar armselige Lieder , die er beständig vor sich hinplärrte .
Konnte es ihr mit dem Geigen nicht ebenso gegangen sein ?
Konnte sie nicht den Sinn dafür verloren haben ?
Man würde sie nach Paris bringen , und ein Medizinprofessor würde sie den Studenten vorstellen .
Man stellte ja die Kranken den Studenten vor , das wußte sie .
Der Professor würde ihre Geschichte erzählen , und sie würde ganz teilnahmslos und stumpf zuhören .
Der Professor würde sagen :
" Versuchen Sie doch einmal zu spielen , Fräulein ! "
Sie würde die Geige an das Kinn pressen , den Bogen aufdrücken , mit aller Gewalt aufdrücken , dann würde ein entsetzlicher , harter Ton entstehen , sie würde den Kopf schütteln und die Arme sinken lassen .
" Sehen Sie " , würde der Professor sagen und einen lateinischen Namen für ihre Krankheit nennen .
Und bei alledem würde nur ein Vorstellungsbild sich ihr aufdrängen , ihr ganzes Leben hindurch ; wo sie ging und wo sie stand , wachend und träumend - dieses Bild trug die Züge des Thomas Druck .
Er war in sie hineingewachsen , und nie konnte sie ihn aus ihrem Inneren reißen !
Es gab noch eines .
Und aller Gram und jedes Elend war zu Ende ... von ihr aus zu Ende ...
Mit einem Sprung stand sie am Fenster und sah in die Tiefe hinab .
Sie riß die Flügel auf und ließ die Nachtluft herein .
Sie starrte hinunter auf die Straße , die einsam und menschenleer dalag .
Wenn ich jetzt hinunterspränge ... in einer Minute ist es aus , für immer aus .
Sie fuhr zusammen und schloß hastig das Fenster ; die alten Scheiben klirrten .
Es war entsetzlich , nur auszudenken , daß man sie da nackt und mit zerschmettertem Körper finden würde .
Er würde sie in ihrer Nacktheit mit zerschmettertem Schädel und entstelltem Körper sehen !
Die Todesangst der letzten Sekunden würde ihre Züge verzerrt haben , und er würde sich schütteln und sich rasch abwenden .
Das war dann die letzte Erinnerung , die er von ihr besaß .
Er ... er ... er ... immer und immer wieder er ... all die Jahre hindurch er ... und das war das Ende !
Es war sonnenklar , sie mußte den Verstand verlieren , wenn sie weiter nachdenken würde .
Man schleppte sie dann in eine Anstalt , wo sie häßliche , zusammenhanglose Dinge reden würde .
Sie wurde schamrot bei der Vorstellung von diesen Dingen .
Und zuletzt würde sie immer sagen und gotteserbärmlich alle Umstehenden anblicken :
Meine Damen und Herren , er war mein Bräutigam ...
Sie sah plötzlich in den Spiegel und erkannte , daß sie weißer war als das Linnen .
Sie bis in das Bettzeug , damit eine körperliche Anstrengung die Flucht toller Gedankensprünge bezwänge .
Dann trat eine tiefe Erschöpfung ein , und sie saß wieder vornübergebeugt mit leerem , ausgebranntem Kopfe da ; nur in ihren Zügen lag ihr ganzer Jammer .
Schließlich brach sie vor Erschlaffung zusammen .
Aber es war kein Schlaf , der sie überfiel .
Es war mehr eine Art von Lethargie , die abgelöst wurde durch kurze Wachzustände , in denen sie herzzerreißend schluchzte , um wieder in ein fieberiges Träumen zu versinken .
Und dieses Träumen war das furchtbarste .
Sie sah schwarze Gestalten , die zu ihren Füßen kauerten und untereinander tuschelten und wisperten , bis eine schließlich auf sie zutrat und sie , die sich nicht zu rühren wagte , mit dem langen , weißen Totenhemd bekleidete .
Dann tat man sie in einen häßlichen schwarzen Sarg und die vermummten Wesen ließen sie an Leitseilen in die Gruft hinab .
Da wurde es ihr klar , daß sie nicht sterben wollte und nicht sterben konnte !
Und sie wimmerte beständig die Worte :
" Thom , gib mir meine Geige . "
Dann schrie sie aus ihrem Grabe gellendes auf , denn sie war gar nicht tot , sondern man hatte sie lebendig eingescharrt .
Sie erwachte .
Und von diesem Moment an schlief sie nicht mehr ein .
Den Kopf in den Ellenbogen gestützt , bangte sie in ihrer Seelenangst und Furcht dem Morgengrauen entgegen .
- Und während sie von Erniedrigung und Verzweiflung hin und her , her und hin geworfen wurde , wachte Thomas die ganze Nacht an seinem Schreibtisch .
Er sagte sich beständig , daß er sie zerstört habe , und er litt darunter .
Er fühlte , daß er einen wertvollen Besitz preisgegeben hatte - und trauerte .
In seinem Überreichtum hatte er sie weggeworfen .
Konnte ich anders ? fragte er sich beständig .
Und jedesmal antwortete eine Stimme in ihm : Nein .
Aber eine Nebenstimme klagte ihn leise an , leise und traurig , voll Mitgefühl und Jammer .
Er hörte deutlich , wie diese Stimme redete :
Nun bist du ein armer , bettelarmer Mann .
Nun hast du ein Bahrtuch über deine Kindheit und Reinheit geworfen .
Und dann sah er einen schwarzen Reiter mit einer eisernen Maske vor dem Gesicht , der auf seinem Rappen über blühende Felder sauste , und die Hufe des Rappen zerstampften alles keimende Leben , und hinter der eisernen Maske verzerrten sich des Reiters Züge zu einem Todeslächeln .
Aber neben dem Reitersmann jagte auf weißem Hengste Frau Regine . - - -
XXI.
Der Wind blies Thomas und Bettina entgegen .
Sie konnten sich nicht ansehen und schritten mit etwas vorgebeugten Körpern einher .
Einmal flog ein Hut an ihnen vorbei .
Es war ein richtiger Frühlingssturm , der welke Blätter jagte und dazu seine unverschämten Melodien pfiff .
Einen Augenblick atmeten sie unter dem Stadtbahnbogen am Zoologischen Garten auf .
Bettina sah blaß aus , und eine gewaltsame und gequälte Ruhe lag auf ihr .
Es war Frühling , aber der Tiergarten lag kahl und arm da .
Die schwarzen Stämme hatten nur ganz schüchterne Knospen angesetzt , und nur ein spärliches , dürftiges Grün lugte zwischen den Sträuchern hervor .
Sie kamen an dem grauen Wasserturm vorbei , und die Wolken begannen plötzlich wie gehetzt zu fliegen , und die Sonne drang durch die Nebel .
Die uralten Eichen wirkten in ihrer Laublosigkeit schwer und massig , düster und groß , und aus all dem Schwarz tauchten in feinen Linien die weißen Birkenstämme hervor , die etwas wie Licht und Farbe in das Dunkel brachten .
Neben den Baumalleen zweigten sich vereinzelte Reitwege ab , die vereinsamt dalagen .
Sie gingen beide in kargem Schweigen .
An der Schleuse machten sie halte und blickten in das Wasser , das an einer Stelle weiß aufwirbelte und sich gleichsam zu überstürzen schien .
Ein paar große Spreekähne und Schleppdampfer lagen bewegungslos da , bis es sich auf einem der Kähne zu regen begann .
Aus der Koje traten zwei Schiffer .
Der eine mit flachsgelbem , der andere mit rotem Haar , das Gesicht bis zu den Hälsen gebräunt .
Sie nahmen die großen Ruderstangen und stießen ab ; die eisernen Tore wurden von einem Manne mit hellem Vollbart , der Wasserstiefel trug , ein braunes Wams anhatte und aus einer bemalten Porzellanpfeife rauchte , aufgezogen , und der Kahn bewegte sich langsam vorwärts .
Aus dem Schornstein der Koje stieg der Mittagsrauch empor .
Ein kleines Mädchen mit einem aufdringlich kläffenden Spitz kam zum Vorschein und hinter ihr eine junge Frau , die verlebt und abgearbeitet dreinschaute .
Auch auf den Schleppdampfern tauchten die Gestalten der Schiffer auf .
Sie sahen schwarz und rußig aus , trugen Kinnbärte wie Friesen , verschlissene Velvethosen und blaue Blusen , die verschossen waren .
Ein alter Mann mit trüben Augen saß vorn auf dem einen Dampfer .
Er hatte einen dicken Schal mehrmals um den Hals geschlungen und stierte teilnahmslos in die Luft und in das verschlungene Geäst der Bäume .
Wie aus einer Versenkung stand plötzlich neben Thomas und Bettina ein großer Mann mit einem weißen Vollbart und weißem Haupthaar , das ihm in dünnen Locken bis an die Schultern reichte .
Er hatte lebhafte Augen , trug eine Soldatenmütze und einen an allen Ecken und Enden geflickten Soldatenmantel .
Die Nase war gerötet , und ein leichter Fuselgeruch strömte von ihm aus .
Er hielt in der Rechten eine große , gelbe Gitarre und wußte trotz seines Alters eine Strafe , soldatische Haltung zur Schau zu tragen .
Neben ihm stand ein zwölfjähriges Mädchen , das in ihrem hellgrauen Jackett förmlich zu versinken schien .
Es war ihr offenbar von einer erwachsenen Frauensperson geschenkt , reichte ihr bis zu den Knien , war fettig und befleckt , und gab dem Kinde ein sonderbares Aussehen .
Auf dem Kopfe hatte es eine trichterförmige Mütze , die Füße waren mit zerlöcherten Filzschuhen bekleidet , und die viel zu großen Strümpfe waren ihr heruntergerutscht .
Diese vier Menschen standen auf der Brücke und sahen teilnahmslos auf die Spreekähne , die Schleppdampfer und die dunklen Baumkronen im Hintergrunde .
Der alte Mann legte seine Hand soldatisch an die Mütze .
" Was meinen Sie wohl " , sagte er , " das Kind hier könnte Opern singen .
Die Herrschaften von der Oper bemühen sich um das Kind - Prosit die Mahlzeit , ich gebe es nicht her ! "
Dabei strich er sich mit einer verhältnismäßig weißen und gepflegten Hand durch den Vollbart .
Thomas nickte stumm .
" Ich bin Sozialist " , fuhr der Alte fort .
" Ich habe drei Feldzüge mitgemacht . "
Er schlug den Mantel zurück .
" Sehen Sie dieses Ehrenzeichen hier ?
Das kann mir niemand nehmen ; so lange ich nicht stehle , kann mir das niemand nehmen , und ich stehle nicht " , setzte er bedeutsam hinzu .
" Ich bin Sozialist .
Alles Unheil kommt von den Pfaffen her .
Mein Herr , die Bibel kenne ich genau .
Ich verstehe mich auf die Bibel .
Man soll nicht sagen , daß ich keinen Glauben habe .
Mein Herr , ich habe einen Glauben , einen ganz bestimmten Glauben .
Ich wohne draußen in Weißensee .
Wissen Sie , was dieses Kind nach der Schulzeit tut ?
Sie näht für den Bäcker Mehlsäcke , das Stück für zehn Pfennige . "
Er rümpfte die Nase .
" Sie wollen sie für die Oper !
Prosit die Mahlzeit , ich gebe sie nicht her !
Es ist das einzige , was mir von zehn geblieben ist .
Will das Fräulein eine spanische Romanze hören ? "
" Singen Sie getrost ! "
" Seit zwanzig Jahren spiele ich zur Gitarre auf " , redete er weiter , ohne ihrer Aufforderung Folge zu leisten .
" Ich bin zweiundsiebzig Jahre , wer hätte das gedacht !
Sie müssen wissen , ich bin von gutem Herkommen .
Ich klage nicht unseren geliebten Kaiser an , denn unser Kaiser " - er hob den Finger ekstatisch empor - " unser Kaiser ist unschuldig ... ich klage die Regierung an , ich bin ein königstreuer Sozialist .
Sie glauben , daß ich trinke ?
Ich trinke niemals .
Fragen Sie dieses Kind , ob ich trinke .
Will das Fräulein eine spanische Romanze hören ? "
Er gab der Kleinen einen Ruck und begann in die Saiten zu greifen .
Das Mädchen sang mit einer Stimme ohne Ton , die obendrein hohl und ausdruckslos klang , ein langatmiges , sentimentales Lied .
Den Refrain gurgelte er beständig mit .
Er war mit vollem Eifer dabei und schien während des Spiels gerührt und bewegt .
Bei jedem Einsatz rülpste er und gab ein röchelndes Geräusch von sich .
Immer und endlos kehrte die Zeile wieder , daß der Sänger , der gestoßen und von der Welt nicht verstanden sei , unter den schattigen Kastanien Spaniens begraben sein wollte .
Die ganze Vorführung wirkte unglaublich komisch und grotesk ; und dann diese beiden Menschen in der sonderbaren Tracht , deren Mienen beim Gesänge etwas Heiliges bekamen !
Am Schlusse atmete der Alte tief auf .
Dann sagte er noch einmal höhnisch und überlegen :
" Zur Oper wollen sie sie haben ! "
" Komme " , bat Bettina schmerzhaft .
Thomas gab dem Manne ein Geldstück ; der stellte sich in militärischer Haltung vor ihn hin , das Mädchen knickste feierlich .
Lange Zeit waren sie wortlos , bis endlich Thomas das Schweigen brach :
" So verzerrt das Leben den Menschen !
Zweiundsiebzig Jahre ist er alt geworden , um schließlich mit langen , weißen Locken zum Branntwein zu flüchten .
Er lügt das Blaue vom Himmel herunter , schneidet dreist auf und taxiert seine Kunden .
Vor dem ist er kaiserlich , und vor jenem macht er den Revolutionär .
Bloß um das bißchen Leben zu fristen durch dies schmierige Gewerbe .
Und doch " , fuhr er fort , " kann man ihn vielleicht nicht einmal einen frechen Schwindler nennen .
Vielleicht liegt in seinen Lügen der letzte Rest von Idealismus , das Ende aller Lebensträume ! "
Und er lächelte sonderbar :
" Was ist es anders , wenn dieser alte Süffel sich in den Kopf gesetzt hat , daß in der Kehle seines Kindes Millionen stecken , daß alles sich nach ihm drängt und er mit stolzer Miene jedem die Tür weist !
Und ist es schließlich nicht natürlich , wenn er sich mit welken Händen an das letzte klammert , was er besitzt ?
Stelle dir vor , daß es eine Zeit gab , wo er voll Lebensfreude und Zuversicht seinen Weg ging , wo er von früh bis spät gearbeitet hat , um sein Haus zu erhalten .
Stelle dir vor , daß er , wenn er abends heimkam , voll Stolz und Selbstgefühl an seinem Familientische sich niederließ , neben ihm seine Frau und rings um ihn herum die Kinder , die alle voll Vertrauen und Liebe zu ihm emporschauten .
Denke dir , er hatte zehn Kinder , und jedes sah in ihm nicht nur den Ernährer , sondern den gütigen Vater , der mit seiner Liebe ihre Dürftigkeit vergoldete , und er selbst kam sich hier in seinem Elend reich , stark und vermögend vor .
Er war wie ein kräftiger Baum , an dessen Ästen die Früchte reiften .
Das alles " , schloß er lehrhaft , " muß man bedenken , wenn man so einen Menschen richtig verstehen , wenn man ihn in seinem Gram begreifen will . "
Er blickte sie von der Seite an .
Ihre Züge hatten noch immer den zerknitterten , blassen Ausdruck .
Sie hatte offenbar krampfhaft zugehört und kein einziges Wort begriffen .
Sie rang nach Haltung und schien doch bei jedem Wort zusammenzubrechen .
Wo ist das Ende meiner Träume ? fragte sie sich leise ; aber sie sprach es nicht aus , sondern sah ihn nur milde , demütig und gütig an .
Wieder trat ein Schweigen ein , bis er stehen blieb und ihre Hand nahm .
" Bettina , bleibe mir gut .
Ich fühle , daß ich dein Gutsein brauche . "
Seine Stimme zitterte vor innerer Bewegung ; und sie erwiderte mit einem unsagbar elenden Lächeln :
" Ich kann gar nicht anders , als dir gut sein , ich brauche es nicht erst zu versprechen . "
Er fühlte , daß sie die Wahrheit sprach , und war tief bewegt .
Aber in diesem Augenblicke hielt hart neben ihnen ein Wagen ; er hörte seinen Namen rufen und sah dicht vor sich Regine .
Zuerst war er so betroffen , daß er keinen Laut hervorzubringen vermochte .
Die gnädige Frau reichte ihm die Hand .
Da faßte er sich , und auf Bettina deutend , aus deren Gesicht jeder Blutstropfen geschwunden war , stellte er vor :
" Das ist Bettina , von der ich Ihnen erzählt habe .
Meine Kusine Bettina , oder richtiger , meine einzige Schwester Bettina " .
" Um Gottes Willen , Sie sind ja leidend " , rief die gnädige Frau .
Und zu Thomas :
" So helfen Sie ihr doch in den Wagen . "
Ehe sie sich_es versahen , fuhren sie mit der gnädigen Frau davon .
Und Thomas saß ihnen beiden gegenüber , und der Kopf drohte ihm zu springen .
" Mir ist ganz wohl " , sagte Bettina , und wieder trat dies elende Lächeln auf ihr Gesicht , " ich habe nur den einen Wunsch , nach Hause zu kommen " , fügte sie matt hinzu , und Thomas merkte deutlich , welche Anstrengung sie das Sprechen kostete .
" Wir fahren selbstverständlich sofort zu Ihnen " , und Frau Berg gab dem Kutscher Thomas ' Wohnung in der Luisenstraße auf .
Die gnädige Frau nahm dann Bettinas Hand , streichelte sie und bat sie , zu ihr zu kommen .
" Ich erinnere mich deutlich " , redete sie auf das blasse , lautlos wimmernde Mädchen ein , " daß Thomas mir von Ihrem Spiel erzählt hat .
Ich bin eifersüchtig geworden " , setzte sie hinzu , und sofort erkennend , daß sie zuviel gesagt hatte , errötete sie tief .
Da sie keine Antwort bekam , schwieg sie eine Weile , um dann mit Thomas ein paar belanglose Phrasen zu wechseln .
Ihre Schwiegermutter habe sich erholt , sie habe den Soupcon , daß die ganze Geschichte eine kleine Komödie gewesen sei .
" Diese Frau " , schloß sie boshaft , " läßt sich sogar vom Schlag treffen , wenn sie damit eine Sensation erzielen kann ! "
Die harte und lieblose Äußerung verletzte ihn .
Der Wagen hielt , und Frau Berg wiederholte noch einmal ihre Aufforderung .
Im Hausflur blieb Bettina stehen und lehnte sich bleich an die Wand .
" Laß mich einen Moment " , brachte sie mühsam hervor .
Sie bebte am ganzen Körper .
Sie hatte die kleinen Hände geballt und die Augen geschlossen .
So stand sie ein paar Sekunden da , ein Bild des tiefsten Jammers .
Und niemals glaubte Thomas etwas Elenderes , gleich Hilfloseres und Verlasseneres gesehen zu haben .
Aber sie erholte sich merkwürdig rasch .
Inmitten ihres Schmerzes hatten ihre blutlosen Lippen gemurmelt : Gott , verlaß mich nicht ... Gott , laß mich jetzt nicht zusammenbrechen ... vergiß alle meine sündhaften Reden von heute Nacht ...
Mein Herr und Heiland , stehe mir bei !
... Und da hatte sie die Kraft gefunden , sich zusammenzuraffen .
" Sei mir nicht böse , Thom , daß mir plötzlich schlecht wurde . "
Und in einem Ton , der fast heiter und ruhig klang :
" Komme , laß uns jetzt hinauf . "
Sie sollte seinen Arm nehmen , aber sie bestand darauf , allein zu gehen , und am Geländer sich stützend , klomm sie empor .
Oben saß sie ihm in seinem Zimmer gegenüber .
Sie sah ihm ruhig und offen in die Augen , und kaum hörbar fragte sie :
" Nicht wahr , Thom , das war sie ? "
" Ja " , entgegnete er ebenso .
" Ich glaube , sie hat dich lieb " , fügte sie nachdenklich hinzu , " und schön ist sie auch . "
Sie stand mühsam auf und ging aus dem Zimmer .
Aber gleich darauf kehrte sie wieder zurück .
" Thom , ich habe eine Bitte .
Willst du mir sie erfüllen ? "
" Ich will . "
" Erzähle mir , wie alles gekommen ist .
Erzähle es mir von Anfang an und vergiß nichts .
Du hast doch gesagt , ich bin deine Schwester . "
Er setzte sich ihr gegenüber und berichtete der Reihe nach .
Sie lauschte ihm angestrengt , als wenn es sich um die schwersten Probleme handelte , und verzog keine Miene in ihrem Gesicht .
Jeden seiner Blicke verfolgte sie , und jedes seiner Worte sog sie gleichsam in sich ein .
Sie wollte den Ton seiner Stimme nicht vergessen und wollte den Ausdruck seiner Züge in dieser Stunde festhalten .
Ihre Augen waren durchdringend , feierlich und forschend auf ihn gerichtet .
Sie luden ihn zur Beichte .
Sie hatten etwas Strenges und Zwingendes .
Alles erzählte er - nur den Jubel seiner Seele suchte er zu dämpfen .
Aber gerade den heimlichen Ausdruck seiner Freude hörte sie heraus .
Sie lauerte darauf - und er entging ihr nicht .
Als er geendet hatte , beugte sie sich tief zu ihm herab , küßte , ohne daß er es verhindern konnte , seine Hände und war aus dem Zimmer verschwunden .
Er blickte ihr betroffen nach .
Alles an ihr kam ihm verwunschen und geisterhaft vor . - - - XXII .
Am Sonnabend hatten an den Litfaßsäulen grüne Plakate von mäßigem Umfang geprangt , die für den Sonntag vormittags eine Versammlung in den alten Räumen des Konzerthauses ankündigten .
Der sie abhielt , war ein Herr von Egidy .
Sein Thema lautete : Persönlichkeit , Zusammengehörigkeit , Versöhnung .
Die Freunde vom Nachtlicht hatten sich verständigt .
Sie wollten der Tagung beiwohnen .
Auch Thomas hatte eine Aufforderung erhalten und sie schweigend Bettina gezeigt .
Die hatte müde " Ja " gesagt , wie sie zu allem , was er wünschte , lautlos nickte .
Und er selbst war innerlich froh , auf diese Weise eine Ablenkung und Gelegenheit zu haben , sie mit dem Freundeskreise bekannt zu machen .
Der Sonntag kam .
Ein grauer , verregneter Apriltag mit häßlichem , undurchdringlichem Gewölk und einem widrigen Wind , der über die Stadt und die kahlen Bäume jagte .
Dieser Wind hatte etwas Unangenehmes und Gehetztes , etwas Jämmerliches , Stöhnendes , dem alle Größe fehlte .
Man sah ihn deutlich , er glich einer im Regen triefenden Schindmähre , die mit ihren klapprigen Beinen , von Peitschenhieben drangsaliert , ächzend in schnellem Trabe sich fortbewegt .
Bettina hatte ihren Arm in den von Thomas legen müssen , während er in der Linken den aufgespannten Schirm hielt .
Aber das Dach des Schirmes hielt nicht stand , es kippte beständig um , so daß die Tropfen auf das Netz der schwarzen stählernen Stäbe fielen und herunterglitten .
Er gab es auf und schloß den Schirm .
" Was kann uns das weiter tun !? " sagte er mit einem Anflug von Heiterkeit .
Sie entzog ihm bei seinen Worten vorsichtig den Arm , den er kaum gespürt hatte .
Der Regen hatte überall Pfützen gebildet , durch die der Wind peitschend fuhr .
Unter dem Gerassel der Wagenräder spritzten sie auf und beschmutzten die Fußgänger , die sie mit großen Schritten zu umgehen suchten .
Die Häuser der Stadt lagen in der bleichen , grauen Beleuchtung trostlos da , und die alten Mietskasernen glichen schon äußerlich Stätten des Elends und menschlichen Jammers - wenigstens erschienen sie Thomas Druck so während dieses Regensturmes .
Das alte Konzerthaus lag in der Leipziger Straße .
Die Omnibusse waren überfüllt , die Kondukteure winkten jedesmal ab .
Es blieb ihnen nichts anderes übrig , als zu Fuß zu gehen .
Einen Augenblick hatte Thomas daran gedacht , eine Droschke zu nehmen , aber Bettina lehnte das ab .
Als sie anlangten , war der Saal bereits dicht gefüllt .
Die Neuhinzukommenden stürmten eine Treppe hinauf zu dem Balkon .
Die beiden folgten , und ein glücklicher Zufall wollte es , daß sie gerade vor der Rednertribüne in der ersten Reihe ihre Plätze erhielten .
Es herrschte von all den vielen Menschen eine dicke , dunstige Luft , und ein merkwürdiges Konglomerat von Gestalten war es , das sich hier zusammengefunden hatte .
Alles sprach lebhaft untereinander .
Die Gesten waren erregt , und die Neugier brannte vielen aus den Augen .
Sie starrten unverwandt auf das Podium .
Thomas suchte vergeblich nach den Freunden ; er konnte sie in dem Gedränge nicht entdecken .
Und plötzlich stand da oben , wo ein kleiner Tisch aufgestellt war , ein mittelgroßer , kräftig gebauter Mann , auf dessen starkem Nacken ein entschlossener und zugleich wunderbar gütiger Kopf ruhte .
An das breite , etwas fleischige Kinn schloß sich ein fein geschwungener , sanfter Mund , der von einem militärischen Schnurrbart beschattet wurde .
Helle , milde Augen mit buschigen Brauen blickten aus tiefen Höhlen .
Die Stirn war gradlinig , hoch und schön .
Das Haar war dünn und militärisch gescheitelt , die schönen energischen Ohrmuscheln und eine stark entwickelte große Nase paßten vollkommen zu dem männlichen Ausdruck dieser Züge .
Obwohl das Gesicht des Mannes ins Volle ging , hatte es doch einen unzweifelhaft geistigen Ausdruck und ein sofort frappierendes Gemisch von Festigkeit und Duldsamkeit .
In dieser Versammlung war kein sogenanntes Büro gebildet .
Es gab keinen Vorstandstisch .
Der Mann erschien ohne allen Prunk , ohne jede Komödiantenart ; er machte mit der Hand eine kurze Bewegung , und eine lautlose Stille trat im Saale ein .
Er sprach in abgerissenen , scharf akzentuierten Sätzen , die wie durchdringende Kommandos durch den Saal tönten .
Seine ganze Art , sich zu geben und zu sprechen , zeigte eine Schlichtheit , die auch die Herzen der Widerstrebenden zu packen schien .
Alles kam unerschütterlich , getragen von einer in sich gefestigten Weltanschauung heraus .
Aber die Hörer fühlten , daß die Seele des Mannes mitzitterte .
Sie fühlten den leidenschaftlichen Ernst seiner Worte .
Er sprach von der Individualisierung der Persönlichkeit .
Und mit einer Stimme , die wie eine hellleuchtende Flamme in diese Sonntagsgemeinde einschlug , rief er :
" Zuerst muß das Individuum zum vollen und tiefen Bewußtsein seines Ich_es , seines Selbsts , seines Rechts , seiner Würde , seiner Hoheit gelangen ; es soll erfahren , daß sein Ich , daß jedes Ich einen oder sogar den Mittelpunkt des Weltganzen bildet .
Diese Individuen , diese Selbstmenschen , diese Charaktere mögen sich dann nach wirtschaftlichem und sonstigem Bedürfnis oder Notwendigkeit zu neuen Gebilden zusammenfügen .
Nur unter der Voraussetzung , daß wir , die Einzelmenschen , zum Vollgefühl unseres Selbstbestimmungsrechtes gebracht sind , kann die Sozialisierung der Menschheit einen Fortschritt in der Entwicklung , eine Befreiung bedeuten !
Die Entwicklung der Persönlichkeit kann nur zu einem Ziele führen : der Ganzheit und jedem einzelnen innerhalb der Gemeinsamkeit mit genau der gleichen Treue und Liebe zu dienen .
In der Entwickelungskette des zur inneren Freiheit und zum Selbstbestimmungsrecht gelangten Menschen wird der letzte Ring mit absoluter Notwendigkeit zum Zusammengehörigkeitsbewußtsein führen .
Das Neue kann nur aus dem Alten heraus geboren werden , keine tabula rasa , kein Riß in der Entwicklung ; aber entschlossenes Vorwärtsschreiten , nach Umständen auch ein Sprung über den Graben , wenn er uns den Weg sperren will ; mit den vorhandenen Menschen rechnen , aber sie umzuwandeln versuchen , und das mit Liebe , nicht mit niederträchtigem , kleinlichem Haß ; nicht Unwille gegen die Träger der heutigen Zustände , noch gar Schmähungen der Vergangenheit oder Neid dürfen die Leitmotive sein , nur der Wunsch nach Vollkommenerem , die Idee der Versöhnung darf uns in diesem Kampf leiten .
In diesem Kampf , in dem jeder die Pflicht hat , seine Volksgenossen aufzuklären und eine Strecke Weges mit sich zu führen . "
Unter atemloser Stille hatte der Mann gesprochen .
Als er geendet , herrschte Todesruhe noch mehrere Sekunden , dann brach ein wildes Jubeln und ein frenetisches Beifallstosen durch den Saal .
Der Mann blickte ernst und ruhig über die tausendköpfige Menge .
Die Diskussion wurde eingeleitet , und nun traute Thomas seinen Augen nicht , als plötzlich Lissauer mit roten Backenknochen und glühenden Augen hinter dem Rednertische stand .
Der kleine Mann schrie in fistelndem Ton : " Ich heiße Benjamin Lissauer und bin Schriftsteller .
Von Versöhnung und Überbrückung aller Klassenunterschiede spricht der Herr Redner , der als ehemaliger hoher Offizier die Rangunterschiede wohl noch in der Erinnerung hat !
Wie sollen wir Juden zur Versöhnung geneigt sein , wenn man uns im Staatsleben unterdrückt , mit Füßen tritt und straflos beschimpfen darf ... "
" Was will denn der bucklige Jude ? " gellte eine Stimme durch den Saal .
Unter diesem Worte , das vernehmlich bis zur Rednertribüne schallte , wand sich Lissauer wie von einem Schlage getroffen .
Doch in dem nämlichen Augenblicke stand schon dicht neben ihm , bleich und verstört , Blinsky und rief mit schallender Stimme : " Her mit dem Feigling , damit wir Auge in Auge mit ihm abrechnen ! "
Ein Durcheinander von Geschrei und Stimmen entstand .
Aber wieder trat Schweigen ein , als Herr von Egidy vor dem Tische seine Gestalt kerzengerade aufrichtete .
Er hatte die vielköpfige Menge gleichsam in seinen beiden starken Händen .
Bevor er noch den Mund auf tat , hing sie an seinen Lippen .
" Wir sind hier zur Verständigung " , rief er , " und wer gekommen ist , um aufzuhetzen , er hetze gegen wen er wolle , er sei , wer er sei - hier bei uns hat er keine Stätte .
Wir wollen die Wege der Versöhnung bahnen .
Die Krümmungen und Windungen , wo man hetzt und verdächtigt , meiden wir .
Wir kämpfen im Zeichen der Liebe ! "
Wieder trat er beiseite .
Blinsky zog Lissauer mit sich fort , und beide machten sie einem blassen und verhungerten Menschen Platz , der kein anderer als Heinsius war .
Seine Stimme schlug schon über , als er Namen , Stand und Wohnung angab .
Er schien ganz in Erregung und Haß getaucht , und Thomas sah es ihm beim ersten Blicke an , daß er den großen Tag der Abrechnung , die Stunde , nach der er in seinen Verzweiflungen gedürstet hatte , für gekommen erachtete .
" Was ich sagen werde " , begann er , " ist nicht gerichtet gegen die hochehrenwerte Privatpersönlichkeit des Vortragenden .
Ich Kämpfe nicht mit ihm , ich Kämpfe mit seinen Ideen .
Ich bekämpfe sie rückhaltslos .
Man wird mich anhören und zu Ende sprechen lassen , auch wenn es vielen bitter ist . "
Und sich ruckartig zu dem Sprecher wendend , fuhr er fort : " Sie , Herr von Egidy , sind meiner innersten Überzeugung nach ein Verführer der Menge .
Sie sind gefährlicher als die niedrig gestirnten Demagogen , als die armseligen Sozialisten , in deren kleinen Hirnen kein gerader Gedanke wächst .
Sie sind gefährlicher , weil der Schein und die äußeren Anzeichen für Sie sprechen .
Sie sind ein Grundübel , weil Sie zu den Halben , zu den Lauen , zu den Gelegenheitsmachern , zu den Opportunisten gehören .
Sie schachern , und handeln um den Preis , während es einzig und allein den ganzen Einsatz gilt .
Wo es sich aber um die großen Ideen der Menschheit oder , sagen wir besser und richtiger , um die der Persönlichkeit handelt , da muß man mit seiner Ganzheit Bekenntnis ablegen , man muß die letzten Konsequenzen ziehen , will man der Horde und Herde von Knechten ein Führer sein .
Man erzieht keine Herren , wenn man die Versöhnung der Klassen Predigt , wenn man die Träger der Staatsgewalt , wenn man die jeweiligen Regierungen mit den schielenden Augen versöhnlicher Milde betrachtet .
Das sind niederträchtige Phrasen , mit denen man keinen Hund vom Ofen lockt , das ist Knechtsseligkeit und hündisches Winseln .
Man brandmarke das Verbrechen und die Blutsaugerei , auch wenn sie durch das Gesetz geheiligt sind ; man brandmarke gesetzlichen Raub und Mord mit glühenderen Eisen , als wenn ein gehetzter , verzweifelter und gequälter Mensch aus dunklen Trieben handelt .
Wer vor den Institutionen und den Machthabern Halt macht , gehört zu den Feigen im Kompromiß , er kämpft in Reih und Glied mit den Profitmachern und elenden Opportunisten .
Sie berufen sich auf Christus , dessen Vorbildlichkeit ich hier ganz beiseite lasse .
Sie dienen in Wahrheit dem Belial , der Gewalttat .
Ein Volks- und Hofprediger , ein großer , deutscher Schriftsteller , dessen Namen Ihnen allen imponieren wird , und dessen geistige Qualitäten denen unseres Sprechers mit denn doch noch etwas überlegen zu sein scheinen - ich meine keinen Geringeren als Herder und nenne Ihnen , die Sie auf Autoritäten schwören , mit voller Absicht diese Autorität - hat in seinen Ideen zur Philosophie der Menschheit das Folgende klipp und klar ausgesprochen . "
Er nahm einen weißen Zettel vor und las : " Der Mensch , der einen Herrn nötig hat , ist ein Tier ; sobald er Mensch wird , hat er keines eigentlichen Herrn mehr nötig ; im Begriffe des Menschen liegt der Begriff eines ihm nötigen Despoten , der auch Mensch sei , nicht .
Jener muß erst schwach gedacht werden , damit er eines Beschützers , unmündig , damit er eines Vormundes , wild , damit er eines Bezähmers , abscheulich , damit er eines Strafengels nötig habe .
Sowie es nur ein schlechter Vater ist , der sein Kind erzieht , damit es lebenslang unmündig , lebenslang eines Erziehers bedürfe ; wie es ein böser Arzt ist , der die Krankheit nährt , damit er dem Elenden unentbehrlich werde : so mache man die Anwendung auf die Erzieher des Menschengeschlechtes , die Väter des Vaterlandes und ihre Erzogenen . "
" Meine Herren !
Es kommt darauf an , daß man die Anwendung macht , wie Herder sehr richtig sagt .
Eine Lebensführung beginnt erst da , wo die Gesinnung rein , unaufhaltsam , entschlossen durchbricht wie ein brausender Gebirgsbach im Frühling .
Bei Ihnen , Herr von Egidy , ist alles Faselei und Gefühlsphrase .
Die religiöse Gemeinschaft fällt bei Ihnen mit dem Staat zusammen , der für uns freie Geister das Prinzip der Knechtschaft darstellt .
Sie hausen da , wo der Herrgott und der Teufel , wo der Christus und der Belial an einer Tafel versöhnungsselig Kompromisselen ; das nenne ich Gefühlsduselei , aber nicht individuelles Denken !
Sie haben heute gesagt , daß Sie die Axt an die Wurzel legen wollen .
Sie dürfen es mir glauben , Ihre Axt wird nicht bis an die Wurzel kommen .
Ihr Arm wird nach den ersten Streichen erlahmen , und der Baum , den Sie fällen wollen , wird über Ihre Schwächlichkeit in ein Hohngelächter ausbrechen .
Wer den Baum mit Stumpf und Stiel ausrotten will , muß andere Muskeln , muß stählerne Gedanken haben .
Und deshalb rufe ich :
Fort mit allen Fest- und Tafelrednern , fort mit denen , die das Evangelium des Belial künden .
Es gibt nur ein Evangelium , und dieses ist zu eigen mir , meinem Ich !
Und wenn Sie einen Propheten brauchen , so rufe ich Ihnen den Namen Max Stirners zu .
Jeder befreie sich selbst , und niemand gebe sich Wahnideen hin ; niemand wolle die dumpfe , stumpfe Maße erlösen ! "
Er machte eine kleine Pause und schrie dann wie besessen : " Fort mit dem Erlöserschwindel , jeder erlöse sich selbst . "
Die Wirkung war geradezu verblüffend .
Man hatte zuerst gemurrt und zeitweilig den Sprecher unterbrochen , dann aber wider Willen ihm gelauscht .
Wie es immer in solchen Versammlungen zuzugehen pflegt , wer etwas mit fanatischer Bestimmtheit sagt , zwingt die Hörer mit sich fort .
So war es auch hier .
Und dennoch fühlten sich alle gekränkt , geschmäht , ja sogar aufs grimmigste verspottet .
Es herrschte , als Heinsius geendet hatte , eine dumpfe Ruhe , bis plötzlich jemand durchdringend in die Menge rief :
" Dieser Mensch hat die reine Wahrheit verkündet .
Dieser Mensch hat hundertmal recht . "
Alles drehte sich nach dem Rufer um , dessen Stimme etwas Metallenes , etwas Eisernes hatte , und alle wiesen auf einen untersetzten , stämmigen Menschen mit einem bartlosen , milchfarbigen Gesicht und geschlitzten Augen , die wie funkelnde Steine glitzerten und sprühten .
Thomas hatte nicht hinzusehen gebraucht .
Den Ton kannte er gut , und vor Aufregung zitternd , sagte er zu Bettina :
" Das ist Fründel - Mechaniker Fründel .
Übrigens sind das alles Leute vom Nachtlicht , ganz seltsame Menschen ! "
Er achtete nicht darauf , was Bettina antwortete , sondern beugte sich weit über die Brüstung , um mit gespannten Augen die Vorgänge zu verfolgen .
Der Mechaniker stand mit verschränkten Armen und einem niederträchtigen Lächeln da .
Er hielt alle die auf ihn gerichteten Blicke gelassen aus und wandte sich nur zuweilen mit irgendeiner bissigen Bemerkung an die beiden Frauen links und rechts neben ihm , die sich ebenfalls erhoben hatten .
Es waren Josefa Gerving und die Studentin Charlotte Ingolf .
Aha , sie sind also auch da , dachte Thomas , und ganz flüchtig wunderte er sich darüber , die Ingolf gerade in Begleitung Fründels zu sehen .
Auf das Podium trat jetzt ein knochiger , großer Mann mit zurückgekämmtem , rabenschwarzem Haar , einem Henriquatre von der nämlichen Farbe und einer Adlernase .
Aber bevor er noch zu Worte kam , schrien hunderte von Stimmen wie in einem brausenden Chore : " Egidy ...
Egidy ! "
Und wieder trat dieser vor die Menge .
" Sie werden sprechen " , begann er - und von neuem verstummte alles im Saale - " und Redefreiheit haben , wie jeder in diesem Raume .
Aber es ist gerecht und billig , daß ich erst dem Manne , der mich angeklagt hat , antworte .
Ich werde ohne Zorn erwidern , denn wie kann ich jemandem zürnen , der über mich den Stab bricht , ohne mich zu kennen und ohne mich zu verstehen .
Ich kann mich höchstens wundern , daß man mich nicht versteht , der ich immer die schlichteste und simpelste Form für alles suche , was ich zu sagen habe .
Ich soll zu den Halben und Lauen gehören , ich soll Opportunist sein !
Ich , dessen ganzes Leben und Handeln ein einziger Protest gegen den Opportunismus gewesen ist .
Ich , der ich gerade hierin mit dem Vorredner die Wurzel alles Übels sehe .
» Ohne alle Opportunitäten « , das ist die Parole , das Losungswort meines ganzen Lebens gewesen , das immer unverbrüchlicher geworden .
Wenn ich mit meiner äußeren Vergangenheit gebrochen und die Konsequenzen meiner Denkweise gezogen habe , so sehe ich darin nicht etwas , das irgendwelches Lob verdiente , sondern einfach die Bekräftigung und Betätigung innerster Anschauungen .
Immer tiefer , immer klarer habe ich das Wesen , den Kern dieses » ohne alle Opportunitäten « ergründet und habe jeden Angriff dagegen mit eherner Festigkeit zurückgewiesen .
So bin ich zu der Erkenntnis gelangt , daß der Opportunismus eine der giftigsten Fasern in dem Wurzelgebilde unserer heutigen Lebensanschauungen , Lebensregeln , Lebensgesetze ist , und ich stehe heute im ernsten , überlegten , planmäßigen Kampfe gegen alle Schädigungen im Einzel- wie Volks- , wie im Leben der Völker , die sich auf diese Giftfaser zurückführen lassen .
Auf den Opportunismus lassen sich mit einiger Gedankenübertragung alle Schäden zurückleiten .
Der Opportunist hat dem entsagt , was für den Kraftmenschen das Leben lebenswert macht : der Selbständigkeit und der Unabhängigkeit .
Er ist unfrei , ist Knecht , ist Sklave , und weil er es selbst ist , will er auch die anderen in Abhängigkeit und Unterdrückung erhalten ; er will , weil er selbst beherrscht ist , auch herrschen .
Dagegen lehnt sich der erwachte Drang nach Unabhängigkeit und Selbständigkeit auf . Mögen " , rief er mit gesteigerter Stimme , " die Massen sich darüber selbst auch im klaren sein , denn " , wandte er sich an Heinsius , " ich glaube an eine Erlösung und Entwicklung der Massen .
Mag es immerhin die sogenannte Magenfrage sein , die die erste und empfindsamste Anregung zur Auflehnung gegen das Bestehende gibt , die eigentliche Idee , die den Wandlungsbestrebungen der Gegenwart zugrunde liegt , ist das Verlangen nach Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Individuums , der Gemeinde , des Volkes .
Wir brauchen geradsinnige und geradeaus denkende Menschen ; brauchen Menschen , die jedes Mittel , das seinem Wesen nach dem nicht entspricht , was uns rein , gerecht , edel , schön , also ideal erscheint , nicht nur innerlich verachten , sondern auch wirklich unangewendet lassen .
Wir brauchen Menschen - Männer und Frauen - » ohne alle Opportunitäten « .
Und glauben Sie es mir , man kommt auch ohne diesen häßlichen Ballast weiter , er ist eine Bürde , die den Träger zu Boden drückt .
Man kommt weiter , indem man sich dadurch den Anschluß an diejenigen sichert , die durch ihre Gesinnung den Charakter des neuen Jahrhunderts bestimmen werden .
Und nun kommen Sie , Herr Volksschullehrer , Sie , der Sie den höchsten Titel tragen und das höchste Amt auf sich genommen haben , ein Lehrer des Volkes zu sein , und sagen mir , ich gehörte zu den Lauen im Lande , zu denen , die Schacher treiben , die das pure , edle Gold reiner und hochherziger Gesinnung in elende , kleine Scheidemünzen umwechseln .
Mit einem Worte , sie halten mich für den typischen Vertreter des Opportunismus , Sie zählen mich jenen Wechslern zu , die Christus aus dem Tempel jagte ! "
Er senkte den Ton seiner Stimme .
" Das weise ich zurück , nicht mit Zorn und Entrüstung , sondern mit Schmerz und Trauer .
Ich frage mich immer und immer wieder : warum tun die Menschen alles und jedes , um sich mißzuverstehen , warum werfen sie Mauern auf und ziehen Gräben , um sich zu trennen , anstatt Wege und Brücken zu bauen , um sich zu begegnen und sich die Hände zu reichen ?
Wege und Brücken bauen ist die Aufgabe unserer Zeit !
Das weite , große Meer haben wir uns unterjocht , unsere Schiffe fahren auf dem stolzen Wasserspiegel .
Und im Lande ringen wir mit feindseligen Blicken um jede Scholle schwarzer Erde .
Wo wir eine Kluft sehen , da überbrücken wir sie nicht , nein , wir streben im Gegenteil mit allen unseren unheilvollen Kräften danach , sie zu erweitern und zu vertiefen . "
" Ich will ein Wegmeister sein und Brücken bauen ! " rief er mit flammenden Augen .
" Ich will dies tun im Zeichen des einzigen Christen , im Zeichen des Heilands ! "
Seine Stimme wurde brausend , machtvoll , donnernd .
" Sie glauben , die Schriftgelehrten hätten den einzigen Christen überwunden ; die Schriftgelehrten , sie mögen Stirner oder Gott sonstwie heißen , sind ihm gegenüber klein , winzig , erbärmlich .
Sie glauben , Herr Volksschullehrer , mit Ihrer Weisheit mir voran zu sein , aber verlassen Sie sich darauf " , sein Gesicht bekam auf einmal eine gütige , milde Heiterkeit , " verlassen Sie sich darauf : für Sie , Herr Heinsius , ist trotz alledem die Schlachtenuhr immer noch neun Uhr vormittags ... ! für mich drei Uhr nachmittags .
Ich bin Ihnen vorauf , obwohl der Text meiner Predigt bereits vor zwei Jahrtausenden gehalten ist .
Zwischen uns gibt es allerdings eine wesentliche Trennung .
Sie haben Christus bereits überwunden und finden das Evangelium bei Stirner .
Ich bin der Ansicht , daß Christus noch immer unverstanden ist , daß wir alle unsere Kräfte daransetzen müssen , um das ewig Vorbildliche seiner wundervollen , einzigen Persönlichkeit in das hellste Sonnenlicht zu rücken .
Sie wenden sich hochmütig vom Volke und der Maße ab ; und ich gehe mit Christus zu ihnen .
Und weil ich den Glauben an das Menschengeschlecht habe , nehme ich den einzelnen Menschen davon nicht aus .
Es gibt für mich keinen Klassen- und Kastenunterschied .
In meiner Zuversicht steht es fest , daß diejenigen , die heute sich vergehen und mit Gewaltmitteln uns maßregeln , nicht vom Grund aus gemein , niedrig und schlecht sind , ich halte sie vielmehr für irregeleitet , oft für ihren Hochmut und ihre Unerlauchtheit nicht einmal verantwortlich !
Man hat an ihnen gesündigt , ihnen gewaltsame Anschauungen und Lehren aufgezwungen , die gar nicht ihrem innersten Wesen zu entsprechen brauchen -
denn ich glaube an das innerste Gutsein des Menschen , der Menschen .
Und darum halte ich sie auch von vornherein nicht für Schurken , Branddiebe und Raubgesellen .
Ich glaube an ihre Erlösung , und darum schreibe ich auf die Fahne , die in meinem Kampf durch allen Wind und allen Sturm stolz weht und flattert , das Wort : Versöhnung .
Das ist der Sinn , den ich dieser Kampfparole zugrunde lege , das ist das Endziel auf dem langen Wege , den wir schreiten .
Das Evangelium Christi ist nichts anderes als der unverbrüchliche Glaube an den Menschen ... die Menschen .
Und daß dieser Glaube an die Menschheit nicht einer Wahnidee , einem leeren Phantom entsprungen ist , will ich Ihnen an einem einzigen Beispiele klarlegen , an der einen Erfahrung , die Sie alle in Ihrem Leben vielleicht schon gezogen haben . "
Er hielt inne und fuhr mit der Hand über die Stirn , die ihm zu brennen schien .
" Ich sage , in jedem Menschen ist das Böse , aber auch in jedem Menschen ist das Gute , und nirgends kommt dies klarer , verhängnisvoller , versöhnender zum Vorschein als in jenen geheimnisvollen Zusammenhängen und Rätseln des Zeugungsprozesses , die wir nicht ergründen können .
Menschen , die wie Verbrecher gelebt haben , die wir für rohe Spießgesellen und empfindungslose Barbaren gehalten haben , bringen Kinder zur Welt , die rein , gütig , hilfreich und edel sind .
Welch eine andere Erklärung läßt das zu als die , daß auch in jenen , die sie gezeugt haben , unter Krusten und Hüllen etwas von dieser Reinheit und Schönheit verborgen war ; und andererseits : Männer , deren ganzes Leben der Arbeit und der Betätigung der Güte gehört hat , haben Söhne , die lichtscheu und müßiggängerisch sind und verbrecherische Triebe nähren .
Wie kommen sie zu solchen Kindern ?
Ich habe es Ihnen gesagt , alles ist in uns , das Gute und das Schlimme , und niemand soll auf sein Gutsein eingebildet , oder gar hochmütig sein .
Schon der eigene Sohn könnte ihm den Spiegel vorhalten , in dem er sich als sein Zerrbild erblickt .
Und wenn hier die Klassenunterschiede und -gegensätze als Trumpf ausgespielt wurden , so antworte ich darauf : die Führer der Menschheit haben ihren Volksgenossen unabhängig von der Kaste , aus der sie hervorgingen , die Bahn freigemacht .
Der Heiland wurde in einer niedrigen Hütte als Sohn eines armen Zimmermanns geboren , und der größte Deutsche , Goethe , war der Sohn eines reichen Ratsherrn , der zu den Trägern der Gewalt gehörte .
Ich könnte hundertfach die Beispiele aufzählen , ich fasse alles in dem einen Wort zusammen :
es gibt nicht den bösen , es gibt nur den guten Menschen , denn aus der Saat des Bösen steigt noch die Güte auf .
Und wenn Sie diesen einen Gedanken heimtragen , daß im tiefsten und letzten Sinne böse gleich gut ist , so haben Sie mit mir den Glauben und die Erkenntnis des einzigen Christen , des Heilands ... so wird für Sie das Wort Versöhnung nicht zum Aushängeschild der Laxheit und des feigen Kompromisses , sondern " , schloß er leise , " zum Ausdruck echtester Frömmigkeit und tiefster Erkenntnis . "
Die Menschen atmeten schwerer .
Die Gesichter der einen waren bleicher , die der anderen röter geworden .
Einzelne hatten sich erhoben und streckten dem Redenden die Arme entgegen .
Ein paar erregte Frauen wehten mit ihren Tüchern .
Sie hatten nicht alle den Zusammenhäng und Sinn der Worte begriffen , aber sie fühlten unwiderlegbar , daß der Mann , dessen tiefe Sprachkraft wie eine Leuchtfackel in ihre Seele drang , mochte er im einzelnen recht haben , oder irren , seinem ganzen Wesen nach von jener Urreinheit war , die zur Ehrfurcht und Demut zwingt .
Ganz dicht vor dem Rednerpult stand ein Mensch auf Krücken , der den langen , dünnen Hals giraffenmäßig vorbeugte , den Mund aufgesperrt hatte und mit seinem elenden Gesicht den Sonntagsprediger wie eine Geistererscheinung anstarrte .
Und neben ihm weinte ein schwarzgekleidetes , mageres Mädchen inbrünstig in sich hinein .
Es war Maria Werft .
Wie der gellende Pfiff der Lokomotive durch die Stille der Nacht und des Dunkels schneidet , so wurde die innere Bewegung der Sonntagsversammlung jäh zerbrochen durch jenen Mann mit den zurückgekämmten , schwarzen Haaren , der schon vor Herrn von Egidy hatte reden wollen .
Um sich Geltung zu verschaffen , streckte er seinen rechten Arm hoch und schrie laut und vernehmlich seinen Namen : " Metallarbeiter Drewitz , Ackerstraße Nummer 14 . "
Die Leute setzten sich von neuem .
Der Mensch wartete einen Augenblick , fuhr mit seiner roten und gedunsenen Hand durch den struppigen Bart , verschränkte dann die Arme und wartete , bis es völlig ruhig wurde .
Sein ganzes Auftreten hatte etwas fabelhaft Sicheres .
" Was der Herr von Egidy uns vorerzählt hat " , begann er , und er wußte schon bei den ersten Worten in seine Stimme einen sarkastischen und bitteren Tonklang zu bringen , " ist sehr schön für diejenigen , die satt und erbauungsselig sind .
Wir mit dem hungrigen Magen lassen uns nicht besoffen reden und mit leeren Phrasen füttern , denn wir " - er sah Egidy voll und gerade ins Gesicht - " wir wollen , so komisch das den Herrschaften vorkommt , uns zunächst einmal ordentlich satt fressen .
Ich sage » fressen « , meine verehrten Herrschaften , weil wir nach der Speise gierig sind und in unserem Hunger uns nicht die Zeit nehmen würden , appetitlich die Mahlzeit zu verspeisen .
Sie mit dem klingenden Beutel und der warmen Stube haben gut reden , wir rufen Ihnen zu : faule Fische , mit denen man uns ködern will ... wir lassen uns nicht ködern , wir beißen auf dieses Versöhnungsgewinsel nicht an .
Wir Arbeiter wissen , daß es zwischen uns und den besitzenden Klassen keine Versöhnung gibt , wir wissen , daß der Besitz frech macht ... frech , frech , frech . "
Er schrie diese Worte mit furchtbarem Zorn in die Menge hinein .
Und die Arme in die Seite stemmend und sich wieder zu Herrn von Egidy wendend , fuhr er fort :
" Also der Klassenkampf soll vorüber sein !
Wer lacht da ?
Wir sollen dulden und nicht mucksen !
Das ist der Text Ihrer erbaulichen Sonntagspredigt ...
Quarkspitzen !
Seien Sie schönstens bedankt .
Ich halte es für eine Verhöhnung des Proletariats , ihm die Widerstandslosigkeit zu predigen ... ihm zu raten , den Kampf gegen seine Ausbeuter und Blutsauger fallen zu lassen . "
Er reckte sich plötzlich in die Höhe und schien zu wachsen .
" Uns , die wir uns Tag für Tag abrackern , zuschanden arbeiten und dabei noch hungern und wie die Schweine leben , kommt man mit Versöhnungsfaseleien !
Tauschen Sie doch mit uns , mit irgendeinem von uns , dann werden Sie sehen , was das Dulden für eine schöne Sache ist !
Wir leben erbärmlicher wie die Hunde !
Den Hunden wirft man hin und wieder ein Stück Fleisch vor - wir sehen nur abgenagte Knochen .
Wie soll der Klassenkampf aufhören , bevor die Klassen nicht ausgerottet sind !
Wie die Schindluder arbeiten wir und hungern .
Soll ich Ihnen etwas erzählen ?
Acht Kinder habe ich zu Hause .
Meine Frau ist alt und welk geworden , und sauer sind ihr die Kinder geworden , Sie können es mir glauben .
Ich saufe nicht und spiele nicht und kann nicht einmal so viel erraffen , damit wir uns auch nur auf das kärglichste durch diesen Dreck schleppen können . "
Sein Gesicht verzerrte sich auf einmal , und sein Ton wurde gedämpft .
" Wenn so ein Kind zur Welt kommt , so soll doch das etwas Frohes und Festliches , sozusagen etwas Großartiges sein - mein Weib und ich haben nur den einen Wunsch gehabt :
es möchte im Mutterleibe verdorren ... es möchte hinsterben , bevor es die Augen aufschlägt , damit es nicht vor Hunger und Elend hinzusiechen braucht ... Wissen Sie was das heißt , wenn man acht hungrige Würmer zu Hause hat und bei aller Arbeit sie nicht einmal satt kriegt ?
... Sie wissen es nicht , sonst würden Sie Ihre erbauliche Sonntagsandacht nur vor denen abhalten , die die Knuten schwingen , die im Besitze sind .
Mein ältester Junge ist nach Hause gekommen und hat in seiner Dummheit mir gesagt :
» Vater , heute hat uns der Lehrer die besitzanzeigenden Fürwörter gelernt .
» Mein , dein und sein « sind besitzanzeigende Fürwörter , Vater . «
Wissen Sie , was ich ihm geantwortet habe ?
... Junge , » mein , dein und sein « steht nur im Verbrecherlexikon der Reichen .
Für uns gibt es so was nicht .
Es gibt ja noch 'n besitzanzeigendes Fürwort , das heißt : » unser « - er machte mit dem Zeigefinger eine kreisförmige Bewegung - » sozusagen » unser aller « heißt das ...
Meine Herrschaften , das ist nur ' ne fixe Idee , die steht nur in den blödsinnigen Schädeln von uns Arbeitern .
Die noblen Herrschaften wollen davon nichts wissen , und deshalb sage ich , verehrter Festredner , zu allen denen , die hungern :
Empört euch gegen eure Peiniger , kämpft bis aufs Messer , kämpft bis aufs Blut , kämpft , damit ihr endlich einmal eure Magen füllt ; verschließt eure Ohren gegen das Gewimmer von Versöhnung und Duldung ... verlaßt euch darauf , liebe Brüder in Christo , all die guten Eigenschaften kommen , wenn ihr satt seid ...
Wir wollen satt werden , satt werden , endlich einmal , das ist unsere Weisheit ... das ist unser Abc , und das werden wir hinausschreien , und wenn wir stockheiser dabei werden .
Mit unseren kranken Lungen werden wir das hinausschreien , mit dem letzten Beste unserer kranken Lungen ! "
Und wie zur Bekräftigung schlug er mit seiner Faust auf den Tisch und blickte mit einem Gesicht , dessen Farbe wächsern geworden war , Herrn von Egidy an .
" Darauf soll er antworten ... wir werden sehen , was er darauf antworten wird ! " schrie höhnisch und gellendes der Mechaniker Fründel .
Herr von Egidy hatte die Uhr aus der Tasche gezogen und hielt sie dicht vor seine Augen .
Alle Blicke hingen an ihm .
Jeder war gierig nach einem erlösenden Worte .
" Das ist der bittere Schlußakkord , mit dem wir aufhören " , rief er in bebendem Ton , " denn in wenigen Minuten müssen wir auseinander .
Wir müssen mit dem Glockenschlage zwei Uhr die Versammlung schließen .
Die hohe Obrigkeit hält dafür , daß wir den Sonntag entheiligen , wenn wir uns über die Lebensfragen des Volkes aussprechen . "
Seine Miene war vergrämt und hatte etwas innerlich Schmerzhaftes .
" Die Anklage dieses Mannes wird Ihnen noch lange in den Ohren zittern ; die furchtbare Anklage , die wir alle kennen , begreifen und verstehen .
Denn dieser Mann hat in dem einen , was er sagt , recht : es ist ein Jammer , etwas unsagbareres als Jammer , daß ein Mensch trotz aller seiner Arbeit und Kräfteanstrengung nicht einmal satt wird , daß man ihn von der Festtafel des Lebens , von der Festtafel , die für uns alle gedeckt sein sollte , mit Haß und ohne Erbarmen schnöde wegweist !
Glauben Sie mir , ich fühle den Gram des Volkes und seine Berechtigung .
Meine ganze Lebensarbeit ist darauf gerichtet , diesen Gram zu lindern .
Des Mannes Anklage mag denen , die vergnügt und gedankenlos schmausen , in den Ohren gellen .
Und dennoch darf sie in unserem letzten Kampfe " - er legte die weiße Hand auf seine Brust - " dennoch darf sie unsere Richtung nicht bestimmen , nicht das Leitseil sein , an dem wir mit erschlafften Muskeln emporklimmen .
Wir wollen zur Höhe , wir wollen reine Bergluft einatmen .
Wir glauben trotz alledem und alledem an das Gute im Menschen , an das Aufdämmern und Erwachen aller edlen Triebe und Gedanken , an die Versöhnung auf dem Wege der Verständigung . "
Und die Rechte in die Höhe hebend , rief er :
" Es soll keine noch so bittere Erfahrung geben , die unseren unverbrüchlichen Glauben zerstören kann .
Wir warten auf den Sonnenaufgang , der uns verheißen ist ! "
Das waren die letzten Worte , die Herr von Egidy sprach .
In diesem Augenblicke schlugen die Glocken die zweite Stunde .
Alles erhob sich , die Saaltüren wurden geöffnet , und man drängte zu den Ausgängen . - - - XXIII .
Der Regen hatte aufgehört , aber ein verhängter , bleierner Himmel , der keine Sonne durchließ , sah auf das armselige Menschengewühl herab .
Die Leute vom Nachtlicht hatten verabredet , sich an der Jerusalemer- und Leipzigerstraßenecke zu treffen .
Bettinas feiner Kopf drohte zu springen .
Sie hatte in ihrem Herzeleid Gedanken gehört , die ihr so neu , so fremdartig , und in den Für- und Gegenreden so verwirrend waren , daß sie nicht aus , noch ein wußte .
Und hinter all den Dingen lugte ihre Gram hervor , ihr Schmerz , der durch den Anblick dieser merkwürdigen Menschen vorübergehend betäubt war .
Und im Grunde genommen ging es Thomas Druck ebenso wie ihr .
Vergrämt und vergrübelt sagte er beim Herausgehen zu Bettina :
" Ich kann mir denken , wie dir zumute ist ; denn in mir selbst dreht sich alles wie ein Mühlrad .
Alles erscheint mir jetzt noch problematischer , noch dunkler und unentwirrbarer . "
Sie antwortete leise :
" Ich werde , wenn ich heim bin , lange daran zu knabbern haben , denn bis jetzt habe ich an nichts anderes als an meine Geige gedacht . "
Nein , setzte sie in ihrem Inneren hinzu , ich habe eigentlich nicht an meine Geige , sondern nur an dich gedacht .
Wenn ich geigte , war das Geigen nur ein Spiel für dich .
Sie fühlte , daß wieder die Tränen in ihr aufsteigen wollten , und preßte die Zähne zusammen .
Thomas hörte jetzt seinen Namen rufen , sah sich um und erblickte die Liers mit ihrem Dichter und dem Musiker Abraham Gebhardt .
Sie kamen gerade auf ihn zu .
Die Liers trug einen entsetzlichen , pfefferfarbigen Regenmantel mit einem schaluppenartigen Capuchon , der sie noch breiter , dicker und unförmiger machte .
Dabei hatte sie einen gewöhnlichen Schal um ihren Kopf geschlungen , so daß sie einem Markthallenweibe nicht unähnlich sah .
Liers dagegen hatte Sommer gemacht .
Er trug einen hellen Überzieher , einen grauen Kalabreser mit einem schwarzen Bande und einen verwegen gebundenen Schlips .
Der Musiker hatte einen brauen Lodenmantel an und einen eingedrückten , verschossenen grünen Hut auf dem Kopfe .
Dieser Hut wirkte ganz merkwürdig auf Thomas .
Er erinnerte sich daran , daß er in irgendeinem Zusammenhäng einmal bedeutsam für ihn gewesen war , aber er kam nicht auf die näheren Umstände .
Und nun erschien auch Fründel mit der Gerving und der Ingolf .
Die beiden Mädchen sahen sich hart und feindselig an , als ob zwischen ihnen ein offener Kampf ausgebrochen wäre .
Die anderen merkten es sofort , ohne eine Erklärung dafür zu finden .
Und jetzt gesellte sich eine neue Gruppe zu ihnen : Lissauers , Blinsky und der Volksschullehrer .
Die Gesellschaft bildete für sich auf der Straße eine kleine Volksversammlung .
Die Vorübergehenden blieben stehen und betrachteten die schon durch den Gesichtsschnitt auffällige Gemeinde .
" Wir können doch hier keinen Auflauf bilden " , meinte der Dichter .
" Wo wird also gegessen ? "
" Ich schlage vor , hier drüben in Aschengers Hofbräu " , antwortete eine Stimme , die dem stud. theol. Bechert gehörte .
Neben ihm stand , die Augen zu Boden gesenkt , Maria Werft .
" Aschinger ist aber 'n Jude " , bemerkte Blinsky spöttisch .
" Tut nichts " , entgegnete Bechert derb .
" Er kocht nicht koscher , und auf das Essen verstehen sich Ihre Stammesgenossen . "
Der Lissauerin schoß das Blut vor Empörung zu Kopf .
" Dann waren Sie es wohl auch " , rief sie gereizt , " der das mit dem buckligen Juden ... "
" Bedaure sehr , ich bin kein Anonymus .
Was ich zu sagen habe , sage ich ins Gesicht ! "
" nur keine Dispute jetzt " , unterbrach Lissauer den Streit .
" Wirr sind hungrig .
Wirr wollen essen ! "
Man war mit Aschinger einverstanden .
Und alles trabte auf die andere Seite der Straße , um ein paar Minuten später im Hofbräu zu landen .
Maria Werft sah mit traurigen Augen zu Bettina hinüber , und diese empfand sofort , daß das Mädchen Thomas gut war .
Auch so ein armes Wurm , dachte sie , über das er hinweggehen muß .
Muß ... muß ... wiederholte sie für sich .
Die Gerving hatte es so einzurichten gewußt , daß Fründel neben Heinsius zu sitzen kam , während sie mit einer hurtigen Bewegung den Platz auf der anderen Seite einnahm .
Notgedrungen mußte sich die Ingolf vis-à-vis placieren .
Fründel bestellte als erster für sich und die Gerving Bockwurst mit Sauerkraut .
Und es schien , als ob er damit das erlösende Wort gesprochen hätte , denn zunächst behaupteten plötzlich alle , daß sie geradezu Heißhunger auf Bockwurst und Sauerkraut hätten .
" Sehen Sie nur , wie der Schlingel arrogant in sich hineinlächelt " , bemerkte Heinsius .
Der Kellner notierte beständig : Bockwurst mit Sauerkraut ... Bockwurst mit Sauerkraut ... aber , als er bei Liers anlangte , befahl dieser : ein Filetbeefsteak mit Bratkartoffeln und einmal Bockwurst mit Sauerkraut .
Alle lachten laut über die Unverschämtheit auf .
Bloß Fründel meinte :
" Er hat von seinem Standpunkt vollkommen recht .
Wenn sie ihn geheiratet hat , so muß sie auch wissen , weshalb .
Ich komme Ihnen eins , Herr Dichter ! "
Die Liers bemerkte mit gutmütiger Ironie : " Der arme Junge muß sich kräftigen , er arbeitet mir zu viel . "
Und mit einer mütterlichen Geste streichelte sie ihm die Backen .
Lissauers verlangten Gänsebraten , was eine allgemeine Empörung hervorrief .
Endlich war das mühevolle Bestellen erledigt .
Es trat eine Stille ein .
Blinsky beugte sich zu Heinsius hinüber und sagte im Tone des Vorwurfs :
" Wissen Sie , daß Sie sich heute um Kopf und Kragen geredet haben ? "
Heinsius zog die Lippen herunter und erwiderte :
" Sie irren , Verehrtester , nur um mein Hungeramt . "
Thomas stellte Bettina den einzelnen vor , und die Liers nahm ihre Hand und drückte sie freundlich .
" Wir sind heute nachmittag alle zum Kaffee ins Nachtlicht geladen , beim Maler Brose , von dem Sie wohl auch gehört haben , Fräuleinchen .
Und ich füge hinzu , wenn es nicht unbescheiden ist , bringen Sie Ihre Geige mit , Sie würden einem guten Menschen eine große Freude bereiten .
Thomas sah Bettina an , und wieder nickte sie widerstandslos und müde .
" Übrigens Herr Heinsius , sie sind famos gewesen " , rief Fründel , " alle Achtung -
Hut ab vor Ihnen , wenn ich meinen Hut überhaupt ziehen würde ! "
Die Ingolf lächelte still vor sich hin , und Josefa , die dieses Lächeln sofort auffing , beugte ihren Oberkörper halb herüber und sagte in einem herausfordernden Tone :
" Mir scheint , Sie machen sich darüber lustig - er zieht vor niemandem den Hut , verlassen Sie sich darauf , mein Fräulein ! "
" Brauchst du mich zu verteidigen ? " fragte der Mechaniker grob .
" Ich bin auch Musiker " , sagte Abraham Gebhardt unvermittelt zu Bettina .
Sie sah ein wenig interessiert auf .
" Ich weiß , daß Sie seltsam und eigenartig spielen müssen " , setzte er hinzu .
" Woher wissen Sie das ? "
" Ich sehe es Ihnen an .
Sie ...
Sie ...
Sie würden nicht spielen , wenn Sie nicht etwas Seltsames und Eigenartiges auszudrücken hätten .
Ich weiß , wie Sie spielen , ohne Sie je gehört zu haben .
Es ist unmöglich , daß Sie mich überraschen . "
" Das ist sehr freundlich , vielleicht zu freundlich " , entgegnete sie .
Und indem etwas von ihrer früheren Schalkhaftigkeit ganz verhüllt und kaum merklich durchdrang , setzte sie hinzu :
" Ich würde mich in so einem Falle mehr auf mein Ohr , als auf meine Augen verlassen . "
" Ich kann mich nicht täuschen " , sagte der Musiker fest .
" Es ist möglich , daß vieles an Ihrem Spiele unvollkommen und unfertig ist , aber das , worauf es ankommt , was nicht zu erlernen ist , besitzen Sie - das weiß ich . "
" Wie geht es Brose ? " fragte Thomas .
" Denken Sie sich , er erholt sich " , antwortete die Liers , " aber wie pflegt sie ihn auch ! "
Ihre Augen strahlten .
Ihr Mann tuschelte mit Josefa , und die ging eifrig darauf ein .
Ihre Augen flackerten unruhig .
Sie zwang sich , Liers zuzulächeln und ihn freundlich zu behandeln .
Thomas bemerkte es , und ihm drängte sich sofort die Vermutung auf , daß das arme Geschöpf zu gewaltsamen Mitteln griff , sich gleichsam verrenkte , um sich den Mechaniker zurückzugewinnen .
Seine Vermutung wurde durch die Lissauerin bestätigt , die ihm etwas aufdringlich zuflüsterte :
" Sehen Sie nur , wie das Frauenzimmer den Menschen eifersüchtig machen will . "
Und zu Blinsky gewandt :
" Ich mißte so schön sein wie die , ich gäbe dem Kerl einen Fußtritt und ließ ihn stehen . "
Stud. theol. Bechert sprach herablassend und überlegen mit Maria Werft .
Sie sah beständig nieder und rührte sich kaum .
" Egidy ist ein Idiot und Schwärmer , nur Narren lassen sich von ihm aufs Glatteis führen ! " rief unvermittelt Heinsius .
" Übrigens , der Arbeiter war ausgezeichnet . "
" Der Mann ist verwirrt " , bemerkte Bechert , " das gebe ich ohne weiteres zu , aber so wie Sie breche ich nicht über ihn den Stab .
Das kommt einfach davon , wenn Laien die heilige Schrift interpretieren .
Sie sollen die Hand davon lassen , dazu gehört Arbeit und Wissenschaft .
So leicht ist es denn doch nicht .
Dazu gehören Berufene ... "
" Menschenskind " , schnitt Fründel ihm das Wort ab , " Sie haben 'nen kleinen Sparren ... so was müssen Sie uns doch nicht erzählen .
Sie sind doch nicht unter Kadetten , das müssen Sie doch endlich gemerkt haben . "
" Ich bin unter Verirrten ; das ist das einzige , was ich bis jetzt wahrgenommen habe " , antwortete Bechert , ohne sich im mindesten verblüffen zu lassen .
" Sie sind übergeschnappt oder schnappen nächstens über " , replizierte kurz der Mechaniker , ließ das Gespräch fallen und wandte sich mit einer gleichgültigen Frage an die Ingolf .
Dann aber sprang er im Gespräch rasch zu Thomas über und apostrophierte ihn scharf :
" Ich halte es für gar nicht ausgeschlossen , mein Herr , daß unser Sonntagsprediger ein dreister Schwindler und Hochstapler ist , der nach Führerschaft und Ruhm geizt .
Ich habe immer darauf gelauert , daß Sie was sagen würden , aber mir scheint , Sie verkriechen sich in letzter Zeit immer mehr nach innen , Sie treiben so 'ne Art von Maulwurfsarbeit . "
Bettina blickte erschreckt auf .
In welchem Tone sprach denn der Mensch zu Thomas .
Kein Zug in Thomas ' Miene verriet , daß er sich irgendwie gekränkt fühlte .
Nur etwas Grüblerisches , qualvoll Suchendes und unaufhaltsam Arbeitendes hatte sich in sein Antlitz gegraben .
" Ich halte den Mann für keinen Schwindler .
Er ist unbedingt ehrlich ; an dem Glauben wird mir niemand , nicht einmal Sie , Herr Fründel , schütteln und rütteln können .
Aber " , fuhr er langsam fort , " darin haben Sie vollkommen recht , daß ich mich nach innen , wie Sie es auszudrücken belieben , verkrieche .
Ich flüchte mich vor all dem Licht der Außenwelt , Herr Fründel , ins Dunkel .
Denn dies Licht blendet mich . "
" Komme , wir wollen uns verabschieden " , raunte ihm Bettina zu .
" Mir sind die Augen auf einmal so müde und schwer geworden . "
" Sie lassen sich doch nicht etwa von dem Kerl da vertreiben ? " fragte die Liers derb und deutete empört auf den Mechaniker .
" Davon ist gar keine Rede , Fründel hat das absolute Recht , seine Ansicht zu äußeren . "
" Ach lassen Sie mich " , entgegnete die Liers unwirsch , " was zu viel ist , ist zu viel . "
Der Musiker drückte Bettina die Hand und verbeugte sich vor ihr ehrfürchtig .
Als sie allein waren , sagte Bettina :
" Ich verstehe die Leute nicht , ich erlaube mir auch kein Urteil , aber sie kommen mir vor wie Menschen , die sich im Kreise drehen .
Wer zuschaut , dem wird schwindlig zumute . "
" Du hast recht " , antwortete Thomas , " aber es liegt nicht an ihnen , es liegt an uns , es hegt an der Zeit ; alles ist in Aufruhr , alles ist in kreisender Bewegung .
Und in dieser Zersetzung und Auflösung der Geister suchen alle die gehetzten Seelen nach einem ruhenden Punkt . "
Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück .
Bettina vergaß alles , was sie in den letzten Stunden erlebt hatte , nur ihren Schmerz fühlte sie , wie er in ihr wühlte und arbeitete .
Sie hatte nur den einen Gedanken : Gäbe Gott , daß ich erst im Eisenbahnwagen säße !
Oben auf der Treppe kam ihnen die Wirtin mit einem wichtigen Gesicht entgegen .
Ein Diener in Livree sei in der Zwischenzeit dagewesen und habe einen Brief gebracht .
Thomas brach das Schreiben hastig auf .
Es war von Regine und enthielt eine Einladung für den heutigen Abend .
" Nur ein paar Menschen ... wenn das Fräulein die Geige mitbrächte , so würde man ihr zu doppeltem Danke sich verpflichtet wissen . "
Als er Bettina den Brief überreichte , trat ein so schreckhafter Ausdruck auf ihre Miene , ihr Gesicht wurde so kreidig , ihre Hände zitterten so heftig , daß Thomas sie rasch an sich zog und nur sagte : " Sei nur ruhig , wir gehen selbstverständlich nicht hin , der Abend gehört Brose . "
Sie schloß eine Sekunde die Augen .
Dann sah sie ihn feierlich an .
Ihre Nasenflügel bebten .
" Thomas , ich muß heute noch reisen , Thom , ich muß " , fügte sie entschlossen hinzu .
" Ich gehe auf eine Stunde zu deinen Freunden , und dann bringst du mich zur Bahn . "
Er widersprach ihr nicht .
Er fühlte , daß sie recht hatte .
" Thom , ich danke . "
Sie ging in ihr Zimmer , und die alte Frau half ihr beim Packen .
Aber einmal nahm sie Bettinas Hände , und während über ihr runzliges Gesicht ein paar dicke Tränen rollten , wimmerte sie : " Ach , Fräuleinchen , ach , Fräuleinchen ... sie hat ihn behext , glauben Sie mir , sie hat ihn behext . "
Bettina beugte sich tiefer über den Korb , der ihre wenigen Habseligkeiten enthielt .
Sie schluchzte in sich hinein und würgte ihren Schmerz .
Sie schämte sich .
Dann legte sie sich aufs Sofa , und die Alte packte sie warm und wohlig ein . - - - XXIV .
Es war bereits ganz dunkel , als sie zu Brose ins Atelier kamen .
Die Leute vom Nachtlicht waren vollzählig versammelt .
Der Maler lag auf einer Chaiselongue und sah wie das Leiden Christi aus .
Er streckte Bettina die Hände entgegen , und ein flüchtiges Rot färbte seine eingefallenen Wangen beim Anblick der Geige .
In einer verborgenen Ecke des Ateliers stand ein klappriges , altes Pianino .
Bettina fragte mit unterdrückter Stimme Frau Brose , ob sie gleich spielen dürfte , da in einer Stunde bereits ihr Zug abginge .
Die Malerfrau blickte betroffen empor .
Bettinas Augen sahen so verschleiert , so trübe , so fiebrig aus , und ihre Worte hatten , so einfach sie waren , ihren inneren Gram bloßgelegt .
Die Brose empfand , daß das zarte Ding mit dem Aufgebot ihrer letzten Kräfte sich heraufgeschleppt hatte .
Sie empfand das ganz deutlich , ohne doch eine Begründung dafür zu haben .
Sie wollte eine Frage stellen , aber sie besann sich schnell .
" Gewiß , liebes Fräulein " , entgegnete sie statt dessen .
Der Musiker Abraham Gebhardt saß bereits am Klavier und blätterte in den Noten .
Bettina spielte einen Satz aus dem Beethovenschen Violinkonzert .
Sie schloß während des Spiels die Augen .
Der Musiker begleitete sie mit einer Feinfühligkeit , als wenn sie Jahr und Tag zusammen musiziert hätten .
Der Ton ihrer Geige klang zitternd , die Hörer spürten , daß die Seele Bettinas mitzitterte .
Sie ließ plötzlich erschöpft den Bogen fallen .
" Ich kann nicht weiter , ich kann nicht " , flüsterte sie .
Kein Mensch klatschte .
Sie waren alle ganz still .
Das Spiel Bettinas war ihnen ein Erlebnis .
Sie huschte wie ein Irrlicht hinaus , zog ihren Reisemantel an und machte eine demütige Verbeugung vor den Leuten vom Nachtlicht .
" Gute Nacht , Fräulein " , sagte Abraham Gebhardt .
" Sie haben uns in das Reich der Freude geführt " , raunte er ihr , für die anderen unvernehmlich , zu .
" In Ihrem Spiele liegt das dritte Reich . "
Diese letzten Worte hatte Thomas gehört .
" Das dritte Reich " , murmelte er gedankenlos . - - -
XXV.
Sie nahmen einen Wagen und fuhren in raschem Tempo zur Bahn .
Bettinas Gepäck hatten sie bereits vorher dorthin gebracht .
Der Perron war nur mäßig belebt und der Zug auffallend leer .
Vor einem Kupee dritter Klasse reichte sie ihm beide Hände , und diese Hände waren feucht und kalt .
" Um des Himmels Willen , Bettina , was ist dir ? "
" Nichts " , brachte sie geängstigt hervor , und ein zerrissenes , wehes Lächeln schnitt sich in ihre Züge ein ... ein unsagbar scheuer , Wunder Ausdruck in ihrem Gesicht , den er nie mehr vergaß .
Er stieg mit ihr in das Kupee ein .
Sie setzte sich sofort , legte auf ihren Schoß den Geigenkasten , auf den sie beide Hände tat .
" Gehe , ich bitte dich , gehe jetzt . "
Er wagte es nicht , sie zu küssen .
Als er ihr schon den Rücken gewandt , rief sie ihn noch einmal .
" Thom , was meinte er mit dem dritten Reiche ? "
Sie sah ihn dabei bange an , und ihr Lächeln hatte jetzt etwas Erschütterndes .
" Er meinte " , entgegnete Thomas nach einer kleinen Pause mit schwerer Zunge , " jenes dritte Reich , an dessen verschlossenen eisernen Toren wir mit demütigen Fingern klopfen , das alle diese Menschen in angstvoller Sehnsucht suchen . "
" Das also meinte er . "
Und dann wiederholte sie mehr für sich :
" Das dritte Reich ! "
Eine flüchtige Spanne Zeit standen sie sich in letztem , tiefstem Schweigen gegenüber .
" Gute Nacht , Thom " , hauchte sie endlich .
" Gute Nacht , Bettina . "
Ohne daß sie ihn zu sehen vermochte , blieb er auf dem Bahnsteig ... und als der Zug sich längst in Bewegung gesetzt hatte , schritt er auf dem menschenleeren Perron immer noch auf und nieder .
Die Beamten warfen verdächtige Blicke auf ihn , aber er sah es nicht einmal .
Er schritt gepeinigt auf und nieder .
Er konnte sich nicht von der Stelle trennen , wo er sie vielleicht zum letzten Male gesehen hatte .
Endlich klopfte ihm jemand auf die Schulter und sagte : " Ich denke , Sie sollten jetzt nach Hause gehen . "
Er zuckte zusammen , starrte den Menschen verwirrt , wie geistesabwesend , an , stammelte ein paar zusammenhanglose Worte , und sich fest auf das Geländer stützend , ging er langsam die Stufen hinab . - - - Drittes Buch Leid - Kampf I.
Auf weiße Ostern , Winterstürme und Regengüsse war ein Sonnengeflimmer und Gefunkel gefolgt , das leicht und tänzerisch über die schwarze Erde glitt , die Gräser hervorlockte , auf Bäumen und Sträuchern die Knospen wach küßte und mit seinen Strahlen die dunkle Ackerscholle durchflutete .
Aber auch die nüchternen Häuser der Stadt sahen heller aus : die kahlen Mauern schienen vergoldet von der jungen Frühlingssonne , die ihre Lichter durch die Fensterscheiben warf und liebäugelnd und sehnsüchtig , zärtlich und weich sich an alles schmiegte , was ihr in den Weg kam .
Sie glich einer Mutter , die auf Reisen gewesen und länger , als man erwartet hatte , fern geblieben war .
Leer und öde war das Haus gewesen - nun aber tritt sie über die Schwelle , und die Kinder jauchzen ihr entgegen , der Hausvater lacht über das ganze Gesicht , und sie ist doppelt zärtlich , doppelt hingebend und in sich selbst von tief freudigem Stolze , als habe sie wegen ihrer späten Heimkehr jedem etwas abzubitten .
Niemand , so glaubte Thomas Druck , konnte von dem Mysterium der Auferstehung tiefer als er erfüllt sein , niemand den Frühling aus so goldenem Becher trinken wie er ...
Sie stand im duftigen Frühjahrskostüm vor ihm , legte die Hand auf sein Haupt und sah ihn mit guten , frommen Augen an ... und alles um ihn in seiner engen Mansarde war verwandelt .
Er schritt mit ihr über Höhen und Gipfel , durchquerte Wälder und Wiesen , auf denen der Morgentau blinkte und glitzerte ; an den Büschen hingen die weißen Tropfen wie wundervolle Perlen , oder wie leuchtende Steine .
Und immer höher stiegen sie , Nebelwände hüllten sie ein , Berge und Täler verwebten sich , Bäume und Sträucher , die nur wenige Schritte entfernt waren , nahmen wunderliche Gestalten und Formen an .
Die Landschaft lag da , verzaubert , in Urzeiten zurückversetzt , die Bäche rieselten und raunten in geheimnisvollen Lauten .
Felswände , steil und jäh , taten sich vor ihnen auf , um gleich darauf im Nebel zu verschwinden ; tiefster Einsamkeit Glück durchdrang sie in dieser Stille , die etwas Ewiges hatte .
Und dann fielen die Nebel , und durch die weißen Wolken flammte die Sonnenkugel wie ein ungeahntes Gotteswunder , alles und jedes in ihr flüssiges Gold tauchend .
Und dann glitt sie langsam und leise auseinander , und das rote Gold versank allmählich in einem silberigen Strom . - - - II .
" Dieses Fräulein " , sagte Regine , " hatte etwas , das ich nie vergessen werde .
Wie seltsam , daß ich euch traf ! "
Sie griff nach den mattblauen Glaces , die sie langsam über ihre schlanken Finger zog .
" Und wie sie spielt ! " entgegnete er statt jeder Antwort .
" Es ist kein Spiel mehr , es ist etwas ganz , ganz anderes . "
Sie blickte ihn forschend an .
" Wenn ich du wäre , ich würde in sie verliebt sein .
Ich könnte mich nicht von ihr losreißen .
Sie hat etwas Lockendes , das man ergründen möchte .
Aber ich bin froh , daß du du und nicht ich bist ! "
Und dabei lächelte sie .
" Denn , nicht wahr , niemanden hast du lieb außer mir ? "
" Niemanden liebe ich so , wie ich dich liebe !
Für sie empfinde ich ganz etwas anderes .
Sie ist in mir wie meine Kindheit . "
" Denke dir , ich hatte Angst ; ich hatte Angst , sie könnte dich mir stehlen , und als ihr an jenem Sonntagabend nicht kamt , da haßte ich sie wirklich .
Ich haßte sie ... ich glaubte , sie hätte sich an mir vergangen -
denn etwas hat sie , wovor ich mich fürchte . "
Er schüttelte den Kopf .
" Du kennst sie nicht .
Hättest du sie spielen hören , dann erst würdest du sie kennen . "
"0 nein !
Ich kenne sie auch so .
Und an ihre Reinheit - " sie machte eine kleine Pause , dann wiederholte sie mit einer merkwürdigen Betonung : " an ihre Reinheit glaube ich nicht .
Sie hat etwas Teuflisches ... mit einem Worte , ich habe Angst vor ihr .
Ich glaube , sie hat ganz spitze Nägel , und könnte einem die Augen auskratzen . "
Er sah befremdet empor .
" Sie weint in sich hinein und kann niemandem etwas zuleide tun .
Und wenn sie spitze Nägel hätte , sie würde sich damit selbst wund und blutig kratzen .
Zweimal habe ich sie spielen hören , und jedesmal war es anders , ganz anders .
Man könnte beinahe sagen " , fügte er hinzu , und vermied es , Regine anzusehen , " daß sie während des Geigens nackt und ohne Hülle vor einem steht .
Das , glaube ich , ist es , was einen zwingt .
Aber dahinter steckt noch etwas , das ich nicht zu enträtseln vermag . "
" Du " , machst sie und beugte sich dicht zu ihm , " du sprichst von ihr wie von einer Geliebten ! "
Ein flüchtiges Rot überflog ihn .
" Ich spreche von ihr wie von einer Schwester , die für mich leidet .
Sie leidet , hörst du ? "
" Ich höre . "
Und nun waren sie beide ganz still .
Es wuchsen in ihnen fremde Gedanken , und in ihr tauchte etwas Feindseliges gegen ihn auf .
Aber durch alles Fremde und Feindselige hindurch fühlten sie sich nahe .
" Diese Bettina " , begann sie endlich , " wird eines Tages kommen und dich mir entreißen . "
Er sah sie so ernst , so liebend an , daß sie verstummte .
