1 Eine schlechte Kinderstube wird durch kein Begräbnis erster Klasse wett gemacht .
Aus Stilpes zerstreuten Papieren .
Erstes Kapitel .
Als mein Freund Stilpe geboren worden war , herrschte , wie das so üblich ist , viel Freude in der Familie .
Dies umsomehr , als die Sache anfangs gedroht hatte , bös auszugehen .
Tante Pauline , die nachgezählt hat , will es beschwören , daß Stilpe-Vater an jenem schweren Tage dreiundachtzig Mal : Umgotteswillen ! gesagt hat , wobei er sich , zornig halb , halb mit der Miene eines zerknirscht auf alles Gefaßten , in den Achselausschnitt der Weste fuhr und mit sämtlichen Fingern , außer den Daumen , die eben hinten steckten , auf beide Seiten der Westenbrust trommelte .
Und dabei war Stilpe-Vater eigentlich ein sehr ruhiger Mann , seines Zeichens Lepidopterologe , und konnte von sich sagen , daß er die Welt mit Gelassenheit betrachtete . 1 * Aber dieser Fall war zu sehr außerhalb der Erfahrungen seines Metiers .
Das Kind lag nämlich schief , und Doktor Schatzheber , schon durch diesen Namen zum Geburtshelfer prädestiniert , sah sich genötigt , mit der Zange einzugreifen .
Umgotteswillen !
Mit der Zange !
Dem Lepidopterologen , der an die gelinde Art dachte , wie sich die Schmetterlinge auf diese Welt bringen , hätte sich das Haar gesträubt , wenn es nicht schweißnaß am Schädel geklebt wäre . --
Nun , nun ! sagte Tante Pauline :
das ist das Schlimmste noch nicht .
Die Hebamme hat mir erzählt . . . -- Umgotteswillen , Pauline , verschone mich !
Du bist nie in der Lage gewesen .
Also solltest du auch nicht . . . Tante Pauline rauschte ab .
Es muß gesagt werden , daß die ganze aufregende Geschichte ihr eine gewisse Genugtuung bereitete .
Das Verheiratetsein hat also auch seine Schattenseiten !
Ja , ja , ja !
Das versöhnte sie auf eine Weile mit der Welt .
Schließlich lief also Alles gut ab , nur daß der kleine Stilpe eine kleine Eindellung am Hinterkopf aufwies .
Tante Pauline hatte die Güte , fragend Erstes Buch , erstes Kapitel . zu bemerken , ob derlei nicht Blödsinn zur Folge haben könnte ? --
Nein ! schnaubte Doktor Schatzheber , aber , wenn die Wöchnerin nicht bewußtlos wäre , würde ich Sie . . . . ; dann wusch er seine Zange in Karbol .
Tante Paulines Benehmen ist schuld daran , daß ich vergessen habe , den Schauplatz von Stilpes Geburt zu nennen .
Es vollzog sich dieser Akt in Leißnig , einer kleinen sächsischen Stadt , über die ich in Kürschners Quartelexikon nichts weiter finde , als daß sie an der Freiberger Mulde und nicht weit von dem Schloß Muldenstein liegt .
Ich habe auch keinen Anlaß , mich bei diesem Gemeinwesen länger aufzuhalten , denn , wenn ich auch zu Beginn meiner Geschichte eine kleine Stilpopädie zu liefern gedenke , so bin ich doch weit entfernt , mich nach dem preiswürdigen Muster des lieben Meisters Rabelais auch mit den Windelerlebnissen meines Freundes zu beschäftigen .
Selbst die erste Hose und die Schulzuckertüte bringt mich nicht von dem Vorsatz ab , erst in dem Augenblick einzusetzen , wo mein Freund in das versandfähige Alter eintritt , da man ihn von Hause weg und in fremde Hände gab , genauer gesprochen , da man ihn aus Leißnig nach Dresden und zwar in die Königliche Erziehungsanstalt für Knaben in Friedrichstadt-Dresden gab , die unter dem Namen Freimaurerinstitut bekannt ist .
Zweites Kapitel .
Das Freimaurerinstitut in Dresden-Friedrichstadt verfolgt nicht , wie man aus dem Namen schließen könnte , den Zweck , Freimaurer zu züchten , sondern es erblickt seine Bestimmung darin , aus jungen Knaben , die zu Hause schwer zu glätten sind , wohlpolierte Jünglinge zu machen .
Es führt sie aber nicht bis zu jenen Höhen der Bildung , deren Erklimmung die Tore einer Universität öffnet , sondern es begnügt sich mit der bescheideneren , aber zuweilen doch recht mühereichen Aufgabe , seine Pflegebefohlenen nur bis zum Vorhofe des Tempels zu bringen .
Dort gibt es ihnen einen leisen Schlag auf die Schulter ( so , wie es den jungen Fohlen geschieht , wenn man sie aus dem Stalle läßt ) und befiehlt sie der fördernden Gnade dessen , der aus Tertianern nach und nach Primaner und weiterhin im sanften Gleisgange Studenten , Doktoren , Pastoren , Professoren , geheime Räte , wirkliche geheime Räte , kurz allerlei Lichter oder auch wohl bloß Leuchter macht .
Mein Freund Stilpe , von dem ich hoffe , daß ich ihn einst unseren Freund werde nennen dürfen ( aber man hofft manchmal verwegen ) , wurde aus zweierlei Gründen in die Obhut dieser wissenschaftlichen und moralischen Brutanstalt gegeben .
Einmal geschah es deshalb , weil der Vater notwendig nach Südamerika reisen mußte , um dort auf irgendwelchen besonders begnadeten Wiesen irgendwelche Schmetterlinge zu fangen , die sich darauf kaprizieren , just und nur dort ihr Dasein hinzubringen , und die deshalb noch immer nicht in die ihnen gebührende Klasse der wissenschaftlichen Schmetterlingsordnung eingetragen waren .
Stilpe-Vater hätte aber nicht mit der Seelenruhe , die zu einem solchen Geschäfte nötig ist , in das ferne Land ziehen können , wenn er seinen Sohn nicht in männlicher striegelnden Händen gewußt hätte , als es die der guten Stilpe-Mama waren .
Denn es muß gesagt werden , daß Mama Stilpe kein eigentliches Talent für Knabenerziehung besaß .
Sie war , eine liebe , nette und hübsche Frau übrigens , Erstes Buch , zweites Kapitel . zu sanftlebig dazu und hatte das , für andere Kinder vielleicht recht passende , auf Willibald angewandt aber nicht ganz richtige Prinzip , lediglich mit Bonbons zu erziehen .
Sie handelte dabei nicht nach irgend einer pädagogischen Schulmeinung , sondern ganz instinktmäßig .
Da sie nämlich selber eine Liebhaberin von Konfitüren aller Art war , so hatte sie die Bemerkung gemacht , daß nichts auf ihre Psyche so beruhigend , begütigend , ja im eigentlichsten Sinne bessernd und , wenn die Bonbons besonders auserlesen waren , erhebend wirkte , als die linde sich lösende Süßigkeit dieser Konditorerzeugnisse , und sie meinte nun , es müsse das bei dem noch naiveren Kontakt zwischen der kindlichen Zunge und Seele im Kindesalter erst recht so sein .
In den einzelnen Fällen hatte es auch immer den Anschein , als ob sie recht hatte .
Der kleine Willibald , so hatte man ihn in der Taufe benannt , reagierte wie ein Engel auf Bonbons .
Aber von der höheren Betrachtungswarte der väterlichen Kritik aus machte es sich bald bemerkbar , daß das Allgemeinbild der Willibaldschen Entwicklung sich nicht völlig so süß ausnahm wie die einzelnen Reaktion Erscheinungen .
Kurz gesagt :
Willibald war außerhalb der jeweiligen Bonbonwirkungen eine beträchtliche Range .
Der andere Grund zur Überführung des jungen Knaben ins Freimaurerinstitut lag mehr auf wissenschaftlichem Gebiete .
Wenn jemand einen Sohn bekommen hat , so meldet sich , kaum daß die erste Windel trocken geworden ist , die ernste Frage :
Was soll der Junge werden ?
Ist es erstaunlich , daß Stilpe-Vaters Antwort darauf mit der Sicherheit einer Reflexbewegung lautete : ein Lepidopterologe ?
Diese Antwort ist durchaus begreiflich .
Stilpe senior empfand wie jeder Vater seinen Sohn als eine Fortsetzung seiner selbst ; was lag da näher , als daß er in ihm auch den zukünftigen Fortsetzer seiner Lebensaufgabe sah ?
Und nun konnte er sich zwar sagen , daß er selbst schon manchen Schmetterling zur Ehre der Wissenschaft aufgespießt hatte , aber die sattsam bekannte Bescheidenheit unserer exakten Wissenschaftler erfüllte ihn doch zu sehr , als daß er nicht auch hätte hinzufügen müssen :
Es gibt immer noch unaufgespießte Schmetterlinge genug , ja übergenug .
Welch ein lieblicher Gedanke aber , daß der Sohn die Schmetterlinge Einregistrieren Erstes Buch , zweites Kapitel . wird , die einzuregistrieren dem Vater von einem neidischen Schicksale versagt gewesen !
Indessen : Stilpe-Vater war ein starker Geist und wußte die Subjektivität des väterlich Angenehmen von der Objektivität der Pflichten zu trennen .
Er sagte sich :
Man muß alle Türen offen lassen und bis zu dem Zeitpunkt warten , wo man aus den Schritten des jungen Menschen ungefähr ersehen kann , zu welchen er sich am fügsamsten leiten lassen wird .
Nur nicht schieben und stoßen !
Er war durch seinen Beruf an zartere Hantierung gewöhnt .
Daher gab er denn seinen Sohn , als der im lateinfähigen Alter war ( ach , wie bald ist das ein Deutscher ! ) , nicht mit plumper Hast auf ein Gymnasium , sondern richtete sein Augenmerk auf eine Anstalt , die beide Wege , den in die Humaniora , und den in die Realistik , offen ließ .
Eine solche Anstalt war das Freimaurerinstitut .
Im Allgemeinen mehr den realistischen Disziplinen des menschlichen Wissens gewidmet , besaß es doch auch eine Selekta für die unter seinen Zöglingen , die es nach den Reizen des klassischen Altertums oder wenigstens nach den Laufbahnen gelüstete , die nur der lateinisch und griechisch geeichte Jüngling betreten darf .
So wurde Willibald , als er acht Jahre alt war , in die Zöglingsschaar des Freimaurerinstitutes eingereiht .
Acht Jahre alt !
Mit Bonbons erzogen !
Sehr eigensinnig !
Sehr zart !
Sehr blaß !
Und nun plötzlich unter dem Glassturz zärtlichster Bemutterung hervorgezogen und einer Knabenstriegelungsanstalt überantwortet , die geradezu spartanischen Erziehungsgrundsätzen huldigte . . . ! Oh mein kleiner Willibald , was wirst du erleben müssen !
Wehe , die Zeit der Bonbons ist vorüber .
Willibald erhielt die Nummer 171 , als er ins Institut eintrat .
Man schrieb sie ihm mit Tinte in die Wäsche , nähte sie ihm in die Kleider , klebte sie ihm in Stiefel und Mütze ; sie stand auf seinem Kleider- und Bücherschrank , sie stand auf seinem Bette , sie stand auf seinem Waschbecken , seinem Stiefelwichsplatz , seinem Seifenkasten ; und auch auf dem hölzernen Gewehre stand sie , mit dem er exerzierte .
Denn es wurde exerziert in diesem Institute , exerziert unter der Leitung zweier schnauzbärtiger ehemaliger Unteroffiziere , die auch sonst als Knabendresseure einen wichtigen Platz im Erziehungsplane dieser martialischen Anstalt hatten .
Erstes Buch , zweites Kapitel .
Man kann daraus erkennen , wie eminent modern die Anlage dieses pädagogischen Institutes war .
Sie ging nicht aufs Sentimentale , sondern aufs Robuste aus , sie wollte nicht Romantiker erziehen , sondern Realisten , sie wusch die jungen Häute nicht mit Mandelmilch , sondern mit Bimsteinseife .
Wie in den meisten dieser Internate , so lebte auch in ihr das bewährte Staffelprinzip des Lebens , das sich in Kürze so darstellen läßt :
Die Unteren sind die Fußschemel der Oberen , und keiner kommt ungetreten in die Höhe .
So erfüllen diese Anstalten aufs Vollkommenste den erzieherischen Zweck , aufs Leben vorzubereiten .
Denn sie nehmen es in seiner ganzen Rohheit vorweg .
Der Spaltpilz des Illusionismus wird mit kräftiger Hand ausgemerzt , und die bedenkliche Neigung mancher jungen Seelen ins Optimistische wird durch reichlich und konsequent applizierte Blitzgüsse weggeschreckt .
So redet unsere erwachsene Philosophie .
Aber , liebe Leute , so ein kleiner Junge von acht Jahren . . .
Mein Gott , woher soll der erwachsene Philosophie haben ?
Er begreift mit nichten die Heilsamkeit des lebensvorbildlichen Getretenwerdens , er versteht ganz und gar nicht , wie wertvoll es ist , sich die junge Haut durch Schinden abhärten zu lassen , ihm fehlt jeder Sinn für das realistisch Tüchtige dieser ganzen Methode .
Er fühlt sich einfach kreuzunglücklich .
Er denkt an Müttern und weint .
So auch Willibald .
Was hat der arme kleine Kerl geheult unter seiner Bettdecke !
Und wie hat er manchmal mit den Zähnen geknirscht vor Ingrimm , wenn ihn die Oberen drangsalten , ihn , den " Battling " .
So wurden nämlich die Kleinen genannt .
Die Battlingschaft war bitter wie die Rekrutenzeit .
Ach nein : Wohl bitterer noch .
Denn , was so eine junge Seele empfindlich ist , das kann sich ein erwachsenes Gehirn manchmal gar nicht mehr vorstellen .
Deshalb wird es gut sein , ich lasse den Battling selber reden .
Drittes Kapitel .
Die Briefe des Battlings .
Liebste Mama !
Du hast mir gesagt , das ich Dir gleich schreiben soll , wie mir es gesellt im Institut .
Es gefällt mir gar nicht .
Die Jungen sind furchbar grob und haun mich immer und nennen mich Badlich .
Sie sagen , ich wäre ein dummes Gescheeche .
Ich mag nicht mehr dableiben und will wieder nach Leisnig .
Ach , liebste Mama , ich weine die ganze Nacht und dann kommen sie und haun mit einem Rohrstock auf die Bettdecke , die dünne ist .
Und früh läßt mich der Schüsseloberst den Zucker karieren beim Kaffee und Mittags der Schisselvice den Braten , wen es welchen gibt , aber es gibt bloß einmal welchen .
Ach liebste Mama komme doch gleich und hole mich ab .
Sonst Lauf ich davon .
Mit herzliche Grüße Dein Dich liebender Sohn Willibald Stilpe .