Erst nach einer geraumen Spanne Zeit meinte sie kleinlaut :
" Ich weiß , daß man den Polen nicht trauen darf , sie sind leidenschaftlich und hinterhältig , sie kennen in ihren Gefühlen keine Rücksicht . "
" Und wir ? " fragte er .
" Wie sind wir ? "
Sie wurde um einen Schatten blasser und schlang plötzlich ihre Arme um ihn .
" Wir " , flüsterte sie , " wir erfüllen unser Recht ... unser gegenseitiges Recht . "
Er hörte erstaunt auf ihre Worte , die ernst und groß klangen .
Wie merkwürdig war sie !
Er betrachtete sie mit unverhohlener Neugier .
Ihre klare , kalte Stirn , die feinen Brauen , die leuchtenden Augen , die bebenden Nasenflügel und den leise geöffneten Mund , der in sinnlichem Begehren sich zu ihm neigte , ihren schlanken Oberkörper , der sich verlangend zu ihm beugte ...
Er fühlte ihre weichen Formen trotz des Mieders , das sie einschnürte .
Was war ihr Haß gegen die Bettina anderes , als ihre Liebe für ihn ?
" Du sollst nicht so grübeln ...
Ich sehe , was in dir vorgeht .
Ich sehe alles , alles ... nichts kannst du mir verschweigen . "
" Ich kann und will es nicht . "
Und ganz unvermittelt nahm er ihr Handgelenk und drückte es ein wenig .
" Du ... was tust du ? "
Er ließ die Hand sofort los , und beide standen auf . -
Sie blickte zu ihm empor mit einem Gesicht , das etwas Lauerndes hatte , und furchtsam abwehrend brachte sie hervor : " Sage es jetzt nicht ; bitte , sage es jetzt nicht ... und sieh mich nicht so hart und streng an ... ich ertrage das nicht , du mußt mit mir lieb und gut sein ! "
Sie hatte jetzt in der Haltung etwas Scheues und Gedrücktes .
Eine krankhafte Angst lag in ihren Zügen .
Ich sehe , wie sie leidet , dachte er bei sich , und kann ihr nicht helfen .
Und laut sagte er :
" Ich kann so nicht existieren .
Du oder ich , einer von uns muß mit ihm sprechen .
Das war es , was ich dir an jenem Nachmittage ... "
" Ich weiß , ich weiß " , unterbrach sie ihn hastig , und beinahe kläglich rief sie :
" Das muß doch nicht gerade jetzt sein .
Das hat doch noch Zeit . "
" Nein " , antwortete er fest , " es hat keine Zeit . "
" So ... so ... " machte sie , und ein nervöses , irres Lächeln huschte über ihre Miene .
Dann krampfte sie die kleinen Hände zusammen und trat dicht vor ihn hin .
" Ich finde das überhaupt zwecklos !
... Wozu soll ich ihm das sagen ?
Warum soll ich ihn in solche Verzweiflung bringen ?
Denn dieser Mensch , mußt du wissen , liebt mich - er liebt mich " , wiederholte sie noch einmal , " obgleich er mir widerwärtig ist .
Er ist dankbar wie ein Hund , wenn ich ihn nur gut ansehe ... "
Und ohne auf das entsetzte Gesicht Thomas Drucks zu achten , fuhr sie ein wenig gereizt fort :
" Ich sehe überhaupt in der ganzen Geschichte keinen Zweck ... er weiß , wie ich zu ihm stehe , und du ... du ... " sie brach mitten im Satze ab und nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände .
" Thomas , sei gut ! "
Ihre Miene wurde sanft .
" Quäle mich nicht ... du sollst mich nicht quälen . "
Aber als sie ihn nun anblickte , ließ sie erschreckt ihre Arme fallen .
Er sah aus wie an jenem Abend , wo er wie ein verstörter und gehetzter Heiliger ihr Haus verlassen hatte .
An den Schläfen und an dem Halse traten die Adern bläulich hervor , und über der Nasenwurzel hatten sich tiefe Falten gebildet .
Sie bekam Furcht vor ihm und wich ein paar Schritte zurück .
Aber dann schielte sie wieder neugierig zu ihm hinüber , und sie fühlte , wie sein Zorn ihre Leidenschaftlichkeit und Liebe steigerte .
Eine ihr fremde Lust durchdrang sie .
Was ist mein ganzes bisheriges Leben wert ... kostet es mich wirklich eine Überwindung , alles von mir zu werfen ?
... Und wieder blinzelte sie zu ihm hinüber , und wieder empfand sie diese ihr fremde Wonne , die seine starke Empfindung und seine mutige , alles Jämmerliche und Feige zurückweisende Liebe in ihr auslöste .
Er wandte sich , ohne zu sprechen , von ihr ab , und einen Augenblick schloß sie wie beseligt die Augen .
Sie ging auf den Fußspitzen behutsam zur Tür , die sie vorsichtig öffnete .
Dann sagte sie kaum hörbar :
" Ich werde alles tun , was du willst ; ich werde mit ihm sprechen . "
Bevor er noch etwas erwidern konnte , war sie verschwunden .
III.
Am Schlusse des zwölften Briefes klappte Fründel das Buch zu .
Es waren Montesquieus " Lettres persanes " .
" So , es ist genug für heute " , sagte er und faßte sich an den Kopf , der ihm weh zu tun schien .
Die Ingolf nickte stumm .
Er lehnte sich an die Sofalehne und sah das Fräulein mit halb zugekniffenen Augen an .
Sie zog ein silbernes Zigarettenetui aus der Tasche , versah sich und reichte es dann ihm .
Beide rauchten eine Weile , ohne miteinander zu sprechen .
" Die Briefe sind ja ganz nett " , meinte Fründel endlich , " und für damals von gepfefferter Ironie .
Heute aber wirkt diese Kritik bereits etwas süßlich , sie geht nicht an das Grundübel , sie hat nichts reformatorisch Niederreißendes . "
Die Ingolf lachte .
" Reformatorisch-niederreißend ist wenigstens neu im Ausdruck , wenn auch nicht ganz logisch und verständlich . "
Er fuhr mit Zeigefinger und Daumen von den Schläfen bis zu den Backen herunter :
" Daran ist nichts Lächerliches und nichts Unlogisches .
Niederreißen und niederreißen ist zweierlei .
Wenn ich weiß , was ich an die Stelle des Zerstörten setzen will , so hat eben meine Vernichtungsarbeit bereits etwas Positives .
Ich denke , das ist klar . "
Die Ingolf senkte die Augen .
Er hatte etwas in seiner Festigkeit , das sie bestrickte und verwirrte .
Sie wehrte sich gegen ihn und fühlte , wie sie dabei wund wurde .
Er hatte die Gewohnheit , sie so durchdringend und unverschämt anzusehen , daß sie jedesmal in Verlegenheit geriet .
Sie hatte versucht , seinem Blick zu trotzen , ihn auszuhalten - es war aber vergebens gewesen .
Dieser Mensch hatte etwas Eisernes , Unbeugsames .
Nichts irritierte ihn .
Niemals kam seine Selbstsicherheit ins Wanken .
" Ich glaube " , sagte sie schüchtern , und der Ton ihrer Stimme klang weich , " daß unglückliche Zufälle in Ihnen so viel Bitterkeit und Widerstandsgeist entfacht haben ; ich könnte mir denken , daß Sie unter besseren Lebensbedingungen mit Ihrem Verstände und Ihrer Arbeitskraft - denn niemals " , setzte sie hinzu , " habe ich einen Menschen gesehen , der so arbeiten kann - ein ernster Forscher und Gelehrter geworden wären , sozusagen eine Leuchte der Wissenschaft . "
Als sie nach diesen Worten zu ihm aufschaute , lächelte er mitleidig , mitleidig oder niederträchtig , sie wagte es nicht zu entscheiden .
In jedem Fall drückte sein Gesicht wieder seine hochmütige Überlegenheit aus , vor der sie sich fürchtete .
Ich bin ihm an Bildung und Kultur bei weitem überlegen , und dennoch zwingt er mich nieder , wie sehr ich mich auch sträube .
Er zwingt mich wie ein Reiter , der dem sich aufbäumenden Tier die Sporen in die Weichen drückt .
" Warum weisen Sie alles , was ich sage , so ... so ... " - sie suchte nach einem passenden Ausdruck - " so unduldsam zurück ? "
" Tue ich das ? "
" Ja " , sagte sie , und die Röte schoß in ihr Gesicht .
" Hm , ich kann eben nicht schwindeln , und ich kann mich nicht wie Sie mit Gefühlen aufhalten , den Luxus erlauben mir meine Mittel nicht .
Ich möchte Ihnen nur erwidern , daß ich in jeder Lebenslage nach dem Gesetze meiner geistigen Anlage mich so entwickeln mußte , wie es tatsächlich geschah .
Ich konsolidiere , wenn ich es so nennen darf , die mir angeborene Art meines Denkens durch Arbeit und Studium .
Ich suchte und suche nach der verstandesgemäßen und wissenschaftlichen Begründung dessen , was von Anbeginn in mir war .
Ich betrachte es als das einzige Glück meines Daseins , daß ich diese Begründung fand und so , wie Sie es ausdrücken , in meiner Selbstsicherheit wachsen konnte . "
Sie schlug die Augen groß auf .
" Das war das einzige Glück Ihres Daseins ?
Das einzige ? " wiederholte sie , und bei dieser Frage drückte ihr kluges Gesicht eine tiefe Bangigkeit aus .
" Der Ausdruck » Glück « war schon sehr dumm und gefühlsselig obendrein .
So etwas gibt es ja gar nicht .
Nur schwachsinnige Kreaturen konnten in ihren Einbildungen ... "
" Nein , nein " , wehrte sie ab .
" Ich will das nicht weiter hören .
Sie sollen mit ihrer Verneinungswut nicht alles in einem zerstören .
Ich bin nicht solch ein Übermensch , daß ich ohne alle die Dinge leben könnte .
Mir ist Empfindung und Gefühl eine innere Herzenssache .
Ich fürchte mich vor Ihnen ! "
" Vor mir ? "
Sie gab ihm keine Antwort und wandte sich scheu von ihm ab .
" Sehen Sie mich Mal an , Fräulein ! "
" Weshalb ? "
" Ich möchte , daß Sie mich jetzt ansehen . "
" Gut. Ihr Wille ist mir Befehl ! "
" Ich befehle niemandem , ebensowenig wie ich mir befehlen lasse .
Ich bin für äußerste Freiheit in allen Konsequenzen .
Aber davon wollte ich nicht reden .
Ich will wissen , was sie mir noch sagen wollten , denn Sie hatten noch etwas auf dem Herzen und auf der Zunge " , fügte er spöttisch hinzu .
" Woher wissen Sie das ? "
" Ich weiß es , weil ich Sie kenne .
Es ist nicht weiter schwer , in Ihnen zu lesen ! "
" Das ist ein wenig unverschämt ! "
" Und trotzdem ist es wahr .
Was wollten Sie also noch sagen ? "
Sie überlegte eine kleine Weile und kämpfte mit sich selbst .
Dann atmete sie tief auf .
" Meinethalben !
Ich wollte nur bemerken " - sie wich dabei seinem Blick aus - " daß auch ein Mensch wie Sie sich selbst belügen kann .
So empfindungsleer , wie Sie vorgeben , scheinen Sie mir denn doch nicht zu sein .
Sie würden sonst schwerlich - "
Sie stockte und hörte mitten im Satze auf .
" Bitte , weiter sprechen , was würde ich sonst schwerlich ?
Man hört nicht mitten in der Anklage auf ; das ist feig , mein Fräulein ! "
Sie lachte herb auf .
" Sie haben eine famose Art , mit einer Frau zu verkehren .
Sie legen einem beständig Blutegel an !
Sie verstehen es von Grund aus , einen zu schröpfen , Herr Mechaniker Fründel !
Im übrigen kann ich es Ihnen ... ich meine , Ihr Verhältnis zur Josefa widerlegt Sie selbst . "
Er verschränkte die Arme und entgegnete langsam :
" In Ihrer Ausdrucksweise liegt ein kleiner Irrtum .
Sie meinen das Verhältnis Josefas mit mir !
Das wäre logisch , wenn Sie das meinten .
Ich habe zu dem Wesen kein Verhältnis ... wenigstens nicht mehr - aber es ist richtig , daß sie es zu mir hat .
Dafür kann ich nichts , das ist ihr Pech ! "
" Verzeihen Sie , es lag mir ganz fern , in Ihre persönlichen Angelegenheiten eingreifen zu wollen . "
" Das tun Sie gar nicht !
Es ist mir indessen lieb , die Geschichte aufzuklären .
Ich kann Sie nicht zwingen , mich anzuhören , aber es wäre mir lieb , wenn Sie es täten . "
Sie entgegnete darauf nichts .
Er nahm das als ein Zeichen des Einverständnisses auf , legte die linke Hand auf das Kinn und begann :
" Es ist richtig , daß ich ihr eine Zeitlang nachgestellt habe , es ist richtig , daß ich in sie vernarrt war und sie auf Schritt und Tritt verfolgte .
Es ist wahr , daß sie anfangs von mir nichts wissen wollte und vor mir geflohen ist .
Aber dann erreichte ich das " , sagte er langsam , " was ich damals erreichen wollte und erreichen mußte ; denn es war ein Wille in mir , der mich dazu trieb " , fügte er in doktrinärem Tone , gleichsam erklärend , hinzu .
" Und wie das so kommt " , fuhr er fort , " wie sie einmal in dem Netze war , wollte sie nicht mehr heraus .
Als ich den Käfig öffnete , bedankte sich der Vogel bestens für die Freiheit .
Dieses war mein Pech , Fräulein Ingolf .
Und nun kam die Geschichte umgekehrt .
Jetzt macht sie Jagd auf mich .
Sie bildet sich in Bezug auf meine Person ein Besitzrecht ein , zu dem nicht der mindeste innere Grund vorliegt .
Sie wirtschaftet mit vorsintflutlichen Begriffen , die für mich unerträglich sind .
Sie bewegt sich in Anschauungen von Treue , die allenfalls für Hintertreppenromane ausreichen .
Dieses Wesen " , setzte er geärgert hinzu , " macht in ekelhafter Weise Besitzrechte geltend ; sie bildet sich ein , einem Menschen , der mit ihr fertig ist - ich bin nämlich mit ihr fertig , absolut fertig , seine Freiheit nehmen zu können .
Und in dem einen haben Sie vollkommen recht , es ist in mir ein Rest von Gefühlsduselei und Schwäche , wenn ich nicht kurzen Prozeß mache . "
Die Ingolf war zuerst sprachlos .
" Sie sind ein Übermensch oder ein Unmensch " , brachte sie mühsam hervor .
" In keinem Falle sind Sie mir verständlich .
Sie gestehen selbst zu , daß Sie diese arme Seele wie ein Wild gehetzt und vor den Schuß gestellt haben , und nun passiert das , was nicht selten vorkommt , daß der besiegte Teil sich mit ganzer Inbrunst und Hingabe vertrauensvoll und demütig an den Stärkeren anklammert , ihm alles gibt , was er besitzt , ja , noch mehr , sich selbst ohne Rest aufgibt - und was tun Sie ? "
In ihren Augen flackerte bei diesen Worten etwas wie Empörung .
Die Ingolf sprach nicht mehr für Josefa , sie sprach für sich , für ihr ganzes Geschlecht .
Die Frau in ihr war aufrührerisch geworden .
" Was tun Sie ? " wiederholte sie .
" Sie trinken den Becher aus , bis Sie nicht mehr weiter können , und werfen ihn dann zur Erde , daß er in tausend Scherben zerklirrt .
Das finde ich gemein , das finde ich niederträchtig !
Gibt es denn gar nichts , wovor die Rücksichtslosigkeit , die brutale Lebenskraft halte macht ?
Ist die Treue wirklich ein so antiquierter und sinnloser Begriff ? "
Er hatte ihr ruhig zugehört , ohne daß auch nur ein Zug in seiner Miene sich änderte .
" Sind Sie fertig ? " fragte er höhnisch , " und gestatten Sie mir , zu antworten ? "
Die Ingolf stützte sich auf eine Stuhllehne , ihre Brust hob und senkte sich , ihr gesundes Gesicht war blaß geworden , und aus den Poren der Stirn drang ihr ein feiner Schweiß .
" Ich bin wirklich neugierig , was Sie mir darauf erwidern können , ich bitte darum ! "
" Sie haben mir die Sache leicht gemacht , Sie haben selbst , wenn ich Sie zitieren darf , in einer kräftigen Tonart , für die ich Ihnen unbedingt Dank schulde , etwa gesagt : Sie kneipen , bis Sie nicht weiterkneipen können .
Ja , verlangen Sie denn , meine verehrte Dame , daß jemand , wenn er noch einen Rest von klarer Erkenntnis hat , und wenn ihm bei seinem Gelage die Übelkeit bereits ankommt , sich trotzdem zu Tode sauft ?
Er hört eben auf , wenn er nicht weiter kann ; er hört auf , wenn er kein Narr und Idiot ist .
Auf das " Können " läuft es hinaus .
Und genau so , aber genau so soll der Mann die Frau und die Frau den Mann genießen ; wenn sie nicht weiter » können « , so sollen sie gescheiterweise aufhören .
Tun sie es nicht , so sind sie entweder hündische Sklavenseelen , für die die Peitsche noch zu gut ist , oder sie sind geisteskrank !
Und was Sie da von Treue faseln , ist in diesem Falle nichts weiter als die Formel für den geistigen Verfall .
Aber ganz abgesehen davon hat Ihre Treue etwas höchst Unmoralisches und Unästhetisches .
Wenn ich nicht irre " , schloß er akademisch , " sind die Beziehungen von Mann und Weib von außerordentlicher Delikatesse , und wenn hier jemand wider sein eigenes Innere , dem lieben Philister und dem anderen Teile zu Gefallen , Treue übt , so ist das etwas ... etwas ... geradezu Widerwärtiges .
Und Ihre Treue bekommt hier eine Wertung , auf die ich jetzt aus bestimmten Gründen nicht näher eingehen will , nur soviel sage ich , diese ganzen faulen Ehen sind auf dem schiefen und unlogischen Begriff der Treue aufgebaut - das ist ein feiner Punkt , meine Dame !
Jesuitenmoral im schlimmsten Sinne !
Ich verlange dagegen unbedingte Freiheit !
Sie sehen an dem einen Exempel , wenn sie es genau nachrechnen , daß die Unfreien schlimmer als die Straßendirnen sind , sie prostituieren sich und gestehen es nicht einmal ein .
Sie lügen mit frechen Stirnen und losen Mäulern - dieses wenigstens ist meine Ansicht ! "
Sie hatte ihm mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört , und tieftraurig entgegnete sie :
" In allem , was Sie sagen , gibt Ihnen mein Verstand recht , und mein Herz und mein Gefühl wehren sich gegen Sie .
In Ihnen ist so wenig Güte - in Ihnen ist nur Härte ! "
" Glauben Sie ? " fragte er , und für einen flüchtigen Augenblick leuchtete es in seinen schmalen Augen auf .
Sie sah ihn ganz betroffen und beinahe erschreckt an .
Was war das ?
Er schien zu ahnen , was in ihr vorging ; denn , gleichsam erklärend , fuhr er fort : " Ich habe diese Josefa eine Weile geliebt auf meine hartnäckige Art .
Ich habe sie wirklich gern gehabt , und damals hatte ich unablässig nur den einen Gedanken , ich müßte sie besitzen .
Ich müßte sie erforschen , ich müßte Herr über sie sein .
Darum war mir es ernst .
Kann ich nun wirklich dafür , daß auf meinen Rausch - es war nämlich etwas wie ein Rausch - so schnell bei mir die Ernüchterung folgte , während sie , sozusagen , Blut geleckt hatte und immer wilder und versessener wurde ?
Wenn ich wirklich jemandem ein Recht einräumte - was übrigens gänzlich ausgeschlossen ist - über die Sache zu urteilen , könnte er mir ernsthaft daraus einen Strick drehen , daß meine Verliebtheit aufhörte , daß der innere Gehalt dieses Menschen , der nur aus leidenschaftlichem , sinnlichem Begehren besteht , mich enttäuschte ?
Gewiß nicht !
Also , was wollen Sie eigentlich ? "
" Ja , war denn nicht " , fragte sie nach einer langen Weile stockend und langsam , " gerade das sinnliche Begehren der Kitt , der sie beide zusammenhielt , lag nicht von vornherein gerade hierin die Ursache Ihrer eigenen heftigen und schrankenlosen Wünsche ?
Haben Sie nicht um dessentwillen diese Seele aus ihrer Bahn gerissen , ohne Rücksicht auf die Zukunft ? "
" Ich leugne das nicht .
Ich leugne nicht , daß ich ein Mensch aus Fleisch und Blut bin .
Ich kasteie mich nicht , verstehen Sie !
Zum Teufel noch einmal , ich bin jung und will meine Jugend genießen !
Auch der Vorwurf trifft mich also nicht ; nämlich " , warf er hin , " wir leben alle in einer Gesellschaft erbärmlicher Wichte .
So ein freier Mensch im Denken und Handeln wie Goethe soll nur erst wieder geboren werden .
Kennen Sie die Wahlverwandtschaften ? "
Sie nickte .
" Erinnern Sie sich an die Stelle , wo der Vorschlag der Ehe auf Kündigung gemacht und begründet wird ? "
" Dunkel " , entgegnete sie .
" Im übrigen sind die Ausnahmegesetze nur für die Ausnahmemenschen da .
Was Goethe sich leisten konnte , berechtigt einen anderen Sterblichen noch lange nicht zum gleichen Handeln . "
Seine Lippen kräuselten sich hochmütig .
" Das sind für mich Weibergespinste !
Ich habe menschlich die gleichen Rechte , die der Höchststehende hat , oder , richtiger und korrekter ausgedrückt , ich habe die Rechte , die ich mir selbst nehme und zuerkenne .
Sie gestatten , daß ich aus meiner Bibel zitiere : » Fort denn mit jeder Sache , die nicht ganz und gar meine Sache !
Ihr meint , meine Sache müßte wenigstens die gute Sache sein ?
Was ist gut , was böse ?
Ich bin ja selber meine Sache , und ich bin weder gut noch böse .
Beides hat für mich keinen Sinn ... Mir geht nichts über mich ! « "
Er machte eine Pause .
Dann nahm er plötzlich ihr rechtes Handgelenk .
" Nämlich , Sie irren , wenn Sie annehmen , daß ich diese Worte , die ungeheuer gedankenschwer sind , so mir nichts dir nichts hinplärre .
Als ich ihren letzten und tiefsten Sinn begriffen hatte , da kannte ich sie auswendig , da waren sie das Nachtgebet , mit dem ich einschlief , das Morgengebet , mit dem ich aufwachte . "
Und den Zeigefinger der freien Hand emporhebend :
" Sie dürfen es mir glauben , daß das keine Kleinigkeit ist ! "
" Bitte lassen Sie mich los , ich fürchte mich vor Ihnen ! "
Er gab auf der Stelle ihre Hand frei , nahm seinen Hut , und ohne ein Wort des Abschieds ging er aus der Tür .
Die Ingolf preßte das Gesicht an die Fensterscheiben und wartete , bis er aus dem Hausflur trat .
Sie sah seinem Schatten nach ; und als er längst entschwunden war , starrte sie , wie betäubt , in die Straße hinaus .
IV.
" Sehr geehrter Herr !
Ich erwarte Sie in meinem Büro in der Französischen Straße zwischen zehn und elf .
Nennen Sie bei dem Portier Ihren Namen und fragen Sie gefälligst nach mir .
Hochachtungsvoll Berg . "
Als Thomas diese Zeilen las , atmete er wie befreit auf .
Also sie hatte doch gesprochen , so bitter und schwer es ihr gefallen sein mochte .
Ihm bangte nicht vor dieser Auseinandersetzung .
Wohl regte sich sein mitleidiges Empfinden ; aber stärker in ihm war der Drang nach Klarheit und das Gefühl des Glücks , das ihn durchflutete ...
Lange vor der angesetzten Zeit stand er vor dem Portal eines palaisartigen Hauses .
Menschen kamen und gingen hinein .
Alle , wie Thomas meinte , mit bedeutsamen Mienen .
Der oder jener trug noch in der Hand Rollen Goldes , oder er zählte noch einmal die empfangenen Scheine nach .
Ihm kam das ganze Treiben verächtlich vor .
Darum dreht sich alles bei ihnen , und davor beugen sie sich unterwürfig .
Wie kann sich das ganze Leben der Menschen nur in der einen Richtung bewegen ?
Es war ekelerregend und widerlich .
Und wenn sie bei diesem ewigen Graben , das alles Bessere in ihnen verzehrte und alles Vergängliche und Niedrige in ihnen auslöste , wirklich auf Gold stießen , so war es im Grunde gar kein Gold , sondern es waren Regenwürmer , gemeine Regenwürmer .
Nur in ihren Wahnvorstellungen waren die armen Seelen reich !
Er trat mit festen Schritten durch das Portal und passierte zunächst einen großen , saalförmigen Raum , wo hinter rotpolierten Schaltern eine Unmenge von Beamten an ihren Pulten arbeitete .
Beständig kamen Menschen , die Geld brachten oder holten .
Die Kassierer zählten das rollende Geld und Haufen von Bankscheinen mit einer Geschwindigkeit ab , die erstaunlich war .
Thomas stand mitten in dem Saal und betrachtete die ihm fremde Welt .
Eine bucklige Dame verhandelte eifrig mit einem Beamten darüber , welche Papiere man jetzt kaufen müßte .
Eine auffallend gekleidete Person , ganz mit Brillanten behangen , deponierte ein Bündel Tausendmarkscheine .
Sie wurde mit außerordentlicher Höflichkeit behandelt .
Thomas hörte ihren Namen , der dem einer bekannten Schauspielerin gleich klang .
Geschäftsleute ließen ihre disponiblen Gelder eintragen .
Hohe Beamte holten sich ihre Zinsen .
Ein General in Uniform , mit einem finsteren , nachdenklichen Gesicht , kurz geschorenem , pfeffergrauem Haar und einem weißen Schnauzbart , hob an der Kasse eine verhältnismäßig große Summe ab .
Dann verließ er mit gemessenen Schritten den Raum .
Der Beamte , der ihm das Geld gegeben hatte , tuschelte mit einem Kollegen ein paar Worte .
Thomas stand verwirrt und wie benommen in dem Gedränge .
Eine flüchtige Weile hatte er den Zweck seines Kommens vergessen .
Einen jungen Menschen fragte er schüchtern nach dem Zimmer des Direktors .
" Der Direktor ist um die Zeit für niemanden zu sprechen " , bekam er in grobem Ton zur Antwort .
Der Beamte warf einen verächtlichen Blick auf ihn und eilte weiter .
Jetzt erinnerte sich Thomas , daß er sich beim Portier melden sollte .
Er ging wieder zum Eingang zurück und wandte sich an einen großen , herkulisch gebauten Mann mit einem langen , wohlgepflegten Vollbart .
" Ich möchte zu Herrn Direktor Berg " , begann er beklommen .
Der Portier tat so , als ob er nichts gehört hatte .
Er sah in die Luft .
Wie behandeln einen diese Menschen , dachte Thomas , und der Unwille stieg in ihm auf .
" Sind Sie der Portier der Bank ? " schrie er mit lauter Stimme und in herausforderndem Tone .
" Der bin ich .
Was wünschen Sie von mir ? "
" Ich wünsche Direktor Berg zu sprechen . "
" Sie sind wohl nicht von hier ? "
Der Portier machte eine Bewegung nach der Stirn .
Thomas nahm eine kerzengerade Haltung an .
Die Geschichte begann ihn jetzt zu belustigen .
" Sie werden sich Unannehmlichkeiten zuziehen .
Der Direktor erwartet mich ! "
" Sind Sie etwa Herr Tr... "
" Allerdings .
Mein Name ist Druck . "
In dem nämlichen Augenblick war die Haltung des Portiers vollkommen verändert .
" Sie entschuldigen " , sagte er ganz verstört .
" Ich hätte mir das nicht träumen lassen " fügte er naiv hinzu .
" Um Gottes Willen , Sie werden mich doch nicht ...
Der Direktor hat mir ausdrücklich den Auftrag gegeben , sobald Sie kämen , niemanden vorzulassen ... das ist ja ein ... "
Er nahm die Mütze ab , die er nicht mehr aufsetzte .
" Ich bitte sehr - "
" Es fällt mir gar nicht ein " , entgegnete Thomas ; " führen Sie mich jetzt hinauf , oder sagen Sie mir ... "
Der Portier schritt voran .
In einem eleganten Vorzimmer , dessen Fußboden mit Perser Teppichen bedeckt war , machte er halte .
" Ich bitte hier einen Moment zu warten " , murmelte er in lakaienhafter Stellung .
Thomas nahm auf einem der Fauteuils Platz .
Aber schon nach wenigen Sekunden kam ein Diener und bat ihn , näher zu treten .
Er mußte mehrere Zimmer passieren ; in jedem saßen Leute und warteten .
Er fühlte , daß er etwas unruhiger wurde , und daß es in seinen Pulsen heftiger zu klopfen begann .
Dennoch gab er sich gewaltsam den Anschein äußerer Ruhe - und jetzt stand er Berg gegenüber .
Das fette Gesicht des Bankiers sah blaß und bekümmert aus .
Die Backen hingen ihm schlaff und lappig herunter , nur um die wulstigen Lippen spielte ein gequältes Lächeln .
" Bitte , wollen Sie sich setzen " , sagte er und wies auf einen Sessel .
" Ich will Sie nicht lange aufhalten .
Ich ... meine Frau ... nun , Sie wissen , um was es sich handelt . "
Thomas nickte .
" Die Geschichte ... " stotterte er mühsam weiter , " mit einem Wort , ich will um keinen Preis einen Eklat - um keinen Preis ! "
Die Tür wurde geöffnet .
" Herr Direktor - " aber der Diener kam nicht weiter .
" Ich bin jetzt für niemanden zu sprechen ! "
Der Diener verschwand eiligst .
" In meiner Stellung " , fuhr er fort , " würde das etwas peinlich sein ... " - er stockte wieder - " selbst wenn ich über diese äußeren Dinge hinwegkäme , so würde ich doch nicht ...
Glauben Sie denn , daß ich mir mein ganzes Leben ruinieren will ? " unterbrach er sich , und sein Ton war auf einmal zornig geworden .
Auch Thomas' hatte sich eine heftige Erregung bemächtigt .
Er fühlte nicht mehr das leiseste Mitleid mit ihm .
Ja , er empfand deutlich , daß er ihn haßte .
Er will sie nicht freigeben , er will sie an sich ketten , dachte er ; er will mit ihr wider ihren Willen leben - das ist einfach gemein , schloß er für sich selbst .
Das ist nichts weiter , als die Moral des reichen Mannes , der mit seinem Golde alles kaufen zu können wähnt , der sich Liebe kaufen will ...
Das ist Schacher , niederträchtiger Schacher !
Aber bevor er antworten konnte , war Berg aufgestanden und dicht vor ihm hingetreten .
" Sie sollen mich nicht mißverstehen " , sagte er , und in seiner unterwürfigen Art , hinter der Thomas die Angst lauern sah :
" Bitte , lassen Sie mich erst aussprechen !
Ich begreife , daß ein junger Mensch wie Sie in diese Frau sich verliebt , und ich begreife auch Regine , obwohl es mir " , setzte er nachdenklich hinzu , " verwunderlich ist , daß sie gerade auf Sie verfallen ist .
Aber - das gehört ja nicht zur Sache . "
Er nahm seine Uhr und blickte nervös und gedankenlos auf das Zifferblatt .
" Um es kurz zu machen " - seine Stimme dämpfte sich und wurde kaum hörbar - " ich will nichts von den Dingen wissen ... "
Bei diesen Worten hatte er sich abgewandt und Thomas ' Augen gemieden .
" Ja , was soll denn das heißen ? " fragte Thomas verblüfft , ohne zu begreifen , was der Bankier eigentlich meinte .
Berg drehte sich um .
Sein Gesicht war fleckig , kreidig und in Furchen gezogen .
Alle Lebenskraft war daraus geschwunden .
Er sah jetzt alt und elend aus .
" Was das heißen soll ? " fragte er bebend .
" Das soll einfach heißen , daß ich diese Frau , die mich schändet und vor aller Welt lächerlich macht - ja lächerlich " , wiederholte er noch einmal , " daß ich von dieser Frau nicht lassen kann ; daß ich nicht will , daß die Spatzen mein Unglück von den Dächern pfeifen , daß ich so unverschämt bin , für all den Gram , den Sie beide mir antun , als Äquivalent etwas Rücksicht zu beanspruchen ! "
Thomas war sprachlos .
Jetzt erst verstand er , was man eigentlich von ihm wollte .
Der Mensch mutete ihm zu , unter seinen Augen der Geliebte seiner Frau zu sein !
Alles in ihm empörte sich .
Er wollte aufbrausen , aber es war ihm , als ob ihn jemand an der Kehle würgte .
Er machte ein paarmal vergebliche Versuche , einen Laut hervorzubringen , aber es schien ihm , als ob seine Zunge plötzlich schwer und bewegungslos geworden wäre .
Auch der Direktor kam ihm so entsetzlich verändert vor , so zusammengeschrumpft , so gedrückt und geduckt , so zitterig und welk .
Endlich fühlte er , wie der Druck von ihm wich .
" Das kann doch nicht Ihr Ernst sein " , stammelte er .
" Das kann doch nur ein schlechter Spaß sein , den Sie sich mit mir erlauben ! "
Der Mann lächelte ; aber dieses Lächeln hatte etwas Erschütterndes und Irres , alle Verzweiflung und Sorge lag in ihm .
Er schwieg eine unverhältnismäßig lange Zeit .
" Sie können sich eben nicht vorstellen " , sagte er endlich , und es klang wie eine Entschuldigung , " daß man von einem anderen , daß man von einer Frau besessen sein kann , und daß dann alle Willenskraft in die Winde geht .
Nun gut , Sie können sich das nicht vorstellen " - er sprach jetzt rasch und sich förmlich überstürzend - " aber es ist so , ich bin von dieser Frau besessen , sie hat mich ... und ich kann mich nicht rühren .
Finden Sie das meinethalben verächtlich !
Ich begreife das , sehe es vollkommen ein - aber geändert wird damit nichts an der Geschichte !
Was ich Ihnen sage , ist mir absolut ernst ; ich bin nicht in der Stimmung , um Witze zu reißen !
Im übrigen dränge ich Sie zu keiner Antwort . "
Er sah wieder auf die Uhr .
" Meine Zeit ist um !
Es kam mir nur darauf an , Ihnen meinen Standpunkt klarzulegen .
Wenn Sie gescheit sind , so stellen Sie sich auf die einzige Basis , die jetzt noch möglich ist .
Es ist ja genug " , schrie er gereizt , " wenn ich mich so von Ihnen beiden behandeln lasse !
Sie behandelt mich ja wie einen Hund ... wissen Sie , was das heißt ? " ...
Er nahm wieder eine straffere Haltung an .
Die ganzen Erniedrigungen und Demütigungen schien er in dieser Stunde noch einmal durchkostet zu haben , nun flackerte sein Mannesbewußtsein auf .
Er reichte Thomas zum Abschied die Hand , die dieser nicht berührte .
Er verbeugte sich vor ihm steif und feierlich .
Das ganze kam ihm wie eine ungeheuerliche Äquilibristenszene vor .
Das Vorzimmer , durch das er trat , war gedrängt voll .
Stundenlang warteten hier einflußreiche Leute , um nur eine Minute mit dem Direktor der Bank konferieren zu können .
Man sah Thomas mit feindseligen und verwunderten Blicken an .
Man begriff nicht , was dieser junge Mensch da drinnen zu tun gehabt hatte .
Thomas schritt verwirrt und gesenkten Hauptes hinaus .
Alles kam ihm lächerlich und verzerrt vor .
Auf der Straße nahm er einen Wagen und befahl dem Kutscher , im schnellsten Tempo nach der Lichtenstein-Allee zu fahren .
Während der Fahrt drehte sich in ihm alles .
Er wußte nur das eine , daß es zu einer reinlichen Entscheidung kommen mußte .
Wenn mir mein Kopf nicht springt , so ist das ein Wunder , kalkulierte er .
Er verließ die Droschke , ohne zu zahlen .
Der Kutscher brüllte hinter ihm her .
Er gab ihm einen Taler , ohne sich herausgeben zu lassen .
Der Mann schüttelte den Kopf .
Er hielt seinen Fahrgast für verrückt .
Dann aber stieg er eilig auf den Bock und jagte davon .
Die gnädige Frau war nicht zu Hause .
Sie hatte auch nicht hinterlassen , wann sie wiederkommen würde .
Eine Minute später stand er wieder auf der Straße. V .
" Die Dame war hier " , sagte die Wirtin .
" Eine volle Stunde hat sie gewartet .
Sie hat in Ihrem Zimmer einen Brief ... "
" Es ist gut " , erwiderte er und schob sie unfreundlich beiseite .
Er riß das Kuvert auf , und ein Billett zum Wintergarten fiel ihm entgegen .
Sie hatte nur einen Satz hinzugefügt :
" Ich erwarte , daß du kommst .
Regine . "
Was soll denn das bedeuten ? fragte er sich .
Wie herrisch das klang !
Die gnädige Frau befiehlt ihrem Lakaien .
Er empfand etwas Stechendes in der Herzgegend .
Orchesterloge Nummer 2 , las er auf dem Billett .
Die Schamröte stieg ihm ins Gesicht .
Sie kauft für mich Orchesterloge , sie hält mich frei , dachte er .
Hat sie denn gar kein Gefühl dafür , daß das taktlos ist ?
Er kam in eine Art von Wut .
Aber bald erfüllte ihn eine tiefe Bitterkeit .
Was bin ich für ein Narr , fuhr er sich an .
Das sind am Ende bereits die Ergebnisse des zwischen ihr und ihrem Gatten geschlossenen Vertrags ... sie machen mich zum offiziellen Liebhaber ... sie bezahlen meine Dienste .
Bei dieser letzten Erwägung faßte er sich an den Kopf . Habe ich das verdient ? Habe ich mich so lumpenhaft benommen , daß man in der Weise mit mir umspringen zu können glaubt ?
Aber sofort vergaß er alles , was auf seine Person Bezug hatte .
Er dachte nur an sie ...
War sie das wirklich ?
... sie ... sie , die hier in seiner Mansarde gewesen war und ... er konnte es nicht zu Ende denken ... vielleicht war es nur ein schlechter Scherz ... vielleicht waren es gar nicht ihre Schriftzüge .
Und noch einmal nahm er den Briefbogen , der aus holländischem Büttenpapier war , in die Hand .
Es war keine Täuschung möglich .
So schrieb nur sie , so steil , so senkrecht .
Aber konnte es nicht sein , daß er den ganzen Coup ersonnen und ihr den Wisch diktiert hatte ?
Ihm war , als ob plötzlich eine Binde von seinen Augen gefallen wäre .
So war es - nicht anders !
... Der Herr Bankdirektor stellte jetzt die Programme zusammen - um der Leute Willen ... und um den Eklat zu vermeiden .
" Eklat " , das war ja das Wort gewesen , an das dieser Mensch sich geklammert hatte !
Er wollte die Liebenden begleiten , um mit unterwürfiger Miene ihre Blicke einzufangen , die sie sich gegenseitig zuwarfen ; wie ein Hund kam er ihm vor !
Es gab ja solche Naturen , deren Liebe wuchs , je mehr sie erniedrigt wurden .
Er stand plötzlich vor dem Spiegel , der seine verzerrten Züge wiedergab .
Er wandte sich erschreckt ab .
Was ist aus mir geworden , dachte er .
In was für schiefen Gängen bewege ich mich ?
Und auf einmal stand sie dicht neben ihm .
Er sah sie deutlich greifbar - ihre sehnsüchtigen , dunklen Augen , ihre blassen , durchsichtigen Züge - und alle Bitterkeit wich von ihm .
Er fühlte , wie sie ihre Hand auf ihn legte , und wie er schwach und willenlos wurde , weich wie ein Kind .
Er riß sich gewaltsam aus diesem Zustande .
Ist es nicht etwas Furchtbares , fragte er sich , und dabei nahm sein Gesicht einen tüftelnden und nachdenklichen Ausdruck an , daß die beste Empfindung einen derartig herunterzieht ?
Was ist die Liebe wert , die einen zertrümmert oder aus den Angeln hebt ?
Wie kann man einem anderen solchen Einfluß auf sich einräumen , daß man selbst zu sein aufhört ?
Er verglich sich plötzlich mit Berg .
Begann er nicht bereits die nämliche Rolle zu spielen ?
Er wurde kommandiert wie jener und beugte sich bereits .
Nein , ich werde nicht hingehen , sagte er ganz laut zu sich selbst .
Ich werde mich nicht unter mich selbst zerren lassen .
Und es war ihm , als ob sein Entschluß ihn befreite und höher trüge .
Ich habe in all der Zeit mich selbst vergessen .
Ich habe nicht mehr gearbeitet und nicht mehr gesucht ...
Er begann sich über sein eigenes Wesen zu wundern .
Er kam sich so merkwürdig fremdartig und eigentümlich vor .
Und plötzlich beherrschte ihn ein Einfall : er war gar nicht er .
Er trat wieder vor den Spiegel , um sich von der Richtigkeit dieses Gedankens zu überzeugen .
Er betrachtete sich aufmerksam und forschend in dem Glase .
Er fand sich auffallend verändert .
Auf seinem Gesicht lag etwas Fahriges , Nervöses .
Er glaubte einen brutalen Ausdruck um den Mund zu erkennen , der ihn an seinen Vater erinnerte .
Er erschrak .
Aha , dachte er , jetzt kommt seine Natur in mir zum Durchbruch , die mein eigentliches Innere ist .
Alles andere war nur Lug und Trug .
Ich bin er , nur er , nichts anderes .
Zum Teufel , ist es dann nicht eine dreiste Komödie , wenn ich mich gegen mich wehre ?
Und ist es nicht ein törichter Kampf , wenn ich meine eigene Natur unterdrücken will ?
Bin ich wirklich so ?
... Tamara ... Tamara ...
Er sandte das Billett ohne eine Zeile durch die Rohrpost zurück .
In den nächsten Stunden arbeitete er besinnungslos , in einem dumpfen Zustande .
Dazwischen horchte er angespannt , ob er nicht noch irgendeine Nachricht von ihr erhalten würde .
Aber er vernahm keine Schritte .
Nichts rührte sich .
Die Dunkelheit brach herein .
Die Augen schmerzten ihm ; er wurde müde .
Das ist doch eine große Eselei , die ich da begangen habe , durchzuckte es ihn auf einmal .
Sie ist dorthin geflüchtet , um mit mir zusammen zu sein .
Sie wollte sich mit mir aussprechen und fand keinen besseren und bequemeren Weg ...
Die ganze Kürze ihres Briefes war ja nur daraufhin zu deuten .
Es wurde immer dunkler in seiner Mansarde .
Aus einem Winkel raunte eine Stimme , leise und doch durchdringend , zu ihm :
Das ist alles Schwindel , lächerlicher Schwindel .
Sie belügen sich vor sich selbst .
Er hätte den Sprecher erdrosseln mögen .
Ein niederträchtiges Gelächter schloß sich unmittelbar an die Worte .
Er warf sich auf das Bett und schlief eine kurze Zeit .
Als er erwachte , zog er reine Wäsche an , und ohne weiter zu grübeln , oder auch nur nachzudenken , eilte er die Treppen hinunter , nahm sich einen Taxameter und fuhr nach dem Wintergarten .
Er löste ein gewöhnliches Entreebillett .
Es hatte längst begonnen .
Der große Raum war dicht von Menschen besetzt , die alle auf die Bühne starrten , wo gerade eine Akrobatengesellschaft ihre halsbrecherischen Kunststücke vorführte .
Es waren prachtvolle Gestalten , die vor den verwegensten Dingen nicht zurückschraken .
Wie merkwürdig , dachte er , diese Menschen stellen sich auf den Kopf , um ihr Leben zu fristen ; und die anderen fassen das als eine selbstverständliche Verbeugung vor ihrem Geldbeutel auf .
In dem Augenblicke , wo so einer Hals und Beine bricht , steht schon hinter ihm einer , der auf seine Stelle lauert .
Und die Horde findet das natürlich , zuckt die Achseln und geht kaltblütig zur Tagesordnung über .
Dennoch richtete er unwillkürlich seine Blicke auch auf die Artisten .
Das Publikum folgte belustigt den tollen , kühnen Sprüngen .
Er dachte an das alte " panem et circenses " .
Brot und Zirkus brauchen sie - wenn das Auge befriedigt und der Magen voll ist , so sind sie zufrieden .
Es ist klar , und alles Leid wächst daraus .
Sie kennen nur das flüchtige Genießen , und niemand rüttelt sie auf .
Vor den tiefen Erlebnissen fürchtet sich das feige Gelichter .
Er wurde verwirrt und erregt .
Was nützte das alles ?
Er suchte ja nur sie ... sie allein !
Und jetzt hatte er die Orchesterloge entdeckt und sah hinter einem weißen Spitzenfächer ihr schwarzes Haar und die weiße Stirn .
Ihr Gesicht sah er nicht .
In dem Augenblick fiel der Vorhang .
Die Leute klatschten wie toll .
Ohne zu zögern , drängte er sich nach ihrer Loge hin .
Jetzt stand er dicht davor .
Neben ihr saß auf der einen Seite ein Herr mit lang ausgezogenem Backenbart und glattrasiertem Kinn , an das er die Rechte stützte .
Seine Hand hatte wohlgepflegte , spitze Nägel und war mit leuchtenden Ringen besetzt .
Der Herr trug ein Monokel im Auge .
Er hatte das Aussehen eines Offiziers .
Auf der anderen Seite saß Rechtsanwalt Kornfeld .
Er glaubte sich zuerst getäuscht zu haben , er erkannte indessen bald , daß es nicht der Fall war .
Ganz im Hintergrunde kauerte in gebückter Haltung Berg .
Ohne zu wissen , was er tat , als ob er von unsichtbaren Mächten bewegt würde , trat er dicht vor die Loge hin .
In dem Augenblick , wo die gnädige Frau den Fächer fallen ließ , verbeugte er sich vor ihr tief .
Er bemerkte , wie sie zusammenzuckte .
Aber sofort reichte sie ihm mit einer unnachahmlichen Bewegung über die Brüstung der Loge hin die Hand , und indem sie ihre Umgebung so gut wie unbeachtet ließ , sagte sie in leidenschaftlichem Tone :
" Ein Glück , daß Sie gekommen sind ! "
Er erwiderte darauf nichts .
Er starrte sie nur fassungslos an .
" Kommen Sie , bitte , in die Loge . "
Er schüttelte den Kopf , aber er fühlte , wie seine Augen sich mit Tränen füllten .
" Seien Sie doch nicht eigensinnig ! "
" Ich kann nicht " , entgegnete er .
" Gut , so erwarten Sie uns draußen ; vor der drittletzten Nummer gehen wir . "
Wieder verbeugte er sich tief vor ihr .
Die anderen sah er nicht .
Langsam ging er in den Hintergrund des Saales .
Eine französische Coupletsängerin trat auf .
Eine bereits etwas verblühte Person , die mit ihrer hellen Chansonettenstimme allerhand freche Schnurren vortrug .
Er hörte es nicht .
Ein Jongleur machte die bekannten Scherze .
Er sah es nicht .
Schließlich kam die Pièce de résistance - der durch alle Zeitungen mit einem ungeheuren Reklameaufwand angekündigte Ringkampf .
Das Publikum war in atemloser Spannung .
Er begriff es nicht .
Er hatte die Hände gefaltet und betrachtete die Menschen aufmerksam , als wären sie etwas Seltsames , Unergründliches .
Dann zog er die Uhr hervor , und nun verfolgte er beständig den Sekundenzeiger .
Nach seiner Ansicht kroch er mit einer Langsamkeit vorwärts , die einen zur Verzweiflung bringen konnte .
Nie in seinem Leben hatte er sich so bedrückt , so befremdet , so verirrt gefühlt wie in dieser Stunde ...
Inzwischen hatte der Ringkampf sein Ende erreicht .
Es entstand im Saal ein wildes Jauchzen .
Immer und immer wieder wurde dem Sieger zugejubelt .
Mit raschen Schritten wandte sich Thomas dem Ausgange zu .
Er wartete lange .
Endlich erschienen die Bergs und die beiden anderen Herren .
Rittergutsbesitzer von Brandt wurde ihm vorgestellt .
Die Vorstellung machte auf ihn einen grotesken Eindruck .
Der Rechtsanwalt stand mit zusammengekniffenen Lippen beiseite .
Berg lächelte matt .
Der Diener öffnete den Schlag des Wagens , aber die gnädige Frau winkte ab .
Der Bankier gab dem Kutscher eine Weisung .
Sie nahm , unbekümmert um die anderen , Thomas' Arm und ging mit ihm voran .
" Warum hast du mir das Billett zurückgeschickt ? " fragte sie , und der Ton ihrer Stimme hatte etwas Drohendes .
" Weil ich nicht mit ihm und dir zusammen sein wollte ! "
" Ich denke , er hat mit dir gesprochen ? "
" Eben deshalb ? "
Sie blickte ihn verblüfft an .
" Ich verstehe dich nicht ! "
" Du verstehst mich nicht ? "
Er zitterte .
" Nein , nein , nein " , erwiderte sie nervös und ungeduldig .
Da ließ er ihren Arm fallen .
" Was soll denn das ? "
" Ich kann mich hier nicht mit dir auseinandersetzen " , brachte er mit schwerer Zunge hervor .
" Ich bekomme keine Luft " , fügte er hinzu .
Sie überlegte eine Sekunde .
Dann warf sie plötzlich den Kopf stolz zurück .
" Sei in einer halben Stunde in meiner Wohnung ! - - - Du willst nicht ? "
Er nahm sich zusammen und wies alle Bedenken , die in ihm aufstiegen , zurück .
" Ich will " , antwortete er dumpf .
" Gut ; dann auf Wiedersehen !
Der Diener wird dich vor dem Portal erwarten . "
Die drei Herren waren jetzt hinzugetreten .
Thomas zog den Hut , murmelte ein paar unverständliche Laute und entfernte sich .
Er stand eine Weile inmitten der Friedrichstraße und rührte sich nicht .
Er war wie geistesabwesend .
Er wurde gestoßen , gedrängt , man lachte ihm ins Gesicht - er achtete nicht darauf .
Er wußte auch nicht , wie er plötzlich in den Taxameter gekommen war , der ihn zur ihr bringen sollte .
Er konnte keine Gedanken mehr fassen , alles wogte in ihm durcheinander .
Er hatte nur die eine Gewißheit , daß in dieser Stunde sich sein Schicksal entscheiden würde .
Als der Wagen in den Tiergarten einbog , huschte plötzlich eine Gestalt heran .
" Was wollen Sie ? " fragte er heiser .
In der nämlichen Sekunde war der Mensch verschwunden .
Doch war es Thomas , als ob er die Droschke noch immer verfolgte und hinter den Rädern sich versteckte .
Zuweilen beugte er mit einer affenartigen Geschwindigkeit den Kopf vor , um ihn sofort wieder in der Dunkelheit verschwinden zu lassen .
" Halten Sie einmal an ! " schrie Thomas dem Kutscher zu .
Er sprang aus dem Wagen ... keine Seele war zu sehen .
" Haben Sie nicht einen Menschen bemerkt , der beständig den Wagen verfolgte ? "
" Ich nicht " , antwortete der Droschkenkutscher gelassen und betrachtete Thomas halb spöttisch , halb mitleidig .
" Wissen Se , det kommt vor " , sagte er mit einer rauhen Bierstimme , " det man in die Jejend Jespenster sieht .
Um die Nachtstunde kommt det vor ! "
Thomas stieg wieder ein .
" Fahren Sie weiter . "
Während einer kurzen Strecke drückte er die Hände auf die Augen .
Er wollte sich unter keinen Umständen narren lassen .
Aber in der Sekunde , wo er die Augen wieder freiließ , saß im Rücksitz des Wagens ihm gegenüber der Mensch mit dem zerschlissenen Mantel und dem eingedrückten , grünen Hut .
Kein Laut entrang sich Thomas .
Ganz wenig hob er die schlafen Arme .
Er hätte sprechen mögen , aber er vermochte es nicht .
Der Fremde sah ihn an mit wehen Augen .
Sein armes , häßliches Gesicht sah verhungert und eingefallen aus .
Der Blick aus dieser Leidensmiene ging ihm durch das Mark der Knochen .
Aber unmittelbar darauf war der Gast verschwunden , und wenige Sekunden später hielt der Wagen vor dem Bergischen Palais .
Und alles das ging mit so rapider Schnelligkeit vor sich , daß Thomas überhaupt zu keiner Besinnung , geschweige denn zum Nachdenken kam .
Ein Diener trat auf ihn zu , schritt ihm voran und schloß schweigend das Portal auf .
Die gnädige Frau erwartete ihn seltsamerweise im Speisezimmer .
Aber statt des elektrischen Lichtes brannten nur ein paar Kerzen in uralten , silbernen Leuchtern und verbreiteten eine matte Helligkeit .
Sie nickte ihm müde zu , ohne sich zu erheben .
Aber ihre Hand , die sie ihm reichte , war kalt .
Er setzte sich ihr gegenüber .
Er sah ihr abgespanntes Gesicht , die schwarz umränderten Augen , und wie sie mit zusammengezogenen Schultern in sich gekrümmt dasaß , als ob sie fröre - und bei diesem Anblick fühlte er , wie alle Bitterkeit in ihm sich auflöste .
Sie hatte die Ellenbogen aufgestützt und starrte bewegungslos eine Weile vor sich hin .
" Du weißt , daß ich mit ihm gesprochen habe ! " ...
Er nickte stumm .
" Ich habe ihm alles gesagt , ohne Mitleid und ohne Schonung .
Du weißt , was er geantwortet hat ? "
Bei ihrer Frage nahmen seine Züge einen strafen Ausdruck an .
" Ich will wissen " , entgegnete er langsam , ohne den Blick von ihr zu wenden , " ob du damit einverstanden warst ? "
Er hatte diese Worte mit größter Anstrengung hervorgebracht , und nun , wo er schwieg , bewegten sich seine Lippen noch unaufhaltsam .
Sie zuckte ein wenig zusammen .
" Wie siehst du denn aus ?
Man kann ja Angst vor dir bekommen ! "
Er lächelte bitter .
" Ich habe darum gewußt " , erwiderte sie fest .
Und als er zurückfuhr , beugte sie sich dicht zu ihm , und indem sie den Kopf zurückwarf , rief sie mit einer leidenschaftlichen Heftigkeit :
" Du sollst mich ausreden lassen !
Du darfst mich nicht unterbrechen , bevor du nicht alles weißt ! "
Und ihre Stimme dämpfend fuhr sie fort :
" Dieser Mensch kann nicht ohne mich leben .
Ich quäle ihn - und mache ihn elend , weil ich keinen Zusammenhäng mit ihm habe .
Und dennoch kann er nicht ohne mich leben ... Du hättest ihn in seinem Zustande sehen sollen " , sie verdeckte plötzlich ihr Gesicht .
Aber nach einer verschwindend kleinen Weile ließ sie die Hände wieder fallen .
" Mir graut , wenn ich daran zurückdenke ... wie er die Augen verdrehte ... wie er keine Luft bekam ... es war , als ob ich ihn vergiftet hätte ... "
Ihre Zähne schlugen aufeinander .
" Du mußt mich doch begreifen ... Du kennst doch diesen Zustand besser als ich .
Du hast gewiß schon solche Leute gesehen , die nicht sterben wollen und mit dem Tode ringen ... Gerade so sah er aus .
Was sollte ich denn da tun ? "
Ihre Stimme klang gereizt .
" Man hat schließlich auch mit einem Tier Mitleid .
Und dann habe ich das Kind von ihm .
Was soll aus dem Kinde werden , wenn ich von hier weggehe ?
Sieh mich nicht so entsetzlich an .
Verstehe mich ein bißchen ! "
Sie erhob sich und packte ihn an beiden Armen .
" Sage , ob ich anders handeln konnte ... ob ich mich nicht begnügen mußte mit dem , was er uns zugestand ...
Wie muß er Mensch lieben , wenn er das über sich gewann !
Konnte ich anders ? "
Durch das geöffnete Fenster drang die kalte Nachtluft und traf sie beide .
Die bläulich-roten Flammen der weißen Kerzen flackerten unruhig .
Thomas sah , wie sie sich bewegten und um ein kleines zu verlöschen drohten .
Er fuhr mit der Hand über seine Stirn .
Seine Stimme hatte zu seiner eigenen Verwunderung plötzlich etwas Festes , Ruhiges und Kaltes .
" Ich begreife das alles nicht " , entgegnete er .
" Ich begreife den Handel nicht , den du mit mir vor hast .
Er ... oder ich !
Etwas anderes gab es nicht ... "
Sie ließ seine Arme los und trat zurück .
" Hast du denn gar kein Mitleid ? "
Er wandte sich von ihr ab .
Alles in ihm war aufgerührt .
Er begriff sie und sich nicht mehr .
Er empfand nur das eine , daß sie ihn in einem feigen Gefühle geopfert hatte ... daß sie einen Handel ( " Handel " war ihm das bezeichnende Wort ) , einen niederträchtigen Handel abgeschlossen , um beiden Teilen gerecht zu werden .
Er sah sie wieder voll an , und jede Silbe betonend , antwortete er :
" Dieses Mitleid finde ich erbärmlich ! "
Sie rührte sich nicht .
Zorn und Gram kamen über ihn .
Er blieb ganz stumm - aber seine Augen schrien .
" Weißt du " , sagte er endlich zitternd , " daß du dich und mich verleugnet hast ? "
Und ohne Tränen schluchzend , rief er :
" Konnte es denn da überhaupt ein Besinnen geben ?
Wie kannst du mit einem Menschen zusammen leben , der dir , wie du selber sagst , Widerwillen einflößt ? "
" Und das Kind ? "
" Das Kind ! " schrie er , " es ist ja auch ein Verbrechen gegen das Kind !
Ein Kind , das in solcher Ehegemeinschaft heranwächst , ... ach , laß mich ... laß mich ... "
Und als ob er es vor körperlichem Schmerz nicht ertragen konnte , hielt er sich den Kopf mit beiden Händen .
Sie konnte seinen schmerzhaften Blick nicht aushalten .
" Wie hast du dir denn das alles gedacht ! " fragte sie vorsichtig , gleichsam Fühlhörner ausstreckend , nach einer langen Weile , während der ein Todesschweigen zwischen ihnen geherrscht hatte .
Und schmeichlerisch ihre Arme um ihn legend , setzte sie hinzu :
" Wenn du ein bißchen guten Willen hättest , wie gut und schön könnte es werden ! "
Da nahm er ihre Arme von sich .
In ihm arbeitete es .
Sie war ihm auf einmal fremd geworden , ohne daß er es sich selbst eingestehen wollte ... nein , es war noch etwas anderes ...
Er fühlte , wie alles Lebendige in ihm zu erstarren , zu vereisen drohte .
Er erkannte mit einer grauenhaften Deutlichkeit , daß etwas in ihm zerbrechen wollte , das er nie , nie mehr würde heilen können .
Er klammerte sich mit beiden Händen an die Lehne eines Stuhles und sah durch das geöffnete Fenster in die dunkle Nacht , deren Finsternis undurchdringlich schien , die nur bewegt wurde durch Windstöße und das Rascheln und Raunen in den Baumkronen .
Ist es denn möglich , dachte er , daß ich so geblendet war ? ...
Nein ... nein ... , das ist nicht möglich !
Und er erinnerte sich plötzlich jener Märchen , in denen der arme Mann so bitter auf die Probe gestellt wird , damit nachher aller Segen doppelt reich über ihn fließen kann ...
Und wieder blühte sein tiefstes Empfinden für sie auf , und sein Gesicht , das beim Schein der Wachskerzen noch elender aussah , wurde wie von einem reinen Glanz durchleuchtet .
" Das war ja das Höchste für mich " , flüsterte er .
" Diese Gemeinschaft zwischen dir und mir - das war ja die Erfüllung " , setzte er noch leiser hinzu .
Es ging jetzt auf ihrem Gesicht etwas Rätselhaftes vor , das ihn noch mehr verwirrte , das er nicht begriff .
" Komme ! "
Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn durch Zimmer und Gänge in ein dunkles Gemach .
Sie drückte an einem elektrischen Knopf , so daß es blendend hell wurde .
Dieser Raum war nur mit Schränken ausgefüllt .
Sie öffnete sämtliche Türen und führte ihn vor jeden Schrank .
Überall hingen sorgfältig die kostbarsten Roben , schwer und duftig , wie die eben fertig gewordene Ausstattung einer fürstlichen Braut .
" Ja , was soll denn das ? "
Sie antwortete nicht sofort , sondern grub einen Augenblick die weißen Zähne in die Unterlippe , ehe sie entgegnete :
" Er hat recht ... das ist ein Teil von mir .
Das und alles andere , was du hier siehst .
Es ist ein Teil von mir " , sagte sie zitternd , und ihre Nasenflügel bewegten sich dabei nervös .
" Hörst du denn nicht ?
... Es ist ein Teil von mir , ohne den ich nicht mehr sein kann . "
Und hartnäckig seine Augen meidend , fügte sie hinzu : " Man kann mich nicht umpflanzen ... man muß ... "
Sie kam nicht zu Ende .
Er hatte ihr den Rücken gekehrt .
Er fühlte eine Schwäche , die durch seinen ganzen Körper ging und ihn auflöste .
Dennoch bewegte er sich , so schnell er konnte , den Rest seiner Kräfte aufbietend , durch die Zimmer und Korridore .
Einem Diener , auf den er stieß , murmelte er heiser zu :
" Lassen Sie mich hinaus ! "
Dabei bückte er sich tief , denn niemand sollte sein zerstörtes Gesicht und die blassen Lippen sehen ...
Er ging nicht nach Hause ... wie ein obdachloser Vagabund durchquerte er nach allen Richtungen den Tiergarten .
Nie vermochte er sich in seinem späteren Leben deutlich zu erinnern , was in dieser Nacht in ihm vorgegangen war .
VI.
Es war gegen zwei Uhr mittags , als die Liers die Treppen einer Mietskaserne des Nordens hinabstieg .
Sie war abgearbeitet und erschöpft .
Über dem rechten Arm trug sie ihre schwarze Ledertasche .
An dem Geländer hielt sie sich zuweilen fest und schien angestrengt über irgend etwas nachzudenken , das ihr Sorgen machte .
Sie kniff die Augen ein wenig zusammen und ging von Stufe zu Stufe langsamer .
Der graue Rock , der schmucklos ihren starken Körper umschloß , schleppte nach .
Im Hausflur blieb sie noch einen Augenblick sinnend stehen , bevor sie auf die Straße trat .
Die Maisonne brannte wie im Juli .
Die Liers kam kaum vorwärts , so schwer und abgeschlagen waren ihr die Glieder .
Die Omnibusse , die vorbeifuhren , waren überfüllt .
Müde lehnte sie sich an eine Litfaßsäule .
Aber plötzlich kam Bewegung in ihren Körper .
Die starke Person stürzte wie besessen einem jungen Mädchen nach , das auf der anderen Seite der Straße an ihr vorübergeschritten war .
" Fräulein ... Fräulein ! " rief sie keuchend .
" Ah , Sie sind_es ! " sagte die Verfolgte , sich ein wenig erschreckt umdrehend und stehenbleibend .
Die Liers nickte .
Sie atmete erst mehrere Male tief auf , ehe sie antworten konnte .
" Was das für 'ne Hundshitze ist " , begann sie alsdann .
" Na , ich habe meine Arbeit hinter mir ; ich gehe schlafen . "
Die Josefa betrachtete sie von der Seite .
" Haben Sie wieder so ein unglückliches Wurm zur Welt fördern helfen ? " frage sie bissig .
" Ja " , entgegnete die Liers zerstreut .
" Um halb fünf haben sie mich bereits aus den Federn geholt ; um ein Uhr war ich erst reingekommen .
Das ist 'n Leben , Fräulein , haben Sie Ahnung ! "
" Bei der Hitze Modell stehen , ist auch kein Vergnügen ! "
Sie schritten ein paar Minuten stumm nebeneinander .
" Fräulein Gerving ! "
Die Angeredete konnte ein trübseliges Lächeln nicht unterdrücken .
" Na , dann ist es ja gut , wenn Sie schon wissen , wovon ich reden will .
Ich habe Sie immer Mal besuchen wollen , aber man kommt ja nicht dazu .
Man kommt ja zu nichts bei so einem ... na , es geht am Ende auch so .
Ich liebe keine Vorreden .
Ich gehe immer gleich aufs Ganze .
Das liegt so in meinem Beruf , da hat man zum Überlegen keine Zeit .
Ich wollte Sie man fragen :
Haben Sie was mit meinem Mann ? "
Die Gerving verschränkte die Arme ; sie war offenbar belustigt .
" Darüber können Sie ganz unbesorgt sein .
Mir wird so leicht keiner gefährlich , und Sie wissen ja , ich bin versagt . "
Bei den letzten Worten zog sie finster die Augenbrauen zusammen .
" Ich dachte man so !
Es ist nämlich mit dem meinigen nicht mehr auszuhalten !
Der hat einen kleinen ... " - sie zeigte auf die Stirn - " es kann ja auch in der Luft liegen " , setzte sie trocken hinzu .
Sie nahm vertraulich den Arm der Josefa .
" Ach , Kind " , sagte sie , " man macht mit den Männern schon was durch .
Ich bin ja eigentlich aus dem Alter .
Aber wenn man einen hat , dann hat man ihn und klammert sich an ihn fest , mehr als einem gut ist .
Verdienen tut's die Gesellschaft nicht , Sie können mir es glauben .
Notabene , vergafft ist er in Sie - das steht fest !
Begreife ich auch vollkommen .
So 'n Mensch ist jung und Künstler außerdem noch !
Die haben von vornherein 'n kleinen Sparren , darauf muß man Rücksicht nehmen !
Das Pech für mich ist nur , daß er der meinige ist .
Übrigens , wenn ich er wäre , ich würde mich ja auch in Sie vergucken . "
Die Josefa lachte .
" Das sagen Sie jetzt , weil sie wissen , daß er bei mir abgeblitzt ist ! "
Sie gab der Liers die Hand .
" Seien Sie schönstens bedankt für das Kompliment ! "
" Also nachgestellt hat er Ihnen ? "
Die Gerving nickte .
" Ach , wissen Sie , das ist nicht ernst zu nehmen .
Die Redensarten höre ich jeden Tag zehnmal .
Macht auf mich gar keinen Eindruck mehr !
.. .
Die Männer quasseln alle dasselbe Zeug ... direkt dumm kommen sie einem vor !
So einer braucht bloß 'n Mund auf zutun - und ich weiß genau , was kommt ! "
Ihr Gesicht verdüsterte sich .
" Ach Gott , das ist ja so egal ... so gleichgültig ! "
" Warum ist man eigentlich so dumm und hängt sich an einen ? " fragte nach einer Pause die Liers .
" Sie begreife ich nun schon gar nicht .
Offen gestanden , was ist an dem Menschen ... nee , wie der Sie behandelt ! ...
Der Mensch treibt Sie ja ordentlich dazu , einem anderen in die Arme zu laufen . "
Um die Lippen der Josefa zuckte es .
" Das wird ihm gelingen , verlassen Sie sich darauf ! "
Und indem ihre Augen vor schmerzhafter Schadenfreude aufleuchteten :
" Denken Sie , ich weiß nicht , daß ich ihm damit den größten Gefallen tun würde ?
Aber so dumm bin ich denn doch nicht . "
Und mit einem niederträchtigen Gesichtsausdruck fügte sie hinzu : " Der kann auf meine Treue schwören !
Und beiseite werfen lasse ich mich auch nicht , eher ... "
Sie brach ab und schloß den Mund fest zu , als habe sie bereits zuviel gesagt .
" Man sieht ihn jetzt öfter mit der Ingolf " , meinte die Liers , jede Silbe auseinanderziehend .
Josefas Miene vergrämte sich .
" Wenn etwas passiert " , brachte sie leise hervor , " ich bin nicht schuld daran - ich nicht ! "
" Warum geben Sie ihm nicht einfach 'n Tritt ?
Gott sei Dank , Sie sind ja mit dem Menschen nicht verheiratet ! "
Und derb lachend , setzte sie hinzu : " Sie brauchen doch bloß die Hände auszustrecken , und an jedem Finger hängen zehn ! "
Aber als sie den zornigen Ausdruck in der Miene der Josefa wahrnahm , lenkte sie begütigend ein :
" Das ist doch nur ein Scherz ; Sie kennen mich doch !
Ich weiß , daß Sie ein anständiges Mädchen sind , das sich ehrlich durchschlägt .
Ich weiß , was Sie für ein Hundeleben führen , und wie gut Sie es haben könnten , wenn Sie leicht wären !
Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf , lassen Sie sich mit ihm nicht mehr ein !
Seien Sie froh , daß Sie nichts von ihm haben - 'n Mädel mit 'nem Kind ist ' ne schiefe Sache .
Kenne ich aus dem ff !
Jeder Damian sieht Sie mit scheelen Augen an ... jeder ... na , Sie sollten so viel ' rumkommen wie ich .
Man hat seine Erfahrungen , mehr als einem lieb ist ! "
Die leidenschaftlichen Züge der Josefa hatten bei den letzten Worten etwas Mütterliches angenommen .
" Ich gäbe was warum , wenn ich 'n Kind von ihm besäße ; man hätte dann doch etwas , woran man sich klammern könnte .
Glauben Sie mir " , sagte sie tiefernst und nachdenklich , " ich würde eine gute Mutter sein !
Ich bin nicht so , wie ich aussehe . "
Und mit einem lieblichen , schüchternen Lächeln setzte sie hinzu : " Ich habe Liebe in mir ... und dann ... mit einem Kinde würde ich ihn auch halten können .
Darüber habe ich oft nachgedacht .
So 'ne Mutter hat es gut !
So 'n Kleines zu baden und zuzusehen , wie es im Wasser mit den Ärmchen und Füßchen plätschert , und es nachher so reinlich eingehüllt an die Brust zu legen - ich kann mir gar nichts Schöneres denken ! "
Die Liers war perplex .
" So 'ne Gefühle hätte ich Ihnen am wenigsten zugetraut !
Übrigens sehen Sie die Sache ein bißchen rosig an .
Wenn so 'n Wurm die ganze Nacht plärrt , daß man kein Auge zutut , oder wenn es nicht recht gedeihen will - haben Sie Ahnung , was so 'n Kind für Wirtschaft macht ! "
Die Josefa lachte , daß man ihre weißen Zähne sehen konnte .
" Das würde mir nichts ausmachen , je mehr , desto besser !
Ich bin kinderlieb , kindernärrisch ! "
Ganz ohne Zusammenhäng fragte sie plötzlich :
" Finden Sie eigentlich die Ingolf hübsch ? "
" Kann ich nicht gerade behaupten .
Höchstens was Apartes hat sie ! "
" Was Apartes ?
Ich möchte wohl wissen , wo das steckt !
Vom ersten Moment an habe ich die Person nicht leiden können .
Glauben Sie mir , das ist ' ne falsche Katze .
Die hat es in sich !
Das ist die Sorte mit den Taubenaugen !
Die tun , als wenn sie aus der Hand fressen ! "
Sie war zornrot geworden und hatte die Hände geballt .
Sie blieb stehen , und die Liers fest ansehend , brachte sie mit seltsamer Betonung hervor :
" So einer könnte ich kalten Blutes 'n Liter Vitriol ins Gesicht gießen , ohne mir ein Gewissen daraus zu machen ... im Gegenteil - gut würde es mir tun ! "
Die Hebamme wich erschreckt zurück .
" Machen Sie man nicht so was !
Sie werden sich doch nicht unglücklich ... "
" Das bin ich ja schon ! "
" Eine , ne , Fräuleinchen , so was dürfen Sie gar nicht reden !
So 'n junges Blut wie Sie ! "
Die Josefa wurde blaß .
Sie schien noch etwas erwidern zu wollen , dann aber besann sie sich , und wortlos , flüchtig mit dem Kopf nickend , eilte sie rasch davon .
Ganz verdutzt blickte ihr die Liers nach .
Aber bevor sie noch zur rechten Besinnung kam , wurde ihre Aufmerksamkeit auf einen Knäuel von Menschen gelenkt , die lebhaft gestikulierten und um einen Hundewagen sich gruppiert hatten .
In instinktiver Neugier trat sie näher .
Der Führer des Hundewagens , ein vierschrötiger Kerl , war ganz in Schweiß gebadet .
" Wenn Se jetzt nicht de Fresse halten " , kreischte er , " so schlage ich Ihnen die Knochen zusammen ! "
Seine kleinen Augen waren geschwollen .
Sie schillerten in allen Farben .
Von dem fetten Gesicht perlte der Schweiß tropfenweise herab .
Vor ihm stand der Volksschullehrer Heinsius - in seiner Elendigkeit das gerade Gegenbild zu dem robusten Mann .
Seine kleine Gestalt schien aber zu wachsen .
Die Backenknochen traten aus dem eingefallenen Gesicht heraus ; die knabenhaften Hände fuchtelten nervös in der Luft umher , und sein fanatischer Blick schien sich in seinen Gegner einzubohren .
" Rühren Sie mich einmal an , Sie Hundeschinder ! " rief er wuterstickt .
Und einen Schritt näher tretend , schrie er , während seine Stimme beinahe überschlug :
" Sie Wicht Sie , wie können Sie ein hilfloses Tier so peinigen ? "
Die Umstehenden begannen ihren Spaß zu haben .
Es bildeten sich bereits Parteien .
" Was Jet denn Sie die Sache an ? "
Mit diesen Worten mischte sich ein neunzehnjähriger Bengel in den Streit .
Heinsius drehte sich spöttisch nach dem Sprecher um ; aber in dem Augenblick packte ihn sein Gegner blaurot vor Wut , an den Schultern .
" Jetzt nicht ausjekniffen , Jungeken . Dir werde Ecks besorjen ! "
Der Volksschullehrer lachte schrill auf , so daß der andere einen Augenblick verdutzt schien .
Diesen Moment benutzte die Liers , die ganz erschreckt Heinsius erkannt hatte .
Mit ihren breiten Ellenbogen schuf sie sich Platz , und die großen , derben Fäuste erhebend , sagte sie :
" Sie sollte man mit der Hundeknute traktieren ... jetzt wollen Sie sich wohl gar noch an dem Menschen vergreifen .
Na , Sie soll ja gleich ... "
Ein paar Männer hatten die robuste Frau , die in dem Stadtviertel wie ein roter Hund bekannt war , bemerkt .
Sie traten schützend ihr zur Seite .
" Na , nun zieh man Leine " , knurrte einer dem Besitzer des Hundewagens zu , " und mache keine Sachen , sonst Jet es dir mau ! "
Und ein anderer versetzte ihm einen gelinden Stoß und fügte hinzu :
" 'n Bißken dalli , wenn de nicht noch 'n paar Knochensplitter auf de hohe Kannte Leien willst ! "
Die Männer schüttelten der Liers die Hände , die Neugierigen stoben enttäuscht auseinander , die Passage wurde wieder frei , und eine Minute später standen an der Stelle nur noch Heinsius und die Liers .
" Wie können Sie sich nur mit so 'nem Pack einlassen " , meinte die Liers gutmütig .
" Bei so ' einem Gesindel seine Haut riskieren , ist doch leichtsinnig . "
Der Volksschullehrer pfiff ein paar Töne vor sich hin .
" Ist nicht so gefährlich , mit der Gesellschaft wird man noch fertig ; und wenn einem wirklich was passiert - pah , was liegt daran ! "
Die Liers erwiderte nichts .
" Wissen Sie schon das Neueste ? "
" Eine ! "
" Ich sitze auf dem Trockenen !
Sie haben mich an die frische Luft gesetzt .
Sie haben eingesehen , daß das Unterrichten meinen Lungen nicht gut tut . "
" Auf " , machte die Liers und schlug die Hände zusammen .
" Weswegen denn ? " fragte sie nach einer Weile völlig fassungslos .
" Weswegen ? "
" Doch nicht wegen der Rede im Konz - "
" Stimmt ! Abgekürzte Methode hat man angewandt .
Disziplinarverfahren , das innerhalb von acht Tagen beendigt war .
Sie sehen , man arbeitet fix bei uns .
Na , ich war quietschvergnügt !
Wenn einer unschuldig in Untersuchungshaft kommt , kann es ihm passieren , daß er anderthalb Jahre sitzen muß , bevor die Verhandlung beginnt ; bei mir hat man sich gesputet , wofür ich den Herrschaften dankbar bin .
Die Gesichter vom Rektor und den Kollegen hätten Sie sehen sollen !
Wie 'n räudigen Hund haben Sie mich betrachtet .
Niemand hatte es mir zugetraut , so gut kannten sie mich .
Zuerst hatte mir der Rektor den Rat gegeben , ich sollte von wegen der Pension mich auf meinen geistigen Zustand untersuchen lassen .
Das ist nämlich 'n Philanthrop , der es gut mit mir meinte .
Na , ich habe ihm den Star gestochen .
Ich hätte Ihnen den Anblick des spindeldürren Menschen gewünscht ; er glaubte auf einmal den Teufel in leibhaftiger Gestalt zu sehen .
Dinge habe ich ihm gesagt ... "
Das Gesicht von Heinsius leuchtete in der Erinnerung froh und freudig auf , es sah in diesem Augenblicke beinahe gütig und milde aus .
" Liers " , begann er wieder , " es war die schönste Stunde meines Lebens !
Die ganze geknechtete Menschheit , mit allen Sklaveninstinkten ausgerüstet , sah ich in diesem Jammerkreis verkörpert .
Dies Gelichter , das sich nicht auf den Beinen halten kann , wenn ein freiheitlicher Hauch ihre dumpfen Schädel ... wie der Mensch sich an den Tisch klammerte und mit verglasten Augen mich anstarrte ... ich sah ordentlich , wie sein kleines Hirn schwitzte , und wie er mit welken Lippen sein Gottseibeiuns murmelte .
Liers , es war possierlich ! "
" Und nun sitzen Sie auf dem Pfropfen " , entgegnete die Liers trocken , ohne auf seine Auseinandersetzungen näher einzugehen .
" Vollkommen ! "
" Hm , was soll nun daraus werden ? "
Ihr gutes Gesicht wurde bekümmert .
" Wissen Sie , man hat mir das Gehalt für das nächste Quartal bezahlt .
Da ich sowieso an Geschäftsauflösung denke , so hoffe ich , bis dahin zu reichen . "
" Geschäftsauflösung ? "
Sie hob erstaunt die Achseln ein wenig empor .
" Man kann das Ding nennen , wie man will ! "
" Heinsius ! "
" Denke ja auch vorläufig nicht daran !
Zunächst warte ich ab ; und außerdem hat der eigene Wille verdammt wenig damit zu tun .
Die meisten Geschäfte lösen sich von selber auf ! "
Sie waren vor dem Hause der Hebamme angelangt .
" Kommen Sie doch noch zu einer Tasse Kaffee mit hinauf " , bat die Liers .
" Er freut sich und Sie haben schließlich jetzt nichts zu versäumen . "
" Meinethalben ! "
Die Liers schloß die Entreetür auf und öffnete das Wohnzimmer .
Es war behaglich bürgerlich eingerichtet .
Ein schwarzledernes Sofa , das übliche kleine Büfett im geschmacklosen Renaissancestil , der runde Tisch , ein paar Familienbilder , eine Mahagonikommode und so weiter .
" Ganz nett hier ! "
Die Liers drehte sich mit breit lachendem Gesicht nach ihm um .
" Das müssen Sie ihm sagen !
Was , meinen Sie , hat er sich schon über das Zimmer lustig gemacht ! "
Sie riß die Tür zum Schlafzimmer auf .
" Sehen Sie , da liegt er noch und schnarcht .
Der hat es gut " , seufzte sie , " wenn man doch auch Mal ausschlafen könnte , 'ne Hebamme kann nicht einmal vom Sonnabend zum Sonntag ausschlafen .
Er schwärmt fürs Schlafen ; und ich finde , er hat recht !
Er ist überhaupt ein Philosoph ! "
Sie rüttelte ihn an dem Arm .
" Mann " , schrie sie , " es ist Besuch da , und außerdem geht es auf drei Uhr ! "
Heinsius hörte ein paar knurrende Laute , die einem widerwilligen Fluchen ähnlich klangen .
Dann ertönte ein zweistimmiges Lachen , darauf eine erderschütternde Bewegung , aus der man schließen konnte , daß der Dichter in einem ungeahnten Entschluß die Lagerstätte verlassen hatte .
Und etwas später kam er in einem saloppen Schlafrock ins Wohnzimmer und begrüßte mit unschuldiger , naiver Miene den Volksschullehrer .
Bald brodelte eine Kaffeemaschine , und der Dichter kam allmählich aus einem ständigen , müden Gähnen in den Zustand des Erwachtseins .
" Was tun Sie eigentlich den ganzen Tag ? " fragte Heinsius .
Liers blickte ihn seelenruhig und spöttisch an .
" Soll das eine Anklage sein ? "
" Nicht im mindesten !
Im Gegenteil , ich bewundere die freiheitliche Art ihres Lebens .
Ich wünschte , die anderen wären auch schon so weit wie Sie .
Sie sind der einzige unter meinen Bekannten , der ein menschenwürdiges Dasein führt !
Aber gerade darum wollte ich mich genauer informieren und fragte nach der Einteilung Ihrer Tätigkeit . "
Liers kreuzte die Arme übereinander .
" Sie denken sich mein Leben leichter , als es in Wahrheit ist .
Meinen Sie , es ist keine Anstrengung , aufzustehen , sich zu waschen , sich anzuziehen , zu essen , zu trinken und die übrigen Funktionen seines Körpers auszuüben ?
Wenn Sie wüßten , wie ich darunter leide !
Und kaum ist man damit fertig , so ist es wieder Nacht und man muß den ganzen Krempel ausziehen , die richtige Lage im Bett zu finden suchen und für Schlaf sorgen .
Mir kommt nämlich der Schlaf nicht so angeflogen wie anderen Menschen .
All die Phantasien und Ideen , die mich so bewegen , muß ich ordnen und einschläfern , ehe ich selbst an die Reihe komme .
Denn Sie mögen es mir glauben , erst im Bett habe ich Zeit , mich mit meinen Ideen zu beschäftigen .
Der Tag reicht bei mir nicht ! "
Er sagte alles das vollkommen ernsthaft , und Heinsius blickte mit einer gewissen neidvollen Bewunderung zu ihm empor .
" Arbeiten haben Sie sich so ziemlich abgewöhnt ? "
" Ich glaube , diesem Ziele nahe zu sein " , erwiderte der Dichter .
" Arbeit ist ein künstlich gewordener Kulturbegriff , der mit Menschenwürde und Freiheit meiner innersten Auffassung nach nichts zu tun hat .
Das tiefste Symbol dafür " , schloß er ernsthaft , " ist die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradiese .
Erst als die Sünde , mit anderen Worten die Erkenntnis , den Menschen packte , war es mit dem unbewußten Genießen vorbei .
In dem Augenblicke verschließen sich ihm die Pforten des Paradieses - er steht in der öden und einsamen Wildnis verlassen da , und die gemeinsten Empfindungen , als da sind : Hunger , Kälte , stellen sich bei ihm ein .
Und aus solcher Gottverlassenheit kommt er zu dem jammervollen Selbsterhaltungstriebe , der ihn zur Arbeit zwingt .
Die Geschichte haben die Juden wirklich in eines der schönsten Gleichnisse gekleidet ; es könnte gar nicht tiefsinniger erzählt werden .
Da ich nun ein Paradiesesmensch bin und diese gute Frau " , er wies auf die Liers hin , " das Verbrechen ihrer Urmutter , was an ihrem Teil ist , an mir sühnen will ( denn die Infamie ist von einem Weibe an dem Manne begangen ) , so bin ich allmählich zu dem einzigen würdigen Zustande zurückgekehrt - ich lebe , soweit dies denkbar ist , unter Enthaltung jeder Arbeit , die ich für schmutzig und erniedrigend halte .
Daß gewisse Dinge sich nicht vermeiden lassen , ist schmerzhaft genug .
Aber über den letzten Rest , der in meinem Exempel nicht aufgehen kann , suche ich durch verlängertes Schlafen hinwegzukommen . "
" Allerhand Achtung !
Sie sind in keinem Falle ein Kraftmeier und Wortedrescher .
Sie sind einer der wenigen , der wirklich nach seiner Überzeugung lebt .
Sie reden nicht - Sie handeln ! "
Die Liers hatte bisher stumm zugehört .
Jetzt goß sie den dampfenden Kaffee in die Tassen , und ganz langsam sagte sie dabei : " Wenn schlafen handeln ist , so haben Sie recht .
Was dabei rausschaut , weiß ich am besten .
Er wird von Tag zu Tag kraftloser . "
Der junge Mensch erhob sich .
Um seine feinen , müden Lippen grub sich eine leise Falte .
" Um Gottes Willen " , rief er nervös , " verbittere mir nur nicht gleich den Morgen . "
Die Liers blickte resigniert auf die Uhr .
Es fehlten noch fünf Minuten an vier !
" Na " , meinte sie , " eigentlich hast du recht .
Es kommt ja nicht darauf an , daß du in der Zeitrechnung um zwölf Stunden zurück bist . Übrigens " , fuhr sie ein wenig gereizt fort , " habe ich die Gerving getroffen !
Du scheinst dem Mädchen ja nett zugesetzt zu haben !
Sie bedankt sich bestens für deine Aufdringlichkeit ! "
Er setzte die Tasse ab und fuhr mit der Hand durch sein reiches Haar .
" Du hast wohl wieder Mal spioniert ? " fragte er , und in seinen mädchenhaften Zügen zuckte es unruhig .
" Ich verlange " , entgegnete die Liers ganz ruhig , " daß du mich nicht auf Schritt und Tritt zu beschwindeln suchst .
Ich verlange , daß du dich wenigstens nach der Richtung gegen mich anständig benimmst ! "
" Entschuldigen Sie " , sagte Heinsius , " wenn ich mich ins Gespräch mische .
Ich kann mit Ihnen nicht mehr mitgehen , sobald Sie die persönliche Freiheit Ihres Mannes antasten , da hört es bei mir auf ! "
Die Liers stemmte ihre Arme in die Hüften .
" Kinder , ihr seid alle etwas ... na , nehmt mir es nicht übel ; ihr habt euch einen Begriff von persönlicher Freiheit zusammengebraut , den ich erbärmlich finde ! "
Und nun bekam ihre Miene einen verbitterten Ausdruck ; das ganze Leiden der mißtrauisch wachenden Frau , die immer fürchtet , ihren Mann zu verlieren , spiegelte es wider - und dieser Ausdruck entstellte sie .
Sie sah noch häßlicher und älter aus , als sie in Wirklichkeit war .
Ihr Gesicht gehörte zu denen , die das Leiden und der Gram verzerrt .