Meine liebe gute Mama !
Du denkst , ich liege Dir was for , aber es ist doch alles war was ich Dir geschrieben habe .
Gestern haben sie mich wieder das Fleisch wollen karieren lassen .
Da habe ich gesagt ich sag dem Lehrer , da haben sie mich unteren Tisch gesteckt und gesagt ich soll die Wacht am Rhein singen und sie wollen den Takt treten mit den Beinen , und haben mich auch getreten .
Aber gesungen habe ich nicht .
Ach meine liebe gute beste Mama , schick mir doch eine Kiste mit Wurst und Gänsefett , daß ich auch was habe auf die trockenen Dreierbrotchen , die wir zum Friestick kriegen , und ich dem Schisseloberst Erstes Buch , drittes Kapitel . was abgeben kann , daß er mich nicht immer den Zucker früh karieren läßt .
Mit herzlichen Grüßen Dein Dich liebender Sohn Willbald Stilpe .
Ich habe einen Freund , der heißt auch Willi , er sitzt neben mir in der Klasse .
Dem will ich auch Wurst geben , weil er mir auch Wurst gibt .
Meine allerliebste gute Mama !
Ich liege Dir ganz gewiß nichts vor .
Wenn ich in die Ferien komme will ich Dir schon zeigen , was ich für blaue Fleck habe , und einen ganzen Büschel Haare hat mir Einer ausgerissen , wo ich gar nichts gemacht hatte .
Bloß , weil ich ihm die Stieweln nicht putzen wollte .
Und den Lehrern darf man nichts petzen , dann kriegt man bloß noch mehr Keile , und die Lehrer tun den Großen doch nichts .
Wenn ein Battling betzt , missen ihn auch die anderen Battlinge mit verhauen , und er darf auch nicht mitspielen .
2 Die anderen Jungen kriegen alle Taschengeld für wenn die Obstfrau kommt .
Die kommt zweimal in der Woche und hat viele schöne Sachen , Johannisbrot und Äpfel und Birnen und Mispeln , aber Blockzucker darf sie nicht haben .
Du darfst mir aber das Geld nicht selber schicken , sondern dem Herrn Inspektor Teurig , der gibt mir dann jede Woche zwanzig Fänge .
Es grüßt Dich Dein Dich liebender Sohn Willibald Stilpe .
Mein Freund Rammer läßt Dich auch grüßen .
Liebe , gute , allerliebste Mama !
Ich bedanke mich sehr schön für die große Kiste .
Ich habe der ganzen Schüssel Leberwurst und Pfannkuchen gegeben und stehe jetzt sehr gut beim Schüsselobersten und den anderen .
Du schreibst , ich soll Dir schreiben , was ich den ganzen Tag mache .
Das will ich tun .
Also paß auf :
Um fünf Uhr früh klingelt eine Klingel am oberen Schlafsaal und dann schreien die beiden Herrn Inspektoren : Erstes Buch , drittes Kapitel .
Aufstehen !
Aufstehen !
Die erste Abteilung sich da zuhalten !
Die erste Abteilung sind nämlich die Battlinge .
Wir springen nun schnell aus den Betten raus und rennen in den Stiefelwichssaal und wichsen unsere Stiefel an den Beinen ohne Ausziehn sehr blank .
Dann rennen wir in den Waschsaal , wo jeder sein Waschbecken hat , aber nicht aus Borzelan , sondern zum Umkippen aus Blech .
Die Herren Inspektoren passen auf , daß wir die Hemden runterziehn und nicht so spritzen .
Das Wasser ist wie Eis , und die Seife hat jeder in einem Schiebekasten bei sich , wo sich auch der Waschlappen und die Kämme aufhalten .
Dann rennt jeder in den Kammsaal und kämmt seine Haare .
Ich habe einen Scheitel machen missen links aber ohne Pomade , mit Wasser .
Wenn Einer Läuse hat , so nennen sie ihn Lausewenzel .
Es kommt beim Haareschneiden raus und ist eine große Schande und wird mit Essiig gewaschen .
Ich dachte schon , ich hätte welche , weil mich_es immer picken tat , aber ich hatte keine .
Mein Freund Rammer hat Mal welche gehabt , aber dann hat er beim Haareschneiden immer gebetet Lieber Gott gib das ich keine Läuse habe , und dann hat er keine mehr gehabt .
2 * Ich muß nun schließen , weil es gleich zum Betegehen klingelt .
Es grüßt und küßt Dich Dein Dich treu liebender Sohn Willibald Stilpe .
Meine gute liebe allerbeste Mama !
Der Herr Inspektor hat mir gesagt , das Du Taschengeld für mich geschickt hast .
Das hat aber der Schisselvice gehehrt , und da hat er mir gesagt , ich soll_es keim sagen und soll ihm fünf Pfennige borgen .
Das ist aber verboten ; aber ich muß ihm doch borgen , weil er mich sonst am Sonntag das Apfelmus karieren läßt und selber ißt .
Nun will ich fortfahren , was ich tue , wenn ich meine Haare gekämmt habe .
Dann geht_es hinauf in die Arbeitszimmer und wird die Schulsachen nochmal durchgegangen .
Wenn alle Abteilungen mit Wichsen und Waschen und Kämmen fertig sind Erstes Buch , drittes Kapitel . wird angetreten und die Herren Inspektoren sehen Einen an , ob man reine gewaschen ist und auch die Stiewelsohlen ganz sind , besonders hinter den Ohren , wo sich manchmal Schmutz befindet und man dann karieren muß .
Dann singen wir in der Aula Nun danket alle Gott oder andere schöne Gesangbuchslieder und ein Herr Lehrer betet ein Gebet , was er gerade auswendig kann .
Dann geht_es zum Kaffetrinken , wo immer jede Schüssel , welche aus vier jungens besteht und einen Schisseloberst , Schisselvice , Schüsselterz und Schüsselschund hat , eine Kanne Kaffee kriegt und jeder drei Eckchen Semmel und zwei Stickchen Zucker .
Der Zucker wird gewöhnlich in die Semmeln nein gebohrt und dann gedunkt , das schmeckt wie Kuchen .
Die Schüsselschunds kriegen aber nicht immer alle zwei Stickchen Zucker , weil manchmal welche fehlen .
Wenn Kaffee getrunken ist , ist eine Arbeitsstunde , wo Schularbeiten gemacht werden .
Ein Herr Lehrer paßt auf , das keiner abschreibt .
Manche Jungen schreiben aber doch ab .
Ich wage mir_es nicht .
Nun lebe wohl meine liebe gute Mama , mein Nachbar schobt mich immer , daß ich Messerspießen soll mit ihm .
Das ist ein sehr schönes Spiel .
Auch Federtippens wird gespielt .
Ich habe drei Goldhahnfedern gewann , eine ganz neue dabei .
Es grüßt und küßt Dich Dein treuer Sohn Willibald Stilpe .
Liebe Mama !
Du weißt nicht , was Blockzucker ist ?
Ich werde es Dir erklären .
Das sind rote oder gelbe oder weiße Tafeln , und die roten schmecken nach Himbeere , die gelben nach Apfelsine und die weißen nach Zitrone .
Die roten schmecken am schönsten .
Wenn man eine Tafel kauft , das kostet zehn Pfennige , und jede Tafel hat fünf Abteilungen zum Abrechen .
Nicht wahr , jede Abteilung müßte doch bloß zwei Pfennige kosten ?
Kostet aber einen Dreier .
Rammer sagt , im Biedchen draußen kostet eine Tafel überhaupt bloß fünf Pfennige .
Aber die Jungen , die bloß in die Schule kommen hier und zu Hause wohnen , die bringen sie mit und sagen , sie kosten zehn Pfennige .
Wenn ein Junge kein Geld hat , so kann er auch seinen Braten davor geben .
Vor Schweinebraten kriegt man zwei Erstes Buch , drittes Kapitel .
Stückchen , aber vor Rinderbraten bloß eins , das heißt , weißt Du , das ist bloß bei den Battlingen .
Die Großen kriegen schon mehr .
Nun weißt Du , was Blockzucker ist .
Ich will Dir nun schreiben , was nach der Arbeitsstunde früh kommt .
Da kommt die Schule .
Rechnen ist sehr schwer hier , weil der Lehrer , den die Jungen Buschklepper nennen , so ein ekliger Fritze ist .
Das sagen alle .
Biblische Geschichte ist sehr schön , aber im Lateinischen sind die Verba schwer zum abwandeln .
Ich will aber doch in die Selekta .
Die Selekta darf abends eine Stunde länger aufbleiben .
Geographie ist sehr ausgedehnt .
In der Geschichte gefallen mir die alten Germanen vortrefflich gut .
Aber die Römer siegen immer .
Naturgeschichte ist sehr mies , weil sie auch der Buschklepper hat .
Nicht wahr , liebe Mama , die Menschen legen keine Eier .
Rammer sagt , sie legten welche .
Dann kommt das Mittagessen .
Erst betet einer komme Herr Jesu sei unser Gast und segne was Du uns beschert hast , und wenn_es alle ist , betet wieder einer Wir danken Dir Herr Jesu Christ , das Du unser Gast gewesen bist .
Aber er ist natürlich nicht wirklich da , sondern man muß sich ihn selber denken .
Es gibt meistenteils Rindfleisch mit Gemüse , und Brot kann sich jeder nachholen , wenn er noch nicht satt ist .
Ich hole mir immer welches .
Bier gibt_es keins , bloß Wasser .
Wir haben einen neuen Schüsseloberst .
Das ist der schönste Junge im ganzen Kasten und ein Serbe .
Er ist sehr gut und macht feine Witze .
Gestern sagt er zu mir : Du , Schund , jetzt laß ich Dichs Wasser karieren .
Da haben wir aber alle gelacht .
Er heißt Miokovitsch .
Ist das nicht ein schöner Name ?
Wenn ich groß bin , gehe ich mit ihm nach Serbien .
Er kann den Ball übern Turm pritschen .
Auch die Riesenwelle kann er .
Er hat aber auch schon beinahe einen Schnurrbart .
Ich bab ihn furchtbar gern .
Liebe Mama , die Kiste ist schon lange alle .
Es grüßt und küßt Dich Dein Dich vielmals liebender Sohn Willibald Stilpe No. 171. Liebe gute Mama !
Der Schisseloberst hat gestern dem Terz eine Schelle neingehaun , weil er mich geknufft hat .
Erstes Buch , drittes Kapitel .
Schick mir doch Pfannkuchen in der Kiste .
Er ißt sie furchtbar gerne .
Denke Dir nur : sein Vater ist Feldherr der Serbier .
Ich habe sein Bild gesehen .
Es ist keine Sohle .
Überhaupt : Miokovitsch schwindelt nicht .
In seinem Photographiealbum hat er auch viele furchtbar schöne Bilder von Mädchens .
Die Großen nennen ihn alle den schönen Mio .
Dem seine Muskeln solltest Du Mal sehen , liebe Mama !
Sie sind so dick wie meine Waden .
Er braucht sich auch keinen Scheitel zu machen , weil er Locken hat .
Niemals läßt er mich karieren , denn er ist überhaupt sehr edelmütig .
Seine serbischen Briefmarken Krieg ich alle .
Er kann furchtbar turnen .
Gestern ist er in der Nacht ausgestiegen und am Blitzableiter nunter geklettert .
Weil ich gerade an dem Fenster liege , habe ich_es gesehen .
Daß Du nicht petzt , hat er gesagt , und ich soll_es auch keinem Jungen sagen ; ich sag gewiß keinem .
Er ist erst nach einer Stunde wieder gekommen , und da war er so lustig , daß er mir einen Kuß gegeben hat .
Ich weiß auch , warum er nunter geklettert ist .
Er hat sich einen Strauß geholt .
Den ganzen Tag hat er ihn immer in seiner Tasche gehabt .
Mir gefellts jetzt ganz gut hier .
Liebe Mama , schick doch ja recht viele Pfannkuchen .
Es grüßt Dich Dein dreier Sohn Willibald Stilpe .
Liebe Mama !
Weil Du schreibst , daß ich Dir nicht geschrieben habe , was wir nach dem Essen tun , so will ich es schreiben .
Da wird exeziert .
Das ist sehr mühsam und mit Grobheit verbunden , weil die Herren Inspektoren so schreien müssen und sich ärgern , wenn die Jungen alles falsch machen , was natürlich ist , denn wenn man es noch nicht kann , so ist es sehr schwer .
Ich möchte lieber bei den Trommlern sein , und Miokovitsch will schon dafür sorgen .
Dann werden die Kleider ausgeklappt und vorgezeigt .
Der Inspektor kloppt auf die Hosen , und wenn Staub kommt , so wird_es aufgeschrieben , und wer drei Mal aufgeschrieben ist , der darf nicht mit spielen später .
Bei manchen kloppt der Inspektor aber leise und bei manchen derb .
Dann ist wieder Schule .
Hernach aber gibt_es Vesperbrot Erstes Buch , drittes Kapitel . und dann dürfen wir drei Stunden spielen .
Räuber und Dragoner ist das Schönste .
Ich habe einen Versteck , den keiner rauskriegt .
Da können sie lange suchen , wenn ich durchs Fenster in den Badebassin krauche .
Pritschball ist auch sehr schön , aber die Pritschen sind so lang , daß man oft vorbeihaut , und dann brüllen die anderen .
Die Seite , wo Miokovitsch ist , gewinnt immer .
Er hat die schwerste Pritsche , aber er macht selten mit .
Überhaupt ist er oft nicht da , wenn gespielt wird .
Ich habe ihn Mal gefragt , warum er immer nicht da ist .
Da hat er gesagt : Du bist neugierig , Schund , aber wenn du_es niemand sagst , will ich Dir es verraten .
Aber er hat mich bloß verulken wollen , denn es ist doch Unsinn , daß er auf dem Mond spazieren geht .
Solche Witze macht er immer .
Liebe Mama , warum schickst Du die Pfannkuchen nicht .
Es grüßt Dich Dein teurer Sohn Williwitsch .
Liebe , gute Mama !
Ich habe furchtbar lachen müssen , weil Du schreibst , ob es nicht recht wehtut , wenn der Herr Inspektor auf die Hosen kloppt .
Du denkst wohl , wir haben sie an , wenn er kloppt ?
Nein , das sind die anderen , die erste Garnitur , die gekloppt werden .
Nun will ich aber endlich schreiben , was abends gemacht wird .
Da wird erstens Abendbrot gegessen , wobei auch Biertrinken stattfindet .
Es ist aber natürlich bloß einfaches .
Dazu gibt es Brot und Butter oder Fett .
Fett ist mir lieber , denn die Butter ist sehr häufig ranzig .
Viele Jungen schmieren sie dann unteren Tisch oder schnippen sie mit dem Messer an die Decke .
Dann fällt sie manchmal nächsten Tag in die Suppe .
Weshalb es ein Unfug ist und man Schellen kriegt , wenn_es gemerkt wird .
Natürlich wagen sich_es bloß die Großen .
Im Winter soll die Butter auch von vielen Jungen gesammelt werden , und sie machen dann abends auf dem Ofen im Arbeitszimmer Butterbäbe draus mit geriebenen Brot .
Das muß fein schmecken .
Dann geht_es wieder hinaus zum Spielen und dann ist Arbeitsstunde oder Selbstbeschäftigung , wobei Briefe geschrieben werden oder sonst welcher Unsinn gemacht wird , weil kein In Erstes Buch , drittes Kapitel . Specktor dabei ist .
Dann geht_es um Neun schlafen , wobei das Schnarchen durch Anspritzen beseitigt wird .
Miokowitsch klettert jetzt egal zum Fenster nunter .
Mit Rammern bin ich schiech , weil er sagt , Miokowitsch wäre ein Slowake .
Ich brauche überhaupt keinen Freund , weil mich Miokowitsch zu seinem Leibschund ernannt hat .
Deshalb heiß ich auch Williwitsch .
Dein Dich liebender Sohn W. St .
Liebe Mama !
Schiech sein ist , wenn man mit Einem nicht mehr Freund ist .
Leibschund ist kein Schimpfname sondern sehr ehrenvoll .
Wie es am Sonntage zugeht , das ist sehr langweilig , wenn man niemand in der Stadt hat , zu dem man Urlaub kriegt .
Weißt Du denn gar niemand , wo ich hingehen kann ?
Früh gehen wir in die Kirche .
Da haben wir einen besonderen Platz und alle Bänke sind furchtbar bekritzelt , wo die Freimaurer sitzen .
Die meisten Jungen nehmen sich Bücher zum Lesen mit .
Ich sitze aber so nahe beim Inspektor .
Zu Mittag gibt_es Kompott und abends Tee und Käse .
Wenn schönes Wetter ist wird Spaziergang gemacht .
Es ist aber ledern , weil man so zwei und zwei in einer Reihe geht .
Und ich muß mit Rammern gehen , mit dem ich schiech bin .
Er will immer zu reden anfangen , aber fällt mir gar nicht ein .
Er soll erst sagen , daß Miokowitsch kein Slowake ist .
Liebe Mama , ich danke recht schön für die Pfannkuchen , aber es waren sechs ungefüllte dabei .
Es grüßt und küßt Dich Dein teurer Sohn Williwitsch .
Viertes Kapitel .
Man hat , denke ich , aus den Briefen des Battlings ersehen , daß Klein-Willibald , nicht ohne instinktive Lebenskunst , es verstanden hat , aus dem sauren Apfel , in den zu beißen er gezwungen war , nach Möglichkeit Süßes zu saugen .
Er hat unbewußt nach einem Rezept gehandelt , das auch Erwachsenen häufig probat erscheint zur Aufhöhung des Lebens :
er hat sich einen kleinen Heroenkult eingerichtet .
Und , wie klug der kleine Bursche doch war !
Er blieb nicht in der Ferne stehen und schwärmte platonisch , sondern er begab sich frohgemut und entschlossen in die Klientele seines Idols .
Die Gelegenheit , jetzt schon zu konstatieren , wohin sich das Häkchen krümmen will , wäre günstig , aber ich möchte dem Leser auch etwas zu tun geben und überlaße es also ihm , nachzumessen .
Nur bitte ich , sich nicht gleich ein Schema zu machen .
Des Menschen Seele ist manchmal schwankender als der Gang eines Betrunkenen durch einen Sturzacker .
Aber : wie Sie wollen !
An mir ist es , weiter zu erzählen und zu sagen , daß Jung-Stilpe allmählich aus dem Stande eines Battlings in den nächst höheren eines Quarks emporrückte .
Das heißt :
Er wurde nun nicht mehr bloß geschunden ; er durfte auch selber ein bisschen mitschinden .
Es wäre nur menschlich gewesen , wenn er sich in diesem Zustande wohler befunden hätte , als n dem vorigen .
Aber es war nicht so .
Am Selberschinden fand er wenig Geschmack , und so entging ihm die tröstliche Genugtuung , die nicht bloß im Freimaurerinstitut in Dresden-Friedrichstadt den meisten Menschen das Geschundenwerden erträglicher macht .
Er hatte keinen Sinn für das Wohltuende , das in der Möglichkeit liegt , von oben empfangene Puffe nach unten weiter zu geben .
Es tut mir leid , aber ich muß es feststellen :
Er dokumentierte damit einen betrüblichen Mangel an Begabung für realistischen Lebensverstand .
Die Strafe für diesen Defekt konnte nicht ausbleiben :
Erstes Buch , viertes Kapitel .
Er fühlte sich jetzt elender als früher .
Denn , während er sich die jetzt offenstehende Gelegenheit der Ableitung nach unten entgehen ließ , verringerte sich doch nicht seine Empfindlichkeit für die Stöße von oben .
Im Gegenteil :
Er empfand sie viel peinlicher .
Denn er hatte an Kritik zugenommen .
Die Großen standen ihm jetzt näher , und so erkannte er , daß allerlei Dinge an ihnen waren , die sie eigentlich nicht berechtigten , die Kleinen stolz und schlecht zu behandeln .
Er sah , daß es keineswegs alle Helden waren wie der gepriesene Mio , es entging ihm vielmehr nicht , daß es unter ihnen Burschen von unzweifelhaft gemeinen Qualitäten gab .
Von diesen sich schinden zu lassen , das hielt schwer und tat ungemein weh .
Es kam für Jung-Stilpe die Zeit der ersten Zweifel an der zweckmäßigen und gerechten Einrichtung dieser Welt .
Zehn Jahre erst alt , und schon mußte er an allerlei Warum nagen .
Warum darf mich Börner knuffen , da er doch unter den Großen als Feigling verachtet ist ?
Warum darf mich Roscher Dummer Quark nennen , da es doch allgemein bekannt ist , daß er der Dümmste in seiner Klasse ist ? 3 Warum darf ich den Bodemann nicht wieder ohrfeigen , da er doch schwächer ist , als ich ?
Alles bloß , weil ich noch ein Quark bin ?
Ja , zum Teufel , warum tun sich die Quarks nicht zusammen und wehren sich ?
Wenn sie alle zusammenstünden und vielleicht noch die Battlinge heranzögen , so müßten sie die Großen , die ja viel weniger sind , unterkriegen !
Aber auf dieses Warum wußte er die Antwort .
Die Quarks waren , bis auf wenige , zu denen er gehörte , Memmen , Gesindel .
Sie machten es mit den Battlingen nicht besser , als die Großen mit ihnen , und untereinander knufften und pufften sie sich noch mehr , als sie von den Großen geknufft und gepufft wurden .
Ganz sicher , wenn er es sich etwa einfallen ließe , gegen die Großen aufzumucken :
Die meisten Keile würde er von den Quarks kriegen .
Das war eine böse Situation für den kleinen Stilpe , um so böser , als Mio ins Land seiner Väter zurückgekehrt war .
Die Umstände , unter denen sich dieses Ereignis vollzogen hatte , waren nicht ganz normaler Natur :
Herr Mio war geschaßt worden .
Warum ?
Der kleine Stilpe hörte was läuten , aber nicht zusammenschlagen .
Es ging ein Munkeln Erstes Buch , viertes Kapitel . durch die Jungen , als ob ganz Unerhörtes sich begeben hätte .
Mio hatte etwas völlig Unsagbares getan , etwas , wofür den Quarks und gar den Battlingen die Begriffe fehlten .
Gewiß etwas Großartiges , dachte sich Stilpe , und sein Held erschien ihm nun im Zauber des Geheimnisvollen noch gewaltiger .
Ihn selber hatte er wohl gefragt , aber es war ihm wieder die Antwort vom Monde geworden :
-- Die Pauker wollen nicht , daß man auf dem Mond spazieren geht und vorzüglich nicht mit ihren Töchtern .
Mit ihren Töchtern ?
Auf dem Monde ?
Welche furchtbaren Geheimnisse !
Dem kleinen Stilpe rollte es gruselig , aber warm übers Rückenmark .
Er fühlte :
Der Mond war bloß ein Symbol , so wie der Herr Jesus Christ als Mittagsgast , aber die Töchter der Pauker , die waren reell gemeint .
Himmel , wer das Symbol vom Monde ergründen könnte ?
Eine Paukerstochter fragen ?
Pfui , wer wird sich mit Mädchen einlassen !
Jung-Stilpe war noch im Alter des Jungenstolzes , der im Mädchen etwas befleckend unterge 3 * ordnete sieht .
Mädchen !
Das kam noch weit hinter den Battlingen .
Was das für jämmerliche Dinger sind !
Höchst feige Geschöpfe .
Also kein standesgemäßer Umgang für ritterliche Enkel der alten Germanen .
Aber Mio war trotzdem mit solchen Dingern " auf dem Mond spazieren gegangen " ? Konnte Mio , der Held , etwas Unritterliches tun ?
Nie !
Es mußte vielmehr etwas höchst Ritterliches gewesen sein .
Wer weiß : Vielleicht war eben das Spazierengehen auf dem Monde das einzig Ritterliche , das man mit diesen Wesen tun konnte .
Wenn man nur erst wüßte , was es wäre !
Mio hatte , als der kleine Willibald durchaus wissen wollte , was unter dem Mondspazierengehen zu verstehen sei , die Schonung seines Schnurrbartes gestrichen und mit einem sonderbaren Lächeln gesagt : Williwitsch , wenn ich dir das erkläre , schaffen sie dich auch .
Warte noch , bis dir so was wächst , und dann wirst du es von selber erfahren .
Mein Gott , wie geheimnisvoll !
Es hing also mit dem Schnurrbart zusammen !
Für Quarks war demnach der Mond durchaus unerreichbar , denn ein Quark mit einem Schnurrbart war undenkbar .
Erstes Buch , viertes Kapitel .
Man mußte mindestens ein Strunk werden .
Aber auch unter den Strunks war ein Schnurrbart , d. h. die erste Andeutung eines Anfluges davon , ein unerhörtes Wunder .
Fliczek war der einzige unter den Strunks , der so etwas wie einen Flaum auf der Oberlippe hatte .
So wurde Fliczek das Idol .
Willibald machte sich an ihn heran .
Er opferte Hekatomben von mütterlichen Pfannkuchen , ihn zu gewinnen .
Schließlich gelang es ihm mit einem Osterfladen .
Aber Fliczek war kein Held , kein Mio .
Er aß den Osterfladen und würdigte Willibald seines Umgangs , aber es stellte sich heraus , daß dieser schnurrbärtige Strunk vom Monde einstweilen nicht viel mehr wußte als der schnurrbartlose Quark .
Also hing es vom Schnurrbart allein nicht ab .
Da wurde Willibald selber ein Strunk .
Zwölf Jahre war er nun alt .
Die Periode der wesentlich körperlichen Schindung mit Ohrenlangziehen , Andenhaarenreißen , Schellenkriegen war im allgemeinen vorüber .
Die Drangsale fingen an , Haupt sächlich seelischer Natur zu werden .
Die Strunks , die nur die Großen noch über sich hatten , wurden von diesen nicht geprügelt , sondern verhöhnt .
So ein Strunk , das ist wohl was !
Bildet sich vielleicht ein , daß er schon ein Großer ist ?
So ein Jämmerling !
Hat noch kurze Hosen an und tut sich dicke !
Vielleicht , weil er Selektaner ist ?
Weil er seinen Namen mit griechischen Buchstaben in alle Bücher schreibt ?
Ist was Rechtes !
Ist doch noch ein kleiner Junge , mit dem man lange noch nicht über Alles reden kann .
Aber immerhin kamen die Selektaner unter den Strunks schon mit den Großen in einige Berührung .
Da sie mehr Schularbeiten zu machen hatten , als die übrigen , durften sie mit den Großen eine Stunde länger aufbleiben .
Diese Arbeitsstunde wurde , da die Inspektoren im Schlafsaal sein mußten , nicht ständig überwacht .
Es kam nur zuweilen der Direktor , um nachzusehen , ob die Stunde nicht etwa ausgedehnt wurde , und um nachzuriechen , ob nicht geraucht worden war .
Aber , wenn der Direktor Kegelabend hatte , war man sicher .
Dann rauchte alles , auch die Strunks .
Es gab sogar eine Wasserpfeife !
Und wer gut turnen konnte , kletterte die Mauer hinan , ließ sich auf den Brief Erstes Buch , viertes Kapitel . Kasten hinab , sprang auf die Straße , lief ins Böhmische Brauhaus und holte Bier .
Ha , was für Gelage !
Richtige , große Deckelgläser schwang man , und Lagerbier war drin !
Da wurden die Großen vertraulicher .
Aber Alles durften die Strunks doch nicht mitmachen .
So , wenn ein Nachtscheuern war und die Dienstmädchen in den Korridors herumkicherten .
Dann kicherten die Großen draußen mit , aber die Strunks mußten im Hofe und Garten Posten stehen .
Zweifellos : Das hing mit dem Monde zusammen .
Freilich nicht im hohen Sinne des Miokowitsch !
Der hätte nie mit Dienstmädchen gekichert , die den Scheuerlappen in Händen hatten .
So kam Jung-Stilpe ins dreizehnte Jahr , und seine Sehnsucht war vergeblich hinter dem Monde her und was dessen tiefster Sinn eigentlich wäre .
In der Schule ging alles passabel , bis aufs Rechnen ; seine Mitstrunks achteten ihn als einen , der alles Verbotene kühn und heiter mitmachte und nie petzte , aber enge Freunde hatte er keine , weil er , wie die anderen sagten , zu eingebildet war .
In der Tat hielt er sich für reichlich dreimal so gescheit wie alle übrigen , wenn auch nicht gerade in den Fächern , die auf dem Stundenplane standen .
Daß er sich auch in die spezifische Geheimkunst der Knabeninstitute einführen ließ , bedarf nicht besonderer Erwähnung .
Er übte sie aber noch ohne jene Perspektive , die erst aus der Erkenntnis vom Wesensunterschiede der Geschlechter erwächst .
Indessen : Es liegt in der Natur dieser bedenklichen Kunst , daß sie den Hunger nach jener bedenklichen Erkenntnis weckt .
Oh , die Augen Willibalds damals !
Was wollten sie nur , daß sie zuweilen so weit offen und starr waren , glühten und glosten , flackerten und sich weiteten . . . ?
Wirklich , meine werten Herren Pädagogen , es genügt nicht , mensa abzufragen und den Jungen auf den Zahn zu fühlen , ob der peloponnesische Krieg fest sitzt , -- Sie müßten ihnen auch manchmal in die Augen sehen .
Sie , die Sie mit unfehlbarer Sicherheit jedes Jota subscriptum aufstöbern , das zuviel geschrieben wird , sehen Sie denn nicht , daß da unten in diesem Auge ein häßlicher Wurm sitzt ?