Liers trat auf sie zu .
Und mit seiner Gutmütigkeit und Sanftheit versuchte er es , sie um die starke Taille zu fassen .
Das gab er indessen bald auf .
" Sieh Mal " , sagte er , " euer ganzes Frauenunglück besteht darin , daß ihr bis in die Knochen unfrei seid .
Es hat noch nicht einmal in euch gedämmert , was es überhaupt mit der Freiheit auf sich hat !
Ihr wollt geknechtet sein - und knechten !
Ihr klammert euch in eurer Hilflosigkeit an einen wie ein Ertrinkender an einen kräftigeren Schwimmer .
Daran denkt der Sinkende nicht , daß er auf die Weise auch den anderen in die Wellen zieht .
Der Vergleich ist sogar " , fügte er mit auffallender Lebhaftigkeit hinzu , " ausgezeichnet !
Ihr vergeßt vollkommen die Einheit der Persönlichkeit , Ihr sucht sie in eine Zweiheit , respektive Vielheit aufzulösen und denkt nicht daran , daß ihr in diesem chemischen Prozesse gerade den vollkommen zugrunde richtet , den ihr am meisten zu lieben vorgebt ! "
" Aber " , unterbrach er sich lachend , " das sind ja so schwierige Dinge , die du doch nicht kapierst !
Und was würde es nützen , selbst wenn du sie kapieren würdest ?
Komme , sei gut , und denke nur daran , daß die Dinge nicht so klar sind , wie du dir in deinem Hebammenverstand einbildest !
Man kann nämlich " , schloß er in leisem Spott , " eine ausgezeichnete Hebamme sein und braucht doch von diesen höheren Dingen keinen Schimmer zu haben .
Und darin liegt nicht der geringste Vorwurf , sondern im letzten Grunde eine Entschuldigung ! "
" Bist du zu Ende ? "
" Ja , mein Herzblatt ! "
" Fürs Herzblatt bin ich etwas zu groß geraten .
Für dumm hältst du mich , das weiß ich .
Aber schließlich bin ich nicht so dumm , um nicht wenigstens den Sinn von dem , was du gesagt hast , zu fassen .
Es stimmt ... und es stimmt nicht .
Und es stimmt viel weniger als es stimmt .
Und das kommt daher , weil bei euch der Hochmut und bei uns die Güte ist !
Hinter allen unseren Fehlern und Kleinlichkeiten steckt wenigstens die Güte . "
Heinsius wurde nervös .
Er ging mehrere Male hastig im Zimmer auf und nieder .
" Verehrteste , Sie nehmen die Dinge mit dem Herzen auf ...
Sie müssen sich das abgewöhnen ! "
Und sich an den Dichter wendend :
" Offen gestanden , ich hätte Ihnen nicht so viel Erkenntnis und Kultur zugetraut !
Für einen Menschen , der sich mit einer so unnützen Geschichte wie dem Dichten abgibt , besitzen Sie einen respektablen Grad von Klarheit ! "
Die Liers lachte höhnisch auf .
" Warum lachen Sie ? " fragte der Volksschullehrer .
" Es fiel mir gerade ein , wie Sie sich eines Hundetieres wegen aufgeregt haben !
Was ging denn die Geschichte Sie an ?
Wie kamen Sie denn dazu , die persönliche Freiheit des Karrenbesitzers anzutasten ?
Das ist ja ein Einbruch in fremde Rechte , den Sie bei einem anderen unerhört finden müßten ! "
" Sie sind in einem kleinen Irrtum .
Das war bei mir kein Humanitätsdusel , sondern der reine Egoismus .
Mich hat die Geschichte geärgert weder in Rücksicht auf den Hund , noch auf diesen Rowdy .
Und weil ich mich ärgerte , machte ich logischerweise meinem Ärger Luft , selbst auf die Gefahr hin , Schaden zu leiden . "
" Eine , da kann ich nicht mit !
Ihr wißt die Geschichte in einer Weise zu verdrehen , daß man sich ordentlich närrisch vorkommt !
Manchmal denke ich wirklich , ich bin im Narrenhause , wenn ich mit euch zusammentreffe .
Das Blaue redet ihr vom Himmel herunter .
Ihr kriegt es fertig , von dieser weißen Decke unsereinen gegenüber zu behaupten , daß sie schwarz sei . "
" Ja , ist sie denn nicht schwarz ? " fragte Heinsius spöttisch .
" Wie können Sie denn behaupten , daß sie weiß ist ? "
Die Liers atmete tief auf .
" Gute Nacht , Herr Lehrer , mir fallen die Augen zu !
Ich merke doch , daß es anstrengender ist , Ihnen zuzuhören , als Kindern zur Welt zu verhelfen . "
In der Tür des Schlafzimmers warf die dicke Frau dem Dichter noch einen verliebten Blick zu , den er freundlich , beinahe herablassend , erwiderte .
Der Lehrer wandte sich bei diesem Intermezzo verlegen ab .
" Zur Psychologie der Ehe " , murmelte er vor sich hin , und seine dünnen Lippen wurden von einem Zuge der Ironie belebt .
Er verabschiedete sich von dem Dichter , der sich inzwischen mit der Zeitung auf dem Sofa bereits ausgestreckt hatte , und verschwand eiligst .
VII.
In den nächsten Wochen beherrschte Thomas ein Gefühl der Kleinheit und Scham , der Selbstverachtung und leidenschaftlichen Schmerzes , über das er nicht hinwegzukommen vermochte .
Er suchte seine Erlebnisse einzusargen , dunkle Erde über sie aufzuwerfen .
Aber es wollte ihm nicht gelingen .
Aus der Tiefe hörte er Stimmen , die ihn quälten und marterten .
Er versenkte sich in die Arbeit - die Stimmen ließen ihn nicht ruhen .
Es gab für ihn keinen Frieden .
Seine Ängste wuchsen und verdichteten sich zu einem Urwald von schwarzer Finsternis , in den kein Licht , keine Sonne drang .
Hier hausten fragwürdige Gestalten , die gleich ihm gehetzt , verfolgt , ruhelos umherirrten .
Was habe ich eigentlich getan ? fragte er sich .
Und immer wieder raunte ihm seine Scham zu :
Die Sünde wider den heiligen Geist , wider dein eigenes Ich ! -
Die Sünde ? ...
Er lachte furchtsam in sich hinein .
Es war das die törichste und abgeschmackteste Formel für das , was auf ihm wuchtete .
Zuerst hatte er geglaubt , es sei gekränkte , aufs tiefste verwundete Eitelkeit .
Aber über diese närrische Idee war er schnell hinweggekommen .
Die Krankheit steckte ihm tiefer im Blut .
Es war ihm , als ob er seine beste Kraft vergeudet , seine eigenes Erdreich abgetragen hätte .
Ein Teil seiner Wurzeln lag gleichsam frei da , und die Fäden vertrockneten und verdorrten .
Er hatte sich selbst aufgegeben , indem er sich mit seinem ganzen Empfinden an ein Wesen geklammert hatte , das ihn für ein paar elende Lappen beiseite warf .
Es ist das Kennzeichen einer gemeinen Natur , spintisierte er weiter , wenn ihre Instinkte sie an ein minderwertiges Wesen fesseln .
Der unberührte Mensch findet in seinem dunklen Drange den einzigen , den richtigen Weg .
Er hatte seine ganze Innerlichkeit verleugnet , alles Reine seinem brutalen Begehren geopfert ; sie selbst hatte er verloren .
Seine Liebe kam ihm jetzt verächtlich vor .
Über das Leid und den Gram der Menschen war er hinweggeschritten - was in ihm aufkeimen wollte , hatte er zertreten .
Es gab für ihn keinen Ausweg aus diesen Wirrsalen .
Er konnte damit keine Rechtfertigung vor sich finden , daß er in einem Rausche sich vergessen hatte .
Er sah deutlich , daß er sich mit solchen Ausflüchten nur von neuem belügen würde .
Woraus sollte man einen Menschen beurteilen , wenn nicht aus seinen Handlungen !
Aber wenn die Handlungen wirklich das Bestimmende , das Letzte waren , gab es dann für ihn überhaupt noch eine Lebensmöglichkeit ?
Liebe ...
Liebe des Mannes zum Weibe ... ein Gelächter schüttelte ihn .
Da sollte der Weisheit letzter Schluß sein , wenn man den Toren glauben durfte !
Er fühlte auf der Zunge einen widerwärtigen Geschmack , als ob er vergiftete Kräuter genossen hätte und sich nun erbrechen müßte .
Es war ein Kampf zwischen der kranken Seele und dem armen Körper , der all die Gifte aufgesogen hatte .
Wenn etwas wie leises Vergessen in ihn einziehen wollte , so stand sein innerer Hohn auf und schwang die Knute .
Stelle dir nur vor , wie alles geworden wäre , wenn ihre Liebe angedauert hätte !
Und malte er sich dann das Zusammenhausen mit dieser Frau aus , das Idyll in armseligen vier Wänden , so sah er ihre gläsernen Puppenaugen starr auf sich gerichtet , so erkannte er ihre Sehnsucht , die sie in das Reich des Belial lockte .
Und wie sie ihn herunterzog - ihn sich willfährig machte !
Und war es denn ausgeschlossen , daß er diese Frau abgeschüttelt hätte ?
War er nicht bereits so versklavt gewesen , daß er auch den letzten Schritt getan hätte ... ? Liebe ... Vereinigung der Körper und Seelen ...
Zwei-Einheit ... der dunkle Drang nach Fort- und Höherentwicklung ... an all den Phrasen rieb er sich wund .
Verkuppelung der Sinne , krankhafte Erregungen taufte " man " mit hochtrabenden Namen ...
" Man "
= Horde = Thomas Druck ...
An der Gleichung war nicht zu rütteln und zu tüfteln .
Er war jetzt der Mensch , der einen Knacks erhalten , der die wurmstichige Stelle in sich entdeckt hatte .
Schließlich begann er seine Gedanken aufzuschreiben .
Und davon ließ er nicht ab , so sehr es ihn erniedrigte , sich in den Fasern aller seiner Empfindungen bloßzulegen .
Jedes Beschönigende , jedes Rechtfertigende ließ er beiseite .
Hart , trocken , klar , wie eine Punkt für Punkt in sich gegründete Anklage , kalt und nüchtern sollte dies Bekenntnis dastehen .
Nichts von Gefühlsseligkeit , nichts von Vertuschen , Schonung und Mitleid durfte ihn leiten .
Nur so konnte er aus dem Zusammenbruch seiner selbst die Trümmer ziehen ; nur so war eine letzte Möglichkeit gegeben , wieder aufzubauen .
Aber schon dieser Gedanke an neues Bauen machte ihn stutzig , verwirrt , willensschwach .
Er löste gleichsam alles wieder auf .
So kam etwas Sektiererisches und Asketisches über ihn .
Eine Sehnsucht nach freier Bergluft , nach brausendem Gebirgsbach , in dem er untertauchen und sich rein baden könnte .
Und eines Nachts erhob er sich plötzlich , packte das Notwendigste in ein armseliges Bündel zusammen und verließ auf den Fußspitzen das Haus .
Er sah übernächtigt , verstört und seltsam aus .
Er trat an die erste Droschke , auf die er stieß , und mit gesenkter Stirn sagte er zu dem Kutscher , der es sich in dem Wagensitz bequem gemacht hatte :
" Fahren Sie mich nach dem Görlitzer Bahnhof ! "
Der Mann torkelte aus seinem Halbschlaf auf , rieb sich die Augen und blickte verwundert auf den Fahrgast , der ihm verdächtig vorkam .
Auf einmal aber erhellte sich sein Gesicht .
Er murmelte ein paar unverständliche Laute und verließ mit einem raschen Sprunge den Wagensitz .
Und mit einer möglichst kaltblütigen Miene fragte er von oben herab :
" Sie kennen mir wohl ? "
" Nein " , entgegnete Thomas leise .
" Ich kenne aber Ihnen .
Ich habe Ihnen schon jefahren ! "
Und sich plötzlich auf die Lippen beißend , als ob er bereits zuviel gesagt hätte , verstohlen schmunzelnd , begab er sich auf den Bock .
Die Fahrt dünkte Thomas endlos .
Und wie merkwürdig , wie schemen- und gespensterhaft sahen die Häuser bei dem kalten Morgenlichte aus -
denn der Morgen begann inzwischen zu grauen .
Wie eine Totenkammer kam ihm die Stadt in ihrer einsamen Ruhe vor .
Kein Mensch war auf den Straßen .
Alles war ausgestorben .
Die weißen Häuser hatten in diesem Lichte für ihn etwas Grauenhaftes ; die Ruhe an Stelle des brausenden und bewegten Lebens etwas Erschreckendes und Erschütterndes .
Alles erschien ihm grotesk und verändert .
Er sah statt der Häuser nur Trümmer , als ob ein Erdbeben die Stadt dem Boden gleichgemacht hätte , und als ob er , ein einsamer Überlebender , über ein Feld des Grauens und der Verwüstung ohne Ende hinwegführe .
Und unter dem furchtbaren Geschehnisse schrak er beständig zusammen und wurde wie von Fieber geschüttelt ; auch das Pferd trabte angstvoll dahin .
Sicher ging es dem Kutscher so wie ihm .
Kaum , daß er die Zügel in den Händen halten konnte ...
Aber die Häuser standen doch fest und ehern da , und in wenigen Stunden würde das Räderwerk unaufhaltsam zu treiben und zu arbeiten beginnen .
Er lachte geheimnisvoll in sich hinein .
Das war ja gänzlich ausgeschlossen , grübelte er weiter .
Seine Wahrnehmung von Häusern , in denen Menschen wohnten , mochte im Augenblicke nichts weiter als eine grobe Sinnestäuschung sein .
" Brrr " , machte der Kutscher und hielt vor dem Görlitzer Bahnhof .
" Was bin ich schuldig ? "
" Na , was wern Se schuldig sind ? "
Er nannte ihm den dreifachen Preis und steckte kaltblütig und gleichzeitig geringschätzig das Geld ein ...
Vier Stunden mußte Thomas warten , ehe sein Zug ging .
Er ließ sich Briefpapier und Tinte geben und schrieb eine Zeile an seine Wirtin .
Und in einer plötzlichen Anwandlung , die er sich nicht erklären konnte , setzte er einen Brief an seinen Vater auf .
Weshalb schreibe ich ihm , dachte er .
Er wollte unter keinen Umständen darüber sich den Kopf zerbrechen .
Er wollte es nicht , weil er ohnedies den Grund zu wittern glaubte .
Jedenfalls tue ich es nicht aus Güte oder Liebe , soviel weiß ich ; das andere ist gleichgültig ...
Er löste ein Billett vierter Klasse .
Wie komme ich dazu , anders zu fahren ?
Es war ihm in der Stunde klar , daß er von nun ab seine Lebensbedürfnisse auf das genaueste kontrollieren und auf das bescheidenste einrichten müßte .
Der Wartesaal war noch immer vereinsamt , als er wieder zurückkehrte .
Nur in einem Winkel saß ein mittelgroßer Mann mit einem ungepflegten , blonden Vollbart .
Er war in einen langen Mantel gehüllt und trug einen braunen Hut aus steifem Filz , der mehrere Fleck hatte .
Der Mann stützte die Ellenbogen auf den hölzernen Tisch und hatte in die Handflächen seinen Kopf gelegt .
Thomas achtete nicht auf ihn .
Einen Augenblick erwog er es , auch der Bettina vor seiner Abreise eine Nachricht zu senden .
Diesen Plan gab er indessen sofort auf .
Der Gedanke an sie bereitete ihm Schmerzen .
Endlich wurden die Türen geöffnet , die zum Perron führten .
Er stieg in den Wagen .
Der Zug war so gut wie leer .
Nur ein paar Reisende waren in den Kupees .
Der Mensch aus dem Wartesaal folgte ihm .
Er fuhr ebenfalls vierter Klasse .
Unmittelbar darauf setzte sich die Lokomotive in Bewegung .
Sein Reisebegleiter nahm nach einer kleinen Weile ein zerlesenes Buch hervor , in das er sich vertiefte .
Thomas hingegen schloß die Augen und schlief sofort ein .
Erst gegen Mittag erwachte er .
Die Sonne brannte in voller Kraft durch die geschlossenen Kupeefenster .
Der Mensch ihm gegenüber saß noch immer in der nämlichen Stellung da und las .
Er hatte weder seinen Mantel ausgezogen , noch seinen Hut abgenommen .
Thomas blickte flüchtig zu ihm hinüber .
Das von dem dichten Vollbart eingerahmte Gesicht des Fremden hatte eine so zarte und weiße Hautfarbe , wie er sie nur bei Frauen gesehen .
Die wasserhellen Augen waren trübe und bleich wie Wäsche , die in der Sonne getrocknet wird .
Was Thomas zunächst auffiel , war aber die längliche , außerordentlich edel geschnittene Hand , auf der die bläulichen Adern deutlich hervortraten .
" Darf ich das Fenster öffnen ? " fragte Thomas , als sein Gegenüber plötzlich das Buch zuklappte .
Der Fremde nickte und lächelte dazu auf eine zerstreute , weltfremde Art .
Dann nahm er aus einer Tüte etwas getrocknetes Obst , das er sorgsam in ganz kleinen Bissen verzehrte .
Die Tüte steckte er behutsam wieder in die Manteltasche , aus der er jetzt eine Flasche und ein in Zeitungspapier gewickeltes Glas hervorholte .
Die Flasche enthielt Milch .
Er schenkte sich einen kargen Schluck ein , und nach diesem Genüsse glänzte seine Miene in kindlicher Heiterkeit auf .
Alles das hatte Thomas wahrnehmen müssen , obwohl er den seltsamen Reisegenossen nur bescheiden beobachtet hatte .
" Was ist das für ein wundervoller Tag " , meinte der Fremde demütig , leise und mehr für sich .
Thomas antwortete nicht - er sah ohne Gedanken in den wolkenlosen Himmel .
Der Fremde lächelte und wollte von neuem zu lesen anfangen .
Ich habe ihn am Ende verletzt , dachte Thomas .
" Fahren Sie noch weiter mit ? " fragte er deshalb .
" Nein .
Ich steige bei der nächsten Station aus und gehe zu Fuß .
Mein Geld reicht nur noch bis zur nächsten Station " , fügte er gleichsam entschuldigend hinzu .
Und ergänzend : " Der Zweck meiner Reise ist eine Fußwanderung . "
Er sah Thomas auf einmal so durchdringend an , daß dieser sich verletzt fühlte .
" Fällt Ihnen etwas an mir auf ? " wandte er sich an ihn , und in dem Ton seiner Stimme lag etwas Unfreundliches , das er sofort bereute .
Der andere schien es gar nicht bemerkt zu haben .
In einer versonnenen Manier - seine Pupillen schienen in die Ferne zu schweifen - sagte er :
" Das ist ein langer Weg der Leiden , den Sie noch zurücklegen müssen ! "
Und wieder lächelte er sonderbar in seiner Art von Unterwürfigkeit und Verlegenheit .
" Kennen Sie mich denn ? "
" Ich kenne Sie , weil Sie ein Unglücklicher sind , der sich nach Erlösung sehnt ! "
Und ganz spontan reichte er Thomas mit einer anmutigen Bewegung die Hand .
Er nahm sie nicht .
Er betrachtete seinen Reisegenossen mit skeptischer Scheu .
Ohne im mindesten gekränkt zu sein , sagte der Fremde nach einer Weile :
" Sie dürfen mir Ihre Hand geben , die Brüder im Leide erkennen sich . "
Einem inneren Zwang folgend , gab er nach .
Der andere hielt einen Augenblick seine Rechte .
" Ich darf Ihnen einen Zehrpfennig geben , da ich reicher bin als Sie . "
Und ohne auf den verblüfften Ausdruck in Thomas ' Zügen zu achten , fuhr er fort : " Es sind zwei Worte , die ich Ihnen schenke . "
In dieser Sekunde hielt der Zug .
Der Fremde öffnete mit einer raschen Bewegung die Kupeetüre , und während des Hinaussteigens flüsterte er :
" Karma ... Nirwana ! "
Bevor Thomas noch etwas erwidern konnte , war er verschwunden. VIII. Thomas schritt über den Kamm der Berge im Morgenrot , wenn auf den Gräsern Frühtau lag .
Er schritt über die Gipfel am Mittag , wenn die Sonne glühte und alles in ihr weißes Licht tauchte .
Und wenn das Rot des Abends heraufzog und Wälder und Höhen golden machte , so stand er da oben und blickte verträumt mit glänzenden Augen in die versinkende Helle .
Kein Haus ... kein Strauch ... kein Mensch .
Er horchte in Einfalt und Andacht auf die Einsamkeit .
Er hörte das Rauschen ihrer Flügel ... er vernahm ihre lautlosen Lieder .
Seine bleichen Züge waren von der Sonne braun geworden , seine sehnige Gestalt wurde noch schlanker bei dem steten Wandern .
Kein Ton entging ihm .
Er hörte mit verfeinerten und geschärften Ohren ; und diesem Horchen und Lauschen gab er sich hin .
Darin empfand er den Rausch seiner Einsamkeit .
Eine tiefe gläubige Ruhe durchdrang ihn .
Über ihn kam Festigkeit und Freude ; eine seltsam geartete Milde , die er vorher nicht an sich gekannt zu haben meinte , nahm von ihm Besitz .
Er kam sich gewandelt vor ...
Aber diesen Wandel fand er natürlich , er wunderte sich darüber nicht .
Alle Dinge sah er plötzlich anders .
Ihm war es , als ob bisher sein Blick verschleiert gewesen wäre .
Immer wieder sagte er leise zu sich :
ich habe nicht nur erkannt - ich werde auch nach meiner Erkenntnis leben .
Er hatte das unabweisbare Empfinden , daß er nur so die Zweifel und Wirrnisse des Daseins , all das Dunkel , das im Hintergrunde seiner Seele kauerte , aufzulösen vermochte .
Man war nicht dazu da , um für sich allein zu leben .
Man trug nur dann das ewige , nie verlöschende Licht in sich , wenn man eins wurde mit dem All .
Und diese Vorstellung erfüllte ihn mit einer weiten Freudigkeit .
Man mußte in sich graben , sein eigenes Erdreich aufwerfen , Scholle auf Scholle .
Den Boden bestellen in hingebender Arbeit , bevor man zu sich selbst gelangte .
Wie wird ein Lebewesen ?
Durch wieviel organische Prozesse , durch wieviel Bahnen hat es zu schreiten , bevor es in seiner Vollendung da ist ?
Das konnte man auf Schritt und Tritt in der Natur verfolgen !
War es im Verhältnis dazu wunderbar , wenn die reine , hüllenlose Wiedergeburt des Geistes eine Wanderung , deren Weg unendlich und ewig war , wie der Geist selber , erforderte ?
Wie eine Biene blühenden Klee umschwirrt , alle Süße aus ihm zieht , um ihr Werk zu vollenden , so sog er sich an dem Begriff " Wiedergeburt " voll .
Das Wort bekam für ihn einen Umfang und eine ungeahnte Bedeutung .
Es war nicht mehr ein Wort , ein leerer Schall ... es war etwas Wachsendes , Blühendes , Ewiges ... es war für ihn eine Erfüllung - ein Ziel zu anderen Zielen .
Er kam sich wie ein Reisender vor , der an verschiedenen Stellen des Landes wichtige Geschäfte zu besorgen hat und auf einer seiner Stationen nach langer und beschwerlicher Fahrt glücklich angelangt ist ...
Als er nach Wochen die Rückreise antrat , wußte er , daß von nun an erst das Leben für ihn begann .
Ihm war , als ob hinter den letzten Ereignissen nicht Wochen , sondern Jahre lagen .
Er war ein Fremder , ein Neuer , ein Gewandelter , der , wenn er den Blick rückwärts richtete , sich kaum noch erkannte .
Aber andererseits empfand er deutlich , daß er ein Wanderer war , für den es keine Rast und Ruhe gab .
Steile Wege , finsteres Dickicht und Gestrüpp , weite Strecken ohne Strauch und Halm , von Sonnenbrand ausgedörrt , Nachtdunkel und Überlicht , das blendete , lagen vor ihm .
Und alles das schuf in ihm einen tiefen Ernst und eine Kraft , die ihn stark machte .
IX.
Die Ingolf hatte mit sich einen Kampf durchgemacht , in dem sie schließlich zusammengebrochen war .
Sie hatte den Mechaniker nicht mehr sehen und sich selbst zwingen wollen , jeden Gedanken an ihn aufzugeben .
Alle Erwägungen der Vernunft hatte sie zu sich sprechen lassen .
Sie hatte ihn in seiner ganzen Schlechtigkeit zerfasert , um jeden Zusammenhäng mit ihm in sich auszuroden .
Und in einer ihr innewohnenden Neigung , alles in klare Formeln zu bringen , hatte sie festgestellt :
1. Fründel ist ein Mensch der Rücksichtslosigkeit und Selbstsucht .
2. Fründel besitzt nicht ein Atom von Güte .
3.
Er hat sich festgebissen in ein System von abstrakten Begriffen , das ihn verknöchert und für jede freiere Erkenntnis verbohrt hat .
Die Arterien des Herzens sind verkalkt .
4. Sein geistiger Zustand hat etwas stark Pathologisches .
5. Er gehört zu der Kategorie von Menschen , bei denen man sich jeder Gewalttätigkeit versehen kann .
6. Schluß :
Meide ihn wie das Übel !
Diese Resultate hatte sie auf einen weißen Bogen geschrieben , ihn in ein Kuvert gelegt , das sie mit der Adresse versah :
Zur Psychologie und Erkenntnis des Herrn Frank Fründel .
Dennoch vermochte sie ihre Gedanken nicht von ihm zu trennen .
Es lag auf ihr wie ein Alp .
Immer sah sie seine Augen , die er so starr und unbeweglich auf einen Menschen richten konnte , und immer empfand sie den kalten Hohn und die eisige Selbstsicherheit , die ihm eigen waren .
Wo sie ging und stand - er war hinter ihr , er verfolgte sie .
Er blickte sie mit einem niederträchtigen Mitleid an , das sie schüttelte .
Sie hörte seine Stimme , deren fester , sachlicher Ton sie vollends in Verwirrung brachte .
Und ganz deutlich vernahm sie , wie er sagte : Sieh , ich könnte dich in meine Hände nehmen und zerbrechen - aber ich tue es nicht .
Es wäre mir ein Leichtes , Gewalt an dir zu üben und dich zu mir herüberzuziehen .
Und dennoch stehe ich davon ab .
Ich besitze dich , so sehr du dich mir entziehst .
All dein Fühlen gehört mir , so sehr du mich zu hassen trachtest .
Ich weiß es todessicher , daß du selber demütig zu mir kommen und deinen Willen in meine Hände legen wirst ...
Solche Vorstellungen hatte sie bis zur tiefsten Selbsterschöpfung niederzuringen versucht ; ihre Waffen waren Haß , Auflehnung und Empörung gewesen .
Dann hatte sie ihren Haß und ihre Empörung begraben , und auf diesem Grabe war Sehnsucht aufgeblüht und Hoffnung .
Sie wartete nur darauf , daß er ihr ein Lebenszeichen geben , ihr schreiben würde .
Aber ihr Warten war vergebens .
Da kam über sie eine jammervolle Ruhelosigkeit .
Sie fühlte , daß alle ihre Widerstandskraft zerbrochen war , daß er nur zu kommen brauchte , um sie wie einen flügellahmen Vogel , der mühselig am Boden kriecht , aufzunehmen ; daß sie sich zitternd und mit geschlossenen Augen an ihn schmiegen würde .
Sie dachte nicht mehr an die Josefa .
Sie vergaß ihn , wie er war .
Sie fühlte eines nur , daß er Herr über sie war .
Er war der Sieger und hatte die eiserne Kraft , vor der sie zurückbebte , und die sie mit süßer Wonne erfüllte .
Sie hätte es ihm unter freudigem Weinen bekannt , daß es nur noch ihr Glück sei , sich vor ihm zu beugen .
Und dann schlug die Stunde , wo ihre Scham wie Frühlingsschnee zerschmolz , wo sie weich und mürbe wurde .
Da schrieb sie ihm und bat ihn zu kommen ...
Mechaniker Fründel war nicht für halbe Arbeit .
Er nahm ihr den Rest ihres Selbstbewußtseins .
Er antwortete , daß er sie in seiner Wohnung erwarte .
Er gab ihr genau die Stunde an , klar und bestimmt , ohne ein einziges , freundliches Wort .
Noch einmal bäumte sich alles in ihr auf .
Sie beschloß , unter keinen Umständen sich zu fügen .
Aber als der Abend heranrückte , setzte sie sich den Hut auf und fuhr zu ihm .
Sie trieb den Kutscher zur Eile an .
Sie durfte ihn nicht warten lassen .
Dem kräftigen Mädchen schlotterten die Knie beim Verlassen der Droschke ... niemals war sie so schwach und elend gewesen .
Noch im Hausflur wollte sie umkehren .
Dann jedoch lächelte sie verzweifelt in sich hinein .
Ihr Widerstand kam ihr töricht vor .
Nichts ersparte er ihr .
Je höher sie die Treppe hinaufklomm , desto sicherer erwartete sie , daß er ihr entgegeneilen , ihr ein gutes Wort sagen und sie in seine armselige Bude führen würde ... wie dankbar wäre sie dafür gewesen ...
Aber von alledem geschah nichts ...
Sie pochte an seine Türe und hörte wie ihre Pulse klopften .
Sie vernahm sein ruhiges " Herein ! " , drückte mit heißer , fiebriger Hand die Klinke nieder und trat bleich und verstört ein .
" Ah , guten Tag " , sagte er und erhob sich von seinem Stuhle .
Er reichte ihr zunächst nicht die Hand , sondern trat zur Lampe , die er anzünden wollte .
" Nicht doch " , bat sie .
Da ließ er es .
" Sie wundern sich , daß ich zu Ihnen gekommen bin " , brachte sie langsam hervor , unfähig , ihre Bewegung zu unterdrücken .
Er schüttelte den Kopf .
" Sie haben mich erwartet ? "
Etwas wie trunkene Freude klang durch ihre Stimme .
" Ja ! "
Sie nahm plötzlich seinen weichen Filzhut , der auf der Kiste lag , und streichelte ihn .
" Er ist ganz zerdrückt " , meinte sie scheu .
" Besser der Hut , als ich " , antwortete er lächelnd .
Sie hatte die Hände gefaltet und etwas Kindliches , Schwermütiges , das ihr ernsthaftes , kluges Gefühl merkwürdig wandelte , grub sich in ihre Miene .
" Gibt es einen Menschen , der auf Sie einen auch nur leisen Druck auszuüben vermag ? "
Er schwieg .
Sie suchte in seinem Gesicht zu lesen .
Es war aber so dämmerig und dunkel , daß sie verschwommene Linien sah .
" Es könnte wohl einen Menschen geben " , sagte er endlich , " den ich ... " , und unvermittelt , ohne die Lücke auszufüllen , fuhr er fort :
" Dieser Mensch müßte vor mir Ehrfurcht haben .
Niemals dürfte er einen Zwang auf mich ausüben .
Er müßte mir die Gewißheit schaffen , daß er meine Freiheit , daß er mich ehrt .
Und er müßte so sein , daß ich mit ihm über alles sprechen könnte und es der Mühe für wert hielte , auf seine Antwort zu hören .
Niemals dürfte er Besitzrechte auf mich geltend machen , mich mit seinen Wünschen quälen .
Er müßte sich mir hingeben , ohne Forderungen zu stellen .
Und er müßte " , setzte er , Silbe für Silbe auseinanderziehend , hinzu , " es wissen ... die Stunde müßte er wissen , wann ich seiner bedarf , wann nicht .
Dieser Mensch " , schloß er , " kann nur eine Frau sein - "
" Ja " , antwortete sie einfach und von einem unaussprechlichen Weh erfüllt , " dieser Mensch kann nur eine Frau sein . "
Und plötzlich legte sie ihre Hände auf ihn und sagte : " Ich will es versuchen ! "
Da fühlte sie , wie jemand mit starken Armen sie umfing , mit Armen , die stählern waren , und sie einen flüchtigen Augenblick an sich zog .
Er hob sie ein klein wenig empor , und sie dünkte sich über sich selbst hinweggetragen .
Sie hatte in diesem Augenblick nur den einen Gedanken :
ich bin eine Magd in Seligkeit , und vor mir steht mein Herr !
Aber unmittelbar darauf ging eine Fülle bunter Vorstellungen durch ihr Hirn .
Sie erinnerte sich , wie sie von klein auf immer widersprochen , sich gegen Eltern und Erzieher aufgelehnt hatte , wie niemand sie bändigen konnte , wie sie in allem und jedem stets ihren Willen durchgesetzt hatte .
Und nun brach alles Sklavische , Dienende gewaltsam aus ihr hervor ... und sie empfand ihre Demut wie ein reiches , unerhörtes Glück .
Das sagte sie ihm .
Es drängte sie , es ihm zu sagen .
Dann nahm sie seine Hand und streichelte sie beständig .
" Niemals sollst du mich als eine Last empfinden .
Niemals soll dein Wille , deine Freiheit durch mich gebunden sein ! "
Sie sprach in einem Tone , der feierlich , beinahe wie ein Schwor klang .
Und als er ein wenig betroffen aufsah und in einem Unbehagen , das sie sofort herausfühlte , sich abwandte , beeilte sie sich , hinzuzufügen :
" Es ist das erste und letzte Versprechen , das du von mir hören wirst ! "
Sie lehnte sich an ihn .
Und nun ging eine unerwartete Änderung mit ihm vor .
Er drückte sie leidenschaftlich an sich , ohne auf ihren Schmerz zu achten .
Er küßte sie mit einer Wildheit und Heftigkeit , die ihr Atem und Besinnung nahmen .
Sie schrie nicht auf und entzog sich ihm nicht .
Sie bebte unter seiner grausamen Zärtlichkeit .
Sie schloß die Augen und vergaß alles .
Er ließ sie plötzlich los und nahm sie wie ein Kind in seine Arme und sagte :
" So ein großes , starkes Mädchen und wehrt sich nicht .
Stellt sich vor den Schuß und zuckt nicht . "
Er lachte auf und suchte wieder ihren Mund .
" Küße mich " , sagte er ... und sie gehorchte .
" So ! " -
er gab sie frei und zündete die Lampe an .
Verwundert betrachtete sie sein Zimmer .
" Ja " , meinte er , " so Hause ich ! "
Dabei glättete er ihr zerzaustes Haar und strich über ihre Stirn .
" Du glaubst , ich habe mich nicht gewehrt ? " fragte sie , aus ihrem Sinnen erwachend .
" Ich glaube es ! "
Sie zog ein zerknittertes Kuvert aus der Tasche und gab es ihm stumm .
Er öffnete es vorsichtig , nachdem er die Aufschrift gelesen hatte .
Dann trat er ganz dicht an die Lampe .
Und während sie scheu und ein wenig schalkhaft daneben stand , studierte er Wort für Wort , als ob es Hieroglyphen wären .
" Hm " , machte er , und nach einer langen Weile :
" Willst du mir dieses Schriftstück schenken ? "
Sie nickte .
Er tat den Brief wieder sorgfältig in das Kuvert und steckte ihn in seine Brusttasche , dann schritt er mehrere Male durch das Zimmer , ohne sich um sie zu kümmern .
Nach einer Weile nahm er das Schreiben wieder hervor , las es noch einmal , rückte den Stuhl dicht vor die Kiste , setzte sich und schrieb unter den letzten Satz langsam , während er seine Uhr hervorzog :
" Dieses erhielt ich Donnerstag , den 17. Mai 189. , abends halb neun Uhr . "
Er brannte ein Streichholz an und trocknete mit der dürftigen Flamme die nassen Buchstaben .
Darauf griff er nach einem Buche und las .
Der Ingolf wurde ängstlich zumute .
Er schien sie gänzlich vergessen zu haben , aber sie rührte sich nicht .
Nach ein paar Minuten klappte er das Buch zu und erhob sich .
" Komme " , sagte er , " wir wollen gehen ; denn dieses ist heute ein Fest , das man ... "
Er sprach wieder nicht zu Ende .
Er hatte überhaupt öfter die Gewohnheit , mitten im Satze abzubrechen .
Während sie die dunklen Treppen hinunterstiegen , legte er seinen Arm in den ihrigen .
Auf dem langen Wege , den sie nun zurücklegten , bis sie in die Nacht und Einsamkeit des Tiergartens kamen , blieb er still und wortlos ... und doch verstand sie ihn und schmiegte sich eng und innig an ihn. X.
Die Leute im Nachtlicht hatten sich vollzählig versammelt .
Der Schein der Petroleumhängelampe beleuchtete wiederum ihre Gesichter , die erregt schienen .
Der Maler Brose saß zurückgelehnt in seinem Stuhl .
Er hatte die Hand an das Kinn gelegt und hörte stumm zu .
Die Krankheit hatte sein Gesicht noch mehr durchgeistigt , seinen Zügen eine Art von unirdischem Glanz verliehen .
Die Frau saß neben ihm und hielt beständig seine freie Hand , die er ihr nicht entzog .
Sie war ganz innere Unruhe , jeder Blick gehörte ihm .
Ohne Anteilnahme folgte sie den Reden .
Die bangen Nächte der letzten Zeit , der Zustand der ewigen Furcht und Sorge um ihn hatten sie aufgerieben .
Dennoch beherrschte sie sich und zwang sich wenigstens äußerlich nieder .
Wenn ein Geräusch entstand , zuckte sie zusammen .
Sah dann Brose auf , so wurde sie rot wie ein Kind , drückte seine Hand und versicherte ihm , daß das nichts zu bedeuten habe .
Man sprach in erregtem Tone über Thomas Druck .
Seit Wochen war er nicht mehr hier erschienen .
Er war verschwunden , abgereist , ohne irgendeinem der Freunde ein Wort zu sagen .
Niemand wußte , wo er war .
Mechaniker Fründel erklärte , daß daraus nicht der geringste Vorwurf gegen ihn erhoben werden könnte .
Wenn er nicht mehr hierher käme und sich auf und davon gemacht hätte , so sei das seine Sache ; dadurch würde sein Urteil über ihn nicht beeinflußt .
Fründel sprach überhaupt in der letzten Zeit zur Verwunderung aller in außerordentlich fließender Rede .
Seine Schweigsamkeit hatte aufgehört .
Es schien in ihm die Neigung erwacht zu sein , sich an den Leuten im Nachtlicht zu reiben .
Alle waren erstaunt darüber , in wie hohem Grade der Einsilbige die Rede beherrschte , mit welcher Festigkeit er sprach , und wie er jeden Satz , den er aufstellte , ausgebaut und sich überlegt hatte .
Er war gegen jeden Angriff von vornherein gewappnet , er lauerte förmlich auf ihn , um ihn sofort zu parieren .
Er stieß sie durch seine schrankenlose Offenheit und vorgefaßten Meinungen ab , die durch keine Gegengründe zu erschüttern waren .
Aber alle hatten doch Achtung vor seiner Persönlichkeit und seinem unerhörten Fleiß .
" Welches ist denn Ihr Urteil über Thomas Track ? " fragte Lissauer .
Der Mechaniker blickte den Frager scharf an , ehe er erwiderte :
" Ich traue ihm nicht ganz , weil ich ihn für einen Träumer und Weichling halte ! "
Und Heinsius , der mit Fründel am besten stimmte , weil er sich durch das harte Auftreten dieses gesunden Burschen in seinen eigenen Anschauungen gefestigt und gestärkt fühlte , setzte hinzu :
" Das ist einer von den Halben , den Schwärmern , die nicht hott und hü sagen , die bald hierhin , bald dorthin getrieben werden , die immer gern möchten und nie können !
Einer von den Lauen , die am Gewissen laborieren !
Aus solchen Kerlen werden schließlich Weltschmerzlar oder Irrenhäusler . "
Diese Worte hatte er so verbittert ausgestoßen , daß alle einen Augenblick verblüfft waren .
Aber auf einmal erhob sich die Maria Werft , und sich weit über den Tisch beugend , als wollte sie ihn mit ihren glänzenden Augen durchbohren , rief sie mit einer Stimme , aus der tiefer Zorn und Bewegung zitterte :
" Wie können Sie den gnädigen Herrn , der abwesend ist , so beschimpfen ? "
Die Ingolf , die schon bei den Worten Fründels gedrückt auf die Tischplatte gesehen und sich nicht zu rühren gewagt hatte , schrak jäh auf .
" Reden Sie doch nicht solches Blech von Gnade und gnädig - das wird auf die Dauer langweilig " , unterbrach der Mechaniker in sarkastischem Tone das Schweigen .
Die Maria krümmte sich bei seinen Worten eine flüchtige Sekunde wie unter einem Peitschenschlage , dann aber richtete sie sich kerzengerade auf , und wieder bekamen ihre Augen einen ekstatischen und durchleuchteten Ausdruck .
" Sie sind ohne Gnade , Christus verzeihe Ihnen ! " Heinsius wollte ihr in die Rede fallen , aber aller Augen waren auf Brose gerichtet , der sich langsam erhoben hatte und mit beiden Händen am Tische festklammerte .
" Ich möchte " , begann er ( und man verstand ihn zuerst kaum , so undeutlich sprach er ) , " durch mein Schweigen nicht in den Verdacht kommen , als ob ich mich den Urteilen über Thomas Druck anschlösse , sie billigte .
Ich für meinen Teil habe keine Zweifel an diesem Menschen .
Alles , woraus Heinsius und Fründel Stricke für ihn drehen , scheint mir nichtig ; es begründet vielmehr sein Wesen denen , die es verstehen wollen .
Es ist wahr , dieser Mensch leidet am Volksgram , er leidet an seinem Ich .
Hier liegen die Wurzeln seiner Kümmernisse , aus denen , Sie dürfen es mir glauben , seine Weltanschauung , seine Kraft wachsen wird .
Denn dieser zählt zu den Menschen , die sich langsam und schwer finden , die unablässig suchen und graben !
Er ist aus dem Holze der Edelmenschen . "
Und leiser fuhr er fort : " Viele Tannen stehen im dunklen Walde .
Der Sturm braust über sie hinweg , daß sie zusammenschauern und vor Todesweh ächzen , und von neuem braust der Sturm und peitscht das Erdreich auf und entwurzelt sie mitleidlos .
Und zu einer jungen Tanne , die freier dasteht als die anderen , blicken die Übriggebliebenen , die Verschonten ängstlich hinüber , ob sie noch dastünde , oder der Gewalt gewichen wäre ...
Und diese Tanne hält Trotz dem empörten Unwetter .
Es beugt sie zur Seite , in jeder ihrer Nadeln fühlt sie die Stöße , aber jedesmal richtet sie sich höher und gerader auf .
Und auf die Nacht und auf den Sturm folgt der Tag und die Stille .
Und die anderen liegen kläglich da , während sie in ihrem Gram fester und tiefer Wurzeln geschlagen hat .
Wen ich mit dieser Tanne meine , wissen Sie .
Und darin fühle ich mich mit der Maria Werft eins , daß man einen , der sich nicht verteidigen kann , nicht angreifen soll ! "
Der Musiker Abraham Gebhardt war aufgestanden .
" Ich finde es unwürdig " , rief er , und seine langen Locken bewegten sich , " daß man in unserem Kreise so wenig Vertrauen zueinander hat .
Was sollen uns die kleinlichen Schmähreden ! Habe doch wenigstens hier ein jeder Achtung vor der Persönlichkeit des anderen ! "
Fründel erhob sich .
" Wenn das ein Vorwurf gegen mich sein soll , so weise ich ihn zurück .
Ich habe den Charakter des Thomas Druck mir zu deuten gesucht und mir die Freiheit genommen , das hier auszusprechen .
Ich würde keinen Anstand nehmen , ihm meine Meinung ins Gesicht zu sagen .
Im übrigen ... "
Der Mechaniker kam nicht weiter .
Alle blickten befremdet und scheu auf die Türe , die sich soeben geöffnet hatte .
Auf der Schwelle stand Thomas , von der Sonne gebräunt und dennoch bleich .
Allen kam er verändert vor .
Seine Haltung schien ihnen straffer , sein Anzug ärmlich und sein Auge von einer außergewöhnlichen Leuchtkraft .
Die Brose ging ihm entgegen , und in ihrer freundlichen und herzlichen Art reichte sie ihm beide Hände .
Mit einem schnellen Blick die Tafel überfliegend , sagte sie :
" Sie kommen gerade zur rechten Stunde , denn eben war man dabei , über Sie Gericht zu halten . "
Nun gab sie ihn frei - aber er blieb an der Türe stehen .
Und seltsamerweise wurde es sofort wieder still .
Keiner stand auf und begrüßte ihn .
Alle sahen mit gespannten Mienen auf ihn .
In dem Augenblicke wurde es ihm klar , daß er reden müsse , daß er ihnen vielerlei zu enthüllen habe , was keinen Aufschub mehr litt .
Und niemand wunderte sich , als er jetzt begann :
" Liebe Menschen !
Immer habe ich in eurem Kreise gehört , gelauscht , gelernt .
Es ist das erstemal , daß ich versuchen will , euch etwas zu geben .
Keiner erwarte sonderliche Gedanken und Erkenntnisse .
Ihr wart dabei , über mich Gericht zu halten - und ihr tatet recht daran .
Aber ihr wußtet nicht , daß ich in der Einsamkeit , aus der ich wieder zu euch trete , mich selber angeklagt und zur Rechenschaft gezogen habe .
Und wenn ihr über mich strenge geurteilt habt - so urteile ich doch noch strenger .
Ich sah über mein Leben , das wechselvoll und dürr gewesen war .
Ich sah in mich ... und erschrak . "
Er hielt einen Augenblick inne , und seine Züge bekamen etwas Hilfloses und Wehes .
Wer atmete tief auf .
" Ich will zu euch , liebe Menschen , sprechen über den Weg , der sich vor mir auftut .
In eurem Kreise , mit euch habe ich nach einer wertvolleren Betrachtung des Lebens und aller menschlichen Dinge gerungen . Gegensätze ...
Klüfte taten sich auf .
Aber der Drang nach Freiheit schlug über alle Klüfte eine Brücke .
Jeder sehnte sich für sein Teil nach Freisein ; und dieser Begriff bekam für ihn etwas vom Urdasein ; in ihn zogen wir alle Reinheit und alles Adelige .
Unter Freiwerden verstanden wir eine Empörung , ein machtvolles Siechauflehnen gegen jeden Zwang , er mochte von außen oder von innen kommen .
All die Schalen und Krusten wollten wir sprengen , mit denen uns Erziehung und Gewaltherrschaft umgab .
Es sollte für uns nichts Autoritäres mehr geben .
Und aus einer Gemeinschaft , in der die Persönlichkeit des einzelnen unterdrückt und versklavt wurde , schieden wir stillschweigend aus , um uns den Weg mühselig zu bahnen , der uns zur Höhe führen sollte .
Wir erkannten , daß nur der freie Mensch , für den es keine äußeren Gebote gibt und keine Lockungen von dieser Welt , Mensch wurde . "
Er schlug eine flüchtige Sekunde die Augen nieder .
Dann fuhr er mit leiser Stimme fort :
" Wir begriffen , daß wir abseits standen und den Zusammenhäng mit jenen verloren , die Gewalt übten , oder Knechte waren ; und wir empfanden , in innerstem Glück unsere Einsamkeit .
Liebe Freunde , ich will versuchen , eine neue Brücke zu schlagen , eine Brücke , die vom Erkennen zum Leben führt .
Das Leben schließt seine Pforten auf .
Öffnet weit die Augen und blickt in das neue Reich !
Seid eingedenk des Wortes : Wir sind das Licht der Welt .
Wandelt im Lichte !
Zündet die Fackeln an !
Werft unser Nachtlicht überall hin - es wird Helligkeit und Tag verbreiten . -
Ich will die sammeln , die nach Licht dürsten und hungern , die sich nicht vom Baal und nicht vom Belial zertreten ließ .
Ich will die Freude verkünden , die Freude , liebe Menschen , die in vielen tausend Seelen glimmt , wie sehr man sie zu ersticken versuchte .
Denn die Sehnsucht nach der Freude ist überall ; und die Sehnsüchtigen warten nur mit bangen Seelen , daß einer komme und sie wecke . "
An der Stelle brach er plötzlich ab .
Ihm war es , als ob es vor seinen Augen dunkelte , als ob sich schwarze Schatten zwischen ihn und die anderen legten .
Er hatte ein Gefühl der Elendigkeit .
Einen Moment glaubte er umzufallen .
Die Züge der Regine tauchten vor ihm auf .
Er nahm sich gewaltsam zusammen .
Ich soll wecken ? fragte er sich gequält .
Bin ich denn selbst ein Wacher ?
... Ja , ich bin wach ... ich bin wach ... ich bin wach ...
Er nahm wieder eine kerzengerade Haltung an .
" Ich forder jeden auf " , begann er von neuem , " mit mir in den Festsaal zu treten und Bekenntnis abzulegen .
Und jeder habe sein Bekenntnis und seine Sehnsucht .
Aus unserem engen , kleinen Kreise treten wir hinaus und suchen die Gleichen .
An allen Ecken und Enden des Landes stehen sie ; ich höre ihr Pochen und Klopfen und öffne den Festsaal . "
Er zog plötzlich ein weißes Blatt aus der Tasche .
" Auf dem Blatt stehen heute nur die beiden Worte :
Der Festsaal .
In jeder Woche soll es voll beschrieben hinausgehen und die freien Geister zum Zusammenschluß rufen .
Es soll denen ein furchtbares Warnzeichen sein , die das Emporblühen der Freude , das Freiwerden untergraben wollen .
Sie graben ihr eigenes Grab , und auf ihren Gräbern pflanzen wir das neue Reis .
Wir kämpfen für das neue Leben , das eigentlich erst Leben ist .
Das war es , liebe Freunde , was ich euch sagen wollte ... ! "
Er war noch bleicher geworden , als bei Beginn seiner Rede .
Aber fest stand er da ; stark in jeder Muskel , durchglüht von der Reinheit seines Wollen_es .
Alle hatten den Eindruck , daß eine große und reine Überzeugung ihn erfüllte , daß hier einer aufgestanden war , der etwas vom Baumeister in sich trug .
Der warme Klang seiner Stimme , das innerste und tiefe Gefühl , das aus ihr sprach , hatte sie noch mehr gepackt und ergriffen als der Inhalt , über den sie sich noch nicht ganz klar geworden zu sein schienen .
Ein paar Minuten herrschte jenes zitternde Schweigen , das mehr sagt als lautes Beifallsgetose .
Der kleine Blinsky trat als erster auf Thomas zu .
Seine hervorstehenden , runden Augen funkelten .
Er mußte eine Weile warten , bevor er sprechen konnte .
Dann nahm er Thomas ' Hand und sagte : " Ich stehe zu Ihnen ! "
Jetzt erhoben sich auch die übrigen und sprachen in kleinen Gruppen miteinander .
Es war ihnen mittlerweile aufgedämmert , daß diese Nacht einen Einschnitt in ihr Leben bedeuten würde ; daß Thomas sie aus ihren stillen und verborgenen Zusammenkünften hinausziehen wollte in den Kampfeslärm des Tages .
In einem Winkel stand Josefa Gerving und starrte auf Heinsius und Fründel , die heftig aufeinander einsprachen .
Liers trat an sie heran .
" Ich bitte Sie , machen Sie nicht ein so furchtbar ernstes Gesicht , Sie sehen ja entsetzlich verstört aus ! "
" Finden Sie ? "
Sie warf die Lippen hochmütig auf und streifte ihn mit einem geringschätzigen Rück .
" Ja , ich finde es ! "
" Man hat jetzt Wichtigeres zu tun , als solche Beobachtungen zu machen " , sagte sie höhnisch .
" Für mich gibt es nichts Wichtigeres ! "
" So ? "
Ihr verfinstertes Gesicht hellte sich in leisem Spotte auf .
" Sie sind mir das Wichtigste auf Erden ! "
" Wenn Sie nicht still sind , rufe ich Ihre Frau .
Ein Glück , daß man mit anderen Dingen beschäftigt ist und auf uns nicht achtet . "
Wieder flog ihr Auge zu Fründel hinüber ; gleichzeitig suchte sie aber auch die Ingolf .
" Sie können rufen , wen Sie wollen , was ich Ihnen zu sagen habe , kann jeder hören . "
" Meinen Sie ? "
" Allerdings ! "
Sein bildhübsches , für gewöhnlich müdes und verschlafenes Gesicht hatte einen innerlichen Ausdruck bekommen .
Die Gerving betrachtete ihn plötzlich aufmerksam .
Sie sagte sich im stillen , daß er von der Natur außergewöhnlich bevorzugt war .
Seine jünglingshafte Gestalt hatte etwas ungemein Elegantes und Edles .
Laut aber antwortete sie :
" Ich habe Ihrer Frau schon neulich auf der Straße erklärt , daß Sie mich auf ganz unverschämte Weise belästigen ! "
Etwas milder fügte sie hinzu : " Du lieber Gott , Sie sind doch ein verheirateter Mann , schämen Sie sich denn gar nicht ? "
" Wie können Sie mir damit kommen ?
Eben hat man zu Ihnen über die Freiheit gesprochen und jetzt ... "
" Wenn Ihre Freiheit darauf abzielt , daß eine der anderen den Mann stiehlt , so ... so ... pfeife ich darauf ! "
Er wurde nervös .
" Was haben Sie für kindliche Ausdrücke und Anschauungen !
Stehlen kann man doch nur einen leblosen Gegenstand ... stehlen ... stehlen ! "
" Lassen Sie mich " , unterbrach sie ihn grob .
" Dieses dumme Zeug kann ich nicht vertragen , verstehen Sie mich ! "
Er trat einen Schritt näher und versuchte , sie mit seinem Blick zu bannen .
" Lassen Sie sich doch nicht auslachen " , meinte sie geringschätzig und wollte sich abwenden .
Da faßte er sie beim Handgelenk .
Sie zuckte empor .
Ihre Augen brannten wie die eines Raubtieres .
" Machen Sie auf der Stelle , daß Sie fortkommen !
Oder ich schreie .
Ich schreie ganz laut !
Glauben Sie etwa , ich geniere mich ? "
Sie hatte jetzt die Ingolf entdeckt , die sich eifrig mit der Brose unterhielt .
Bei diesem Anblick wand sich ihr Gesicht in einem niederträchtigen Lächeln .
" Herr Liers " , sagte sie in plötzlich verändertem Tone .
" Fräulein - ! "
" Wenn jemand einen gern hat , so bringt er doch Opfer für ihn - was ? "
" Haben Sie mich gern ? "
" Sie wissen es ! "
" Wollen Sie etwas für mich tun ? "
" Alles ! "
" Darf ich Sie beim Wort nehmen ? "
" Sie dürfen es ! "
" Gut !
Sie sollen auf Schritt und Tritt dies Frauenzimmer " - sie wies mit dem Zeigefinger auf die Ingolf - " verfolgen !
Sie sollen weder Zeit , noch Geld , noch Mühe sparen , und Sie sollen mir berichten , wann und wo Sie sie mit Fründel entdecken .
Natürlich müssen Sie zu diesem Zwecke Ihren Schlaf etwas verkürzen " , setzte sie rasch hinzu .
Er hatte sich bei ihren Worten verfärbt .
" Das ist ja im Grunde eine Gemeinheit , die Sie mir zumuten " , brachte er mühsam hervor .
" Ich soll so_ein bißchen Detektiv spielen ... 'n schmutziges Geschäft ! "
" Aha , da haben wir_es !
Ich wollte nur einmal sehen !
Haben Sie schönsten Dank !
Ich bin beruhigt - Sie werden sich um meinetwegen nicht das Leben nehmen ! "
" Bitte sehr !
Ich habe nur gesagt , daß es eine Gemeinheit ist ; ich habe nicht gesagt , daß ich mich weigere , es zu tun .
Ich erkenne , daß es eine schmutzige Gemeinheit ist , aber ich werde es unbedingt tun , unbedingt ! "
Ihre Augen funkelten .
Sie nahm seine Hand und drückte sie .
Der Maler klopfte jetzt mit einem Schlüssel auf die Tischplatte , und jeder eilte an seinen Platz .
" Das Wort hat Abraham Gebhardt . "
Der Musiker hatte sich hinter seinen Stuhl gestellt , auf den er beide Hände stützte .
Er hatte seinen Kopf ein wenig zurückgelehnt , so daß man seinen schlanken , feinen Hals sah .
Es schien , als ob seine Augen noch mehr zurücksinken wollten .
" Mir ist " , begann er , indem er über die Anwesenden hinwegsah und gleichsam in die Ferne schweifte , " als ob ich die Glocken des dritten Reiches hätte läuten hören .
Ein Musiker hat feine Ohren .
Immer war mir an den Kirchen das Läuten der Glocken das liebste .
Es hatte für mein Gefühl etwas Starkes , Aufweckendes , Aufrührerisches ; und es hatte in seinem Verklingen etwas Friedenbringendes , Andachtschaffendes für den , der um die Abendstunde über Felder ging .
Die Glocken , die ich heute vernahm , hatten noch etwas anderes . "
Er hielt eine flüchtige Sekunde inne .
" Etwas Tieffreudiges " , sagte er einfach , " etwas in die Zukunft Läutendes .
Jemand steht unter uns auf und spricht das erlösende Wort .
Jemand , den wir lästerten , bringt uns die Botschaft , auf die wir all die Jahre uns vorbereiteten .
Wen drängt es hier nicht , Bekenntnis abzulegen und mit Thomas Druck auf den Turm zu steigen ; auf unseren Turm - am Glockenstrange zu ziehen und die Brüder zu unserer Tafel zu laden , die das » Leben « heißt ?
Ich bin dabei von ganzer Seele , von ganzem Herzen , von ganzem Gemüt .
Was ist Freiheit ?
Freiheit ist Leben ohne Furcht und Hoffnung .
Was ist ein Philister ?
Ein hohler Darm , mit Furcht und Hoffnung angefüllt , daß Gott erbarm !
Die leeren Wünsche , die erbärmlichen Ängste schütten wir in ein tiefes Grab und werfen unsere Sklavenfesseln ab , und in Bewußtsein vergolden wir unser Leben mit freudigem Glanze .
Wir sehen unser Leben allüberall .
Unsere Augen , jetzt erst geöffnet , blicken in weite Fernen .
Nennen wir die neue Religion Rausch - Freude , Tanz oder Andacht , immer wird sie geboren aus der Sehnsucht nach Höhenluft .
So vertiefen wir unsere Religion , und bauen sie aus und sprengen die Ketten jedes Dogmas .
Sie ist für uns eine Einheit , in die wir unser ganzes vieltausendfältiges Ewigkeitsdasein zusammenfassen .
Unsere Kunst und unsere Arbeit , unsere Lebensführung , unser Empfinden , unser neues Träumen ! "
Bei den letzten Worten strich er aus der reinen Stirn die Locken zurück , fuhr sich dann erregt und zerstreut über das ganze Gesicht und setzte sich nieder .
" Ich bitte um das Wort " , rief Lissauer .
Der kleine , bucklige Mann glühte .
" Ich werde mich sehr kurz fassen .
Ich will nur sagen , daß wirr noch lange werden müssen niederreißen , ehe wirr können aufbauen ; dennoch finde ich es sehr schön , daß hinter diesen Arbeit ein positiver Gedanke steht .
Ich bin dabei und bin fies Praktische .
Ich möchte daher fragen , wie denkt sich der Herr Druck die Verwirklichung ? "
Bevor noch Thomas antworten konnte , war Heinsius , der leise mit Fründel getuschelt hatte , aufgestanden .
" Obwohl wir uns " - er wies dabei auf Fründel hin - " von den Weltanschauungen , die hier laut wurden , durch wesentliche Dinge getrennt fühlen , so empfinden wir doch ein Gemeinsames heraus .
Auch wir können uns unter gewissen Umständen den Verein der Gleichen denken , wo die einzelne Persönlichkeit zur vollen und absoluten Entwicklung noch Raum hat .
Deshalb wollen wir heute auch nicht das Trennende betonen und einfach unser Mittun erklären unter der Voraussetzung der völligen Freiheit . "
- Wieder richtete sich Thomas auf .
" Ich habe nie daran gedacht , in die Entwicklung des einzelnen irgendwie einzugreifen .
Bevor ich über die praktischen Ziele spreche , möchte ich noch abwarten , ob einer unter euch zur Sache selbst etwas zu sagen wünscht . "
" Allerdings ! " schrie vom untersten Ende der Tafel eine Stimme .
Es war stud. theol. Bechert .
Seine Miene war streng und finster , sein bartloses Gesicht von Bewegung beherrscht .
Er öffnete die dünnen Lippen .
" Ich habe mich hier immer nur als einen Gast betrachtet .
Ich war hier ein Gast , der sich nicht die Tür weisen ließ .
An Ihre neue Botschaft glaube ich für mein Teil nicht .
Sie scheint mir von Grund aus verworren und unter dem Deckmantel phantastischer Phrasen den Geist des Aufruhrs , der Glaubenslosigkeit und der Zerstörung in sich zu tragen .
Bei solchem Werke kann ich nicht dabei sein .
Aber erscheinen werde ich in Ihrem Kreise nach wie vor als ein Warner und Mahner , als einer , der das Reich Gottes Predigt gegen geistigen Hochmut und Verblendung .
Denn " , rief er mit pathetischer Stimme , " so wahr mir Gott helfen möge , ihr seid Geblendete und Abtrünnige . "
Dann faßte er Heinsius und Fründel fest ins Auge und fuhr fort : " Daß jedes gefährliche Ding auch eine heitere Seite hat , sehen wir an den Sturm- und Ichgeistern dieses Kreises , an unseren Herren Individualisten , die innerhalb einer halben Stunde sich umkrempeln und an dem Schacher hier teilnehmen .
Daß die Juden bei so einer Sache dabei sind " - sein Ton wurde hier überscharf , spitz und boshaft - " finde ich vollkommen begreiflich .
Die Juden sind immer dabei , wo es etwas zu stürzen gibt .
Sie sind das negative , zersetzende Element in unserem Staatswesen , und bei jeder Gelegenheit kann man es erkennen , daß sie den Sauerteig bei allen Vernichtungsprozessen bilden .
Für mich ist eine Sache a priori unrein und von Grund aus verpfuscht , wo Juden mitmachen ...
Diese Gesellschaft ... "
Er kam nicht weiter .
Ein allgemeines Murren unterbrach ihn .
Der kleine Blinsky war in die Höhe geschnellt .
" Sie sind ein Christ " , schrie er , " der nicht einmal das Wort Christi begriffen hat !
Sie sind ein Zelot und Dunkelmann schlimmsten Kalibers !
Sie sind ein Pfaff !
Da , wo sich etwas Großes und Heiliges vorbereitet , treten immer die Mucker und Philister auf !
Wenn Lissauer vom Niederreißen sprach , so hatte er die Sorte von Menschen im Auge , zu der Sie gehören .
Sie sind für uns das ewig umherschleichende Gift , das der Versöhnung der Menschen , jedem Streben nach Freiheitlichkeit , nach Sammlung und Andacht verhängnisvoll wird .
Sie gehen den Weg der tiefsten Dunkelheit und Fäulnis , und wir ... wir ... wir sehnen uns nach Licht ... "
Er verstummte tief erschöpft .
Und jetzt blickten alle auf Thomas Druck .
" Wir kennen Sie , Herr Studiosus Bechert , aber wir fürchten Sie nicht .
Weder Ihre Angriffe gegen Heinsius und Fründel bedeuten uns etwas - denn sie beruhen auf dem völligen Verkennen unserer Strebungen - , noch Ihr fanatisches Eifern .
Einen Mahnruf bedeuten allerdings Ihre Worte .
Sie zeigen uns , worüber wir uns freilich klar waren , daß der Kampf noch vor uns steht .
Wir scheuen ihn nicht .
Wir verwahren uns nur dagegen , daß Sie ein Gast bei uns sind .
Ihr Geist ist nicht unser Geist .
Und damit verlasse ich Sie . "
Nach einer kleinen Pause fuhr er ruhig fort : " Die Verwirklichung des vor mir liegenden Zieles stelle ich mir für die nächste Zukunft etwa folgendermaßen vor :
Wir lassen allwöchentlich eine Zeitschrift erscheinen , in der wir unsere Anschauungen niederlegen .
Wir halten Versammlungen ab , in denen wir für unsere Ideen eintreten .
Heute sind wir wenige , über ein kleines werden wir wachsen , wie ein Gebirgsbach wächst , wenn der Frühling lachend den Schnee der Berge hinwegfegt .
Die Zeitschrift möchte ich den » Festsaal « nennen .
Das , was für den Anfang an Geldern notwendig ist , kann ich " , setzte er leiser hinzu , " aus eigenen Mitteln leisten .
Die Sorge um das Spätere sollte uns heute nicht quälen .
Arbeitet jeder von uns nach seinem besten Können mit , so werden wir den Turm bauen und die Glocken läuten hören , von denen Abraham Gebhardt zu uns sprach . "
Das waren die letzten Worte Thomas Drucks an diesem Abend , an dem die Gründung des " Festsaals " beschlossen wurde .
Die Redaktion übernahmen Thomas Druck und der Volksschullehrer a. D. Heinsius .
XI.
Die Redaktion und Geschäftsstelle des " Festsaals " befand sich in Thomas ' Mansarde .
Er hatte ursprünglich mit dem neuen Leben auch die alte Wohnung verlassen wollen , jedoch gab er diese Absicht nach einigem Überlegen auf .
Denn dieses Zimmer gehörte von nun ab nicht mehr ihm allein , es war einem höheren Zwecke geweiht .
Und dann ... Erinnerungsketten banden ihn leise .
Es war ihm , als dürfte er nicht von hier weichen ; hier , wo so manches Dunkle und Rätselhafte sich abgespielt , für das er heute noch keine Erklärung wußte .
Zu allerletzt war dieser Raum in jedem seiner Gegenstände ihm vergoldet , weil durch ihn noch einmal seine Jugend gewandelt war in Gestalt Bettinas .
Und wenn er auch nur mit einem Gefühle tiefer , quälender Scham an sie denken konnte , wenn er es überhaupt mied , sie sich bewußt zurückzurufen , so lebte doch im Grunde seines Herzens wie ein ewiges Leuchtfeuer die Erinnerung an sie .
Er lastete sich in der nächsten Zeit eine Arbeit auf , die ihn verzehrte .
Er achtete nicht darauf .
Den ganzen Tag war er mit dem Volksschullehrer unterwegs .
Sie verhandelten mit Druckereien und Papierlieferanten , und sie erkundigten sich eingehend danach , wie man ein Blatt vertreiben müßte .
Von all diesen Dingen hatten sie keine Ahnung .
Schon auf diesen Wegen wurden viele ihrer Hoffnungen zerstört .
Sie fanden ungeahnte Schwierigkeiten und nirgends Entgegenkommen .
Bei jedem Mißerfolg hatte Heinsius ein triumphierendes Lächeln .
Für ihn gab es keine Überraschungen .
Nur wenn es anders gekommen wäre , hätte er sich gewundert , versicherte er .
Thomas lächelte dazu nur still .
Er war nicht zu entmutigen .
Er kam schließlich zu dem Resultat , daß erst das Blatt da sein müßte .
Seine Verbreitung würde es sich schon von selbst schaffen .
Der schlimmste Fehlschlag kam , bevor man eigentlich ans Werk gehen konnte .
Thomas hatte sein ganzes Vermögen , das noch fünfundzwanzigtausend Mark betrug , flüssig machen wollen .
Er bekam jedoch von seinem Vater , der trotz seiner Großjährigkeit es immer noch verwaltete , die Nachricht , daß er ihm unter keinen Umständen mehr als den fünften Teil schicken könnte , da das übrige in Hypotheken festläge .
Er hatte sich nie um Geldangelegenheiten gekümmert und begriff das nicht .
Früher einmal bei irgendeiner Auseinandersetzung hatte er etwas von pupilarischer Sicherheit gehört .
Damit brachte er den Bericht des Vaters jetzt in Zusammenhäng .
Als er dem Volksschullehrer die Hiobsnachricht mitteilte , riß dieser die Augen auf .
" Ich wußte gar nicht " , sein Gesicht verzog sich dabei seltsam , " daß Sie ein so schwerer Junge seien .
Im übrigen sind fünftausend Mark eine Menge Geld und für den Anfang schon was wert " , beruhigte er ihn .
Endlich waren die nötigen Vorbereitungen getroffen und die Redakteure konnten an die innere Arbeit gehen .
Die Feder schien sich ihnen von selbst zu bewegen .
Sie waren so voll von ihren Ideen und Anschauungen , daß sie Mühe hatten , den Strom der auf sie eindrängenden Gedanken zurückzudämmen .
Sie waren ungelenk , schwerfällig und ungeübt im Schreiben , aber der Inhalt , den sie ausdrücken wollten , riß sie fort .
Es stellte sich beim Vorlesen ihrer Arbeiten sehr bald ein scharfer Gegensatz zwischen ihnen heraus .
Alles , was Thomas schrieb , war von tiefem Ernst und bei aller Festigkeit von warmer Güte durchtränkt .
Heinsius ' Feder war in Grimm getaucht .
" Ich fange jetzt eigentlich erst zu leben an " , sagte er zu Thomas , " wo ich alles das ausdrücken kann .
Es gibt eigentlich gar nichts Schöneres als den Beruf eines freien Schriftstellers .
Alles , was so in einem gärt und arbeitet , kommt heraus !
Ich bin geradezu in einem Rausch von persönlicher Freiheit , nein , es ist noch anders - ich habe jetzt überhaupt erst die Vorstellung , was Rausch ist ! "
Jeder seiner für den Druck bestimmten Sätze hatte etwas Beißendes und Ätzendes .
Dabei war alles geistreich , scharf pointiert und doch auch logisch .
" Es wird schon ganz gut werden " , meinte er .
" Ich reiße nieder - und Sie bauen auf .
Die Leser werden auf ihre Rechnung kommen ! "
Thomas fügte sich , wenn auch nicht ganz leichten Herzens .
Er hätte an Stelle so verbitterten Zornes lieber überlegene und somatische Ironie gesehen , die seiner Ansicht nach tiefer und eindringlicher wirken mußte .
Er hielt aber seine Einwände zurück .
Er erinnerte sich an die leidenschaftliche Heftigkeit des Christen , wenn es ihm galt , das Reich von dieser Welt in seinen Fugen zu erschüttern .
Man wurde sich bald darüber einig , daß Thomas als Redakteur zeichnen mußte .
Der von Amts wegen disziplinierte Heinsius würde allzu leicht die Aufmerksamkeit höherer Gewalten auf sich lenken .
Heinsius fügte sich nur unwillig .
Er freute sich ja gerade auf das Tanzen , und nun wolle man ihm die Beine verschnüren !
Es half ihm nichts .
Eines Abends klopfte Fründel an und brachte einen Artikel unter der Überschrift :
" Das heilige Ich " .
Er war außerordentlich schwerfällig geschrieben ; aber Thomas war doch erstaunt , in wie hohem Maße dieser Mensch seine Weltanschauung durchgearbeitet und sich zu eigen gemacht hatte .
Und das Merkwürdige war , daß , so holperig sein Stil dahinrollte , er doch im Wortausdruck durchaus eigenartig und zuweilen frappierend war .
Bei all seiner Schwerfälligkeit hatte der Mechaniker eine urkräftige , volkstümliche und schöpferische Art im Wortprägen .
Er litt nur unter der Fülle der Gedanken , die er wiedergeben wollte .
Lissauers Beitrag lautete kurz und bündig :
" Die Tragödie des modernen Juden . "
Die übrigen Mitglieder vom Nachtlicht hatten sich fürs erste schweigend verhalten - und es bedurfte ihrer nicht .
Heinsius und Thomas hatten reichlich für Stoff gesorgt .
Für die nächsten Nummern brauchte man nicht in Sorge zu sein .
Sie lebten beide in einer fieberhaften Spannung .
Und als sie die Artikel in die Druckerei brachten , schlugen ihre Herzen höher .
Die ersten Korrekturabzüge , die noch feucht von Druckerschwärze waren , holten sie sich selbst ab .
Es war noch nicht ausgesetzt worden , und so warteten sie im Setzersaale .
Alles war ihnen neu und fremdartig .
Als der Satz endlich fertiggestellt war und die Druckerschwärze über ihn gestrichen , das weiße Papier darüber gelegt und mit einer Rolle der Abdruck bewerkstelligt wurde , hatte ihre Erregung den Höhepunkt erreicht .
Vorsichtig nahmen sie die ersten Abzüge in Empfang .
Ihre Augen bekamen etwas Trunkenes , als sie den Inhalt überflogen .
Hatten sie wirklich alles das geschrieben ?
Wie es in den frischen Blättern vor ihnen stand , wirkte es ganz anders .
Streng , bedeutend und volltönend klangen ihnen die Worte .
Die Setzer lächelten verschmitzt und tuschelten über die Neulinge , die ihnen andererseits doch Respekt einflößten .
Es waren intelligente Menschen , die der ungewohnte Inhalt einigermaßen in Erstaunen gesetzt hatte .
Und dann wurde die ganze Nummer zusammengestellt , und oben prangte als Kopf in übergroßen , geheimnisvollen Lettern :
" Der Festsaal " .
Sie bogen das dünne Heft , das Folioformat hatte , und empfanden jene Süßigkeit des jungen Schriftstellers , die der Vorbote des kommenden Grams ist .
Thomas blickte immer auf den Titel , und leise flüsterte er mehrere Male vor sich hin :
" Der Festsaal " .
Und in diesem Worte lag für ihn alles : sein neues Bekenntnis , sein neuer Glaube , sein Gram und seine Lebensarbeit .
Lange konnten sie es sich gar nicht vorstellen , daß sie das Blatt gemacht hätten .
Es kam ihnen noch wie eine Illusion , wie ein flüchtiger Traum vor .
Der Metteur mußte sie erst darauf aufmerksam machen , daß es Feierabend sei , und daß die Setzer bereits den Saal verlassen hatten .
Sie hatten es gar nicht bemerkt , daß die Leute sich inzwischen umgezogen , mit Spülwasser die schmutzigen Hände gereinigt und ihre Räder hervorgezogen hatten .
Sie waren die letzten , die sich entfernten .
Aber mitten auf der Straße packten sie ihre Rollen noch einmal aus , blieben stehen und betrachteten mit neuem Erstaunen die erste Nummer ihrer Wochenschrift .
Und Thomas las das Inhaltsverzeichnis vor .
Die Überschriften der fünf Aufsätze lauteten :
" An die Zerstreuten im Lande " .
" Tanz und Andacht .
Ein Beitrag zur neuen Religion " .
" Das heilige Ich " .
" Das Sklaventum im sozialistischen Staate " .
" Die Tragödie des modernen Juden " .
Der Aufsatz über " Tanz und Andacht " rührte von Thomas Druck her ; der über " Sklaventum im sozialistischen Staate " von Heinsius .
" Ich bin sicher " , sagte der Volksschullehrer , " daß noch in keiner modernen Zeitschrift diese Dinge mit so viel Ernst und agitatorischer Werbekraft vorgetragen worden sind . "
Darauf entgegnete Thomas nichts .
Schweigend legten sie den Weg zur Redaktion in der Luisenstraße zurück .
Jeder war ganz von seinen Gedanken eingenommen und hatte den anderen vergessen .
Heinsius kalkulierte im stillen , wieviel Monate er die Herrlichkeit erleben würde .
Ich freue mich , und mitten im schönsten kommt Freund Hein und winkt .
Va bene , es komme , wie es komme !
Thomas aber dachte weder an Leben noch an Sterben .
In zitternder Freude erfüllte ihn das Nahen vom dritten Reiche .
XII.
Der " Festsaal " war offiziell erschienen .
Die Mitglieder des Nachtlichts hatten sich bereits einzeln in tiefer , freudiger Erregung gesprochen , aber die gemeinsame Aussprache sollte erst bei Brose stattfinden .
Jeder von ihnen sah mit einer gewissen Spannung dieser Zusammenkunft entgegen .
Man hatte für den Augenblick alle Gegensätzlichkeiten vergessen - nur das Gefühl der Gemeinsamkeit erfüllte alle .
Das Blatt bedeutete ja für sie mehr , als die erste Nummer einer Zeitschrift .
Es brachte Gedanken und Ideen , die man im engen Kreise oft genug mit heißen Köpfen bis in ihre letzten Bestandteile zerlegt hatte .
Es brachte die Rückerinnerung an Stunden , wo der Kampf der Meinungen heftig getobt und sie alle mit fortgerissen hatte .
So stellte sich das Blatt für jeden als ein Stück seines eigenen geistigen Menschen dar , und darum betrachtete jeder es mit Ehrfurcht als etwas , das ihm innerlich nahe ging .
Und dann sollte es ja ein Wegweiser in die Zukunft sein , das rohe Gerüst , das nun erst ausgebaut werden sollte . -
Zu einer Art von Richtfeier wollte man zusammenkommen ...
Aber die Tür bei Brose öffnete sich nur für Thomas .
Und als die Malerfrau ihm wortlos und wie erstarrt gegenübertrat und ihm , ohne einen Laut hervorzubringen , voranschritt - da wußte er , daß der Festsaal sich in eine Totenhalle umgewandelt hatte .
Ganz plötzlich und unvermutet hatte der Maler die große Reise angetreten .
Und wie Thomas nun vor seinem Lager stand , wo der hagere Mann ernst , bleich und milde dalag , empfand er wieder jene Schauer , die er vor vielen , vielen Jahren verspürt hatte ; damals , als er , noch ein Kind , dem Vater die kleine Elektrisiermaschine in das Sterbehaus nachtragen mußte und zum ersten Male den Tod von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte .
Und noch ein anderes kam über ihn in der Flucht der Erinnerungen , etwas , das sich zusammensetzte aus Einsamkeitsrausch und Allempfinden .
Der da lag , war sein Toter , wie die Tamara es war , aber in einem Sinne , der ihm jetzt erst aufging ; es gab keine Trennung zwischen ihnen , sie lebten in ihm , weil sie Besitz von ihm genommen , mit ihm eines waren .
Und so betrachtete er in einer Bewegtheit , die kein weltlicher Ton störte , den stillen Schläfer .
Und jedes seiner Worte erwachte in dieser Stunde ; er sah seine schlichten Bewegungen , er sah seinen edlen Gang .
Hier lag einer , für den das Ende kein Ende war , einer , der nach einer mühseligen Wanderung rastete .
Die Andacht entrückte Thomas weit .
Er sah sich wieder auf hohen Gipfeln zwischen Felswänden und rauschenden Bergbächen , und er überblickte den langen Weg , den er selbst vorwärtsgeschritten war , auf dem der Verblichene ihn eine weite Strecke geleitet hatte .
Aber im Hintergrunde seiner Seele tauchte die bange Frage auf , ob wirklich die große Ruhe und Erkenntnis , die durch nichts mehr zu erschüttern war , ihn erfüllte .
Er blickte sich scheu um und sah in das unbewegliche Gesicht der Malersfrau , von der ein eisiger Hauch ausging .
Aber seine Wahrnehmung kam ihm falsch und verzerrt vor .
Und plötzlich hatte sie , für ihn etwas Großes , Erdenentrücktes .
Er wagte es nicht , sie anzusprechen , nur seine Augen hielt er fest auf sie gerichtet .
Und nun begriff er sie .
Er sah in ihr Inneres .
Sie schließt mir die Tore auf , dachte er für sich , die in das Reich der Mütter führen .
Und ganz unvermutet stand er in diesem Reiche und sah in langen Zügen die Mütter auf sich zuschreiten .
Um ihn wehte eine heilige Luft .
Die Gesichter der Mütter waren durchsichtig und unergründlich zugleich .
Sie wirkten wie die letzte Klarheit und das tiefste Geheimnis .
Keine sprach zu ihm ; nur ihre Blicke bohrten sich in ihn .
Er wollte reden , doch eine Überseligkeit schloß seine Lippen .
Seine Augen wurden hellseherisch .
Er fühlte sich im tiefsten Zusammenhäng mit ihnen , die alles Weh und alles Leid in Güte und Verstehen umgewandelt hatten .
Und auf einmal beugte er sich wie überwältigt vor der Malersfrau und berührte ihre Hände mit seinen Lippen .
Aufgerichteten Hauptes verließ er das Totenhaus ...
Er konnte jetzt keinen der Freunde sehen .
Jeder Laut der Straße traf ihn schmerzhaft , und alle Vorübergehenden hatten etwas Gekrümmtes , Geducktes , Vergrämtes und Lichtscheues .
Sie schritten in Finsternis einher : über ihnen dunkelte die Nacht mit toten , erloschenen Sternen .
Warum ist das alles so undurchdringlich ? fragte er sich furchtsam ... seine Züge wurden visionär , seine Fingerspitzen klopften , und mit trunkenen Augen eilte er vorwärts .
Auf den Fußspitzen stieg er die Treppen zu seiner Mansarde hinauf , vorsichtig öffnete er die Tür , die er sofort wieder zuriegelte .
Und jetzt tat ihm das Dunkel seines Zimmers wohl ...
Als nach einer langen Weile die Wirtin anklopfte , rührte er sich nicht .
Die Alte drückte die Klinke herunter , dann hörte er noch , wie sie " Herr Doktor ! " rief .
" Nein ... nein ... nein " , antwortete er angstvoll .
Er hielt sich die Ohren fest zu , um keinen Ton von außen zu vernehmen. XIII .
Es war sieben Uhr , als Mechaniker Fründel Feierabend machte , die Arbeitsbluse auszog , die Hemdärmel in die Höhe streifte und unter einer Wasserleitung den Strahl mit seinen rußigen Handflächen auffing .
Eine Weile blieb er in dieser Stellung und bewegte sich nicht .
Sein Gesicht war verzerrt und von einem finsteren Gram beschattet .
Die anderen Arbeiter , die sich längst umgekleidet hatten , gingen an ihm vorüber und flüsterten sich lachend Bemerkungen zu .
Einer wollte ihn ansprechen , wich aber sofort zurück , als er seine zornentstellten Züge sah .
War er in solcher Verfassung , so mieden sie es , auch nur im Scherze mit ihm anzubinden .
Sie mochten ihn nicht , aber sie hatten vor ihm Respekt .
Seine Überlegenheit erfüllte sie mit Mißtrauen .
Obwohl sie seine radikalen Anschauungen kannten , mieden sie politische Unterhaltungen mit ihm , weil er für ihre " Bewegung " nur Spott und Hohn hatte .
Einmal wäre er um dessentwillen beinahe von ihnen verprügelt worden .
Er hatte sie insgesamt eine denkfaule Herde genannt , die ohne die Knute nicht leben könnte .
Das hatte man nicht auf sich sitzen lassen wollen , und mit den Fäusten war man auf ihn losgegangen .
Der Mechaniker hatte die Arme verschränkt , die Lippen fest aufeinander geschlossen , und ohne die Wimpern zu rühren , hatte er bloß gesagt :
" Losschlagen , nur losschlagen . "
Von dieser Ruhe waren sie zurückgeschreckt ; aber seit dem Tage , war ihnen allen der Mensch unheimlich ...
Das war lange , lange her ...
Die eiserne Tür , die zum Ausgang führte , wurde von einem nach dem anderen geräuschvoll zugeschlagen .
Schließlich war nur noch der letzte übrig , der den Schlüssel hatte .
Er trat an Fründel heran : " Dauert es noch lange ? " fragte er mürrisch .
Der Mechaniker zuckte ein wenig empor , brummte etwas Unverständliches in sich hinein und begann jetzt , seine Hände zu reinigen .
Dann steckte er den Kopf unter den Strahl und ließ das Wasser auf sich strömen .
Dabei hatte er sich den Hals und die Schultern entblößt und achtete nicht darauf , daß rings um ihn eine Art von Überschwemmung entstand .
Endlich hörte er auf , rieb sich das Gesicht , schüttelte sich wie ein nasser Pudel und trocknete sich gemächlich ab .
Mit großer Schnelligkeit vollendete er seine Toilette .
Einen sauberen Kragen , Vorhemd , Schlips und Manschetten hatte er im Nun angezogen und ebenso den Straßenrock umgeworfen .
Eine Minute später sprang er schon die Treppen hinunter .
Seine Miene war noch immer verbittert und vergrübelt .
Einmal blieb er mitten auf dem Damm stehen , und indem er sich verfärbte , murmelte er leise vor sich hin :
" Kläglich . "
Vor dem Hause der Charlotte Ingolf machte er Halt .
Er zauderte einen Augenblick , dann eilte er hinauf .
Die Ingolf stand bereits im Entree und erwartete ihn .
Über das Mädchen war etwas von demütiger Raserei gekommen .
Sie war ihm gegenüber willenlos .
Sie hungerte nach ihm , solange sie ihn nicht sah , und sie zitterte in seiner Gegenwart .
Jeden Widerstand hatte sie längst aufgegeben .
" Guten Tag " , sagte sie erregt und machte gleichzeitig einen schüchternen Versuch , ihn zu umschlingen .
Er wehrte unfreundlich ab .
Da ließ sie tieftraurig die Arme fallen .
Sie gingen in ihr Zimmer .
Der Mechaniker hatte Heißhunger .
Aber als gleich darauf das Hausmädchen auf einem Tablett Filetbeefsteaks mit Bratkartoffeln und kaltgestelltes Bier hereinbrachte , erklärte er kurz , daß er nicht einen Bissen hinunterwürgen könne .
Die Ingolf sah ihn mit einem stummen Blicke bittend an , nachdem das Mädchen sich entfernt hatte .
" Du hörst doch , daß ich keinen Appetit habe " , fuhr er sie kalt und höhnisch an , und im stillen empfand er eine heftige Schadenfreude und Genugtuung darüber , daß er sie peinigen konnte .
Nun wagte sie kein Wort mehr .
Sie lehnte sich in das Sofa zurück und ließ ebenfalls die Speisen unberührt .
Warum quäle ich sie eigentlich ?
Was für eine dumme Frage , antwortete er sich - es macht mir einfach Spaß - basta !
Ich könnte mich ebensogut fragen , fügte er bei sich hinzu :
Warum bin ich , wie ich bin ?
Die Ingolf stand auf .
Indem sie ganz vorsichtig ihre Hand auf seine Schulter legte , sagte sie :
" Hast du Arger gehabt ? "
Und gleichsam entschuldigend , setzte sie hinzu : " Du siehst so bitter aus ! "
" Nein " , er lachte kurz auf .
Dieses Lachen tat ihr weh .
" Nichts ist mir widerlicher als Mitleid " , entgegnete er nach einer Weile , " und nichts vertrage ich schlechter , als wenn jemand zu ungelegener Zeit mich mit Fragen quält .
Habt ihr Weiber denn dafür gar kein Gefühl im Leibe ? " schloß er bissig .
Sie trat zurück und setzte sich an das Fenster .
Sie war ganz bleich geworden und hatte ihre Hände geballt .
Das beachtete er nicht .
Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und starrte vor sich hin .
Die Ingolf sprach kein Wort .
Sie lauerte nur beständig darauf , daß er sich endlich an sie wenden würde .
Aber vergebens wartete sie .