Umgotteswillen , Rotten Sie diesen Wurm aus , Herr Professor , er ist viel bedenklicher als zehn falsche Erstes Buch , viertes Kapitel .
Jota subscripta .
Aber es ist mehr dazu nötig , als rote Tinte , und der Rohrstock tut es freilich nicht .
Denken Sie bloß an sich , und was alles Ihnen der Wurm weggefressen hat !
Wie ?
Sie verbitten sich diese Verdächtigung ?
Ja , dann freilich !
Jung-Stilpe also , dreizehn Jahre alt , war bereits wurmstichig .
Werden wir uns wundern , daß er in puncto puncti frühreif wurde ?
Nun , es gibt viele solche Wunderkinder .
Wir wollen uns nicht anstellen , als fänden wir das so verwunderlich .
Oder wollen wir doch ?
Schön , wem es würdig dünkt , der tue seinem Herzen keinen Zwang an und entrüste sich .
Hier stehe ich mit meiner ganzen Breitseite ; es haben viele faule Äpfel Platz .
Also : Jung-Stilpe suchte mit sonderbaren Blicken nach jener Perspektive , die ihm noch fehlte .
Da kam das , was wir den Zufall nennen , und was unsere Vorvordern den Teufel genannt haben , riß den Nebel entzwei und sagte leise und mit infam linder Stimme : Bitte , da !
Es kam so :
Der Direktor hatte wieder einmal Kegelabend , und die Selektaner taten sich gütlich an Alkohol und Nikotin .
Sie waren alle bei einander , nur Einer fehlte , der mit dem Schnurrbart , Wenzel Fliczek .
Sie sitzen alle recht sorglos und im süßen Genusse des Verbotenen bei einander , da tut sich die Türe auf und Fliczek schreit herein :
Fenster auf !
Lichter aus !
Der Alte kommt übern Hof !
Dann , wie die Lichter ausgelöscht sind , flüstert er leise zu jemand Unsichtbarem hinter ihm : Schnell , da ' nein , unters Katheder !
Willibald war gerade daran , als Letzter zum Fenster hinauszuspringen .
Da , aber , wie eigen das war , drehte es ihn um .
Was denn nur ? Unters Katheder !
Er duckte sich dort in die Ecke .
Da , wie es raschelt !
Und neben ihm , hart neben ihm drückt sich was Weiches .
Gott Oh Gott !
Was mag das sein !
Wie warm ! Oh , und wenn tausend Direktoren kämen !
Die süße Angst ! --
Wer bist denn Du ? --
Sei doch stille !
Der Direktor . . . !
Herrgott , wie weich und warm ! --
Rem !
Hm !
Rem !
-- Es kommt den Gang herauf .
Die Türe schlägt . --
Rem !
Hm !
Rem !
-- Jetzt ist er wohl im Zimmer ?
Ja , man hört ihn ja schnaufen .
Erstes Buch , viertes Kapitel .
Willibald fühlte zwei Arme an seinem Hals und an seiner Seite ein drängendes Klopfen .
Gott , was ist das !
Was ist das !
Er kann nicht anders , er muß seinen Mund darauf drücken .
Oh , ist das schön ! --
Rem !
Rem !
Hm !
Rem !
-- Die Türe wieder zu .
Schritte . . . fort . . .
Das Warme neben ihm bewegt sich .
Die Arme lassen ihn los . --
Wer bist Du denn ? --
Wer bist denn Du ? --
Ich bin Stilpe aus der dritten Klasse . --
Laß mich doch los ! --
Nein .
Wer bist Du denn ? --
So laß mich doch ! --
Nein .
Wer bist Du denn ? --
Die Josephine .
-- Buschklepper seine ? --
Ja doch !
Laß mich doch !
-- Du !
Du !
Und er hängt sich fest an sie , und es ist ihm , als wenn er schwerer und größer würde .
-- Aber so laß mich doch , ich muß fort .
Nein , er kann nicht loslassen .
Er wühlt sich mit seinem Kopf in all das Weiche , Warme , was um ihn ist .
Da , jetzt hat er ihren Kopf in den Händen und drückt ihn mit aller Kraft .
-- Du , das tut ja weh !
Aber sie geht nicht .
Sie läßt sich noch eine Weile so halten .
Dann kommen auch ihre Hände an seinen Kopf , und nun fühlt er ihr Gesicht an seinem .
Ach , wie die Lippen weich sind .
-- Du beißt mich ja !
Himmel was ist das !
Sie küßt ihn .
Gott !
Gott !
Gott !
Jetzt ist sie fort .
Noch eine Weile liegt er unterm Katheder .
Dann taumelt er auf und rennt in den Schlafsaal .
In seinem Bette weint er .
Und stammelt ihren Namen .
Schläft , naß von Tränen , ein .
Wie er am Morgen aufwacht , ist alles verändert um ihn herum .
Er möchte schreien vor Gefühl .
Josephine !
Josephine !
Das ist der Mond Das ist er !
Dann wird ihm Angst .
Er möchte fort .
Ausreißen .
Nach Hause .
Sich verstecken .
Gottlob , daß Sonntag ist .
Er singt in der Erstes Buch , viertes Kapitel .
Kirche so laut , daß der Inspektor ihn anrüffelt .
In sein Gesangbuch , auf seinen Kirchenplatz , überall hin schreibt er Josephine .
Und das Wort schiebt sich in ihm hin und her , und nach dem Schema von Nun danket alle Gott schreibt er in unbeholfenen Versen die Erlebnisse dieser Nacht .
Das war die erste Regung .
Denn von nun ab wollte er -- ein Dichter werden .
Fünftes Kapitel .
So ein kleiner Junge , der Dichter werden will , ist ein merkwürdiges Phänomen .
Es verlohnt sich wohl , es näher zu betrachten .
Es ist keineswegs dasselbe , wie wenn etwa Einer in Prima anfängt , die Papierleier zu schlagen .
Da pflegt meist Nachahmungstrieb und Ehrgeiz der Hauptgrund zu sein , und die Fälle sind selten bemerkenswert .
Schon , weil sie , selbst in unserer Zeit noch , gar zu häufig sind .
Aber wenn die Verse so früh flügge werden , wie bei unserem Stilpe , dann liegt die Sache tief und verdient Beachtung .
Bloße Nachahmung ist es nicht , Ehrgeiz steckt gar nicht dahinter , -- was also ist es wohl ?
Es wird das Beste sein , wir studieren die wunderliche Erscheinung an dem Knaben Willibald .
Erstes Buch , fünftes Kapitel .
Zuerst die Bemerkung , daß vor der Szene unter dem Katheder sich nichts in ihm geregt hat , was als Hinweis auf das plötzliche Verswesen ausgelegt werden könnte .
Höchstens , daß er sehr gerne im Gesangbuch las , ohne daß ihn Frömmigkeit dazu veranlaßt hätte .
Er las , weil es ihm gut klang .
Aber es kam ihm dabei durchaus nicht der Gedanke , auch Mal so was Klingendes zu machen .
Er dachte überhaupt nicht daran , daß das etwas gemachtes sei .
Er nahm es wie eine Blume , wie einen Baum und freute sich dran .
Und nun , nicht wahr , es ist doch sonderbar : Kaum , daß er eine kleine Josephine neben sich gefühlt hat , setzt er sich hin und schreibt Verse .
Und nicht dies bloß , er empfindet plötzlich , wenn auch verworren und wie aus drängenden Nebeln :
Dies , das Verseschreiben , ist ein unerhörtes Glück , ein Ziel über allen Zielen .
Etwas Schwellendes ist in ihm , etwas , das sich nur mit diesem unsagbaren Gefühle unterm Katheder vergleichen läßt .
Und er hütet das Geheimnis dieses Schwellens mit demselben Gefühle von Scham , wie das Geheimnis seines Abenteuers mit Josephine .
Vielleicht sind diese beiden Geheimnisse nur eines ?
Vielleicht ist es nur der Bis in den verbotenen Apfel der Erkenntnis ?
Aber er hat an diesem Apfel doch fürs erste nur geleckt , wenn auch zugegeben werden muß , daß er eine unbestimmte Lust empfindet , nun auch hineinzubeißen .
Nein , man kann nicht sagen , daß Josephine und die Verse ein und dasselbe sind .
Es sind zwei Offenbarungen auf einmal , von denen die eine die andere mit sich gebracht hat , und sie sind , obwohl sie scheinbar dieselben Erscheinungen zur Folge haben , doch verschieden von einander .
Daß sie einander auch feindlich sein können , wird gerade dieses Leben Stilpes beweisen .
Der Teufel zieht gerne Unterröcke an .
Das wissen wir aus der Geschichte mancher heiligen Männer .
Manchmal hat er aber auch ein " hölzin Röcklin " an und " liegt beim Wirt im Keller " .
Es gibt ein paar lehrreiche Seiten der Literaturgeschichte , wo sich Belege dafür finden .
Heilige und Dichter haben mehr mit dem Teufel Erstes Buch , fünftes Kapitel . zu tun , als gute Christen und schwärmerische junge Mädchen glauben .
Wer nicht mit allerhand Teufeln den Tanz bestanden hat , kann weder ein Gloriole noch den Lorbeerkranz erhalten .
Und die Teufel , die allerhand Teufel , -- es ist erstaunlich , was sie tanzen können .
Zu Anfang wissen sie so sanfte zu walzen , und es geht lieblich dahin mit ihnen , aber auf einmal ist der Wirbel da , der in den Höllentrichter fegt .
Guter Gott , ich schreibe doch keine Dämonologie !
Aber mein Held will ( Oh Willibald ! ) Dichter werden .
Der kleine Willibald schied sich jetzt von seinen Kameraden noch mehr ab , als früher .
Einesteils fühlte er sich hoch erhaben über sie , und andernteils hatte er Furcht vor ihnen .
Er empfand , daß es keinen unter ihnen gäbe , dem er seine Geheimnisse verraten dürfte , ohne furchtbar ausgelacht zu werden , und er hätte auch keinen für würdig gehalten , sein Mitwisser zu sein .
Auch war er viel 4 zu sehr mit sich beschäftigt , als daß er Lust hätte haben können , sich an sie anzuschließen .
Er fing an , mit sich zu phantasieren .
In den Schul- und Arbeitsstunden sowohl wie in der freien Zeit ließ er seine Gedanken nach unbekannten Dingen fliegen und machte groteske Ungetüme von Versen daraus .
Nebstbei fing er auch an , auf alles Gedruckte zu fahnden , was kein Schulbuch war .
Der Hauptinhalt all seiner Phantasien war aber Buschkleppers Josephine .
Er trug die Wärme von ihr , die er unterm Katheder gefühlt hatte , mit sich herum , und zuweilen war es ihm , wie wenn er in einer lauen Wolke ginge .
Manchmal mußte er die Augen zumachen , so stark überkam es ihn .
Wenn er sie nur einmal sehen könnte , ihr ein Zeichen geben , dachte er sich .
Aber es schien , als ob sie gar nicht mehr da wäre .
Jede Minute , die er allein sein konnte , verwandte er darauf , ihr aufzulauern .
Es war im Herbst , und so durfte er hoffen , sie einmal im Lehrergarten zu sehen , der , in verschiedene Parzellen geteilt , für jeden Lehrer ein Sondergärtchen enthielt .
Aber immer war es nur der alte Buschklepper in seinem grauen Ziegenbarte , Erstes Buch , fünftes Kapitel . den er botanisierend dort wandeln sah , oder die Frau Buschklepperin , von der unter den Jungen die Rede ging , sie prügele ihren Mann jede Woche mindestens einmal .
Das machte sie unter den Jungen zwar sehr beliebt , aber für Willibalds Zwecke genügte es doch nicht .
Etwa vier Wochen lang lauerte Willibald auf Josephine , da kam wieder so ein Selektanerabend , der mit des Direktors Kegelvergnügen zusammenfiel .
Diesmal waren Alkohol und Nikotin in den Hintergrund gedrängt durch ein großes und heroisches Unternehmen .
Einer von den Großen hatte sich den Schlüssel zur Küche verschafft , neben der ein Keller voll Äpfel lag .
Und es war die Losung verteilt worden , daß jeder Selektaner seinen Reisekoffer bereit halten sollte zu einem Raubzuge auf diese Äpfel .
Nur ein paar Strunks waren ausgewählt , Postendienste zu leisten .
Es war ein Beweis für das Vertrauen , das man Willibald entgegenbrachte , daß auch er der Vorpostenkette eingereiht wurde .
Der Postenkommandant aber war Fliczek .
Er hatte sich zwar dagegen gewehrt und das verantwortungsvolle Amt durchaus nicht annehmen wollen , aber die übrigen Großen hatten ihn beim Ehrenpunkte gefaßt und erklärt , er , als der 4 * Schlaueste , müsse unbedingt die Posten leiten , wenn er nicht für einen elenden Feigling gehalten sein wollte .
So rückten die Posten , Fliczek an der Spitze , aus .
Leise , auf den Zehenspitzen , obwohl dies eigentlich nicht nötig war , schlich man durch die langen dunklen Korridore , dann ging es eine enge Treppe hinunter in das Souterrain , und von hier aus sollte der Küchenbau umstellt und eine Spähspitze bis vor an das Direktorhaus gesandt werden .
Fliczek verteilte die Posten , Willibald behielt er zurück .
-- Du mußt bis ans Direktorhaus , Stilpe .
Ich gehe an Buschklepper seins .
Wenn alles ruhig ist , pfeifst Du , daß Rille in die Klasse läuft und die Anderen ruft .
Wenn der Direktor kommt , klatschst Du und reißt aus . --
Was willst Du denn an Buschklepper sei 'm Haus ?
Da kommt doch niemand her !? --
Halt 'n Rand und mache , was ich Dir gesagt habe .
Willibald ging über den Hof geradeaus und hörte , wie sich Fliczek nach links entfernte .
Was wollte der zum Teufel denn dort ?
Willibald begriff durchaus nicht , weshalb man sich gegen Erstes Buch , fünftes Kapitel . den alten Buschklepper durch einen Hauptposten schützen wollte , vor diesem alten Mann , der ganz gewiß nicht in der Nacht revidierte .
Aber er ging , doch ein wenig stolz darauf , daß er den gefährlichsten Posten erhalten hatte , bis zum Direktorhause und dachte einstweilen nur an seine Pflicht .
Als er aber den vorschriftsmäßigen Pfiff getan hatte und ringsum nichts Verdächtiges zu bemerken war , da kam ihm plötzlich der Gedanke an Josephine .
Wenn ich durch den Lehrergarten hinten herumginge , dachte er sich , so käme ich an die Hintertür von Buschkleppers Hause .
Dort wird mich Fliczek nicht merken , der natürlich an der Vordertür aufpaßt .
Vielleicht ist hinten noch Licht , und ich sehe sie .
Kaum , daß er sich das gedacht hatte , war er auch schon auf dem Wege .
Der war zwar unbequem , denn er mußte immer über die Zäune steigen , die zwischen den einzelnen Lehrergärtchen waren , auch stieß er sich bald an einen Baum , bald kam er in ein Gebüsch , bald sank er in ein Beet , aber er wäre ja durch Meere geschwommen , um in Josephinens Nähe zu kommen .
Er zählte die Stakete ab .
Fünf hatte er nun , nach dem sechsten war er in Buschkleppers Garten .
Herrgott , wie ihm das Herz schlug !
Da , eben , als er übersteigen wollte , hörte er was flüstern .
Himmel !
Wer ist das !
Er schlich sich nahe an das Staket , um genau zu hören , wo das Geflüster herkam .
Rechts hinten war_es , drüben in der Laube .
Er schlich das Staket entlang nach rechts , der Laube zu .
Das Geflüster wurde vernehmlicher .
Plötzlich hörte er :
-- Pscht ! --
Was denn ? --
Da knackte was ! -- Ä , nee !
Willibald wurde es siedendheiß .
War das nicht . . . ?
Aber er ging näher .
Und er hörte :
-- Bleibe doch noch e bißl ! --
Nein , nein , ich muß zu den anderen , sonst merken sie es . --
Ach , Du !
Da , an diesem Ach Du ! merkte Willibald , daß Erstes Buch , fünftes Kapitel . die eine Stimme Josephinens war , und mit einem Male wußte er , daß die andere die Fliczecks sein mußte .
Eine jagende Wut überkam den kleinen Burschen .
Mit einem Sprunge war er übers Staket , mitten in die Finsternis hinein .
Ein Aufschrei rechts vor ihm .
Nur ein paar Schritte .
Noch ehe Fliczek davon konnte , war Willibald dort und drasch auf den Fliehenden mit seinen kleinen Fäusten wie rasend los .
Dann wandte er sich um und blieb vor Josephine stehen :
-- Du , Du , Du Luder , Du , Du Luder ! --
Ja , Du , was willst denn Du hier ?
-- Ich , ich , ich . . . Und nun heulte der arme Junge los , daß das Mädchen seinen Schreck und seinen Zorn über ihn vergaß und ihn tröstete .
Er war ganz besinnungslos und legte seine Hände auf ihre Achseln und lehnte seinen Kopf darauf und schluchzte : Du . . . mußt . . . mir . . . nicht böse sein , ich , ich . . . ach . . . Und er heulte wieder .
-- Nein , nein , ich bin Dir ja nicht böse , ich . . . ich bin Dir wirklich nicht böse . . . nein , aber nun gehe doch , gehe !
Da war der kleine Junge wieder ganz selig und fiel dem Mädel um den Hals und drückte sie , preßte sie , quetschte sie , daß sie ihre Not hatte , ihn von sich abzustreifen .
Ihr Gesicht war ganz naß von seinen Tränen , und die offenen Haare hingen ihr über die Brust vor .
Sie sahen einander nicht , aber ihre Blicke hingen ineinander .
Schließlich versetzte ihr Willibald einen Kuß , so laut und schallend , daß sie nun , ob auch ungern , es für unumgänglich nötig hielt , ein Ende zu machen . --
Nun gehe , Du , mache , sonst kommt noch jemand .
Aber so gehe doch !
Willibald ließ sie nicht los .
-- Du , ich schreie nun aber !
Und wenn mei Vater kommt !
Der Gedanke an den alten Buschklepper brachte Willibald zur Besinnung . --
Ja , ja , aber nicht mehr mit Fliczecken ! --
Nee , nee , gehe nur !
Willibald ließ sie los und lief davon .
Er lief , als hätte er keinerlei Ursache , leise und vorsichtig aufzutreten , er sprang quer über den Hof , nach dem Klassenzimmer zu .
Plötzlich zwang ihn etwas , stehen zu bleiben .
Erstes Buch , fünftes Kapitel .
Herrgott , wenn jetzt die Anderen geklappt sind !
Und ich bin schuld daran !
Ich ?
Nee : Fliczek !
Und jetzt kam die Wut nochmals über ihn , und statt durch die Türe zu gehen , sprang er durchs Fenster in den Korridor .
Da roch es wundergut nach Äpfeln .
Das besänftigte ihn .
Leise schlich er sich hinauf in den Schlafsaal. Nr. 172 , auch ein Selektaner , lag noch wach und kaute an einem Apfel :
-- Was kommst Du denn so späte ? --
Ich habe , ich habe gedacht , ich muß noch Posten stehen . -- I , Unsinn .
Wir sind schon lange oben .
Deine Äppel und Fliczecken seine hat der lange Ayrich .
Willst Du een' ?
Ich habe_es ganze Bette voll . --
Gib nur !
Und auch der Apfel schmeckte gut .
Sechstes Kapitel .
Als Willibald am nächsten Morgen erwachte , war sein erster Gedanke Josephine , sein zweiter Fliczek .
Bei dem ersten war ihm linde und gut zu Mute , bei dem zweiten ballte er die Fäuste .
Er hatte die Empfindung , daß er sich heute seiner Haut zu wehren haben werde .
Aber er hatte keine Furcht .
Er soll nur kommen , der Böhmake , dachte er sich , und bei dieser Gelegenheit regte sich in ihm zum ersten Male der Raufdeutsche .
Er soll nur kommen und mir was sagen !
Eine Schelle kriegt er !
Und er erschauderte nicht vor dem Gedanken , daß er , der Strunk , einen Großen ohrfeigen wollte !
So verrückt das Weib die Standesunterschiede .
Aber es kam anders .
Der Tag wurde zwar Erstes Buch , sechstes Kapitel . reich an Aufregungen im Institute , aber just Willibald wurde nicht davon betroffen .
Fliczek wußte offenbar nicht , von wem er geprügelt worden war .
Er war sehr niedergeschlagen und blaß , die einzige Farbe in seinem Gesicht war ein blauer Fleck unterm rechten Auge ; er ließ den Kopf hängen und schien es nicht zu wagen , aufzublicken .
Willibald merkte sofort , wie es stand , und es kitzelte ihn , den gehaßten Böhmen zu reizen .
-- Du , was hast Du denn da für einen Fleck im Gesichte ?
-- Was Dich nix angeht , Strunk dummer .
-- Bist wohl hingeplauzt bei Buschklepper gestern ? --
Halt 'n Rand , Strunk , oder ich . . . --
Na , was denn ?
Wenn ich doch bloß frage . . . Überhaupt : Warum bist Du denn so gerannt ? --
Hast Du mich gesehen , Stilpe ?
Wo hast Du mich denn gesehen ? --
Nun , Du bist ja im Hofe an mir vorbeigerannt , wie besessen .
Das war kühn kombiniert von Jung-Willibald .
Wenn nun Fliczek gar nicht über den Hof gerannt wäre ?
Aber er hatte richtig kombiniert .
-- Ich , ich habe was kommen hören , und da habe ich Leine gezogen .
Ich dachte schon , ich wäre geklappt .
-- Und da bist Du wohl hingefallen ? --
Ja , da , an der Mitteltüre , auf die Treppe hin .
Was hast denn Du aufm Hofe zu suchen gehabt ?
Du hast doch sollen durch den Souterrain zurück ?! --
Ich habe Dir was sagen wollen .
-- Mir ?
Was denn ?
Warum denn ?
Du : Hast Du was gehört ? --
Ja , eben , ich habe was gehört bei Buschklepper hinten , und da habe ich gedacht :
Das muß ich Dir sagen .
-- Du hast was gehört .
. . . War_es laut ?
Hast Du auch was gesehen ? --
Nee , s war ja ganz dunkel , aber ich habe jemand schreien gehört .
-- Du , Strunk , das sage ich Dir : Daß Du niemand was davon sagst .
Sonst setzest Keile ! --
Was soll ich denn sagen ?
Ich weiß ja gar nichts .
Hast Du denn etwa geschrien , Fliczek ?
-- Ich ?
Unsinn ?
Ich habe auch nichts gehört .
Du hast wohl geträumt vor Angst , feiger Strunk .
Erstes Buch , sechstes Kapitel .
Da hätte ihm Willibald von Herzen gerne Alles durch eine Ohrfeige klargemacht , aber er war doch zu klug dazu .
Nur das konnte er sich nicht verkneifen , daß er sagte :
-- Ich weiß besser wie Du , wer feige ist .
Worauf Fliczek nichts zu erwidern wußte , als ein verächtliches : Strunk !
Dieses Gespräch fand nach dem Frühstück statt , als sich die Klassen zur Arbeitsstunde in ihre Zimmer verteilten .
Die Arbeitsstunde selber hatte ein anderes Aussehen , als sonst .
Es war ein merkwürdiges Geflüstere unter den Jungen , zumal in den Oberklassen .
Unter den Bänken wurden Äpfel herumgegeben , und häufig hörte man das Schnirpsen , wenn Einer in einen Apfel bis .
Dazu ein Gekicher und Blicke hin und her .
Ein Triumphgefühl ging durch Alle , und wenn sie den beaufsichtigenden Inspektor ansahen , so konnte man aus den Blicken lesen :
Der dumme Kerl weiß von nichts .
Auch während der Andacht hielt dies Wesen an .
Alle Hosentaschen der Selektaner staken voller Äpfel , und man griff sich gegenseitig an die Taschen und kicherte dazu .
Als einer , mitten in dem sehr langen und feierlichen Gebete des Vizedirektors , der mit Vorliebe Sprüche aus Jesus Sirach einflocht , zu seinem Nachbar sagte :
Ich habe schon Bauchkneipen , da setzte sich diese Mitteilung im Flüstertone durch die ganze erste Reihe fort , und der Vizedirektor mußte in seinen Sirach ein grollendes :
Ruhe ! einschieben .
Aber schon nach der zweiten Unterrichtstunde , als die Körbe mit Dreierbrotchen eben an die Türe gestellt waren , meldete sich das Verhängnis .
Die dicke Küchenmeisterin erschien , ohne angeklopft zu haben , in der 2. Selektaklasse , wo der Direktor gerade Cornelius Nepos traktierte .
Entrüstet blickte der Scholiarch die Frau an , und ein aufgebrachtes Rhm ! fuhr ihr entgegen .
Sie aber , ohne eine Spur von dem Respekte , der sie sonst nie verließ , schwappte bis an das Katheder vor und rief mit erregter Stimme :
Meine Äppel hamse gemaust !
Meine scheinen Äppel , die nischtnutzgen Jungen !
-- Was behaupten Sie !?
Erstes Buch , sechstes Kapitel .
-- Ich behaupte nichts , Herr Derekter , ich behaupte Se gar nichts , ich sage bloß : Gemaust ham se se , alle ham se se gemaust ! --
Mäßigen Sie sich !
Gehen Sie in Ihre Küche !
Hier wird Schule gehalten ! --
Aber , wenn se doch meine Äppel alle gemaust ham , Herr Derekter !
In diesem Augenblicke hörte man was fallen , und ein großer rotbackiger Apfel rollte langsam aus der ersten Bankreihe vor das Katheder .
Es war , als ob sich der Apfel seiner Wichtigkeit für diesen Augenblick bewußt wäre , mit so viel Ausdruck , ja Würde rollte er .
Als er zuletzt noch ein paar Mal hin und her schwankte , war es wie der Schlußappell in der Rede eines Staatsanwalts .
Aber es ist Staatsanwälten nur selten beschieden , so überzeugend zu wirken , wie es dieser schweigend beredte Apfel tat .
Sämtliche Selektaner machten eine unbewußte Bewegung , als wollten sie unter die Bänke kriegen , die Augen des Direktors traten aus ihren Höhlen und hatten ganz offenbar die Tendenz , in aller Körperlichkeit unter die schuldbeladene Schülerschaft zu fahren , die Küchenmeisterin aber warf sich mit dem Aplomb eines trächtigen Elephantenweibchens auf den Apfel und schrie :
Hammer nun den Beweis , Herr Derekter ?
Hammer dann Beweis ?
Ob das nicht einer von mein Äppeln is ?
Na ?
Oh die verfluchte Jungen , die Mausehaken !
Nee , so e Volk !
Fui Teufel , sage ch , und noch einmal :
Fui , schämt eich !
Und sie setzte den Apfel mit der Wucht des Triumphes auf das Katheder und fixierte bald die Schüler , bald den Direktor .
Der sprach :
Rhm !
Hm !
Das ist . . . Ich sage : Das ist unerhört !
Das ist eine Schmach ohnegleichen !
Wer von euch . . . !
Hm !
Gesteht !
Ich sage : Gesteht auf der Stelle , oder . . . !
Hrm !
Ich werde ein Exempel . . . Rhm !
. . . Plötzlich veränderte sich sein Blick , und er wandte sich zornesvoll zur Köchin : Gehen Sie in Ihre Küche , sage ich !
In Ihre Küche !
In . . .
Ihre . . . Küche !!!
Hier wird Schule gehalten !
Gehen Sie an Ihre Arbeit !
Alles andere wird sich finden .
Rhm !
Die Küchenmeisterin sah den Direktor erschrocken an und floh hinaus .
Jetzt aber verließ der Direktor das Katheder .
Niemand durfte zweifeln , daß etwas Fürchterliches nahe bevorstand .
Erstes Buch , sechstes Kapitel .
Es bezweifelte es auch niemand .
Gänse beim Gewitter ducken sich nicht scheuer , als die braven Selektaner es taten , während der Direktor stampfend und keuchend auf und ab lief .
So tat er immer , wenn er Einen am Ohr nehmen wollte .
Man kannte das .
Er hatte eine eigene Art , Einen am Ohr zu nehmen ; so eine gewisse Drehung , als wollte er eine Türe aufschließen und der Schlüssel ging nicht .
Die in der vordersten Reihe bereiteten sich schon vor , die Ohren zu schützen .
Aber es kam anders .
Der Fall war zu ausgedehnt .
Denn der Direktor hätte vierzig Ohren drehen müssen .
Eine Maschine wäre nötig gewesen .
Er plante Schlimmeres .
Plötzlich donnerte er :
Rhm !
Sämtliche Schlüssel auf die Bank gelegt !
Die Schlüssel klapperten herauf . --
Rhm !
Primus , die Schlüssel einsammeln !
Es geschah .
5 --
Rhm !
Hat die erste Selekta auch gestohlen ?
Kein Atemzug im ganzen Raume . --
Rhm .
Ich frage :
Hat . . . --
Ja !
( Die guten Jungen lispelten das wie kleine Mädchen . ) --
Ach , rhm , das ist ja wirklich . . . ich sage :
Das ist ... in der Tat . . . rhm !
Primus !
Der Primus erhob sich und neigte das lilienblasse Haupt . --
Gehe in die erste Selekta und bitte den Herrn Doktor Box , er soll die Schlüssel einsammeln lassen .
Der Primus fegte davon , froh , aus dem Bannkreis dieser rollenden Augen zu kommen .
Wir folgen ihm .