Und obwohl sie an diese Qualen gewöhnt war , und obwohl sie dieses unheimliche Schweigen , das oft stundenlang dauerte , an ihm kannte , ängstigte es sie immer wieder .
Was mochte in seinem Hirn vorgehen ? fragte sie sich entsetzt .
Worüber zerbrach er sich den Kopf , wenn er so seinen Zorn in sich hineinbiß , seinen Gram , seinen Haß , und kein Wort für sie übrig hatte ?
Darauf fand sie keine Antwort .
Dieser Mensch war wie das ewige Dunkel , das nur sich selbst begreift und für den Beschauer undurchdringlich ist .
Nur in kargen Augenblicken flackerte ein armseliger Lichtschimmer auf und gewährte einen flüchtigen Blick in die Wirrnisse seiner Seele .
Aber wenn sie dann mit weitgeöffneten Augen etwas erraffen wollte , erlosch er , und das Dunkel schien noch tiefer als zuvor .
Gerade aus seinem Schweigen und seiner Verschlossenheit wuchs die überlegene Kraft , die er über sie hatte ; sie fühlte es .
Wie muß er leiden , sagte sie sich in ihrem liebenden Herzen .
Und tausendfach verzieh sie ihm , was er ihr antat , Böses und Hartes .
Auch ging sie umher mit ihrer beständigen Furcht vor der Josefa .
Wenn sie sie zufällig sah , oder traf - und das geschah öfter als sonst - so wich sie ihr wie eine Schuldbeladene aus .
Sie wollte um die nächste Ecke biegen , aber mit Habichtsaugen hatte die Josefa sie erspäht , und wie ein Stößer kam sie auf sie zugeschossen .
Sie ging nicht von ihrer Seite .
Und was für ein Lächeln hatte das Mädchen !
Ihr schauderte davor .
Und was für Fragen richtete sie an sie , und mit wie gierigen Blicken durchdrang sie sie !
Und immer dachten sie beide an den einen ... und nie sprachen sie es aus , als ob es ihnen eine Lust war , sich gegenseitig zu martern und aufzureiben .
Und jedesmal bangte der Ingolf davor , daß die andere plötzlich beginnen würde .
Sie wartete mit klopfenden Pulsen und verschwiegenen Ängsten .
Oft schien es ihr auch , als ob die Josefa Ernst machen würde .
Ein Blick , eine Wendung ließ darauf mit Bestimmtheit deuten .
Aber dann brach die Gerving ab , betrachtete sie voll Hohn und ging wortlos von dannen .
Es war eine Qual ohne Ende - und unaufhaltsames Bangen , das sie langsam mürbe machte .
Wenn sie an ihm nur eine schwache Stütze gehabt hätte !
Wenn wenigstens zuweilen aus seinem Inneren ein Funken Güte für sie herausgesprungen wäre !
So aber durfte sie nicht einmal zu ihm von dem sprechen , was auf ihr lastete .
Er wollte ihre Sorgen nicht .
Sie wußte es .
Und in ihrer lächerlichen Demut kam es ihr selbst wie eine Zumutung , wie ein Verbrechen vor , daß sie ihm mit ihrem Fürchten in die Quere kommen sollte .
Alles das durchlebte sie jetzt von neuem , während sie mit tränenlosen Augen am Fenster saß und in die Straße und ihr Getriebe blickte ...
Wie wunderlich und verwirrt war alles .
Das ganze Gerede von Freiheit und Selbstbestimmung kam ihr in dieser Stunde des Nachdenkens öde und geschwätzig vor .
Man konnte mit dem nämlichen Rechte von Schuld und Schicksal sprechen .
Wie war es sonst denkbar , daß der Mensch sich selbst Gefängnisse baute , deren Eisengitter schlimmer als die der Wirklichkeit waren , daß er aus freien Stücken Handfesseln sich anlegte , sich versklavte und seine Sehnsucht nach der Peitsche und dem Getretenwerden war stärker als der Drang nach Freiheit .
Sie rieb sich die Stirn .
Ach Gott , was ist das für ein albernes Zeug !
Damit sich den Kopf beschweren !
... Verstohlen blickte sie zu ihm hinüber .
Immer noch saß er unbeweglich da und stierte wie geistesabwesend in die Lampe .
Einen Augenblick fuhr es ihr durch den Sinn , er müßte krank sein .
Nur ein Kranker konnte mit dieser abgekehrten Melancholie sich und andere peinigen .
Ein Grauen packte sie bei dem Gedanken ; sie wies ihn von sich .
Was war krank ?
Was war gesund ?
Jeder einsame Denker , jeder , der abseits vom Wege ging , war für den Philister ein Irrer .
Man brauchte nur den Rock anders zu tragen als Hinz und Kunz , um von diesen Ewig-Zufriedenen , Ewig-Satten , von keinem Zweifel Berührten - um von den Positiven im Lande mit überlegenem Hohn als geistesgestört angesehen zu werden .
Sie raffte sich auf , und plötzlich sagte sie :
" Heute bin ich der Josefa begegnet . "
Und mit gesenkter Stimme fuhr sie fort : " Ich fürchte mich vor ihren Augen . "
Der Mechaniker hatte den Kopf ein wenig zu ihr gewandt .
Er blickte sie fremd an , als begriffe er nichts von ihren Worten .
Dieses ruhige und kalte Betrachten nahm ihr den Rest ihrer Fassung .
Und auf einmal schüttelte sie sich .
Eine bestimmte Vorstellung ergriff sie .
Sie sah sich im Seziersaal auf einem der Tische liegen , als eines jener im Elend verkommenen Frauenzimmer , die mit einem letzten , mutigen Entschluß ihrem Jammerdasein ein Ende bereitet hatten .
Und nun dienten sie der Wissenschaft als Objekt - denn es gab für sie kein christliches Begräbnis - , wurden von ruhigen , sicheren Händen auseinandergenommen und auf Hirn und Herz , auf Nieren und Eingeweide von klaren Forscheraugen untersucht .
Keine Seele dachte mehr daran , daß in so einer entstellten Hülle ein gequältes Herz gepocht und nach Licht gehungert hatte ...
Genau so betrachtete er sie , wie ein Objekt , wie ein Ding ohne persönliche Anteilnahme , ohne eine Spur von innerer Empfindung .
Ich will nicht weinen ... Nein , ich will nicht weinen ...
Und sie empfand ganz deutlich , wie sie ihr Weh niederzwang .
Schwerfällig erhob sich der Mechaniker .
Er nahm seinen Hut und murmelte kaum hörbar vor sich hin : " Gute Nacht ! "
Selbst diese karge Freundlichkeit schien ihm sauer zu werden .
Sie sah ihn mit weitaufgerissenen Augen an .
Sie sah , wie er bei ihrem Blick die Brauen zusammenzog , stumm ihr den Rücken kehrte und aus der Tür trat .
Sie hörte noch , wie seine Schritte verklangen .
Dann brach sie auf einem Stuhl zusammen und verhüllte ihr Gesicht ...
So zertreten ... so furchtbar mißhandelt kam sie sich vor .
Warum tut er das ? stöhnte sie in sich hinein .
An der nächsten Ecke blieb der Mechaniker stehen und holte aus seiner Rocktasche den " Festsaal " hervor .
Er las Wort für Wort seinen Aufsatz , und ohne sich von den Vorübergehenden im mindesten stören zu lassen , las er ebenso aufmerksam den von Thomas Druck .
Das ist doch ein Schwärmer , ein Kerl ohne Hammer , ein Mensch mit einem Gewissen !
Und im stillen fügte er hinzu : Niemals wird dieser Bursche den Statuen die Köpfe zertrümmern , niemals wird er kurz und klein schlagen , was ihm in den Weg kommt .
Verärgert lachte er in sich hinein :
Er hat einen Hammer , aber er hat keine Muskeln ...
Dieses war es , was ihm den ganzen Abend während seines schweigsamen Besuches bei der Ingolf beschäftigt hatte . -
XIV.
Was nun kam , war schön und gut , trotz mancher Bitternisse und mancher Enttäuschungen .
Die Leute vom " Festsaal " arbeiteten mit einem wahren Feuereifer .
Und wenn sie zuerst ungelenk , hilflos und ungeschickt im Vertriebe ihres Blattes waren , wenn sie bald merkten , daß die Öffentlichkeit sie entweder totschwieg , oder mit kurzen , höhnischen Bemerkungen einfach abtat , so konnte sie das nicht ernüchtern oder gar in ihrer Arbeit hemmen .
Auch begann das Blatt allmählich doch leise Wirkungen zu tun .
Der und jener meldete sich , und Heinsius , der die Expedition leitete , konnte zur Genugtuung des Kreises bald feststellen , daß man auch in anderen großen Städten Boden gewann .
Freilich , Thomas merkte schnell , wie das erhobene Kapital zusammenschmolz , wie ungeheuerlich die Kosten waren , wie gering die Einnahmen .
Er wollte sich darüber kein Kopfzerbrechen machen .
An den materiellen Dingen durften die Ideen der Zukunft nicht scheitern .
Es war ihm klar , daß er den letzten Groschen , den letzten Rock hergeben würde , wenn es galt , die Sache , die er auf sich genommen , durchzuführen .
Er wuchs in dieser Zeit .
Er vergaß das , was an ihm genagt hatte .
Die neue Arbeit trug ihn über die Vergangenheit hinweg .
Er hatte sich als ein junger Mensch vergafft und verliebt und den geraden Weg , der seiner Natur und seinem innersten Wesen entsprach , verlassen .
Er hatte in seinem lauteren Empfinden Schiffbruch gelitten ; aber sein Bankrott war schließlich doch ein ehrlicher gewesen .
Er blieb sein eigener Gläubiger , der mit sich selbst auf anständige Weise akkordiert hatte .
Vor ihm lag das ganze Leben .
Und dieses Leben wollte er ausleben in Reinheit und Wahrhaftigkeit .
Sein treuester Bundesgenosse war die Brose .
Sie half ihm bei der Redaktionsarbeit und tat alles in schweigender , fast unheimlicher Ruhe .
Sie war stets da , wenn man sie brauchte , und dabei von einer Arbeitskraft , die nie versagte .
Sie schrieb auch selbst für das Blatt .
Merkwürdige Sachen , oft sprunghaft im Gedanklichen , aber von einer seltenen Energie des Ausdrucks und einer frappanten Selbständigkeit in der Betrachtung der Dinge .
Sie verfügte über eine beißende Kritik , die immer auf ihr Ziel losging , keine Schleichwege kannte , und in ihrem rücksichtslosen Drauflosgehen gefährlich für die Veröffentlichung war .
Das war den Redakteuren des " Festsaales " gerade recht , zumal Heinsius , für den der Ton der Aufsätze nie scharf genug sein konnte .
Diese jungen Leute kannten noch nicht die Vorsicht der Zeitungsmänner .
Furcht und Bedenken gab es für sie nicht .
Sie waren stürmisch bewegt von ihrem Wollen und ihrem großen Freiheitsdrange , sie waren erfüllt von Zukunftsrausch und Hoffnungen .
Und ihre bewegten Seelen brauchten einen starken Ausdruck für das , was sie feierlich und hoch stimmte .
Dennoch kam es in der Redaktion oft zu stürmischen Debatten .
Thomas war derjenige , der aufbauen wollte , der immer und immer wiederholte :
" Kinder , ich will die Menschen in einen Festsaal führen , ich will alles Lebensfreudige in ihnen wecken , ich will , daß jeder seine Augen aufreiße und das Leben als etwas Schönes und Heiliges zu betrachten lerne .
Jeder soll sich auf seine großen und guten Empfindungen besinnen , auf seine Menschenwürde , und in dem niedrigen und erbärmlichen Kampfe , den er führt , wo er ohne Nachdenken und Mitleiden über den ersten besten wie über einen Leichnam hinwegschreitet , soll er für eine kurze Weile wenigstens Waffenstillstand schließen .
Ihr reißt nieder und seid erst eigentlich froh , wenn Ihr nur Schutt und Trümmer seht ! "
Auf solche Einwendungen pflegte Heinsius regelmäßig zu erwidern :
" Sie sind ein Träumer , aber die Sache der Freiheit , der neuen Welt- und Lebensanschauung braucht Menschen von Ihrem Schlage . "
Und während seine eingefallenen Backen eine trockene Röte belebte , fuhr er fort : " Wir sind Totengräber und wollen es sein .
Wir wollen nicht schwärmen .
Wir wollen Sterbelieder singen , die ihnen in den Ohren gellen sollen . "
Es flackerte unruhig in seinen Augen , als er bitter hinzusetzte :
" Ein Mensch wie ich muß seine Zeit wahrnehmen ! "
Thomas erkannte bald , daß das ewige Streiten und Zerren nicht förderte .
Er hatte auch vor der Festigkeit , mit der Heinsius , Fründel und die Brose auftraten , einen inneren Respekt .
Diese Menschen waren so fertig , so in sich abgeschlossen , während er noch immer tastete und zu immer neuen Erkenntnissen sich durchzuringen suchte .
Er war auch zu ehrlich , um seine Unsicherheit zu verbergen .
Jeder Satz , den er sich entwand , kostete ihm Anstrengung und unsagbares Nachdenken .
Er kam sich so verantwortungsvoll vor .
Wenn etwas gedruckt vorlag , so war es da und nicht mehr auszuradieren .
Man mußte als ehrlicher Mensch Silbe für Silbe dafür aufkommen .
Damals wußte er noch nicht , daß seine Vorsicht und seine Zaghaftigkeit , die er den anderen gegenüber zuweilen als einen Mangel empfand , nicht nur aus seiner schweren und gewissenhaften Natur floß , sondern auch in seiner tieferen Bildung und seinem reicheren Wissen begründet lag .
Ich bin eben noch zurück , sagte er sich zuweilen , ich muß mich erst zu dem Ziele durcharbeiten , an dem die anderen schon angelangt sind .
Freilich gab es auch Stunden , wo er unbeugsam war und mit Fründel hart aneinander geriet .
War er zu einem für ihn sicheren Resultate gelangt , zur klaren Beurteilung irgendeiner Sache , so konnte ihn der Mechaniker , der in jedem Falle die radikalste Ansicht vertrat , nicht umstimmen .
In solchen Wortwechseln fielen die heftigsten Ausdrücke .
Man schlug mit den Fäusten auf die Tischplatten .
Die Möbel der Mansardenstube krachten und stöhnten , die Gesichter wurden heißrot , und keiner war geneigt , dem anderen zu weichen .
Fründel hatte eine raffinierte Art , Thomas zu verletzen .
Er suchte förmlich nach Vokabeln , die ihn verwunden sollten .
Einmal warf er ihm vor :
" Sie sind ein Semmelblonder , ein Angstmeier , der sich bequem im Lehnstuhl räkelt und sanftmütige Redensarten macht . "
Thomas hatte ihm schweigend zugehört , aber nie zuvor hatte man ihn in solcher Erregung gesehen .
Er wurde ganz blaß und sprach zunächst kein Wort .
Er Maß nur den anderen , während sein Atem immer rascher ging , mit einem langen Blick :
" Ich weiß " , entgegnete er endlich , " worauf Sie anspielen !
Aber unter keinen Umständen gebe ich Ihnen das Recht , in dieser wegwerfenden Weise mit mir zu reden .
Ich verlange von Ihnen das Maß von Achtung , das zum Zusammenarbeiten mir notwendig erscheint .
Ich könnte Ihnen in derselben Tonart erwidern , ich sage Ihnen aber nur , daß für mich Kraftmeierei und Aufgeblasenheit ebenfalls etwas Freiheitswidriges und zu Bekämpfendes sind , und ich dulde unter keinen Umständen " - bei den Worten machte er eine kleine Pause - " nein " , wiederholte er , " ich dulde unter keinen Umständen diesen Ton .
Rennen wir mit den Köpfen gegeneinander , verteidige jeder seine Anschauungen bis aufs äußerste , und mögen dabei Worte fallen , stark , heftig , schonungslos , aber so weit darf es denn doch nicht gehen , daß man den Charakter desjenigen , mit dem man Seite an Seite kämpft , verdächtigt .
Und warum Ihr ganzer Ausfall ?
Weil ich mich dagegen wehrte , daß der Mörder der Kaiserin Elisabeth im » Festsaal « glorifiziert würde .
Ich begreife " , fuhr er aufatmend fort , " daß jemand mit leerem Hirn und verhungertem Magen , der seiner ganzen Anlage nach unter dem Drucke seiner Volksgenossen , seiner Brüder gelitten und geblutet hat , plötzlich den Verstand verliert und auf die Idee kommt , man könnte durch Meuchelmord bessere Zustände schaffen ...
Ich verstehe auch noch , daß solch ein Mensch sich in Märtyrer- und Heilandsideen hineinlebt ...
Ich begreife das alles und mache die Gesellschaft mit verantwortlich , daß in einem Menschenhirn so entsetzliche Dinge wachsen und zur Tat ausreifen konnten .
Aber solches Tun billigen , es etwa gar als vorbildlich hinstellen zu wollen , ist etwas , wogegen ich mich sträube und immer sträuben werde .
Ich halte das , um mich gelinde auszudrücken , für wahnwitzig .
Wenn ein Verrückter , Entgleister , Verworrener eine unschuldige , edle Frau , die zufällig auf dem Thron sitzt , im Hinterhalte ermordet und so den Volksgram zu lindern wähnt , so sage ich mir einfach , das ist ein Mensch , dessen Denkvermögen verkrüppelt war . "
An dem Tage , wo Thomas zu Fründel diese Worte sprach , war so ziemlich alles , was am " Festsaal " Anteil hatte , versammelt , und Thomas empfand deutlich die Wirkung seiner leidenschaftlich hervorgestoßenen Worte .
Nur auf den Mechaniker hatten sie keinen Eindruck gemacht .
Er stand ihm mit verschränkten Armen kalt lächelnd gegenüber , er blinzelte kaum merklich zu der Ingolf hinüber , die bebend zu Boden sah , aber bei seinem Blicke die Augen angstvoll aufschlug .
Sie sah den höhnischen Zug um seinen Mund , den sie so gut kannte und fürchtete .
Und obwohl sie im voraus jedes seiner Worte zurückwies , obwohl ihr vor seiner Antwort schauderte , so liebte sie ihn in dieser Stunde , wo alle gegen ihn waren , stärker denn je .
" Es kommt nicht darauf an " , erwiderte er kurz , " ob ich Sie verletzt habe - persönliche Empfindungen sind mir in solchen Sachen gleichgültig - für mich handelt es sich nur darum , wie man sich in der Sache prinzipiell zu stellen hatte - "
Er hielt einen Augenblick inne , ehe er langsam , leise und doch für jeden vernehmbar fortfuhr :
" Da ich Terrorist bin , so stehe ich auf dem entgegengesetzten Standpunkte wie Sie .
Ich halte eine solche Tat nicht für Wahnsinn , nicht für den Ausfluß eines kranken Hirns , sondern für die letzte Erkenntnis der Todesmutigen . "
Und mit zynischem Lächeln sagte er :
" Es ist der Witz vom Gegengift .
So simpel das ist " , setzte er ironisch hinzu , " so wenig sind gewisse Leute geneigt , aus ihrem Denken die letzten Konsequenzen zu ziehen .
Herr Thomas Druck , Sie nehmen es mir nicht übel " , schloß er , indem er die Schultern ein wenig emporhob , " wenn ich mich darin etwas von Ihnen unterscheide . "
Eine Weile schwiegen alle verblüfft .
Niemals hatte Fründel in diesen Dingen seine Überzeugung so unverhüllt ausgesprochen wie heute .
Sie empfanden ein Grauen vor ihm .
Selbst Heinsius konnte sich eines unheimlichen Eindrucks nicht erwehren .
Dieser Mensch berechnet alles mathematisch , dachte er , Gefühl gibt es überhaupt nicht mehr bei ihm .
Und verstohlen betrachtete er ihn von der Seite .
" Sie sind Terrorist ? " fragte Blinsky endlich .
Wieder lächelte der Mechaniker überlegen .
Er sah den kleinen Mann , der so ängstlich die Frage an ihn stellte und mit seinen erweiterten , kranken Augen ihn dabei so hilflos anstarrte , mitleidig an .
" Ich habe nichts mehr zu bekräftigen und nichts mehr abzuschwächen " , antwortete er , dann ließ er die Arme fallen und winkte der Ingolf zum Gehen .
Thomas trat ihm ruhig in den Weg .
" Ich will nicht , daß , bevor Sie uns jetzt verlassen , eine Unklarheit , irgendein Rest übrigbleibe .
Es ist gut , daß es zu einer klaren Aussprache gekommen ist .
Es ist gut , daß wir wissen , wo unsere Wege sich trennen .
Denn niemals werden Sie für solche Anschauungen im » Festsaal « Unterstützung finden .
Wir wollen nicht noch mehr Verwirrung anrichten , und darum wehren wir uns gegen Sie ! "
Der Mechaniker erwiderte nichts mehr .
Er hatte die Lippen fest aufeinander gebissen , um seine Nasenwinkel zuckte es kaum merklich .
Die Ingolf folgte ihm lautlos .
" Sie werden sehen " , jammerte die Lissauer nach langem Schweigen , " der wird uns alle ins Unglück stirrzen . "
" Schweige " , schrie Lissauer sie grob an , " und steck dich nicht dazwischen ! "
Sie warf ihm einen bitterbösen Blick zu .
Man ging gedrückt auseinander .
Aber noch lange zerbrach sich Thomas den Kopf über das , was vorgefallen war .
Was ist das für ein Mensch , grübelte er , und eine helle Angst überkam ihn .
Wir werden ihm nicht folgen , aber auch niemals werden wir auf ihn einen Einfluß gewinnen .
Der ist festgeschmiedet , der ist nicht mehr zu biegen und zu brechen .
Und diese Abgeschlossenheit Fründels beunruhigte ihn auf das tiefste .
Was wird das Ende von alledem sein ? fragte er sich verstört .
Wie muß das Ende sein ?
XV.
In dieser Zeit speiste Thomas Druck mit der Brose , Heinsius und der Maria Werft in einem vegetarischen Speisehaus zwischen der Potsdamer- und der Lützowstraße .
Eine kleine Treppe führte direkt von der Straße in das Lokal , in dem man sonderbare Gestalten treffen konnte , einzelne Frauen , Mädchen und Männer der verschiedensten Altersstufen .
Es ging während des Mittagsmales ganz still zu .
Fast alle , die hier verkehrten , schienen notbelastet und vom Leben gedrückt zu sein .
Ihre Gesichter waren blaß und von Leiden durchfurcht , oder sie waren in einem gewissen Trotz und fanatischen Willen beherrscht , oder aber auch müde und erloschen .
Die verschiedensten Berufsstände waren vertreten .
Hier ein Student , dort ein Ladenmädchen , da ein kleiner Kaufmann .
Man fühlte sich in dieser Mittagsgesellschaft wohl .
Jeder einzelne rief mit seinem Leidensgesicht einem zu : Haltet aus , bleibt stark , ihr kämpft für uns !
Für die beiden Frauen - die Maria Werft hatte sich unterwürfig und in Demut ganz an die Brose angeschlossen - war die Mahlzeit die Feststunde des Tages .
Sie hielten zu Thomas .
Sie fühlten seine Reinheit .
Auch war er während der Essenszeit aufgeräumt , froh und heiter .
Sein Gesicht , auf dem man die inneren Qualen , die er durchlebt hatte , deutlich lesen konnte , war schmaler geworden .
Seitdem schien es den beiden Frauen noch adliger , und wenn er lächelte , so hingen sie an seinen Zügen .
Aber sie taten es so vorsichtig und zurückhaltend , daß er davon nicht verletzt werden konnte .
Die Maria Werft hatte allmählich erkannt , daß ihm nichts mehr Pein schuf als ihre zur Schau getragene Bewunderung .
Man aß nur wenig .
Man schränkte seine Lebensbedürfnisse aufs äußerste ein .
Man hatte nicht das Recht , sich zu mästen , während Ungezählte darbten .
Nur bei Heinsius drang man auf eine bessere Ernährung .
Er lachte sie nur aus .
Ja , er konnte zornig werden , wenn man ihm damit zusetzte .
Er sprach von seinen zerlöcherten Lungen mit einem stoischen Gleichmut .
Der Gedanke an das Sterben hatte für ihn nichts Schreckhaftes .
Dennoch liebte er das Leben , seitdem der " Festsaal " erschien .
Oft verfiel er von einer Stimmung in die andere .
Eben noch gesprächig , wurde er einsilbig und stumm , eben noch gütig , wurde er herausfordernd und zynisch .
Einmal sagte er bei Tische :
" Ich will die Spanne Zeit , die mir noch bleibt , auskosten .
Ich will sehen , bis auf den Grund sehen !
Ihr mögt mir über das Maul fahren , wenn ich ausfallend und unbequem werde - ändern werdet ihr mich nicht ! "
Er hielt einen Augenblick inne .
" Wenn ihr wüßtet " , fuhr er fort , " was für eine Neugier in mir erwacht ist ... eine unheimliche Neugier !
... Das ist es eigentlich , was mich am Leben hält .
Ich möchte wissen , was aus euch wird .
Ich möchte in euch hineinkriechen können , nämlich , offen gesagt , ich traue euch allen nicht . "
Und mit einem boshaften Gesichtsausdruck wiederholte er :
" Ich traue euch wirklich nicht .
Ich bin euer nicht sicher , vielleicht seid ihr alle nur von einem schwachen Rausch erfüllt .
Sehen Sie mich doch nicht so einfältig an " , unterbrach er seine Rede , indem er sich grob an Thomas wandte .
" Das liegt doch alles im Bereich der Möglichkeiten ! "
Er beugte sich über seinen Teller und stopfte einen angehäuften Löffel mit Bohnen in sich hinein .
Dann schüttelte er sich :
" Das Zeug schmeckt ja scheußlich ! "
" Sind Sie denn Ihrer selbst so sicher ? " fragte die Brose .
Er kniff die Augen ein wenig zusammen .
" Die sich dem Tode nahe wissen , sind sich zuweilen klar " , erwiderte er und blinzelte dabei .
" Wäre es denn so merkwürdig , wenn Sie umfielen ? " setzte er mit höhnischer Miene hinzu .
" Ich finde , es wäre das Natürliche !
Das Gegenteil würde das Merkwürdige und Seltsame sein .
Man kann sich doch in irgendeine Geschichte hineinlügen ; wer ist sich denn über sich selbst so klar , daß er von seiner Wahrheit seine Schauspielerei zu unterscheiden vermag .
Das meiste ist doch Schauspielerei !
Man spielt sich gerade die Komödie vor , die einem behagt !
Wer will es entscheiden , wo das Wahrhaftige beginnt . "
" Und wie wollen Sie die Frage bei sich selbst lösen ? "
" Das ist ein ganz richtiger Einwand , aber , mein Lieber damit habe ich mich , und damit allein , möchte ich sagen , habe ich mich all die letzten Jahre beschäftigt , und schließlich glaube ich meiner selbst sicher geworden zu sein .
Ich weiß doch ganz genau , es hat für mich keinen Zweck mehr , mir faule Flausen vorzumachen .
Sehen Sie , hätte ich ein Leben , Aussichten und Hoffnungen vor mir , so würde ich meiner Sache nicht gewiß sein , ich könnte mir dieses einreden oder jenes !
So aber sehe ich vernünftigerweise keinen Grund ein , weshalb ich noch mit mir selbst Versteck spielen sollte .
Das ist der Witz , mein Lieber ! "
" Und weshalb zweifeln Sie an mir ? "
" Weil vor Ihnen das ganze Leben liegt , weil Sie einen Überschuß von Temperament haben .
Und dann , Verehrtester , die Eitelkeit !
Es hat doch etwas so Verführerisches , eine neue Rolle zu kreieren .
Die Einsamen und Alleinstehenden , die ein bißchen abseits denken , kommen sich so originell , so bedeutend im Gegensatz zu dem großen Haufen vor .
Glauben Sie mir , das hat etwas !
Die Einsamen sind nämlich oft eitle Narren , Toren ihrer selbst - Spitzbuben .
Sie hecken sich irgendeinen Kram aus , auf den sie sich festlegen .
Zuletzt : alles ist Schwindel ... ! "
Thomas hatte angestrengt zugehört .
Ihn fror innerlich .
Er hatte das Gefühl , als ob ihm jemand langsam und sicher das Blut abschröpfte .
Heinsius sah es , und gerade das spornte ihn an , immer beißender und niederträchtiger zu werden .
" Sie schlagen Volten , Heinsius " , entgegnete Thomas , während er mit seinen Fingern nervös auf die Tischplatte klopfte .
" Sie sind ein Skeptiker von Grund aus !
Wäre ich wie Sie - ich müßte mich auf und davon machen .
Ich hätte keine Stunde mehr vor mir .
Ein Stück festen Grund und Boden " - und bei diesen Worten zitterte er leise - " brauche ich unter meinen beiden Füßen .
Ich glaube fest daran , daß ein wahrhaftiger Mensch zu dem Punkte kommt , wo er sich nichts mehr vormacht .
Wenn alles Lüge , wenn alles Selbstbetrug wäre , dann muß ich schließlich an meinem eigenen Vorhandensein zweifeln . "
" Ja , das sollen Sie auch " , unterbrach ihn Heinsius ruhig .
" Das ist ja schon ein komischer Irrtum , daß Sie von einem eigenen Vorhandensein reden .
Was ist denn an Ihnen eigen ?
Sie sind doch nur ein Mixtum compositum , festgelegt und vorher bestimmt , bevor Sie noch lallen konnten .
Und dann sagten Sie vorhin , Sie » glauben « .
Das ist eine reine Torheit , Sie sollen eben nicht glauben ... an nichts ... an gar nichts ... ! "
Thomas wurde zornrot .
Die Maria Werft bemerkte es und schrak zusammen .
Auch die Brose betrachtete ihn gespannt .
" Sie kommen sich wie der schwarze Mann vor , und mich nehmen Sie für das Kind , dem man bange machen kann , wenn es dunkel wird . "
Er strich dabei über seine hohe Stirn .
" Ich will Ihnen sagen " , brachte er langsam und in erregtem Tone hervor , " weshalb mit Ihnen nicht auszukommen ist .
Erstens wähnen Sie etwas voraus zu haben , weil Sie mit dem Leben fertig sind !
Ob Ihre Rechnung stimmt , bezweifle ich übrigens .
Zweitens - und dieses scheint mir das bei weitem Gefährlichere zu sein - würfeln Sie Wahres und Falsches mit einer solchen Geschwindigkeit durcheinander , daß Ihnen nur schwer beizukommen ist .
Sie schlagen so viele Purzelbäume , daß man sie nicht mehr zählen kann .
Sie machen einem schwindelig !
Man muß die Ohren spitzen !
Also die eine Weisheit , die Sie immer wieder auftischen , ist uralt .
Sie stammt vom König Salomo her oder von sonst irgendeinem .
Sie heißt : alles ist eitel !
Ich leugne nicht , daß das eine der tiefsinnigsten Formeln ist .
In der Erkenntnis des Lebens und in der Wertung der äußerlichen Dinge mag sie dem , der denkt , eine Richtschnur sein .
Aber die Medaille hat zwei Seiten .
Auf der anderen steht : ??? ... alles ist in ewiger Bewegung , in ewigem Fluß ... !
Und das ist für mich ein tiefer Trost , wenn Sie wollen , ein Evangelium !
Ich bin vorher bestimmt , festgelegt , und dennoch bin ich ein Neues , ein Weiteres , ein Urpersönliches , ein Wesentliches , eine Folge ...
Ich trage an mir bei zur ewigen Entwicklung .
Ich bin begrenzt und erweitere die Grenzen .
Ich bin unfrei und habe doch Freiheiten .
Ich bin , wenn Sie wollen , ein Mixtum compositum !
Aber wenn ich aus einer unendlichen Zahlenreihe bestehe , so füge ich am Ende einen minimalen Bruchteil hinzu , so daß diese Zahlenreihe durch mich sich ändert .
So bin ich trotz aller Hemmungen ein Ich , ein Ich mit meiner Freiheit und meinem Erleben .
Und alle Ihre Skepsis wird mir nichts von dieser Erkenntnis abbröckeln ; denn dadurch " , schloß er , " erhält erst mein Einzeldasein und Einzelschicksal etwas Ewiges , etwas Bedeutsames .
Ich war ... ich bin ... ich werde sein . "
Bei den letzten Sätzen waren seine Züge sanft und milde geworden , und seine Augen leuchteten rein und schön .
" Sie haben sich das recht hübsch und nett zurecht gelegt " , sagte der Volksschullehrer und erhob sich .
Und in einem Tone , den sich keiner deuten konnte , ergänzte er :
" Man kann Ihnen gratulieren ! "
Darauf antwortete niemand .
XVI.
Zu jenen geschmacklosen , aus roten Backsteinen ausgeführten Bauten , an denen Berlin so überreich ist , gehört die Jerusalemer Kirche .
Hier ging der Dichter Liers auf und ab .
Er erwartete die Josefa .
Die Mittagssonne warf ihr Licht auf die Schiefertürme und spiegelte sich in den Fensterscheiben der Häuser .
An der Kirche stand , auf zwei Krücken gelehnt , ein großer Mann , dessen Gesicht von einem langen , dunklen , mit grauen Silberfäden durchzogenen Vollbart umrahmt war .
Seine Züge waren bleich und durchsichtig .
Ihn fror in der Sonne .
Keinen der Vorübergehenden sprach er an .
Er sah nur stumm und klagend zu ihnen hin .
Wenn jemand zu ihm herantrat und ihm eine kleine Münze reichte , so dankte er nur ganz wenig , indem er vornehm , kaum merklich den Kopf neigte .
Liers betrachtete ihn forschend .
Die rote , kalte Kirche und diese Leidensgestalt stimmten nicht zueinander .
Der Dichter phantasierte :
Das ist ein Mensch , dachte er , aus einem großen , vornehmen Hause .
Vielleicht war er einmal ein Graf , oder gar ein Fürst .
Er hat so etwas an sich , etwas Überlegenes aus den guten Tagen ... und dann zerbrach ihn das Leben .
Und jetzt steht er , ein Märtyrer , ein Krüppel , an der Kirche .
Was mag er wohl denken ?
Grübelt er über das Geheimnis des Daseins - oder über versunkene Zeiten ?
Macht er sich über die Leute lustig , die an ihm vorüberziehen ?
Was ist das für ein Blödsinn , fuhr er sich selbst an .
Er friert ja !
... Er hat dünne , zerlöcherte Kleider und friert ; wie kann er sich da lustig machen ?
... Hm ... es konnte ihm ja auch einmal so gehen , wer wußte das ?
Er wollte sich die Pose und die Bewegungen des Krüppels merken .
Immerhin , es konnte einmal nützlich werden für die Zukunft .
Es war klar , dieser Mensch bettelte mit Würde und Anmut .
Er hatte aus dem Betteln eine Kunst gemacht .
Den Dichter erquickte das .
In dem Augenblick kam die Gerving .
Liers schritt hastig auf sie zu .
Er hatte den Bettler im Nun vergessen - das Mädchen hingegen starrte den zerlumpten Menschen mit einer rätselhaften Miene an .
Sie nahm aus der Tasche ihr Portemonnaie und schüttete den Inhalt in die wachsbleiche Hand des Mannes .
Und ohne Liers guten Tag zu sagen , stieß sie rasch hervor :
" Kommen Sie hier fort . "
" Warum haben Sie ihm Ihr ganzes Geld gegeben ? "
" Warum ? "
Sie lächelte und zeigte ihm ihre weißen , glitzernden , großen Zähne .
" Sie denken , ich habe das aus Güte getan ?
0 nein " - sie schüttelte heftig den Kopf - " es hat seinen Grund . Nämlich " , flüsterte sie geheimnisvoll , " das ist ein Trick von mir !
Ich habe mir das Versprechen abgenommen , das ich dem ersten Bettler , den ich treffe , alles gebe , was ich gestern verdient habe ... ich will einmal opfern , vielleicht nützt das . "
" Mir wird übel ! "
" Weshalb ? "
" Daß Sie an dieser Seele so hängen ! "
Sein hübsches Gesicht wurde fleckig vor Zorn .
Sie sah ihn wehmütig an , ernst und groß .
Er begriff sie nicht .
Nach einer Weile fragte sie :
" Was haben Sie ausgekundschaftet ? "
" Soll ich alles sagen ? "
" Alles " , erwiderte sie und bis die Zähne aufeinander .
Er machte eine Kunstpause .
" Was bekomme ich denn eigentlich dafür ? "
Ihre Züge verzerrten sich in Unruhe und Sorge .
" Sie sollen mich jetzt nicht quälen " , antwortete sie herrisch .
" Sprechen Sie ! "
" Gut ! "
Er zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche und las : " Donnerstag um sieben Uhr bei der Ingolf , blieb bis neuneinhalb .
Am Freitag war er um siebeneinhalb Uhr bei ihr , verweilte diesmal nur zehn Minuten .
Am Sonnabend keine Zusammenkunft , Sonntag ebenfalls nicht .
Am Montag erschien er wiederum um sieben Uhr und verließ um zwölf Uhr das Haus .
Das Dienstmädchen habe ich bestochen .
Sie wußte nicht viel .
Manchmal liest er , oder schreibt .
Sie duzen sich , das hat sie gehört , und haben ein richtiges Verhältnis .
Genügt Ihnen das ? "
Sie schwieg .
Es zuckte beständig unter ihren Augen .
Sie drückte beide Hände , die sie geballt hatte , fest an sich .
Er sah ihren stillen Schmerz , der ihre Schönheit wachsen ließ , und eine kurze Zeit vergaß er darüber sein eigenes Wünschen .
Ihr Anblick erfüllte ihn mit Andacht , aber das dauerte nicht lange .
Was nützt mir ihre Schönheit , fragte er sich unmutig .
Ich bin für sie nichts ... nichts ... nichts .
Und wütend stieß er hervor :
" Wie können Sie sich an solch einen Idioten hängen ? "
Und da sie nichts entgegnete , setzte er hinzu :
" Lassen Sie mich , ich weiß , was ich sage !
Er ist ein Idiot , denn sonst - "
Sie ließ ihn nicht ausreden .
Sie jagte davon .
Er wollte ihr nacheilen , machte einen Ansatz dazu , blieb dann aber stehen und starrte nur vor sich hin. Habe ich sie nun eigentlich lieb ?
... Ja , sagte eine Stimme in ihm .
Ich schlafe weniger und treibe mich für sie auf der Straße herum .
Ich fiebere , wenn ich an sie denke .
Eine Weile dachte er darüber nach , ob er etwa zu seinem Ziele gelangen könnte , wenn man Fründel auf irgendeine Weise aus dem Wege räumte .
Er haßte diesen Menschen , diesen Kretin , diesen bornierten Schlingel , der nicht wußte , was Schönheit war .
Und so einem fliegen die Weiber zu ! ...
Er drehte sich furchtsam um , ob etwa jemand ihn belauscht hatte , und ging weiter .
Seine Frau fiel ihm ein .
Was nützt mir denn die dicke Person , stöhnte er vor sich hin , wenn sie noch so gut gegen mich ist , wenn sie mich noch so sehr füttert .
Sie weiß ja gar nicht , ahnt ja nicht , was in mir vorgeht .
Er drückte seinen weichen Filzhut tiefer in das Gesicht , schlenkerte mit den Armen , bis er unvermutet vor dem Weinrestaurant von Kempinsky in der Leipziger Straße stand .
Ah , das ist gut !
Er trat ein .
Es war kaum ein Platz zu erlangen .
Hier fand sich ganz Berlin zusammen .
Offiziere , Börsenmänner , Touristen , Ärzte , Kommis voyageurs e tutti quanti .
Die halben Portionen , die man für fünfundsiebzig Pfennige erhielt , taten es den Leuten an .
Es war ein ständiges Kommen und Gehen .
Diejenigen , die keinen so vollen Beutel hatten , kamen sich hier groß und wichtig vor .
Sie saßen ebenfalls in einer Weinstube mit all dem noblen Volk zusammen .
Erbaulich , murmelte der Dichter vor sich hin , als der Geschäftsführer ihm einen Platz anwies .
Er bestellte sich eine Flasche Rheinwein , eine Portion Kaviar , eine Trüffel , eine Artischocke , einen halben Hummer .
Man lebt nur einmal , man muß sich pflegen .
Hat man in der Liebe Pech , muß man den Leib stärken .
Das ist das Gesetz von der Erhaltung der Kraft .
Dann goß er sich den klaren , hellen Wein ein und trank in einem fort .
Die Umsitzenden blickten neugierig auf den hübschen Menschen mit den glänzenden Augen und den verträumten Gesichtszügen .
Sein Menü frappierte sie .
Er merkte das , und es tat ihm wohl , daß man ihn beobachtete .
Er schielte zu einer fetten Frauensperson hinüber , die von Brillanten funkelte und ihm verliebte Blicke zuwarf .
Das könnte mir gerade noch fehlen .
Ich habe an der meinigen genug .
Es ist eigentlich gemein von mir , setzte er im stillen hinzu , daß ich " sie " so taxiere .
All die Menschen rings um mich würden sagen , daß ich ihr zu Dank verpflichtet sei ...
Bin ich ihr nun zu Dank verpflichtet ?
... Das ist alles reiner Unsinn ...
Was verderbe ich mir meinen schönen Wein mit so gräßlichen Fragen .
Ich denke eben jetzt schlecht über sie , vielleicht werde ich sie eine Stunde später auf ihre dicken Backen küssen , mich von ihr tätscheln lassen und sie wirklich lieb und gut finden ...
Und das wird auch eine Wahrheit sein ...
Die Josefa tauchte vor seinem Auge auf .
Er seufzte in sich hinein und stürzte hastig ein neues Glas hinunter. XVII .
Es gab Tage , an denen Thomas unter der Arbeitslast zusammenzubrechen meinte .
Der " Festsaal " wollte nicht nur Kritik üben , er wollte auch das freiheitliche Ideal ausbauen und an die Stelle dessen , was bekämpft wurde , wirklich Positives setzen .
Es wurden Diskutierabende veranstaltet , wie man sie früher bereits im Nachtlicht abgehalten hatte .
Fremde Gäste kamen .
Man hörte zuweilen neue Einwände , man mußte antworten auf Grund von Kenntnissen und Erfahrungen .
Es war das große Verdienst Fründels gewesen , dessen Lern- und Arbeitstrieb ebenfalls etwas Fanatisches hatte , daß er den Diskutierabenden eine bestimmte Richtung gab .
Man beschäftigte sich systematisch mit den reformatorischen Denkern , die ihnen Wegweiser waren .
Fründel selbst gab zusammenfassende Referate über Dühring , die dann in gekürzter Form im " Festsaal " erschienen .
Mit dem Mute des Autodidakten , mit der rücksichtslosen Energie , die ihm sein einmal errungener Standpunkt verlieh , übte er Kritik .
Hier aber mit einem gewissen Respekte , den man trotz der heftigen Form herausfühlte .
Er wurde leidenschaftlich , weil ihn die Klarheit des Forschers unsicher machte .
Andererseits fand er vieles , was seiner kämpferischen Natur Nahrung gab .
Thomas hatte das medizinische Studium ganz aufstecken wollen , aber die Brose hatte ihn davon abzubringen gewußt .
Mit einer Eindringlichkeit und Ängstlichkeit , die Thomas betroffen machten , stürmte sie auf ihn ein .
" Sie haben ein Ziel vor sich , auf das Sie jahrelang hingearbeitet haben , Sie stehen dicht vor einem Abschluß , Sie dürfen die Vorteile , die Ihnen möglicherweise daraus erwachsen könnten , nicht aufs Spiel setzen .
Sie wissen nicht , was die Zukunft Ihnen bringt .
Hier haben Sie einen Halt , den Ihnen niemand nehmen kann . "
Sie , die sonst nach keiner Richtung hin Opportunistin war , fand tausend Gründe und Worte .
Alle Arbeit , von der sie ihn befreien konnte , nahm sie gern und willig auf sich .
Und ihre Augen funkelten vor Freude , als er ihr endlich nachgab .
Mehr noch als die Arbeit begann auf Thomas die Sorge zu lasten .
Bei aller Einschränkung und allem Sparen schwanden die Mittel zusehends ; denn neben den Kosten des " Festsaal " mußte noch sein und Heinsius ' Unterhalt bestritten werden .
Die Brose , die sich im Dienste des Blattes aufrieb , nahm keinen Pfennig .
Und alle Versuche , sie zum Annehmen des Entgelts zu bewegen , waren vergeblich .
Sie konnte dann aufbrausend und unwillig werden .
Sie verdiene sich ihr Brot auf andere Weise , man solle ihr nicht das Leben sauer machen .
Sie , die seit dem Tode des Malers in lautlosem Schweigen , in sich verschlossen , ihren Weg schritt , konnte bei der Erörterung dieser Frage gegen Thomas so heftig werden , daß er es schließlich aufgab .
Sie war die Vertraute seiner Geldsorgen .
Sie rechnete mit ihm , führte die Bücher und teilte seine Ängste , auch wenn sie nicht darüber sprach .
Eines Tages machte Thomas kurzen Prozeß .
Er schrieb in energischer Weise , so schwer es ihm ankam , an den Vater , daß er den Rest seines Vermögens notwendig brauche .
Die Hypotheken müßten gekündigt , oder das Geld auf irgendeine andere Art beschafft werden .
Er fügte hinzu , der Vater soll keine Ausflüchte machen , da er seinen Willen aufrechterhalten müsse .
Und dieses " müsse " hatte er mit Riesenlettern auf die letzte Seite des Briefbogens gesetzt .
Nun wartete er erregt auf die Antwort .
Nach Absendung des Briefes reichten auf Grund der von der Brose aufgestellten Berechnungen die Gelder gerade noch so weit , um den " Festsaal " noch dreimal erscheinen zu lassen .
Tage vergingen .
Und auf die Tage folgten schlaflose Nächte , ohne daß aus der Heimat ein Zeichen kam .
Thomas verzehrte sich in seiner Unruhe .
Er wollte niemandem zeigen , was er innerlich durchmachte .
Er kam sich für das ganze Unternehmen verantwortlich vor .
Es durfte unter keinen Umständen in seinen ersten Anfängen kläglich enden .
Er wurde fast arbeitsunfähig .
Bei jeder Post ging er dem Briefträger ganze Straßen entgegen .
Der Mann lächelte bereits mitleidig , wenn er ihn sah .
Dieses Lächeln schnitt ihm in die Seele .
Er kam sich ungeheuer leichtfertig vor , daß er mit so geringen Mitteln das Blatt begründet hatte .
Eines Nachts stand er auf , warf sich hastig die Kleider um und packte die nötigsten Gegenstände .
Alles tat er leise und vorsichtig wie ein Dieb .
Er hatte die Furcht , daß Heinsius erwachen und Fragen an ihn richten könne . Hin und wieder warf er auf ihn einen mißtrauischen Blick .
Der aber schlief fest und ruhig .
Er setzte mit zittrigen Buchstaben ein paar Zeilen auf .
Sie waren an die Brose gerichtet .
Er schrieb ihr , daß er heim müßte , da es keinen anderen Ausweg mehr gäbe .
Dann schlich er , in der Rechten die Reisetasche , aus dem Zimmer und verließ auf den Fußspitzen das Haus .
Erst als er im Freien war , atmete er auf .
Es war stockdunkel .
Warum tue ich alles das so heimlich ? sann er und fand darauf keine Antwort .
Die Nacht tat ihm weh .
Immer wieder fragte er sich , weshalb er sich so unfrei vorkomme .
Vielleicht habe ich Furcht vor der Begegnung mit dem Vater .
Er schämte sich dieses Gedankens und konnte ihn nicht ganz zurückweisen .
Sie hatten sich so viele Jahre nicht gesehen .
Während er durch die Finsternis schritt , zogen mit einem Male Kindheitsbilder an ihm vorbei .
Alles , was so lange versunken war , tauchte in lebendigen Formen und Gestalten wieder auf : die Tamara , die einmal Tamara und einmal eine weiße Lilie war ... die Bettina mit ihrer kleinen Geige in den zarten Händen ... der Prediger ... der Garten ...
Wie war das alles so wunderlich , so verschlungen , so unentwirrbar ...
Er atmete schwer und ging schneller .
Sein ganzes Leben war rätselhaft .
Und wieder erschien ihm alles in seinem Dasein dunkel und verschleiert .
Er war ein Wanderer in Finsternis .
Einem dünnen Lichtschein jagte er nach .
Oder vielleicht war das nur ein Irrlicht , das närrisch hin- und herhüpfte und verschwand , sobald er ihm nahe zu sein glaubte ...
Am Bahnhofsschalter erfuhr er , daß der Zug , den er brauchte , in fünf Minuten abging .
Es kam ihm vor , als ob der Beamte ihn mißtrauisch angesehen hätte .
Also dieser Zug hat gerade auf mich gewartet , dachte er bei sich .
Das Kupee war durch eine trübe Lampe erleuchtet .
Nur wenige fuhren mit .
Es war ein Bummelzug , der auf fast allen Stationen hielt .
Immer war es das nämliche Bahnhofsbild .
Briefe und Pakete wurden hinein- und herausgegeben .
Der Stationsvorsteher empfing übernächtig , mit verschlafenen Augen den Zug , sprach ein paar brummige Worte mit dem Lokomotivführer und gab das Zeichen zur Abfahrt .
Jedesmal trat Thomas auf den Perron und sah sich ängstlich um , als erwarte er etwas Besonderes .
Auf einer Station nahm er wahr , wie der Schaffner , auf ihn weisend , dem Stationsvorsteher etwas zuflüsterte , und wie die beiden ihn scharf fixierten und miteinander tuschelten .
Die halten mich für einen Verbrecher , sagte er zu sich selbst , und einen Augenblick hatte er den Drang , auf sie zuzugehen und sich diesen niederträchtigen Verdacht zu verbitten .
Er machte auch einen Anlauf , dann aber kam ihm sein Gebaren kindisch und überreizt vor .
Schließlich wurde er matt und schlief mehrere Stunden hindurch .
Er träumte krauses Zeug .
Er sah unendlich viele Gesangbücher und Bibeln in schwarzen Einbänden .
Und dazwischen das Gesicht der Maria Werft .
Dann sah er die Hände der Maria , bloß die Hände , die nach den schwarzen Bibeln griffen .
Dann tauchte auf einmal Studiosus Bechert in einem knallgelben Jackett auf .
Er trat an die Maria heran und entwand ihr ein Gesangbuch .
Er sprach etwas , das Thomas nicht verstand .
Aber die Bilder schwanden schnell , und statt ihrer tauchte das durchfurchte , erloschene Leidensgesicht eines Mannes auf , das mit quälender Güte ihn anblickte .
Er zerbrach sich im Schlafe das Hirn , wo er diese Züge gesehen .
Der Mensch hatte ein Lächeln , das nicht von dieser Welt war ... Ah , er erinnerte sich .
Er erinnerte sich wie mit einem Schlage ... auf der einsamen Bahnfahrt ... damals als er in die Berge fuhr ...
Er erwachte gerade , als der Zug einfuhr , und sein Ziel erreicht war .
Er war müde und zerschlagen .
Aber seine Müdigkeit wich im Nun .
Er betrachtete genau das Bahnhofsgebäude .
Es sah unverändert wie damals aus und kam ihm doch so fremd und neu vor .
Als er ausstieg , blickte ihn der Stationsvorsteher , der alt und grau geworden war , flüchtig an .
Der Mann erkannte ihn nicht mehr ... niemand schien ihn zu erkennen .
Mit seiner Tasche unter dem Arm schritt er auf die Straße .
Wie benommen ging er durch den Morgen .
Er sah auf die blühenden Felder , in den klaren Himmel .
Er hörte das Zwitschern und Singen der Vögel .
Nur wenige Menschen eilten an ihm vorüber .
" Hui ! " rief der Kutscher neben einem schwerbeladenen Heuwagen und trieb seine Gäule an .
Nun erst kam er in die eigentliche Stadt .
Auf Schritt und Tritt Maß man ihn mit erstaunten Blicken ... allen war er ein Fremder .
Und fremd fühlte er sich selbst hier , losgerissen ... entwurzelt .
Und jetzt stand er vor dem Garten ... er fühlte auf einmal , daß die Knie ihm schlotterten .
Das Tor stand auf .
Er schlich sich hinein .
Ihm war es , als müßten die Tamara und die Bettina in weißen Gewändern auf ihn zukommen und die weißen Hände ihm reichen ...
Wie lag der Garten so anders da ! Verwandelt ... ungehegt ... alles wuchs in ihm wild durcheinander .
Nur die alten Bäume , die Ebereschen und die Pappeln , standen an ihrem alten Platze und dahinter die Weiden und die Zypressen .
Auch sah er den Weiher , der grau und schmutzig dalag und mit Algen bedeckt war ... und dennoch war die Schönheit des Gartens nicht geschwunden , ja , in seiner Wildheit , in seiner Verwüstung schien er noch verwunschener , wunderbarer , einsamer und seltener denn je zuvor ...
Die liebelosen Hände hatten ihm nichts anzutun vermocht .
Und so still , so wunderbar still war es hier ... Gewiß , es war ihm unzweifelhaft , es stand der Garten unter dem Schutze der Tamara ... und hier waren ihm die Geigentöne der Bettina erklungen ...
War das wirklich alles gewesen ?
... Lag das wirklich so viele Jahre hinter ihm ?
... Oder träumte er nur ?
.. .
Um ihn Stille ... Todesstille ...
Stille ohne Ende ...
Und wieder lag er im Grase und blickte in die Sonne , lange , unbeweglich .
Ein süßes , schluchzendes Singen von Nachtigallen weckte ihn .
Und vielleicht auch der Duft der Gräser und Blumen .
Und vielleicht auch das Rauschen in den Baumkronen ...
Er erhob sich hastig , ging wieder auf die Straße und läutete vor dem Hause .
Ein Dienstmädchen öffnete .
Sie fragte nach seinem Begehren , ohne eine Antwort zu erhalten .
Er ging an ihr vorüber .
Jetzt stand er vor dem Sprechzimmer seines Vaters und klinkte die Tür auf .
Er hatte nicht angeklopft .
Das Zimmer war leer .
Er wartete eine Weile .
Nun hörte er schwere Schritte ...
Und nun trat der Vater ein , blieb in der Tür stehen und gab einen kurzen Schrei der Verwunderung von sich .
Dann blickte er ihn stumm und verblüfft an .
Auch Thomas war von dem Anblick befremdet .
War das der Vater ?
Er war fett und korpulent geworden und hatte ein aufgeschwemmtes , rotes Trinkergesicht .
Auf seinen Zügen lag jener herrische und selbstbewußte Ausdruck , den man auf den Mienen der Ärzte findet , die in einer kleinen Stadt oder auf dem Lande hausen .
Der Verkehr mit dem Landvolk , das Gefühl ihrer Unentbehrlichkeit gibt ihnen eine Sicherheit und tyrannische Art , die mit ihren Fähigkeiten gewöhnlich im schärfsten Widerspruche stehen .
Haare und Schnurrbart trug der Vater noch immer geschniegelt und gestriegelt .
" Guten Tag " , sagte Thomas , während der Doktor näher trat .
Sie reichten sich die Hände , aber in dem Händedruck des Vaters lag etwas Kaltes und Feindseliges .
Thomas spürte es .
Der Doktor beobachtete ihn lauernd und gespannt .
Er betrachtete ihn wie einen Eindringling , dessen er sich erwehren mußte .
Dabei hatte er ein Gefühl der Unsicherheit dem großgewachsenen schlanken Menschen gegenüber , der so ernst und ruhig ihn Maß .
Sie schwiegen .
" Du scheinst Überraschungen zu lieben " , brachte der Vater endlich hervor .
Thomas erwiderte :
" Du weißt , warum ich gekommen bin .
Ich brauche das Geld .
Ich habe vergebens auf deine Antwort gewartet ! "
Das rote Gesicht des Doktors wurde noch roter .
Er erhob sich ganz unvermittelt .
" Ich weiß , wozu du das Geld brauchst .
Ich kenne den sauberen Zweck . "
Und indem er sich plötzlich in einen künstlichen Zorn hineinarbeitete , schlug er mit seiner fleischigen Faust auf den Schreibtisch .
" Das sind ja saubere Sachen , die du angestellt hast ! " schrie er .
Seine Stimme schnappte über .
" Saubere Sachen " , wiederholte er noch einmal .
" Du willst dich wohl um Kopf und Kragen schreiben mit diesem hirnverbrannten Gefasel . "
Er machte eine kleine Pause und sah Thomas herausfordernd an .
Aber der entgegnete nichts .
Er empfand es so deutlich , daß sie nichts , nichts gemein hatten , daß auch jeder Versuch einer Verständigung ausgeschlossen war .
Er fühlte , daß er dem Manne nicht einmal mehr Gram sein konnte .
Seine Ruhe brachte den Vater noch mehr in Zorn .
" Wie kommst du dazu " , fuhr er , sich überstürzend , fort , " in solchem Ton gegen alles Bestehende zu toben ? "
Er lachte laut und grell auf .
" Ein netter Beruf , sich zum Anwalt von arbeitslosem , lichtscheuem Gesindel aufzuspielen !
Bist du denn gar von Sinnen gekommen ?
Weißt du , daß du mich damit kompromittierst ?
Wenn es dir unbekannt sein sollte :
Ich bin Kreisphysikus , königlicher Beamter .
Und wenn du es nicht wissen solltest " , setzte er hinzu und reckte sich ein wenig : " ich bin Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung .
Ich liege nicht auf dem Bärenfell !
Wer seine Pflicht tut , befindet sich wohl . "
Und plötzlich ganz verwirrt durch das beständige Schweigen Thomas ' sagte er in etwas leiserem Ton : " Möchtest du mir über dieses Treiben nicht wenigstens Rechenschaft geben ? "
" Nein " , entgegnete Thomas , " das will ich nicht " , und eine schmerzliche Falte legte sich zwischen seine Augenbrauen .
Der Doktor verschränkte die Arme .
Eine maßlose Wut bemächtigte sich seiner .
Dann trat auf einmal ein eisiger Hohn und eine offene Schadenfreude auf sein Gesicht .
" Ich möchte nur erfahren , auf Grund welcher genialen Anlagen du dir herausnimmst , gegen Vernunft , Ordnung und Gesetz loszuziehen .
Ich kann es schließlich verstehen " , setzte er überlegen hinzu , " daß ein wirklich großer Mensch - aber du , du lieber Gott , wo liegt denn deine Größe ?
... Wenn jeder überspannte Narr ... " er hielt furchtsam inne , er erinnerte sich plötzlich an jene Szene , wo er Thomas als Knaben hatte meistern wollen , und wo die Tamara zwischen sie getreten war .
Es war ihm , als ob die Gestalt von Thomas etwas Drohendes bekam ; er duckte sich gleichsam .
Da ging über Thomas ' Miene ein wunderliches Lächeln , das bitter war .
Er sagte kaum hörbar , während er zu Boden sah : " Ich wollte über alles das mit dir nicht sprechen .
Ich sah darin kein Heil ; aber vielleicht ist es das letztemal , daß wir uns sehen .
Und darum will ich dir antworten :
Weder bin ich ein Wegelagerer und Aufrührer , noch ein genialer Mensch .
Niemals habe ich das letztere von mir behauptet .
Ich bin einfach einer , der an die Entwicklung des Menschen und an die Güte glaubt .
Ich Kämpfe für Erkenntnisse und Dinge , die längst vor mir ausgesprochen sind .
Ich weiß das .
Aber alles das hat in mir gelebt , gerungen von klein auf .
So ein unaufhaltsamer Drang " , sagte er mit gedämpfter Stimme , gleichsam in die Vergangenheit zurückblickend und zurücksinnend , " nach Licht , nach Wahrheit und Freiheit ... und nun versuche ich das , was in mir klar geworden ist , in Leben , in Tat umzusetzen .
Ich versuche " , murmelte er stockend , " mich selbst zu erfüllen .
Mögen diese Wahrheiten von anderen gefunden sein , darauf kommt es für mich nicht an .
Sie wurden zu meinen Wahrheiten , indem ich sie in mir selbst schuf .
Ich tue auch nichts - " er hielt inne - begreift er mich denn , fragte er sich im stillen .
Dennoch fühlte er das Bedürfnis , in dieser Stunde ihm alles zu sagen , sich nackt vor ihm zu enthüllen - " was ich tue " , fuhr er fort , " erhebt nicht den geringsten Anspruch auf Lob .
Ich tue es einfach , weil ich es tun muß .
In mir ist ein Rad , das mich treibt ... nämlich ... für mich gibt es eine ewige Wahrheit , die sich erfüllen muß , die man treten und stampfen und doch nicht zertreten kann .
Und dafür Kämpfe ich ... dafür muß ich kämpfen . "
Und mit einem unendlich traurigen Gesichtsausdruck fügte er hinzu : " Ich kann mir gar nichts Niederdrückenderes denken , als daß nur der überragende Mensch für seine Erkenntnisse eintreten darf " - seine Finger bewegten sich in einem fort - " es ist doch klar " , sagte er schwerfällig , " daß schließlich die Wahrheit in den Besitz aller gelangen muß ...
Was ich will .
Ich will Bewußtheit , ich will mich nicht nach anderen richten . " ...
Er strich sich das Haar zurück , das ihm in die Stirn gefallen war .
" Wenn einer ein Mensch , bloß ein Mensch sein will , so brüllen sie , er wolle sich zum Genie aufspielen .
Oder sie halten ihn für einen kompletten Narren . "
Sein Gesicht hellte sich auf ; er lächelte jetzt ganz milde .
- " Das muß man auf sich nehmen " , schloß er ruhig .
Der Doktor blickte ihn verständnislos an .
Er begriff ihn wirklich nicht .
Das war nicht Fleisch von seinem Fleische und noch weniger Geist von seinem Geiste .
Es fing ihn bereits zu langweilen an , zudem war er unruhig .
" Ich habe das Geld nicht " , erklärte er brüsk und ohne Zusammenhäng .
In diesem Augenblicke trat eine dicke Frauensperson in die Tür .
Mißtrauisch schielte sie auf Thomas hin .
Sie war liederlich gekleidet und trug das dunkle , schwarze Haar wirr und unordentlich .
Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt .
" Das ist Thomas " , stellte der Doktor verlegen und scheu vor .
Sie kam näher und reichte ihm ihre fleischige Hand mit einer schlecht gemachten Zutraulichkeit , die ihn abstieß .
Einen Augenblick herrschte Stille ...
Der Doktor gab der Frau ein Zeichen ; sie entfernte sich wieder .
Es war Thomas aufgefallen , daß die Sicherheit des Vaters in Gegenwart dieser unmäßig in die Breite gegangenen Frau geschwunden war .
Als die Tür sich geschlossen hatte , sagte er bestimmt und mit Anstrengung :
" Ich kann dir nicht zu Willen sein , ich muß das Geld unbedingt haben ! "
Das kupferrote Gesicht des Vaters bekam etwas Kreidiges .
" Für das Blatt ? "
" Ja . "
" Ich habe das Geld nicht mehr " , schrie er außer sich , " ich habe es verloren ! "
" Das ist ja nicht möglich " , stammelte Thomas , und es schien ihm , als ob man ihn in die Tiefe zöge , in dunkle Tiefe ...
Und jetzt begann auf einmal der heftige Mann klein zu werden , winzig , erbärmlich und furchtsam .
Er bekam eine so entsetzlich geduckte und gebeugte Haltung .
Er erzählte in zusammenhanglosen , wirren Worten eine lange Geschichte von Spekulationen , die Thomas nicht verstand .
Er begriff nur , daß sein Vermögen so gut wie verloren sei .
" Wenn du für alle Mitleid übrig hast " , endete der Doktor mit einem hinterlistigen Ton in der Stimme , " so mußt du doch zunächst bei mir damit anfangen ! "
Thomas stand schwerfällig auf .
Er war bleich geworden .
Eine Flucht quälender , zwiespältiger Gedanken jagte durch sein Gehirn .
Es flirrte ihm vor den Augen .
Ich muß ruhig und kalt bleiben , sagte er zu sich , ich muß sehen , was noch zu retten ist .
Er raffte sich auf .
" Ich werde so nicht fortgehen .
Ich brauche das Geld . "
Der Vater verfiel in Weinerlichkeit .
" Freunde stehen dir also näher ? "
Darauf gab Thomas keine Antwort .
" Ich will wissen " , entgegnete er , Silbe für Silbe betonend , " wieviel Geld du aufzutreiben vermagst .
Alles weitere werde ich mir dann überlegen . "
Sein Gesicht zeigte eine unbeugsame Entschlossenheit .
Sein Ton klang rauh und fest .
Der starke , breitschultrige Mann schien eingeschüchtert .
" Ich kann gerade noch fünftausend Mark schaffen " , erwiderte er unsicher .
" Das ist alles ? "
Der Vater nickte nur .
Thomas trat an das Fenster und blickte auf die Straße mit den niedrigen Häusern , den roten Ziegeldächern , den grünen Fensterläden .
Er litt unter dieser Szene .
Wieder drehte er sich um .
Er sah , wie der Vater in Furcht fieberte .
" Wenn ich das Geld sofort bekommen kann , will ich auf alles weitere verzichten " , meinte er ruhig .
" Du kannst es " , antwortete der Doktor hastig , " du kannst es .
Ich habe gleich deinen Brief ... "
Er brach ab und ergriff Thomas bei der Hand .
" Junge " , sagte er bedrückt und drehte sich vorsichtig nach allen Seiten um .
" Junge " , flüsterte er , " wenn du wüßtest , wie es mir ... gegangen ist ... ich ... ich ... "
Und nun entrangen sich ihm ein paar stöhnende und gurgelnde Laute ...
Das war eine große Marter für Thomas .
Der Vater mochte es fühlen .
Er nahm sich zusammen und beide gingen in das Wohnzimmer .
Ein starkes , knochiges Mädchen , rot und gesund , trat ihnen entgegen .
Sie hatte eine unverkennbare Ähnlichkeit mit der Frau des Doktors .
Der nämliche sinnliche , breite Mund , das nämliche dichte , dunkle Haar und die tiefbraunen , begehrlichen Augen .
Sie starrte mit unverhohlener Neugier Thomas an .
Dem schien es , als ob der Vater auch vor seiner Tochter eine gewisse Scheu habe .
Die Frau kam wieder herein .
Mit einem raschen Blicke orientierte sie sich , daß alles im reinen war .
Sie dirigierte den Mann mit ihren Augen .
" Das ist deine Schwester " , brachte der Doktor mit mühsamem Lächeln hervor , indem er auf das Mädchen wies .
Die Frau ließ sich währenddessen breit auf das Sofa nieder und legte ihre Hände auf die Knie .
Und ohne sich im mindesten Zwang anzutun , stieß sie in einem herrischen , wegwerfenden Ton hervor : " Schöne Dummheiten hat er gemacht ... das ganze Geld ... na , reden wir nicht darüber ! "
Thomas wandte sich zur Tür .
Er hielt es hier nicht länger aus .
Die Luft hatte etwas Erdrückendes .
" Ich muß noch zu dem Prediger " , sagte er beklommen .
Niemand hielt ihn .
Das also war das Wiedersehen ! dachte er , als er im Freien war .
Er holte tief zum Atmen aus .
Es war ihm ein Bedürfnis , seine Brust zu weiten .
An den Wiesen schritt er entlang , die in voller Sommerpracht vor ihm lagen , bunte , tausend- und aber tausendfach gemusterte Teppiche im Lichte gebadet .
Und in der Sonne glitten Libellen an ihm vorbei , Bienen sogen süßen Honig aus den Blüten .
Es surrte in den Lüften , die Grasmücken zirpten , Falter flogen an ihm vorüber .
Und nun sah er , wie eine Feldlerche in die Höhe stieg mit freudigem Gesange .
Er trat in das Pfarrhaus .
Vor der Stube des Freundes blieb er stehen .
Er erinnerte sich an die Stunde , wo er zum erstenmal mit pochendem , laut schlagendem Herzen diesen Weg gegangen war .
Und mit jäher Geschwindigkeit tauchten all die Dinge auf , sich förmlich drängend und überstürzend , die sich zwischen ihm und dem Prediger begeben hatten .
Er klopfte zaghaft ...
Und jetzt standen sie sich gegenüber .
Sie hielten sich die Hände ; sie sprachen kein Wort ... alles in ihnen war Freude und Weh .
Auch an dem Prediger waren die zehn Jahre nicht spurlos vorübergegangen .
Die Schläfen waren grau geworden , aber das gütige Gesicht war das gleiche geblieben , milde , feierabendlich , ernst .
Er betrachtete Thomas mit einem forschenden Blick .
" Du bist es " , rief er dann bewegt , und auf seinem edlen Antlitz leuchtete ein reines Glück .
Er rang seine Empfindung nieder .
Und in herzlichem Tone fuhr er fort :
" Wenn du wüßtest , mein Junge , mein großer Junge , wie ich mich all die Zeit auf dies Wiedersehen gefreut habe !
Warte einen Augenblick ! "
Er ging hinaus , und bald folgte ihm wieder die Haushälterin mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern .
" Das muß gefeiert werden . "
Er schenkte den Wein ein , und Thomas war es , als ob die feingeschnittene Hand zitterte .
Sie sprachen von mancherlei .
Aber in alles klang leise der Name Tamara hinein .
" Ich will dir etwas zeigen " , sagte der Freund , öffnete den Sekretär und nahm ein feines Medaillonbild heraus , das die Tamara in ihrer blühenden Jugend darstellte .
Thomas hielt es lange in der Hand .
" Wenn ich nicht mehr bin , so kommt es wieder in deinen Besitz .
Bis dahin mußt du es mir lassen ! "
Er schritt mehrere Male durch das niedrige Gemach , die Arme auf dem Rücken verschränkt .
Dann blieb er vor Thomas stehen und legte die Hände auf seine Schultern , blickte ihm tief und fest in die Augen .
" Ich freue mich an dir von ganzem Herzen , dein Weg ist ein richtiger Weg ! "
Und indem sein Gesicht sich in viele Falten zog , fügte er hinzu :
" Jedes Wort , das du schreibst , kommt aus deinem Innersten .
Mit den anderen , die an deiner Seite kämpfen , kann ich nicht ganz mitgehen .
Ich höre da einen Ton , der mir in den Ohren gellt , einen so schmerzhaften Ton .
Ich fühle auch hier einen großen Willen - und dennoch habe ich Schmerzen dabei . - "
Er machte eine kleine Pause .
" Gib mir die Hand darauf , oder nein " , unterbrach er sich , " du brauchst mir deine Hand nicht zu geben .
Ich wünschte , daß du dich niemals drängen ließest ... von niemandem .
Daß du jetzt und immer stark in dir bliebest !
Es könnte " , sagte er langsam , " eine Zeit kommen , da du dich auch von diesen trennst .
Laß es dich nicht bekümmern , werde in deiner Einsamkeit nicht irre !
Die einsamen Wege eröffnen nicht selten weite Blicke . "
Er hielt inne , und mit einem rührenden , kindlichen Ausdruck , gleichsam um Entschuldigung bittend , schloß er dann :
" Sei mir ob meiner langen Rede nicht Gram ... man hat sich so eine Ewigkeit nicht gesehen ... man möchte alles sagen , was man auf dem Herzen hat . "
- Das war eine der heiligsten Stunden im Leben des Thomas Druck .
Ein großes , weites Glücksgefühl kam über ihn .
Es engte ihm die Kehle und trug ihn zugleich hoch empor .
Eine Stimme in ihm tönte :
Dieses ist mehr , als dein Tun verdient .
Er wandte sich ab und blickte aus dem niedrigen Fenster .
Was für ein Tag war auf die letzte Nacht gefolgt !
Alles lag so gut , so klar , so hell und schön vor ihm .
Sie setzten sich nieder , und der Prediger nahm zuweilen seine Hand wie die eines Kindes und streichelte sie .
" In diesen Jahren " , sagte Thomas mit unterdrückter Stimme , " ist soviel Leid und Kampf in mir gewesen ... und heute liegt das weit hinter mir , wo du so zu mir sprichst .
Nein , nein , ich werde nicht hochmütig , glaube es ... ! "
" Ich glaube es ! "
Und nun erzählte ihm Thomas von den Freunden , den Mitstreitern , von allem und jedem .
Er verstummte plötzlich , und seine Züge verdüsterten sich .
" Es gibt manches , was ich dir heute nicht sagen möchte , was an mir gefressen hat ... und Schuld in mir trug ... ich möchte mir den Tag nicht trüben . "
" Du sollst es nicht ! "
Damit nahm der Prediger sein Glas in die Höhe und stieß mit Thomas an .
Die Gläser klangen gut und rein zusammen .
Der Freund mußte ihm nun berichten .
Und immer wieder und wieder vernahm er von der großen Gedächtnisfeier , die der stille Mensch neben ihm für die Tamara gehalten .
Wie er Jahre hindurch an dem großen und kargen Glück gezehrt hatte , das ein gütiges Schicksal in sein Leben getragen hatte .
Sie saßen zusammen , und die Stunden rauschten an ihnen vorüber .
Sie fuhren auf einem weiten Wasser , er und der Freund , in Frieden und Schönheit .
Der Kahn glitt leise dahin , sie sahen die unendliche , unendliche , unergründliche Tiefe , und sie blickten in den Himmel , der sich über ihnen wölbte mit silbernen schweren , gebirgigen Wolken ...
Es dunkelte , als sie sich wortlos trennten ...
Wohin jetzt ... ?
Er sann nicht nach .
Und auf einmal war er wieder in dem Garten an dem Grabhügel der Tamara .
Aus der Erde stiegen Dämpfe empor ... auf den Gräsern lag Abendtau ...
Du ... du ... du ... flüsterte er vor sich hin - und erschauerte .
Dann richtete er sich kerzengerade auf und begab sich in das Innere des Hauses .
Die Frauen sahen ihn kalt und feindlich an , er merkte es nicht .
Um die elfte Stunde verließ er wieder das Haus .
Er wollte noch mit dem Nachtzug heim .
Die Trennung von dem Vater war kurz , aber in dem Händedruck fanden sie sich diesmal .
Er leidet , er leidet , sagte Thomas zu sich , und es war ihm , als ob er ihn nun ganz begriffe .
Durch die schwarze Nacht , die schwere Reisetasche wieder in der Rechten , eilte er zum Bahnhof .
Er ging einen anderen Weg als den , welchen er gekommen war .
Es funkelte in der Finsternis .
Glühwürmchen glitten langsam durch die Luft auf ihn zu , erloschen im Augenblick , erstrahlten in ihrer smaragdenen Pracht von neuem , flogen in die Höhe und senkten sich wie ein Sternenregen auf das dunkle Blattgewühl der Bäume nieder , wo sie nun glitzerten und leuchteten .
Und dann sah er sie plötzlich zahllos in einer Niederung .
Hier führten sie ein verliebtes Schwärmen , einen süßen Reigen auf .
Ihre Liebe erhellte die Nacht .
Dann wieder rückten sie ganz nah und dicht in Pärchen aufeinander und betupften die Gräser wie mit schillerndem Edelgestein .
Und von neuem begannen sie ihren Reigen und ihr Schwärmen .
Und nun tauchten sie unter und verschwanden ...
Und alles duftete um ihn ... Überall ist Liebe und Schönheit , dachte er und konnte sich von diesem Schauspiel nicht losreißen .
Endlich schritt er weiter .
Weißlich stieg jetzt der Nebel empor .
Lange Pappeln ragten gespenstisch groß in die Höhe .
Durch den Nebel blickten wunderlich die Weiden , wie mit Schleiern verhangen .
An unendlichen Obstbaumreihen schritt er vorbei .
Eine heilige Stille um ihn ...
Und plötzlich war er ganz von Erddämpfen eingehüllt ...
Musik klang zu ihm ; dünn und fein ... aber er hörte sie deutlich ... jeden Ton hörte er .
Die Landstraße hatte ein Ende .
Die Lichter des Bahnhofs blinkten ihm entgegen , menschliches Gewimmel und menschliche Stimmen drangen zu ihm .
Er stand wieder auf dem Perron , saß wieder in dem Kupee , beugte sich aus dem Fenster , betrachtete alles um sich aufmerksam und ernst , als wollte er es sich fest in das Gedächtnis prägen , bis der kurze Pfiff der Lokomotive erschallte und der Zug sich in Bewegung setzte .
Und nun ging es wieder dahin , wo der Kampf und die geheimnisvolle Zukunft vor ihm lagen. XVIII .
" Ist die Ingolf da ? "
Das Hausmädchen starrte die Fragende verdutzt an .
" Fräulein Ingolf " , verbesserte sich diese rasch .
" Treten Sie bitte ein ! "
Die Josefa hatte ein helles Gewand an , aus dünnem , gelbem Stoff , der wie japanische Seide glänzte .
Sie hatte einen schwarzseidenen Schal um sich geschlungen , der bis zu den Knien reichte .
Oben war das Kleid von Einsätzen durchbrochen , so daß ihre feine , zarte Haut durchschimmerte .
Sie trug einen breitkrempigen , schutenartigen Hut , der mit Bändern befestigt war , und ganz weiße Schuhe , als ob sie zum Balle ginge .
Auf der Straße hatten ihr die Leute nachgeblickt , ohne daß sie es gemerkt hatte .
In der Tür blieb sie stehen und stützte sich auf ihren schlanken Sonnenschirm .
Auf die Ingolf wirkte sie zuerst wie eine liebliche Erscheinung .
Als sie aber in die weit aufgerissenen , starren Augen des Mädchens sah , schrak sie zusammen .
Sie bot ihr schweigend einen Platz an und setzte sich ihr gegenüber .
Die Gerving nahm langsam ihren Hut ab , legte ihren Schirm beiseite , zog ein Taschentüchelchen hervor und trocknete sich das erhitzte Gesicht ab .
Dann rückte sie ihren Stuhl dicht an den der Charlotte Ingolf .
Und indem sie sich in dem Zimmer prüfend umsah , als wollte sie jeden Gegenstand taxieren , sagte sie :
" Ich will wissen , warum Sie ihn mir gestohlen haben . "
Ganz langsam mit weißen Lippen stieß sie das hervor .
Und indem sie sich wieder umsah , fügte sie bitter und hämisch hinzu :
" Sie haben ja alles , sind reich , studiert , was wollen Sie eigentlich noch mehr ? "
Die Ingolf rührte sich nicht .
Sie zuckte bei jedem Worte wie unter Rutenschlägen zusammen .
" Glauben Sie denn , daß ich mir das gefallen lasse ? " fragte die Gerving von neuem und lächelte sonderbar dabei .
Die Ingolf rührte sich nicht .
" Sie meinen wohl , ich bin so eine , die man einfach beiseite schieben kann ? " und nun schlug sie ein krampfhaftes , gedämpftes Gelächter an .
" Sie irren , mein Fräulein " - dieses " mein Fräulein " sprach sie ganz geziert - " ich lasse mich nicht wegwerfen , eher ... Wissen Sie eigentlich , in welchen Beziehungen ich zu ihm stehe ? "
" Nun gut , Sie wissen es und haben ihn mir doch ... "
Die Ingolf erhob sich mit einem Male , alles in ihr zitterte und bebte .
" Ich wollte ja gar nicht " , rief sie bedrückt .
" Ich ... ich ... " und leise in einem bettelnden , entschuldigenden Ton setzte sie hinzu : " Sie müssen es doch selbst wissen , daß man gar keinen Willen bei ihm hat ... "
Die Augen der Gerving schillerten .
Sie wußte es .
Und dennoch tat es ihr in dieser Stunde wohl , ihre Erfahrungen durch die andere bestätigt zu finden .
Aber das ging sofort vorüber .
" Dieser Mensch " , sagte sie finster , " hat mich zu sich gezwungen ... ich gehöre ihm und er mir . "
Und in leidenschaftlichem Tone :
" Ich dulde es nicht , nein , ich dulde es nicht ! "
Auch sie stand auf und ging mehrere Male durch das Zimmer .
Die Studentin verfolgte gespannt jede ihrer Bewegungen .
" Was ist denn da zu tun ? " frage sie plötzlich hilflos und unterwürfig .
" Was da zu tun ist ? "
Die Gerving blieb stehen , ihre Züge hatten etwas von Zorn und Schmerz Entstelltes .
Sie sah lauernd in das kluge Gesicht der anderen , deren Stirn durch Arbeit und selbständiges Denken etwas Bedeutendes bekommen hatte .
" Ich will Ihnen etwas verraten , Fräulein " , zischte sie hervor , " Sie müssen fort ...
Sie müssen fort ! "
Die Ingolf schüttelte leise den Kopf .
" Das kann ich nicht , ich kann es einfach nicht ! "
" Sie wollen also nicht ? "
" Ich kann nicht " , wiederholte sie wieder , und in dem Ton ihrer Stimme lag Weh .
Sie sahen sich lange und schweigend an .
Jede hatte ihre eigenen , unentwirrbaren Gedanken - aber jede hatte den nämlichen Schmerz .
Nun änderte die Josefa ihre Taktik .
" Wollen Sie etwas wissen ? " fragte sie höhnisch .
Und ohne ihre Antwort abzuwarten :
" Es dauert nicht mehr lange , und dann ist er Ihrer ebenfalls satt . "
Charlotte Ingolf sah sie mit trüben Augen an und erwiderte nur :
" Ich weiß es ! "
" Sie wissen es ?
Nun gut !
Dann wissen Sie auch , daß er keine Rücksicht kennt ... er liebt nur sich - morgen schon kann er eine andere haben . "
Und von Haß erfüllt , setzte sie hinzu : " Das ist ein sauberer Patron , das ist ein niederträchtiger , gemeiner Mensch . "
" Nein " , entgegnete die Ingolf .
" Sie glauben es selbst nicht .
Er ist nur unglücklich . "
Josefa Maß sie mit einem verächtlichen , geringschätzigen Blick .
" Unglücklich ? - der macht unglücklich , meinen Sie .
Der ist gemein , nichts weiter als gemein , sage ich Ihnen ... der schont nichts auf der Welt .
Der hat für andere nichts übrig ... "
Und plötzlich trat ihr der Schaum auf die Lippen .
Sie rang nach Atem .
Dann ballte sie die Hände und trat so dicht auf die Ingolf zu , daß diese Furcht bekam .
" Der könnte " , flüsterte sie , " seine Mutter , sein Kind verrecken sehen und würde sich nicht rühren , erkläre ich Ihnen .
Das ist ein Schuft , ein miserabler Schuft !
... Wenn man Stolz in sich hätte , nur etwas Stolz " , sagte sie mehr für sich , " so müßte man ihm einen Fußtritt geben , ihm ins Gesicht spucken und seiner Wege ziehen ... aber das ist es ja gerade ... man hat keinen Stolz ... "
Die Ingolf schüttelte nur den Kopf .
" Wenn Sie sich darüber klar sind " , begann nach einer Weile die Gerving hartnäckig von neuem , " daß er Sie ebenfalls " - sie machte mit der Hand eine entsprechende Bewegung - " warum gehen Sie denn nicht freiwillig ?
Sie sehen doch , daß Sie zwischen mir und ihm stehen ...
Sie sehen es doch deutlich ! "
" Ich sehe das alles " , erwiderte sie .
Und nach einer Pause :
" Er braucht mich .
Ich fühle es .
Ich halte ihn " , sagte sie kaum hörbar , " nicht wie Sie für einen Verbrecher , ich halte ihn für einen unglücklichen Menschen ... und außerdem ... ich liebe ihn ja ... "
" Und was werden Sie tun " , forschte die Josefa weiter , " wenn er Ihnen den Tritt gegeben haben wird ? "
" Was ich tun werde ?
... Ich glaube , ich werde arbeiten ! "
" Sie haben eine Arbeit , die Ihnen Freude macht ? "
" Ja ! "
" Meine Beschäftigung kennen Sie ? " fragte sie vergrämt , während sie ihre Mundwinkel tief herabzog ...
Charlotte Ingolf senkte den Kopf und nickte .
Langsam setzte sich Josefa den Hut auf .
Sie brauchte verhältnismäßig viel Zeit , um die Bänder zu einer Schleife zu knüpfen .
Als sie damit fertig war , nahm sie ihren Sonnenschirm .
Sie ging aber noch nicht aus dem Zimmer , sondern betrachtete unaufhörlich ihre weißen Schuhe .
Sie überlegte und grübelte .
Sie schien die andere vergessen zu haben , die in peinvollem Schweigen neben ihr stand .
Erst nach geraumer Zeit raffte sie sich auf und sah die Ingolf fest und durchdringend an .
" Ich wünsche Ihnen viel Glück " , brachte sie hervor .
Wieder hielt sie inne , wandte sich , rückwärts gehend , zur Tür , und während sie diese aufdrückte , schrie sie in einem Tone , der drohend und furchtbar ernst klang , so daß er der Ingolf ins Mark schnitt :
" Wenn es Ihnen nur gut bekommt ! "
Hierauf verschwand sie eiligst .
Die Ingolf stand wie angewurzelt da .
Sie horchte auf die verhallenden Schritte .
Sie hörte , wie ihre Pulse schlugen .
Sie schlich sich zum Sofa , drückte ihr Gesicht an die Lehne und wimmerte in sich hinein .
XIX. Unten im Hausflur verweilte die Josefa .
Sie nahm aus ihrer Tasche ein kleines Fläschchen , das mit Vitriol gefüllt war , und betrachtete die grüne Flüssigkeit lange .
Warum habe ich ihr das nicht ins Gesicht gegossen ?
Und sie empfand bei diesem Gedanken nicht das leiseste Grauen .
Warum tat ich es eigentlich nicht ?
Sie spitzte auf eigentümliche Art den Mund und rieb die Zunge an den Zähnen , als wollte sie sich einen bitteren Geschmack vertreiben .
Sie stellte sich das vom Vitriol zerfressene Gesicht der Ingolf vor und malte sich aus , was der Mechaniker dazu sagen würde .
" Oh ... Oh ... " rief sie plötzlich , steckte die Flasche ein und eilte aus dem Torweg .
Wieder gafften ihr die Menschen auf der Straße nach .
Ihr Gang hatte etwas Anmutiges , Schwebendes , leicht Wippendes .
Ein Herr eilte ihr nach und wollte mit ihr anbandeln .
" Ah , guten Tag , Fräulein " , begann er , " wir kennen uns doch ?
Darf ich Sie ein Stückchen begleiten ? "
Sie blickte ihn so abwesend an , daß er mit einem fatalen Lächeln sich davonmachte .
" Äh ! " stieß sie hervor und spürte wieder den bitteren Geschmack im Munde .
Auf einmal sah sie Studiosus Bechert mit der Maria Werft auf sich zukommen .
Der Studiosus grinste verlegen , das dürftige Gesicht der Werft verfärbte sich .
Sie nickte kaum und eilte an ihnen vorbei .
Und in ganz ungerechtfertigtem Zorn sagte sie vor sich hin :
" So eine dumme Gans ... sich mit dem Duckmäuser einzulassen ...
Wer weiß , was sie ihm alles ausplaudert ... "
Sie bekam einen Haß auf das Mädchen .
Sie drehte sich um und nahm wahr , daß der Studiosus ihr nachsah .
" Pfui Teufel ! " -
sie spuckte aus .
Aber gleich darauf bekamen ihre Gedanken wieder die alte Richtung .
Sie zog die Uhr hervor und beschleunigte ihre Schritte .
Was hat er eigentlich an der Ingolf ?
Hübsch ist sie doch nicht ?
Sie suchte nun sich selbst von oben bis unten anzuschauen .
" Was hat er nur an ihr ?
Gehirn hat sie " , murmelte sie vor sich hin .
" Und er hat ja auch nur Gehirn ... nur Gehirn ... Gehirn ... "
Und in das Wort legte sie ihren ganzen Kummer , ihre ganze Wut , ihren ganzen Gram .
An der Chaussee- und Linienstraßenecke machte sie Halt .
Hier mußte er vorbeikommen .
Jede Sekunde konnte er da sein , es war bereits Mittagszeit .
Sie bückte sich und stäubte mit dem Taschentuche ihre weißen Schuhe ein wenig ab .
Jemand beobachtete sie in dieser Stellung und sah ihren edel geformten , weißen Nacken und ihr tiefschwarzes Haar .
" Wünschen Sie was von mir ? " fragte sie grob , als sie sich wieder aufgerichtet hatte .
" Sie sind ein angenehmer Schneck " , sagte der Mensch und ging weiter .
Über den Ausdruck mußte sie trotz ihrer Bedrücktheit unwillkürlich lachen .
Ah , da kam er ...
Sie stellte sich in Positur .
Er bemerkte sie nicht und wollte an ihr vorbei .
" Pst ! "
Er wandte sich nicht um .
Da machte sie noch einmal und etwas stärker " Pst ! "
Und diesmal mit Erfolg .
Er schien doch den Laut an ihr zu kennen .
Er kehrte um , ging auf sie zu , kniff die Augen zusammen und beguckte sie spöttisch .
" Du gehst wohl auf_dem Maskenball ? " fragte er statt jeder Begrüßung .
Was er für Freude hat , mich zu kränken , dachte sie .
Laut aber sagte sie mit einem spitzen Ton : " Ja , ich gehe auf_dem Maskenball ! "
" Na also !
Da wünsche ich viel Amüsement ! "
" Gott mag es geben " , antwortete sie feierlich .
" 'n schönes Kostüm - pikfein !
Von wem hast du denn das ?
Ist er so freigebig ? "
In dieser Minute wußte sie ganz bestimmt , daß ihr Gesicht weiß und fleckig , fleckig und weiß wurde .
Sie hätte am liebsten ihre langen Nägel in seinen Hals eingegraben , um ihn zu würgen .
Und sie wunderte sich über sich selbst , wie kaltblütig sie blieb , und daß sie Gewalt über sich hatte .
" Dies Kostüm " , entgegnete sie geziert , indem sie ihre Stimme emporschraubte , " habe ich mir eigens zum Maskenball gespart , Groschen für Groschen . "
Und mit einem ihm fremden Ausdruck fügte sie hinzu : " Ich will nämlich mit dir tanzen , wir beide müssen auf den Maskenball ! "
Und auf einmal lachte sie hell und silbern auf :
" Du gehst als der milde Gärtner mit der Gießkanne in den Händen ... Du bist ja ein so milder Gärtner ! "
Und herausfordernd und schwärmerisch zugleich blickte sie ihn dabei an .
Alles in ihr war aufgerührt .
Sie schien darauf abzuzielen , ihn zu reizen .
Sie vergaß alles , vergaß die Straße , die neugierigen Menschen , den Lärm der Lastwagen und Fuhrwerke .
" Du bist nicht bei Sinnen ! "
" Nein , ich bin nicht bei Sinnen " , entgegnete sie ganz weinerlich und änderte plötzlich Ton und Haltung .
" Möchtest du nicht 'n bißchen schneller gehen ? "
Und sie demütig :
" Ich werde schneller gehen ! "
" Du bist wohl vom Teufel ? "
" Ja ! ... vom lieben Teufel ! "
Sie ist wirklich verrückt , total verrückt , schloß der Mechaniker und beschleunigte das Tempo .
Er sprach kein Wort mehr .
Die Josefa sang leise eine kaum verständliche Melodie .
Es hörte sich an wie :
" Maikäfer , fliege , dein Vater ist im Kriege , deine Mutter ist im Pommerland , Pommerland ist abgebrannt . "
Jetzt war es Fründel klar : das Weibsbild spielte ihm eine kleine , niederträchtige Komödie vor .
Sie zog sozusagen eine neue Nummer auf .
Sie gingen schweigend die Treppen zu seiner Kammer hinauf .
Oben fuhr er sie an :
" Was willst du eigentlich ? "
" Was ich will ? " sie lachte hell auf , "dich ... dich ! "
Ihre Hartnäckigkeit reizte ihn .
" Mich hat niemand " , antwortete er überlaut .
" Ich allein habe mich , verstehst du ? "
" Und was ist das mit der Ingolf ? "
" Das geht dich gar nichts an !
Du scheinst dir einzubilden , ich sei dein Hund , den du an der Leine führst ! "
Sie senkte die Augen .
" Der Hund bin ich ... ich ... ich ! "
Dann fragte sie von neuem : " Wo hast du denn die ganzen Tage gesteckt ?
Hast du daran gedacht , wie mir zumute war , wie es in mir aussieht ? "
" Nein , daran habe ich nie gedacht ! "
Obwohl sie sich unter seinen Worten wand und krümmte , sah sie ihn nur bange und traurig an .
Sie suchte ihn mit ihren stummen Blicken festzuhalten , als wollte sie in sein Inneres kriechen und ganz von ihm Besitz nehmen .
Er wurde ärgerlich .
" Das muß nun ein Ende haben ! "
" Ja , es muß ein Ende haben ! "
Er horchte verwundert auf .
" Wollen wir uns also in Ruhe und Frieden trennen ? "
" In Ruhe und Frieden " , wiederholte sie , und es flirrte ihr vor den Augen .
Er traute ihr nicht .
" Ist das dein Ernst ? "
Da funkelte es in ihren Pupillen .
Sie breitete plötzlich die Arme aus , umschlang ihn und rief : " Nein , nein , niemals !
Du und ich ... ich und du . "
Er machte sich mit Gewalt von ihr los .
" Du bist ja geisteskrank " , sagte er zornbebend .
" Das sind ja Zwangsvorstellungen . "
" Zwangsvorstellungen ... ? " murmelte sie , als verstünde sie das Wort nicht .
Und nach einer Weile des Besinnens :
" Meine Liebe - soll - soll eine Zwangsvorstellung sein ? "
" Ja , nichts weiter als eine Zwangsvorstellung !
Eine krankhafte Einbildung " , fügte er erklärend hinzu .
" Wenn ich heute vertrocknet wäre - vertrocknet und du nicht die geringste Möglichkeit hättest , dies verdammte Besitzrecht auf mich geltend zu machen , so würdest du dich trösten , mein Kind !
Und morgen schon würdest du dich auf einen anderen stürzen ...
Der alte Weiberscherz ! "
Darauf schwieg sie .
Sie blickte ihn lange an , und zuletzt verzog sich ihr Gesicht zu einem Lächeln .
Sie lächelte - lächelte beständig wie verloren , während ihre Pupillen hin und her glitten .
Fremde und rätselhaft lächelte sie. XX .
" Über das Wesen der Freiheit im Gegensatz zum Staatssozialismus " lautete das Thema , über das Thomas Druck in Kellers Festsälen sprechen wollte .
Eine ungeheure Menschenmenge füllte das Lokal .
Thomas hatte in den letzten Zeiten überall Wanderversammlungen abgehalten .
Er war weiten Kreisen bekannt geworden .
Er verfügte über ein volles , tönendes Organ und sprach eindringlich und mit Bewegung .
Er stand kerzengerade da und mied alle Gesten .
Aber die Art seines Sprechens war tiefernst und milde .
Man lauschte ihm .
Man hatte das Gefühl , hier stand kein fanatischer Parteimann , hier stand einer , der nach Wahrheit und Erkenntnis rang .
Männer und Frauen hatten sich eingefunden .
Die Brose verteilte , bevor die Versammlung eröffnet wurde , unauffällig mit anderen die eben erschienene Nummer des " Festsaals " .
Und nun wurde es ganz still .
Er sah einen Augenblick ruhig über die vielen Anwesenden , ehe er begann :
" Man hat Ihnen einen Glauben eingeimpft von dem großen Zukunftsstaate , und in Ihrer Armseligkeit und in Ihrem Elend haben Sie sich diesen Glauben aufreden lassen ...
Ihre Apostel haben Ihnen ein Bild ausgemalt , das Ihnen den Himmel auf die Erde trägt .
Man hat Sie damit trunken gemacht und Ihnen den Rest Ihres Denkens genommen ...
Es mag ja ein Vergnügen gewähren , sich mit Branntwein den Kopf zu benebeln , um über all ihren Jammer hinwegzukommen .
Aber schön ist das Erwachen nicht , das einem solchen Rausche folgt !
In einen ähnlichen Zustand haben Ihre Führer Sie versetzt ...
Was aber wollen die Herrschaften in Wahrheit ?!
Das Volk soll versklaven im Namen des Volkes ...
Man will Sie in dem neuen Staate wie Hunde an der Leine führen und jedes freie , selbständige Denken im Keime zerstören ...
Der jetzige Zustand bedeutet dagegen Freiheit !
.. .
Die Herren sagen : wer arbeitet , bekommt zu trinken und zu essen , so viel er nur mag .
Der Boden , die Maschinen , alles soll von nun an dem Volke gehören .
Die Herren haben das Netz gut gelegt .
Es gibt einen reichen Fange - und nun schnüren sie es zu , und das arme , verlorene Volk zappelt darin und schnappt nach Luft .
Denn , meine Herrschaften , nun kommt der Witz .
Sie werden gefüttert .
Man hat es Ihnen hoch und heilig versprochen - und man hält sein Wort .
Aber niemals stand das Futter in solchem Preise !
Es kostet nicht mehr und nicht weniger als Ihre Freiheit .
Die große Versklavung im Namen des Volkes beginnt .
Die neuen Herren haben hinter sich ein ungeheures Beamtenheer .
In ihren Händen ist die gesamte Organisation .
Sie machen die öffentliche Meinung .
Sie verfügen über die Presse .
Sie stellen einen Schrank mit unzähligen , kleinen Fächern auf , aber zu jedem Fache haben sie den Schlüssel .
Den sperren sie in dieses Loch , den anderen in jenes , und nun mag er in seinem Kasten nach Luft und Atem japsen .
Hinter jedem steht der Aufseher mit der Knute , Spion und Denunziant in einer Person : Sie werden gefüttert und zahlen als Entgelt Demut und knechtischen Gehorsam .
Wehe Ihnen , wenn Sie sich erheben und das Joch von sich schütteln wollen .
Die neuen Arbeitgeber haben alles so klug zentralisiert und organisiert , daß jeder Widerstand an Wahnsinn grenzen würde . "
Er hielt inne , dann fuhr er mit erhobener Stimme fort : " Im Namen des Volkes sollen unsere Kinder im zartesten Alter gebeugt und gebrochen werden - das nennen sie -
Volkserziehung !
Was für eine Clique von Demagogen und Stellenjägern muß dieses Staatssystem erzeugen !
Eine widerwärtige Jagd nach Macht , Amt und Würden beginnt .
Diese Streber werden in der Sucht , immer neue Befugnisse an sich zu raffen , die allgemeine Korruption zur Blüte bringen !
Das , meine Herrschaften , sind nur ein paar Züge aus dem neuen Staatsgebilde , das dies Gesindel dem Volke aufzwingen möchte .
Das ist nur ein schwaches Echo der Heilsrufe von der Freiheit , die Ihnen blüht !
Wir aber sind gegen den Staat in jeder Form .
Wir halten den Staat nach einem bekannten Worte für nichts anderes als eine organisierte Räuberbande , die sich in schamloser Weise zum Herrn des Volkes gemacht hat .
Es liegt in der Entwicklung des Staates , der auf Kosten der Schwachen entstanden ist , daß er die Privilegien der Starken schützt , daß er eine Sache macht mit denen , die gewalttätig und von Hause aus Wegelagerer sind .
Er spielt nur seine historisch festgelegte Rolle weiter , wenn er immer von neuem mit seiner Macht diejenigen niederwirft , knebelt - und wenn es sein muß - ans Kreuz schlägt , die an seinen Grundpfeilern rütteln .
Es ist seine Aufgabe , das Volk in Dummheit und Abhängigkeit zu erhalten .
Auch Ihr sozialistischer Staat sieht darin die infamste Ketzerei , daß der freidenkende Mensch jeden Zwang abschüttelt , daß er es dem Staat als Größenwahn auslegt , wenn er ihn erhöhen - oder - richten will . "
" Das ist alles Blödsinn ! " rief jemand .
" Schweigen ! " schrien andere .
" Ausreden lassen ! " ... Thomas blickte über die Versammlung , in der es unruhig zu werden begann .
Diese Menschen wollen mich ja gar nicht hören , dachte er einen Augenblick , und seine Züge verdüsterten sich .
Kann man das Volk überhaupt erziehen ?
... Oder ist das nur ein Narreneinfall ?
... " Ruhe !
... Ruhe !
... " tönte es von allen Seiten .
Tiefe Stille trat ein .
Ein Leidenszug ging über seine Miene .
Wer an das Volk nicht glaubt , hat es in selbiger Stunde schon verraten , murmelte er vor sich hin .
Tränen traten in seine Augen .
Ich - ich - glaube an das Volk !
" Weiter sprechen ! " ...
Er richtete sich hoch auf ...
Wo war er stehen geblieben ?
... Ah , er wußte schon .
Er warf den Kopf zurück , preßte die Arme fest an den Körper , und in einer plötzlichen Erinnerung an Herrn von Egidy rief er mit erhobener Stimme :
" Männer und Frauen , man konnte nichts Raffinierteres ersinnen als diesen Staatskommunismus mit seinem polizeilichen Arbeitszwang und seinem staatskommunistischen Pflichtgefühl , wenn man alles Unreine und Niedrige mit Andacht und Fleiß züchten und aus den Menschen herausholen wollte .
Ich zitiere hier die Kritik eines Denkers , eines blinden Sehers , der vor mehr als fünfundzwanzig Jahren mit beiden Fäusten in dies Wespennest griff .
Der ganze Schwarm stürzte in wildem Surren auf ihn los und suchte ihn niederzustechen .
Was sagte der Mann ?
Hören Sie :
Er nennt das Ideal dieses Staatsdespotismus das völlige Gegenstück einer freien Gesellschaft , die willkürliche Konfiszierung jeder individuellen Bewegung , die Zerfahrenheit loser Brigandage .
In diesem halt- und regellosen Getriebe gibt es seiner Ansicht nach nur Polizisten , Zensoren und Priester - in leiblicher und geistiger Hinsicht nur kommunistische Staatsknechte , oder , um den antiken Ausdruck zu gebrauchen , öffentliche Sklaven !
Wie die Herde dieses Kommunistenstalles in ihren einzelnen Stücken mit einander zu verkehren hätte , und wie über ihre Futterbezüge , Trogrationen , Schellen , Ketten , Hand- , Spann- und Zugdienste allerhöchst staatsspielerisch zu verfügen und Buch zu führen wäre , das ist ein Geheimnis , welches bis nach dem Jubeljahre verborgen bleibt .
Sie wissen ja , meine Herrschaften , daß Ihnen dieses Jubeljahr schon einige Male verheißen worden ist .
Zuletzt sollte es nach allerhöchstem Erlaße des Herrn Engels anno domini 1898 von statten gehen . "
Nach den letzten Sätzen entstand ein tobendes Geschrei .
" Maul halten !
... runter mit der Quasselstrippe !
... Schluß ! " drang es zu Thomas ' Ohren .
Ein muskulöser Mann mit schwarzem Knebelbart und fanatischen Augen stand plötzlich neben dem Sprecher .
Es war der Metallarbeiter Drewitz .
" Lassen Sie ihn ruhig ausreden ! " schrie er mit durchdringender Stimme in den Saal .
" Man ruhig ausreden lassen ! " wiederholte er kreischend .
" Das übrige find sich nachher ! "
Wieder wurde alles still .
Thomas stand jetzt unbeweglich da .
Sein Gesicht hatte sich ein wenig gerötet , aber sein Auge blickte klar , fest und ruhig über die Menge .
Mit einem bitteren Lächeln sprach er weiter :
" Wenn man einem Kinde Naschereien wegnimmt , so schreit es , und sagt man ihm : Du wirst dir den Magen verderben , so schreit es noch lauter .
Es begreift diese Wahrheit nicht .
Solch einem Kinde gleicht das Volk , es will nicht die Wahrheit hören .
Es haßt zeitweilig diejenigen , die ihm mit so bitterem Kraut ins Gehege kommen .
Nun denn , das kümmert uns nicht !
Wir nehmen den Haß ruhig auf uns !
Vor fünfundzwanzig Jahren haben Ihre Führer und Ihre Presse den Mann , dessen Erkenntnisse Sie soeben gehört , einfach niedergetobt und niedergebrüllt .
In dem Lärm , den dieser Klüngel von sich gab , ging seine Stimme unter .
Aber seine Worte gingen nicht unter .
Sie leben , weil sie wahr sind ! "
" Von wem fabeln Sie denn eigentlich ? " schrie einer .
" Wer ist es denn ?
Man endlich raus mit der Sprache ! "
. . .
" Wer es ist ? " entgegnete Thomas , und wieder lächelte er :
" Der Mann heißt :
Eugen Dühring . "
" So 'n fauler Kopp ! " schallte es ihm entgegen .
Thomas hörte diese Worte nicht .
Er vergaß , wo er war .
Unzählige Erinnerungsbilder stürmten auf ihn ein .
Er stand mit trotzig geschlossenen Lippen vor seinem Lehrer ...
Er sah mit blitzenden , feindseligen Augen seinen Vater an ... er legte schluchzend den Kopf in den Schoß der Tamara ...
Mit einer Geschwindigkeit , die ihn ängstete , huschten die Gestalten der Vergangenheit an ihm vorüber .
Um Gottes Willen sagte er zu sich , ich verliere meinen Faden .
Er wollte weitersprechen ...
Aber da auf einmal tauchte der Garten vor ihm auf , den die Finsternis in ein dunkles gespensterhaftes Gewand gehüllt hatte .
Nachtvögel rumorten ...
Die Bettina drückte sich frierend und zitternd an ihn ... und aus dem Hause gellte die Stimme der Frau , die den Kindern Furcht und Schrecken einflößte .
" Ausreden lassen , ausreden lassen ! " schrie jetzt von neuem der Metallarbeiter .
Diese Stimme riß ihn aus seinen Träumen .
Es kam ihm vor , als ob er für eine Ewigkeit verstummt gewesen wäre , obwohl sein Schweigen nur wenige Sekunden gewährt hatte .
" Ja , lassen Sie mich ausreden ! " rief auch er .
Und wieder brachte sein leuchtendes Auge die Tobenden zum Schweigen .
" Sie werden fragen , was wir wollen !
Wir wollen eine freie Gesellschaft , eine freie Gemeinschaft .
Wir wollen die Freiheit des einzelnen !
Für uns ist das Wort Freiheit nicht Schall und nicht Rauch !
Für uns stellt es den tiefsten und innersten Kern unserer Welt- und Lebensanschauung dar .
Für uns ist der des Menschen Sohn , der seines Menschtums sich bewußt geworden ist und jeden Zwang abgeschüttelt hat .
Die Erziehung des Menschengeschlechts bedeutet für uns die Erziehung zur Freiheit , zur freien Persönlichkeit .
Wir wollen keine geduckten Rücken , keinen Zwang von links und rechts , kein erbärmliches und armseliges Prügeln um einen Bissen Brotes !
Des Menschen Sohn soll sich umdenken , umkneten , umformen .
Abschütteln soll er , die ihn erdkriechend machen wollen - zu stumpfen Werkzeugen brutaler Gewalten !
Gerade das scheidet ihn von denen , die sich dunklem Zwange fügen .
Er selbst formt und gestaltet sein Leben .
Fürchte , Ängste , armselige Zweifel wirft er von sich !
Wir wollen Sie wieder aufwecken zur Freiheit und zur Güte !
Denn , ihr armen Menschen , laßt es euch sagen : Erst das höchstentwickelte Freiheitsgefühl des einzelnen wird und kann zum höchsten Gemeinsamkeits- und Gerechtigkeitsempfinden führen !
Von der Freiheit des einzelnen führt über den großen Lebensstrom die Brücke zur Gemeinsamkeit !
Wer frei , schlicht , gerade und einfach denkt , der muß mit innerer Notwendigkeit seinem Bruder Ehrfurcht entgegenbringen .
Und daraus entspringt die beglückende , gemeinsame Arbeit .
Sie haben gehört von einem Manne namens Faust .
Zu dem kommt der Teufel und verspricht ihm alle Herrlichkeiten der Welt .
Als Lohn verlangt er , daß Faust ihm seine Seele verschreibt .
Es ist eine uralte Geschichte !
Auch zu Christus kommt der Satan und versucht ihn ...
In genau der gleichen Lage ist das Volk ; denn die Freiheit ist die Seele des Volkes .
Man will sie ihm abschachern und bietet ihm als Preis nicht die Herrlichkeiten der Welt , sondern einen erbärmlichen Laib Brotes !
Mit Zirkus und Brot hat man schon im alten Rom das Volk geködert .
Was sind sie anderes als eine Zuchtrute für Sklaven , wenn es die Unabhängigkeit und Freiheit gilt ?! "
Er hielt eine Sekunde inne , dann erhob er seine Stimme , die jetzt einen brausenden , orgelartigen Klang bekam , und rief : " Der Gott , der Menschen schuf , der wollte keine Knechte !
Wir tragen auf einem großen Scheiterhaufen all die erbärmlichen Vorurteile , die den Menschen zur Knechtseligkeit verdammen .
Und auf diesem Scheiterhaufen soll der Wust und Unrat versunkener Jahrhunderte in Flammen aufgehen !
In dem Tiegel der Freiheit schmelzen wir die elende und abgegriffene Münze ein .
Wir setzen sie außer Kurs !
Wir werten und prägen sie um , nicht im Sinne einer Herren- , sondern einer Menschenmoral !
Denn für uns , meine Brüder und Schwestern , handelt es sich nicht um eine Futter- , sondern um eine Geistesfrage !
Uns ist um die Fütterung nicht bange in der Stunde , wo wir das heilige Fest von der Auferstehung des Geistes feiern ! "
Die letzten Worte hatte er ganz leise sprechen können .
Es war totenstill im Saale geworden .
Aller Blicke hingen an dem großen , blassen Menschen , dessen Augen weit geöffnet waren .
Sie hatten etwas Durchsichtiges und Visionäres .
Und in die tiefe Stille , die seine Worte schufen , mischte sich kein Murren und kein Beifall .
Mit zwieträchtigen Empfindungen hatten sie auf seine Worte gehorcht , die in ihre dunkle Unbewußtheit einen dürftigen Schimmer Lichtes , in ihre verkümmerten und zerrissenen Seelen mißtrauisches Hoffen trugen .
Obwohl sie ihm nicht mit dem Verstände folgen konnten , fühlten sie sich doch erleuchtet .
Sie begriffen auf einmal , daß das , was er den Staat nannte , ihr Verhängnis war , gegen das sie sich trotz ihrer zerbrochenen Körper mit ihrem letzten Lebensdrang gewehrt hatten .
Allen ihren unklaren Vorstellungen und mystischen Empfindungen hatte er durch den Begriff des Staates , den er ihnen zu etwas Greifbarem , etwas Körperlichem gemacht hatte plötzlich eine Grundlage geschaffen .
Das also war es , wogegen sie dumpf und ohnmächtig angekämpft hatten .
Dieser Koloß verbrauchte ohne Erbarmen sie , ihre Kinder und Kindeskinder .
Auf einmal war es ihnen aufgegangen : der Staat glich einer ungeheuren Maschine , die unersättlich war und mit ihren Kräften gespeist wurde .
Sie kam mit dumpfem Getöse , zischend , prustend und schnaubend auf sie zu , die blaß und verkümmert dastanden , in vergrämtem Zorn , zitternd und mit gekrümmten , finsteren Brauen , die sich nicht von der Stelle rühren durften , obwohl sie wußten , daß dies Ungetüm ohne Mitleiden über sie hinweggehen , sie mit entsetzlicher Leichtigkeit zerstampfen würde .
Sie glaubten den Sinn seiner Worte erfaßt zu haben .
An allen ihren Leiden war der Staat schuldig , dessen Gewalt ohnegleichen war , der immer stärker , kräftiger , dräuender wurde und sie in seinen Krallen hielt .
Er war ein Übel für die Ewigkeit .
Es ging über ihre Kraft .
Ihr Zorn , der sich gegen den einzelnen richtete , war jämmerlich .
Er war das große Hemmnis , über das sie hinweg mußten , wenn es auch für sie Licht , Luft und Wärme geben sollte .
Hoch aufgerichtet verließ Thomas die Tribüne , obwohl der Kopf ihm schwer und benommen war .
Einen Moment fürchtete er umzufallen .
Dieser Gedanke peinigte ihn dermaßen , daß unvermittelt ein Schüttelfrost ihn überfiel .
Erst das Geräusch der aufeinander klappernden Zähne gab ihm seine Willenskraft zurück .
Ich will nicht , sagte er zu sich und ballte die Hände .
Ein dürftiges Lächeln erhellte dabei flüchtig seine Züge .
" War ja ganz nett " , meinte Fründel zu Heinsius , " aber viel zu phantastisch .
Der Mensch schwärmt ! "
Heinsius schüttelte den Kopf , und Lissauer , der hinzugetreten , meinte mit einem festen Blick auf Fründel :
" Es war nicht nur ganz nett , sondern es war klar , tief und schön ! "
Aber die Brose blickte starr und finster vor sich hin .
Niemand sollte sehen , was in ihr vorging .
In einem anderen Winkel stand Maria Werft und schluchzte .
" Ihr Gewinsel ist albern " , sagte Kandidat Bechert .
Sie sah mit verweinten Augen zu ihm auf .
" Wissen Sie , wo er endet ? "
Er weidete sich eine kleine Weile an ihrer Furcht .
" Im Zuchthaus oder in der Gosse " , stieß er heiser hervor .
Ein Arbeiter meinte zu einem anderen :
" Der Mensch hat was , Aujust , der is nicht von Pappe , det laß ich mir nicht nehmen ! "
" Mache dir man nicht dämlich ! " antwortete der andere .
" Faule Fische , nichts weiter als faule Fische !
Wenn de dir fragst , was er eijentlich geredet hat , denn stehst da wie Nulpe !
Ich kenne die Brüder , die dreschen leeres Stroh ... Stroh , hehrste ! "
" Aujust , det jlob ich dir nicht !
Det mit die Freiheit hat was ! "
" Sei stille , jetzt redet Drewitz .
Drewitz läßt sich kein Honig ums Maul schmieren . "
" Jenossen und Jenossinnen !
Lassen Sie sich nicht durch das , was Sie eben gehört haben , flau machen .
Das gibt_es bei uns nicht .
Da könnte jeder kommen und allgemeine Redensarten von Freiheit machen .
Für so_ein Qualm sind wir nicht zu haben .
Wir halten uns an Tatsachen , Tatsachen , Jenossen !
Und Tatsache ist , daß wir uns endlich zu einer Partei zusammengefunden haben , die heute schon ausschlaggebend ist !
Man muß mit uns rechnen .
Das Proletariat ist ein Faktor geworden , der ausschlaggebend ist !
Es ist der reine Salm , daß wir uns von unseren Führern leimen lassen !
Die Zeiten sind vorüber !
Wir sind helle geworden !
Und daran denkt auch niemand !
Wir machen keine Redensarten , wir stützen uns aufs Wissen .
Jeder gebildete Arbeiter weiß heute , was die materialistische Geschichtsauffassung bewiesen hat .
Es ist kein purer Zufall , es ist ein Gesetz , daß die bürgerliche Gesellschaft sich in die sozialistische umwandeln muß .
Aus der kapitalistischen Produktionsweise wird die gesellschaftliche .
Wieso ?
Das hat Marx klar bewiesen !
Wir werden ausgeraubt und ausgepowert , bis der Karren festsitzt !
Schließlich gibt es nur noch ein paar Riesenausbeuter und lauter Proletarier .
Das ist das Gesetz von der kapitalistischen Produktionsweise !
Dann aber ist auch das Exempel fertig , Jenossen , und die neue Rechnung beginnt !
Dann kommen wir an die Reihe !
Erst wenn wir ganz im Dreck sind , hat die Geschichte ein Ende !
Nun setzen wir die an die Luft , die uns ausgeräubert und ausgeplündert haben !
Das , Jenossen , ist der wissenschaftliche Sozialismus !
Das ist das Ende vom Proletariat !
Es gehört zuletzt alles der Gesellschaft von Rechts wegen !
Bis dahin müssen wir aufs äußerste kämpfen , alle wie ein Mann !
Wir müssen uns mit unserem Elend abfinden !
Wir müssen abwarten , bis die anderen an ihrem eigenen Fett zugrunde gehen !
Denn dafür gibt es kein Marienbad und keine Entfettungskur , det ist dann Essig , Jenossen !
Alles andere ist Dunst , ist Quark , ist Blech !
Pures Blech !
Der geehrte Vorredner ist , wenn ich ihn recht verstanden habe , auch gegen den Parlamentarismus .
Er hat es nicht direkt gesagt , aber es war der Sinn seiner Worte !
Jenossen , wir brauchen die politische Macht , darüber ist heute kein Wort mehr zu verlieren !
Das ist klar wie Kloßbrühe !
Wir brauchen die politische Macht , damit wir die Gesetze machen , die uns passen !
Jenossen , ich sage ganz aufrichtig , ich halte den Vorredner für 'n anständigen Menschen .
Das ist er , daran ist Jahr nicht zu tippen !
Aber , meine Herrschaften , es kann einer 'n anständiger Mensch und doch 'n schlechter Musikant sein !
Von Politik versteht der Mann nichts !
Wissen Sie , wie mir während der ganzen Rede zumute war ?
... Ich wer_es Ihnen sagen :
Wie wenn mein Junge mir zu Hause die Ohren volldudelt mit das schöne Lied :
Freiheit die ich meine , die mein Herz erfüllt .
Die ganze Rede war 'n einziger Choral !
Von der Freiheit werden wir nicht satt !
Damit locken Se heute keinen Sperling mehr vom Dach .
Wir wollen endlich Mal was Warmes in_den Magen kriegen , 'n richtige , warme Mahlzeit , so ist es !
Von der Auferstehung des Geistes - Jenossen , det sind Redensarten !
'n Schluck auf 'n hohlen Zahn ist mir da noch lieber !
Wir wollen die Auferstehung des Fleisches !
Mit 'n Jenseits und ähnlichen Scherzen kann man jetzt zu den Zulukaffern gehen !
Bei uns zieht das nicht mehr !
Das Proletariat läßt sich nicht mehr mit Redensarten füttern .
Und Redensarten , nichts weiter als Redensarten hat der Vorredner gemacht !
Praktische Vorschläge - nicht die Bohne !
Bange machen gilt nicht !
Wir sind keine Kinder mehr , die sich gruseln .
Wir sind ziel- und klassenbewußte Arbeiter !
Wir lassen uns nicht verwirren und durch noch so schöne Reden aus dem Text bringen .
Das wäre eine saubere Geschichte .
Und darum sage ich : Hoch die Sozialdemokratie , hoch die zielbewußte Arbeiterpartei ! "
Alles johlte und brüllte Beifall .
Der Metallarbeiter hatte eine Art zu sprechen , die auf die Menge wirkte .
Er hantierte bei besonders kräftigen Sätzen mit Händen und Fäusten .
Er stieß die Worte scharf akzentuiert hervor .
Er hatte ein Organ , das bis in den äußersten Winkel verständlich war .
Seine derbe , volkstümliche Ausdrucksweise schlug ein .
Die kühle und überlegene Methode , mit der er die Schlagwörter wie : " der wissenschaftliche Sozialismus " oder " die materialistische Geschichtsauffassung " dazwischen warf , imponierte .
Er redete in den Versammlungen von Marx wie von der Bibel .
Man hatte Respekt vor ihm .
Selbst die Führer nahmen ihn ernst .
Und dazu kam noch sein Selbstbewußtsein und sein Fanatismus , durch die er seine Umgebung einzuschüchtern verstand .
" Um Gott im Himmel " , sagte die Lissauerin , " du wirst doch nicht - " sie suchte den kleinen , buckligen Mann am Rockschoß festzuhalten .
Er riß sich los .
" Was fällt dir ein ? " sagte er wütend .
" Lissauer , bist du nicht recht bei Sinnen ! " schrie sie .
Aber vor seinem zornigen Blick verstummte sie .
Er ging mit hastigen Schritten auf das Rednerpult zu .
Er glühte .
Die Lissauerin wandte sich an Blinsky .
" Um Gottes Willen , ist er denn verrückt geworden ? "
" Regen Sie sich doch nicht so auf " , beruhigte er die Frau .
Er selbst zitterte .
Lissauer stand bereits oben .
Er begann mit auffallender Sicherheit .
Die Rede floß ihm nur so .
" Wirr sind Herrn Drewitz dankbar " , fing er an , " daß er wenigstens die anständige Gesinnung unseres Genossen Thomas Druck anerkannt hat .
Der Hauptvorwurf , der uns gemacht wurde , war , daß wirr den Parlamentarismus bekämpfen , und daß wirr ferner kein festes und rundes Programm zu bieten haben .
Was das erste anlangt , so sehen wirr ja gerade im Parlamentarismus eine öde und vernunftwidrige Einrichtung .
Wer Gesetze konstruieren will , geht ja von vornherein von dem Grundsatz aus , daß er den anderen einengen , biegen , bevormunden will .
Das gerade bekämpfen wirr .
Wirr brauchen keine Bevormundung , auch nicht von Volks wegen !
Wirr wollen das freie Selbsterfüllungs- und Selbstverfiegungsrecht des einzelnen .
Daß wirr nicht ein fix und fertiges Programm haben , liegt aber in unseren ganzen Bestrebungen begründet .
Wirr maßen uns nicht an , die Entwicklung der Dinge a priori , zu deitsch von vornherein , festnageln zu können .
Wirr glauben an einen Sozialismus , der von keiner Theorie abhängig ist .
Den sogenannten wissenschaftlichen Beweis für den Sozialismus halten wirr fier ein Grundiebel ; aber wir kämpfen fier die Erfüllung des Sozialismus mit unserer ganzen Energie und Erkenntnis .
Wirr wollen keine Partei !
Partei bedeutet fier uns Herrschaft !
... Wie stellen wirr uns nun die Sache vor ?
Wirr sagen : nicht Staatshilfe ! die knechtet .
Wirr sagen : Selbsthilfe ! die befreit .
Wirr sehen gar keinen Grund ein , warum sich nicht unzählige kleine Gruppen zusammentun sollten , die unter sich die Arbeitsteilung vornehmen .
Jedem soll das Erträgnis seiner Arbeit geheeren .
Freilich , anders als heite !
Wer einer Gruppe beitritt , soll die freie und unentgeltliche Benutzung des Bodens , der Maschinen , der Wohnstätten haben !
Mit anderen Worten :
Nicht die Freiheit des Wettbetriebes , sondern die Ungleichheit der Bedingungen soll ausgemerzt werden !
... "
Er brach ab und machte eine kleine Kunstpause .
Der Ton seiner eigenen Stimme , die etwas Pfeifendes hatte und zuweilen Laute hervorschmetterte , die denen einer zerlöcherten Trompete ähnelten , berauschte ihn .
In dieser Stunde hatte er sich entdeckt .
Sein Selbstgefühl schwoll an .
Alle zionistischen Schwärmereien waren versunken .
Von nun an stand und fiel er mit der Weltanschauung des individualistischen Menschen , die er sich mühsam errungen hatte .
" Sie fragen " , fuhr er fort , " warum wirr solches Gewicht auf ungezählte , selbständige Gruppen legen ?
Die Antwort ist sehr klar und sehr deitlich !
Durch diese Dezentralisation erreichen wirr es , daß wirr keine Bürokratie von Despoten und Ausbietern bekommen .
Denn der Leiter jeder dieser kleinen Gruppen - vielleicht brauchte man überhaupt keinen Leiter - wirrte nur ganz geringe Befugnisse haben .
Das gerade Gegenteil erleben Sie im Zukunftsstaat !
... Sehen Sie sich doch nur daraufhin schon die heitige große sozialdemokratische Partei an !
Was haben Sie da nicht alles ?
... Parteipäpste , Kardinäle , Stellenjäger , eitle Trepfe , die eine Rolle spielen wollen , dummdreiste Demagogen , die Stroh dreschen .
Eine Horde ungebildeter Schreiberseelen , die ihre abgewirtschafteten Phrasen auftischen !
.. .
Und hinter diesem Stabe torkelt das große Volk , benebelt und berauscht !
Die Schlaumeier haben es verwirrt gemacht durch eine Taktik , die auf die empeerten Herzen und hungrigen Magen spekuliert ...
Man gaukelt diesen armen , mirrben Teifeln ein Paradies vor !
.. .
Was tun diese Schaumschläger in Wahrheit ?
... Sie setzen an die Stelle des kirchlichen Dogmas ein weltliches !
Und das Volk Schwert darauf !
Das Volk , das nicht zu Ende denken kann , wenn es sich den langen Tag ieber miede und wund gearbeitet hat !
Wirr haben das Vertrauen zurr Vernunft freier Menschen !
Wirr sind davon iberzeigt , daß der Austausch und Wechselverkehr durch die Gemeinsamkeit der Interessen und den Selbsterhaltungstrieb sich von selbst klar und einfach regeln wird !
... Sehen Sie sich doch heite nur die einzelnen Staatenverbände an , die bei aller Selbständigkeit in Bezug auf Post- und Telegraphenwesen , Eisenbahnverkehr und andere nationale Dinge sich leicht verständigen ...
Warum sollte dasselbe nicht geschehen in Bezug auf den Austausch der Arbeitsprodukte ?
... Es gibt keine Bevormundung mehr durch ein Beamtenheer !
... Es gibt aber auch keine Ausbietung , denn die Gruppe , die die andere betrügen wollte , wirrte sofort boykottiert werden ...
Und wiederum ist es ein Gebot der Freiheit und Gerechtigkeit , daß unter gleichen Arbeitsbedingungen jedem der Ertrag seiner Arbeit geheert !
Niemand kann mir verbieten , mehr zu arbeiten als ein anderer , aber niemand kann mir auch den Ertrag meiner Mehrarbeit nehmen wollen !
... Wenn der sozialistische Staat den Ertrag meiner Arbeit in die gemeinsame Kasse steckt und mich dafierr satt fittet , so bestiehlt er mich einfach !
... Das geheert auch zurr Gefährlichkeit des famosen Staatssozialismus !
arbeite ich mehr , so verdiene ich mehr !
Will ich weniger arbeiten , ist das ebenfalls meine Sache !
Das kann jeder nach seinen Bedürfnisse und Wünschen regeln !
Unter der Gleichheit der Bedingungen ist der Ungerechtigkeit ein Riegel vorgeschoben !
... Sie werden mir vielleicht einwenden , daß die , die mehr verdienen , wieder Kapitalien aufhelfen und zu Ausbietern werden kennen !
.. .
Das ist aber grundfalsch !
Der Boden und die Maschinen sollen ja allen zurr gleichen Verfügung stehen .
Ohne den Boden und die Maschinen kann man nicht ausbieten !
Jeder , der noch einen Funken von freiheitlichem Gefiel in sich hat , muß sich gegen den Staatssozialismus auflehnen , der die Privatsklaven der Großindustrie zu effetlichen Sklaven des nein Staates macht !
Nur ein Narr opfert fier eine bessere Fütterung seine Freiheit .
Wissen Sie , was die Herren wollen ?
Sie wollen einen großen zoologischen Garten etablieren mit Tieren Eintrittspreisen !
Jeder von Ihnen soll in einem Käfig gefüttert werden !
.. .
Das sind die scheinen Aussichten , die Ihnen winken !
... Wir danken dafierr !
... Wir wollen wie freie , stolze Menschen Einherrgehen !
... Wenn Sie durchaus ein Programm wollen , so haben Sie es hier !
Es trägt die Überschrift : Selbsthilfe und Freiheit !
Die Denker , denen wirr folgen , haben sich aber schwer gehütet , bis auf jeden einzelnen kleinen Punkt sich festzunageln !
Niet- und nagelfest sind fier uns die Dinge noch nicht !
Wirr liegen Ihnen nichts vor , so genau kennen wirr die Welt von übermorgen noch nicht !
Fier uns ist das auch nicht das Wesentliche .
Wirr sagen " - er hielt einen Moment inne - und fast in fistelndem Ton schrie er :
" Wirr sagen :
Das Wesentliche ist die Erziehung zurr Freiheit !
... "
Der kleine , bucklige Mann hatte sich zuerst nur schwer Gehör verschafft .
Seine groteske Figur , seine gebrochene Aussprache , seine komische Beweglichkeit - er sprach mit Händen und Füßen - hatten anfangs Spott und Gelächter hervorgerufen .
Aber bald begann man ihm zu lauschen .
Seine Rede hatte so etwas Spitzes , Scharfes , Mathematisches .
Er wandte sich nicht an das Gefühl , er wandte sich an den Verstand seiner Hörer .
Er wußte , daß diese abgearbeiteten Menschen , die in später Abendstunde sich in den Berliner Volksversammlungen einfinden , einen rührenden Bildungs- und Wissenstrieb haben .
Er wußte , daß sie mit ihrem müden Hirn nach Offenbarung hungern , über die Kraft hinaus ganze Weltanschauungen durchdringen möchten .
Mit einem treffsicheren Instinkt hatte er sich gesagt :
Diese Leute kommen zu uns , wenn der Schweiß der Arbeit noch an ihren Röcken klebt , wenn ihnen vor Abspannung die Augen halb zufallen .
Sie schleppen sich hierher , um bei Tabaksqualm und schalem Bier wissend zu werden .
Ergo kann man ihnen keinen eindringlicheren Beweis der Achtung und Ehrfurcht geben , als daß man sie ernst nimmt , ihren Gram dadurch lindert , daß man ihr Erkenntnisvermögen , ihre geistigen Fähigkeiten weckt .
Er hatte sich in seiner Berechnung nicht getäuscht .
Das bewies der Beifall , der auf seine Worte folgte .
Als er von der Tribüne trat , da stand es fest , daß sein erstes öffentliches Auftreten ein Riesenerfolg gewesen war .
Die Freunde erkannten das neidlos an .
Lissauers Rede war eine große Überraschung gewesen .
Blinsky zumal war überwältigt von dem Triumph seines Glaubensgenossen .
Er war nicht niedergeschrien worden , man hatte ihm im Gegenteil aufmerksam zugehört .
Das war ein Resultat , das alle Erwartungen überstieg .
Ein sozialistischer Redakteur suchte sich jetzt Gehör zu verschaffen .
Seine Backenknochen brannten .
Er fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar und schrie heiser :
" Genossen !
Was Sie soeben gehört haben , ist nichts weiter als Verrat , niederträchtiger Verrat an der Sache des Volkes !
Lassen Sie sich nicht bläffen , Genossen !
Das sind Schwadroneure gefährlichster Art .
Man muß deutlich werden ! " schrie er wütend .
" Wer uns den Parlamentarismus verdächtigt , wer uns unser einziges und bestes Recht madig machen will , der ist entweder ein Volksverräter oder ein Schwachmatikus , der hinter Schloß und Riegel einer Irrenzelle gehört ! ...
Der Parlamentarismus ist die wirksamste und schärfste Waffe im Kampfe des Proletariats ! ...
Der Parlamentarismus ist es , dem wir unsere Erfolge danken !
Und nun kommen diese Herren und wollen uns den Parlamentarismus verdächtigen !
... Das genügt , Genossen ! "
Und indem er nun einen prahlerischen und großsprecherischen Ton annahm und sich triumphierend umblickte , rief er verächtlich : " Bevor diese jungen Herren in öffentlichen Versammlungen zum Volke reden , sollten sie sich ein wenig besser bei Marx umtun .
Sie sollten im » Kapital « die Kritik der kapitalistischen Gesellschaft studieren .
Besonders empfehle ich ihnen die Abschnitte , wo Marx über den Mehrwert , die Verelendungs- , die Konzentrations- , die Expropriations-Theorie redet ! "
Jedes dieser Worte gab er in gespreiztem Ton von sich , als enthielte es eine mystische Offenbarung .
" Hui , der macht uns gruselig ! " schrie Heinsius .
" Also hübsch fleißig Bibel lesen " , schloß der Redakteur höhnisch .
Mit ein paar Sätzen stand Fründel neben ihm .
" Glauben Sie an Gott ? " fragte er mit schallender , durchdringender Stimme .
Die kurz hervorgestoßene Frage Fründels , die affenartige Geschwindigkeit , mit der er sich im Nun Gehör verschafft hatte , waren von frappanter Wirkung .
" Det is am Ende 'n Theologe " , sagte ein Arbeiter , " nun kann es Jute werden , det jiebt 'n Höllenspaß ; übrigens der vom » Vorwärts « war Jute , der Mann hat Bildung , det merkt man jleich ! "
Der Redakteur war betroffen vor Fründel zurückgewichen .
Das ist ein Verrückter , glaubte er im ersten Augenblick .
Der Mechaniker war wie ein Stößer auf ihn zugeschossen .
Aber im Nun faßte er sich .
" Ich bin Atheist " , antwortete er ruhig und überlegen .
Fründel stieß eine gellende Lache aus .
" Er glaubt nicht an Gott , dafür glaubt er an Marx " , schrie er höhnisch .
" So sind diese Leute .
An was müssen sie immer glauben , wenn nicht an Gott , dann wenigstens an Marx !
... Lassen Sie sich doch kein X vorn U vormachen , lassen Sie sich doch nicht von neuem anschmieren !
.. .
In dem Buche von Herrn Marx steht ja so viel kapitaler Unsinn !
... Wer nicht ganz auf den Kopf gefallen ist , weiß das heute !
... Nur die Redakteure der sozialdemokratischen Zeitungen wissen es nicht ...
Sie haben Marx niemals gelesen , aber seine Schlagwörter kennen sie !
... Wer garantiert Ihnen übrigens , daß , wenn die » Bewegungsgesetze « des Herrn Marx sich erfüllt haben , wenn nur noch ein paar Riesenkapitalisten und wir Ausgepowerten übrig sind ... daß wir dann wirklich noch die Kraft zum Rausschmeißen haben ?
... Ich für mein Teil bezweifle das !
Im übrigen aber stimmt die ganze Verelendungstheorie des Herrn Marx nicht , darüber ist man sich längst einig !
... Nur Ihnen tischt man noch den Quatsch auf !
... Wenn ich Ihnen einen Rat geben kann , so sage ich : Sehen Sie sich die Brüder genau an !
.. .
Von eigenen Gedanken auch nicht die Spur , dafür Bibelstellen aus » Marx « .
Wenn ihre Weisheit ohne Anfang und Ende ist , dann heißt es : Kapitel soundso , Vers soundso !
Und nun will ich Ihnen zum Schlusse etwas verraten .
In der Heiligen Schrift steht geschrieben :
Selig sind , die geistig arm sind , denn das Himmelreich ist ihrer !
Wenn das Wort eine Brücke ist , dann bringt Ihnen die Sozialdemokratie das Himmelreich , denn geistig arm ist sie .
Daran ist nicht zu tippen ! "
Die letzten Worte hatte er so pointiert hervorgestoßen , den Witz so drastisch hervorgebracht , daß ein lautes Gelächter ausbrach .
Nach dem vielen , schweren Zeug war man in eine Art Ulkstimmung geraten .
Die Stimme des Redakteurs , der antworten wollte , ging in dem allgemeinen Lärm unter .
Alles drängte dem Ausgang zu .
" Nun " , sagte Blinsky zur Lissauerin , " was sagen Sie jetzt ? "
Die Lissauerin sah ihn mit schimmernden Augen an .
" Ich weiß nicht , ob ich mich freien , oder traurig sein soll .
Es war sehr schön , und ich hätte es mir nicht treimen lassen !
... aber - " sie brach ab und sah halb glücklich , halb furchtsam auf ihren Mann , der eben an sie herantrat .
Sie drückte ihm nur die Hand und sah ruhig zu ihm empor .
XXI.
In der folgenden Redaktionssitzung des " Festsaals " gerieten die Köpfe hart aneinander .
Es wurde Thomas von Fründel der unverblümte Vorwurf gemacht , er neige zu Kompromissen , er verwische das " Ziel " , er führe einen zu zahmen , sanftmütigen Ton , und er kokettiere mit Geistesrichtungen , die bekämpft werden müßten .
Lobpreisungen der Bestrebungen des Herrn von Egidy im " Festsaal " seien nicht nur weichselig , sondern unwürdig .
Fründel hatte es Thomas nicht vergessen , daß er damals die Aufnahme seines Artikels verweigert hatte .
Seiner Anklage stimmte nicht nur der Volksschullehrer bei , dem das Tempo viel zu langsam ging , sondern auch Lissauer , der nach seinem ersten öffentlichen Erfolge in Kraftgefühlen schwelgte .
Nur die Brose hielt fest zu Thomas .
Sie war über diese Angriffe empört und gab ihrem Unwillen in starken Worten Ausdruck .
Auch der kleine Blinsky und Liers unterstützten Thomas , wenigstens nahmen sie nicht Teil an den Angriffen gegen ihn .
Es kam zu einem Auftritt von leidenschaftlicher Heftigkeit .
" Ihr wollt frei sein ! " rief Thomas , und der Zorn schüttelte seinen ganzen Körper , " aber die Freiheit des anderen wollt ihr nicht gelten lassen ! "
Und als man ihn unterbrechen wollte , stampfte er mit den Füßen auf .
Die ganze ungestüme Art seiner Jugend , über die er längst hinausgewachsen zu sein glaubte , brach brausend durch .
Es hatte nur eines Anstoßes bedurft .
Die ewigen Geldsorgen und Ängste der letzten Wochen hatten ihn ohnedies aufgerieben .
" Ihr seid Kindsköpfe ! " schrie er , " und Dogmatiker gerade so wie die anderen !
Wer nicht in allem und jedem eurer Meinung ist , den möchtet ihr am liebsten zum alten Eisen werfen .
Mir kommt das kleinlich , kindisch und dumm vor !
Ich lasse mich von euch nicht biegen !
Ich bin ich , ich bin mein Eigener ! "
Und dröhnend schlug er mit der Faust auf den wackeligen Redaktionstisch , und ohne eine Antwort abzuwarten , ließ er sie alle verblüfft zurück und stürmte ins Freie .
" Was ist denn dem in die Krone gefahren ? " fragte Heinsius etwas sarkastisch .
" Euer Hochmut " , antwortete die Brose ernst und traurig .
Als Thomas auf der Straße war , eilte er hastig eine Weile dahin .
Alles war in ihm unruhig und erregt .
Es ist gut , daß ich es ihnen deutlich gesagt habe , dann lächelte er eigentümlich vor sich hin .
So eine Gesellschaft ... so eine Gesellschaft , murmelte er .
Ach Gott , das sind ja alles Dummheiten , furchtbare Dummheiten .
Wozu zankt man sich eigentlich ?
Es ist zu kindisch .
Wozu machen wir uns das Leben sauer ?
Wir wollen ja alle das Gleiche ...
Er wollte wieder umkehren , aber er besann sich eines anderen .
Ich tue es nicht !
Es ist gut so , daß sie es wissen !
Es ist gut so !
Er blickte auf .
Was war denn das ?
Er stand vor einem Hause , an dem ein Riesentransparent angebracht war .
Auf blauem Grunde mit weißen Lettern stand : Heilsarmee .
Er sah auf die Uhr .
Es war achteinhalb .
Ihn reizte es hineinzugehen .
" Kaufen Sie doch den Kriegsruf ! "
Er hörte es im Geiste .
Er sah plötzlich eines dieser entsetzlich uniformierten Frauenzimmer , die demütig auf den Straßen den Kriegsruf des Generals Booth feilboten .
Über einen engen Hof schritt er .
Eine schmale Stiege führte zu dem Versammlungssaal .
In einem Vorraum empfing ihn ein angestellter , glattrasierter Beamter und wies ihn zurecht .
Es war ein mittelgroßes Zimmer , in das er trat .
Die kahlen Wände waren nur von knallroten Bibelsprüchen durchbrochen .
Das ganze Möblement bestand aus Bänken .
Am äußersten Ende war eine Kanzel errichtet .
In einem Winkel des Saales saß ein Pferdebahnkutscher zusammengeduckt .
Er war eingeschlafen , sah und hörte nichts .
Im ganzen waren etwa dreißig Menschen jeder Altersstufe versammelt .
Die meisten hatten erloschene Gesichter .
Sie stierten wie magnetisiert auf die drei Frauenspersonen , die die Kanzel besetzt hielten .
Als Thomas in dem Zimmer erschien , hatte das Frauenzimmer in der Mitte , die den sogenannten Rang eines Kapitäns bekleidete , den Vers eines Chorals nach einer weltlichen Melodie vorgesungen .
Nun hielt sie eine Sekunde inne , und gleich darauf sang die ganze Versammlung , während sie mit beiden Händen dazu Takt schlug , den Vers nach .
Es dünkte Thomas , als ob die Menschen in einer dumpfen , sinnlosen Hingebung die Worte plärrten .
Als man zu Ende war , sprach die Kapitänin , aus deren pockennarbigem Gesicht fanatische Eifereraugen glühten , mit einer sich überhastenden und überstürzenden Beredsamkeit heilige Dinge , in denen immer wieder als Refrain die Worte : " Jesus ... Sünde ... und Erlösung " wiederkehrten .
Und dabei erzählte sie beständig , was sie Jesus alles zu danken habe .
Mitten in der Rede wandte sie sich an die Person zu ihrer Rechten und forderte sie auf , auch eine Geschichte aus ihrem Leben mitzuteilen .
Und nun begann diese genau in der gleichen , fließenden , förmlich eingelernten Art , die um kein Wort und keinen Ausdruck verlegen war , ihren Vortrag .
" Ich habe am Rande des Verderbens gestanden " , begann sie , " Jesus hat mich befreit !
Nun bin ich selig ... selig ... selig !
Geht zu Jesus , auf daß er euch selig macht , solange es noch Zeit ist .
Zu Jesus , meinem Seelenbräutigam ! "
Jetzt sang die junge Frauensperson links wieder nach einer weltlichen Melodie einen Choralvers , und wieder setzte die Versammlung ein , während das Mädchen mit beiden Händen taktierte .
Und immer müder und verschlafener wurden die Gesichter der Anwesenden .
Aber sie sahen starr auf die Kapitänin , die beständig mit dem Kopfe nickte .
Das sind ja die reinen Zwangsübungen , dachte Thomas und erhob sich schwerfällig .
Er wollte den Raum verlassen , aber er stockte plötzlich ...
Er begegnete zwei , wie ihm zuerst schien , boshaften , dunkelbraunen Augen , die auf ihn gerichtet waren .
Sie gehörten einem schlanken Mädchen mit zigeunerbraunem Teint .
Um den Kopf hatte sie ein rotes Tuch geschlungen .
Ohne sich darüber Rechenschaft zu geben , betrachtete er sie genau .
Er fand , daß ihre Züge etwas Verbittertes und Vergrämtes hatten , etwas , das ihn festhielt .
Langsam wandte er ihr den Rücken und verließ die Gebetstube .
Langsam schritt er auf der Straße vorwärts .
Ein ihm bisher fremdes Gefühl beherrschte ihn .
Diese Augen verfolgten ihn und ließen ihn nicht mehr los .
Sie hüpften gleichsam auf dem Pflaster vor ihm her .
Einmal waren sie niederträchtig , dann weinten sie schmerzhaft , dann wieder hatten sie etwas furchtbar Anklagendes .
Das sind ja alles Einbildungen , sagte er vor sich und blickte über das Menschengewimmel .
Der Kopf tat ihm weh ...
Er stieß einen kurzen Schrei aus .
Sie stand unvermutet neben ihm .
" Ja , was ist denn das ? " stammelte er verwirrt .
" Ich bin es " , entgegnete sie ruhig und nagte mit den breiten Oberzähnen an ihrer Lippe .
Darauf erwiderte er nichts .
Es kam ihm alles traumhaft und seltsam vor .
Sie schritten beide dicht nebeneinander .
" Ich kenne Sie " , begann sie wieder und zupfte sich ihr Kopftuch zurecht .
" Mich ? "
" Ja , ich habe Sie neulich reden hören ! "
" Ah so " , machte er und schielte von der Seite hinüber .
Ihm war es , als ob ihr warmer Atem ihn träfe .
" Sie besuchen wohl alle Versammlungen ? "
" Nicht alle !
Keineswegs alle !
Sie meinen von wegen da oben ? "
Sie lachte kurz auf .
" Meine Wirtin hatte mich da mit hinaufgezerrt . "
Und nach einer kleinen Pause fügte sie in einem Tone der Selbstverspottung hinzu :
" Sie wollte mich retten ! "
Sie blieb stehen , und indem sie ihren eigenen Gedankengang unterbrach , fragte sie :
" Glauben Sie denn an alles das , was Sie so reden ? "
" Ich glaube daran ! "
" Hm " , machte sie , und um ihren vollen , breiten Mund zuckte es merkwürdig .
" Hat man Sie denn nun heute abend gerettet ? " fragte Thomas plötzlich ganz ernst .
" Mich - mich ... ? " ihre Züge verzerrten sich , " mich kann niemand retten ! "
Es leuchtete wie tiefer , unsagbarer Haß über ihre Miene .
Sie gingen jetzt schneller und schwiegen .
Aber auf einmal machte sie vor einer Stehbierhalle Halt .
Sie sah gierig in das Schaufenster , in dem vertrocknete belegte Brötchen auf Schüsseln lagen .
" Entschuldigen Sie , ich habe furchtbaren Hunger ! "
Und gleichsam entschuldigend setzte sie hinzu : " Ich habe heute noch so gut wie nichts gegessen ! "
Er hatte schon die Türklinke erfaßt .
Es waren nur ärmliche Leute , die hier verkehrten .
Sie blickten verwundert auf die Eintretenden .
Das Mädchen beobachtete es nicht ; sie schritt ruhig voran .
Auf eine hölzerne Bank im äußersten Winkel ließ sie sich nieder .
Thomas erkannte jetzt , daß sie elend und erschöpft war .
Eine schmutzige , magere Frauensperson mit einer Schürze , die von den Schultern bis zu den Füßen reichte , fragte nach ihren Wünschen .
" Bringen Sie uns etwas zu essen " , bestellte Thomas , und sich an das Mädchen wendend :
" Was wollen Sie trinken ? "
" Ich bitte um Bier ! "
" Also ein Bier und eine Selters ! "
Die Frau brachte im Nun das Bestellte .
Das Mädchen stürzte das Bier hinunter und verschlang das ausgetrocknete Brot .
Sie schien wie ausgehungert .
Unterdessen betrachtete Thomas sie .
Ihr Gesicht war schmal und gut geformt .
Ihre Stirn war niedrig , aber ausdrucksvoll .
Wie Seide waren die Wimpern ihrer Augen .
Obwohl ihre Nase ein wenig höckerig war , hatte sie doch etwas Feines .
Selbst ihr breiter , voller Mund mit den roten , begehrlichen Lippen erschien ihm nicht unschön .
Ihr Hals war weich und geschmeidig .
Nun , wo sie ihr Kopftuch abgenommen , sah er auch ihr reiches , dunkles Haar , das sie vorn gescheitelt , hinten in einem schweren , griechischen Knoten trug .
Sie war ganz altmodisch frisiert , aber gerade das gab ihr etwas Apartes .
Endlich schien sie gesättigt , und nun stützte sie beide Ellenbogen auf den Tisch und legte in die Handflächen ihr elendes , vergrämtes Gesicht .
Ihn erfüllte ein tiefes Mitleid .
Sie starrte jetzt vor sich hin und achtete seiner kaum .
Sie schien in ihrer Erschöpfung über irgend etwas nachzugrübeln .
" Wissen Sie , was ich noch möchte ? " sagte sie unvermittelt und blinzelte zu dem Büfett hinüber .
Bevor er noch geantwortet , ging sie zur Wirtin und bat sich einen Kognak aus .
Dann kam sie zurück , und während ihre dunklen Augen wie belebt aufglänzten , meinte sie :
" Wenn Sie wüßten , wie mir das gut getan hat !
Mir war ganz schwach im Körper ! "
Sie setzte sich wieder und berührte vertraulich , ganz sanft seine Hand .
Wie ein Junge wurde er bei dieser Berührung rot .
Sofort zog sie , gleichsam scheu , ihre Hand wieder zurück .
Die Wirtin sah hinter dem Schanktisch zu ihnen hinüber .
" Was die für katzige Bewegungen hat " , raunte sie ihrem Manne zu , der in Hemdärmeln neben ihr stand .
Obwohl diese Worte kaum hörbar gesprochen waren , schien das Mädchen ihren Sinn aufgefangen zu haben .
" Kommen Sie , wir wollen gehen " , sagte sie rasch und verärgert .
Er erhob sich auf der Stelle .
Sie nahm einen kleinen schmutzigen Beutel vor und suchte mühsam ihre Pfennige zusammen .
" Es reicht nicht " , brachte sie erschreckt hervor .
" Aber , mein Gott " , antwortete er verlegen , " wollen Sie denn nicht mein Gast sein ? "
Sie warf den Kopf zurück und lächelte argwöhnisch und fremd .
" Ich bin niemandes Gast ! "
Und unwillkürlich sah sie dabei auf ihre Hände , die schlank und schön waren .
Nur die Fingerspitzen waren zerstochen .
" Wollen Sie mir auf mein Gesicht hin fünfzig Pfennig borgen ? " fragte sie , während sie gleichzeitig einen schmalen , goldenen Reifen vom Mittelfinger der linken Hand zog .
Er nickte schweigend , und jeder beglich seine Zeche für sich .
" Haben Sie etwas bemerkt , wie frech diese Person mich angesehen hat ? "
Er schüttelte den Kopf .
" Ich aber habe es gesehen .
Bande " , setzte sie hinzu und knirschte mit den Zähnen .
" Aber Fräulein ! "
" Nee , nee , die Leute kenne ich , die wohl 'n man bloß eine ausspionieren !
Übrigens , was die Person für einen scheußlichen Kropf hatte " , schloß sie boshaft .
" Sie trauen wohl den Menschen nur Böses zu ? "
Sie stieß eine unangenehme Lache aus .
Und wieder blieb sie stehen .
" Na , Sie sind aber ein Heiliger !
Nicht soviel traue ich den Menschen . "
Und dabei knipste sie Zeigefinger und Daumen zusammen .
Ihre Züge verzogen sich jetzt schmerzhaft .
" Oh , Oh " , machte sie , und es schien ihm , als ob sie fröre .
Sie standen vor einem kleinen Café am Belle-Allianceplatz .
" Kommen Sie , wir wollen hier noch einen Kaffee trinken . "
" Kann ich denn hier hineingehen ? "
Sie deutete verlegen auf ihr armseliges Fähnchen und ihr rotes Kopftuch .
" Sie können es ! "
Ihr Gesicht verdunkelte sich ; sie zauderte noch einen Augenblick .
Dann lächelte sie trotzig und folgte ihm . -
Drinnen saß eine ganze Gesellschaft von Chinesen in blau- und gelbseidenen Überröcken und schwarzseidenen Hosen .
Sie trugen elegante Stulpenstiefel .
Die langen , schwarzen Zöpfe hatten sie im Überwurf verborgen .
Die älteren von ihnen blickten mit ihren geschlitzten Augen aus Brillengläsern .
Ihre gelben Gesichter sahen ernst und nachdenklich aus .
Sie nahmen nur wenig an der allgemeinen Unterhaltung Teil .
Sie sannen vor sich hin und grübelten .
Die Mienen der jüngeren dagegen waren lebhaft und aufgeregt .
In ihrer Gesellschaft befanden sich etwa vier oder fünf kleine Ladenfräuleins , die sich geschmacklos herausgeputzt hatten und von den Himmelssöhnen bewirten ließen .
An einem Nebentische schlürften ein paar junge Däninnen neben ihren Courmachern Eiskaffee .
Ihre zierlichen Gestalten , ihr apartes Wesen , ihre fremdländische Aussprache mußten jedem , der eintrat , sofort auffallen .
Das ganze Interieur bekam durch diese beiden Gruppen etwas Internationales und Eigentümliches .
Und als Thomas und das fremde Mädchen jetzt an einem kleinen Marmortische Platz nahmen , da schien es fast , als ob sie beide durchaus hierher gehörten .
Der Kellner kam tänzelnd heran .
" Wünschen ? " fragte er etwas hochnäsig und von oben herab .
Zwei Tassen Kaffee wollte Thomas bestellen , aber das Mädchen sah ihn bittend und demütig an .
" Darf ich " , fragte sie und wurde rot dabei , " lieber ein Glas Punsch trinken ?
Mir ist nämlich so kalt ! "
" Gewiß , gewiß " , stotterte er .
" Also eine Schale Braun und einen Punsch ? "
" Ja ! "
Der Garcon verschwand .
" Wie die komisch aussehen " , meinte sie ablenkend und schielte zu den Chinesen hinüber .
" Sehen Sie nur , wie die Seide leuchtet ! "
Er antwortete nicht .
" Sie haben sich gewiß gewundert , daß ich Ihnen nachgelaufen bin .
Nämlich das hat seinen Grund .
Als ich Sie das erstemal sprechen hörte , wollte ich schon zu Ihnen .
Und nachher erst recht .
Ich wollte wissen , ob Sie wirklich so sind , wie Sie redeten , ich wollte das wissen " , setzte sie fest hinzu .
" Und da waren Sie auf einmal in der Heilsarmee , wo ich Sie nie erwartet hätte .
Ich war ganz erschreckt ... zuerst glaubte ich in all dem Singsang zu träumen ... darum bin ich Ihnen nachgelaufen Herr ! "
" Es mußte vielleicht so kommen ! "
Seine Augen erweiterten sich .
Und in diesem Augenblick hielt er in Wahrheit sein Zusammentreffen mit ihr für etwas Gesetzmäßiges .
Vorherbestimmtes .
Der Kellner brachte die bestellten Dinge .
Der Punsch stand in einem silbernen Untergestell .
Das Mädchen nahm das Glas heraus und umschloß es mit beiden Händen , als ob sie sich wärmen wollte .
" Sie werden sich verbrennen ! "
"0 nein ! "
Sie blickte in das heiße Getränk und sog erst den Duft ein , bevor sie trank .
Dann nahm sie einen kleinen Schluck zu sich und schnalzte ein wenig mit der Zunge .
Sie guckte verschämt zu ihm auf .
Ein kindliches Lächeln verschönte sie .
" Das tut mir so gut ! "
Und nun trank sie mit wahrem Behagen , immer nur einen kleinen Schluck .
Ihre Züge belebten sich .
Sie fing seinen Blick auf , der , wie sie wähnte , prüfend über ihre ganze Gestalt flog .
Der Ausdruck ihres Gesichts wurde bitter .
" Wie mager ich bin , nicht wahr ? " sagte sie , beinahe gegen sich verächtlich .
" Oh , was war ich früher voll und schön !
Was hatte ich für volle , schöne Arme ... wie sah ich damals aus ! "
Und in der Erinnerung an ihre frühere Schönheit wurde sie tieftraurig und blickte verstimmt und ängstlich vor sich hin .
Und stolz fügte sie hinzu : " Sie hätten mich sehen sollen , was ich damals für ein Mädchen war !
Ja , damals !
Ach was " , schloß sie , und in der ihr eigenen Art warf sie wieder den Nacken zurück .
Und als wollte sie unnütze und trübe Gedanken verscheuchen , nahm sie ihr Glas und trank es aus .
Als sie es niedersetzte , zuckte sie zusammen , als wenn es ihr noch immer kalt wäre .
" Ich muß es in den Gliedern haben , am Ende kriege ich Influenza .
Das fehlte noch !
Am liebsten tränke ich noch etwas von dem Zeug , ich glaube , das hilft . "
" Ich fürchte nur , daß es Ihnen schlecht bekommt ! "
Sie wurde ganz lebendig .
" Wenn ich wirklich Influenza habe " , meinte sie redselig , " so könnte ich es nur so unterdrücken .
Ich weiß , daß man mit den Spirituosen die Influenza ersticken kann . "
Er winkte dem Kellner .
" Noch ein Glas Punsch ! "
" Was kostet es ? " fragte sie schnell .
" Fünfundsiebzig Pfennig . "
" Hu ! " machte sie erschreckt .
Sie zog ein kleines Notizbüchelchen aus der Tasche und notierte :
Zwei Glas Punsch - eine Mark fünfzig ; Stehbierhalle - fünfzig Pfennig .
" Jetzt bin ich Ihnen zwei Mark schuldig .
Trauen Sie mir auf soviel ? "
" Ich traue Ihnen ! "
" Was das ins Geld geht !
So viel verdiene ich kaum an einem Tage .
Ich arbeite nämlich Jacketts " , setzte sie erklärend hinzu , und gleichzeitig zeigte sie ihm ihre zerstochenen Finger .
Dann nahm sie auf einmal seine Hand und streichelte sie vorsichtig .
Aber im Nun sagte sie mehr für sich :
" Nee - nee ! " und rückte ein wenig erschreckt ihren Stuhl von ihm fort .
Diese flüchtige Berührung trieb ihm das Blut bis in die Schläfen und beseligte ihn einen Augenblick .
Am Chinesentische wurde jetzt laut aufgelacht .
" Wie die mit den Köpfen wackeln " , sagte sie .
" Genau , als wie man sie nachgebildet in den Schaufenstern sieht ! "
Sie betrachtete die Mädchen .
" Ich könnte mit so einem nicht zusammen sitzen - nee , das könnte ich nicht !
... ah , der Punsch ! "
Wieder trank sie .
" Es kann auch Hunger und Durst sein - nämlich , es reichte heute nicht zum Essen - von wegen dem Ersten !
0 , mein Haar ! "
Sie schob es sich zurecht und stürzte das Getränk in sich hinein .
Es stieg ihr zu Kopf , aber es machte sie nicht müde .
Sie sprach jetzt eine lange Weile gar nichts , sondern starrte nur vor sich hin .
" Was haben Sie denn ? "
" Nichts , nichts " , gab sie zurück .
Aber dann setzte sie hinzu : " Wenn Sie das wüßten ... wenn Sie das wüßten ... "
Und sie betrachtete ihn nun auf das hin , was er nicht wissen durfte , rätselhaft und neugierig .
" Darf ich es wissen ? "
" Dann würden Sie am Ende mit mir nicht an einem Tische sitzen .
Sie würden mich schön verachten ! "
" Ich würde Sie nicht verachten . "
" Das meinen Sie jetzt ! "
Ihre Miene bekam etwas Zweifelndes , Suchendes , Forschendes .
" Nein , da irren Sie bestimmt .
Wie habe ich denn das Recht , jemanden zu verachten ? "
Das begriff sie offenbar nicht .
In ihrem Gesicht jedoch begann es zu arbeiten .
Der Arrak hatte ihre Zunge gelöst .
Sie hatte einen unwiderstehlichen Drang , sich mitzuteilen .
" Wofür halten Sie mich ? "
" Für unglücklich ! "
Sein Ton traf sie .
" Das bin ich auch " , und bekräftigend fügte sie hinzu : " Oh , das bin ich auch ! "
Dann sagte sie plötzlich , indem sie wieder dicht an ihn heranrückte und ihren Oberkörper in die Höhe richtete :
" Wenn Sie wollen , erzähle ich_es Ihnen ! "
" Nur , wenn es Sie nicht erregt ! "
" Es wird mir nicht sauer , nein , es wird mir nicht sauer ! "
Am Chinesentische brach man jetzt auf .
" Wir wollen lieber auch gehen ! "
Ihre Stirn war glühend heiß .
" Gut ! Zahlen ! "
Als er seinen Hut genommen hatte , bat sie :
" Fassen Sie nur einmal meine Stirn an ! "
Er tat es , und wieder beschlich ihn ein eigentümliches , sonderbares Gefühl .
Draußen hängte sie sich schwer an seinen Arm .
Aber ihre Last machte ihn froh und glücklich .
Er lächelte sanft .
Und dieses sanfte Lächeln , das ihr seine ganze Gutherzigkeit verriet , nahm ihr den letzten Rest von Scheu , machte sie mutig und gesprächig .
" Studieren Sie auch ? " fragte sie und zog die feingezeichneten Brauen empor .
" Ich stehe gerade im Examen . "
" Was sind Sie denn ? "
" Ich bin Mediziner ! "
Sie ließ ruckartig seinen Arm fallen .
" Das ist aber merkwürdig ! "
Und auf einmal schien er für sie ein ganz anderer geworden zu sein .
" So , so " , stieß sie kurz hervor .
Aber gleich darauf :
" Geben Sie mir , bitte , wieder Ihren Arm , ich bin müde ! Nämlich ... er war auch Mediziner .
Ich will es kurz machen ...
Ich bin nicht von hier , ich bin vom Lande , aus Westfalen .
Was war ich für ein wildes Mädchen !
... Hoch auf die Bäume bin ich geklettert ...
Nester habe ich geplündert ... Oh , niemand , niemand konnte mich zwingen ... den ganzen Tag saß ich auf den Bäumen bis in die späte Nacht !
... Dann bin ich hierher gekommen !
... Es war mir zu eng daheim .
Na , und da habe ich ihn kennen gelernt .
Er studierte Medizin .
Er stammte ebenfalls nicht von hier .
Sein Vater war Landarzt - in Pommern .
Auf Schritt und Tritt ist er mir gefolgt , bis er mich so weit hatte .
Und schließlich habe ich ihn auch gern gehabt ... furchtbar gern !
... Wie hat mich der Mann behandelt , wie gut , Sie glauben es gar nicht !
... Wenn ich krank war , ist er nicht von meinem Bette gegangen .
Ich sage Ihnen , das ist keine Übertreibung : der Mensch hat mich auf Händen getragen , als wollte er alles an mir wieder gutmachen .
Die Schuhe hat er mir aufgeknöpft , die Strümpfe ausgezogen . "
Sie lächelte wie verträumt in sich hinein .
" Oh ... Oh ... Oh ... " , sagte sie leise , und in seligem Erinnern tat sie ihre freie Hand vor die Augen .
" Na , und dann kam das Ende .
Er wurde krank , im Kopfe krank ... er stand , gerade wie Sie , im Examen ... bei Virchow fiel er durch . "
Und auf seinen erstaunten Blick hin :
" Ich weiß Bescheid !
... Und nun kam sein Vater an und fand ihn bei mir !
... Was hat der Mann getobt !
... Er wollte ihn sofort mitnehmen ! ...
Aber da hätten Sie Meinen sehen sollen .
Ohne mich ginge er nicht mit , und dabei blieb er .
Der Alte mochte schreien , soviel er wollte .
Und schließlich fuhren wir alle drei in sein Dorf .
Er war schwerkrank und besinnungslos , als wir ankamen , aber meine Hand hielt er immer fest .
Ich sage Ihnen , der Alte hat ihn so krank gemacht , nur der Alte !
Sie können sich vorstellen , wie ich da ankam !
Wie seine Mutter und seine Schwestern mich angeglotzt haben !
... wie so_ein Meerwunder haben sie mich angeglotzt !
... Sie waren aber nicht schlecht zu mir , das kann ich nicht behaupten , denn sobald er zur Besinnung kam , sagte er nur :
» Ihr müßt sie gut behandeln , hört Ihr ? « ...
Nur der Alte " , sie zuckte bei diesen Worten heftig in seinem Arm , und ihr Gesicht wurde rachsüchtig und verzerrt , " wie ist dieser Schubiack gegen mich gewesen !
... Ein verdorbenes , schlechtes Frauenzimmer hat er mich genannt ...
Ich ... ich ... hätte seinen Sohn ruiniert ... gezetert und geschrien hat er ... und Meiner lag da , fieberte und konnte kein Glied rühren .
Die Frauen hatten ihre Not , daß er sich nicht an mir vergriff ... daß er mich nicht prügelte ... ich durfte nicht mit ihm an einem Tische sitzen .
Wie ein Hund bekam ich extra meinen Napf ! "
In der Erinnerung an den ihr angetanen Schimpf glühte ihr Gesicht vor Zorn und Haß .
" Na , ich will Sie mit dem ganzen Quark nicht zu lange behelligen .
Schließlich , begann Meiner zu toben , und der Alte erklärte , er sei geisteskrank und müßte in eine Anstalt ... Punktum , Sela !
... Sie haben ihn denn auch eingesperrt ... und mich haben sie wie einen räudigen Hund aus dem Hause geprügelt .
Ich setzte mich auf die Bahn und fuhr nach Hause .
Wie die mich aufgenommen haben ! "
Sie lachte wild und höhnisch in sich hinein ...
" Wie die mich in meinem Zustand aufgenommen haben !
Geprügelt haben sie mich , Vater und Mutter !
Mit den Fäusten und dem Knieriemen ist er auf mich losgegangen ...
Und meine Schwestern ! -
Wenn damals einer für mich 'n gutes Wort gehabt hätte ... 'n einziges , gutes Wort !
... Na , ich bin wieder nach Berlin gefahren und habe mich hier eingemietet . "
Sie machte eine kleine Pause und holte tief Atem .
" Die Finger habe ich mir blutig und wund gearbeitet , bis das Kind kam . "
Wieder stockte sie - und nun wimmerte sie :
" Was war das für ein süßes , kleines Kind !
... Was hatte das für Ärmchen und Händchen !
... Was hatte das für runde Engelsbeinchen . "
Sie stöhnte in sich hinein .
Dann hob sie die Achseln ein wenig empor .
" Du lieber Gott , wo sollte ich mit dem Kinde bleiben ?
Ich mußte ja den ganzen Tag aus dem Hause und arbeiten .
Ich brachte es zu einer Frau , die es mir - " , und jetzt schluchzte sie wirklich auf , " ... die es mir zu Tode gepflegt hat ...
Und nun kommt das Ende .
Sie wollen wissen , was aus ihm geworden ist !
.. .
Die Aasbande hatte ihn direkt nach Amerika geschafft .
Das bekam ich heraus ...
Wie sie es angestellt haben , ist mir heute noch ein Rätsel ; denn der Mensch hat an mir gehangen , Sie dürfen es mir glauben , Herr !
... Und nun schrieb ich einen Brief nach dem anderen an das deutsche Konsulat !
... Kennen Sie die Hedwigskirche ?
Ganze Nächte habe ich da draußen auf den Fliesen gelegen , und vor der Mutter Maria habe ich gebetet und geheult den ganzen lieben Tag und die ganze lange Nacht , daß ich von drüben eine gute Antwort bekäme .
Ich bin nämlich eine Katholische .
Für irrsinnig haben mich die Menschen gehalten .
Einmal in der Nacht hat mich 'n Schutzmann draußen vor der Kirche aufgegabelt und auf die Wache gebracht ...
Am anderen Abend fand er mich wieder ...
Na , schließlich kam die Antwort : Gestorben !
... Hören Sie ?
Ist er denn nun wirklich gestorben ? "
Sie ließ Thomas ' Arm los und lehnte sich an die Mauer eines Hauses .
Das gelbliche Mondlicht fiel auf ihr zerstörtes und vergrämtes Gesicht .
Thomas stand zitternd vor ihr und brachte keinen Laut hervor .
Dieser Jammer zerschnitt ihn und machte ihn wortlos .
Als sie sich endlich gefaßt hatte , irrte ein Lächeln um ihren breiten Mund , das ihn geradezu erschütterte .
" Sehen Sie " , sagte sie , " das war das Ende !
... Seitdem habe ich keinen Glauben mehr , an nichts , an niemanden !
Und nun , gute Nacht ! "
Sie reichte ihm ihre schmale Hand .
" Wo wohnen Sie , Herr ? "
Er nannte seine Adresse , und bevor er noch etwas hinzufügen konnte , war sie davongejagt ...
Dieser Abend sollte für das ganze Leben des Thomas Druck verhängnisvoll werden. XXII .
Es blieb nach dem letzten heftigen Streite unter den Freunden ein beträchtlicher Rest von Verstimmung zurück .
Thomas hatte wohl gesagt :
" Kinder , es ist Unsinn , wenn wir uns das Leben sauer machen !
Das , was uns trennt , ist verhältnismäßig gering und sogar notwendig , wenn wir uns gegenseitig fördern sollen .
Das , was uns zusammenhält , muß andererseits stark genug sein , um Mißstimmungen dauernd zu bannen ! "
Man gab ihm hierin wohl recht , aber man blieb dabei , daß seine Taktik falsch sei und das Emporkommen des " Festsaals " hemme .
Er nahm es ruhig hin , ohne von seiner Festigkeit auch nur einen Deut aufzugeben .
Er war jetzt von zu vielen Dingen in Anspruch genommen .
Ganz im stillen neben seiner Redaktions- und schriftstellerischen Arbeit legte er die Stationen seines Examens zurück .
Niemand wußte davon .
Die Notwendigkeit eines abgeschlossenen Berufes war ihm selbst in seinen Sorgen klar geblieben .
Die Einnahmen aus dem " Festsaal " waren kläglich .
Er begann mit dem Pfennige zu rechnen .
Seine Kleidung war armselig und dürftig .
Er trug nur noch Wollwäsche , weil er die Kosten für die Reinigung von Kragen , Manschetten und Vorhemden nicht mehr aufzubringen vermochte .
So oft er den Weg zum Examen antrat - und dies geschah immer in Zwischenräumen von mehreren Wochen - lieh er sich einen Frackanzug , den er gleich in dem betreffenden Geschäfte anzog , damit sein Tun verborgen bliebe .
Am meisten Sorge machten ihm die Examenkosten .
Er schämte sich um dieser Ausgabe Willen vor den Freunden .
Er kam sich beinahe wie ein Dieb an dem gemeinsamen Vermögen vor .
Dazu kam noch die Angst um Heinsius , der immer mehr kränkelte und abfiel , ohne daß er sich zu einer vernünftigen Lebensweise bewegen ließ .
Er hatte eines Tages unwirsch und brummig seine sieben Sachen gepackt , um sein Quartier zu wechseln .
Thomas hatte ihm zuerst erstaunt zugesehen .
Als er ihn dann fragte , was das alles zu bedeuten habe , antwortete ihm der Volksschullehrer kurz und grob : " Sie kontrollieren mich zu sehr !
Sie sind Medizinmann , und das Gelichter kann ich nicht vertragen ! "
In Wahrheit verließ er die gemeinsame Mansarde , weil er seinen körperlichen Verfall ganz deutlich wahrnahm und für Thomas die Gefahr der Ansteckung fürchtete .
Er hatte mit der Brose zuerst darüber gesprochen , und sie hatte ihn in seinem Vorhaben bestärkt .
" Ich will niemandem dankbar sein " , murrte er , um jeden Verdacht zu zerstreuen , als ob ihn ein Gefühl von Güte leite .
Trotz aller auf ihn einstürmenden Nöte und Kümmernisse ging Thomas aufrecht und gerade .
Er speiste seit einiger Zeit zur Verwunderung und Betrübnis der Brose und Maria Werft allein .
Einen Tag nach jener Begegnung in der Heilsarmee hatte er von dem Mädchen ein paar Zeilen erhalten , denen zwanzig Zehnpfennigmarken beigelegt waren .
Sie wohnte draußen dicht am Kreuzberg in der Hornstraße 11 in einer Kammer des vierten Stockes .
Ihr Name war Katharina Dirckens .
Zuerst hatte er die Geschichte als ein flüchtiges Erlebnis betrachten wollen .
Aber bald wurde es ihm klar , daß es sich hier für ihn um etwas handelte , das von seinem ganzen Menschen Besitz genommen hatte .
Er hatte während dieser Tage nicht arbeiten können .
Ihr Schatten folgte ihm auf Schritt und Tritt .
Auch sie stellte für ihn einen Teil des Volksgrames dar , ein Stück vom Leiden des gequälten Volkes .
Es ist nicht allein das Mitleiden , sagte er zu sich selbst , betrüge dich doch nicht !
Ich fühle ihre Augen - ich empfinde ihre schmalen Hände !
Und in all seinen Sorgen erfüllte es ihn mit fremder Freude , wenn er sich daran erinnerte , daß ihr Atem ihn getroffen , und daß sie ihn flüchtig berührt hatte .
Und so eine nennen sie verloren ... eine Stimme in ihm rief laut : das ist eine , an der die anderen schuldig sind . -
Dann hatte er sie eines Abends abgeholt , und von nun an speisten sie gemeinsam in einem vegetarischen Restaurant in der Nähe der Dorotheenstraße .
Dort nämlich arbeitete sie .
Das Mädchen begann auf ihn immer stärker zu wirken .
Sie stieß ihn ab , wenn sie Gott und die Welt lästerte ; aber sie zog ihn um so fester an , wenn er sie in ihrem zerstörten und bis auf die Wurzel bitteren Empfinden betrachtete .
Einmal sagte sie heftig zu ihm :
" Sie haben gut reden !
Was ist Ihnen denn im Leben Arges zugestoßen ?
Sehen Sie mir an ! "
Nie hatte ihn ihr falsches Sprechen so beunruhigt und verletzt wie in dem Augenblicke , wo sie sich über ihr Schicksal beklagte .
Aber gleich darauf schalt er sich : das ist ja geistiger Hochmut , fuhr er sich an .
Was liegt denn wirklich daran , ob einer " mir " oder " mich " richtig anwendet !
Das flachste Geschöpf kriegt ja das in seinen Schädel .
Unmittelbar darauf zuckte er zusammen , als sie das Messer zum Munde führte und ableckte .
Er wollte sie darauf aufmerksam machen , unterdrückte es jedoch .
So ein polierter Kulturmensch bin ich !
... Ist sie darum weniger ?
Er kam zu dem Schlüsse , daß die ganze Erziehung , alle besseren Gewöhnungen nur zu unverschämten und anmaßenden Urteilen führten .
Dennoch konnte er nicht ganz Herr über sich werden .
Zuweilen brauchte sie starke und gemeine Ausdrücke , und dies geschah besonders häufig , wenn sie von dem Vater ihres Geliebten , oder von ihren eigenen Eltern sprach .
Dann trat überhaupt auf ihr Gesicht ein roher , tierischer Ausdruck .
Ihre Sprache wurde zischend :
" Die Hunde , die Sippe ! " brachte sie grimmig hervor , unfähig , sich zu beherrschen .
Es verstimmte ihn wohl - aber aus allem fühlte er doch nur ihr Leid heraus .
Mit einem schlauen Fraueninstinkt merkte sie rasch , wodurch sie ihn sich entfremdete .
Sie sagte dann zu ihrer Entschuldigung :
" Ich kann nichts dafür ; so wie ich bin , haben mich die anderen gemacht ! "
Und in Trotz und Härte blickte sie ihn dabei an .
In dieser Zeit bewahrte sie völlig ihre Unabhängigkeit .
Niemals durfte er für sie bezahlen .
Auch suchte sie sich vor ihm zu bezähmen und in Schranken zu halten .
Oft sprach sie kein Wort .
Sie nahm nur seine Hand und streichelte sie wie am Abend ihrer ersten Begegnung .