Doktor Box , ein Pädagoge voll Humor , hatte eben einen Witz zum Besten gegeben , und die großen Selektaner wollten sich vor Lachen ausschütten , als der Abgesandte des Zorns seine Botschaft ausrichtete .
Rups , wie brach da das fröhliche Gelächter ab .
Nur Doktor Box blieb fröhlich , und er sprach :
Erstes Buch , sechstes Kapitel .
Die adolescentuli sollen ihre werten Schlüssel auf die Bank der Wissenschaften und schönen Künste legen !
Thuts , meine Lieben , tut es !
Mir scheint :
Es stinkt in irgend einem Schranke ?
Oder in allen ?
Da klingelte es , und schon erschien auch der Direktor auf der Schwelle . --
Haben Sie die Schlüssel , Herr Kollege ? --
Hier sind sie .
Was ist denn geschehen , Herr Direktor ? --
Sie haben , rhm , Diebe zu Schülern , Herr Kollege ! --
Na , ich danke ! --
Es verläßt niemand das Zimmer !
Beide Selekten haben Zimmerarrest bis auf Weiteres .
In der zweiten Selekta wurde der Zimmerarrest damit eingeleitet , daß man den Unglücklichen , der den Apfel hatte fallen lassen , gemeinschaftlich durchprügelte .
5 * Das ist die Art , wie sich die Verzweiflung des Volkes gerne entlädt .
In der ersten Selekta ging ein Gemunkel von Verrat , und man hatte natürlich die zweite Selekta im Verdacht .
Schon war man daran , über die Strafen zu beratschlagen , die hier am Platze waren , da wurde Fliczek durch den Inspektor herausgerufen .
-- Der Hund !
Die Petze !
So ein Schuft !
Also der Zeche !
Natürlich : Der Zeche !
Die entrüstete Schar ahnte nicht , daß ihnen in dem beschimpften Böhmen ein Blitzableiter erstanden war .
Die Lehrerkonferenz , vor deren Beschluß die beiden Selekten zitterten , befaßte sich einstweilen gar nicht mit dem Raubzug auf die Äpfel , sondern mit einem viel gräulicheren Faktum :
Mit " der unglaublichen sittlichen Verworfenheit dieses entarteten Burschen da " , wie der Direktor sich in gehobener Rede ausdrückte , indem er auf Fliczek wies .
Erstes Buch , sechstes Kapitel .
-- Wir werden uns nachher mit einer Vergehung zu befassen haben , die leider den beiden Selekten , wie es allen Anschein hat , ausnahmslos zur Last fällt , mit einer Vergehung , die schlimm , rhm , sehr schlimm ist , die wir aber im Vergleich mit der Büberei dieses Menschen noch gelinde ansehen dürfen .
Wir können , vielleicht , rhm , ich sage : vielleicht , annehmen , daß dieses Vergehen der Selektaner mehr ein übermütiger Jungenstreich als ein Beweis für böse Lust ist .
Aber hier , rhm , hier , meine Herren Kollegen , hier ist sittliche Verlumptheit !
Hier ist , rhm , Seuchenstoff gefährlichster Art !
Hier ist geil wucherndes Unkraut !
Der Vizedirektor , der die Steigerungstendenz im Stile des Direktors kannte , erlaubte sich , einzuwerfen , ob es nicht wohl angebracht sei , den Fliczek einstweilen hinauszuschicken . --
Rhm , ja , ja wohl , hinaus mit diesem Burschen !
Aber unter Bedeckung !
Hinaus , sage ich , Fliczek !
Fliczek ging . --
Es ist keine Frage , meine Herren , daß wir , rhm , daß wir diesen gefährlichen Buben entlassen müssen .
Dank der Anzeige des Kollegen Wippe , der nicht bloß als echter Vater , sondern auch als pflichtbewußter Pädagoge gehandelt hat , und von dem wir nie etwas anderes erwartet haben , ist die Unzucht , rhm , ich sage die Unzucht . . . -- Bitte , Herr Direktor , nicht wohl eben dies , denn so weit wage ich meine Tochter nicht mit anzuschuldigen . . . , wimmerte Herr Wippe .
-- Ich sage doch : Unzucht , ohne daß ich das Gräßlichste anzunehmen verzweifelt genug wäre .
Denn schon der Gedanke , nächtlicher Weile . . . aber genug !
Wir haben , rhm , die Pflicht , auch den Gedanken zu töten , der ...
Aber genug und gleichviel !
Wir wissen , daß dieser Bube auf Schleichwegen gewesen ist , und nicht zum ersten Male , auf Schleichwegen , sage ich , rhm , die keinesfalls unschuldiger Natur waren .
Er selbst hat es nicht zu leugnen gewagt .
Sein Auge -- Oh , aber , rhm , genug !
Wir müssen ihn dimittieren .
Kollege Wippe hat sich in rühmenswerter Aufwallung entschlossen , seine Tochter , über deren Anteil an dem Entsetzlichen nicht wir zu befinden haben , noch heute aus dem Hause zu tun , und es muß auch dieser Bursche heute noch das Institut verlassen .
Wir schenken unser ganzes Bedauern dem schwer getroffenen Vormund des Erstes Buch , sechstes Kapitel .
Verworfenen , aber , rhm , wir müssen das Interesse unserer Anstalt über Alles stellen .
Ich zweifle nicht , daß Sie Alle einer Meinung mit mir sind .
Sie waren alle einer Meinung .
Für die Entscheidung über den Raubzug der Selektaner war dieser Fall Fliczek ungemein günstig .
Zum größten Erstaunen der Delinquenten erfolgte nur ein vierwöchentlicher Zimmerarrest und die Bestimmung , daß die Selektanerarbeitsstunden nicht mehr abends , sondern früh stattzufinden hätten .
Das war freilich recht bitter , aber , da man sich natürlich auf sehr viel Schlimmeres gefaßt gemacht hatte , so durfte man es mit einem halbwegs angenehmen Gefühle tragen .
Gruselig und unheimlich wirkte das Verschwinden Fliczecks .
Aber am unheimlichsten auf Willibald .
Es muß gesagt werden :
Er hatte eine fürchterliche Angst .
Er war ja der Einzige , der den Zusammenhäng ahnte .
Aber : Hing denn nicht er selber auch damit zusammen ?
Kein Zweifel : Josephine war erwischt worden und hatte Fliczek genannt .
Und ihn nicht ?
Das tat ihm einesteils wohl , aber andernteils hatte er die Empfindung , als ob er da nicht ganz als voll betrachtet worden sei .
Doch das Schlimmste war : Josephine war fort .
Und jetzt fing er erst recht an , Verse zu machen .
Siebentes Kapitel .
Im Allgemeinen fühlte sich der kleine Willibald doch recht wichtig mit seinen Geheimnissen , und den alten Buschklepper sah er von nun an immer nur so mit einem gewissen hohen Bedauern an .
Aber fatal war es ihm , daß er gar Niemand hatte , den er ins Vertrauen ziehen konnte .
Auch wie er mit seinen Altersgenossen in die Reihe der Großen kam , wo denn schon manchmal ein wuchtig Wort geredet wurde , fand er keinen , dem er hätte sagen mögen , was jetzt seine Ansicht vom Monde sei .
Er war ja auch ohne daß man_es ihm gesagt hatte dahinter gekommen , was darunter zu verstehen sei , wenn Einer dem der Schnurrbart erschienen ist , nächtlicher Weile auf dem Monde spaziert .
Nur fand er , daß es auch ohne Schnurrbart ginge .
Denn er mit allen seinen Erfahrungen bekam sicherlich noch lange keinen .
Überhaupt , die Natur meinte es nicht gut mit ihm .
Er , der nun schon konfirmiert werden sollte , in die Gemeinde der Gläubigen aufgenommen , sah um drei Jahre jünger aus , als er war ; und das will in diesen Jahren sehr viel bedeuten , zumal bei Einem , der sich innerlich etwa drei Jahre älter fühlt , als er in Wirklichkeit zählt , also sechs Jahre älter , als er aussieht .
Das machte seine Stellung unter all den Jungen noch fataler .
Die Großen hänselten ihn , weil er sie durch sein kleinjungenhaftes Aussehen gewissermaßen kompromittierte , die Jüngeren ließen es ihm zuweilen fast merken , daß sie ihn nicht ganz für groß ansahen , und er selbst fühlte sich dabei im Inneren sehr viel größer , als die größten unter den Großen .
Er zernagte sich förmlich vor Ingrimm und fing an , sich gegen alle Welt hochfahrend zu betragen .
Die meiste Zeit las er .
Wahllos Alles , was ihm unter die Hände geriet .
Die Gedichte des Lesebuchs kannte er auswendig , und es war sein Triumph , sich darin auf die Probe stellen zu lassen .
Erstes Buch , siebentes Kapitel .
Sonst fand er seine Lust in einem wühlenden Fabulieren .
Während die Anderen ihre Ballspiele trieben , lief er im Korridor auf und ab und machte sich zum Helden unmöglicher Verhältnisse .
Ein unglaublicher Ritter war er auf einem ganz unglaublichen Pferde .
Wenn dies Pferd wieherte , fielen die Wälder um , und wenn er bloß sein Schwert hob , fielen die Köpfe von ganzen Armeen in den Sand .
Aber , wenn die Obsthökerin kam , so schwanden alle Phantasien , und so lange er was Süßes zwischen den Zähnen hatte , waren ihm seine Heldentaten ganz gleichgültig .
In der Schule taugte er wenig und am wenigsten im Rechnen .
Aber Deutsch und Religion , das waren seine Gebiete .
Er schrieb unorthographischer , als es den Ansprüchen seiner Klasse gemäß war , aber in seinen Aufsätzen war eine gewisse Art von Liebe am Ausdruck .
Ungemein oft kam bei ihm das Wort Gott vor .
Gleichviel , was er zu schildern hatte : Den Bau des Maikäfers , die Schlacht bei Salamis , die Pflicht , fleißig zu sein , die Ferienreise , -- immer lief Alles auf Gott hinaus .
Gott , das war ihm jetzt , was ihm Miokovitsch gewesen war , das schlechthin Große , Fabelhafte .
Den alten Pastor , der ihm den Konfirmandenunterricht erteilte , setzte er in ewige Verlegenheiten .
Was ist Gott ? fragte Pastor Schulze .
-- Ein kolossales Wesen .
-- Nicht doch , Stilpe .
Wie heißt es im Katechismus ?
Nun , das wußte er wohl auch , Aber das genügte ihm nicht . --
Herr Pastor : Ist Gott größer als das Königreich Sachsen ? --
Gott ist so groß , daß ihn menschliche Worte nicht ausdrücken können . --
Herr Pastor : Kennt mich Gott ? --
Freilich , denn er kennt alle Dinge .
-- Wenn ich bete , hört er mich ? -- Freilich , freilich , und er freut sich , wenn Du betest .
-- Wenn nun aber Rammer auch betet , wem hört er denn da zu , Rammern oder mir ?
-- Dir und Rammern und Millionen anderen ! --
Aber vergißt er denn nicht manchmal was ? --
Nie , Stilpe , er weiß jeden Laut und jeden Gedanken , selbst das Summen der Biene versteht er .
Erstes Buch , siebentes Kapitel .
-- Merkt er es auch , wenn ich nicht bete ? --
Er merkt es und zürnt . --
Warum denn ? --
Weil es Christenpflicht ist , zu beten .
Erinnere Dich doch , was ich euch über das Beten gesagt habe . --
Ja , ja , ich weiß .
Aber , wenn er mir nun nicht erfüllt , was ich bete ? --
Schweige endlich und frag nicht unnütz .
Du hast mir selber ja vorige Stunde ganz genau und gut geantwortet .
Bleibe fest bei dem , was ich Dich Lehre .
Gott liebt die unnützen Frager nicht .
Aber Willibald konnte es nicht lassen , wenigstens für sich zu fragen .
Zwar glaubte er felsenfest , was er im Katechismus gelernt hatte , denn es gereichte ihm zu großer Genugtuung , daß er durch solchen Glauben fähig werden sollte , in die Gemeinde der Gläubigen , was so viel wie der Erwachsenen hieß , aufgenommen zu werden , aber das war eine Sache für sich , das war etwas Feststehendes wie die Katechismusstunde im Stundenplan , das ging die Fragen eigentlich gar nicht an .
Er glaubte , weil es ja eine Schande gewesen wäre , nicht zu glauben , und weil er zudem in der Religion der Erste war .
Das Fragen war mehr ein Spiel mit Gott .
Es ging ihm keineswegs tief .
Es lief nicht auf Zweifel hinaus , wollte nicht etwa dahin kommen , daß plötzlich Mal keine Antwort mehr da wäre .
Nein , es geschah in der wunderbaren Zuversicht , daß man über Gott das Unmöglichste erfragen dürfe , und es würde doch immer eine Antwort kommen .
Überdies war Willibald trotz aller Worte des Pastors davon überzeugt , daß er gerade durch seine Fragen Gott sehr interessant werden müsse , und er fing einen förmlichen Sport damit an , Alles in Beziehung zu Gott zu setzen .
-- Wenn ich jetzt der Fliege ein Bein ausreiße , so ärgert sich Gott . --
Halt !
jetzt werde ich so tun , als wollte ich ihr ein Bein ausreißen .
. . . Was für ein Gesicht wird er da machen ! --
Aber nein :
Ich lasse sie fliegen .
Jetzt freut er sich . --
Heute werde ich bei jedem Bissen , den ich in den Mund stecke , inwendig sagen :
Ich danke Dir Gott !
Und wenn ich_es einmal vergesse , so will ich nicht weiter essen .
Aber er führte es nur bei der Suppe durch .
Beim Braten vergaß er_es bald und aß doch weiter : Erstes Buch , siebentes Kapitel .
Die Anderen habens ja nicht einmal bei der Suppe gesagt !
Christus interessierte ihn viel weniger , und der Heilige Geist gar nicht , obwohl er im Katechismus über sie ebensogut beschlagen war , wie über Gott .
Es wäre ihm nie eingefallen , Christus etwa zum Orakel zu machen , wie er_es mit Gott unzählige Male tat , dem er die Entscheidung über die geringfügigsten Dinge ließ . --
Soll ich meine lateinischen Vokabeln noch einmal durchgehen ?
Ich zähle bis zwanzig , und wenn der Inspektor sich auf dem Katheder rührt , sagt Gott : Ja .
Aber , wenn sich der Inspektor rührte , so galt dies doch nicht sogleich , denn es mußte ein deutliches Rühren sein , und wenn er etwa bloß eine Hand erhob , so hatte Gott schon Nein ! gesagt , und das Vokabularium wurde zugeklappt .
Es gab unter den Zöglingen auch einige Katholiken .
Die verachtete Willibald unsäglich .
Der Pastor hatte durchaus nicht eigentlichen Anstoß dazu gegeben , aber es genügte schon das Wenige , was er gesagt hatte , um Stilpe mit der Überzeugung zu erfüllen , daß sie mit seinem Gott nichts gemein hatten .