Am Fortgang seines Examens nahm sie ein auffallendes Interesse , nicht selten frappierte sie ihn durch ihre kundigen Fragen .
" Nehmen Sie sich nur vor Virchow in acht !
Das ist ein sauberer Herr , der läßt die meisten durchfallen ! "
Dazu lächelte er nur .
Ein fremdes Rauschempfinden durchdrang ihn .
Ich liebe sie gewiß nicht in dem Sinne , was man Liebe nennt , wähnte er .
Dennoch fühlte er sich in ihrer Nähe glücklich .
Sie hatte eine merkwürdige Art , ihn an sich zu locken .
Sie ahnte es gleichsam , daß ihr Kummer ihn drückte , daß er freudig wurde , wenn ihre Miene sich einmal flüchtig aufhellte .
Sie merkte , daß er verwirrt und unsicher wurde , wenn sie ihn mit ihren dunklen Augen verlangend anblickte .
Sie fühlte ganz deutlich , daß er einsam war wie sie und nach Wärme sich sehnte .
Und sie fühlte , daß von ihr Wärme zu ihm drang ... Sie begannen , sich aneinander zu gewöhnen .
In ihm stieg ein Wunsch auf , der langsam von ihm Besitz nahm .
Was müßte das für eine Seligkeit sein , wenn man diesem zerbrochenen , armen Wesen die Ruhe , den Frieden , die Güte , das Glück wiedergeben könnte ...
Und der Gedanke verließ ihn nicht mehr .
Er wuchs und wuchs bei Tag und bei Nacht .
Er ergriff jede Faser von ihm , er reifte in dem dunklen , unergründlichen , fruchtverlangenden Erdreich seines Herzens .
Ich tue es ja nur um meiner selbst Willen , sagte er , als wollte er sich rechtfertigen und freisprechen , wenn ich sie loslöse aus schwerer Vergangenheit !
Was gibt es denn Reicheres und Besseres , als wenn man einen Menschen hat , dem man alles sagen kann , in dessen Nähe alle Last und Bürde für Stunden wenigstens von einem fallen .
Danach habe ich gehungert und gedürstet all die Jahre .
Und er empfand deutlich , wie einsam er immer gewesen war , glücklos bei seinen Arbeiten .
Die einzige Erfüllung besteht ja nur darin , daß man einen anderen befreit .
Das ist der tiefste Sinn des Lebens und der Liebe . - -
Und diese Tage ihres Beisammenseins fand er doppelt schön , weil keine Seele darum wußte .
Eines Nachts brachte er sie spät heim .
Schweigend hatten sie den Weg zurückgelegt .
Mit schweren Händen schloß er das Haustor auf ... sein ganzer Körper war in Aufruhr ... und plötzlich flirrte es ihm vor den Augen ... er beugte sich zu ihr und küßte sie sanft auf ihren weichen , geschmeidigen , braunen Hals .
Als er aufsah , trafen sich ihre Blicke .
Sie stand zitternd und leuchtend vor ihm .
An diesem Abend schieden sie wortlos .
Unterwegs flüsterte er mit heißen Lippen beständig vor sich hin : Katharina Dirckens ...
Katharina Dirckens ... XXIII .
" Sie lassen sich ja gar nicht mehr sehen " , sagte der Dichter Liers zu Abraham Gebhardt .
Sie standen auf dem Rondell des Potsdamer Platzes und blickten in das Menschengewühl und Wagengewirr .
" Arbeit , Arbeit " , entgegnete der Musiker und schüttelte seine blonden Locken , während es in seinen durchsichtigen Augen zukunftsfroh leuchtete .
Er nahm den Dichter unter den Arm .
" Kommen Sie , wir gehen zu Josti und trinken eine Tasse Kaffee . "
Nur mit Mühe bekamen sie ein Plätzchen .
Sie zündeten sich eine Zigarette an und bliesen den feinen Dampf von sich .
Neidisch und traurig meinte der Dichter :
" Also Sie arbeiten so viel ? "
" Ja , denn » Das Reich der Freude « geht seiner Vollendung entgegen .
Ich bin beim dritten Satz .
Wenn ich fertig bin , müssen Sie mir einen Text schreiben . "
" Ich ?
- Bedaure ... bedaure lebhaft ! "
" Sie müssen ! "
" Lieber Freund , dann werden Sie diese Oper nie komponieren . "
" Weshalb denn nicht ? "
" Weil ich ... nicht arbeiten kann . "
Abraham Gebhardt bückte forschend auf .
" Unsinn !
... nicht können !
... raffen Sie sich auf ! "
Liers verzog seinen Mund unendlich schmerzhaft .
" Ich arbeite , ... ich arbeite unaufhaltsam ...
Was habe ich für Phantasien ... was höre ich für Töne ! "
" Nun also ! "
" In meinen Träumen ! "
" Das sind Dummheiten ! "
" Ich kann nichts aufschreiben , nicht eine Zeile !
Jetzt weniger denn je ...
Wenn wir erst das freie Genußrecht haben - dafür schwärme ich nämlich - so bin ich geborgen .
Der einzige vernünftige Zustand , wenigstens für die Dichter , daß man genießen kann , ohne den Nachweis der Arbeit führen zu müssen . "
" Was sind das für Sachen , die sich im » Festsaal « abspielen ? " fragte Gebhardt unvermittelt .
" Lesen Sie denn das Blatt regelmäßig ? "
" Natürlich !
Ich freue mich jeden Sonnabend darauf .
Was die Kerle leisten ... ich bin erstaunt .
Man muß seine sieben Gedanken zusammenfassen , wenn man ihnen folgen will .
Da ist doch wenigstens Selbständigkeit und eigenes Denken , auch wenn man oft anderer Meinung ist .
So ein Bursche wie der Fründel , woher hat er denn das eigentlich ? "
" Diese Leute arbeiten " , sagte Liers trocken .
" Sie arbeiten ... arbeiten !
Übrigens , was Ihre Frage anbelangt :
man wühlt gegen Thomas Track .
Nicht aus Niedertracht , sondern tatsächlich aus Prinzipienreiterei .
Sie können es nicht begreifen , daß ein Mensch milde und rein ist .
Das ist der einzige , der mir wirklich imponiert . "
Der Musiker war sehr nachdenklich geworden .
" Das Wertvollste und Tiefste im » Festsaal « ist unbedingt von ihm .
Er ist auch derjenige , für den der Name des Blattes nicht bloß Name ist .
Alles bei ihm ist selbständig .
Auch Form und Stil haben ihr eigenes Gepräge .
Das fühlen eben die anderen heraus !
Kann sein , daß hinter den Quengeleien eine gewisse Mißgunst steckt !
Notabene , ich weiß es nicht .
Was geht es mich auch an ? "
" Ich finde das erbärmlich !
Übrigens , was macht er denn ? "
" Das weiß eigentlich niemand recht !
Man sieht ihn seltener denn je .
Allerhand Dinge werden so gemunkelt !
Ob etwas Wahres daran ist , wer will das wissen ! "
" Ein Frauenzimmer ? "
" Hm , hm ... "
" Man sollte die Weiber der Reihe nach aufhängen " , knurrte Liers .
Abraham Gebhardt ging auf die Bemerkung nicht ein .
" Ich dachte " , sagte er langsam und betrachtete dabei aufmerksam seine Fingernägel , " zwischen ihm und der Geigerin , Sie erinnern sich wohl , bestände etwas . "
" Es scheint doch nicht so " , entgegnete Liers und blinzelte den Musiker prüfend an .
" Sie haben ganz recht , mir ist das Mädchen nicht mehr aus dem Kopf gegangen . "
Der Dichter schwieg eine Weile .
" Ach , mein Lieber , das ist ein feiner Punkt ! "
Sein müdes , hübsches Gesicht legte sich in Falten .
Was ist das für ein schöner Mensch , dachte Gebhardt im stillen und betrachtete die fein geschnittenen Züge .
Liers klopfte mit einem Geldstück an die Tasse , und ohne jeden Zusammenhäng bemerkte er :
" Niemand ist mir so verhaßt und unangenehm wie dieser Fründel .
Der Mensch ist mir widerwärtig nach jeder Richtung hin .
" Was macht denn Ihre Frau ? "
" Sie päppelt mich ! "
Es zuckte um seine Lippen .
" Adieu !
Sie haben heute einen schlechten Tag . "
Das Gespräch hatte ihn nervös gemacht .
In sein " Reich der Freude " brachte dieser Ton einen Mißklang .
" Adieu ! " sagte auch der Dichter. XXIV. Ganz unerwartet erschien eines Tages Katharina Dirckens in Begleitung von Thomas " auf der Bildfläche des » Festsaals « " .
Thomas gab keine Erklärung ab .
Aber alle fühlten sofort , daß zwischen beiden eine innere Beziehung vorhanden war .
Katharina benahm sich scheu und mißtrauisch .
Sie sprach an dem Abend des ersten Beisammenseins so gut wie nichts .
Sie gab auf die Fragen , die man an sie stellte , nur einsilbige Antworten .
Es schien , als ob sie jeden in diesem Kreise als ihren Feind ansah .
Thomas bemerkte peinvoll , daß eine fremde , kalte Stimmung sich zwischen ihr und allen anderen auftat .
Er fand , daß man nicht gütig genug gegen sie war und sah darin eine Geringschätzung gegen seine eigene Person .
Was wollen sie denn von ihr , dachte er zornig , sie betrachten sie ja wie einen Eindringling .
Die Brose starrte stumm auf das fremde Mädchen , als wollte sie es durchbohren .
Katharina fühlte sich unbehaglich .
Sie beugte sich zu Thomas .
" Was will die eigentlich von mir ? "
Er blickte zur Brose hinüber .
Die sah traurig und gedrückt aus .
Sie mied ihn , erhob sich dann rasch und ging fort .
Thomas und die Dirckens folgten ihr bald .
Unterwegs stieß sie bebend hervor :
" Diese Menschen hassen mich alle , ich fühle es ganz deutlich . "
" Nein , nein " , beruhigte er sie .
Aber sie blieb dabei und ließ es sich nicht ausreden .
Und nun gab sie sich einem verbissenen Schweigen hin und hörte kaum auf das , was er zu ihr sprach .
Ihre Miene erhielt etwas Verschlagenes .
Hart über ihrer Nasenwurzel bildete sich eine scharfe Falte .
Allerhand unruhige Gedanken bewegten sie .
Davon war sie überzeugt , daß man sie hier nicht mochte ; sie fürchtete sich besonders vor der Brose .
Und wieder sagte ihr ein untrügbares Gefühl , daß diese Frauensperson dem Thomas Druck im stillen zugetan war .
In einem bösen , häßlichen und triumphierenden Lächeln verzog sie ihren breiten Mund .
Sie ging alle der Reihe nach durch .
Der einzige , den sie nicht als Widersacher empfand , war Fründel .
Ob die Menschen auf ihn großen Einfluß haben ? grübelte sie , und sie sann darüber nach , wie sie allen Anschlägen vorbeugen könnte ; denn davon war sie fest überzeugt , daß von hier aus etwas gegen sie unternommen werden würde .
" Mir tut von dem ewigen Nähen die Brust so weh " , sagte sie endlich .
" Zehn Stunden nähe ich so den Tag über , das halte einer aus ! "
" Zehn Stunden ? " ...
Wieder gingen sie stumm durch die Straßen .
" Gib mir deinen Arm " , bat er .
Sie tat es und schmiegte sich eng an ihn .
Sie fühlte , wie er jedesmal unter ihrer Berührung gleichsam zusammenschrak .
Und diese Erkenntnis schuf ihr Freude .
Wie Wachs ist er ...
So weich ... so unverdorben ...
Sie , die durch das Leben gegangen und tief in seinen Strom untergetaucht war , kam sich ihm so überlegen vor , als die Stärkere , als die Kräftigere , die nur zuzugreifen brauchte , um von ihm Besitz zu nehmen .
Über alles das war sie sich völlig klar .
Dennoch hatte sie sich die ganze Zeit bezwungen .
Seine Reinheit flößte ihr unwillkürlich Scheu und Zurückhaltung ein .
Es war ihr auch , als ob sie ihren Weg langsam gehen müßte , um an das Ziel zu gelangen .
Nur ganz unbestimmt und fern sah sie es .
Sie wagte es nicht , sich an ihr Wünschen zu gewöhnen .
Es kam ihr oft geradezu lächerlich und verwegen vor .
Dann wieder hatte sie eine wilde Freude , wenn sie dabei an die zu Hause dachte ... die Augen würden sie aufreißen ... aber sie wollte ihnen die Zähne zeigen und vor ihnen ausspeien .
Ja , das wollte sie .
Der ganze Körper wurde ihr siedend heiß .
Es brannte ihr unter den Füßen .
Ich bin ja verrückt !
... wenn er das merkte ?
... Da nahm er auf einmal ihre Hand :
" Du ... du ! "
Ihre Pupillen bewegten sich unruhig .
Er sah es .
Sie schienen ihm einmal verschleiert , dann wieder lag leuchtender Glanz über ihnen wie Tau auf den Gräsern .
" Du " , begann er von neuem , " morgen mache ich die letzte Station . "
Er hielt inne - Sie aber gab keinen Laut von sich .
In ihm war alles ernteschwer , wie ein im Winde wogendes , volles Ährenfeld ... in ihm war ein so unendliches Verlangen nach Glück ...
Er hatte es ihr erst morgen sagen wollen .
Aber es schmerzte ihn , daß man gegen sie lieblos und hart gewesen war ... Niemand , niemand , sollte sie mehr verletzen ... er , er wollte wieder gut machen , was an ihr gesündigt war .
Und nun richtete sie bange und erwartungsvoll die dunklen Augen auf ihn .
Da kam es aus ihm heraus in kurzen , abgehackten Sätzen , stoßweise : ob sie mit ihm zusammengehen ... alles , alles mit ihm teilen wollte ...
Sie begriff ihn nicht .
Jetzt , wo es Wahrheit wurde , begriff sie ihn nicht .
Sie glaubte , das Herz stünde ihr still .
Ein tiefes Mißtrauen zog in ihr ein .
Das ist alles nicht wahr , sagte sie zu sich selbst , das kann nicht wahr sein .
Das ist ein böser , schlechter Traum .
Ihr graute vor dem Wachwerden .
Sie konnte es nicht zu Ende denken .
Sie hatte ihn falsch verstanden , seine Worte anders ausgelegt in ihrem Übermut .
So , so war es .
Sie schielte ängstet zu ihm hinüber .
Aber es lag in ihrem Blicke noch ein anderes : etwas Lauerndes , Katzenhaftes , etwas zum Sprung Bereites .
In tiefer Furcht fragte sie kaum hörbar :
" Warum quälen Sie mich ? "
Da wiederholte er es noch einmal .
Und nun begann es vor ihr zu flimmern ... alles ging durcheinander , so daß sie nichts mehr zu scheiden vermochte .
Endlich brachte sie mühsam und mit äußerster Anstrengung hervor :
" Mich willst du ?
... Du willst mich wirklich ?
... Und nicht bloß so ?
... vor aller Welt willst du mich ?
... mich ?
... mich ... ? "
Der Kopf drohte ihr zu springen .
" Dich will ich vor aller Welt ! "
Da legte sie ihre beiden Hände an die Schläfen und fing plötzlich leise zu weinen an .
Ihr war es , als müßten in der nächsten Sekunde ihre Augen zu Boden fallen ... ihre Augen , die all das Glück nicht mehr zu sehen vermochten .
Sie duckte sich auf einmal zu ihm herab und küßte seine Hände ... ihr Rausch machte sie demütig .
" Nicht doch , nicht doch ! "
Als sie wieder in aufrechter Haltung war , sagte sie :
" Du ... du ... laß mich jetzt allein ! "
In ihrem Ton lag ein flehentliches Bitten .
Er nickte stumm .
Sein Gesicht war ganz blaß .
Seine Fingerspitzen klopften .
Es hämmerte an seinen Schläfen .
Lange blickte er ihr nach , bis sie in dem Dunkel verschwunden war .
Sie jagte nach Hause .
Sie war im Taumel .
Atemlos stürzte sie die Treppen hinauf ...
Sie weckte die Wirtin aus dem Schlafe .
Die Frau brummte wütend , bis ihre Neugier rege wurde .
Sie mußte aufstehen , sich einen Rock überwerfen , die Lampe wurde angezündet , und nun mußten Karten gelegt werden .
Ihr ganzes Portemonnaie hatte sie ihr vorher in die Hände geschüttet .
Sie saß vornübergebeugt auf der Tischkante und horchte andächtig auf jedes Wort .
Es stimmte alles bis aufs I-Tippelchen !
Über sie war das namenlose Glück gekommen .
Und noch einmal mußte die Wirtin die schmutzigen Karten vor ihr ausbreiten , und bei dem trüben , flackernden Licht der übelduftenden Lampe versenkte sie sich in ihre Zukunft .
Plötzlich richtete sie sich auf und strich mit einer energischen Bewegung das widerspenstige , schwere Haar zurück .
Ihr Gesicht bekam etwas Stählernes .
" Wirtin , nun hat das Elend ein Ende ! "
Die Frau sah sie erstaunt an .
Das Mädchen kam ihr so verändert vor .
Aber Respekt flößte es ihr ein , unbedingten Respekt .
" Wirtin " , begann Katharina von neuem , " ziehen Sie sich an !
Ich muß ins Freie ! "
Die Zimmervermieterin fand nichts mehr merkwürdig .
Sie machte liederlich Toilette , zog einen Umhang über die Schultern und setzte einen geschmacklosen Hut mit roten , knalligen Mohnblumen auf . -
Ein Wachsstreichholz wurde angezündet , und die Frauen eilten die Stiegen herab .
In großen Schritten setzte man sich in Bewegung .
Katharina wollte durchaus in das Café am Belle-Allianceplatz , wo sie am ersten Abend mit Thomas Druck gewesen war .
Erhitzt langte man an .
Sie ließen sich erschöpft auf ein schmales , rotes Plüschsofa nieder .
Katharina bestellte Glühwein .
Ihre Stimme klang selbstbewußt und herausfordernd .
Sie stießen an und tranken in heißer Gier .
Sie bestellte immer mehr ; sie konnte gar nicht genug bekommen .
Sie wurde aufgeregt und lustig , und nun erst kam eine tolle , maßlose Freude über sie .
Am liebsten hätte sie zu tanzen begonnen .
Der Wein rumorte in ihren Gliedern .
Sobald die Gläser leer waren , winkte sie dem Kellner .
" So eine Nacht kommt nie mehr " , lallte sie weinselig .
Endlich nötigte die Wirtin zum Gehen .
Sie konnte sich vor Müdigkeit und Schwere nicht mehr halten .
" Wir nehmen eine Droschke " , tröstete das Mädchen .
Der Kellner lachte hinter ihnen her , als sie das Café verließen .
" Die kann trinken " , meinte er zur Buffetmamsell .
" Donnerwetter , noch 'n Mal ! "
Als sie schon im Wagen saßen und der Gaul langsam und träge vorwärts humpelte , flüsterte Katharina der Wirtin ins Ohr :
" Er ist auch ein Doktor ! "
Und bei diesen Worten leuchtete es trübe und geheimnisvoll in ihren Augen auf .
Trotz des übermäßig genossenen Weines lag sie die ganze Nacht wach da und hörte das Schlagen ihres Herzens .
XXV.
Am Abend des folgenden Tages teilte Thomas den Freunden mit , daß er sein Examen als praktischer Arzt bestanden habe .
Es war für alle eine völlige Überraschung , die mit warmem Anteil und ehrlichem Respekt aufgenommen wurde .
Aber ihre Freude wurde um ein Erkleckliches gedämpft , als sie gleichzeitig erfuhren , daß er bereits in den nächsten Wochen die Katharina Dirckens für immer an sich ketten wollte .
Die Brose machte ein entsetztes Gesicht .
Und obwohl sie fühlte , wie sie ihn verletzte , vermochte sie doch nicht , sich Zwang aufzuerlegen .
Eine ätzende , schmerzhafte Bitterkeit ging durch seinen ganzen Körper .
Er war abgespannt und erschöpft von dem , was er in diesen Wochen geleistet und innerlich durchlebt hatte .
Er sehnte sich nach einem spärlichen Ausruhen , er sehnte sich nach Stille , Güte und Frieden .
Und nun kamen diese Menschen , an deren Seite er stritt und litt , und gossen über seine warme Freude eisig kalte Wasserstrahlen .
Das war also Kameradschaftlichkeit , die Treue , mit der man zusammenhielt !
Er pfiff darauf .
Alles war Trug und Wahn gewesen .
Man stand allein ... für sich allein ...
Am meisten grämte ihn das Verhalten der Brose .
Sie mochte ahnen , was in ihm vorging .
" Ich weiß " , sagte sie und holte schwer Atem , " daß uns diese Stunde vielleicht für immer auseinanderbringt .
Ich weiß es , und doch muß ich sprechen . "
Und während auf ihr strenges , nachdenkliches Gesicht ein bettelnder , hoffnungsloser Ausdruck trat , fuhr sie mühsam fort :
" Wenn es noch nicht zu spät ist , so hören Sie dieses eine Mal auf mich .
Machen Sie sich los , machen Sie sich um alles in der Welt von der Frau los ! "
Sie sah , wie sein Gesicht vor Zorn entstellt wurde .
Ohne sich dadurch beirren zu lassen , sprach sie weiter :
" Ich sehe Sie rennen in Ihr Unglück , mit sehenden , nein , mit blinden Augen rennen Sie in Ihr Unglück . "
" Ja , was ist denn das ! " schrie Thomas , und sein ganzer Unwille brach gewaltsam durch .
" Was wollen Sie denn eigentlich ?
Kennen Sie dieses Mädchen ? "
" Ich kenne sie genügend , um zu wissen , daß es Ihr Unglück ist " , entgegnete die Brose , indem sie zitternd seinen Blick ertrug .
" Sie kennen sie ? " fragte er verblüfft .
Die Brose nickte .
" Sie haben hinter mir herspioniert ! "
Sie schüttelte stumm und traurig den Kopf .
Er begriff diese Frauensperson nicht mehr .
" Was können Sie ihr denn zum Vorwurf machen ?
Daß sie unglücklich ist ? "
Die Brose bis sich einen Augenblick auf die Unterlippe und richtete sich ein wenig auf .
" Ich würde mit ihr Mitleid haben , wenn - wenn sie nicht Ihren Weg gekreuzt hätte . "
Und hastig , als fürchtete sie , er könnte sie unterbrechen , setzte sie hinzu :
" Dieses Mädchen ist verbraucht vom Leben ... sie ... sie ... " krampfhaft suchte sie nach einem passenden Ausdruck , " sie ist fleckig geworden .
Sie wird für Sie eine Last sein , die Sie zu Boden schleifen wird .
Ich sehe es ... ich sehe es ganz deutlich .
Ich dachte an etwas Reines , Schönes und Edles , wenn ich mir die Frau vorstellte , die ... " - sie hielt plötzlich inne , dann schloß sie kaum hörbar :
" Ich dachte an ein Mädchen , das wir durch Sie erst kennen lernten . "
Sie blickte jäh zur Seite .
Sie wußte , daß sie ihm nichts Schmerzhafteres hatte sagen können , und sie wollte jetzt nicht sehen , was auf seinem Antlitz vorging .
Er brachte keinen Laut hervor .
Alles in ihm war wund .
Sie hatte ihn an der Stelle getroffen , an die er nicht zu rühren gewagt hatte .
In dem Augenblicke glaubte er , daß er sie haßte und verachtete , und wieder sprach er zu sich :
Gibt es etwas Schlimmeres als Menschen untereinander ?
Alles rühren sie in einem auf .
Nur in sich selbst fand man einen Anker , nur in seiner Einsamkeit einen Hafen .
Alles andere war verlogen von Grund aus .
Alles andere ?
Eine beklemmende Verzweiflung ergriff ihn ... alles andere ?
... Und noch schlimmer erging es ihm bei Heinsius , den er bat , einer seiner Trauzeugen zu sein .
- " Sie wollen mich wohl zum besten haben ? " erwiderte er brüsk , und seine erweiterten , großen Augen , aus denen der Tod leuchtete , funkelten tief auf .
" Ich soll mich an Ihrer Riesendummheit mit meiner Person beteiligen ?
Nein , mein Lieber , dazu bringen Sie mich nicht !
Selbst wenn man ein Übermensch ist , begeht man solche Verbrechen nicht im Angesicht des Todes . "
Diese Worte brachten Thomas um den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung .
Er kaute beständig an seiner Lippe ...
Er rang mit sich selbst .
Er wollte sprechen , aber die Laute blieben ihm in der Kehle stecken , als ob sie auf unüberwindliche Hemmnisse stießen .
Die anderen bekamen Furcht und atmeten erleichtert auf , als es endlich bei ihm zum Ausbruch kam : " Seid ihr denn toll geworden ?
Bin ich denn ein Kind , das ihr bevormundet ?
Wollt ihr freien Menschen mich binden ? "
Er sah sich hilflos im Kreise um .
" Wenn ich nur wüßte , was ihr euch dabei denkt " , brachte er mühsam hervor und klammerte sich an die Lehne des Stuhles .
Ihm war es , als müßte er umfallen .
Und als er keine Antwort erhielt , entrang es sich ihm in einem Ton , der fast weinerlich und schluchzend klang : " Traut ihr mir denn nicht die Verantwortung für mein eigenes Handeln zu ?
Ist das die ganze Achtung , die ihr für mich übrig habt ? "
Heinsius sah ihn mitleidig an .
" Sie sind im Fieber , Sie wollen sich durchaus eine Suppe einbrocken , die giftig ist ! "
Er kam sich in diesem Kreise , wo alles von ihm abfiel , hundertfach verraten und verkauft vor .
Ihm wurde auch nicht leichter und froher , als er endlich eine Hilfe bekam , da , wo er sie am wenigsten erwartet hatte .
" Ich finde euch alle unverantwortlich und blödsinnig " , sagte der Mechaniker .
" Man kann und darf niemanden hindern , in sein Unglück zu gehen !
Was geht euch das an ?
Außerdem sehe ich gar nicht ein , daß ihr recht behalten müßt .
Und schließlich " , setzte er mystisch hinzu - niemand begriff mehr diese letzten Worte - , " konnte ihm vielleicht kein größeres Glück begegnen als dieses , sein Unglück . "
Thomas hatte ihm mit verzweifelter Aufmerksamkeit zugehört .
Was meint er mit dem Schluß , fragte er sich .
Aber gleich darauf fuhr er langsam mit der Hand über seine schwere Stirn .
Er sah sie alle , wie das in seiner Gewohnheit lag , erst eine volle Minute ruhig an , während seine Mundwinkel schlaff und vergrämt wurden .
Er machte mehrere Ansätze zum Sprechen und verschluckte immer wieder die Worte .
Auf einmal lächelte er , zog die Brauen ein wenig empor und sagte , Silbe für Silbe betonend : " Habt Dank für euren Glückwunsch . "
Dann griff er rasch nach seinem Hut und entfernte sich .
Dieses war die Verlobung des Thomas Track. XXVI .
Es wurde eine ganz stille Hochzeit , bei der nur die beiden Trauzeugen , Abraham Gebhardt und der Mechaniker Fründel , zu Gaste waren .
Das bescheidene Mal war in einem kleinen Restaurant der Friedrichstadt angerichtet .
Der Wirt hatte ein schmales Vereinszimmer hergegeben , in dem ein klappriges Klavier stand .
Der Musiker phantasierte zur Tafelmusik aus dem " Reiche der Freude " .
Der Mechaniker goß in die Gläser klaren goldenen Wein und hielt den folgenden Trinkspruch :
" Ich bin " , begann er , " bei einer Feier zu Gast , die ich immer von Grund aus tief mißbilligt habe .
Ich halte es an sich für vermessen , wenn zwei Menschen sich aneinander fesseln .
Aber diese Riesendummheit ist so oft gemacht worden , daß sie fast so alt wie die Erbsünde ist .
Ich glaube und hoffe , daß hier zwei freie Menschen einen Zwang auf sich nehmen , den sie nur so lange tragen werden , als er ihnen kein Zwang ist .
Das höchste Gebot in ihrer Ehe möge die Freiheit sein !
Darauf erhebe ich mein Glas und trinke auf Thomas Druck und Frau . "
Die Rede schien allen ein wenig taktlos , zum mindesten für die Gelegenheit nicht recht passend .
Dennoch stieß man an , und der Musiker fügte mit warmer Stimme und guten Augen hinzu : " Auf die Freude unseres Paares ! "
Die Dirckens hielt beständig die Hand von Thomas fest , als fürchtete sie immer noch , er könnte ihr abwendig gemacht werden .
Die ganzen letzten Nächte hatte ihr davor gebangt .
Die Wirtin hatte ihr Abend für Abend die Karten legen müssen .
Und erst als sie auf dem Standesamt ihren Namen unterzeichnet hatte , war es ihr wirklich eine Gewißheit ...
Man trennte sich sehr schnell .
Die Neuvermählten gingen langsam und erwartungsvoll ihrer Wohnung zu .
Es war die alte armselige Mansarde , in der man nun gemeinsam hausen wollte .
Aber eine Überraschung gab es da noch , als sie eintraten .
Draußen war die Entreetür reich mit Blumen bekränzt , und Thomas ' eigenes Zimmer war in einen Garten verwandelt .
Auf seinem Schreibtisch aber standen zwei Büsten als Hochzeitsgeschenk von den Leuten des Nachtlichts .
" Wer ist denn das ? " fragte die Katharina .
Und Thomas antwortete bewegt :
" Goethe . "
" Hm " , machte sie .
" Und der da ? "
" Sokrates . "
" Sokrates ?
Wer war denn das ? "
" Ein Heiliger " , entgegnete er sinnend , und noch einmal wiederholte er kaum hörbar :
" Ein Heiliger . "
Darauf erwiderte sie kein Wort , und er sah auch nicht , daß ihre Lippen in leisem Spott sich kräuselten .
Das Lager des Thomas Druck sollte nach wie vor das Sofa bleiben , während er seiner Frau das Bett überließ , in dem vorher Heinsius seine kranken , welken Glieder ausgestreckt hatte .
In dieser engen , niedrigen Mansarde , wo Sturm , Drang , Leid ihn geschüttelt hatten , hier bei seiner alten , stumpfen Wirtin , die den Herrn Doktor längst nicht mehr begriff , sollte sein Mannesglück wachsen ...
Das war der Inhalt seines langen Träumens. XXVII. Draußen vor dem Hause war ein kleines Schild angebracht , auf dem stand : Thomas Druck , prakt. Arzt .
Den Doktor hatte er nicht gemacht .
Er haßte den Titel .
Außerdem hätte es dazu auch nicht gereicht .
Man konnte das Geld besser brauchen .
Sie hatte sich darüber geärgert .
" Frau Doktor " klang so gut .
Er hatte sie nur ausgelacht .
" Frau Thomas Druck " muß klingen , darauf kommt es an ! Seinem Wesen war Eitelkeit im Innersten fremd .
Das Schild hing an dem Hause ; aber die Kranken ließen sich nicht blicken .
Was mußte das für ein " sonderbarer Medikus sein , der im vierten Stock in einem engen Zimmer , das Wohn- , Schlaf- , Eßgemach und Arbeitsraum darstellte , auf Patienten wartete !
Für die Sprechstunde hatte ihm allerdings die Wirtin das " Bettina-Zimmer " zur Verfügung gestellt .
- Er kam mit den Freunden jetzt seltener zusammen .
Nun alles vorüber war , fühlte er eine Todesmattigkeit .
Er kam sich so zerbrochen , so müde vor .
Manchmal fielen ihm die Augen zu mitten bei der Arbeit .
Das Leben war so schwer und für ihn jetzt so neu und anders .
Er lebte in Sorgen um sie .
Ruhe wollte er ihr geben und reines Denken .
Unter seinen Händen sollte sie neugeboren werden .
Freilich war ihm die Ehe etwas , an das er sich langsam und nur schwer gewöhnen konnte .
Wenn sie längst schlief und er noch mit offenen Augen dalag , beschlichen ihn Ängste und Zweifel .
Darüber konnte er sich nicht täuschen , daß ihre Naturen von Grund aus verschieden waren .
Und dennoch durfte er ihr nicht zeigen , daß ihre wilde Art ihn abstieß .
Alle Probleme lagen für ihn im Geistigen .
Er fühlte , daß er sinnenfroh war und schämte sich dessen nicht .
Aber durch sein ganzes Wesen ging ein tiefer Zug nach Meisterung und Veredelung , ein nie zu stillender Drang nach Bergeshöhen .
Hierin begriff sie ihn nicht .
Sie verstand überhaupt sein Schaffen nicht .
Was sollten denn diese nutzlosen Schreibereien , bei denen er sein ganzes Geld zugesetzt hatte ?
Sie trugen nichts ein und gefährdeten nur die Existenz .
Sie begann an ihm zu bohren .
Den ganzen Krempel sollte er fahren lassen .
" Das sind ja alles Hungerleider " , murrte sie ärgerlich , " von denen mußt du dich losmachen .
Du mußt dich richtig niederlassen , sonst wird es nichts mit einem regelrechten Einkommen . "
Er blickte sie groß und verwundert an .
Er setzte ihr auseinander , daß das gar nicht seine Absicht sei , daß er nur , um einen letzten Halt zu haben , seine Studien beendet hätte , daß sein ganzes Leben dem freiheitlichen Ideal gelte .
Sie hörte ihm ruhig zu .
Als er aber zu Ende war , entgegnete sie trocken : " Nimm mir es nicht übel , das ist überspannter Unsinn ! "
Das Wort traf ihn wie ein Peitschenhieb .
Er konnte es lange nicht vergessen .
Er suchte sie mit Güte zu überzeugen .
Er versuchte alles Erzieherische beiseite zu lassen .
Sie sollte aus sich selbst heraus zu den Dingen und Erkenntnissen kommen , die er ihr wünschte .
Sie rührte sich nicht .
Sie war erbost , daß er nicht auf sie hören wollte .
Er wurde gegen sich selbst widerborstig , wenn sein Mut sinken wollte .
Wie konnte er das von ihr verlangen !
Und immer wieder trieb er sich an , nachsichtig , nein , nicht nachsichtig , sondern geduldig und verständnisvoll zu sein .
Sie mußte wie ein Pflänzchen behandelt werden , das schon dem Eingehen nahe war , und das der Gärtner unermüdlich , auch wenn es zuerst allen seinen Bemühungen trotzt , hegt und pflegt .
Er merkte nicht ihren schlecht verhehlten Ärger .
Anstatt daß sie es endlich auch einmal so gut bekommen hätte wie die anderen , war sie in Armseligkeit und Entbehrung hineingeraten .
Die Schuld Maß sie seinem Eigensinn bei .
Er brauchte nur zu wollen , und es würde anders werden .
Sie beschimpfte ihn in ihrem Inneren .
Er kam ihr überhaupt so komisch vor .
Immer verglich sie ihn mit dem anderen , der sie mit seinen breiten Bauernhänden einfach gerüttelt hatte , wenn sie ihn quälen wollte .
Der hat ja gar keine Knochen , dachte sie voll Hohn .
Und manchmal zerbrach sie sich über sein wunderliches Wesen den Kopf und blinzelte verstohlen zu ihm hinüber , um ihn zu ergründen .
Die Leute vom " Festsaal " haßte sie aus ganzem Herzen .
Sie war außer sich , wenn Thomas zu den Redaktionssitzungen ging , die seit seiner Verheiratung bei der Brose stattfanden .
Als er eines Abends nach Hause kam , fand er sie nicht .
Er wartete und wartete , um mit ihr das spärliche Abendbrot zu essen .
Er wartete - und sie kam nicht .
Es wurde immer später und später .
Er begann furchtsam zu werden .
Er zündete keine Lampe an und gab sich ganz seinen einsamen Gedanken hin .
Es war ihm so schwer zumute , das Kämpfen wurde immer härter und dazu all die kläglichen Sorgen um das bißchen Brot .
Er selbst konnte ja hungern , ihm machte das nichts .
Für ihn gab es anderes , das tiefer herabdrückte - aber die Verantwortlichkeit für sie !
Nur durch die Liers hatte er Praxis .
Wo sie konnte , zog sie ihn hinzu .
Und nach arbeitssauren Tagen stellten sich dann noch die Nächte ein , die er gemeinsam mit der Hebamme durchwachte .
Meistenteils waren es nur arme Leute , bei denen er sich schämte , auch nur einen Groschen zu verlangen , trotz der Vorwürfe der Liers , die sich doch selbst auf das Geschäft nicht verstand .
Stundenlang saß er stumm mit ihr am Bette .
Die Liers stierte dann traurig vor sich hin und achtete sein Schweigen .
Diese dicke Person hätte sich eher die Zunge abgebissen , als daß sie eine Frage an ihn gerichtet hätte .
Einmal sagte er zu ihr aus dumpfen Brüten heraus :
" Liers , was ist das für ein Verbrechen , Kinder in die Welt zu setzen !
Woher nehmen die Menschen den Mut dazu ? "
Und nach einer Weile setzte er hinzu : " Ich begreife es nicht ! "
Die Liers verstand die Kunst des Zuhörens .
Sie erwiderte nichts .
Er wußte , daß sein wortkarges und einsilbiges Wesen allen aufgefallen war .
Und in dieser Stunde des vereinsamten Grübelns gestand er es sich selbst ein , daß er vor den Freunden sich verschloß .
Er lauschte auf .
Er glaubte Schritte gehört zu haben ... nein , es war Täuschung gewesen ...
Wieder versank er in Nachdenken .
Es klopfte zitterig an seine Tür .
" Herein ! "
Die Wirtin blieb mit einer kleinen Lampe am Eingang stehen .
" Soll ich Ihnen etwas zum Abend machen , Herr Doktor ? Nämlich " , setzte sie hinzu , " die Frau hat gesagt , sie käme vielleicht später . "
Er hörte kaum hin .
" Ich danke " , antwortete er freundlich .
Wieder wurde es dunkel um ihn .
Und in dem Dunkel tauchte ein Bild auf , das ihn peinigte .
Er schrie verwundet auf .
Er warf sich auf das Sofa und wollte schlafen , aber kein Schlaf kam über ihn .
Es wurde tiefe , tiefe Nacht ...
Am Ende ist ihr etwas zugestoßen ...
Und plötzlich warf er sich den Mantel um , setzte den Hut auf und stürzte hinunter ...
Vor dem Hause machte er ratlos Halt .
Wo sollte er sie denn suchen , wo denn ?
Das war ja Torheit !
... Wenn ihr wirklich etwas zugestoßen war ?
Nein ... nein ... nein , entgegnete er sich gequält .
Da zuckte er auf einmal empor .
Er sah etwas auf sich zuschreiten ...
Eine Gestalt , die hin und her schwankte ...
Das konnte sie doch nicht sein ?
Er ging mit großen Schritten auf sie zu ...
Ein entsetzlicher Geruch drang ihm entgegen ...
Das sind Halluzinationen ... ich halluziniere , sagte er zu sich selbst .
Geruchshalluzinationen !
.. .
" Bist du es ? " stammelte er .
Sie hängte sich schwer an seinen Arm .
Er mußte sie förmlich vorwärts schleppen .
Der furchtbare Geruch verließ ihn nicht mehr .
Sie gab nur lallende Antworten .
Da hörte er auf zu fragen .
Er selbst bewegte sich nur mühsam .
Er war wie betäubt .
Als ob ihn jemand zu Boden geworfen , und als ob er das Bewußtsein verloren hätte .
Er zerrte sie die Treppen hinauf und kam keuchend oben mit ihr an .
Die Fenster öffnete er weit .
Er brachte sie zu Bett und stöhnte in sich hinein .
Dann verließ er das Haus und jagte durch die Finsternis .
Und diese ganze Nacht irrte er obdachlos umher ... Erst als der Morgen graute , trat er zerschlagen den Heimweg an. XXVIII. Von dem Tag an war sein Leben zerstört .
Es geschah nun häufiger , daß sie einfach fortblieb und in solchem Zustande heimkehrte .
Allen seinen Vorstellungen setzte sie ein stumpfes Lächeln entgegen .
" Werde du anders , denke an dich und mich , so könnte ich es am Ende ebenfalls versuchen ! "
Und auf seine Frage , wo sie eigentlich gesteckt , antwortete sie jedesmal :
" Bei meiner Wirtin !
Ich langweile mich bei dir !
Ich muß auch meine Abwechslung haben , schließlich bin ich auch ein Mensch ! "
Da gab er es in tiefer Verzweiflung auf , sie zu wandeln .
Jeden Groschen mußte er vor ihr verbergen .
Sie durchsuchte seine Taschen und bestahl ihn .
Eines Tages ging er zu ihrer früheren Wirtin .
Er wollte klar sehen .
Er wollte jetzt alles wissen .
Die Frau empfing ihn unterwürfig und geziert .
Stockend , schamrot begann er seine Untersuchung .
Die Zimmervermieterin hörte gleichmütig und ohne Erstaunen zu .
" Ach " , sagte sie und legte die Hände auf ihre Knie , " das is ' ne alte Jeschichte , die kann_es Trinken nicht lassen !
Die brauche man bloß den Alkohol zu riechen - und vorbei is es mit ihr .
Nicht 'n Jroschen hat das Mägen jespart . "
Und gleichsam entschuldigend setzte sie hinzu : " Das hat sie noch von ihren Unjlück her .
Damals hat sie sich wohl daran jewöhnt . "
" Wie konnte sie dann arbeiten ? "
Er wagte nicht , die Person anzusehen .
" Wissen Sie , so doll wie jetzt hat sie es ja dazumal auch nicht treiben können .
Auch hat sie 'n paarmal deswejen ihre Stelle verloren . Nun is se riesig jeschickt und kann was schaffen , wenn se nüchtern is .
So eine find immer wieder Arbeit !
Übrigens , Montag hat sie Ihnen jedesmal blau jemacht ! "
Thomas wußte genug .
Es gab nur noch ein Mittel :
sie mußte wieder eine regelrechte Beschäftigung haben , die sie ableitete .
Er kam nach Hause und sagte ihr mit kurzen , trockenen Worten , daß sie sich wieder Arbeit suchen müßte , um zu dem Haushalt beizusteuern .
" Unter keinen Umständen ! Habe ich mir dazu verheiratet ? "
Er hörte nur dieses " dazu " .
Ein Gefühl des Widerwillens stieg in ihm auf .
Er mußte sich umkehren .
Er vernahm noch , wie sie hinter ihm herkicherte ... Arbeiten ... arbeiten - und vergessen !
Er suchte nach dem Zarathustra ... er konnte das Buch nicht finden ... gut , ein anderer Band ... aber auch die lagen nicht auf dem alten Platz .
Er durchstöberte jeden Winkel ...
Und auf einmal tauchte ein Verdacht in ihm auf .
Er drehte sich ruckartig nach ihr um .
" Wo sind die Bücher ? " fragte er mit gedämpfter , heiserer Stimme .
Seine Miene aber hatte etwas so Furchtbares und Drohendes , wie sie es noch nie an ihm gesehen hatte .
Sie wich ängstlich ein paar Schritte zurück .
Er trat ganz dicht auf sie zu .
" Wo sind ... die ... Bücher ? "
Und während er jeden Laut gleichsam auseinanderzog und dehnte , überlief es ihn selbst eisig .
Sie duckte und krümmte sich wie eine Katze , und jetzt dünkte es ihm auch , als ob sie wirklich das Gesicht einer Katze hätte .
Sie konnte seinen Blick nicht ertragen .
" Ich habe sie ... ich habe sie ... versetzt ! "
Da erfüllte ihn ein siedender Zorn .
Er hob beide Fäuste empor und wollte auf sie losstürzen , die sich noch mehr buckelte und in sich zusammenzog , angstvoll ihn anstarrend .
Aber in dem Augenblick , wo er sie prügeln und schlagen wollte , ließ er die Arme schlaff sinken .
Er brach auf dem nächsten Stuhle zusammen , legte sein Gesicht in die Hände und schluchzte .
Sie atmete tief auf .
Dann kreuzte sie die Arme übereinander und blickte gleichmütig zu ihm hinüber .
In dieser Stunde hatte sie den Rest ihrer Achtung vor ihm verloren .
Er weinte - anstatt sie zu prügeln. XXIX .
Er saß in einem Cafehaus und wollte Zeitungen lesen .
Die Buchstaben tanzten vor ihm .
Kein Wort konnte er entziffern .
Um Gottes Willen , rief eine Stimme in ihm , du mußt klar denken !
Du mußt dich zusammennehmen ... nur nicht den Verstand verlieren ... nur nicht sich zerbrechen lassen ... Aus seiner gekrümmten Haltung richtete er sich gerade auf .
Er entnahm seiner Rocktasche einen ärztlichen Kalender und blätterte eine Weile zerstreut in ihm .
Dann schlug er eine unbeschriebene Seite auf , nahm den Bleistift und notierte folgendes :
Darf ein Kranker Kranke behandeln ?
Wer ist kränker als ich ?
Ich sehe klar und deutlich , daß mein Lebensglück zerstört ist .
Ich begebe mich jeden Anspruchs auf Lebensglück .
Ich sarge alle meine Lebenshoffnungen ein .
Kann man so leben ?
Kann man ?
Ich muß - muß - muß !
Ich bin nicht dazu da , um glücklich zu sein. T.T. So , das ist mein Totenschein !
Und mit erloschenen Augen lächelte er elend .
Sein mageres Gesicht war auf einmal wie in Blut getaucht .
Herr , du mein Gott ... stammelte er hilflos , wenn ich von dieser Frau einen Sohn bekäme !
Und der Gedanke verfolgte ihn bis in die späte Nacht .
Er sah das Schattenbild der Katharina , wie es von der Decke der Mansarde sich über ihn beugte und ihm höhnische Worte zuflüsterte .
Und der Schattenriß hatte ein Gesicht ... ihm schauderte vor diesen Zügen ... Nein , nein , das war sie nicht ...
Alles war nur Einbildung und Wahnvorstellung !
Die Decke lag ruhig da , nichts bewegte sich auf ihr ... aber nein ... da ... da ... und nun wieder ...
Er wimmerte und legte sich auf die andere Seite .
Er zog die Decke über den Kopf , um nichts - nichts zu sehen ...
Und da kamen groteske Figuren auf ihn zugegangen .
Was war denn das schon wieder ?
Was wollten denn die eigentlich ?
... Ein ganzes Kartenspiel hatte sich aufgetan .
Der Coeurkönig kam auf ihn zugeschritten ... die Treffzehn ... das Pikaß ... die Karodame ...
Und nun im langen Zuge hinterher all die übrigen Karten .
Feierlich und würdevoll wie bei einem Leichenbegräbnis bewegten sie sich .
Eine wahnsinnige Furcht packte ihn .
Ich bin ja halb verrückt , sagte er zu sich .
Er warf die Kissen von sich , rief plötzlich laut ihren Namen und weckte sie .
Sie sah ihn mit verschlafenen Augen an .
Das Licht bewegte sich unruhig in seiner zitternden Hand .
" Du ... du ... " , brachte er demütig und flehentlich hervor , " du mußt anders werden , das darf nicht , kann nicht das Ende sein ! "
Aber sie hörte ihn nicht .
Sie lag schon wieder auf der anderen Seite und schlief weiter .
Lange , lange betrachtete er sie ...
Er schlich wieder auf sein Lager .
Aber der Schlaf kam nicht .
Fragwürdige Gestalten zogen an ihm vorbei und raunten ihm unverständliche Laute zu .
Die klangen wie Unkenrufe aus der Ferne .
So , jetzt werde ich nur an die Tamara denken , und alles wird gut sein !
... Tamara , hilf mir !
Seine Lippen bewegten sich wie im Gebete .
Tamara !
... Tamara , wiederholte er , und in ihm tönten Erinnerungen wider an längst versunkene Zeiten .
Er weinte .
Schäme dich , Thomas !
So nimm dich doch zusammen , großer Junge !
Willst du ein Mann sein ?
Warum habe ich sie geheiratet , so über Hals und Kopf geheiratet ?
Er zerbrach sich in dieser Nacht den Kopf darüber .
Er wollte sein Handeln von damals in alle Bestandteile auflösen ...
Ich habe gedacht , ich könnte aus ihr einen Menschen machen .
War es das allein ?
... War es nur Mitleid , Güte und Erlöserwahn ?
Er vergrub sich tief in die Kissen , drückte die Zähne aufeinander und schloß fest die Augen .
Eine unselige Vorstellung war über ihn gekommen .
Es dünkte ihn , als ob " sie " eine auffallende Ähnlichkeit mit seiner Stiefmutter hätte ... am Ende war es nichts anderes als das , was den Vater ins Elend getrieben hatte ... ich habe das Blut vom Vater , dachte er - und stöhnte .
Tamara , hilf mir !
Und plötzlich stand vor ihm die Bettina mit gefalteten Händen und weinenden Augen .
Sie war in Weiß gekleidet , und ihre Augen weinten , wie er nie hatte weinen sehen ...
Ich kann nicht mehr ... ich kann nicht mehr !
Der Körper war ihm wie erstarrt , als ob Leben und Bewegung ihm entflohen wären .
Wenn die Nacht doch erst vorüber wäre ... schrie er in seiner Pein auf .
Was war denn das schon wieder ?
Er hörte Stimmen ... er sah Gesichter ...
Der Angstschweiß drang ihm aus allen Poren .
Es ist ganz klar , raunte er sich zu , ich habe mich nicht mehr in der Gewalt .
Ich bin elend ... elend und krank .
Thomas , du mußt , mußt dich zusammennehmen !
Er ballte krampfhaft die Hände , die Ängste wurden immer größer .
Er stand wieder auf und zündete wieder das Licht an .
Er leuchtete unter das Bett , ob sich da irgend jemand verkrochen hätte .
Nein , niemand war da .
Das beruhigte ihn nicht .
Er ging unbekleidet , nur im Hemd , zur Tür , öffnete sie und untersuchte , genau und sorgfältig den Korridor .
" Ist jemand hier ? " frage er ganz laut und erschrak vor dem Ton seiner eigenen Stimme .
Er bekam keine Antwort und schritt auf den Fußspitzen zurück .
Noch einmal beleuchtete er die Katharina .
Regelmäßig hob und senkte sich ihre Brust .
Sie schlief , schlief fest und rührte sich nicht .
Er sah sie voll Haß an .
Etwas Entsetzliches durchdrang ihn in dieser nächtlichen Stille und Furcht .
Er begriff auf einmal , wie jemand einem anderen ein Leide_es antun konnte .
Er begriff es ganz deutlich ...
Er begriff , wie ein Mensch den anderen würgen , ihn still und stumm machen konnte ...
So also bin ich ! ...
Er löschte das Licht aus und setzte sich vor seinen Tisch .
Was wollte ich denn eigentlich ? ...
Er erinnerte sich , daß er irgendwo einmal folgendes gelesen hatte :
Ein Mensch , von Grund aus sanftmütig und rein , den alle seine Freunde wegen seiner Güte und Heiterkeit liebten , hatte sich in einer unglückseligen Stunde an eine Frau verkuppelt , die ihm tropfenweise das Herzblut abschröpfte .
Dieser Mensch verwandelte sich im Laufe weniger Jahre .
Er wurde finster , wortkarg und verschlossen .
Er mied jeden Verkehr .
Er war so völlig ein anderer geworden , daß seine nächsten Freunde die Wandlung nicht begriffen .
Sie wußten nicht , was in ihm wucherte und wuchs .
Sie sahen nur , daß er zu den vom Leben Gezeichneten gehörte .
Viel später sollte es ihnen klar werden .
Eines Nachts führte dieser Mensch einen wohlüberlegten Mordanschlag auf seine Frau aus .
Nachdem er sie auf eine fürchterliche Weise zugerichtet hatte , hielt er mehrere Stunden bei ihr Totenwacht .
Dann nahm er ein Bad , zog sich frische Wäsche und Kleidung an und machte auf das sorgfältigste Toilette .
Als er damit fertig war , schloß er seine Wohnung ab und fuhr zu seinen Freunden , die , wie er wußte , gerade an dem Tage ihre regelmäßige Zusammenkunft hatten .
Alle waren über sein Kommen erstaunt .
Er hatte sich seit einem Jahre nicht mehr bei ihnen sehen lassen .
Aber noch mehr überraschte sie sein heiteres , zutrauliches Wesen .
Er war aufgeräumt wie in seinen besten Zeiten .
Für jeden hatte er ein freundliches Wort .
Er lobte die vortreffliche Küche und den köstlichen , funkelnden Wein .
Mit jedem einzelnen stieß er an , drückte ihm die Hand und sagte ihm Gutes .
Bis zum Grauen des Morgens blieb man zusammen .
Hierauf begab er sich vollkommen ruhig und gefaßt in sein zuständiges Polizeirevier und teilte dem verschlafenen Beamten mit , daß er in dieser Nacht seine Frau ermordet hätte .
Er erzählte seine Tat in kühlem , geschäftsmäßigem Ton , als ob er eine belanglose und ganz gewöhnliche Mitteilung zu machen hätte .
Der Beamte glaubte zuerst , er hätte einen Geisteskranken vor sich .
Erst als jener ihn nachdrücklich auf seine Pflicht aufmerksam machte , wurde er stutzig .
Dieser Mensch bewahrte während der ganzen Gerichtsverhandlung die nämlich Ruhe , Kaltblütigkeit und Heiterkeit .
Sein Verteidiger und der medizinische Sachverständige erklärten ihn im Hauptverfahren für geisteskrank und wiesen nach , daß er seine Tat unter einer furchtbaren Zwangsvorstellung verübt habe .
Sie plädierten auf nichtschuldig , da er in eine Anstalt für Geisteskranke gehöre .
Nach ihrer Rede erhob er sich .
Die Zuhörer hingen atemlos , wie es in der Gerichtssprache heißt , an seinen Lippen .
Er sprach mit tiefem Ernst und überlegener Heiterkeit .
Er sprach gegen den medizinischen Sachverständigen und seinen Verteidiger .
Er erzählte , er sei in seiner Ehe bei lebendigem Leibe abgestorben .
Alle Versuche , dieses Joch von sich zu schütteln , seien jämmerlich gescheitert .
Alles Niedrige und Erbärmliche , dessen er sich vorher nicht bewußt gewesen sei , habe seine Ehe aus ihm herausgeholt .
In seiner Finsternis habe sich ihm schließlich die eine Erkenntnis aufgedrungen , entweder müsse er seinem Dasein ein Ende machen , oder an seiner Frau Strafgericht halten .
Er habe sich nach langem Überlegen für das letztere , als das Sinngemäßere entschieden .
Von der Stunde an , wo sein Entschluß festgestanden habe , sei er ruhig und guten Mutes geworden .
Er habe es als eine Forderung der Gerechtigkeit empfunden , daß er seine Frau gewaltsam forträumte , nachdem sie ihm jede Lebensmöglichkeit abgeschnitten .
Wenn eine Kreuzotter ihm in den Weg käme , so würde er ohne Besinnen mit seinem Stocke ausholen und ihr den Kopf zermalmen .
Niemand würde darin ein Übel sehen .
Er halte den Vergleich in seinem Falle aufrecht .
Die Frage des Präsidenten , ob er nach der Tat nicht irgendwelche Reue verspürt habe , verneinte er .
Er versicherte im Gegenteil , daß beim Anblick der verstümmelten Frau über ihn eine tiefe , andächtige Freude gekommen sei , daß er alsdann in einem Gefühl von Erleichterung und Lust sein Bad genommen und sich umgekleidet habe .
Die Stunden , die er unmittelbar darauf mit seinen Freunden verlebt , seien unvergleichlich schön gewesen .
Nach dieser Rede erklärten Verteidiger und Sachverständiger wie aus einem Munde , daß nun wohl auch der Laie an der Geisteskrankheit des Angeklagten nicht mehr zweifeln würde .
Der Unterschied zwischen einem Gesunden und einem Kranken sei gerade durch diesen Fall scharf gekennzeichnet .
Ein Gesunder könnte vielleicht unter gleichen Umständen von den nämlichen Gedanken wie der Angeklagte erfüllt sein , aber er würde niemals zu einer solchen Tat sich hinreißen lassen , weil sein moralisches Bewußtsein , sein intellektuelles Ich ihn mit tausend Gründen von der Tat selbst abhalten würden .
Ein Kranker , der unter einer solchen Zwangsvorstellung wie der Angeklagte leidet , läßt keine Bedenken aufkommen .
Er geht auf sein Ziel los , er denkt nicht einmal daran , daß am Ende seiner Wanderung vor ihm ein Abgrund sich auftut .
Auf das Gutachten des medizinischen Sachverständigen hin wurde jener Angeklagte freigesprochen . - - - An diesen außergewöhnlichen Fall mußte er jetzt denken .
Er wollte ihn bis in jede Einzelheit durchdringen .
Aber er fühlte bald , wie sein Kopf zu schmerzen begann .
Er stützte den Ellbogen schwer auf die Platte , und zwischen beide Fäuste tat er seinen armen Schädel .
Da wurde es endlich in ihm ruhig .
Und als er zerbrochen und zerschlagen wieder sein Lager aufsuchte , überfiel ihn ein bleierner Schlaf .
XXX. Obwohl er zu den Freunden kein Wort sprach , sie durch seine kalte und überlegene Ruhe einschüchterte und jede Frage abschnitt , kannten sie die Geschichte seiner Ehe .
Fründel sagte im versammelten Kreise :
" Jetzt seht ihr , was das für ein Schwächling und Träumer ist .
Er besitzt nicht einmal so viel Kraft , um das Frauenzimmer sich vom Halse zu schaffen .
Ich sollte an seiner Stelle sein ! "
Dieses Wort fing die Josefa auf .
Sie hatte in der letzten Zeit alle durch ihr düsteres Wesen geängstigt .
Man sah es ihr an , daß unaufhaltsam etwas in ihr arbeitete .
Sie beteiligte sich an keinem Gespräche mehr , schrak auf , wenn man sie anredete und verschlang mit ihren Blicken die Ingolf und Fründel .
Aber dieses Wort fing sie gleichsam gierig auf .
" So einer bist du eben " , sie brach sofort ab .
Alle sahen sie gespannt an .
Aber sie lächelte nur großäugig und fremd .
Und dann blickte sie auf die Ingolf , die unter diesem Lächeln sich krümmte und zitterte .
Noch an dem nämlichen Tage ging die Brose zu Thomas .
Sie erzählte ihm in abgehackten Sätzen , was die Freunde gesprochen und schloß :
" Sie müssen , müssen sich trennen , einfach aus Selbsterhaltungstrieb ! "
Er hatte sie ruhig ausreden lassen .
Dann entgegnete er : " Liebe Brose , ich danke Ihnen !
Der Gang mag Ihnen sauer genug geworden sein .
Indessen , Sie täuschen sich , ich befinde mich durchaus wohl .
Sagen Sie das den anderen ! "
Groß und aufrecht stand er vor ihr , elend und verfallen und doch ungebeugt und stolz .
Die Brose beugte sich zu ihm herab und wollte seine Hand küssen .
Da bekam seine Stimme etwas Rauhes , daß sie zusammenfuhr .
" Nur keine Komödie , Brose " , und etwas milder fügte er hinzu : " Wir sind doch Kameraden ! "
Wie ein begossener Pudel schlich sie davon .
Als er allein war , überlegte er eine Weile jedes Wort , das sie gesprochen hatte .
Sie wollen mich gegen sie hetzen , dachte er traurig .
Nein , niemals .
Ich bin und bleibe ihr letzter Halt .
Ich esse die Suppe aus , die ich mir eingebrockt habe !
Sein Blick fiel auf die Büste des Sokrates .
Da mußte er laut auflachen .
Und eine frohe und gesegnete Stimmung kam über ihn .
Was hat das den gekümmert ?
Hat groß gedacht !
Ist groß gestorben !
... Ah , was ist das für ein gutes Geschenk gewesen !
Und dann sah er andächtig in das edle , reine Antlitz Goethes .
Er kam sich so erleichtert vor .
Was brauchte er kopfhängerisch zu sein !
In solcher Gesellschaft !
Er summte sogar eine Melodie vor sich hin .
Und nun suchte er aus der tiefsten Ecke seiner Schreibtischlade die alte Pfeife hervor , die verstaubt und unbenutzt lange da gelegen hatte .
Und Tabak war auch noch im Hause .
Er stopfte sich die Pfeife und setzte das trockene Kraut in Brand .
Dann paffte er eine Weile vor sich hin .
Plötzlich stand er auf und ging zur Wirtin .
Sie schlug die Hände zusammen ; wie lange hatte ihr Doktor nicht mehr geraucht .
" Könnte ich " , fragte er ganz lustig , " von nun ab in dem Zimmer schlafen , in dem damals " , setzte er leiser hinzu , " das Fräulein gewohnt hat ? "
" Nun , gewiß ! "
" Und könnte ich dort auch arbeiten ? "
" Nun , gewiß ! "
" Topp !
Abgemacht !
Sokrates ! "
Die Frau schüttelte den Kopf .
Er setzte sich den Hut auf , und wie ein vergnügter Schuljunge ging es in großen Sätzen die Treppe hinunter .
Ich lasse mich nicht unterkriegen ... ich lasse mich nicht unterkriegen ... Sokrates ... und noch einmal Sokrates !
Von dem Tage an hatten sie getrennte Zimmer , und von dem Tage an speisten sie nicht mehr zusammen - Thomas Druck und seine Frau. XXXI. Thomas stürzte sich in das Leben und in die Arbeit .
Er wollte sich von dem Leben und von der Arbeit berauschen lassen .
Niemals waren seine Aufsätze im " Festsaal " freudiger , festlicher und zuversichtlicher gewesen als in diesen Tagen seiner höchsten Not .
Niemals hatte er hinreißender , sanftmütiger und edler gesprochen als in dieser Zeit der Heimatlosigkeit und des Elends , wo die gemeine Sorge um den kommenden Tag beständig an ihm zehrte .
Er wollte nicht das Mitleid der anderen .
Er wollte trotz allem und allem sein Schicksal sich zurecht klopfen und hämmern .
Den Hammer wollte er auf den Amboß schlagen , daß die Funken nur so sprühten .
Niemand , niemand sollte ihm dazwischen kommen .
Ich bin ich , das war ein Wort des letzten Glückes .
Es gab ein Licht in seiner Dunkelheit , das leuchtete auf und warf einen hellen Schein über die Mysterien des Lebens :
Nur der wurde der höchsten Lust teilhaftig , in dem das tiefste Leid geglüht ...
Es vergingen oft Tage , ehe er seine Frau sah .
Und nun begriff sie ihn vollends nicht mehr .
Aber dann wuchs in ihr der Verdacht , man könnte ihn ihr rauben .
Er war nur noch mit den Menschen zusammen , die sie haßte , und die auch ihr feindselig gegenüberstanden , ihn gegen sie hetzten und aufwiegelten .
Sie gönnten ihn ihr nicht und betrachteten sie als einen Eindringling .
Sie wußte es wohl .
Immer stärker wurde ihr Mißtrauen .
Von neuem versuchte sie es , ihn mit lockenden Blicken an sich zu ziehen .
Er merkte es nicht einmal .
Da bemächtigte sich ihrer eine dumpfe Angst .
Sie hatte sich an dieses arbeitslose Leben gewöhnt und begann in die Breite zu gehen .
Die Vorstellung , daß sie noch einmal das alte Joch auf sich nehmen müßte , peinigte sie .
Was habe ich denn eigentlich verbrochen , fragte sie sich oft .
Ich kann doch nichts dafür , daß ich so bin !
Wenn aber ihre forschenden Blicke das bleiche Leidensgesicht des Thomas trafen , so wurde sie noch unruhiger , und ein Gefühl der Schuld und Versündigung gegen ihn wollte nicht von ihr weichen .
Aber solche Gedanken schüttelte sie mit aller Gewalt von sich .
Warum ist er auch so dumm , warum ist er nicht strenger gegen mich ?!
Damit suchte sie sich reinzuwaschen .
Es kamen jedoch auch Stunden , wo sein Gram sie aufwühlte .
Weshalb habe ich ihn an mich gekettet ? fragte sie sich dann .
Ich wußte doch , wie ich war .
Weshalb ?
... Weshalb ?
... Sie wurde gegen ihr eigenes Gewissen wütend .
Das ist ja alles Quark !
Jeder Mensch will es eben einmal gut haben ...
Nun zermarterte sie ihr Hirn , was sie tun müßte , um ihn sich zurückzugewinnen .
Und in dieser Zeit , wo er sie nicht mehr beachtete , empfand sie , wie sehr sie an ihm hing .
Ich werde mir das Trinken abgewöhnen , sagte sie zu sich selbst .
Keinen Tropfen werde ich mehr trinken ...
Wie wird er die Augen aufreißen !
Und nun nahm sie wirklich den Kampf gegen sich selbst auf .
Aber schon am zweiten Tage kam es mit aller Macht über sie .
Sie dünkte sich da oben in der Mansarde wie eine Gefangene , ohne Freiheit und Bewegung .
Alle ihre Kräfte waren da gleichsam gebunden , sie hielt es nicht aus .
Nur einen Schnitt Bier wollte sie trinken ... in der nächsten Destillation ... und dann sofort wieder nach Hause !
Wie eine Dürstende eilte sie davon .
Nach zwei Stunden kehrte sie mit verglasten Augen taumelnd zurück .
Und am anderen Morgen erwachte sie mit dumpfer Schwere - in unseligem Zorn .
Sie war doch nicht dazu da , um sich aufzureiben ...
Er war schuld , nur er .
Aber wenn er etwa glaubte , sie ließe sich so mir nichts dir nichts beiseite schieben und von diesen Affen verdrängen , so sollte er sich gehörig geirrt haben .
So dumm war sie nicht .
Dazu war sie denn doch schon zu lange durch die hohe Schule des Lebens gegangen .
Es war ja ganz klar , alles verschwor sich gegen sie .
Schließlich war sie immer die Dumme .
Sie hatte eben Pech , nichts als Pech .
Zuerst mit dem einen , dann mit ihren eigenen Eltern und jetzt mit ihm .
Nun , sie wollte sich schon zur Wehr setzen .
Sie wollte es ihm besorgen .
So leichten Kaufes sollte er mit ihr nicht fertig werden .
Sie begann ihn bei seiner Arbeit zu stören .
Sie drang in sein Zimmer , versuchte ihn zu reizen , zu sticheln und mit allen erdenklichen Mitteln und Kniffen herauszufordern .
In ihrer Dumpfheit kam es ihr in den Sinn , sie könnte so wieder Macht über ihn gewinnen .
Und da er jede Pein über sich ergehen ließ , nach außen hart und fest blieb , während er innerlich blutete , geriet sie in eine maßlose Wut .
Nun wollte sie ihm zeigen , wie schlecht sie sein konnte .
Sie stellte sich mitten in sein Zimmer und fing an , gemeine Lieder zu singen .
Sie wußte genau , daß ihn nichts so sehr verletzen und verwunden konnte .
Jetzt hatte sie ihren Zweck erreicht .
Sein ganzes Gesicht verzerrte sich .
Sie sah es deutlich , wie er zitterte .
Jetzt würde er sie schlagen .
Sie stand da und wartete darauf ; in Sehnsucht wartete sie darauf , daß er sie schlagen würde .
Dann würde sie schluchzen und zusammenbrechen , aber alles würde gut sein .
Sie knirschte innerlich , als nichts von dem geschah und er , die Lippen aufeinander pressend , wortlos sie verließ .
Eine Weile lauerte sie bewegungslos auf seine Rückkehr .
Es blieb jedoch alles still .
Da starrte sie in tiefem Gram vor sich hin .
Eine Bitterkeit ohnegleichen schnürte ihr das Herz und die Kehle zu .
Sie hatte einen Geschmack im Munde , als ob sie giftige Kräuter zu sich genommen hätte .
In der Nacht wartete sie auf ihn .
Sie ging nicht in ihr Bett .
Sie wartete fiebernd auf ihn .
Als er davongejagt war , hatte er einen Augenblick daran gedacht , von ihr zu fliehen ... weit fort .
Aber in der nächsten Sekunde hatte er nur schmerzhaft gelächelt .
Ich kann nicht ... ich kann nicht ...
Ich kann sie nicht am Wege liegen lassen wie einen räudigen Hund ...
Es war tief nach Mitternacht , als er die Treppen hinaufstieg .
Er entzündete ein Wachsstreichholz und öffnete behutsam das Schloß .
Auf den Fußspitzen ging er in sein Zimmer .
Ihre Augen leuchteten ihm entgegen .
In dieser Sekunde erlosch die dürftige Flamme .
" Was willst du denn hier ? " fragte er entsetzt .
Und alles um ihn und in ihm wurde dunkel .
" Ich will nicht länger allein schlafen !
Ich will nicht " , zischte sie noch einmal dumpf hervor .
Er stöhnte in sich hinein .
Sie hörte es nicht .
Mit unsicherer Hand zündete er die Lampe an .
" Gehe auf dein Zimmer ! "
Die Zunge war ihm schwer .
Sie schüttelte nur den Kopf und sah ihn dabei kampfbereit , feindselig und unbeugsam an .
Er raffte sich auf ... er durfte nicht unterliegen .
" Gut , tu was du willst .
Aber ich ... ich ... "
Er griff nach Hut und Mantel .
Mit einem Satze stand sie an der Tür , die sie mit ihrem Rücken deckte .
" Ich lasse dich nicht ... ich lasse dich nicht ! "
Und als sein Gesicht finster , unveränderlich blieb , schrie sie auf einmal wie eine Unsinnige in wildem Weinkrampf auf .
Dieses Weinen erfüllte schauerlich die stille Nacht .
Er ging an seinen Tisch und goß aus einer Flasche Brom ein halbes Glas voll .
Wieder trat er zu ihr hin .
" Trinke , du bist aufgeregt ! "
Sie hielt einen Augenblick inne und blickte ihn mit einem entsetzten Lächeln an .
" Du ... du ... du willst mich wohl vergiften ? "
Er trank das Glas vor ihren Augen aus .
Da fing sie markerschütternd zu lachen an ... sie lachte ... lachte unaufhörlich .
Und unmittelbar darauf schlug dies gellende Lachen in verzweifeltes Weinen um .
Und dann auf einmal schrie sie kläglich :
" Herr , du mein Gott , was ist denn das ... was ist denn das für ein Geruch ... ! "
Und ganz furchtsam fügte sie hinzu : " Es riecht ja hier wie ... nach Toten ... "
" Aha ! " ...
Er suchte ihr das Brom aufzudrängen .
Sie stieß es ihm aus der Hand .
Und indem sie die Augen weit aufriß , flüsterte sie :
" Was sind denn das für Stimmen ... was wollen denn diese Menschen von mir ?
... Hörst du es denn nicht ? "
" Nimm dich zusammen " , sagte er ernst , während er selbst gewaltsam nach Ruhe rang .
" Pst ! " machte sie , als ob sie lauschte .
Wieder begann sie leise zu lachen , dann verzog sie ihr Gesicht von neuem , es wurde zuerst weinerlich , dann furchtsam , bis es schließlich ganz in Schreck und Angst getaucht war .
Und nun rief sie mit weißen Lippen :
" Ich habe mein linkes Bein verloren , siehst du es denn nicht ?
... Siehst du es denn nicht ? "
Er nahm ihre Hand , die er nicht mehr los ließ , und sah sie voll und streng an .
" Du wirst gehorchen " , befahl er rauh .
Sein Blick schüchterte sie ein .
Sie ließ sich das Brom hinuntergießen .
Jetzt redete er ihr ruhig und gütig zu , sich hinzulegen .
Sie gehorchte , aber sie klammerte ihre Hand fest an die seinige .
Es war ihm , als ob er mit einer Eisenzange gehalten würde ... Endlich schlief sie ein .
Schwerfällig erhob er sich , nachdem er langsam und vorsichtig sich von ihren Fingern befreit hatte .
Sein Blick fiel in den Spiegel .
Unwillkürlich wich er zurück ...
Bin ich das ?
... Sind das wirklich meine Züge ?
... Dieses verfallene Gesicht mit den eingesunkenen , blauumränderten Augen - gehörte es ihm ?
Wirklich ihm ? ...
Er trat ganz dicht an den Spiegel und betrachtete sich aufmerksam , Zug für Zug .
Ich bin es , sagte er zu sich selbst , während sich über seiner Nasenwurzel eine scharfe Falte bildete .
Noch lange Zeit blieb er mit dem Licht in der Hand vor dem Spiegel stehen . - - - Die Anfälle der Katharina wiederholten sich jetzt fortwährend , des Tags , des Nachts , in kurzen Zwischenräumen .
Thomas mußte beständig bei ihr sein , um ihr zu helfen .
Und nur ganz mühsam und schwer gelang es ihm allmählich durch seinen persönlichen Einfluß und Beruhigungsmittel jeder Art , ihre hysterischen Krämpfe , wenn auch nicht völlig zu unterdrücken , so doch für längere Zeit aufzuhalten .
Sobald sie sich nur einigermaßen wohl fühlte , begann sie wieder zu trinken .
Alle Vorstellungen , daß sie damit systematisch ihre Zustände von neuem auslöste , verhallten .
Sie zuckte die Achseln und sah ihn verschmitzt und hinterlistig an .
Da wurde er klein und mürbe .
Da fühlte er , wie er langsam von der Höhe , in der er sich ein Schloß mit luftigen Grundpfeilern zurecht gebaut hatte , zurücksank in die dürre , flache Ebene ...
Und nun begann alles auf ihn einzustürmen .
Die Druckerrechnungen konnten nicht beglichen werden , es fehlte an der Miete , es fehlte am notwendigsten .
Er dachte :
Das ist das Ende ... das Ende .
Viertes Buch Musik - Tod und Leben I.
Als Thomas Druck vor dem vegetarischen Speisehause in der Dorotheenstraße angelangt war , blieb er noch lange stehen und blickte ruhig in den verhängten grauen Himmel und auf die pustenden , atemlosen Menschen , die durch das Schneegestöber und den pfeifenden Wind jagten .
Endlich trat er ein .
Wenn ich nur keine Seele treffe ! ...
Jede Aussprache , jeder freundschaftliche Verkehr tat ihm weh .
Er blickte sich scheu um .
Gottlob , niemand war da .
Erschöpft ließ er sich nieder .
Er sah elend und verkümmert aus .
Er bestellte sich ein Glas Milch und Erbsenpüree .
Als das Essen vor ihm stand , stieg ein Widerwille in ihm auf .
Er spürte , daß er es nicht anrühren konnte .
Wie abwesend starrte er vor sich hin .
Jemand klopfte ganz leise auf seine Schulter .
Erschrocken fuhr er zusammen , und den Kopf emporhebend , stotterte er : " Wa-as ist denn das ? "
Ein Mann mit einer hochgewölbten , weißen Stirn , einem blonden , das ganze Gesicht umrahmenden Vollbart , braunem , langem Haupthaar , das fast bis zu den Schultern reichte , wasserhellen , durchsichtigen , blauen Augen stand in dürftiger Kleidung vor ihm .
" Ich bin es " , sagte er mit einer weichen , klingenden Stimme .
Thomas war es , als ob er den Menschen schon einmal gesehen haben müßte .
" Sie kennen mich doch ? "
Thomas strengte sein Gedächtnis an , aber er konnte sich nicht sofort erinnern .
Der Mensch lächelte sanftmütig .
" Wir sind vor langer , langer Zeit zusammen mit der Eisenbahn gefahren . "
" Ah ! "
Wie hatte er das vergessen können !
" Darf ich mich zu Ihnen setzen ? "
Thomas nickte nur .
Der Fremde nahm ihm gegenüber Platz und bestellte sich ein Glas Milch , das er schluckweise trank .
" Ich habe Sie seit langem verfolgt , Thomas Druck !
Sie leiden unsagbar . "
" Ich ?
... Ich ?
... Ja , woher wissen Sie denn meinen Namen ? "
" Ich war dabei , als Sie über die Freiheit sprachen . "
Bei diesen Worten zuckte es um seine Mundwinkel in mildem Spotte .
" Das , was ich sagte , scheint Ihnen nicht eingeleuchtet zu haben ? " fragte Thomas müde und gleichgültig .
" Sie leiden , weil Sie sich mit wertlosen Dingen quälen .
Die geistigen Probleme " , setzte er ernst hinzu , " liegen tiefer . "
Er blickte erstaunt , und von dem Ton dieser sanften und ernsten Stimme betroffen , empor .
" Gibt es denn etwas Höheres als die Freiheit ? "
" Es gibt nichts Höheres .
Aber der Weg , den Sie gehen , führt nicht zur Freiheit . "
Was war denn das für ein Mensch , und was wollte er eigentlich von ihm ?
Er betrachtete ihn plötzlich mit der Miene des Arztes .
Vielleicht war er gar nicht zurechnungsfähig .
Der Fremde fuhr mit seiner feingeäderten , edlen , schmalen Hand über die hohe Stirn .
" Ich sehe Ihre Gedanken , ich sehe sie deutlich .
Sie irren .
Ich gehöre zu denen , die gesundet sind . "
" Worin besteht denn Ihre Freiheit , und wie gelangt man zu ihr ? "
Der Angeredete legte die Hände auf die Brust und schwieg eine lange Weile , während er beständig die reinen Augen auf Thomas gerichtet hielt .
" Erinnern Sie sich nicht " , sagte er kaum hörbar , " daß ich Ihnen den Weg durch die Pforte wies , den Weg von Karma zum Nirwana - vom Willen zum Wissen und zur Weisheit - vom Leben zur Erleuchtung und zum Frieden ?
Kennen Sie nicht die Geschichte vom Prinzen Siddharta Gautama ? "
" Ich habe sie vergessen ! "
" Wollen Sie sie hören ? "
Thomas nickte .
Ihm wurde fremd zumute .
Er erinnerte sich jetzt auch klar an jene erste Begegnung .
Die Stimme des Menschen wirkte auf ihn wie ein leiser , feiner Sprühregen , den man nicht zu hören vermag , den man empfindet .
Und zuweilen bekam sie etwas wie Musik , die ganz von weitem tönt , von fernem Wasser sehnsüchtig herüberklingt .
So etwas Rührendes hatte sie , so etwas Schlichtes und Einfältiges wie die langgezogenen Töne einer Harmonika in einsamer Stille ...
" Es kam die tiefe Nacht " , begann der Fremde und schloß dabei die Augen , " wo der Prinz Siddharta vom Geschlecht der Cakyas , geboren zu Kapilawasta , den Königspalast verließ , von seinem jungen , schlanken Weibe Yasodhara , von seinem einzigen Sohn , den sie ihm geboren hatte , sich trennte , ein Bettlergewand anzog und in das Dunkel ging , um ein heimatloser Wanderer , ein verachteter Schüler zu werden .
In den einsamen Dschungeln des Uruvela führte er sechs Jahre ein Büßerleben , rang und rang in Sehnsucht und Verzweiflung " , wiederholte er mit hauchender Stimme ...
" Aber an dem Tage , wo das große Wissen über ihn kam , da erzitterte die Erde mit den Meeren und Bergen wie ein bewußtes Wesen ... wie eine liebende Braut , die gewaltsam von ihrem Bräutigam gerissen wird - wie die Blumengehänge an einem Weinstock , die unter den Stößen des Wirbelwindes beben ...
Dann aber zog er nach den Ufern des Nairanjara ...
Unter dem Schatten des mächtigen Bodhibaumes marterte er sich in seinen Zweifeln und Ängsten vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang ...
Und als der Tag zur Neige ging , da war er der Buddha geworden - der Erleuchtete , der den Sieg über sich selbst gewonnen , das größte Mysterium des Lebens gelöst hatte ...
Das Mysterium des Lebens " , flüsterte er .
Bei diesen Worten wechselte er die Farbe , während seine bleichen Augen noch heller wurden .
" Ich kann jetzt nicht weiter sprechen " , sagte er mühsam .
Er winkte dem Mädchen , das die Speisen verabreichte , und bezahlte seine Milch .
" Ich heiße Matthäus Lind und wohne am Krügel 4 , für den Fall , daß Sie mich wiedersehen wollen " , setzte er hinzu .
Und mit einer auffallenden Hast , ohne eine Antwort abzuwarten , eilte er davon .
Was hat denn das alles zu bedeuten ? fragte sich Thomas furchtsam .
Träume ich ?
.. .
Bin ich wach ?
... Was will denn dieser Mensch von mir ?
Und in einem völlig anderen Gedankengange wurde er auf einmal schamrot .
Er mußte an die Katharina denken und an die letzte Szene , die er mit ihr erlebt hatte .
Wieder hatte er versucht , ihr in Güte zu nahen .
Da war sie dicht auf ihn zugetreten und hatte ihn angesehen mit Augen , die weit geöffnet und lüstern waren , und ihre dunkle Haut hatte geleuchtet .
Nein , nein , nein , hatte er nur gestammelt .
Und in namenloser Angst war er zurückgewichen .
Der Ausdruck ihres Gesichts wurde feindselig , und als ob sie das klar empfände und ihn zu täuschen suchte , mühte sie sich zu lächeln .
Aber auch ihr Lächeln drückte etwas Feindseliges aus .
Mit hoffnungsloser Miene hatte er sich abgewandt .
Die Erinnerung an den Vorgang , die sich ihm jetzt ohne jeden Übergang aufdrängte , bereitete ihm körperlichen Schmerz .
Und wieder stellte er an sich die Frage :
Warum habe ich sie geheiratet ?
War es der Hunger nach Wärme ?
Konnte ich mir dann nicht einen Hund nehmen ?
... Nein , nein , das war es nicht allein .
Es war etwas anderes ...
Ich glaubte , sie erlösen zu können ... ich dachte nur daran ... ich hatte den Wahn , sie zu erlösen ...
Die Schwachen , die erlösen wollen , sind geisteskrank , fügte er hinzu .
Ich bin schwach - ich wollte erlösen - also war ich damals schon geisteskrank ...
Er lächelte trübe , daß er etwas , das im innersten Kern morsch und faul war , hatte gesund machen wollen ... das war entweder Schwachsinn oder - oder geistiger Hochmut .
Und ich will ein Arzt sein !
... Sein Gesicht wurde weinerlich .
Ich hatte doch solches Mitleid mit ihr , und einen so starken Glauben hatte ich !
... Trifft mich darum wirklich solche Schuld ?
Bettina !
... Bettina !
... Warum hatte er sich von ihr abgewandt und ihr seit jener Zeit nicht mehr geschrieben ?
Ich weiß es , sagte er hart , ich schämte mich vor ihr .
Ich wandte mich von ihr ab aus Scham .
Aus elender , feiger Scham wandte ich mich von ihr ab .
Und nun wurde es ihm auf einmal deutlich , daß sein größtes Vergehen , die schwerste Versündigung gegen sich und sie in dieser seiner Abkehr bestanden hatte .
Es hämmerte und klopfte in seinen Schläfen .
Nein ... nein , auch das stimmte nicht .
Ich mied sie mit allen meinen Gedanken , weil ich schuldbeladen - weil ich ihrer nicht wert war ...
Das war es , das war es allein .
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn , und ohne seine Speisen nur berührt zu haben , wollte auch er sich entfernen .
" Sie haben noch nicht bezahlt " , sagte die Kellnerin , " ich bekomme vierzig Pfennig . "
Langsam zog er sein Portemonnaie , reichte ihr Groschen für Groschen und lächelte dabei weltfremd .
Dann verließ er gesenkten Hauptes die Speisehalle .
Auf dem Nachhausewege ging er zum Drucker - ein Gang , der ihm sauer wurde .
Er mußte um Frist bitten .
Es gab keine Möglichkeit , die letzte Rechnung zu begleichen .
Er wurde in das Kontor geführt , wo er einige Minuten warten mußte .
Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor .
Endlich öffnete sich die Tür .
Ein untersetzter Mann trat ein .
" Sie wünschen , Herr Druck ? "
Er fuhr ein wenig empor .
Mit der Rechten stützte er sich auf den Schreibtisch , während seine Linke unsicher und tastend über das Haar irrte .
Stockend brachte er sein Gesuch vor .
Der Mann hörte ihn ruhig an und sah nur zuweilen in das versorgte Gesicht des Sprechers .
" Ich habe nichts dagegen !
Im übrigen ist es mir angenehm , daß Sie hier sind !
Offen gestanden " , fuhr er zögernd fort , " ich habe keine rechte Lust mehr , den » Festsaal « weiter zu drucken .
Man hat " , er machte eine kleine Pause und strich seinen Knebelbart zurecht , dann wiederholte er : " man hat polizeilicherseits vor ein paar Tagen vertraulich bei mir angefragt , in welcher Auflage der » Festsaal « erschiene und wohin er ginge .
Ich habe selbstverständlich " , er warf sich ein wenig in die Brust , " jede Auskunft verweigert : Geschäftsgeheimnis !
Darüber ist kein Wort zu verlieren !
Aber sehen Sie , viel Gutes höre ich nirgends über Ihr Blatt !
Und wenn ich aufrichtig sein soll - ich bin schon von verschiedenen Seiten gewarnt worden ... ich hätte nichts dagegen , wenn Sie wo anders ... Schließlich möchte man sich keine Ungelegenheiten machen .
Man hat genug Sorgen , daß man zu Rande kommt ! "
Thomas erwiderte nichts .
Er hatte nur zerstreut zugehört .
Er nickte zu allem .
Auf der Straße dachte er daran , die Katharina irgendwo aufs Land zu bringen , zu einfachen Leuten , die abseits und einsam wohnten .
Vielleicht , daß sie hier gesundete .
Er konnte ihre Nähe kaum noch ertragen .
Er sah sein Ende .
Er wollte ihr in Güte zureden .
Was konnte sie schließlich dafür , daß sie willensschwach war !
Gab es denn überhaupt eine Schuld ?
... Die alte , ewige Frage , an der sich die Menschen die Köpfe zerbrochen , die Hirne zerrieben hatten .
Er fühlte , daß er ein paar Wochen des Alleinseins brauchte .
Für sie und ihn konnte daraus Rettung werden .
Für ihn ? ...
Er empfand , daß alles tot und hoffnungslos in ihm war .
Er wollte auch nicht an sich denken .
Mit aller Energie wollte er versuchen , sie zum Bewußtsein ihrer selbst zu bringen .
An der Aufgabe mußte er festhalten .
Er würde es ihr sagen .
Er beschleunigte seine Schritte , achtete nicht des Unwetters und atmete erst auf , als er vor seiner Wohnung angelangt war .
Es war ihm eine unabweisbare Erkenntnis , daß er sie dazu bringen mußte , daß er sie nur so retten konnte .
Dieses Wort " retten " verursachte ihm geradezu Pein .
War der ganze Rettungsgedanke nicht einer der Grundirrtümer der Menschen !
Was war das nur für ein sonderbarer Heiliger , den er zufällig im Speisehause wieder getroffen hatte !
Wo wohnte er ?
Am Krügel 4. Nie hatte er die Straße nennen hören .
Was gab es überhaupt für merkwürdige Menschen !
Der Simpelste war so kompliziert , daß man ihn nicht zu entwirren vermochte .
Müde schloß er auf .
Er öffnete das Wohnzimmer .
Die Katharina lag auf dem Sofa ausgestreckt , sprang aber sofort bei seinem Eintritt mit einer bei ihr außergewöhnlichen Beweglichkeit empor .