Unter den Jungen fehlte es nicht an Schimpfnamen gegen die katholische Minderheit .
Die gebrauchte Stilpe selten oder gar nicht .
Aber " so ein Katholischer " kam ihm innerlich wie aussätzig vor .
Da die meisten Katholiken unter den Schülern Ausländer waren , so erhielt dieses Gefühl der stillen Verachtung noch einen Beiton von Deutschgefühl .
Darin war er auch sonst sehr stark .
Ein " Bardenlied " von Willibald begann mit den Worten :
Wir Germanen schleudern mit sperren Nach Römern und nach Bären Und trinken Met !
Unter Met stellte sich Stilpe etwas ungemein Süßes vor , das aber doch wie Lagerbier wirkte .
Alles in Allem hatte Gott nebst den allerlei anfliegenden Idealempfindungen von germanischen Urwäldern , Blücher , Kaiser Wilhelm , Moltke den Sinn Willibalds vom Monde etwas abgelenkt .
Es war nur noch so etwas wie eine heiße Dehnung in ihm , ein Gefühl , gemischt aus unsagbarer Sehnsucht und augenirrender Furcht .
Er hätte jetzt nicht mehr den Mut gehabt , wie damals , als er Fliczek davonprügelte .
Er fürchtete sich vor den Mädchen , sobald er einmal eine zu Erstes Buch , siebentes Kapitel . sehen bekam , und empörte sich dann über diese Furcht .
Aber manchmal geschah es doch noch , daß er an Buschkleppers Garten ging und seine Hände auf das Gartengeländer lehnte , starr nach der Laube hinüberlugend voll heißester , wirrster Wallungen .
Das stammelte er dann Alles in Versen über Thusnelda aus , die Gattin Armins des Befreiers. 6 Zweites Buch Das Jünglinglein 6 * Ich rate Dir , mein Junge , Bewahre Deine Zunge Und hüte Deinen Magen Vorm Obste , wenn_es noch grün .
Schwer ist es zu vertragen , Es macht Verdauungsmühn Und anderweite Plagen .
Aus Stilpes Maximen und Reflexionen .
Erstes Kapitel . --
Was ist denn das ?
Schämt ihr euch nicht ?
Obertertianer , die sich wie die Quartaner balgen !
Laßt los , sage ich !
Stilpe , wenn Du noch einmal zuschlägst !
Der stämmige Turnlehrer Stürz kam in mustergiltigen Sätzen hinter den Kletterstangen hervorgesprungen zum zweiten Reck , wo die Obertertianer der Leipziger Domasschule mit Kennermiene um einen lebendigen Knäuel herumstanden , der sich bei den gellenden Rufen des Turngewaltigen langsam entwickelte und als dessen Bestandteile sich unser Freund Stilpe nebst seinem Klassengenossen Girlinger präsentierten .
-- Was hat_es gegeben ?
In einem Vierteljahr soll man euch siezen , und jetzt wälzt ihr euch in der Lohe wie die kleinen Jungen .
Wollt ihr euch nicht wenigstens gefälligst entschuldigen ?
Wer hat angefangen ?
-- Stilpe .
Er hat mich geohrfeigt .
Da habe ich ihm einen Magenstoß verabreicht .
Girlinger sagte das mit der Ruhe eines Statistikers , obwohl ihm die Nasenflügel noch vor Zorn bebten .
Es war ein schmächtiger , schwarzhaariger Bursche mit ungemein lebhaften Augen , einer reichlich großen aber schmalrückigen und schön geschwungenen Nase und einem Anflug von Schnurrbart .
Stilpe machte sich nicht gut neben ihm .
Er war dicker , stämmiger und hatte etwas von einem Bulldog .
Seine Lippen waren aufgeworfen wie bei einem Kalmücken , seine Nase hatte gleichfalls die Tendenz nach oben , seine Augen waren klein und wässerig blau .
Dazu schwarzes , starres Haar , das zu weit in die Stirn ging und ein paar Wirbel zu viel hatte , und Pockennarben übers ganze Gesicht .
Der kleine Willibald hatte sich beträchtlich verändert , bis er_es zum Obertertianer gebracht hatte .
Selbst seine gute Mutter fand , daß er ein bisschen " zu charakteristisch " geworden wäre , wie sie sagte .
Zweites Buch , erstes Kapitel .
Auch ohne die Pockennarben wäre er kein Adonis gewesen .
Dazu trug er sich recht sonderbar .
Etwas wild-westartig und nicht eben sorgfältig .
Ein schwarz karierter Anzug , dessen Grundfarbe ein lehmiges Gelb war ; dazu ein flatternder grüner Hängeschlips .
Alles in einem liederlichen Zustande , der jetzt noch besonders zur Geltung kam , wo die Jacke durch die Balgerei einen Riß bekommen hatte . --
So , Stilpe !
Also Du ohrfeigst den Primus Deiner Klasse .
Natürlich , wer fast der Letzte ist , muß seinen Zorn an den besseren Schülern auslassen .
Willst Du die Güte haben und sagen , wie Du zu dieser Lümmelei gekommen bist ?
Stilpe kräuselte seine Oberlippe noch etwas nach oben und setzte ein sehr verächtliches Gesicht auf .
Dabei zuckte er die Achseln und wischte sich die Lohe von den Kleidern .
-- Also wird_es bald !? --
Ich mag nicht denunzieren .
-- Was magst Du nicht ?
Denunzieren sagst Du ?
Hört Mal , leiht eurem Kameraden doch Heiss Fremdwörterbuch ; er scheint nicht zu wissen , was denunzieren heißt .
Jetzt stampfte aber Stilpe mit dem Fuße auf :
-- Ich weiß sehr wohl , was Denunzieren bedeutet , und gerade darum sage ich nicht , weshalb ich den Herrn Primus verdientermaßen geohrfeigt habe . --
Höre , Stilpe , jetzt wird mir_es zu bunt .
Mit Frechheiten kommst Du bei mir nicht durch .
Wenn Du nicht auf der Stelle Antwort gibst , melde ich die Sache , und dann läuft sie übel für Dich ab , das weißt Du . --
Das weiß ich .
Aber ich kann nicht antworten . . . d. h. , wenn Girlinger mich vielleicht ermächtigt ?
. . . --
Ja , zum Donnerwetter , ihr seid wohl nicht recht . . . Girlinger , was ist_es !?
Girlinger machte eine bedeutende Geste und sagte mit kühler Gelassenheit : Stilpe hat meine Ermächtigung .
Diese ironische Ruhe brachte Stülpen ganz außer sich .
Das war es ja überhaupt , was ihm am Primus so widerwärtig war , diese infame Ruhe und Gleichmütigkeit .
Girlinger war der Einzige in der Klasse , der ihm imponierte , der Einzige , mit dem er " über Dinge " sprach , aber immer endete es auf seiner Seite mit Wutausbrüchen , weil dieser Zweites Buch , erstes Kapitel . sich nie dazu herbeilassen wollte , warm zu werden .
Er , Stilpe , fuhr immer mit Kanonen auf , und Girlinger tat so , als könne er alles mit seinem Taschentuch wegwedeln .
Also Stilpe brach wütend los : --
Gut !
Wenn er mir_es schon gestattet . . .
Gut !
Ich habe ihn geohrfeigt , weil er Bismarck beleidigt hat !
Ein schallendes Gelächter brach los .
Auch der rotbärtige Stürz lachte . --
Ah , eine politische Ohrfeige !
Ja dann , meine Herren , bin ich nicht kompetent .
Das gehört vor den Reichstag .
Wir wollen einstweilen im Klimmzug fortfahren .
Stilpe hätte in die braune Lohe greifen und sie dem Turnlehrer ins Gesicht schmeißen mögen .
Jede Strafe wäre ihm willkommen gewesen , aber dieser Hohn traf ihn schmerzlich .
Er wurde blaß vor Zorn und ballte die Fäuste .
Aber auch Girlinger war blaß geworden .
Dieses Gelächter traf ihn mit .
Er fühlte sich plötzlich mit Stilpe auf der einen und alle Anderen auf der anderen Seite .
Als die Turnstunde aus war , und die Schüler truppweise nach Hause gingen , trat er auf Stilpe zu .
-- Du , Stilpe , wenn Du wieder Mal roh werden willst , dann such Dir wenigstens eine Gelegenheit , wo wir alleine sind .
Oder gefällt Dir_es , wenn die Bande sich über Dich amüsiert ?
Mir gefällt so was nicht .
-- Mir auch nicht .
Ich möchte ihnen Allen in den Bauch treten .
Elende Hunde Alle miteinander , und zumal dieser Turnpauker .
Herrgott , na. . . !
Übrigens , was willst denn Du bei mir ?
Ich denke , ich bin ein desolater Reaktionär ? --
Ach , laß doch das .
Wir können uns doch unterhalten , wenn wir auch verschiedener Meinung sind .
Wir sind ja doch die Einzigen , die überhaupt Meinungen haben .
Oder willst Du Dich vielleicht mit Pahlmann über Bismarck unterhalten ?
Oder mit Schirmern ?
Oder mit Cohn ?
Die Drei haben vorhin am lautesten gewiehert . --
Ach was , ich gehe kneipen .
-- So .
Ich gehe nach Hause . --
Das wußte ich vorher .
Du bist ja der solide Knabe Primus .
Weißt Du , wie eine Kellnerin aussieht ? --
Das interessiert mich nicht . --
Dafür interessiert Dich dieser Schweinehund , der Lassalle .
Zweites Buch , erstes Kapitel .
-- Gott , Stilpe , der Mann ist höchstens ein Schweinehund gewesen .
Er ist nämlich schon seit einer ganzen Reihe von Jahren tot . --
Ach !
Willst Du mir nicht die Jahreszahl nennen ?
Weißt Du , was Du bist ?
Ein Protz bist Du ! Bildest Dir Wunder was ein , daß Du ein bisschen mehr von solchen Sachen weißt wie ich .
Wenn mein Vater Staatsanwalt wäre und solche Bücher hätte , könnte ich auch Sozialdemokrat sein , d. h. , wenn mir das nicht zu niederträchtig wäre . --
Ich kann Dir sie ja zu lesen geben .
Das ist gescheiter , als mit sechzehn Jahren in Bumskneipen zu gehen . --
Bumskneipen ?
Du sagst Bumskneipen ?
Du meinst also , diese Mädchen sind gemeine Frauenzimmer ?
Wahrhaftig Du , ich sage Dir , es gibt nichts Reineres und Schöneres als z. B. Martha .
-- Was geht mich denn Deine Martha an ?
-- Du hast doch Bumskneipe gesagt !
Wie kommst Du denn dazu , jemand zu beleidigen , den Du nicht kennst ?
Aber Du ziehst eben alles Edle in den Staub .
So machst Du_es mit Bismarck und so mit Allem .
Du kannst nichts als kritisieren und nörgeln .
Alles Ideale ist für Dich bloß dazu da , es ironisch schlecht zu machen .
Man könnte Dich für einen Juden halten , und Du liest auch bloß Juden .
Ewig mit Deinem Börne und Lassalle und diesen anderen Mauschelmeiern , diesen ekelhaften Kerlen , die eine Schande für das deutsche Vaterland sind !
Pfui ! --
Aber Du kennst ja nicht ein Wort von Börne und Lassalle !
Lies sie doch Mal !
Lies doch Mal Börne !
Schimpf doch nicht über das , was Du nicht kennst .
Das sind ja alles bloß Phrasen . --
Hast Du nicht Bumskneipe gesagt ?
Kennst Du denn die Martha ?
Kennst Du denn das Lokal ?
. . . Weißt Du was :
Komme jetzt mit hin , und dafür will ich dann Börne lesen . --
Ach Gott , das ist mir so unangenehm , ganz abgesehen davon , wenn wir geklappt werden . --
Herrlich !
Da haben wir den Revolutionär !
Feige bist Du , wie diese ganze Judenbande , die auch bloß das große Maul haben . --
Mache Dich nicht lächerlich .
So mutig bin ich schließlich auch , abends , wenn_es dunkel ist , in so ein Loch zu kriegen , wo doch kein Pauker hinkommt . --
Also komme mit !
Zweites Buch , erstes Kapitel .
-- Bloß , damit Du siehst , daß ich nicht feig bin .
Aber dann liest Du auch Börne !
-- Mein Ehrenwort , Girlinger , meine rechte Hand !
Komme !
Es sind bloß ein paar Schritte .
Paß auf , Du wirst ein Mädel kennen lernen . . . !
Zweites Kapitel .
Diese Martha war eine schöne , schlank üppige Person von etwa zwanzig Jahren mit dunkelblauen Augen , zwei langen blonden Zöpfen und sehr blasser Gesichtsfarbe .
Sie hätte zu irgend etwas sehr Unschuldigem Modell stehen können , und wie sie aussah , so stellen sich sämtliche Backfische Fausts Gretchen vor .
Dazu hatte sie eine sehr liebe , linde Stimme und die weichsten , rundesten Bewegungen .
Professor Tumann hat diesen Typus in die Seele der deutschen Bourgeoisie gemalt , und wir begegnen ihm noch immer auf Wäschekartons , Zigarrenkisten und Glaube-Liebe-Hoffnung-Buntdrucken .
Damit wird es begreiflich erscheinen , daß der sechzehneinhalbjährige Stilpe , öffentlicher Obertertianer und heimlicher Dichter , Vaterlands Zweites Buch , zweites Kapitel . Schwärmer und Idealist , unendlich täppisch verliebt in dieses Mädchen war .
Sie erschien ihm als der Inbegriff dessen , was er früher in dem Idealbilde der Thusnelda verehrt hatte .
Nur kam nun noch das Gretchen aus dem Faust , das Käthchen von Heilbronn und die Lindenwirtin , die Feine , dazu .
Dies , soweit es sich in seinen Versen aussprach , die er ausgiebig zum Lobe dieses Mädchens hervorbrachte , und deren Idealismus ihm bitter ernst war .
Aber es gab auch noch einen anderen Gesichtswinkel , unter dem er diese Martha ansah .
Jener Idealismus war mehr das Gefühl aus der Entfernung , eine Distanceschwärmerei , eine bewegte Andacht hinter blauen Weihrauchnebeln .
Zuweilen aber geriet der schwämerische Beter durch diesen duftenden Nebel hindurch und kam auf weiches Fleisch .
Und , siehe , mit einem Ruck war die Situation verändert .
Die Gefühle bekamen ein anderes Tempo und einen anderen Thermometergrad ; irgend etwas in ihm schien sich zu überschlagen , irgend etwas pochte von innen an die Wände seines Leibes , -- es wurde da etwas lebendig , das nicht Idealismus war .
Der gute Junge hatte böse Tage und bösere Nächte dabei .
Es warf ihn ge waldig hin und her , und durch seine schwärmerischen Verse quollen zuweilen absonderliche Töne eines unheimlichen Drängens aus der Tiefe .