Ihr Gesicht war gerötet , sie blickte ihn gespannt , fieberhaft an .
Ahnt sie etwa , was ich ihr sagen will ? fragte er sich .
Er betrachtete einen Augenblick seine abgemagerten Hände , dann raffte er sich auf und teilte ihr in ruhigem Ton sein Vorhaben mit .
Er sprach leise und freundlich , als ob er an ihr Schuld hätte .
Sie ließ ihn nicht ausreden .
Ein Ausdruck maßlosen Zornes beherrschte ihr Gesicht .
" So , dann ist ja alles klar ... für so dumm hältst du mich also ?
... Gott sei Dank , daß ich rechtzeitig hinter den Schlich gekommen bin ! "
Triumphierend zog sie einen zerknitterten Brief hervor .
" Deshalb willst du mich wohl aus dem Hause schaffen ?
... Deshalb also ? "
Er sah sie verständnislos an .
Er begriff sie nicht .
" Das hast du ja recht schlau eingefädelt ! "
Ihre Lippen kräuselten sich hochmütig .
" Ich rühre mich nicht von der Stelle - hörst du , ich rühre mich nicht von der Stelle . "
Und in einem Tone des Hohnes fragte sie , während sie den Brief in die Höhe hob : " Wer ist denn diese edle Jungfrau ? "
Einen Augenblick starrte er sie wortlos an .
Dann hatte er ihr mit einer raschen Bewegung das Kuvert aus den Händen gerissen .
Es trug den Poststempel Paris .
Es hatte die Schriftzüge der Bettina .
Seine Hände zitterten .
Vor seinen Augen wurde es dunkel .
Alles ging durcheinander .
Bettina !
... Bettina !
... Ohne auf Katharina zu achten , war er mit ein paar Schritten aus dem Zimmer .
Er drückte den Brief fest an sich .
Wie ein Verfolgter stürmte er die Treppe hinab . - - - In der Luisenstraße wußte er eine kleine Konditorei .
In wenigen Minuten hatte er sie erreicht .
Kein Gast war da .
Er flüchtete sich in den engen Nebenraum , ließ sich auf das eingedrückte , braune Plüschsofa nieder und warf geistesabwesend einen Blick in den großen Spiegel , dessen vergoldeter Rahmen brüchig und schadhaft war .
" Eine Tasse Kaffee ? "
Er verstand die Frage nicht .
Er nickte mit einem irren Ausdruck .
Als er wieder allein war , zog er den Brief hervor .
Soll ich ihn denn lesen ?
Seine Züge wurden kleinmütig und zaghaft .
" Ja , ich will , ich will " , antwortete er sich laut und breitete langsam den Bogen aus .
Er las : " Tom , ich spiele am dritten Dezember in Berlin .
Am Ersten komme ich nachmittags fünf Uhr , Bahnhof Friedrichstraße , an .
Tom , sei gut mit mir , ich freue mich so unendlich ! Bettina . "
" Wa-a-as " , lallte er , und mit beiden Händen hielt er sich den Kopf .
Das Mädchen , das den Kaffee hereinbrachte , betrachtete ihn mit halb neugierigem , halb mitleidigem Blick .
" Wünschen der Herr noch etwas ? "
Da sie keine Antwort erhielt , ging sie schweigend hinaus .
" Das ... das ... ist ... ja ... nicht ... möglich , das ... das ... kann ja ... das darf ja ... ja gar nicht sein ! "
Sein Gesicht bekam etwas unsagbar Rat- und Hilfloses .
" Ja , was ist denn das ?
Nein ... nein !
... Fräulein ! " rief er zitternd .
Das Mädchen war sofort im Zimmer .
" Fräulein " , er wagte sie nicht anzublicken , " Fräulein , der wievielte ist denn heute ? " brachte er scheu flüsternd hervor .
" Der Erste ! " entgegnete sie kaum vernehmlich , gleichsam von seiner Furcht angesteckt .
" Der Erste ?
... Der Erste ? " ... " Gewiß , der Erste ! "
Sie ließ ihn wieder allein .
In dieser Sekunde fühlte er , wie sich alles in ihm auflöste .
In seinem erregten Zustande kreuzten sich die entlegensten und widersprechendsten Ideen .
Es gab da keinen Sinn und keinen Zusammenhäng mehr .
Er sah die Tamara auf dem Totenbette ...
Er sah sich und die Bettina in der Bodenkammer ...
Er war plötzlich in der Lichtenstein-Allee bei den Bergs ...
Er schritt als kleiner Junge neben dem Vater die Straße entlang und trug die Elektrisiermaschine ...
Er lag am Weiher im Garten ...
Er stand hoch aufgerichtet in Kellers Fürstensälen und sprach vor dem versammelten Volke , und seine Stimme erfüllte den weiten Raum ...
Er stand im Schulzimmer , die Augen trotzig auf den Lehrer gerichtet , als wollte er ihn zum Kampfe herausfordern ...
Und dann wieder spielte die Bettina unter blühender Sommerpracht lockende Weisen ...
Er sog den Duft der Blumen ein und wiegte sich in den Tönen ...
Und alles das zerrann .
Um ihn wurde es dunkel ... Nachtvögel schlugen die Flügel zusammen ; und wie aus weiter Ferne vernahm er Weh- und Klagerufe ...
Seine Hände tasteten durch das Leere .
Er sah sich furchtsam um , goß sich in die Handfläche ein paar Tropfen Wasser und rieb sich die Stirn .
Ich muß aufwachen , raunte er sich zu und nahm einen Teelöffel von dem schwarzen Kaffee .
Und jetzt stand es bei ihm fest , daß er unter allen Umständen auf die Bahn gehen würde .
Er wollte sie wiedersehen .
Er wies den Gedanken von sich , vor ihr zu fliehen .
Er zog die Uhr .
Es war wenige Minuten nach vier .
Wieder schrak er zusammen .
Er malte es sich aus , wie qualvoll es gewesen wäre , wenn Bettina , ohne sich anzumelden , ihn in seiner Wohnung überrascht hätte .
Er begriff jetzt auch die Katharina .
Ein demütiger Zug trat auf seine Miene .
- Sie hatte den Brief geöffnet und an ein abgekartetes Spiel geglaubt .
Er erhob sich schwerfällig - müde und entrichtete an der Kasse das Geld .
In tiefer Mutlosigkeit durchquerte er die Straßen .
Was sollte er ihr sagen , mit welchen Augen sollte er sie ansehen ?
Gab es überhaupt noch zwischen ihnen ein Band ?
Nein ... nein , brachte er mit blutlosen Lippen hervor , das ist alles zu Ende !
Sie und ich , wir sind aus anderen Welten .
- Es war bereits finster .
Die Laternen waren angezündet , der Schnee stöberte beständig weiter , der graue Himmel blickte trostlos hernieder .
Über den Stadtbahnbogen der Friedrichstraße sauste gerade ein Zug .
Der weiße Qualm schlug wolkig zu Boden .
Der Zug mit den erleuchteten Wagen erschien Thomas wie eine einzige brennende Schnur .
Und solch ein Ungetüm , dachte er , bringt in den nächsten Minuten die Bettina .
Warum hat sie mir geschrieben ?
... Warum kommt sie ?
... Und bei dieser Frage , die er an sich selbst richtete , wurden seine Züge von Leid und Gram noch mehr entstellt .
Warum ?
... Warum ? ...
Er verdeckte sich mit der linken Hand die Augen , als ob er dadurch allem entgehen könnte , richtete sich mit einemmal gerade auf und schloß die Lippen fest aufeinander .
Ich werde dir sagen , Thomas , was du in dieser Stunde denkst :
du schämst dich vor dem Wiedersehen ?
Du kommst dir wie ein Zerbrochener vor , dessen Ehrgefühl es nicht erträgt , daß einer aus der Heimat ihn in seinem Elend sieht .
Das ist ja alles Unsinn , sagte er erschreckt .
Bin ich denn verkommen ?
Nein ... nein , ich führe den Kampf bis aufs Messer ... ich lebe ... ich Kämpfe ... ich bin ein Amboß - gut ... ich bin nicht nur Amboß ... ich bin Hammer ! ...
Er betrat aufrecht , den Kopf ein wenig zurückgebogen , den Perron .
Als in dem nämlichen Augenblick der Zug einfuhr , stand er in seinem armseligen , abgetragenen Anzuge kerzengerade da .
Dennoch fürchtete er jede Sekunde , daß er einen Schwindelanfall bekommen und umsinken könnte .
Er hielt seinen Blick unbeweglich auf die Kupees geheftet ...
Und da stand sie dicht vor ihm , wieder wie damals , den Geigenkasten in der Linken .
Mit erweiterten Augen sah sie zu ihm empor .
" Tom ... Tom ... ! " brachte sie schwer und hilflos hervor .
Und dann schlang sie ihre Arme um ihn , und unfähig sich zu beherrschen , unbekümmert um all die Menschen , fing sie bitterlich zu schluchzen an .
Und immer wieder entrang sich ihr nur dies eine Wort : " Tom ! "
Langsam gingen sie die Treppe hinab .
Sie hielt seine Hand fest wie früher , wo sie als Kinder gespielt hatten ; sie hielt sie fest und drückte sie sanft .
In ihm blutete alles .
Er hatte nur den einen Wunsch , stark zu bleiben , nicht wie sie in Tränen auszubrechen , nicht vor Erschöpfung und Elend umzufallen ...
Sie standen jetzt am Gepäckschalter .
Der Gepäckträger hielt bereits den Koffer und wies auf den Schutzmann , der die Marken für die Droschken austeilte .
Ein paar Minuten später saßen sie in einem geschlossenen Wagen .
Da lehnte Bettina ihren Kopf an Thomas' Schulter , und herzzerreißend wimmerte sie : " Tom , was haben sie aus dir gemacht , wie siehst du aus ?! "
Er hatte sich vor ihrem Mitleid gefürchtet , und nun tat es ihm wohl , wie linder Regen den Blüten im Frühling wohl tut .
Aber dann kam wieder diese namenlose Angst über ihn .
Sie wußte ja noch nichts ... das Schlimmste stand ja noch bevor .
Er ergriff plötzlich ihre beiden Hände , und indem er sie flehentlich ansah , stieß er hervor :
" Bettina , ich muß dir etwas sagen , hörst du , Bettina ? " ... Ihr Auge verschleierte sich .
" Nicht jetzt " , sagte sie angstvoll , " nicht jetzt , Thomas ! " ...
Und wie ein krankes Kind streichelte sie seine Hand .
" Bettina , ich muß ! "
" So sprich ! "
Sie lächelte leidvoll .
" Bettina , du mußt , du mußt mit mir gut sein , was du auch hören magst , hörst du , Bettina ? "
" Ich höre " , antwortete sie und sah ihn voll Jammer an .
Eine kleine Weile schwieg er still .
Alle Leiden , alle Enttäuschungen , alles Weh der letzten Zeit erschien ihm geringfügig im Vergleich zu dem , was ihm bevorstand .
Und während er die Daumen der Hände mit den übrigen Fingern hart und fest umschloß , sagte er :
" Bettina , ich ... ich ... ich bin verheiratet ! " ...
Sie hatte an seiner Miene gehangen , als wollte sie sich jede Linie seines zerstörten , Leidensdurchfurchen Gesichts einprägen .
Nun , wo er gequält und zerrissen sein Bekenntnis hervorgestoßen , drehte sich ihr alles im Kreise .
Sie hörte das Wehen des Todes .
Sie sah deutlich , wie der Tod seine Fittiche aneinanderschlug , dann aber blickte sie wieder in seine vergrämten Züge , und auf einmal stieg in ihr ein furchtbarer Gedanke auf , der gleichwohl für sie etwas Erlösendes hatte .
Er ist nicht bei Sinnen , sagte sie sich leise .
Er ist krank .
Er fiebert .
Und deutlich meinte sie aus seiner Miene ein irres Lächeln herauszulesen .
Laut aber entgegnete sie : " Tom , das ist doch kein Grund , dich so furchtbar aufzuregen ! "
" Ich bin verheiratet " , stammelte er noch einmal .
Wieder nahm sie seine Hand , und wie man zu einem Kranken spricht , beruhigend , tröstend , wenn einem selbst das Herz blutet , erwiderte sie :
" Nun gut , du bist verheiratet . "
Und beinahe schalkhaft setzte sie hinzu :
" Jeder Mensch verheiratet sich einmal ! "
Da veränderte sich sein Gesicht .
Er begriff sie .
Ganz plötzlich begriff er sie .
Und fast heiser schrie er :
" Du hältst mich für krank , Bettina , für gestört , du glaubst es nicht ...
Aber so wahr ich neben dir sitze .
Bettina , es ist wahr ! "
Und mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu : " Du mußt zu ihr gut sein , Bettina ! "
Und viele Gedanken überspringend :
" Sie kann nichts für ihr Elend , du mußt gut zu ihr sein ! " ...
Es stieg unvermittelt eine Idee in ihm auf .
Er öffnete die Wagentür und nannte dem Kutscher die Adresse der Brose .
" Du kannst nämlich nicht bei mir wohnen ! "
Sie nickte stumm und gedrückt .
Alles zog sich in ihr zusammen .
Eine wehe Angst erfüllte sie .
Wenn es nun doch wahr wäre ... O Gott , laß es nicht wahr sein ... lieber , lieber Gott , erbarme dich !
... Sie sah wieder zu ihm empor , und eine feine Scham durchdrang sie .
Was haben sie nur aus ihm gemacht ?
Was haben sie nur aus ihm gemacht ?! fragte sie sich immer wieder .
Die Brose wohnte im vierten Stock einer Hofwohnung in der Lothringer Straße , die im Norden Berlins liegt .
Als es bei ihr läutete und Thomas und Bettina in der Entreetür standen , stieß sie zuerst einen Schrei der Überraschung aus und wich zurück .
Dann aber drückte sie in auffallender Zärtlichkeit das Mädchen an sich .
" Ich bin in einer halben Stunde wieder da " , sagte Thomas unruhig .
Die Brose führte Bettina hinein .
Sie setzte sich ihr gegenüber .
Und als sie das verweinte , blasse Gesicht des Mädchens sah , legte sie ihre Arme um sie .
Bettina stand auf .
Ihr drehte sich alles im Kreise .
" Ich will die Wahrheit wissen " , wimmerte sie , und mit beiden Händen hielt sie sich an der Stuhllehne fest .
" Hat er es Ihnen denn nicht gesagt , Fräuleinchen ? "
Sie schüttelte den Kopf .
" Ist er krank ?
... Hat er Leid ?
... Was fehlt ihm ? "
Die Brose kam sich wie ein Henker vor .
Der Anblick des gebrochenen Mädchens , das den Reisemantel und Hut nicht abgelegt hatte und so elend vor ihr stand , erschütterte sie .
" Hat er Ihnen denn nichts von der Person erzählt ? "
Bettina neigte tief ihren Kopf .
In diesem Augenblick sollte die andere ihre Züge nicht sehen .
Und während ihr Herz still zu stehen schien , flüsterte sie :
" Ich will alles wissen . "
Da erzählte die Brose stockend , während sie zur Seite trat und das Mädchen nicht anzusehen wagte .
Sie hörte auch nicht das Stöhnen der Bettina , das diese mit wunden Lippen in sich hineinbiß .
Er hatte also nicht im Fieber gesprochen !
Mit einer anderen , die er damals noch gar nicht gekannt , mit einer , die er von der Straße aufgelesen , hatte er sich zusammengetan , während sie draußen in der Fremde nach ihm gehungert und gedarbt hatte , während sie im tiefsten Leide sein Bild wie das eines Heiligen wachend und träumend bei sich getragen hatte .
Er hatte sich für das Leben gekettet , während er ihr in all der Zeit nicht ein Wort hatte zukommen lassen .
Nicht einmal von dem wichtigsten Schritte seines Lebens hatte er sie benachrichtigt !
In all ihrer Sehnsucht , in all ihrer Trauer hatte sie immer nur an das Wiedersehen mit ihm gedacht .
Und nun ?
... Warum hatte er nicht eine Silbe an sie geschrieben ?
Sie preßte die Hände an ihre Schläfen .
Sie hätte ja alles begriffen , wenn es jene andere gewesen wäre , aber so ... so ?
Und dann sah sie wieder seine abgehärmten Züge , und wieder murmelte sie nur : " Tom , was haben sie aus dir gemacht ! "
Und da begriff sie alles : warum er ihr nicht geschrieben , weshalb er sich ... Draußen tönten seine Schritte .
Die Brose öffnete .
Als er nun hereintrat , da flog sie ihm entgegen , und ihr Gesicht leuchtete auf .
Sie sagte nur : " Tom !
... Tom !
... " und schmiegte sich an ihn zart und keusch .
Lange saßen sie beisammen .
( Die Brose hatte sich entfernt . )
Jedes Wort , das er sprach , wuchs tief in ihre Seele .
Sie ließ seine Hand nicht los .
Und einmal küßte sie ihn auf die Stirn :
" Ich küsse dich wie eine Schwester , Tom ! "
Und dazwischen rannen ihr beständig die Tränen über die Wangen , so sehr sie dagegen ankämpfte .
Er kam ihr so siech , so matt , so hoffnungslos vor .
Sie hatte keine Vorwürfe , kein Wort des Zornes für ihn .
Sie sah ihn in seinem Elend , sie sah ihn , wie er blutete , sie sah auf seinen braunen Locken die Dornenkrone .
" Tom " , flehte sie , " sieh mich nicht so an !
Stolz und groß sollst du mich ansehen , Tom ! "
Und in aufschluchzendem Weh fügte sie hinzu : " Du darfst dich nicht unterkriegen lassen , Tom , das Leben darf dich nicht unterkriegen ! " ...
Da nahm er ihre Rechte und legte sie an seine Wange .
" Bettina , ich lasse mich auch nicht !
Ich bin nur müde und abgearbeitet .
Ich Kämpfe , Bettina " , sagte er , und seine Stimme hatte etwas Tiefernstes , sie klang ihr wie reingestimmte Glocken .
" Ich Kämpfe für meine Wahrheit , so lange ich nur kämpfen kann ! "
Er schwieg ein paar Minuten , und indem er sie dann groß und tiefäugig ansah : " Gegen niemanden habe ich so schwere Schuld wie gegen dich .
Und dennoch " , fuhr er fort , " ist es keine Schuld im gewöhnlichen Sinne .
Es kommt mir so vor , Bettina , als ob ich mich jetzt erst begriffe .
Wenn ich an dir gesündigt habe " - seine Stimme brach sich , als ob er innerlich leise weinte - " so sündigte ich aus Ehrfurcht vor dir ! "
Und sich fest an sie klammernd :
" Ich hatte so eine namenlose Scham .
Du mußt mich verstehen , liebe Bettina . "
Sie zuckte mit keiner Wimper .
" Ich verstehe dich " , antwortete sie , und ein großartiges Glücksempfinden verklarte ihr durchgeistigte Gesicht .
" Ich verstehe dich , Thomas , der du besser bist als alle anderen ! "
" Nicht !
... nicht !
... Bettina " , er wehrte mit der Rechten ab .
Sein schmerzhafter und gequälter Gesichtsausdruck vernichtete alle ihre Hoffnungen .
Sie begann zu frieren .
Er war nicht mehr von dieser Welt ...
Er lag am Wege ... war an ein einsames Kreuz geschlagen , draußen auf einer schneebedeckten , kahlen Winterhalde ...
Und als ob er plötzlich ihre Gedanken erriete , lächelte er sanft .
" Nein , Bettina , nein , so ist es nicht ! "
Sie verstand kaum seine Worte , sie sah nur sein Todeslächeln und barg das Gesicht in die Hände .
Die ganze Nacht , als Thomas längst gegangen war , hatte sie aller Müdigkeit zum Trotz mit der Brose durchwacht .
Die Malersfrau saß an ihrem Bett und hielt ihre Hand .
Bis in alle Einzelheiten mußte sie ihr erzählen wie es gekommen war .
Wortlos lauschte Bettina .
Nur zuweilen fiel ein scheuer Blick auf das Gesicht der anderen .
Sie empfand , daß die mit ihr litt .
Sie fühlte und hörte heraus , welchen Anteil die Brose an ihm nahm .
Auch die , dachte sie schwermütig .
Jedes Wort sog Bettina wie eine Dürstende ein .
Jedes Wort der Brose war Balsam auf ihre Wunden .
Auch von den Konflikten , die er mit den Freunden gehabt , erfuhr sie , und daß er unbeirrt an dem , was er für recht und gerade erkannte , festhielt .
" Das Leben hat ihn nicht mürbe gemacht " , schloß die Brose .
Und leiser fügte sie hinzu , wie stolz er jedes Mitleid zurückgewiesen .
" Und doch gibt es nur eine Rettung für ihn :
er muß von ihr los , er darf sich nicht unnütz aufreiben und aufopfern . "
Das waren die letzten Worte , die die Brose sprach .
In der Nacht schmiedete Bettina die verwegensten und abenteuerlichsten Pläne .
Aber jedesmal , wenn sie die Dinge zu einem glücklichen Ausgang geführt hatte , lächelte sie elend .
Ich habe ja keine Macht über ihn , sagte sie sich in bitterem Weh .
Und dann wälzte sie sich unruhig in den Kissen und errötete in mädchenhafter Scham .
Sie konnte es sich nicht vorstellen , daß er verheiratet , daß er Ehemann war und Tisch und Bett mit einer anderen teilte .
Ihr ganzes Empfinden sträubte sich dagegen .
Dann wieder beruhigte sie sich damit , daß er nichts , nein , nichts von einem Ehemann an sich hatte .
Sein Gesicht war rein und edel wie das eines Jünglings geblieben .
Weit eher sah er aus wie ein asketischer Mönch , der sich in Gewissenspein und Seelenqualen marterte .
Und auf einmal richtete sie sich in ihren Kissen auf und faltete kindlich die Hände .
" Großer Gott , so soll es sein ! "
Wie eine Erleuchtung war es über sie gekommen .
Sie wollte zu dieser Frau gehen und sie flehentlich bitten , ihn freizugeben .
Kein Vorwurf sollte über ihre Lippen kommen , nur bitten wollte sie , unterwürfig bitten ...
Aber wenn alles Bitten nichts half , wenn jene auf ihren Eheschein pochte , was dann ?
Ein heißes Gefühl des Zornes stieg in ihr empor , und böse Kindheitserinnerungen tauchten vor ihr auf .
Sie dachte an den Haß , den sie all die Jahre gegen ihren Vater genährt hatte .
Sie dachte daran , wie sie als kleines Mädchen in ahnungsvoller Grausamkeit ihm die kostbare Amati zertrümmert hatte ; sie erinnerte sich , wie in der Zeit ihres künstlerischen Ringens eine der stärksten Triebfedern in ihr der Wunsch gewesen war , ihn durch ihr Können zu besiegen .
Und nun fühlte sie , wie auch jetzt eine jähe Grausamkeit in ihr aufwucherte und über sie Gewalt bekam .
In der undurchdringlichen Finsternis fiel ihr auch jene Kindheitsszene ein , wo sie im Nachtkittel an Thomas ' Schlafzimmer gepocht und ihm das Dolchmesser abgefordert hatte , aus Angst , er könne sich vergehen .
Er hatte es ihr willig durch die Türspalte gereicht und sie auf die Stirn geküßt .
All die Jahre hatte sie dieses Messer wie eine Kostbarkeit mit sich geführt .
Vielleicht konnte es ihr jetzt gute Dienste leisten .
Es fröstelte sie .
Sie schlug die Zähne zusammen ... wenn das Thomas wüßte !
... Die Augen wurden ihr immer schwerer , und dennoch konnte sie keinen Schlaf finden ...
Wenn ich ihm mit meiner Musik helfen könnte !
Und dann wurde ihr Angst in dem Gedanken , daß sie schon in zwei Tagen vor wildfremden Menschen spielen sollte - in diesem Zustand spielen sollte !
... Wie hatte sie sich darauf gefreut , daß sie niemanden sehen , daß sie nur für ihn allein geigen würde - für ihn allein ...
Die graue Wintersonne stahl sich armselig durch die blinden Scheiben , als sie endlich müde und zerschlagen einschlief .
II Sie war gerade aufgestanden , als Thomas kam .
Sie streckte ihm beide Hände entgegen und versuchte zu lächeln .
Aber das Lächeln erstarb auf ihren Lippen .
Beim Tageslicht sah er noch verfallener und kummervoller aus .
Sie nahm sich zusammen .
In ihr weinte alles .
Sie nahm seine Hand und streichelte sie .
" Du mußt mit mir aufs Land , Thomas , und wenn es nur ein paar Wochen sind .
Ich geige dich gesund , Tom !
Weißt du noch , wie du mir im Garten lauschtest ?
Du darfst nicht so ein ernstes Gesicht machen , hast ja das Lachen verlernt !
... Ich Lehre es dich .
Ich Lehre dich das Lachen , das Lachen , den Frühling , die Musik .
Der Frühling und die Musik gehören zusammen " , fuhr sie schmerzhaft fort , " sie sind das Leben , Thomas ! "
Er hörte ihr schweigend zu , während ein verträumter Zug um seinen Mund spielte .
Und mit seinem alten Lächeln sagte er :
" Du darfst mich nicht so furchtbar traurig ansehen , Bettina , ich lebe und will leben !
Ich bin stärker , als du glaubst ! "
Es zuckte freudig über ihr Gesicht , als wenn er ihr eine Heilsbotschaft gebracht hätte .
Sie setzte sich ein Pelzmützchen auf , warf sich ein Cape um und nahm ihren Geigenkasten .
" Komme mit mir , ich habe nämlich Probe , sei dabei ! "
Sie sah , wie er blaß wurde , und blickte ihn forschend an .
" Ich will dich erst am Abend hören , Bettina .
Ich ... ich habe eine solche Angst vor deiner Musik ! "
Sie senkte den Kopf .
" Aber darf ich dich begleiten ? "
Der Ton seiner Stimme tat ihr so weh , so unendlich weh .
" Wie du nur sprichst , Thomas " , entgegnete sie demütig und dankbar .
Ihm war sie eine Heilige .
Unverwandt blickte er auf ihre schmalen , weißen Hände , die leise zuckten .
Gemeinsam gingen sie die Treppen hinunter .
Die Brose hatte sich nicht blicken lassen .
Sie bogen in die Friedrichstraße und gingen von da zu den Linden .
Es war ein frisches , kaltes Wetter , das ihnen wohl tat .
Ganz sacht legte sie ihren Arm in den seinigen .
Und plötzlich sagte sie tiefernst :
" Thomas , liebst du diese Frau ? "
Gleich darauf schrak sie zusammen .
Sein blasses Leidensgesicht sah verwundet aus .
" Nein , nein , ich will nichts wissen ... ich will nichts fragen ... "
Seine Züge hatten sich wieder geglättet .
" Du hast ein Recht dazu , Bettina , du allein !
Ich bin an die Frau gekettet durch meinen eigenen Entschluß .
Dieser Mensch sinkt , wenn ich ihn verlasse .
Ich kann einen Menschen nicht sinken sehen ... "
Er strich sich das Haar zurück .
" Die anderen glauben , Bettina " , fuhr er fort , " ich ginge an dem Konflikt zugrunde .
Das ist nicht wahr !
Es ist in mir etwas anderes zerstört ... ich komme mir so furchtbar allein , so furchtbar einsam vor .
Ich fühle so deutlich , Bettina , daß ich allein stehe , daß die anderen getrennt von mir kämpfen ...
In mir ist eine Leere , ich ringe ... ich ringe " , sagte er erschüttert , " und komme zu keiner Klarheit , zu keiner Erkenntnis .
Alles in mir ist noch dunkel .
Zuweilen dämmert es für einen Augenblick jäh auf , aber dann ... "
Er brach ab .
Sie standen vor der Universität .
Er blickte wie geblendet auf die Statuen der beiden Humboldts .
" Man glaubt eine Wahrheit zu haben , Bettina , für die man auf das äußerste kämpft , und dann stellt es sich heraus , daß man sich betrogen , sich selbst Ketten angelegt hat , um eines erbärmlichen Irrtums Willen .
Ah , das ist es , was einen elend macht ...
Immer wieder muß man seine Erkenntnisse und Wahrheiten aufgeben .
Sie versinken vor einem wie Nebelbilder !
Hier drinnen , Bettina , lehren sie das Wissen .
Elender und ärmer , hoffnungsloser bin ich herausgekommen , als ich hineingegangen .
Komme weiter ! "
Sie sahen beide nicht , daß die Menschen stehen blieben und ihnen nachblickten .
Ihre eigenartige , unberührte Schönheit und seine Armseligkeit fielen auf .
Nun schritten sie durch das Kastanienwäldchen .
Auf den Bäumen lag der festgefrorene Schnee . Bald hatten sie das freiliegende Gebäude der Singakademie erreicht , den ältesten und vornehmsten Konzertsaal Berlins .
Einzelne Orchestermusiker , die Instrumente unter den Armen , schritten an ihnen vorbei .
" Ich muß mich eilen !
Die Musiker scheinen schon da zu sein .
Nämlich , ich spiele mit Orchester . "
Er drückte ihr die Hand .
" Wo treffen wir uns ? "
Er überlegte eine Sekunde .
" Willst du nicht heute zu ihr gehen ? "
Sie wurde blasser .
" Ich gehe nach der Probe zu ihr ! "
" Du wirst zu ihr gütig sein , nicht wahr ?
Du kannst ja gar nicht anders ! "
Er sah sie nicht dabei an .
Sie nickte .
" Ich treffe dich dann bei der Brose .
Adieu ! "
" Adieu ! "
Sie wandte sich rasch ab. III .
Langsam ging er wieder die Linden entlang , kaum wissend , wo er schritt , niemanden sehend .
Vom Strom ließ er sich treiben .
Am alten , verwitterten Schloß kam er vorbei , betrachtete es sinnend und bewegte sich vorwärts , ohne Ziel , still vor sich hinträumend .
Auf einmal stand er in dem Getriebe des Molkenmarktes und blickte sich verwirrt um .
In diese Gegend war er nur selten gekommen .
Er betrachtete sie aufmerksam , ehe er in eine Seitengasse lenkte .
Was war denn das ?
.. .
Das war ja gar nicht möglich ... und doch , ganz deutlich standen da auf einem Schild die beiden Worte :
Am Krügel .
Beinahe ängstlich und beklommen trat er in die schmale Straße .
Und nun war er wie in einer anderen Welt , die nichts mit dem übrigen Berlin zu tun hatte .
Uralte Häuser mit mächtigen Mauern und Quadern aus versunkenen Jahrhunderten tauchten vor ihm auf .
Und jedes Haus hatte zur Einfahrt ein rundes Tor .
Eines stand weit offen .
Ein großer Hof lag vor ihm , aus dem Hämmern und Schlagen zu ihm drang .
Die ganze Gegend kam ihm verzaubert vor .
Er blickte in ein Erdgeschoß und sah , wie eine steinalte Frau die glanzlosen Augen über die enge Gasse schweifen ließ .
An einem anderen Fenster hockte ein vertrocknetes Mädchen mit flachsgelben , dünnen Haaren und blätterte mit fleischlosen Fingern in einem vergilbten Buche .
Und etwas weiter bemerkte er einen Alten mit milchig weißem Haupthaar und glatt rasiertem Gesicht .
Er saß auf einem Schemel und beguckte durch eine Lupe ein Uhrwerk .
Etwas von dem Geheimnisvollen der Uhrmacher , die bei ihrem Basteln über das Leben grübeln , lag auf seinen Zügen .
Er gehörte offenbar noch zu jenem Schlage , den man kaum noch antrifft .
Thomas trat in den Hof , von dem Hämmern zu ihm tönte ... aha , es war eine Schmiede .
Ein Mann mit einem großen Schurzfell , kräftig und jung , trat ihm entgegen .
" Verzeihen Sie , wo bin ich hier hingeraten ? "
Der Mann lachte derb auf .
" Ein paar Jahrhunderte zurück " , meinte er kurz .
Und den Frager mit den Augen langsam messend , fügte er langsam hinzu :
" Dies Haus steht an die vier Jahrhunderte .
Die Besitzerin ist erst jetzt gestorben .
Von Geschlecht zu Geschlecht hat es sich fortgeerbt .
Nun erst ist es an die Kommune von Berlin gefallen . "
Er wies auf ein Giebelfenster :
" Da oben wohnt eine Frau , die neunzig Jahre alt ist , die ist hier noch geboren .
Die Gegend hat ihre Geschichte , darüber wäre viel zu sagen . "
Er brach ab und ging wieder an seine Arbeit .
Thomas entfernte sich mit einsilbigem Gruß .
Als er am Ende der Gasse war , stand er auf einer kleinen Brücke .
Vor ihm lag die Spree .
An ihren Ufern erhoben sich ihm gerade gegenüber verräucherte Speicher und Fabriken mit Schloten und Essen .
Und da war auch die Waisenbrücke und aus den Spreekähnen stieg der frische Duft der Äpfel zu ihm herauf .
Hier also hauste Matthäus Lind .
Er betrachtete noch eine Weile das flüchtige Leben und ging dann in die Gasse zurück .
Vor dem Hause Nummer vier blieb er stehen .
Er stieg die breiten , ausgetretenen Treppen empor .
Unter seinen Füßen hallte es wider .
Eine Tür öffnete sich , und eine junge , blühende Frau , die an der offenen Brust einen Säugling hielt , kam auf ihn zu .
Sie errötete und suchte mit der freien Hand die Blöße ihres Körpers zu verdecken .
" Wo wohnt hier Matthäus Lind ? "
Sie wies stumm auf die nächste Tür und verschwand .
Er klopfte an .
Unmittelbar darauf wurde ihm geöffnet .
Ohne das geringste Zeichen des Erstaunens bat ihn sein Bekannter , näher zu treten .
Es war ein kahler , schmuckloser Raum .
Auf der Erde lag eine Feldmatratze , mit einem zerlumpten Fell bekleidet .
Den armseligen , wackeligen Tisch bedeckten ein paar Bücher .
In der geöffneten Schublade sah Thomas Äpfel und getrocknetes Obst .
Hinter einem dunklen Vorhang mochten Waschutensilien aufgestellt sein .
Und in einem altmodischen Kamin knatterte und knisterte ein frohes Feuer .
" Hier ist gutes Wohnen " , sagte Thomas , " hier ist es still und einsam . "
" Ja " , wiederholte mit sonderbarer Betonung Matthäus , " hier ist es still und einsam . "
Eine kleine Pause .
" Ich bin zu Ihnen gekommen durch einen seltsamen Zufall .
Nun ich da bin , möchte ich mehr vom Prinzen Siddharta Gautama erfahren . "
Matthäus Lind hatte ihm mit einem sanften Lächeln zugehört .
Dann wies er schweigend auf den einzigen hölzernen Stuhl , der sich in der Kammer befand .
Thomas nahm Platz .
Sein Wirt durchmaß mehrere Male das Zimmer , lehnte sich an die Wand und begann :
" Ich war bei dem Punkt angelangt " - er schloß wie damals die Augen - " wo Siddharta zu Gaya unter dem Schatten des Bodbibaumes zum Buddha , zum Erleuchteten geworden war . "
Er dämpfte die Stimme und sprach :
" Von da zog der Buddha weiter und verkündete in der großen Stille des Abends seine Lehre .
Der Abend , sagen unsere Bücher , glich einer lieblichen Maid .
Die Sterne waren die Perlen auf ihrem Nacken , die dunklen Wolken ihr geflochtenes Haar ; der verfinsterte Raum ihr wallendes Gewand .
Gleich einer Krone trug sie den Himmel , ihre Augen waren die weißen Lotosblumen , die sich vor dem aufgehenden Mond öffnen , und ihre Stirn glich dem Summen der Bienen .
Es kam diese liebliche Maid , um den Buddha zu verehren und der ersten Verkündigung des Wortes zu lauschen . "
Er hielt inne .
Seine Züge nahmen etwas Visionäres und Schwärmerisches an .
" Was verkündete der Buddha ?
Der Buddha verkündete , daß die Begierde des gedankenlosen Mannes wie eine Schlingpflanze wächst .
Er rennt von Leben zu Leben wie ein Affe , der im Walde nach Früchten sucht .
Wen die wilde Gier bewältigt , die giftartige , dessen Leiden mehren sich wie wuchernder Taumellolch .
Wer sie bewältigt , die Gier , dem fallen ab die Leiden wie Wassertropfen von einem Lotosblatt . "
Er richtete jetzt sein Auge durchdringend auf Thomas .
" Wodurch entsteht die Gier ? " fragte der leise .
" Hören Sie es , und graben Sie es in Ihr Innerstes ein " , seine Stimme bekam etwas Predigerhaftes , " die Gier entsteht durch den Wahn vom Ich .
Er erzeugt die Begierde nach dem Leben .
Er ist die Quelle der Sinnlichkeit , der Sehnsucht nach zukünftigem Leben , oder der Liebe zur gegenwärtigen Welt .
Er ist der Ursprung alles Leidens ... » die Ketzerei der Individualität « nennen ihn unsere Bücher .
Alles ist feuerentbrannt , sagt der Buddha .
Es ist entbrannt vom Feuer der Lust , Leidenschaft , der Unwissenheit , entbrannt aus Furcht vor Geburt , vor dem Tod aller , aus Kummer , Klage , Elend und Verzweiflung ...
Nur der sinnliche , unwissende Mensch klammert sich wie ein Ertrinkender an die Begriffe :
» Ich bin « - » dies Ich besteht « - » ich werde sein « - » ich werde nicht sein « ...
Wer Weisheit erworben , dem steigen so unsinnige Ideen nicht mehr auf .
Darum sagt der Buddha :
Werdet teilhaftig des vierfachen , edlen Pfades , der zur Weisheit , zur Heiligkeit , zur Erfüllung , zum Nirwana führt .
- Werdet euch eurer Freiheit bewußt und wirket dahin , daß für euch die Wiedergeburt und Wiederkehr in dieser Welt erschöpft sei ...
Den heimatlos , wunschlos Wandernden , den nenne ich einen Heiligen !
... Werdet selbstlos , sagt der Buddha , denn der Glaube an das Selbst führt zum Leiden , zum Schmerz , zur Verzweiflung .
Geht den edlen Pfad eines tugendhaften und gedankenvollen Lebens ; denn der Bekehrte ist frei von Zweifeln und Täuschungen des Ich . "
Er wischte sich den Schweiß von dem blassen Gesicht , ehe er ganz langsam fortfuhr :
" Unser Tun , unser Handeln ist unser Karma . "
Dieses Wort sprach Matthäus geheimnisvoll und flüsternd aus .
Und nach einer langen Pause :
" Es sagt , daß unsere Gegenwart die Frucht unserer Vergangenheit ist .
Wir selber machen unser Schicksal , wir selber bestimmen unsere Endlichkeit ...
Unser Körper stirbt , aber unser Karma bleibt übrig , um in einer neuen Wiedergeburt auf Erden neue Leiden und neue Schmerzen zu erzeugen ...
Wir tragen an dem Kummer , den wir in einem früheren Leben uns selbst bereitet haben .
Diejenigen aber , welche den vierten edlen Pfad durchschritten haben , sind frei von allem Karma ... Ihr altes Karma ist erschöpft , kein neues vermag mehr zu entstehen ...
Sie haben das Nirwana auf Erden , und wenn ihr Körper zerfällt , tritt keine Wiedergeburt an sie heran ...
Sie sind untergetaucht in das große , heilige All , in das Einzige , das allein Gott , Welt , Mensch , Ich und Du ist . "
Wieder brach er ab .
Sein Antlitz war von der höchsten Freude erfüllt .
Die wasserblauen Augen leuchteten in einem übersinnlichen Glanz .
Thomas hatte alles um sich vergessen .
Dieser Mensch hatte in seiner Sprache , und in seinem Wesen etwas , das ihn hypnotisierte .
Er hing an seinen Lippen .
Plötzlich faßte Matthäus seine Hand , die er unmerklich drückte .
Kaum hörbar nahm er seine Rede wieder auf .
" Das Sein ist eine Lug- und Trugvorstellung , voll Leid und Qual , ein böser , schwerer Traum !
.. .
Das Nichtsein ist die Erlösung !
... Darum schreitet durch die enge Pforte , die zur Einheit führt , entrinnt dem Scheinleben !
... Unterdrückt alles Begehren , das uns an das Rad der Tode und Geburten fesselt ...
Habt den Willen zur Weisheit , und ihr werdet Erkennende !
... Ihr seid Wissende !
Die Unwissenheit , sagt der Buddha , ist die Ursache des Elends .
Werdet selbstlos !
... Erkennt , daß wir eins mit dem All sind , und ihr werdet den edlen Pfad betreten !
... Aus der großen Symphonie des Alls bist du ein losgelöster Ton .
Du willst zusammenklingen mit dem großen All ... aber nicht eher klingst du zusammen , bis du dich selbst rein und frei gestimmt hast !
... Hier in der Wirklichkeit mußt du deine Ewigkeit durchleben !
... Kämpfe mit dem Leben , um das Leben und das Leiden zu überwinden ...
Opfere dich selbst , und du wirst frei werden von Neid , von Eifersucht und allem Gefühl des Hasses ... "
Er ließ Thomas ' Hand los und atmete schwer auf .
Und indem er ihn in unsagbarem Mitleiden ansah , wandte er sich direkt mit den Worten an ihn :
" Geben Sie den Wahn vom Ich auf - und in wesenloser Ferne liegt Fürchten wie Hoffen .
Die Außenwelt vermag Sie nicht zu quälen .
Sie wissen , daß sie nur Ihre Vorstellung , Ihre Einbildung , Ihr Traum ist .
Sie allein schaffen und bewegen , was ist !
... Sie reden nicht mehr von Gott und Seele !
- Sie werden der Erleuchtete !
Sie sind der Wissende !
... Sie sind das All !
... Vor Ihnen liegt Nirwana , in Ihnen ist Weisheit , Güte und Frieden ! "
Es war jetzt todesstill .
Keiner von ihnen sprach ein Wort .
Thomas war wie benommen .
Aber dann erhob er sich , und indem er Matthäus Lind fest ins Auge faßte , fragte er :
" Sind Sie wunschlos ? "
" Ich bin es ! "
" Und können Sie so leben ? "
" Ich lebe ohne Furcht und Hoffnung ! "
" Und das ertragen Sie ?
Das Leben ohne Hoffnung ? "
" Es ist das Leben ohne Haß !
Es ist das Leben der Stille !
Über Gerechte und Ungerechte scheint die Sonne !
Ich sehe keinen Schuldigen , ich sehe keinen Sünder !
Ich fand mein Ich , indem ich mich von seinem Wahn befreite .
Ich bin ein Mendikant !
Bettelmönch Ich habe den Buddha begriffen !
Und jetzt gehen Sie , gehen Sie " , stieß er hastig hervor , " es ist genug für heute ! "
Thomas wäre gern noch länger geblieben , aber der Mendikant , wie er sich selbst nannte , wurde unruhig , und wieder trat jener krankhafte Zug auf sein Gesicht , den Thomas schon in der vegetarischen Speisehalle an ihm wahrgenommen hatte .
" Sie leiden !
Ich bin Arzt " , sagte er schüchtern .
" Nein , nein , gehen Sie " , drängte Matthäus .
Und Thomas ging , obwohl er klar und deutlich sah , daß dieser gebrechliche Mensch des Schutzes bedurfte , daß er dem Zusammenbrechen nahe war .
Er ging , den Kopf schwer beladen von dem , was er gehört hatte .
Unten auf der Straße flüsterte er vor sich hin :
Was ist das für eine sonderbare Lehre ?
Das ist die Lehre von der Güte und Barmherzigkeit um der Sünden der Eltern Willen , an denen die Kinder bis ins siebente Glied bluten .
Das ist die Lehre , die das Leben leugnet , das Blühen , die Freude , das Wachstum !
... Was bleibt von mir , wenn mein Ich erst Ich wird , nachdem es alle Lebenskraft in sich wie in einem Mörser zerstampft hat ... ?
Es überlief ihn kalt .
Am Ende , sagte er zu sich selbst , ist mein ganzer Zustand , mein ganzes Leiden nichts anderes als alte Schuld ...
Und am Ende ist alle meine Lebensmüdigkeit und Trauer nichts anderes als eine Brücke , die über den geheimnisvollen Strom des Nirwana führt .
Diese Gedanken beunruhigten ihn und ließen ihn nicht mehr los .
Wie kann ich als naturwissenschaftlich geschulter Mensch mich mit solchen Dingen überhaupt abgeben ? fragte er sich .
Und ist denn das eine Lösung der Dinge ?
Sind das nicht alles Trugschlüsse ?
Ich und das All ... gut !
... aber weshalb muß ich mich auflösen , um zu dem All zu gelangen ?
Er wollte nicht mehr daran denken ... das ist ja alles nichts weiter als das Kausalitätsgesetz ... überall muß ein zureichender Grund sein ... alles ist gesetzmäßig ... nun ja - nun ja !
... Was habe ich damit gewonnen ?
Er sah plötzlich das übersinnliche Lächeln des Matthäus .
Die Seligkeit des reinen Herzens , sagte eine Stimme in ihm .
Und in dem Augenblicke stand die Bettina vor ihm und blickte ihn mit großen , kummervollen Augen traurig an .
Aber gleich darauf war sie wieder verschwunden .
Er zog den Rock fest an sich .
Ich bekomme wieder Halluzinationen , dachte er .
In beschleunigtem Tempo schritt er weiter .
IV.
Die Probe war für Bettina ein Triumph gewesen .
Die Herren vom Orchester hatten sich erhoben und ihr zugeklatscht .
Sie stand bewegungslos da .
Sie hörte auch nicht die freundlichen Worte des Kapellmeisters .
Sie steckte den Geigenkasten in das gelblederne Futteral und eilte davon .
Ihre Gedanken waren bei ihm .
Auf der Straße hatte es wieder zu schneien und zu stöbern begonnen .
Ein Herr vom Orchester besorgte ihr einen Wagen .
In der Droschke weinte sie in sich hinein .
Wenn ich ihm nur helfen könnte !
Sie beugte sich noch einmal hinaus .
" Sie haben mich doch richtig verstanden ?
Ich will nach der Luisenstraße ! "
Der Kutscher nickte bloß .
Wie würde sie der Frau gegenübertreten ?
Was würde sie ihr sagen ?
Das war der schwerste Gang , den sie je angetreten .
Immer wieder sah sie sein Leidensgesicht .
Aber immer wieder sagte sie sich auch , daß durch das Leiden seine Züge noch adeliger geworden waren .
Nein , er war ohne Schuld - er war ohne Fehl !
Und diese Erkenntnis trug sie über sich selbst , erstickte alles kleinliche Begehren , allen Zorn in ihr , löste das Feinste und Tiefste in ihrer Natur aus .
Sie sah ihn mit reinen , liebenden Augen an , obwohl er für sie verloren war .
Sie empfand dunkel , daß er auch für sie gekämpft hatte , daß es zwischen ihm und ihr einen großen Zusammenhäng gab , der über das Körperliche , über mütterliche Gier hinausging .
Ihr Schmerz wurde ihr etwas Heiliges - sie sog aus ihm nicht Verbitterung - sondern Süße , Fülle und Schwere .
Sie lächelte weh und schmerzhaft .
Die Droschke hielt .
Dennoch stieg sie nicht sofort aus .
Eine namenlose Angst kam wieder über sie .
Der Kutscher sprang vom Bock und öffnete den Schlag .
" Wir sein da , Fräulein , sagte er kurz und grob .
" Ich krieje sechzig Pfennige ! "
Sie gab ihm eine Mark und winkte ab , als er herausgeben wollte .
Sie drückte den Kasten fest an die Seite und stieg mit pochendem Herzen die Treppenstufen empor .
Ah , was hatte sie in dem Hause für leidvolle Stunden durchlebt !
Sie wollte nicht daran denken .
Nein - nicht morgen - in aller Zukunft nicht !
Ich werde ihr alles sagen ... ich werde demütig sein ... ich werde mich vor ihr erniedrigen .
Sie klingelte beherzt .
" Jesus Maria ! "
Die alte Frau wich einen Schritt zurück .
" Fräulein sind Sie es denn ?
Sind Sie_es wirklich leibhaftig ? "
" Ich bin_es ! "
Sie wagte nicht aufzusehen .
" Der Herr Doktor ist nicht zu Hause " , flüsterte die Alte furchtsam .
Bettina schüttelte den Kopf .
" Ich will zu ihr ! " .
Die Frau erwiderte nichts .
Sie machte das Zeichen des Kreuzes und wies stumm auf die Tür .
Auf den Fußspitzen trat das Fräulein näher , während die Wirtin sich scheu zurückzog .
Bettina klopfte mit den bebenden Fingern , und da niemand " herein ! " rief , öffnete sie die Tür .
Sie blieb verdutzt stehen .
Auf dem Sofa lag Thomas ' Frau und schlief .
Der Rock war ihr herabgeglitten .
Aus der halb geöffneten Taille quoll der weiße Busen hervor .
Das dunkle , reiche Haar war aufgelöst und fiel unordentlich über die Schultern der Schlafenden .
Bettina betrachtete sie eine lange Weile .
Das Gesicht erschien ihr aufgeschwemmt , aber nicht unschön .
Sie glaubte sogar in den Zügen etwas Schmerzensreiches und Unglückliches zu entdecken .
Behutsam schloß sie die Tür und setzte sich auf einen Stuhl .
Und von neuem warf sie forschende Blicke auf sie .
Das Gesicht mit den zusammengezogenen Brauen kam ihr jetzt zerstört und hart vor .
Die Katharina warf sich unruhig zur Seite , so daß das Fräulein zusammenfuhr .
Dann wurden ein paar gähnende Laute vernehmbar , Bettina erhob sich , und unmittelbar darauf wurde auch die Schläferin lebendig .
Sie richtete sich auf , stieß einen kurzen Schrei aus , zog unwillkürlich den Rock hoch und erhob sich hastig .
" Verzeihen Sie , ich heiße Bettina ! "
Auf dem Gesicht der Frau ging bei den Worten eine merkliche Veränderung vor .
Sie sah das Mädchen mißtrauisch an , erwiderte aber nichts .
Bettina stand verlegen , hilflos , unruhig da .
" Sie entschuldigen mir wohl einen Augenblick " , unterbrach Katharina das Schweigen .
Und ohne eine Entgegnung abzuwarten , trat sie an den Schrank , nahm ein Kleid heraus und verließ das Zimmer .
Bettina drückte ihr Gesicht an die kalte Fensterscheibe .
Dieses " mir " gellte ihr in den Ohren .
Nach etwa fünf Minuten kam die Katharina wieder herein .
Sie hatte sich umgekleidet und sich das Haar flüchtig zurechtgesteckt .
Ihre ganze Haltung war jetzt verändert .
Ihr Gesicht war herrisch und gerötet .
Ihre Augen schienen stechend .
" Bitte nehmen Sie Platz ! "
" Ich möchte lieber stehen " , erwiderte Bettina zaghaft .
Sie bekam Furcht vor ihr .
" Wie Sie wollen , Fräulein ! "
Dieses " wie Sie wollen ! " klang hart und wie in unterdrücktem Zorn .
Bettina wurde mutlos .
Und jetzt stemmte die andere die Hände in die breiten Hüften und trat gleichsam drohend auf sie zu .
Und stoßweise , in abgerissenen Sätzen , während ihr Atem schneller ging , sagte sie :
" Wir wollen uns nicht aufhalten , Fräulein , Sie müssen mich nicht für eine dumme Gans halten .
Ich weiß genau , weswegen Sie gekommen sind .
Aber daran ist nicht zu rühren , hören Sie !
Denken Sie , ich merke nicht , daß alles gegen mich hetzt ?
Ich bin ein elender Mensch " , brachte sie leidenschaftlich hervor .
" Sie sind jung und haben das ganze Leben vor sich ... aber ich ... ich ... wissen Sie , Fräulein , daß ich mich auf die Gosse legen kann , wenn ich ihn nicht habe ?
... daß ich dann hundsverlassen bin ? "
Sie machte eine kleine Pause .
" Ja , noch schlimmer als das !
... Wenn ich krepiere , rührt keiner einen Finger nach mir ! "
Und jetzt bekam ihre Stimme etwas Schreiendes und Kreischendes :
" Ich will nichts hören ... ich lasse ihn nicht ... ich lasse ihn nicht !
... Alles , was er Ihnen erzählt hat , ist nicht so schlimm ... "
Und sich beinahe überstürzend , fuhr sie fort :
" Seien Sie man erst Mal verheiratet !
.. .
In jeder Ehe kommt so was vor ... ohne so was geht_es nirgends ab ! Deshalb ... pah ! "
Sie atmete tief auf und sah Bettina halb spöttisch , halb mit überlegener Frauenmiene an .
" Wenn er sich auch so stellt - lieb hat er mich doch - Sie können sich darauf verlassen , Fräulein ! "
Und als ob sie ihren letzten Trumpf ausspielen wollte , sagte sie mit Todesruhe :
" Bis ans Ende gehören wir beide zusammen ! "
Dann kreuzte sie die Arme und ließ keinen Blick von dem Mädchen , aus dessen Zügen jeder Blutstropfen gewichen war .
Aber plötzlich schien etwas wie Mitleid in ihr aufzutauchen , und indem sie die Achseln emporhob , murmelte sie nur :
" Ich kann nichts dafür - daran ist nun Mal nichts zu ändern ! "
Die Bettina hatte sich abgewandt ; das Wort erstarb ihr .
Nicht eine Silbe hätte sie zu ihr sagen können .
Sie nahm den Geigenkasten , an den sie sich festklammerte , während sie in der Linken ihr Batisttüchelchen zerknitterte und die Nägel in ihre Handfläche grub .
Sie dachte nur an das eine :
Ich will nicht vor ihr weinen ... ich will nicht weinen ... ich will nicht weinen !
Befremdet und verwundert starrte Katharina sie an .
Es war ihr , als müßte sie dem Mädchen noch etwas zu ihrer Verteidigung , zu ihrem Verständnis sagen .
Aber sie fühlte , daß ihr der Kopf wehe tat , und daß sie trotz aller Anstrengung nicht das Rechte finden würde .
Einen Augenblick kam es ihr in den Sinn , ihre ganze Geschichte zu erzählen und auf diese Weise zu zeigen , daß sie unschuldig sei .
Ein Gefühl der Rührung beschlich sie dabei :
Nee , nee , wozu denn , dachte sie dann und warf die Lippen trotzig auf .
Man hat schließlich auch seinen Stolz , fügte sie im stillen bei sich hinzu : " Na , machen Sie es gut " , meinte sie kurz , als Bettina , kaum nickend , sie verließ .
Eine Weile stand sie mitten im Zimmer wie angegossen , ohne sich zu rühren .
Sie ließ die Arme schlaff fallen .
Die Mundwinkel zogen sich ihr in bitteren Falten herab .
Und als ob sie ein Verbrechen begehen wollte , sah sie sich nach allen Seiten verschreckt um .
Dann wimmerte sie nur : " O du meine Güte ... O du meine Güte ! " V. Der Abend , an dem das Konzert der Bettina stattfand , war kalt und klar .
Die Sterne funkelten .
Vereinzelte Droschken hielten vor der Singakademie .
Ab und zu ging eine kleine Gruppe von Menschen hinein .
Noch nicht ein Drittel des Saales war gefüllt .
Die Freunde vom " Festsaal " , die vollzählig erschienen waren , blickten sich ein wenig verstimmt um .
Sie kannten die Musikverhältnisse Berlins zu wenig .
Sie wußten nicht , daß nach dieser Riesenstadt aus allen Weltrichtungen die Virtuosen gepilgert kommen , für ihre letzten Groschen sich ein Konzert veranstalten lassen , bloß um hier " besprochen zu werden " .
Mit den Kritiken in der Tasche ziehen sie dann in die Provinz , wo sie sich schadlos zu halten suchen .
Die Leute vom " Festsaal " wußten auch nicht , daß jede Woche eine ganze Reihe von Konzerten namhafter Künstler stattfand , daß das Publikum in Berlin mit Musik überfüttert wird , daß man an den Neulingen nur geringes Interesse nimmt .
Die Besucher , die sich an dem Abend in der Singakademie eingefunden hatten , waren selbstverständlich mit Freibilletts erschienen , zum größten Teil Musiklehrer und -lehrerinnen , die wiederum ihre Bekannten mitgenommen hatten .
Die meisten Konzerte brachten den Veranstaltern nur Sorgen und Enttäuschungen .
Nach jahrelangem Arbeiten und Studieren traten sie auf , um dann in der Presse mit ein paar mitleidigen , oder gar höhnischen Worten abgetan zu werden .
Viele , die ihre ganze Jugend dem aufreibenden Studium geopfert hatten , mußten hören , daß ihr Können denn doch nicht für ein öffentliches Auftreten ausreiche .
Anderen wurde der Rat gegeben , noch ein paar Jahre fleißig und ernsthaft an sich zu arbeiten .
Wie oft entschied so ein Abend über das ganze Schicksal solch eines armen Menschen !
Nur für ein paar Wenige war Platz , die übrigen wurden ohne Schonung zurückgedrängt , um in bitterer Vergessenheit durch Stundengeben mühselig sich durchzuschleppen .
Es war gleichsam ein Trost und eine Genugtuung für sie , wenn sie dann in all den folgenden Jahren den Fall jener miterlebten , die wie sie hoffnungstrunken hierher kamen .
Sie waren die schärfsten Kritiker im Konzertsaal .
Jeden falschen Ton hörten sie heraus , und ihre verständnisvoll lächelnden Blicke trafen sich .
Sie legten den strengsten Maßstab an .
Sie zahlten sozusagen heim , was man ihnen angetan hatte ...
Und vor diesen Leuten sollte Bettina zum erstenmal in Berlin spielen !
Am Abend vorher hatte sie Thomas froh geigen und sich selbst über all das Leid hinwegbringen wollen .
Er hatte aber so verstört abgewehrt , daß sie jeden Versuch aufgab .
Und auch darin begriff sie ihn .
Sie hatte wortlos den Geigenkasten beiseite gestellt und unaufhörlich zu erzählen begonnen , um ihn hinwegzutäuschen über das , was in ihr arbeitete .
Er mußte sie zu dem Konzert abholen .
Darauf hatte sie bestanden .
Während der Fahrt fragte sie ihn , ob die anderen kommen würden .
" Alle , außer Katharina ! "
Sie schmiegte sich an ihn und nahm seine Hand , die sie nicht mehr losließ .
Und so niedergebeugt und mutlos sie war , so hielt sie doch der eine Gedanke in dieser Stunde aufrecht , daß sie nur für ihn spielen würde .
Ich werde nur für ihn spielen , wiederholte sie sich in einem fort .
Da wußte sie , daß sie alles geben würde , was in ihr lag .
Ihr wurde ganz warm , obwohl sie nur ein Cape über ihrem dünnen , weißen Tüllkleid trug , um es nicht zu drücken .
" So , wir sind da " , sagte sie erregt .
" Du mußt bei mir bleiben , bis es beginnt .
Du mußt " , bat sie innig und nahm seinen Arm .
Eine Minute später waren sie in dem Künstlerraum , von dem aus eine Treppe zu dem Podium führt .
Sie hatte das Cape abgeworfen und stand nun vor ihm in ihrem bescheidenen Kleidchen , dessen Spitzeneinsatz bis zum Halse ging .
Dennoch sah sie anmutig und eigenartig aus .
Das Kleid stimmte zu ihrem feinen Persönchen .
Ihr todestrauriges Gesicht hatte etwas unsagbar Rührendes .
Sie achtete nicht auf seinen armseligen , fadenscheinigen Anzug , sie blickte nur in seine Augen , als wollte sie das Letzte in ihm ergründen .
Und auf einmal flüsterte sie weich und wunderbar lächelnd :
" Du sollst mich küssen , Thomas , wie eine Schwester sollst du mich küssen ! "
Seine ernsten Züge blühten auf , als er sich zu ihr herabbeugte ; und wieder hatte sie die Vorstellung , er sei gar nicht verheiratet .
Und dieser Gedanke verstärkte sich noch , als er sie küßte , während sie die Lider schloß .
So rein , so keusch , so jünglingshaft erschien er ihr .
Sie hörte Schritte .
Unmittelbar darauf stand ein mittelgroßer Mann mit einer spiegelglatten Glatze und einem pfeffergrauen , dürftigen Vollbart , der am Kinn ausrasiert war , vor ihnen .
Die lebhaften , kleinen Augen , die etwas Stechendes hatten , waren hinter einem Kneifer verborgen .
Das Gesicht hatte einen rötlichen Ton .
Nachdem er zuerst Thomas einigermaßen erstaunt beäugelt hatte , reichte er ihr einen Strauß dunkler Rosen , ließ ein paar belanglose Worte fallen und zog gleichzeitig die Uhr vor .
" In fünf Minuten fangen wir an , mein Fräulein ! "
Sie nickte nur .
Und auf Thomas weisend :
" Sie gestatten wohl , daß ich Ihnen meinen Vetter vorstelle .
Herr Thomas Track - Herr Konzertdirektor Behr ! "
Der Konzertdirektor verbeugte sich mit einem undefinierbaren Zug um die Lippen und räusperte sich unverständlich .
Dann ging ein seltsames Zucken über sein Gesicht , als fiele ihm irgendetwas ein .
Er brachte eine höfliche Phrase hervor und fügte hinzu : " Eis ist übrigens Zeit , daß Sie Ihren Platz aufsuchen .
Die Philharmoniker sind pünktlich .
Die Leute haben es immer eilig , nach Hause zu kommen ! "
Er meinte damit die Orchestermusiker .
Bettina nahm Thomas' Hände , und voll Demut sagte sie wieder :
" Ich spiele nur für dich ! "
Ohne auf den Agenten zu achten , küßte er sie auf die Stirn .
Dann entfernte er sich .
Der Konzertdirektor rieb einen Augenblick verlegen seine Hände .
" Hören Sie Mal , mein Fräulein , ist das etwa der Thomas Druck , von dem man viel in den Zeitungen liest , der in Versammlungen - "
" Ja , der ist es " , antwortete sie ruhig und weidete sich in seiner Bestürztheit .
" Kindchen " , entgegnete der Agent in einem väterlich protegierenden Ton , " Sie müssen hier in Berlin etwas vorsichtig sein !
So 'n Mensch kann Sie - Sie nehmen mir das nicht weiter übel - erlauben Sie Mal , wie der Mensch schon angezogen ist !
... Das ist doch keine Konzerttoilette !
So ein Mensch kann Sie kompromittieren !
Sie dürfen es mir ... "
Er sprach nicht zu Ende .
Bettina hatte ihren Kopf ein wenig zurückgebogen und blickte so zornig auf ihn , daß er betroffen wurde .
" Diesen Menschen , mein Herr , kenne ich besser als Sie .
Das ist ... der ist ... "
Sie wollte offenbar eine Erklärung abgeben , aber als ob sie sich eines Besseren besonnen hätte , hielt sie mitten im Satze inne , kehrte sich um und nahm ihre Geige in die Hand .
" Aber Fräulein ! "
In dem Tone des Konzertdirektors lag etwas Begütigendes .
" Lassen Sie sich nicht die Stimmung verderben , in keinem Fall wollte ich Sie verletzen ! "
Er wurde wieder etwas kühler und reservierter .
" Übrigens , ist Ihnen schlecht ?
Sie sehen so furchtbar angegriffen aus .
Wünschen Sie vielleicht ein Glas Rotwein ? "
" Nein , nein , ich will jetzt hinaus ! "
Der Konzertdirektor führte sie zur Treppe .
Sie hielt sich an dem Geländer .
Auf jeder Stufe blieb sie eine Sekunde stehen .
Ihr Gesicht war voll tiefer Trauer .
Sie fühlte , wie die Tränen langsam in ihr aufstiegen .
Und jetzt trat sie vor das Publikum .
Ich spiele für ihn ...
Ihre blutlosen Lippen bewegten sich .
Die Arme waren ihr schlaff .
Der Kapellmeister nickte ihr ermutigend zu .
Sie klammerte sich an die Geige .
Ihr Auge irrte suchend durch den leeren Saal .
Und da entdeckte sie ihn .
Ihre Gestalt wuchs .
" Ich spiele für ihn " , flüsterte sie wieder , ohne zu merken , daß viele Gläser auf sie gerichtet waren .
In der ersten Reihe saßen Herr und Frau Berg .
Neben ihr Rechtsanwalt Kornfeld .
Der Kapellmeister gab das Zeichen .
Das Orchester setzte zum Vorspiel ein .
Beethovens großes Violinkonzert war die erste Nummer des Programms .
Sie hatte ein paar Minuten Zeit , um sich zu sammeln .
Nun legte sie den Bogen an .
Nach den ersten Tönen war es allen , die in dem fast leeren Saal sich eingefunden hatten , klar , daß etwas Außergewöhnliches ihrer wartete .
Groß , voll und feierlich klangen die Töne .
Hier wurde Beethoven nicht gespielt , hier wurde er erlebt , im Innersten erlebt .
Das Spiel war von einer Reinheit und Kraft getragen , von einer Größe der Auffassung , daß es atemlose Stille schuf .
Sie aber dachte beständig nur :
ich spiele für ihn .
Als der erste Satz verklungen war , blieb es einen Augenblick ganz still .
Dann aber klatschte man sich schier die Hände .
Sie hörte es teilnahmslos .
Sie suchte nur ihn , aber sie konnte ihn jetzt nicht finden .
Er hatte sich vor ihren Blicken verborgen .
In ihm war Widerstreit und Auflösung .
Auch er sah keinen Menschen um sich .
Er sah nur den Garten , wo sie für ihn allein gespielt hatte , während im Winde ihr weißes Kleidchen wehte , und alles um ihn duftete .
Versunkene Zeiten tauchten vor ihm auf .
Geheimnisvolle Schauer durchdrangen ihn .
Ihm war es , als ob ihr Spiel alles das , was wie eine Eiskruste hart auf ihm gelastet hatte , sanft , behutsam und milde von ihm nahm .
Es trug ihn weit fort .
Es schloß ihn auf .
Es dünkte ihn , als ob es ihn kindlich fromm machte , als ob es alles Mystische und Religiöse , das in ihm schlummerte , auslöste .
Und ohne , daß er sich völlig darüber klar wurde , stieg in ihm die Erkenntnis auf , daß er die ganzen Jahre die Augen gewaltsam geschlossen hatte , um das blühende Leben nicht zu sehen .
Daß er in seinem Freiheitsrausche , in seinem heißen Bemühen , das Leben zu kneten und zu gestalten , alles Lebendige , alles Empfindende in sich ausgeschaltet hatte : den Frühling und die Musik , wie Bettina es nannte .
Und in dieser Stunde hellsten Bewußtseins hörte er seine Glocken läuten .
Eine weite Sehnsucht durchdrang ihn , eine Sehnsucht nach der großen Erfüllung , nach dem großen Einklang .
Ich habe gehungert , weil ich meinen Weg nur dunkel vor mir sah .
Und mitten in dem Spiele der Bettina wurde es ihm deutlich , daß sein ganzes Wesen von Grund aus auf Andacht gestimmt war .
Wieder horchte er auf ...
Ist denn mein Erwachen nicht zu spät ? fragte er sich trostlos . Habe ich noch die Kraft ... die Stärke ... ?
Und da begegnete er den Augen Bettinas , die angstvoll ihn suchten .
Er sah sie ernst und gedankenvoll an .
Dann senkte er den Blick und wurde wieder unruhig .
Alles wogte von neuem in ihm durcheinander : der " Festsaal " ...
Tanz ... Andacht ...
Musik ...
Aus seinen Träumen weckte ihn der brausende Beifall .
Die Menschen hatten sich erhoben und klatschten Bettina zu .
Sie aber ließ bewegungslos alles über sich ergehen .
Und immer stärker und brausender wurde der Jubel .
Sie blickte teilnahmslos über die Menschen hin , nur erfüllt von ihrem Leid um ihn .
In der fünften Reihe stand der Musiker Abraham Gebhardt und starrte sie regungslos wie eine Erscheinung an .
Nach dem letzten Satze mußte sie unzählige Male hervorkommen .
Müde und erschöpft dankte sie .
Ihr Aussehen , das niemand sich erklären konnte , hatte etwas Erschütterndes .
Vermutungen wurden laut ...
Man munkelte sich allerhand abenteuerliche Dinge zu .
Zuletzt folgte sie nicht mehr den Rufen .
Sie brach im Künstlerzimmer auf einem Stuhle zusammen .
Sie fror .
Dann fuhr sie empor .
Der Konzertdirektor war an ihrer Seite .
Er war ganz verwandelt .
Er nahm ihre Hand .
" Ich gratuliere Ihnen aufrichtig !
Sie sind mit einem Schlage berühmt geworden .
Sie sind eine Künstlerin allerersten Ranges .
Morgen werden Sie es in den Zeitungen lesen - heute sage ich es Ihnen !
Und das ist vielleicht für Sie mehr wert ! " fügte er hinzu .
" Man hat nicht zu viel über Sie geschrieben .
Ich kann Ihnen schon jetzt versichern , Sie werden von Berlin aus Ihren Siegeszug machen ! "
Er sprach in einem fort .
Sie müßte in wenigen Tagen noch ein Konzert geben und dann eine große Tournee antreten .
Lächelnd schloß er :
" Sie werden gar nicht wissen , wohin Sie mit all dem Gelde sollen ! "
Und nun blinzelte er sie erwartungsvoll an .
" Ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit .
Aber ich gehe nicht aus Berlin fort .
Ich bleibe hier . "
Und bekräftigend setzte sie hinzu : " Ich muß hier bleiben ! "
" Nun , darüber reden wir noch ! "
Er schob sie wieder zur Treppe .
Sie wandte sich noch einmal um .
" Wollen Sie mir einen Gefallen tun ? " fragte sie bebend .
" Aber gewiß ! "
" So bitten Sie den Herrn , der vorhin hier war , er möchte nach der nächsten Nummer zu mir kommen .
Er sitzt links in der neunten Reihe . "
Der Konzertdirektor nickte .
" Übrigens " , setzte sie hinzu , und für einen Augenblick verklärte ein glückseliges Lächeln ihre traurige Miene , " dieser Herr ist Arzt ! "
Und als ob sie etwas höchst Bedeutungsvolles mitgeteilt hätte , wiederholte sie noch einmal :
" Er ist Arzt ! "
Dann ging sie rasch die Treppe hinauf .
Sie wurde mit lautem Beifall empfangen und dankte ernsthaft .
Und wieder riß ihr blühender Ton , ihr vertieftes , innerliches Spiel , ihre sichere Überlegenheit alles hin .
" Sie ist ein Phänomen " , flüsterte die Berg Kornfeld zu .
Allem Beifall und allem Rufen zum Trotz zeigte sie sich nur einmal .
Sie eilte die Treppe hinunter , Thomas entgegen .
Schluchzend umarmte sie ihn .
Kein Wort brachte sie hervor .
Ihr war so wohl und weh zumute , als seine Hand ihr Haar glättete . - - - Am Ausgang der Singakademie stand eine Gruppe von Menschen und wartete auf sie .
Man wollte sie auch in der Nähe betrachten .
Man wollte genau wissen , wie sie aussah .
Man war ja zugegen gewesen bei dem großen Ereignis .
Man wollte am anderen Tage auf das genaueste berichten können .
Die Leute mußten lange aushalten .
Als sie endlich kam , rissen sie verwundert die Augen auf , steckten die Köpfe zusammen und tuschelten .
Sie schritt Arm in Arm mit einem reduzierten Menschen , der trotz der Kälte nicht einmal einen Mantel trug .
Und hinter ihr bewegten sich fragwürdige Gestalten , die man in der Singakademie nicht zu sehen gewohnt war .
" Wie interessant ! " rief ein junges Mädchen .
Als die Liers jetzt vorbeikam , kicherte es laut los .
An der anderen Seite der Bettina ging Abraham Gebhardt .
" Wie glücklich müssen Sie sein " , sagte er in ehrlicher , neidloser Bewunderung .
Er konnte aber ihre Züge nicht erkennen .
Sie hörte es nicht .
Sie schmiegte sich fest an Thomas .
Sie spürte keine Kälte .
Sie ging mit ihm , mit ihm allein durch den Garten , und es war wie in längst entschwundener Kinderzeit .
Sie standen am Weiher , lehnten sich an die Weiden und spiegelten sich in dem dunklen Wasser .
Hinter ihnen schritt die Brose mit Heinsius , der zuweilen einen trockenen Husten von sich gab .
Fründel ging zwischen der Ingolf und der Gerving .
Er achtete nicht darauf , daß Liers vergeblich sich mühte , der Josefa etwas zuzuflüstern .
Die Letzten waren die Lissauers und Blinsky .
Ganz einsam für sich schlich die Maria Werft .
Und über diesen zwieträchtigen Menschen funkelte der sternenklare Winterhimmel .
VI.
Die nächste Nummer des " Festsaals " brachte aus der Feder Thomas Drucks einen Aufsatz , der für seine Beziehungen zu den Freunden von folgenschwerer Bedeutung werden sollte .
Er trug den Titel " Die Weltanschauung und Religion des selbstbewußten Ich " und legte in seinem wesentlichen Gedankeninhalt dar , daß der entwickelte , auf der Höhe angelangte Mensch mit dem Begriff Freiheit allein nicht auszukommen vermöge .
Alle bedeutsamen und weitgreifenden Wirkungen seien nur von reinen Persönlichkeiten ausgegangen , die sich zu einer großen Weltanschauung durchgerungen hätten und dadurch erst zur eigentlichen Freiheit gelangt wären .
In diesem Sinne müsse der freie Mensch Religion haben .
Man solle sich an dem Wort nicht stoßen .
Religion im tiefsten Sinne sei wesentlich unterschieden vom dogmatischen Buchstabenglauben .
Die freiheitlichen Denker sprechen von der Hochachtung , Selbstwürde und Majestät der Persönlichkeit .
Sie verurteilen die materialistische Geschichtsauffassung , die Zwangsrecht und Autorität Predigt und zur Knechtung des einzelnen führt .
Nach ihr hat das Individuum nicht den leisesten Spielraum mehr .
Es wird bedingt und bewegt durch die Maße .
Es ist an sich null und nichtig .
Dieses wesenlose Objekt wird unter das Joch des Zukunftsstaates gespannt .
Es darf unter dem Schweiße seines Angesichts den Pflug ziehen , aber es darf nicht denken .
Es wird gefüttert , aber es darf nicht zum Bewußtsein seines Ich kommen .
Zwangsrecht und Autorität knebeln es härter denn je .
Das ist das würdelose Dogma des Materialismus , der keine Zukunft haben kann , weil er keine Religion besitzt .
In dieser völligen Verneinung und Leugnung der Persönlichkeit haben die freien Geister den Bankrott der materialistischen Geschichtsauffassung , des gemeinen Sozialismus erkannt .
Sie haben erkannt , daß die Wurzeln des Volksgrams tiefer ruhen als in den ökonomischen Verhältnissen , daß an sich eigentlich schon heute die Produktionsmittel in den Händen der Arbeiter sind , daß nur durch ein geheiligtes Raubrecht die Produktion selbst ihnen gestohlen wird .
Indem sie immer und immer wieder auf das unantastbare Recht der Persönlichkeit hinweisen , haben sie in unbewußtem Ahnen auch den Keim zu einer religiösen Weltanschauung gelegt .
Sie haben begriffen , daß das höchst entwickelte Ich , die reine Persönlichkeit ein Bild der Unendlichkeit ist .
Denn was bedingt anderes die Ehrfurcht vor der Persönlichkeit , wenn nicht ihre Unendlichkeit , ihre Ewigkeit !
Der Mensch aber , dem dieser Gedanke erst einmal aufgegangen ist , fühlt sich eins und verwoben mit dem All .
Für ihn entsteht die Gleichung :
Ich = All .
In ihm ist das große , ahnungsvolle Erwachen des Allbewußtseins ; indem er sich als Urgeist fühlt , durchdringt ihn das Gemeinschaftsgefühl .
Aus der höchsten Selbstliebe , aus dem reinsten Egoismus quellt die Nächstenliebe hervor .
Und darum ist es eins der tiefgründigsten Worte :
" Liebe deinen Nächsten wie dich selbst . "
Erst wenn du zum Bewußtsein kommst , zur Erkenntnis , zur Ehrfurcht , zur Liebe deines Selbst gelangt bist , wenn du die Ehrfurcht vor dir , dem Menschen gelernt hast , wenn die große Freiheitsidee wie eine reine Flamme in dir aufgegangen ist , dann bist du der höchsten Nächstenliebe fähig .
Das nennen wir : die Freiheit des Ich - das Erwachen des Menschen - die Auferstehung - die Religion .
Weil die materialistische Geschichtsauffassung in diesem Sinne der Religion entbehrt , irreligiös ist , bekämpfen wir sie als eine Denkrichtung , die die Geister verflacht und ins Irre führt .
Als der Buddha unter die Brahmanen trat , denen das Allbewußtsein längst aufgedämmert war , und ihnen , die sich Götter fühlten , zurief :
" Ich bin ein Mensch , ich bin der erleuchtete , der wissende Mensch , ich bin das All- Ich " , da war die Wirkung dieser Worte eine unbeschreibliche , eine gewaltige , die brausend alles mit sich fortriß .
Und als Christus , der öfter als einmal verkündet hatte :
" Ich bin des Menschen Sohn " , in der Stunde , die ihn ans Kreuz bringen sollte , auf die Frage pfäffischer Richter und Rabbiner :
" Bist du Gott ? " alle Todesfurcht weit von sich wirft und nur die eine Antwort hat :
" Ihr sagt es , ich bin_es ! " -
was tat er da anderes , als daß er die große Ureinheit von Ich und All , das Hohelied vom Menschen verkündete !
Folgen wir den Spuren , die der Erleuchtete gegraben haben .
Versuchen wir es , unsere Weltanschauung in uns zu wecken , den Weg zur Freiheit , zur Religion zu finden ...
Die diesem Aufsatze zugrunde liegenden Erkenntnisse waren in Thomas unter den Klängen Beethovenscher Musik am Konzertabend der Bettina wie Schößlinge , die der Regen in der Frühlingsnacht aus dunklem Erdreich hervortreibt , aufgeblüht .
Sie waren dann in den nächsten Tagen und Wochen gewachsen und ungeahnt zur Reife gekommen .
Mit der Klarheit , die über ihn kam , die ihn zuerst im Inneren erschütterte , hatte ihn auch ein tiefes Gefühl der Ruhe erfüllt .
Bevor er einen Gedanken niederschrieb , hatte er ihn mit Bettina besprochen .
Sie wich nicht von seiner Seite .
Sie hörte ihm still zu , empfänglich für jedes seiner Worte .
Oder sie nahm ihre Geige und gab ihm mit leuchtenden Augen das Beste , was sie hatte : ihre Seele .
Es war seltsam , sobald in seinen geistigen Kämpfen eine Vorstellung ihn mutlos und mürbe machte , oder der Weg zum Wissen und Erkennen über Baumwurzeln in die Dunkelheit führte , brauchte sie nur zu spielen und alle Finsternis versank .
Langte er dann zu Hause an , wo ihn Katharina mit bösen Augen empfing und nur darauf lauerte , ihn mit ihrer Furcht zu quälen und zu schmähen , so hörte er sie still und stumm an .
Auf seinen bleichen Leidenszügen lag Mitgefühl und Trauer .
Er kam ihr wie behext vor .
In ihr schrie alles auf , daß sie ihn nicht zu reizen vermochte .
Und in bitterem Auflachen warf sie alle Schuld auf die Bettina ...
Als Thomas seine Gedanken für den " Festsaal " formulierte , war es ihm , als ob plötzlich eine schwere Last von ihm gefallen wäre .
Er hatte aber das klare Empfinden , daß er in keiner Redaktionssitzung über seine Früchte des Nachdenkens des längeren und breiteren zu sprechen vermochte .
Die Dinge waren ihm so heilig , daß er die Debatte bis nach dem Erscheinen des Aufsatzes vertagt wissen wollte .
Niemals hatte er so langsam gearbeitet .
Von Woche zu Woche hatte er die Veröffentlichung hinausgeschoben .
Nur den Extrakt des Gefundenen hatte er geben , nur andeuten wollen .
Er war sich der ganzen Tragweite seines Handelns bewußt .
Er zweifelte nicht daran , daß mit diesem Aufsatze für den " Festsaal " ebenso wie für ihn eine neue Epoche beginnen würde .
Er sah fest dem Kampfe entgegen .
Einmal sagte er zu Bettina :
" Du bist es , die mir einen Teil meiner Heiterkeit zurückgibt .
Ich habe das Leben geleugnet , indem ich seine höchsten Triebe verneinte .
Du bringst mir das Leben zurück , du und deine Kunst ! "
Als nun aber die betreffende Nummer herauskam , da brach ein Sturm unter den Freunden los , den er in solcher Stärke doch nicht erwartet hatte .
Es war in der Wohnung der Brose , wo die Geister aufeinander platzten .
Die Brose hatte es kommen sehen .
Sie wollte Bettina den Anblick eines Kampfes ersparen , dessen Widerwärtigkeiten sie vorausahnte .
Aber Bettina wich nicht .
Es war ganz still , als Heinsius die Sitzung eröffnete .
Er erklärte - und auf seinen Backenknochen brannten rote Flecken - er habe beim Lesen des Artikels zunächst einen Blick auf den Kalender geworfen und sich überzeugt , daß Fasching sei .
Und wenn dieser Aufsatz nichts weiter als eine Parodie , einen Fastnachtsscherz bedeute , so könne man ja von ihm zur Tagesordnung übergehen .
Alle sahen nur gespannt Thomas an , auf dessen Gesicht sie jedoch keine Veränderung wahrzunehmen vermochten .
Er entgegnete voll tiefen Ernstes :
" Ich finde die Art des Angriffes unwürdig .
Will mir Heinsius eine Brücke bauen ?
Oder will er mich verhöhnen ?
Ich weise beides zurück .
Die Sache ist mir zu heilig , als daß ich sie auf solche Methode behandeln könnte .
Ich habe eine Entwicklung meines inneren Menschen ausgedrückt - denn " , fügte er nachdenklich hinzu , " jetzt erst ist mir der Begriff » Mensch « klar geworden .
Mir kommt es vor , als ob ich all die Zeit in einem Irrgarten der Erkenntnis gewandelt wäre .
Wenn ich große Beispiele anführen werde , so lehne ich von vornherein den Vorwurf ab , daß ich mein kärgliches Tun auch nur vergleichen wollte mit denen , die mir vorbildlich waren .
Es kam der Tag " , fuhr er mit gedämpfter Stimme fort , " wo Buddha und der Christus erkannten , daß sie nicht mit Selbstkasteiungen und Askese ihr Ziel erreichen würden .
So verließ Buddha die Wälder von Uruwelea und Christus die Wüste ...
All die Jahre habe auch ich den Menschen in mir kasteit , die Freiheit gepredigt , ohne sie eigentlich verstanden zu haben .
Ich gehe den Weg der Wahrheit und des Lebens , wenn ich umkehre .
Ihr sollt mich darum nicht schelten " , sagte er bittend , " denn was ich schrieb , schrieb ich in Ehrfurcht vor euch .
Ist es denn nicht möglich , daß auch ihr die Brücke betretet , auf der ich nunmehr stehe ... ? "
Während Thomas sprach , hatte Fründel nicht den Blick von ihm gelassen .
Seine Miene hatte etwas Fanatisches , Triumphierendes und geradezu Niederträchtiges .
Sie schien auszudrücken :
Da seht ihr_es , wie recht ich gehabt hatte !
Nun ist er in seine eigene Falle gegangen .
Er hatte sich von seinem Platz erhoben und war dicht an Thomas herangetreten , um ihm zu erwidern .
Aber Heinsius , dessen Züge streng und von innerer Erregung beherrscht waren , kam ihm zuvor .
Seine Stimme klang hart und trocken .
Nach jedem Satze machte er eine Pause und wischte sich den Schweiß von der Stirn .
" Ich bin leider nicht imstande , auf den versöhnungsseligen Ton , der soeben angeschlagen wurde , einzugehen .
Das ist für mich eine Fülle von tragischer Ironie .
Der Artikel bedeutet für mich nicht mehr oder nicht weniger als einen Treubruch , eine Felonie ...
Jahr und Tag hat man dazu gebraucht , um sich von Formeln und Dogmen frei zu machen .
Endlich ist man soweit , den Ballast von sich zu werfen , gemeinsam für die Ideen der Zukunft den Acker zu bestellen ... und da kommt einer , dem man blindes Vertrauen geschenkt hat , wärmt den alten Kohl von neuem auf , schmalzt und salzt ihn und setzt das üble Gericht den Gläubigen vor !
Wenn irgendein Idiot diese Phrasen auftischte , denn für mich sind das nur Phrasen , so wäre das bedeutungslos .
Aber wenn Sie Ihre Autorität in die Schale werfen und den Lesern , die vertrauensvoll das Blatt in die Hände nehmen , einen solchen sentimentalen Wust vorsetzen , so müssen Sie Verwirrung stiften !
Ich werfe Ihnen Unredlichkeit gegen uns vor ; denn der » Festsaal « wird auch von uns vertreten , und diejenigen , die ihn lesen , müssen zu dem Glauben kommen , daß Sie in unser aller Namen sprechen .
Das Renegatentum freier Geister wird mir aus Ihrem Falle klar !
Ich begreife jetzt , daß es Menschen gibt , deren vermeintliche Stärke nur ein Selbstwahn , ein Aushängeschild ihrer inneren Schwäche ist .
Es kommt die Stunde , wo sie kläglich umfallen !
Ich kann keine Versöhnungspolitik treiben " , schloß er , und seine Stimme schien überzuschlagen ; " denn hier handelt es sich nicht um Meinungsverschiedenheiten , hier ist ein Gegensatz , der scheidet und trennt !
... Wir treten nicht auf Ihre Brücke , deren Pfeiler morsch sind .
Und es ist wieder eine Ihrer Wahnvorstellungen , wenn Sie sich als Brückenbaumeister aufspielen !
.. .
Die Brücke steht seit uralten Zeiten !
Immer und immer wieder wird sie von den Schwachen und Einfältigen benutzt ... "
Er brach ab und sah Thomas mitleidig und sarkastisch an .
Dem war zumute , als ob eine Mauer , die ihm bisher Halt und Stütze gewährt hatte , hinter ihm zusammenbrach .
Es wurde einen Augenblick dunkel um ihn .
Er seufzte in sich hinein .
Nein , nein , ich hatte mir doch nicht vorgestellt , daß es so schwer sein würde , dachte er bei sich .
Laut aber sagte er :
" Wogegen soll ich mich zuerst verteidigen ?
Ihr blickt mit drohenden Gesichtern auf mich , und wie einen Angeklagten , wie einen Verbrecher behandelt ihr mich !
Was wollt ihr von mir ? mir ?
Die Freiheit der Persönlichkeit ist euch das Höchste , so sagt ihr wenigstens ; und nun stellt einer Sätze auf , die euch unbehaglich sind , die ihr im Augenblick vielleicht nicht zu fassen vermögt , und laut ruft ihr : kreuzigt ihn !
Ich soll unredlich sein !
Ich wußte doch , daß ich Kämpfe mit euch ausfechten müßte .
Aber ich glaubte und glaube ein unverbrüchliches Recht zu haben , zu denen zu reden , die bisher meine Stimme vernommen !
Sie irren , Heinsius , wenn Sie glauben , mich in Harnisch und Zorn zu bringen .
Und ebensowenig werden Sie mich einschüchtern können .
Ich bin ein Stein im Rollen , ich muß zu meinem Ziele " , sagte er langsam und träumerisch , " niemand ... nein , niemand kann mich aufhalten !
Sie verwechseln und werfen alles durcheinander !
Sie verstehen mich nicht , das muß wohl an mir liegen " , fügte er gleichsam entschuldigend und demütig hinzu .
" Ich weiß ja , wie sauer mir selbst der Weg geworden ist , den ich gegangen bin .
Ich fühle mich auch nicht als Baumeister , beileibe nicht !
Die großen Führer habe ich genannt .
Ich bin ein unbeträchtlicher , bescheidener Mensch !
Wenn ich etwas für mich in Anspruch nehmen darf , so ist es der Drang zur Ehrlichkeit !
Viele der Gedanken , die ich angedeutet und noch weiter auszuführen habe , müssen wohl in all den Jahren langsam in mir gewachsen sein .
Ich schäme mich nicht , es einzugestehen , daß ich in dem von mir festgelegten Sinne eine religiöse Natur bin .
In mir ist " , setzte er leise hinzu , " auch viel Mystik !
Alles das habe ich gewaltsam lange Zeit zu unterdrücken gesucht .
Ich wähnte euer Weg sei der richtige !
So kämpfte ich gegen mein eigenes Erwachen an .
Ich ließ mich von Ihnen , Heinsius , betören .
Unter dem Feldgeschrei " Freiheit , Freiheit ! " ließ ich mir aufreden , daß die Kunst etwas sei , das man beiseite schieben , das man mißachten müßte .
Heute weiß ich , daß die echte Kunst zu den wahrhaftigsten und elementarsten Lebensäußerungen des Menschen gehört , daß sie einen wesentlichen Bestandteil seiner religiösen Naturveranlagung ausmacht .
Ich sehe auch keinen Grund ein , daß ihr mit Steinen auf mich werft !
Ihr wollt mit mir brechen , nachdem wir jahrelang zusammengehalten haben !
Ich bitte euch , laßt davon ab ! "
Bei den letzten Worten begegnete sein Auge dem Fründels .
Er senkte erschreckt den Blick .
Eine tiefe Trauer befiel ihn .
Er sah in den Zügen des Mechanikers nur blinden , feindseligen Haß .
Und als ob es ihn drängte , das ihm drohende Ungewitter zu entladen , verschränkte er die Arme , verzog sonderbar sein Gesicht , kniff ein wenig die Augen zusammen und sagte :
" Sprechen Sie nur , Fründel , ich fürchte auch Sie nicht ! "
Der Mechaniker musterte ihn verächtlich .
" Sie haben sich ein wenig in uns getäuscht .
Wir lassen uns nicht wie die Gimpel fangen und einschüchtern !
Übrigens bin ich für mein Teil nicht verwundert .
Ich habe das alles vorausgesehen .
Genau so mußte es kommen !
Ich verzichte auch auf Diskussionen mit Ihnen !
Für mich sind Sie ein Verlorener !
Ein Überzähliger !
Ein Mann über Bord ! "
Er machte eine kleine Pause .
" Ich bin nur erstaunt " , begann er dann wieder , und nun kaute er jedes Wort gleichsam hervor und betonte es eigentümlich , " mit welchem Verständnis und mit wie scharfem Erfassen Sie Stirner , Dühring , Nietzsche gelesen haben !
Diese Menschen haben die Sklavenmoral für denkende Leute zerstört , die Legende vom Christentum in ihre absurden Bestandteile aufgelöst .
Und was Dühring anbelangt , so hat er dem Buddhismus , auf den Sie , wie es scheint , ebenfalls hereingefallen sind , mit ein paar grausamen Begleitworten eine klägliche Grabstätte bereitet !
Er hat , wenn ich mich recht erinnere , in einem Buche , das " Der Wert des Lebens " heißt , die jämmerliche Lebensfeindlichkeit dieser sogenannten religiösen Anschauungen in ihrem Kern getroffen !
Und nun tischen Sie uns diesen Salm auf !
Wir danken Ihnen schönstens !
Die Mahlzeit mögen Sie allein verspeisen !
Wir essen nicht mit !
Wir sind auch gegen geistige Blutvergiftung !
Die Unehrlichkeit , von der Heinsius sprach , dokumentiert sich für mich nicht am wenigsten in dem Punkte , daß Sie die Dreistigkeit gehabt haben , in Ihrem Mischmaschaufsatz zwischen sich und Stirner eine Beziehung zu finden !
Das ist der Gipfel der Unverfrorenheit und heillosesten Verwirrung ! "
" Sind Sie fertig ? " fragte Thomas .
Er war jetzt um einen Schatten bleicher geworden .
" Es lohnt nicht , mehr zu sagen " , erwiderte der Mechaniker wegwerfend .
" Es hat nämlich keinen Zweck " , fügte er hinzu .
Thomas richtete sich gerade auf .
" Nach dieser Erklärung wende ich mich nicht mehr an Sie , sondern an die übrigen .
Ich habe nur zu bemerken , daß mich solche Angriffe nicht treffen .
Sie machen mich lachen und lassen mich kalt !
Aber eines möchte ich betonen :
So weit wie der Autoritätsglaube meines Mitstreiters Fründel geht , reicht der meinige nicht !
Mein Erkennen macht vor keiner Autorität Halt !
Daß ich es rund heraussage :
Ich halte die Beurteilung Christi sowohl bei Stirner , Dühring wie Nietzsche für einen verhängnisvollen Irrtum !
Und gerade hier sehe ich das Brüchige in dem Denken dieser Forscher .
Wie klein , eng und beschränkt haben sie Christus gesehen !
Ich begreife es schlechthin nicht , daß Männer von ihrer geistigen Veranlagung ein solches Zerrbild von der Erscheinung Christi entwerfen konnten .
Ich habe die Überzeugung , daß sie niemals die Evangelien gelesen haben , daß sie mit vorgefaßten Schuljungenansichten an die Betrachtung dieses Ewigen , Einzigen herangetreten sind .
Und jetzt habe ich nur noch folgendes zu bemerken :
Mit vollstem Bewußtsein habe ich die Beziehung zwischen mir und Stirner aufgestellt .
Denn Ihr Max Stirner , der den reinen Egoismus Predigt , sagt an einer Stelle - ich habe die Worte auswendig gelernt " , rief er mit leuchtenden Augen , " weil sie für mich ein Wegweiser und gleichfalls eine Brücke waren - :
» Soll ich etwa an der Person des anderen keine lebendige Teilnahme haben , soll seine Freude und sein Wohl mir nicht am Herzen liegen , soll der Genuß , den ich ihm bereite , mir nicht über andere , eigene Genüsse gehen ?
Im Gegenteil .
Unzählige Genüsse kann ich ihm mit Freude opfern .
Unzähliges kann ich mir zur Erhöhung seiner Lust versagen , und was mir ohne ihn das Interesse wäre , das kann ich für ihn in die Schanze schlagen , mein Leben , meine Wohlfahrt , meine Freiheit .
Es macht ja meine Lust und mein Glück aus , mich an seinem Glück und an seiner Lust zu laben , aber mich , mich selbst opfere ich ihm nicht , sondern bleibe Egoist und - genieße ihn . «
So zu lesen zweite Auflage , Seite zweihundertneunundneunzig .
Und eine Seite später :
» Ich liebe die Menschen auch , nicht bloß einzeln , sondern jeden .
Aber ich liebe sie mit dem Bewußtsein des Egoismus .
Ich liebe sie , weil die Liebe mich glücklich macht ; weil mir das Lieben natürlich ist , weil mir_es gefällt .
Ich kenne kein Gebot der Liebe « . "
Nun machte er eine kleine Pause und sah mit einem prachtvollen , ironischen Lächeln , wie wir es uns wohl bei Christus vorstellen mögen , wenn die Jünger mit ratlosen Mienen und verständnislosen Fragen in quälten , oder bei Sokrates , wenn die Schüler seines Wesens Hoheit nicht begriffen , den Mechaniker an .
" Was ist das anderes " , fragte er , " als Nächstenliebe , die aus der höchsten Selbstliebe fließt !
... Was ist das anderes als eine Äußerung des selbstbewußten Ich , das sich im Zusammenhäng und in der Gemeinschaft mit den anderen Wesen fühlt und empfindet ?
... Trotz verschmitzter Dialektik und aller sophistischen Klügelei hat auch in diesem Menschen eine dunkle Ahnung von dem geheimnisvollen All- Ich gelebt .
Und es ist kein Zufall , wenn dieser arme , verhungerte Schulmeister , der alle Schranken durchbrach und in die Einsamkeit des klaren Denkens flüchtete , von dem » Verein der Gleichen « spricht . Vielleicht " , fuhr Thomas leise fort , " hätte sich ihm das Rätsel des Daseins entschleiert , wenn er nicht jedwedes Ding als Realpolitiker geschaut hätte , wenn er nicht gekommen wäre , um aufzulösen , anstatt zu erfüllen .
In jedem Falle aber war es mein ehrliches Recht , mich auf ihn zu berufen .
Und wenn mir schließlich als bitterster Vorwurf der entgegengeschleudert wird , daß ich alte Dinge auftischte , so antworte ich : die Wahrheit ist uralt und urewig !
Und der Gedanke , den ich selbständig und im Innersten durchgearbeitet , gehört mir , wird mein geistiger Besitz , mein Eigentum , auch wenn er vor mir klar formuliert worden ist .
Das nämlich " , schloß er , " ist eines der seltsamsten geistigen Phänomene , daß dem suchenden Menschen sich plötzlich von allen Seiten diejenigen aufdrängen , auf Schritt und Tritt ihm begegnen , die vor ihm gesucht und gefunden haben .
Nur eine enge Seele kann das verstimmen !
Der andere wird den Kopf höher heben und freudig bewegt sein , wenn er seine Wahrheit durch fremde Erkenntnis bestätigt findet ! "
Er atmete tief auf , und wieder sah er zu Bettina hinüber , die angstvoll an seinen Lippen hing .
" Für mich ist hier kein Platz mehr " , stieß er rauh hervor .
" Sie sind ein Jongleur und Taschenspieler !
Sie werfen die Worte wie Bälle in die Luft , daß einem vor den Augen schwindelig wird und man nicht mehr folgen kann .
Ich habe genug von Ihnen ! "
Sein Gesicht war wutverzerrt , und gleichzeitig blinzelte er in nervösem Zorn beständig mit den Augen .
" Das Streiten hat wirklich keinen Zweck " bemerkte Lissauer .
" Soviel ist klar geworden , wirr kennen nicht mehr zusammengehen . "
Auch sein Gesicht hatte etwas Strenges und Fanatisches .
Heinsius erhob sich ebenfalls .
" All mein Leben habe ich gerungen " , sagte er finster , " ich falle nicht um , nun , wo es bei mir zum Sterben kommt !
Ich sinke nicht zurück !
Ich gebe keinen Deut meiner Freiheit auf !
Ich warte auf den Tod und sage ihm :
Ich fürchte dich nicht , denn ich bin frei ! "
Ein Hustenanfall schnitt ihm für eine Weile das Wort ab .
Sie blickten besorgt auf ihn .
Er sah so jammervoll aus .
Alles in seinem gebrechlichen Körper schien zu wanken und aus den Fugen zu gehen .
Dennoch wandten sie sich rasch ab .
Sie wußten , daß jedes Mitgefühl ihm peinlich war .
Als er endlich zur Ruhe kam , schloß er , und Thomas schien es , als ob er dabei schmerzhaft lächelte und ihn wunderlich anblickte :
" Gefühl ist Ballast , ein Mensch wie ich braucht leichtes Gepäck ! "
Eine flüchtige Sekunde war Thomas zumute als müßte er seine abgemagerten und durchsichtigen Hände ergreifen und festhalten .
Es durfte nicht sein , daß sie alle so jämmerlich von ihm abfielen , daß das Zusammenwirken vieler Jahre in Feindschaft und Bitterkeit endete .
Und mit einer Stimme , von der er und die anderen fürchteten , sie könnte in ein wehes Schluchzen umschlagen , rief er :
" Ihr ...
Ihr ... wollt Menschen sein !
... Menschen ! "
Seine Bewegung drohte ihn niederzuzwingen .
Da traf sein Blick die Bettina .
Er richtete sich hoch auf .
Und nun sah er seine Gegner feindselig und überlegen an ; seine Augen blitzten .
" Wißt ihr , was ihr seid ?
In dieser Stunde wenigstens sollt ihr es erfahren ! Lebensschänder ... verknöcherte Dogmatiker ... Doktrinäre mit verkalkten Herzarterien !
... Stumpf seid ihr und borniert zum Gotteserbarmen und von einem Hochmut " - er lachte gellendes auf - " wie ihn nur armselige , kleine Wichte haben ! "
Er wollte den inneren Schmerz übertäuben und bis sich auf die Lippe , daß sie wund wurde , dann kehrte er sich ab .
Fründel und Heinsius gingen zur Tür .
Auch Lissauer und Blinsky rüsteten sich .
Lissauer reichte ihm die Hand .
Der kleine bucklige Mann mit der Utopistenstirn und dem glatt zurückgekämmten Haar zitterte auf einmal .
" Ich will ... ich will nicht weich werden " , stotterte er .
Und während er zur Seite schielte , fuhr er fort : " Ich will mich nicht verwirren lassen ; nein , nein , das geht nicht " , sagte er heftig .
" Man hat so lange an sich gearbeitet - und das alles soll umsonst ... soll Torheit gewesen sein ? ...
Nein ... nein ... nein !
... ich will nicht ! "
Und mit beiden Händen hielt er sich die Ohren zu , als könne er keinen Einwand mehr hören .
Auch der kleine Blinsky wollte ein Wort des Abschieds reden .
Er machte ein paar Ansätze dazu , aber das Wort blieb ihm im Halse stecken .
Er wurde puterrot , als ob er einen Knochen verschluckt hätte und krampfhaft würgte .
Schließlich gab er Thomas nur wortlos die Hand und folgte den anderen .
Als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte , entfernte sich auch die Brose .
Aber ihr Blick sagte deutlich :
Ich halte zu dir - und wenn alles weicht !
Und nun waren Thomas und Bettina allein .
Sie standen sich tiefernst gegenüber .
Die Augen Bettinas strahlten eine wunderbare Helligkeit aus .
Dieser blasse Mensch in seiner ärmlichen Kleidung , die an dem müden Körper nur so hing , mit der reinen Stirn , dem blutenden Lächeln um die zuckenden Lippen , dem in sich gekehrten Blick hatte sie durchleuchtet .
Das war der Thomas , dem sie als Kind im Garten zugejubelt und Kränze ins Haar geflochten .
Das war der Thomas , an dem sie mit wehem Herzen all die Jahre gehangen hatte .
Ihr Elend und Gram schienen ihr in dieser Stunde gering , lagen weit , weit hinter ihr .
Ihr war es , als ob er sie aufgeschlossen hätte , als ob sie es erst jetzt in sich zu blicken vermochte .
Sie , sie allein begriff ihn ; sie ahnte ihn wenigstens .
Er war untergetaucht in den Strom des Lebens , bis in seine Tiefen und Abgründe hatte er ihn durchforscht , an Steinen sich blutig und wund gerissen .
Schlamm und Tang hatten sich an ihn gelegt , ihn umschlungen .
Aber die Wellen hatten ihn wieder in die Höhe getragen , und sein Körper strahlte in Reinheit .
" Du ... du ! " flüsterte sie .
Und in diesem " du " lag ihre starke Liebe .
Da sah er sie groß und voll an .
Ihr dünkte es , als ob seine Augen heller würden und sich weiteten , als ob sein schlanker Körper noch wüchse .
Und seine Stimme klang ihr wie nie gehörte Musik , die sie durchdrang und alles in ihr auslöste bis in die letzten und geheimsten Zusammenhänge .
" Sie fallen von mir ab , du siehst es !
Sie fallen von mir ab wie die Regentropfen vom Baume !
Sie stoßen mich von sich wie einen räudigen Hund !
Nun bin ich einsamer denn je ... ich friere nicht !
... ich sehe ins Licht ... ich wandle im Licht !
... das Licht blendet mich nicht !
... Du bist bei mir - und alles um mich ist hell ! "
Er hielt eine Sekunde inne .
Ganz leise und gedämpft brachte er mehr für sich hervor :
" Im » Festsaal « brennen alle Kerzen ... sie brennen in weißen Leuchtern . "
Dann beugte er sich zu ihr herab und küßte sie mit keuschem Munde .
" Ich lasse dich nicht " , sagte er , und seine Stimme klang groß und fest .
VII.
Oh , was haben Sie für Hände ... Hände wie Aprikosenblüten ! " sagte der Dichter Liers .
Er stand mit gesenktem Haupte vor der Josefa .
Sie sah ihn unmutig an und ließ im Nun die Arme hinter dem Rücken verschwinden .
" Tun Sie doch nicht so entsetzlich spröde ! "
Seine großen , braunen Augen weiteten sich bei diesen Worten .
" Was soll denn das heißen ? " fragte sie mißtrauisch .
" Das soll heißen " , erwiderte er trotzig , " daß Ihnen der Ton der heiligen Cäcilia nicht steht ! "
Sie lachte herbe auf .
" Meinen Sie ?
Am Ende bin ich heiliger , als Sie denken . "
" Ach nein , sagen Sie das nicht .
Ich wollte Sie gerade um etwas bitten . "
" Tun Sie es lieber nicht ! "
" Doch - doch - ich muß ! Nämlich " , fuhr er mit sanfter weicher Stimme fort und stockte einen Moment , " Sie sollen ... ein einziges Mal sollen Sie mir Modell stehen - "
" Sind Sie verrückt ? "
" Im Gegenteil , ich war nie mehr bei Sinnen . "
" Adieu ! "
" Fräulein !
... Fräulein ! "
" Wollen Sie mit dem Unsinn aufhören ? "
" Ich will ! "
Nach einer Pause :
" Nur ein paar Fragen mögen Sie mir gestatten . "
" Ich habe Ihnen nichts zu gestatten . "
" Gut .
Ich nehme das als Erlaubnis .
Erstens : warum tun Sie so , als ob wir beide siebzehnjährig wären ?
Zweitens : haben Sie denn keinen Tropfen Künstlerbluts in sich ? "
" Nein ! "
" Nun gut !
Aber ich !
Wie können Sie es mir übel nehmen - ich spreche jetzt rein akademisch , hören Sie , rein theoretisch - daß ich Sie sehen - nur sehen will . -
Was müssen Sie für einen Körper haben - silbern wie Kirschblüten ... weich wie Pfirsiche ... "
" So halten Sie Ihr Versprechen ? "
Sie lachte schrill und boshaft und wandte ihm von neuem den Rücken .
" Nein ... nein ! "
In seinem Ton lag etwas , das sie zum Bleiben zwang .
" Ich will nur eines wissen " , stieß er bebend hervor und atmete mit Anstrengung , " vor jedem talentlosen Anstreicher ziehen Sie sich aus ... enthüllen ihm Ihre Schönheit ... jeder Kitschmaler - Sie sollen mich zu Ende reden lassen " , unterbrach er sich heftig - , " darf sich an Ihnen vergehen ... während ich ... ich ... Sie sündigen ja an mir - hören Sie - Sie versündigen sich doppelt an mir .
In dem Menschen und an dem Künstler ! "
" Sind Sie endlich fertig ? " fragte sie ganz blaß , und ohne seine Antwort abzuwarten , fuhr sie fort , indem sie ihn durchdringend anblickte :
" Ob die Leute Talent haben , ist mir ganz einerlei , wenigstens sehen sie mich nicht mit so entsetzlichen Blicken an wie ein gewisser Herr , und wenn sie es tun - nun , so habe ich eine gewisse Fixigkeit im Anziehen .
Man lernt das !
Meine Toilette dauert nicht lange !
Übrigens , wer weiß denn , daß Sie Talent haben ?
Kein Mensch ! "
" Ich " , entgegnete er tiefernst - " ich weiß es !
Das ist das Wichtigste - - das genügt . "
" Dichten Sie denn überhaupt ?
Sie schlafen ja nur ! "
" Gerade das beweist mein Talent " , erwiderte er leise .
" Ich habe zu großen Respekt vor mir .
Ich besudele nicht weißes Papier !
Ich stelle eben an mich die höchsten Ansprüche .
Ich bin doch kein Handwerker - kein Zeitungsschreiber ! "
" Das sind faule Fische .
Dafür gebe ich keine drei Pfifferlinge . "
" Ziehen Sie sich nackend vor mir aus - und ich ... "
" Werden Sie wieder unverschämt ? "
" Sie stellen die Dinge auf den Kopf . "
Er lächelte traurig .
" Es wird die Zeit kommen " , rief er feierlich , " wo Sie um meine Liebe betteln werden .
Ich weiß es , die Zeit kommt .
Aber vielleicht werden Sie dann vergeblich betteln .
Vielleicht ist dann meine mißhandelte Liebe - Sie haben meine Liebe mißhandelt - abgestorben . Vielleicht ... "
Die Josefa Maß ihn mit einem höhnischen Blicke .
Sie weidete sich an seiner hoffnungslosen Liebe .
Sie , die so gequält wurde , empfand eine grausame Genugtuung , auch einen anderen leiden zu sehen .
Im übrigen kümmerte sie Liers Zustand nur wenig .
Hinter ihrer Stirn hatte all die Wochen hindurch nur ein Gedanke beständig gearbeitet und von ihr Besitz genommen .
" Das sind ja Phrasen " , sagte sie unvermittelt .
" Sie reden sich das ein ! "
Und indem sie in ein niederträchtiges Gelächter ausbrach , setzte sie mit einer verkniffenen Miene hinzu : " Das sind Zwangsvorstellungen , mein Lieber ! "
Er blickte überrascht empor .
" Woher haben Sie denn den Ausdruck ? "
" Das tut ja nichts zur Sache ! "
" Wie können Sie denn behaupten , daß ich Sie belüge ?
Was für Beweise haben Sie dafür ? "
Und bitter fügte er hinzu : " Wie schlecht verstehen Sie sich auf andere ! "
Sie griff eines seiner Worte auf : " Beweise ... "
Sie hob die Achseln empor und betrachtete ihn halb neugierig , halb mißtrauisch von der Seite .
" Ich habe eben gar keine Beweise " , sagte sie dann geringschätzig .
" Sie müssen doch nicht glauben , daß Ihre Worte auf mich Eindruck machen !
Für so einfältig müssen Sie mich doch nicht halten !
An der nächsten Ecke schwatzen Sie dasselbe Zeug einer anderen vor .
Unsereins wird mit der Zeit helle ! "
" Das ist einfach Verleumdung ! "
Sie warf die Lippen auf .
" Denken Sie , ich finde es hübsch , daß Sie so gegen Ihre Frau handeln ?
... Glauben Sie , ich werde Ihre Frau betrügen ?
... Es genügt , wenn Sie es tun ! "
Er wurde blaß vor Zorn .
" Kommen Sie mir doch nicht mit so kindischen Dingen ! "
" Kindisch ?!
Ich finde es reizend , daß Sie das kindisch nennen ! "
Er blieb stehen .
Sein müdes Gesicht wurde auf einmal Strafe .
Er stampfte energisch mit dem Fuße auf .
" Ich will nicht , daß Sie sich über mich lustig machen !
Mit meiner Frau hat die Geschichte nicht das mindeste zu schaffen .
Es ist ein Unglück , daß ich Sie liebe ; glauben Sie , ich weiß das nicht ?
Es wäre noch größer , wenn ich mich dagegen wehren wollte .
Was Ihre Moral dabei soll , - verstehe ich nicht !
... Ach was , das wissen Sie so gut wie ich ...
Man kann doch nicht an sich selbst zum Verbrecher werden ! "
Sie horchte auf .
" Diese Dinge sind sehr moralisch !
Das Gegenteil laß ich mir nicht weismachen !
Übrigens , was meinten Sie denn mit Verbrecher an sich selbst werden ? "
Ihr Ton klang gespannt .
" Damit meine ich " , antwortete er langsam , " daß man um eines anderen Willen nicht seine eigene Existenz aufgeben kann und darf ! "
" Hm " , machte sie .
" Und Sie lieben mich also wirklich ?
Das ist kein Scherz ? "
Er sah sie nur an und erwiderte nichts .
" Ja , was würden Sie denn für mich tun ?
Man tut doch etwas für den , den man liebt . "
" Alles ! "
" Das ist viel " , sagte sie halb spöttisch , halb ernsthaft .
" Würden Sie beispielsweise mit mir sterben ? "
" Nein !
Ich will mit Ihnen leben ! "
" Sind Sie von Hause aus ängstlich ? "
" Absolut nicht ! "
Eine lange Weile schwieg sie jetzt .
" Wollen Sie sich denn von Ihrer Frau trennen ? "
Er stutzte .
" Wozu fragen Sie mich das ?
Wir sind ja noch gar nicht so weit ! "
" Ah , das ist prachtvoll !
Sie weichen schon jetzt aus !
Ich finde das neckisch !
Bilden Sie sich denn ein , daß ich noch einmal werde mit mir spielen lassen ? "
" Ich werde nicht mit Ihnen spielen !
Ich bin imstande , alles für Sie zu opfern ! "
" Und wenn ich Sie beim Wort nähme ? "
" Tun Sie_es ! "
" Wenn ich von Ihnen verlangte ... "
Sie sprach nicht weiter .
Sie kämpfte ein paar Minuten mit sich selbst .
Immer wieder sah sie ihn prüfend an , ob sie ihm trauen könnte .
Sie waren , ohne es zu wissen , an der Königin-Augusta-Straße angelangt , deren kahle , mit Eiskrusten bedeckte Bäume ebenso wie die Lichter der Laternen im Kanal sich spiegelten .
Sie blieben beide stehen und sahen schweigend in das Wasser .
Plötzlich nahm sie seine Hand .
" Würden Sie um meinetwillen ... wären Sie imstande , wenn ich Ihnen alles verspräche , etwas zu tun ... etwas , das ... "
" Ach , das ist ja Unsinn !
Das ist ja Schwindel !
... hinter dem Gerede steckt noch nicht so viel ! "
Sie knipste Daumen und Zeigefinger zusammen .
Dabei sah sie ihn fieberhaft an .
" So sprechen Sie doch " , drängte er unruhig .
Ihr seltsames flackerndes Wesen hatte sich ihm mitgeteilt .
" Sprechen Sie getrost " , wiederholte er .
" Gut ! "
Ihr Gesicht bekam einen ehernen , entschlossenen Ausdruck .
Sie zog ihn dicht an sich heran .
" Die Sache ist die " , sagte sie heiser , " ich kann nicht existieren , so lange der Mensch atmet ... ich bin es nicht imstande , hören Sie !
... Ich weiß das seit Wochen ... mit einem Worte , dieser Mensch muß fort ! "
Er war entsetzt zurückgewichen .
Mit einem Male begriff er sie .
" Ich soll ... " stammelte er bleich und verstört .
" Ja ! ... "
Etwas Furchtbares ging in ihm vor .
Er hielt sich die Hände vor die Augen .
Dann ließ er die Arme schlaff sinken und blickte mit hoffnungsloser , verträumter Miene zu ihr auf .
" Nein , nein , das kann ich nicht " , brachte er ganz leise und gebrochen hervor .
Und etwas lauter fügte er hinzu : " Um Gottes Willen , Josefa , machen Sie sich nicht unglücklich ! "
Sie brach in ein irres Gelächter aus .
Es war so unartikuliert und währte so lange , daß ihm unheimlich zumute wurde .
Er packte sie am Arme , als wollte er sie auf diese Weise zur Besinnung bringen .
Endlich faßte sie sich .
" Sie sind also wirklich darauf reingefallen ! "
Ihre Augen brannten wie die eines wilden Tieres .
Sie kniff sie einen Augenblick so eigentümlich zu , daß er nur einen schmalen Streifen der Hornhaut und ein Pünktchen in ihren Pupillen zu sehen vermochte .
" Ich finde Sie furchtbar komisch " , sagte sie dann und reichte ihm zum Abschied ihre Hand , die kalt und feucht war. VIII .
In einer der nächsten Nächte stellte Thomas die letzte Nummer des " Festsaals " zusammen .
Es gab keine Möglichkeit mehr , das Blatt weiterzuführen .
Er mußte schon für seine Person verzweifelt kämpfen , um sich nur über Wasser zu halten .
Alle Hilfsquellen waren erschöpft .
Niemand trat opferfreudig ihm zur Seite .
Die letzten Groschen hatte er zusammengerafft und mit dem Drucker einen Vergleich geschlossen , laut dessen er sich verpflichtete , die Restschuld in den nächsten Jahren ratenweise zu tilgen .
Nun war auch noch der Abfall der Freunde hinzugekommen , so daß es zum Schlusse keinen frohen Abschied , sondern eine heftige Auseinandersetzung gab .
Fründel , Heinsius und Lissauer hatten geharnischte Erklärungen gegen seinen letzten Aufsatz eingesandt , auf die er in entschlossener Sprache erwiderte .
Aber bei aller Unzweideutigkeit war seine Antwort doch von einer tiefen Ruhe und zuversichtlichen Heiterkeit getragen .
Den Lesern dankte er für ihre Treue und ihr Vertrauen .
Er erklärte , daß er sich verpflichtet gefühlt hätte , von seiner inneren Wandlung Zeugnis abzulegen .
In dem , was er als Wahrheit erkannt , könnte er nicht dem Bruder , nicht dem nächsten Freunde weichen .
Er schloß mit den Worten :
Ich ging in meinem Kampfe von der Ansicht aus , daß alles Elend nicht so sehr aus unseren wirtschaftlichen Verhältnissen , wie aus dem Wesen des modernen Staates fließt , der das Individuum drückt , das Volk in seiner Unwissenheit erhält und eigentlich nur die wirtschaftlich Starken schützt .
Des Staates , der seine schweren Hände auf jeden einzelnen legt , ihn von Kindesbeinen an bei jedem Schritt hemmt und das Volk , das er zu seinem Leib- und Geisteigenen gemacht - mit der Knute bearbeitet , sobald es sich nur zu rühren wagt .
Es wurde eine meiner Grundüberzeugungen , daß der Staat mit seinem Zwangssystem die Fortentwicklung aufhält , das Verkümmern von unsagbar viel Kraft und Talent verschuldet .
Und zu dieser Erkenntnis kam eine noch viel schmerzhaftere :
Ich merkte sehr bald , daß selbst die Besseren , die Führenden sich solchen Erwägungen nicht nur verschlossen , sondern sie sogar als gewaltsam hinstellten , sie lächerlich und verächtlich machten .
Ich sah , daß diejenigen , die den Kampf für die Befreiung des Volkes zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hatten , einem unerhörten Vigilanten- und Denunziantentum ausgesetzt waren , daß man sie wie Wegelagerer behandelte .
Wie sollten sich da meine Anschauungen geändert haben ?
... Worin besteht also meine Wandlung ?
Ich glaube von der materiellen Auffassung der Freiheit zu ihrer geistigen Idee durchgedrungen zu sein .
Will man es mir verargen , wenn ich diese höher werte ?
... Ich führe den Kampf für die Freiheit weiter , wenn auch auf eine andere Art .
Unverstandener denn je wandelt der Christ unter uns .
Sein Wort : " Mein Reich ist nicht von dieser Welt " enthält eine inhaltschwere Anklage , unter deren Wucht am Tage des Gerichts diejenigen zusammenbrechen werden , die den Gram des Volkes geschürt haben .
Als er das niedergeschrieben hatte , griff er nach seinem Hut .
Er hatte das Bedürfnis nach frischer Luft .
Er konnte jetzt nicht schlafen .
An der Entreetür fuhr er erschreckt zurück .
Katharina stand barfüßig , unbekleidet , mit wirren Haaren da und sah ihn mit großen Augen traurig an .
" Was ist denn ?
Willst du dich auf den Tod erkälten ? "
Ihr Blick tat ihm weh .
Er nahm ihre Hand und streichelte sie .
" Thomas " , sagte sie zitternd und frierend , " ich ... ich kann nichts dafür ! "
" Ja , ja " , antwortete er hastig .
Und indem er sich über die Stirn fuhr : " Es ist Nacht und Schlafenszeit . "
" Kommst du wieder ? " fragte sie fröstelnd und in sonderbarem Ton .
" Ich komme wieder ... selbstverständlich ! "
Sie nickte , gab die Tür frei und schlich davon .
Langsam ging er hinunter .
IX.
In der hell erleuchteten Philharmonie brachte Abraham Gebhardt mit dem Philharmonischen Orchester seine große Symphonie " Das Reich der Freude " zur Aufführung .
Die schmächtige Gestalt des Musikers wuchs beim Dirigieren .
Alles in und an ihm war Bewegung .
Seine hellen , leuchtenden Augen waren bald auf die Bläser , bald auf die Streicher gerichtet .
Sein ganzer Mensch war ein einziger Rhythmus .
Die blonden Locken tanzten mit .
Zu Thomas und Bettina strömten die mächtigen Tonwellen .
Abraham Gebhardt hatte sie eingeladen und an Thomas geschrieben , er halte zu ihm jetzt und alle Zeit .
Der erste Satz war zu Ende .
Eine eisige Stille herrschte .
Als ein paar Hände sich rühren wollten , wurden scharfe " Psts " laut , so daß sofort wieder Ruhe eintrat .
Thomas sah Bettina betroffen an .
" Sie verstehen seine Musik nicht " , erwiderte sie traurig , " diese Musik , die neu und groß ist ... "
Nach dem zweiten Satz entstand ein heftiges Zischen .
Ein großer Teil des Publikums verließ ostentativ den Saal .
Der Musiker drehte sich wie ein verwundetes Tier um und wischte sich den Schweiß von der Stirn .
Wieder setzte das Orchester ein .
Die Zurückgebliebenen hörten kaum noch hin .
Man tauschte höhnische Bemerkungen aus .
Als die Schlußakkorde verklangen , begann eine Art von Radaustimmung loszubrechen : Gejohle und Zischen wild durcheinander .
Thomas und Bettina klatschten nicht .
Sie sahen , daß das für die anderen nur ein Signal zu neuem Lärm bedeutete .
Abraham Gebhardt blickte in den sich leerenden Saal , während nichts auf seiner Miene verriet , was in ihm vorging .
Er betrachtete aufmerksam und gespannt die Menschen , die ihn aushöhnten .
Thomas ließ kein Auge von ihm .
" Er führt sie in das Reich der Freude und dafür kreuzigen sie ihn .
Das alte , uralte Schicksal derer , die das Licht tragen . "
Er beugte sich zu Bettina herab .
" Sieh , wie das Licht blendet " , flüsterte er .
In der Stunde fühlte er sich mit dem Musiker eins .
Auch er hatte in das Reich der Freude , in den erleuchteten Festsaal führen , das Evangelium der Freiheit verkünden wollen .
Aber dicht vor dem Tore hatten sie mit Steinen nach ihm geworfen .
Der Abend glich seinem eigenen Leben .
Tauben Ohren hatte er gepredigt , niemand hatte ihn gehört .
Und als er die Stimme lauter und freier erhoben , alle Schranken durchbrochen , alle Hüllen von sich geworfen hatte , waren die ihm Nächsten entsetzt von ihm gewichen .
Wer hatte ihn gehört ?
- Niemand ... niemand .
Ihm gellte das Echo in den Ohren : Steinigt ihn !
... Er sah ihre verzerrten Gesichter ...
Steinigt ihn !
... Bettina drückte seinen Arm .
Da atmete er tief auf und sagte nur :
" Ich trete die Kelter allein ! "
Und dann sah er wieder in das ruhige Gesicht des Musikers .
Draußen erwarteten sie Abraham Gebhardt .
Es dauerte lange , ehe er kam .
Er hatte über den dünnen Hals den Kragen des Mantels geschlagen .
Als er sie bemerkte , verklärte ein sanfter Ausdruck seine Züge .
Bettina sagte - und der Musiker fühlte , daß sie die Wahrheit sprach - :
" Ich finde Ihre Musik groß , ernst und schön - neu und voller Zukunftskeime ! "
Es leuchtete wunderbar über seine Miene .
" Wissen Sie " , entgegnete er , " ich habe mich einen Augenblick gefragt , ob ich oder diese Horde den Verstand verloren hätte .
Und ich habe mir geantwortet " , fügte er lächelnd hinzu , " daß ich bei Sinnen sei .
Und da war aller Zorn in mir verraucht .
Zorn ist ein giftiges Kraut !
Kommen Sie " , schloß er , " trinken wir auf das Reich der Freude ! "
Und Thomas und Bettina folgten ihm .
Ein tiefer Frieden war über sie gekommen .
Ganz in der Nähe war eine kleine Weinstube , in der kein Mensch saß .
Rheinwein bestellte der Musiker .
Goldenen Rheinwein .
Als die Gläser mit dem funkelnden Naß gefüllt waren , wuchs eine feierliche Stimmung in ihnen auf .
Von allem Hader fühlten sie sich abseits .
Hell und rein tönten die Gläser zusammen :
" Auf das Reich der Freude ! "
Es klang wie ein Gelöbnis .
Ernst und bedeutungsvoll blickten sie sich dabei an. X.
Es war um Mitternacht , als Thomas Bettina nach Hause brachte .
Beim Einbiegen in die Lotringerstraße sahen sie schon von weitem , wie ein dunkler Schatten vor ihrem Hause sich gespenstisch hin und her bewegte .
Als sie näher kamen , erkannten sie , daß es die Brose war .
" Was hat denn das zu bedeuten ? " fragte Thomas .
Und gleichzeitig bemerkte er Bettinas ängstlich auf sich gerichtete Augen .
Sie antwortete nicht .
Aber plötzlich hatten beide das bestimmte Gefühl , daß irgend etwas Folgenschweres sich ereignet haben müsse .
Sie sprachen kein Wort .
Sie schritten rascher vorwärts .
Jetzt hatte auch die Brose ihnen das Gesicht zugewendet und sie wahrgenommen .
Sie kam auf sie zugeeilt .
" Brose , was ist denn ? " fragte Thomas entsetzt .
Ihre Züge waren grau wie in Kalk getaucht .
Sie vermochte zunächst keinen Laut hervorzubringen .
Sie machte vergebliche Anstrengungen , brabbelte unverständliche Worte und sah nur mit entsetztem Gesicht zu ihm empor .
Bettina faßte ihre Hand .
" Liebe , liebe Frau Brose ! " rief sie , während sie mutig alle Furcht und Angst hinunterschluckte .
Allmählich erst fand die Brose ihre Fassung wieder - ihre Starre löste sich .
" Nämlich ... nämlich ... " stotterte sie , " die Josefa " - und auf einmal fing sie bitterlich zu schluchzen an - " die Josefa hat ... hat ... hat sich und Fründel umgebracht ... "
" Wa-a-a-s ! "
Er klammerte sich an die Bettina .
Sie fühlte , wie er sich nur mit Mühe aufrecht hielt .
" Umgebracht ?
... Umgebracht ... ? "
Er stierte sie an .
Sie nickte schluchzend .
" Das ist ja nicht möglich " , flüsterte er , " das ist ja undenkbar ! "
Und nun herrschte eine Todesstille .
Sie hörten ihre Herzen pochen .
Gevatter Hein schritt neben ihnen .
Er hatte eine Leichenbittermiene aufgesetzt und trug einen Frack mit langen Schößen .
Er grinste beständig .
" Von wem wissen Sie es denn ? " fragte Thomas endlich dumpf .
" Die Liers war hier " , antwortete sie weinend , " sie sind alle bei der Liers ! "
Er richtete sich schwerfällig auf .
Aus dem Reiche der Freude in die Gefilde des Todes , dachte er und fuhr sich über die Augen .
Sein Körper erschauerte .
" So gehen wir auch dahin ! "
Er sagte es kaum hörbar .
Sie schleppten sich die wenigen Straßen vorwärts .
Wie Blei lag es in ihren Gliedern .
Bettina hörte , wie zu ihren Häupten die Fittiche des Todes rauschten .
Unter ihren Tritten knarrte die Treppe in unheimlichem Geräusche .
Thomas klopfte kaum hörbar .
Die Hebamme öffnete .
" Ah , da sind Sie ! " machte sie heiser und reichte Thomas die Hand , und wieder sah er wie bei der Brose in vergrämte und verstörte Züge .
Sie traten ein .
Im äußersten Winkel kauerte Liers .
Er sah nichts und hörte nichts .
Er hielt die Hände vor sein Gesicht gedrückt und stöhnte in sich hinein .
Am Tische hockte die Ingolf und hatte den Kopf auf die Platte gedrückt .
Man wußte nicht , ob sie weinte .
Die Liers legte die Hände auf ihre Schultern und sagte in einem fort : " Fräuleinchen ... Fräuleinchen ... "
Aber sie bekam keine Antwort .
Eine Gruppe für sich bildeten die Lissauers und Blinsky .
Die Lissauer zog Thomas in eine Ecke .
" Wirr ... wirr sein ausgewiesen ... "
Dabei strich sie sich beständig mit ihren weit gespreizten Fingern über die flache Brust .
" Wirr ... kennen jetzt betteln gehen ... hären Sie ? " ...
Sie stellte sich auf die Zehn und beugte sich an sein Ohr .
" Die anderen haben wenigstens ihre Ruhe ... die sehen und hären nichts mehr .
Aber wirr ... was machen wirr ? " ...
Sie war wie gebrochen .
Sie stieß alles im Ton der Anklage hervor .
Sie dachte nur an ihr eigenes Elend .
Als Lissauer auf sie zutrat , duckte sie sich , als ob sie fürchtete , geschlagen zu werden .
Thomas machte sich von ihr los .
Sie verursachte ihm grenzenlose Pein .
Eine Stimme in ihm rief :
Das ist das Leben !
... Was war das für eine Nacht , die über die Menschen in diesem Zimmer hergefallen war ...
Sie wisperte und raunte ihnen schreckhafte Dinge zu ... sie rumorte und raschelte , als ob sie schwarze , schwere Seide um sich gelegt hätte ... man hörte deutlich , wie die Falten ihres Gewandes knitterten ...
Zu allen kam sie herangeschlichen und trug das Antlitz des Todes ...
Sie beugte sich über alle , als wollte sie sie umschlingen und an sich reißen ...
Sie kroch zu ihnen heran und streckte ihre dünnen Arme nach ihnen aus - Wieder klopfte es .
Sie fuhren in die Höhe .
Es war Heinsius .
Alle drängten auf ihn zu und sahen voll Spannung in seine vom Tode gezeichneten Züge .
Denn wie eine Verkörperung des Todes erschien er ihnen .
Aus seinem Gesicht , das nur noch Haut und Knochen war , traten die Augen in übernatürlicher Größe und krankhaftem Glanze hervor .
Aus seinen dünnen , schief gezogenen Lippen war jeder Blutstropfen geschwunden .
Um die Mundwinkel zuckte es .
Seine Stirn war leuchtend weiß .
Auch die Ingolf hatte sich jetzt erhoben .
Das große , starke Mädchen sah ihn mit leeren , erloschenen Augen an .
Er nahm ihre Hand .
" Ich bringe Ihnen einen Gruß .
Sie sollen nicht weinen .
Sie sollen aufrecht blicken .
Er wird nicht sterben , läßt er Ihnen sagen , obwohl sein Tod für Sie eine Befreiung sein würde .
Er habe kein Glück in sich und könne keins geben . "
Heinsius hielt inne .
" Was macht ihr denn solche Gesichter " , rief er und zwinkerte .
Er sah aber aus , als ob er ein Lächeln unterdrücken wollte .
" Dieser Mensch hat Größe , auch wenn ihm das Messer an der Kehle sitzt .
Von der Josefa meinte er , sie hätte von sich aus recht gehabt .
Er hätte keinen Zorn gegen sie ...
Was wollt ihr also ?
Diese Menschen haben sich erfüllt ! "
Niemand antwortete ihm .
Aus den Augen der Ingolf drangen große , erlösende Tränen .
" Sie glauben , er wird am Leben bleiben ? " flüsterte sie ihm zu .
" Ich glaube es ! "
Die Ingolf wandte sich ab .
Niemand sollte ihr strahlendes Gesicht sehen .
Die Liers war zu ihrem Manne gegangen und legte ihre breite Rechte in sein glänzendes Haar .
Er rührte sich nicht .
" Woher wissen Sie das alles ? " fragte Blinsky schüchtern .
" Ich war gegen Abend zufällig zu ihm gegangen .
Ich hatte vorher keine Ahnung .
Man hatte ihn bereits ins Krankenhaus gebracht .
Sie liegt auf der Morgue .
Ich traf ihn bei klarem Bewußtsein .
Er ist selbst im Angesicht des Todes groß , mutig und stark wie immer . "
Und indem er sich wieder zur Ingolf umdrehte :
" Als ich schon in der Tür stand , nannte er noch einmal Ihren Namen , Fräulein ! "
Wieder erhellten sich die Züge des Mädchens .
Heinsius nahm seinen Hut .
" Auch die Nacht wird vorübergehen " , sagte er in eisiger Ruhe und entfernte sich langsam .
Die anderen folgten ihm .
In diesem Augenblick erhob sich Liers .
" Heinsius ! " rief er heiser .
Der Volksschullehrer wandte sich um .
" Was ist Ihnen denn ? " fragte er und sah verwundert auf den Menschen , den der Schmerz verzerrt hatte .
" Ich will wissen , ob die Josefa noch lebend war , ob sie ... "
Liers brach ab und senkte den Kopf .
" Niemand hat sie lebend angetroffen " , erwiderte Heinsius .
" Hm " , machte der andere .
" Ich danke ! "
Dieses " ich danke " hatte etwas Erschütterndes .
Der Volksschullehrer streifte ihn mit einem Blicke des Mitleids und lächelte jetzt wirklich .
Alles in diesem Zimmer kam ihm so irdisch und zwerghaft vor .
Es war seinem Empfinden nach ein so verkrüppelter , elender Schmerz , der sie herabzerrte und alle Weichseligkeiten in ihnen auslöste .
Sie hatten ein Grauen vor dem Gevatter Hein , während er mit ihm auf " du und du " stand und jede Stunde auf seinen Besuch gefaßt war .
Er nickte dem Dichter flüchtig zu und eilte den übrigen nach , die bereits im Hausflur warteten .
Auf einem der Treppenabsätze blieb er plötzlich stehen und dachte ein paar Sekunden darüber nach , wer eigentlich stärker unten durch sei - er oder sie ?
Er kam zu dem Schluß , daß seine Rechnung stimmte .
Dennoch ließ er den Mundwinkel tief herabhängen .
Seine Augen wurden schmal und trübe .
Aber sofort raffte er sich auf .
Du bist und bleibst ein Hornvieh , raunte er sich zu .
Willst etwa auch sentimental werden - he ?
...
Er hustete und spie aus .
Er hatte im Munde einen blutigen Geschmack , den er eine ganze Weile auskostete .
Dann bekam sein Gesicht einen heiteren Glanz .
Seine kranke Brust weitete sich .
Er lächelte in Seligkeit . - - - " Tom " , sagte Bettina , als er ihr vor dem Hause Gute Nacht wünschte , " denke an dich . "
Und flüsternd wiederholte sie :
" Denke an dich . "
Sie litt unsagbar .
" Tom , wenn diese Nacht erst vorüber wäre ! "
Er wandte sich an die Brose .
" Wachen Sie bei ihr " , bat er .
Die Frau nickte schmerzhaft .
Er nahm die Hand Bettinas .
" Bettina , ich muß fort - - bevor noch der Morgen graut .
Ich brauche auch eine Weile Einsamkeit ... Stille ...
Nur so kann ich mich selbst finden . "
Sie sah ihn großäugig an und nickte lautlos .
Sie blickte ihm noch mit halb vorgebeugtem Körper und liebenden Augen nach , als er längst um die Ecke gebogen war .
Ihre feinen Nasenflügel bebten .
Sie lauschte auf seine verhallenden Schritte .
Wie ein schwerkrankes Kind zog die Brose sie behutsam mit sich fort . - - - Als Thomas zu Hause angelangt war , trat er an das Bett seiner Frau .
Er glaubte , sie schliefe .
Aber sie saß aufgerichtet mit verschränkten Armen da .
Das Licht schwankte in seiner Hand .
" Du schläfst nicht ? "
" Nein , ich habe auf dich gewartet ! "
" Weißt du es denn ? "
Sie schüttelte den Kopf .
Er überlegte eine flüchtige Minute , ob er ihr es sagen sollte .
" Wie siehst du denn aus ? " rief sie .
" Du siehst ja wie versteinert aus !
Was ist denn los ? "
Sie sprang aus dem Bett .
" So rede doch , Thomas ! "
Da sagte er ihr alles .
Seine Stimme schlug schluchzend über .
Sie hörte ihm gespannt zu .
Ihre Pupillen schienen sich zu erweitern .
" Sie hat sich umgebracht " , murmelte sie beständig , als könnte sie es nicht fassen , als begriffe sie es nicht völlig .
Und wie ein Mensch , der eine Gehirnerschütterung davongetragen , wiederholte sie fortwährend :
" Sie ... hat ... sich ... umgebracht ... umgebracht ... umgebracht ... "
Nun reute es ihn tief .
" So nimm dich doch zusammen ! "
bat er .
Ein rätselhafter , schwärmerischer Ausdruck beherrschte sie .
Ihre Lippen bewegten sich beständig .
Etwas Dunkles und Geheimnisvolles ging in ihr vor . -
Ganz vorsichtig , als fürchte sie , ihm wehe zu tun , streichelte sie seinen Arm .
Und immer wieder entrang sich ihr dieses :
" Sie hat sich umgebracht ... "
Alles begann sich vor seinen Augen zu drehen .
Jetzt kommt wieder ihr Anfall , dachte er , und ich bin daran schuld .
Warum mußte ich sie mitten in der Nacht aufregen !
" Du sollst keine Furcht haben " , brachte sie weinerlich hervor und legte sich wieder in das Bett .
Und ganz demütig sagte sie :
" Thomas , setze dich zu mir , hörst du ?
... Bleibe bei mir !
... Bleibe ein Weilchen bei mir ! "
Er gehorchte und rückte einen Stuhl an ihr Bett .
- Sie nahm seine Hand , die sie festhielt , schloß die Augen und lächelte seltsam .
Aber ihm kam dieses Lächeln leidvoll und krank vor . -
In kurzen Zwischenräumen schlug sie die Augen immer wieder auf , als müßte sie sich überzeugen , ob er noch da wäre .
Und jedesmal stieß sie dann wieder hervor :
" Sie hat sich umgebracht ... "
Als sie endlich einschlief , drang die Wintersonne , von grauen Nebeln eingehüllt , durch die Fensterscheiben , kahl und freudlos . -
Ganz sanft entzog er ihr seine Rechte .
Lange sah er sie traurig an , wie sie zusammengekauert und in Angst dalag .
Dann schlich er in das nächste Zimmer und schrieb ihr in großen , geradlinigen Buchstaben , daß er fort müßte - daß es ihn nach Alleinsein hungerte ... XI. Tagebuchblätter des Thomas Druck Diese Blätter schreibe ich für dich , Bettina , in der Morgenluft Einsamkeit .
In mir ist Ruhe und Frieden .
Ich bin ein Wanderer , der für kurze Zeit rastet .
Ich bin ein Wanderer , der den Weg zurückschaut , den er gegangen ist - den langen Weg !
Ich fühle keine Müdigkeit .
Nur zuweilen durchdringt mich ein fröhliches Todesahnen , denn ich fürchte den Tod nicht , obwohl ich das Leben umfasse , in dessen selige Tiefen ich blicken durfte .
In jedem Falle sind meine Aufzeichnungen im Leben und im Tode für dich bestimmt , für dich , Bettina !
In der Stille und Andacht meiner Einsamkeit bin ich bei dir !
Ich sehe den Frühling , ich blicke in die Sonne - ich sehe dich !
Über mich kommt tiefe Sammlung !
Ich fühle mich frei .
Ich lese in den uralten Büchern , die die uralten , ewigen Wahrheiten bergen .
In mir ist Frieden .
Und ich lese diejenigen , die die Wahrheiten zu deuten wußten , die auch meine Wahrheit ist .
Ist es nicht ein Trost , daß gerade in unseren zerklüfteten Tagen reiner denn je das Bild des Heilands , befreit von dunklen Hüllen , uns entgegentritt !
Von allen Seiten kommen die Seher ... sie sehen den Frühling .
Sie stellen alle die gleiche Frage :
Was lehrte Jesus ? - - - Vor mir liegt ein gedrucktes Blatt .
Eine Frau ohne Makel hat in wenigen Sätzen das Leben Jesu und seine Lehre zu erzählen versucht .
Lies , was sie sagt : " Ein junger Mensch aus Bethlehem , von schwachem Körper , aber gewaltigem Geiste , versammelt einige Proletarier um sich , zu denen er mild und einfach von ihrem großen Elend spricht .
Diese fassen zu ihm heftige Freundschaft und verlassen alles , um ihm zu folgen , wie er seine Wanderung in Palästina antritt .
Sie sind ohne Arbeit , wie unsere Obdachlosen ; sie veranstalten Manifestationen auf den Gräbern , wie wir es auch tun ; sie halten Versammlungen unter freiem Himmel , auf allen geeigneten Plätzen , die sie vorfinden .
Sie waren ihrer zwölf , sie sind hundert - morgen werden es tausend sein .
Wie der Schneeball , der zur Lawine wird , wächst die Schar bei ihrem Vorwärtsschreiten an .
Alles , was das Land an verlorenen Existenzen zählt , folgt diesem jungen Mann , der die Gleichheit Predigt .
Da man leben muß , kommt es vor , daß geplündert wird , man nimmt das Notwendige , wo man es findet , und die Bürger schließen vor Schrecken ihre Häuser vor diesem Heer , das aus den Ausgestoßenen der Menschheit zusammengesetzt ist .
Die Provinz ist in Aufruhr , die Regierung kommt in Bewegung .
Jesus wird wegen Aufforderung zum Raub und wegen Aufreizung zum Klassenhaß verhaftet .
Er kommt zur selben Zeit vor Gericht , wie ein gewöhnlicher Dieb ; der Dieb wird begnadigt .
Darauf wendet sich Barrabas mit Abscheu von seinem Mitangeklagten ab und sagt : Führt diesen Übeltäter hinweg von hier .
Jesus wird hingerichtet ; die Zuschauer lachen , höhnen , speien ihn an ; sein Todeskampf ist ein erfreulicher Augenblick für betrunkene Soldaten ; er haucht seinen letzten Seufzer zwischen zwei Schachern am schmachvollen Galgen , an dessen Fuß eine alte Arbeiterfrau , die seine Mutter ist , und ein armes Mädchen , das ihn liebte , weinen ...
Dieser Übeltäter kehrt wieder ins Leben zurück - und seit neunzehn Jahrhunderten herrscht er jetzt auf Erden .
Die ganze Kraft dieser Religion ist aus der Schande der Hinrichtung hervorgegangen , aus der Niedrigkeit der Lage des Hingerichteten , aus seiner innigen Berührung mit den Armen , aus seiner Solidarität mit den Schuldigen .
Er war von den Pharisäern gerichtet und von den Aposteln verleugnet worden ; und er hat sein Volk von Unwissenden und Verworfenen so sehr geliebt , daß er sein Glück darin fand , alle Verleumdungen auf sich zu nehmen und zu sterben wie der letzte unter den Bettlern . " - - - Der innigste Gedanke dieser Sätze ist der :
Christus lebte seine Erkenntnis , wie Buddha sie lebte .
Beide stellen für uns die großen Lebensführungen dar und deshalb die Erlösung , die Erfüllung .
Lebensführung bedeutet nichts anderes als Erkenntnis und Leben in Einklang zu bringen .
Der eine verläßt als Fürstensohn seinen Palast , sein Weib , sein Kind , seinen Vater , und tauscht dafür Armut , Elend und Seligkeit ein .
Als ein Bettelmönch zieht er durch die Wüste und die Wälder .
Der andere , eines armen , jüdischen Zimmermannes Sohn , hält die Treue bis zur Todesstunde .
Mit seinem schwachen Körper deckt er die Schwachen .
Mit seinem Geiste tritt er den Mächtigen entgegen und kündet ohne Furcht sein Bekenntnis .
Und da gibt es Leute , die bei solcher Stärke von Sklavenmoral reden !
Welches ist der tiefe Unterschied zwischen dem Buddha und dem Christus ?
Beide empfangen den Zusammenhäng von Ich und All .
Aber wenn Christus das Leben lehrt , lehrte Buddha die Flucht aus dem Leben .
Das Ich des Menschen ist ein Ich , das in den anderen Leben vom eigenen Leben sieht ; aber nicht , um wie die Inder in dieser Gemeinschaft die Persönlichkeit zu verlieren , sondern sie zu erhalten und zu den Höhen zu führen .
Jeder einzelne ist geistiges Bewußtsein .
Was den Menschen zum Menschen macht , ist erst sein Verschmelzen mit der Allheit .
Von diesem Gedanken muß man ausgehen , will man die Lehre Christi verstehen . - - - Christus ' Lehre ist eine Lehre des All-Ichs , des Lebens und des Lichtes .
Er weiß das Urwesen der Welt , den Vater , eines mit sich .
" Ich und der Vater sind eins " , sagt er .
" Ich bin des Menschen Sohn " , heißt nichts anderes , als ich bin der Mensch .
Und wenn Christus sagt : " Der Vater ist in mir , und ich bin in ihm " und an einer anderen Stelle :
" Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben , so werdet ihr bitten , was ihr wollt , und es wird euch widerfahren " , so drückt er damit nur den großen Einheitsgedanken , das Verwobensein des Ich_es mit dem All aus .
Und im Zusammenhäng damit begreifen wir die Worte : " Was ihr dem Geringsten unter euren Brüdern getan , das habt ihr mir getan . "
Darum kann der Heiland auch nicht richten , gegen niemand den Stein erheben , nicht als Klageanwalt vor den Vater hintreten ; denn wie er sich mit dem Vater eines fühlt , so auch mit dem Edelsten und Schuldbeladensten ; auch in diesem schlummert der Gottmensch , das ewige Licht , mögen die Quellen seines Handelns noch so trübe sein .
Auch auf ihn erstreckt sich sein neues Gebot :
" Liebet untereinander , weil ich euch geliebt habe , auf daß ihr einander liebt . "
Und wenn er neben diese höchste Forderung werktätiger gegenseitiger Liebe die der Wahrheit stellt , so ergibt sich daraus , daß für ihn die Liebe und die Wahrheit zum Ausschöpfen des Lebens führen , zum Bewußtsein des Ich_es und Alls , die eines sind .
Solche Erkenntnis spiegelt dann sein ganzes Leben wider .
Er ist der reinste Träger dieser Liebe und dieser Wahrheit bis in den Tod hinein .
Alle Schuld und alle Sünde der Welt nimmt er auf sich .
Er gibt das höchste Beispiel dessen , wozu ein Mensch fähig ist .
Er wahrt die Treue gegen sich selbst .
Er hält an der Wahrheit furchtlos fest und nimmt den Tod auf sich .
Er stirbt , damit die Lebenden durch ihn zur Erkenntnis ihres Gottesbewußtseins , ihres Menschentums gelangen .
Sein Leben soll für sie zur Auferstehung werden .
Und nun fassen wir sein tiefsinniges Wort :
" Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben ; niemand kommt zum Vater , denn durch mich . "
Wahrheit und Leben sind ihm eins , wie er und Gott eins ist .
Anders ausgedrückt : Ihr werdet den großen Identitätsgedanken erst fassen , begreifen , wenn ihr den Weg geht , den ich gegangen bin .
Das ist die Lehre vom höchsten Leben , vom Geiste der Wahrheit , die sich an keinen Jenseitswahn knüpft .
Sein Wort : " Ich werde bei euch sein bis ans Ende der Welt " , ich , das göttliche Bewußtsein in euch , ich , der ich euch den Menschen gezeigt , ist ein Ruf des Lebens .
Ich lehrte euch den Gottmenschen , ich lehrte euch den Auferstandenen , den ihr in euch , nicht im Grabe suchen sollt .
" Ich bin die Auferstehung und das Leben . "
Lasst die Toten ihre Toten begraben , Gott ist ein Gott der Lebendigen und nicht der Toten .
Nehmt Teil an meinem Reichtum , den ich für euch erworben habe .
" Ich bin das Licht der Welt .
Wer mir nachfolgt , der wird nicht wandeln in Finsternis , sondern wird das Licht des Lebens haben . "
" Ihr seid das Licht der Welt . "
So ist Christus ein Künder des Lebens und des Lichts .
So spricht er von dem " Lebenswasser " , von der Quelle , die ins ewige Leben springt .
Er nimmt den Tod auf sich , aber er verkündet das Leben .
Aus dem tiefsten Leide wächst die Blume der Seligkeit empor .
So kommt er zuerst als Fremder , als Unverstandener zu den Menschen , dann als milder Gärtner , der die armen Pflänzchen begießt .
Dann als heilender Arzt , der die Blinden sehend und erkennend macht .
Dann als der fromme Hirte , der diejenigen , die sich vom Wege verloren , zur Heimstätte ihres Geistes zurückführt , zum Bewußtsein ihrer eigenen , unendlichen , alle Bergesgipfel überragenden Höhe - ihres allumfassenden Lebens .
Wenn Christus die Auferstehung kündet , so kündet er seinen unverbrüchlichen Glauben an das Ewig-Gute , Ewig- Siech-erneuernde im Menschen .
Das Wort : " Zu uns komme dein Reich " ist ein Gebet , von dessen Erfüllung durch den Menschen Christus durchdrungen ist trotz Zöllnern , Sündern , Schriftgelehrten und Pharisäern .
Wie anders klingen uns jetzt die berühmten Worte an Nikodemus in den Ohren : " Was vom Fleische geboren wird , das ist Fleisch ; und was vom Geiste geboren wird , das ist Geist .
Laß dich_es nicht wundern , daß ich gesagt habe : Ihr müßt von neuem geboren werden . "
Keine metaphysischen Hintergedanken und verzwickte Grübeleien legte er in diese Worte , denn an der nämlichen Stelle sagt er zu dem Frager , der ein Pharisäer und Oberster unter den Juden war : " Der Wind bläst , wo er will , und du hörst sein Sausen wohl , aber du weißt nicht , von wannen er kommt , und wohin er fährt .
Also ein Jeglicher , der aus dem Geiste geboren ist . "
So zu lesen im Evangelium Johannis Kap. 3 , Vers 8. Und als Nikodemus ihn weiter mit Fragen quält , da antwortet Christus ernst und bestimmt :
" Ich sage dir , wir werden , das wir wissen , zeugen , das wir gesehen haben ; und ihr nehmet unser Zeugnis nicht an . "
Auf das Leben , auf das Sehen , auf das Schauen weist Christus hin .
Das Leben will er erklären , nicht grübeln , was hinter dem Leben liegt .
Und im Gleichnis fährt er fort : " Und wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöht hat , also muß des Menschen Sohn erhöht werden , auf daß alle , die an ihn glauben , nicht verloren werden , sondern das ewige Leben haben . "
Was sagt hier der Christus anders als :
Ihr müßt Euch an ein irdisches Dasein halten , hier schauen , sehen , wissen .
Des Menschen Sohn , die Menschheit - muß die Höhen und Gipfel erklimmen , um zur Reinheit , die in ihm ist , sich durchzuringen .
" Seht um euch , seht in euch , aber fragt nicht nach dem Woher und Wohin . "
Sich den Verirrten , muß der Mensch wiederfinden , um des Lebens in seinem höchsten Inhalte teilhaftig zu werden .
Versteht ihr nun das Wort : " Die Stunde kommt und ist schon jetzt , wo ihr nicht mehr in Tempeln und auf Bergen den Vater verehren werdet , sondern wo die wahren Verehrer den Vater mit dem Geiste und die Wahrheit verehren . "
Und wie die Sonne aus dem Meere emportaucht , so leuchtet aus unergründlicher Tiefe zu euch der letzte Sinn der Seligpreisungen .
" Selig sind die Bettler um Geist , denn ihnen in sich selbst gehört die Macht des Alls . "
So lautet nämlich in der wahren Übertragung der Spruch , nicht , wie er uns viele Jahrhunderte im Ohr gewesen : " Selig sind die Geistig-Armen , denn ihrer ist das Himmelreich . "
Werdet Bettler um Geist !
" Selig sind die nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden , denn sie werden in sich gesättigt sein . "
" Selig sind die Barmherzigen , denn sie werden in sich selbst Erbarmen finden . "
" Selig sind , die reines Herzens sind , denn sie werden Gott in sich selbst schauen . "
Was wollen diese Seligpreisungen anders sagen , als daß der edle Mensch in sich selbst , im Erwachen seines Ich-Bewußtseins , seines All-Ichs seinen Lohn findet , nicht von außen her , nicht im Jenseitswahn .
Das ist der Ursinn der Evangelien , wie ihn treue Männer aus dem Kern herausgeschält haben .
Haltet euch an die reinen Worte Christi .
Im Vergleich zu ihm waren Paulus , der Teppichwirker , und Petrus , der Fischer , Irrende .
Haltet an Christus fest !
Und alle Gegensätze heben sich auf .
Das Eine ist das Viele ; das Viele ist das Eine .
Haltet euch an die Summe eurer Erfahrungen , eures Schauens , eures Sehen_es .
Denn ihr seid göttlich !
Dieses sei eure letzte und höchste Erkenntnis ! - - - Ich lese in den Evangelien die Stelle , wo Christus von den Kindern spricht :
" Was den Weisen verborgen ist , das ist den Kindern offenbart . "
Und das Wort Christi zu den Jüngeren , als sie die Kindlein anfuhren , die man zu ihm brachte , auf daß er sie segnete und für sie betete :
" Lasst die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht , denn solcher ist das All . "
Und nach diesen Worten legte er die Hände auf sie , segnete sie und zog von dannen .
Selig und reinen Herzens sind die Kinder , die von den Leidenschaften unberührt , klar und empfänglich gestimmt sind .
Es muß der wissende Mensch den Weg zur Reinheit des Kindes wiederfinden , damit er eines mit dem All , mit dem Vater wird .
Das ist einer der innersten Gedanken Christi , daß die Reinheit des Menschen im Kinde immer wieder seine Auferstehung feiert .
Das ist die große Wiedergeburt , der geheimnisvolle Erneuerungs- und Auferstehungsprozeß , daß die Kinder rein , gut und einfältig sind , auch die Kinder derer , die mit Schuld beladen sind .
Und so antwortet Christus den Jüngeren auf die Frage :
" Wo ist doch der Größte im All ? " indem er ein Kind zu sich ruft und es mitten unter sie stellt :
" Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder , so werdet ihr nicht die Herrschaft des Alls antreten . " - - - Alles Dogmatische ist ein Hohn auf den Menschen .
Mag es sich äußeren im Kirchlichen ( Religion ist heute nur noch Kirche ) , im Staatlichen ( kein Dogma wurde lähmender als das des Staates ) , oder in Wissenschaft und Kunst .
Auch ich war ein verträumter Dogmatiker , wenn ich in tönenden Worten dem Volke die Freiheit predigte .
Niemandem kann man die Freiheit aufreden ; das Gefühl für sie muß in jedem einzelnen wachsen und lebendig werden .
Erst durch seine Lebensführung wird man innerlich frei .
Ein Ahnen davon ist in der Brust des Verstocktesten .
Denn noch der primitivste Mensch ist in seinen Instinkten ein Weiser - wie überhaupt die Weisheit nicht nur eine Sache der Philosophie ist .
Jeder Mensch hat Philosophie in sich , oder richtiger formuliert , die Philosophie .
Er hat in sich die tiefsten Erkenntnisse , das höchste Verantwortlichkeitsgefühl und den treffsicheren Blick für die Probleme des Daseins .
Aber dieses gehört zu den Tragiken , daß er den Zusammenhäng mit sich selbst verliert und hilflos schnappt , wie ein ans Land geworfener Wasserbewohner .
Die Philosophen , die kaltblütig Forderungen stellen , sind Menschen ohne Güte und Begreifen .
Die großen Führer und Lehrer der Menschheit haben nur dadurch überzeugt und die Seelen sich willfährig gemacht , daß sie leben und Lehre in Einklang brachten .
Sie wirkten durch ihre Beispiele , durch die großartige Unerschrockenheit , mit der sie alles Leid und alle Schuld in unsagbarem Verstehen auf sich luden .
Mit einem Worte : Sie stellten Lebensführungen dar . Uns , den Vertretern eines edlen Mittelgutes , bleibt nichts anderes , als uns zu bescheiden - in der Einsamkeit , fern von dem Lärm der Gassen , unserem Wesentlichen zu leben und durch ein leises und persönliches Wirken , oft nur durch ein zages Berühren unserer Hände oder durch einen stummen , ruhigen Blick denen Linderung zu geben , die zerbrochen und mühselig unseren Weg kreuzen und aus tausend Wunden bluten .
Vermögen wir durch solche stille Arbeit noch einen Funken von Lebensfreudigkeit aus ihnen herauszuschlagen , ihnen den Glauben an ein ewiges Sicherneueren wiederzugeben , sie für eine ferne Botschaft , die da kommen muß - empfänglich zu stimmen - so hat unser Leben einen Zweck gehabt .
" Wir ... wir sparen auf die Zeit - und den Einen , der die Erfüllung bringt .
Je stärker wir an den Frühling - das Licht - und die Freude glauben - je näher sind wir dieser Erfüllung .
Wer der Eine sein wird - dieses ist eine müßige Frage !
Vielleicht aber liegt es nicht außerhalb der Möglichkeitsgrenze , daß wiederum der die Erkenntnis zu uns trägt , der alle Macht und Pracht in sich vereinigt , eine Krone auf seinem Haupte trägt , und leichten Herzens dieses alles von sich wirft als etwas , das entwertet ist , seinen Glanz und seine Farbe eingebüßt hat .
Solch eines Mannes Stimme würde das entmutigte Volk am ehesten hören .
Nur das Unermeßliche , das Übermenschliche , das über alle Begriffe und Vorstellungen Hinausragende könnte es in seinem Gram aufrichten .
Ich spiele mit einem Gedanken , der töricht ist .
Es sei ein Fürst - es sei ein Zimmermannssohn !
Denn wo ist der Unterschied zwischen einem Fürsten und einem Zimmermannssohn ? - -
Aus der Reinheit meiner Kindheit erscheint mein ganzes späteres Leben gerechtfertigt .
Ich empfinde , daß mein ganzes Handeln niemals bestimmt war durch persönliche Verbitterung .
Ich bin nicht aus Kränkungen , die ich am eigenen Leibe erfahren , durch persönliches Mißgeschick ein Kämpfer für das freiheitliche Denken geworden : sondern aus innerer Notwendigkeit .
Wie ich zur Erhaltung meines Daseins atmen muß , so muß ich kämpfen .
Die ganze Geistesrichtung eines Menschen liegt angedeutet in seiner Kindheit .
Ich lehnte mich als Knabe gegen Zwang und Autorität auf , weil ich bei denen , die mich erzogen und leiteten , bei meinem Vater und meinen Lehrern , die Rechtfertigung für ihr Handeln nicht finden konnte .
Ich wartete auf ihre Liebe , ihr Verstehen , und sie standen mir als strenge Herren und Richter gegenüber ; als drohende Büttel , die auf ihre Gewalt und überlegene Stärke pochten .
Da erkannte ich klar , daß sie im Unrechte waren .
Ich widersetzte mich und suchte meinen Mitschülern Klarheit zu verschaffen .
Ich sträubte mich als Kind gegen einen dogmatischen Glauben , weil diejenigen , die ihn verkündeten , mir nicht glaubwürdig erschienen , und weil ich die Gerechtigkeit Gottes nicht begriff .
Denn ich sah diejenigen zu Unrecht leiden und wie arme Pflänzchen eingehen , die mir nahe standen und die ich am innigsten liebte .
Ich wollte mich in meinem Unverstand nicht zu Christus bekennen , weil das Bild von Christus mir verschleiert war , weil diejenigen , die sich beständig auf Christus beriefen , mir Furcht und Entsetzen einflößten .
Und doch war meine ganze Sehnsucht , meine Kindessehnsucht auf ihn gerichtet , der die Reinheit , die Erfüllung ist .
Auf diesen meinen Kindervorstellungen baute sich mein ganzes Streben als Jüngling und Mann auf .
Sie sind das reine Band , das mich an die Zukunft knüpft .
Ich fand den Christus und fand , daß niemand wie er für die Freiheit des Menschen gekämpft hat .
Ich hatte mir die Augen verhüllt und das Wort des Christus vergessen :
" Wandelt im Licht , ich bin das Licht der Welt . "
Nur den Gram , nur die Dunkelheit hatte ich sehen wollen .
Ich wandelte wie ein Fremder unter Menschen ohne geistiges Leben , die in dem Tempel des Belial beteten .
Ich war ein Arzt , wollte heilen und helfen , aber meine Kunst war schwach .
Ich war ein Hirte und wollte die Zerstreuten im Lande um mich sammeln und Weckrufe ertönen lassen ; meine Stimme war dünn und verhallte .
Aber in all den Lebenskämpfen versank ich nicht .
Oft drang mir die Flut bis hoch an den Hals , es schlugen die Wogen über mir zusammen , und dennoch - ich versank nicht .
Ich trete die Kelter von nun an allein .
Ich will leben im Lichte der Welt .
Ich will den Frühling schauen , ich will den Duft der Syringen und der dunklen Rosen einziehen .
Ich will schauen , schauen um mich , in mich .
Ich will den Menschen im Sinne des Christus empfinden .
Ich will mich in seine Größe und Ewigkeit senken .
Mit meinen Augen will ich die Pracht und Herrlichkeit um mich aufnehmen .
Ich will die Ohren weit öffnen , um den Klängen der Musik zu lauschen .
Die Worte der Dichter will ich hören , denn all die Pracht ist ja nur die Offenbarung des göttlichen Ich , des Lebens des Lichtes .
Ich will versuchen , zu leben nach der Lehre des Christen - in Einsamkeit , ohne die Gemeinschaft zu vergessen .
Alles eitle Fürchten und Hoffen - es liegt weit hinter mir .
Ich bin auf die Tragik des Lebens gestimmt .
In den Anfängen seines Daseinskampfes geht der persönliche Mensch unbewußt von dem Gedanken aus , er könne seinen Nachen durch alle Dunkelheiten treiben , er könne das Leben als ein Beherrscher meistern in seinen Höhen und Tiefen , über Klüfte und reißende Ströme Brücken schlagen , auf Bergesgipfeln tanzen .
In dieser Epoche hat er einen Bärenhunger , haut mit scharfen Zähnen ein , ist raubtiermutig und verwegen .
Er lacht der Gefahren .
Auf der Höhe ist er frei von Schwindel .
Das ist der Dämmerzustand , den man Kindheit nennt , wo wir heiter sind und voll Zuversicht .
Es kommt die Stunde , wo wir sehend werden , und diese Stunde bringt uns die schmerzhafteste Erkenntnis , die uns einsam und weltfremd macht und eine Wunde schlägt , daran viele von uns langsam verbluten .
Wir fühlen plötzlich unsere Gebundenheit .
Wir erkennen , daß wir der Tragik des Lebens gegenüber ohne Macht und Wehr sind , daß aus dem Leben die Tragik nicht herauszubugsieren ist , daß sie wohl für ein Kleines verborgen im Dunkel kauert , um hervorzubrechen , wenn wir uns am sichersten wähnen .
Das ist der tragische Riß , der durch unser Dasein geht .
Wer ihn verkitten und verkleistern will , gleich dem Kinde , das mit seinen Händchen das Meer ausschöpfen möchte .
Und dennoch wächst aus tiefstem Weh die höchste Lust .
Unsere Nachdenklichkeit ist erwacht , wir prüfen jedwedes Ding auf seine Fruchtbarkeit hin , wir werfen alles schwere Gepäck von uns , wir werden noch einmal leicht und beweglich .
Wir stehen dem Leben kühler gegenüber und umschlingen es doch fester .
Wir lachen aller Moralitäten und aller Gesetze , die Menschen schufen .
Aber unser Lachen ist silbern und ohne Hohn .
In den Augen unserer Mitmenschen sind wir von nun an verschwenderischer , waghalsiger und verwegener denn je .
In unseren eigenen , gerechter , bescheidener , ehrfürchtiger .
Denn unser Reichtum ist nicht ihr Reichtum , und ihre Gefahren sind nicht unsere Gefahren .
Wir zertrümmern , was ihnen heilig ist , weil wir von der Stunde an um unserer selbst Willen elender Rücksichten und erbärmlicher Zugeständnisse entbunden , von Freund und Bruder gesondert sind - entbunden und gesondert um höherer Einheit Willen .
Denn nun , wo die Tragik des Daseins uns erleuchtet - leben wir über sie hinaus . - - - - - Ich lösche mein Mitleiden um Katharina Dirckens nicht aus .
Ich leide mit ihr .
Aber mein Mitleiden ist hart und leuchtend wie ein Diamant .
Ich lasse sie nicht liegen .
Aber ihr Weg liegt weit von dem Weg , den ich gehen muß .
Es kommt auf das Müssen an .
Wer an seinem Müssen vorübergeht , trägt sich selbst die Muttererde ab .
Ich werde meine Augen über ihr halten .
Ich werde bei ihr sein , wenn sie mich ruft .
Nur den dritten Bissen Brots werde ich zu mir nehmen .
Wenn ihre Füße wund sind , so werde ich Balsam und Öl darauf legen .
Aber ich will den Weg gehen , den ich gehen muß .
Ich will in mein Licht - in meine Freude tauchen .
Lassest du mich nicht , Katharina Dirckens , so schreite ich über dich hinweg und achte nicht der Hände , die du drohend gegen mich hebst , und höre nicht die Worte und Verwünschungen , die du in Weh und Bitterkeit über mich ausgießest .
Hier fängt mein Böses an , das mein Gutes ist .
Es wuchs und wächst an den Wurzeln meiner Kraft .
Was will noch aus mir wachsen ?
Ich weiß es nicht .
Ich weiß nur eines , daß ich auf mein Wachstum lauschen werde , wie ich als Arzt auf die Herztöne des Kindes lausche , das aus dem Mutterleibe drängt .
Eine weite Wanderung liegt hinter mir .
Ich raste für eine Weile .
Ich bin ein Acker , der seine Frucht getragen .
Wann werde ich die schwarze Scholle wieder auf- und umschütten , damit sie neuer Saat empfänglich wird ?
Wann ?
.. .
In dunklen Ängsten leben die meisten an sich vorbei und glauben so über sich hinwegkommen zu können .
Die mit feinen Ohren vernehmen den leisen Klang ihrer Glocken und tönten sie inmitten nächtlichen Schlafs - sie sind nicht nur auf die Tragik , sie sind auf die Mysterien des Daseins gestimmt , die über die Tragik hinausgehen .
Sie hören plötzlich die zartesten Nebentöne und Nebenschwingungen .
Und wiewohl sie dafür weder Formel noch Ausdruck zu finden vermögen , erscheint es ihnen doch als das Wesentliche , in Vergleich zu dem geringfügig ist , was sie mit ihren äußeren Sinnen wahrnehmen .
In ihren Tanz und in ihre Andacht dringt kein Lärm der Gasse ... XII .
Das waren die Worte , die Thomas am letzten Tage seiner Einsamkeit niederschrieb .
Er versiegelte diese Papiere und schrieb auf das Kuvert den Namen der Bettina .
Er dachte über sein künftiges Leben nach .
Er wollte fort aus der Großstadt in die Stille , in den Frieden zu wohltätiger Arbeit und Hilfe .
Er dachte in Güte an die Katharina .
Er war kleinmütig gewesen in Bezug auf sie und hatte verzweifelt .
Mochte er ihr helfen können oder nicht , mochte sie gesunden oder nicht - auch in ihr lebte und webte das Göttliche .
Wenn sie elend war , so hatten die Menschen sie getreten , mit Fäusten geschlagen und waren über ihre Lebensfreude wie über einen Leichnam geschritten .
Die Schuld der anderen mußte er auf sich nehmen , die Schuld der anderen und eigene Schuld .
Nur so aß er das Brot Christi und trank das Blut Christi , so hob er die Schuld auf .
Denn es gab keine Schuld , es gab kein " gut " im Gegensatz zu einem " böse " .
Er blickte hinaus .
Überall ein leises Blühen ... dämmernde Auferstehung aus Winterschlaf ...
Er hörte ein Geräusch und sah auf .
Ein leises Pochen drang zu ihm .
Er erhob sich verwundert und öffnete .
Ein Landbriefträger , verstaubt vom langen Wege , stand vor ihm und überreichte ihm schweigend eine Depesche .
Sonderbare Gedanken stiegen in ihm auf .
Was hatte das zu bedeuten ?
Er fuhr mit seiner mageren Hand über die Stirn und strich das dunkelbraune , glänzende Haar zurück , in das sich einzelne graue Fäden verloren hatten .
" Herr Druck " , sagte der Bote leise , " es steht nichts Gutes drin ! "
Thomas hatte die Brauen zusammengezogen und atmete schneller .
Einen Augenblick zögerte er noch , dann öffnete er das Telegramm .
" Katharina lebensgefährlich verletzt , wünscht Dich zu sehen .
Komme eiligst ! Bettina . "
Seine Züge wurden schmerzensreich , seine Lippen bewegten sich , vor seinen Augen dunkelte es . - - - - - Thomas stand vor ihrem Lager und hielt ihre kalte Hand in der seinigen .
Sie sah ihn mit weitgeöffneten Todesaugen an und versuchte zu lächeln , und ganz leise sagte sie :
" Thomas , wie gut , daß du gekommen bist ... "
In dieser Stunde war ihr Gesicht rein und schön , so wie es ihm damals erschienen war , als er es zum ersten Male gesehen .
Und nach einer kleinen Weile fuhr sie fort : " Wie habe ich dich gequält , du Armer !
... Und wie bist du gut zu mir gewesen , du Guter , du Lieber ! "
Da ging durch seinen Körper eine tiefe Bewegung .
Alles löste sich in ihm .
Er schluchzte .
" Du sollst nicht weinen " , sagte sie wieder .
Dabei lächelte sie gütig und weh .
Dann richtete sie sich mit aller Anstrengung ein wenig auf .
Er war erschreckt und wollte sie sanft in die Kissen zurücklegen , aber sie schüttelte den Kopf und sah ihn plötzlich in froher Zuversicht an .
" Siehst du , ich habe versucht , anders zu werden ... Du darfst es mir glauben , ich habe es versucht !
Thomas , ich konnte nicht , ich konnte nicht . "
Ein rätselhafter , geängsteter Ausdruck beherrschte jetzt ihre Züge , als ob sie noch einmal vergeblich darüber nachsänne , was ihrem Wollen solchen Widerstand bereitet hatte .
Sie gab es indessen bald auf , und wieder sagte sie nur :
" Ich konnte es nicht ! "
Eine unendliche Mattigkeit überfiel sie .
Sie sank zurück , aber sie hielt seine Hand fest .
Ein paar Minuten schien sie zu schlafen .
Er rührte und regte sich nicht .
Er horchte auf ihren Atem und fühlte ihren matten Puls .
Es war so still , als ob der Tod schon seinen Einzug gehalten hätte .
Sie schlug die Augen von neuem zu ihm auf und sah ihn in Liebe an .
" Du wolltest mir helfen , Thomas , mir aber konnte niemand ... niemand helfen ! "
Ihre Stirn wurde feucht .
Die Worte kamen immer leiser heraus , fielen ihr immer schwerer und mühseliger .
Dennoch hielt sie sich mit aller Kraft aufrecht .
" Sieh einmal ... Du darfst es mir glauben , ich wollte , als du weg warst , damit aufhören ... ich wollte wieder arbeiten ... so wahr mir Gott helfen möge ... ich wollte aufhören zu ... "
" Sprich nicht davon " , unterbrach er sie sanft .
Sie schüttelte hartnäckig den Kopf .
" Nein ... nein , laß mich " , entgegnete sie weinerlich und etwas gereizt .
" Es ging auch einige Tage ... aber dann überfiel es mich wieder .
Ich mußte ... Du , ich mußte ... alles vergaß ich , wie wenn der Teufel in mir gewesen wäre ...
Nur trinken wollte ich ... nur trinken !
Begreifst du denn das ?
... Wenn ich dann ausgeschlafen hatte - Du meine Güte , was vorn Ekel hatte ich dann vor mir selber .
Wenn ich nur weg könnte , dachte ich in einem bei mir .
Und so 'ne Angst hatte ich vor der Zukunft ... so 'ne Angst , daß sie mich von der Straße ins Spital ... auch mit dir , Thomas , hatte ich Mitleid , daß du an so eine gekommen warst . "
Sie wimmerte leise .
" Du " , fuhr sie nach einer Pause fort , " herumgetragen habe ich es lange ... aber erst als das mit der Josefa kam - - wurde es mir klar ... das war wie 'ne Erleuchtung !
... Es war aber so schwer , Thomas , so furchtbar schwer !
... von einem Tage schob ich es auf den anderen ... " - ihre Augen wurden auf einmal wieder leuchtend - " und dann , Thomas , kam der letzte ... letzte Tag .
Ich mußte es tun , Thomas , bevor du wieder da warst ...
Ich wäre sonst vielleicht ... "
Sie sprach nicht weiter , sondern streckte ihre Arme nach ihm aus .
" Komme , küsse mich , Thomas ! "
Er beugte sich zu ihr herab und küßte sie .
Er sagte ihr Worte des Trostes und daß sie gesunden würde .
Sie aber erwiderte :
" Nein , Thomas , nur noch diese Nacht . "
Und dann erweiterten sich plötzlich ihre Augen noch mehr , als wollten sie in die Ferne dringen .
Sie ließ seine Hand los .
Ihr Körper sank zurück .
Und nun fiel sie in einen Halbschlummer , aus dem sie häufig erwachte , um zusammenhanglose Worte zu sprechen .
Die Dämmerung sank herein , und silberne Nebel wuchsen vor ihm auf , silberne , weiße Nebel ...
Dann dunkelte es , und die Nacht stieg empor .
Aber diese Nacht , in der er an ihrem Lager saß , ohne sich zu bewegen , und auf ihre Herztöne hörte , erschien ihm weiß und glänzend .
Und in dieser Nacht erkannte er sie , wie er sie nie vorher erkannt hatte .
Und all sein Tun ihr gegenüber begriff er .
All sein Tun hatte nun doch einen tiefen Sinn gehabt ...
Als aus silbernen Nebeln die Sonne erwachte , da weinte er nicht .
Er küßte ihre kalte Hand und ihre kalte Stirn .
Lange hielt er Totenwacht ...
Dann ging er zur Bettina .
Und die Bettina blickte ihn an , wie ihn die Katharina in ihrer letzten Stunde angeblickt hatte - groß , rein und schön .
CC-BY

Holder of rights
Bildungsroman Projekt

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2025). Korpus. Der Weg des Thomas Truck. Der Weg des Thomas Truck. Bildungsromankorpus. Bildungsroman Projekt. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0rz.0