Ich glaube , für die Augen der Götter sah seine Seele damals aus wie ein Glas voll Federweißem , in dem die Gärschichten Durcheinanderwallen und die Blasen steigen .
Vielleicht richten die Götter derlei bloß an , weil ihnen dieser Federweiße der menschlichen Pubertät besonders schmeckt .
Für den Menschen selber aber ist dieser Zustand keine ungemischte Freude .
Stilpe verkam sichtlich dabei .
Er war beim Austragen eines wesentlichen Stückes seiner selbst :
Er ging mit seiner Mannheit schwanger .
Vielleicht war es zu früh , daß es ihm so viel Qualen machte ?
Da war es ein großes Glück für ihn , daß er nun als Ablenkung Ludwig Börne kennen lernte .
Er stürzte sich auf diesen vielbeweglichen blendenden Geist , wie eine Frau , der es in der Hoffnung nach Dingen gelüstet , die ihr vielleicht schädlich sind , im Augenblicke aber wohltun .
Es verging kein Monat , und er war ein wütigerer Revolutionär , als sein Freund Girlinger .
Selbst seine deutschen Aufsätze in der Schule brachten Äußerungen zu Tage , die Zweites Buch , zweites Kapitel . über das erlaubte Maß der Lobpreisung antiker Freiheitshelden wie Harmodios und Aristogeiton hinausgingen .
Aber in seinen Tagebüchern rumorte sich die Empörung seines Wortschatzes am wildesten aus .
Dort fanden sich in wunderlichem Nebeneinander die Namen von Gajus und Tiberius Gracchus , Catilina , Marat , Danton , Robespiere , August Bebel und Eugen Richter .
Für Majestätsbeleidigungen hatte er sich eine eigene Geheimschrift erfunden .
Der vor vier Wochen noch angebetete Name Bismarcks war von nun an durch das Zeichen eines Dolches wiedergegeben , wofür die Erklärung lautete :
" Man kann das nehmen , wie man will .
Entweder als den Dolch , mit dem dieser hochfahrende Strunkjunker die Freiheit Deutschlands hingemordet hat , oder als den Dolch , mit dem er . . . ?
. . . "
Die Freiheit Deutschlands hatte übrigens auch ihr Geheimzeichen ( " denn sie ist ganz und gar verboten " ) , nämlich ein Epsilon und Gamma , was heißen sollte : Eleutheria Germanias .
Dieses Epsilon Gamma schnitt sich der entflammte Demokrat sogar auf seinen linken Unterarm ins Fleisch ; aber nicht sehr tief. 7 Es versteht sich , daß auch der Herrgott übel wegkam in diesem Tagebuche :
" Was ist denn Gott ?
Ein Substantivum generis masculini .
Oder ein Eigenname ?
Aber was für ein Wesens damit gemacht wird !
Wozu denn nur ?
Das gute Lumen ( das war der Religionslehrer ) sieht nie so dumm aus , als wie wenn es Gott sagt .
Liegt das nun an diesem Substantivum oder am Lumen ?
Ich muß Girlinger fragen . "
" Übrigens sollen ja auch große Leute an Gott geglaubt haben .
Girlinger behauptet sogar , sie hätten ihn erfunden .
Wer weiß , wo er das her hat .
Er liest jetzt viel Philosophisches .
Wenn nur Kant nicht so dunkel wäre .
Diese verfluchten langen Perioden .
Schopenhauer geht eher .
Aber es ist entsetzlich , wie er über die Weiber schimpft .
Ich glaube , man muß ein alter Knacks sein , um diese Philosophen lesen zu können . "
Zweites Buch , zweites Kapitel .
" Das Lumen ( man sollte es die Funzel nennen ) sagt , Gott sei wie die Luft , die man auch nicht sieht , aber spürt , und ohne die man nicht leben könne .
Dann ist die Philosophie wohl eine Luftpumpe .
Man setze die Funzel hinein , und sie wird verlöschen .
Deshalb hat sie auch so einen Abscheu vor der Philosophie . "
Zuweilen gab es aber auch Verzweiflungsausbrüche in diesem Tagebuch , so sehr Stilpe auch bemüht war , in ihm den scharfen Geist zu posieren , dessen Atheismus über jeden Zweifel und jede Angst erhaben war .
Dann türmte er bedenkliche Jamben- Quadern aufeinander :
Ich bin ein Mensch , und , hat mich Gott gemacht , So soll er einstehen auch für das Gemachte Und soll nicht Sünde heißen , was ich tue , Und seiner Pfaffen ekelhafte Schar Auf mich loslassen wie ein Heer von Geiern .
Ich bin voll Wollust , und ich schreie laut Nach Wollust wie der Hirsch nach Wasser schreit .
So gebt sie mir , denn Gott hat_es so gewollt , 7 * Und wenn ihr Sünde sagt , so sündigt Gott .
Nein , nein und nein , ihr kennt ihn nicht , den Gott , Von dem ihr sprecht ; er ist kein lieber Gott :
Ein böser Gott ! --
Ach Gott , er ist ja nicht !
Jeden Sonntag kam Girlinger zu Stilpe und ließ sich von ihm das Tagebuch zeigen .
Er war , bei aller eigenen Unreife , doch viel reifer , als jener , denn er hatte vielmehr Verstand und war wirklich fleißig hinter der Literatur her , die er Stülpen zutrug .
Vor Allem kam ihm zustatten , daß er alle die zu frühe Gedankenkost kühl in sich aufnahm , während sie Stilpe heiß verschlang .
Auch ließ er sich , trotz seiner Jugend , nicht so leicht blenden , und wenn er auch merkwürdig viel Sinn für das Brillante in Stil und Gedanken hatte , so nahm er das doch schon mit einer Art von Kennerschnalzen hin , während Stilpe sofort wie überschüttet und überglänzt war und Alles am liebsten gleich subjektiv für sich zur Tat gemacht hätte .
Der Fleiß fehlte ihm , wie in der Schule , so auch hier .
Keines der Bücher , die ihn wild bei Zweites Buch , zweites Kapitel . geisterten , las er fertig , und Sitzfleisch hatte er nur in der Kneipe bei Martha .
Eines Tages kam er auf Girlingers Wohnung gestürzt .
-- Bist Du allein ? --
Meine Schwestern sind im Wohnzimmer .
-- Können sie hören , was wir sprechen ? --
Wenn sie nicht horchen :
Nein ! --
Aber sie werden horchen , natürlich ! -- Unsinn , sie machen ihre deutschen Aufsätze .
-- Nein , ich kann das hier nicht sagen . --
Was denn ? --
Es . . . es . . . Komme nur !
Komme !
Ins Freie ! --
Ja , was hast Du denn nur ? --
Ach , es ist schrecklich !
Schrecklich !
Sie gingen zusammen in den Garten , den Stilpes Pflegeeltern vor der Stadt hatten .
-- Also , was ist denn los ?
Du siehst ja ganz blaß aus ! --
Wie ?
Sieht man mir_es an ?
Nicht wahr , ich bin furchtbar blaß ? --
Ja , blaß bist Du . . . Und außerdem stinkst Du nach Sprit . --
Ja , ich habe sechs Glas Bier getrunken . --
Pfui Teufel , und natürlich dieses gräßliche Lagerbier in der Austria . --
Ja , aus Verzweiflung Girlinger .
Denke Dir nur . . . Martha . . . !
Ach Gott ! --
Ich kann mir_es wirklich nicht denken .
Daß der Engel einen Bräutigam hat , der Unteroffizier ist , weißt Du ja schon seit vier Wochen . --
Ach , ich bitte Dich , sei nicht so spöttisch jetzt .
Es ist zu furchtbar .
Er war wirklich wie zerschmettert .
Girlinger fühlte Mitleiden mit ihm , und wie sie im Garten angekommen waren , redete er ihm sehr teilnahmsvoll zu , sich ihm auszuschütten .
Es war ein kleiner Mietsgarten zwischen anderen von der gleichen quadratisch angelegten Art .
Selbst in der schönen Jahreszeit sah er trostlos öde aus mit seinen kleinen nach der Schnur gepflanzten Bäumen , den kümmerlichen Sträuchern und den harten gelben Kieswegen .
Jetzt , da es Spätherbst war , die kahlen Bäume wie Besen aufragten , verfaultes Laub in den schwarzen Beeten lag und ein kalter Wind unter grauem Him Zweites Buch , zweites Kapitel. Mehl ging , machte er einen völlig jämmerlichen Eindruck .
Da sie keinen Schlüssel hatten , sprangen sie über das Staket .
Plötzlich rief Stilpe : Wo ist denn die Bank ?!
Nicht einmal eine Bank ist da !
Wütend rannte er im Garten herum .
Es kam ihm unbewußt sehr gelegen , daß er Ursache zu einem Wutausbruch fand . --
Wir können ja hin- und hergehen ! --
Nein !
Ich will eine Bank !
Ich bin wie zerschlagen !
Ich muß sitzen ! --
Aber , wenn doch keine da ist ? --
In der Baracke sind sie .
Wart !
Ich werde sie gleich haben !
Und er stürzte zum Gartenhaus , rüttelte erst mit den Händen an der Tür und trat diese dann mit den Füßen ein . --
Höh !
Bänke genug !
Und er schleppte eine heraus und stellte sie mitten auf den Weg .
-- Da , setze Dich ! --
Ich brauche nicht zu sitzen .
Ich bin nicht " zerschlagen " wie Du , denn ich bin nicht betrunken .
Übrigens werde ich gleich wieder nach Hause gehen , denn ich habe besseres zu tun , als Deine Rohheiten mit anzusehen .
Jetzt wurde Stilpe wieder weinerlich . --
Setze Dich doch , ich bitte Dich , setze Dich .
Ich muß . . . ach Gott , sei mir nicht böse . . . Ich bin ja so . . . Girlinger setzte sich auf die Bank und sah vor sich auf den Boden .
Stilpe stellte einen Fuß auf die Bank und stützte den Kopf in die rechte Hand .
Große Tränen rannen ihm aus den Augen .
Lange konnte er nicht sprechen .
Dann sagte er ganz leise :
-- Kennst Du das Haus mit den weißen Fensterscheiben gegenüber der Austria ?
-- Das Puff ?
Stilpe schlug sich mit der Faust aufs Knie und schrie :
Da drin ist sie !
Girlinger sah auf und pfiff durch die Zähne .
Dann sagte er sehr bedächtig :
So , so !
Ja , ja !
Da packte ihn Stilpe an beiden Schultern und schüttelte ihn wütend :
-- Du bist ein Vieh !
Ein Amphibium !
Gehe aus dem Garten , oder ich schmeiße Dich hinaus ! --
Bist Du denn verrückt geworden ?
Jetzt höre aber auf !
Was fällt Dir denn ein ?
Glaubst Du , Zweites Buch , zweites Kapitel . ich bin für Deine Grobheiten da ?
Das war das letzte Mal !
Er wollte gehen .
Aber nun hielt ihn Stilpe wieder fest und drückte seine Hände , und indem ihm Träne auf Träne über die Backen lief , rief er aus :
-- Ich weiß ja nicht , was ich sage , ich weiß ja nicht , was ich tue , ich bin Dir ja so dankbar ; Du mußt mir alles verzeihen , was ich sage , ich bin ja ganz zerschlagen .
Girlinger bekam jetzt Angst vor ihm .
Dieses Weinen war gräßlich , und all dies Gehaben war ihm so fremd .
Er glaubte im Ernste , daß sein Freund verrückt geworden wäre , und fing an , ihn wie einen Kranken zu behandeln . --
Sei nur ruhig , Stilpe , ich bringe Dich jetzt nach Hause .
Du bist so aufgeregt .
Du mußt ins Bett gehen . . . . Und übrigens : Ist es denn auch sicher ?
-- Sie hat mir_es ja geschrieben ; sie hat mich ja eingeladen , ich soll sie in ihrer neuen Stellung besuchen . . . Girlinger hatte was Ironisches auf den Lippen , aber er bezwang sich . --
Ach Gott , wer weiß , was dahinter steckt .
Es ist vielleicht gar nicht so schlimm .
Überhaupt : Was ist denn schließlich dabei ?
Erinnere Dich , was Lassale über die Prostitution sagt .
Es ist mehr ein Opfer , als eine Schande .
Und die schlimmsten Huren sind nicht in den Bordells .
So , mit vielen Zitaten , abgeklärten Sentenzen und ein paar historischen und ethnographischen Exkursen ins alte Griechenland und nach Japan , tröstete er seinen zerschmetterten Freund nach Hause .
Drittes Kapitel .
Nicht lange nach dieser herbstlichen Gartenscene wurde Willibald Stilpe , im Alter von 163/4 Jahren , von seiner Mannheit entbunden .
Damit ging eine merkliche Veränderung in ihm vor .
Er bekam etwas Renommistisches , Überhobenes und trug eine Verachtung seiner Klassengenossen , Girlinger eingeschlossen , zur Schau , die sich von der , die er schon immer gezeigt hatte , deutlich unterschied .
Früher war darin etwas Erzwungenes gewesen , als sei er sich doch nicht völlig klar über seine Berechtigung dazu , jetzt hatte sie etwas sehr Entschiedenes , sehr Selbstbewußtes .
Er trat diesen Obertertianern gegenüber , wie ein Mann , der von einer Reise in unbekannte Länder nach Hause zu Leuten kommt , die noch nicht den Äquator überschritten haben : -- Ist es sehr heiß in den Tropen ? --
Es macht sich .
-- Sind die Schlangen wirklich so lang und dick und giftig ? --
Ach ja .
-- Sie sind doch nicht gebissen worden ? --
Ein bisschen .
-- Wie ?
Und wieder kuriert ? --
So ziemlich .
Schade , daß er nur mit Girlinger darüber reden konnte .
Dem setzte er aber dafür auch tüchtig zu , und es machte ihm unverhohlenen Spaß , daß dieser so wißbegierig war .
Er flunkerte auch ein bisschen und gab mehr tropische Abenteuer zum besten , als er erlebt hatte .
Aber auch ohne die Flunkereien hätte er dem Freunde imponiert .
Es gab jetzt etwas , worin er dem weisen Primus über war . --
Weißt Du , da helfen Dir alle Deine Bücher nicht hin .
Und übrigens : Wie willst Du denn ohne das Deinen Schopenhauer verstehen ?
Und dann die Dichter !
Er dachte dabei vornehmlich an Heine und den Tannhäuser in Rom , der zu seinem Brevier und Muster wurde .
Zweites Buch , drittes Kapitel .
Denn jetzt fing er an , aus dem Vollen zu dichten und zwar mit dem Bewußtsein , ein Dichter werden zu wollen und nichts anderes .
Die Schule wurde ihm dabei immer widerlicher , und er schwänzte sie mit großer Frechheit .
Seine Pflegeeltern , denen er von Stilpe-Vater übergeben worden war , weil dieser deutlich fühlte , daß jeder andere ein besserer Pädagoge sei , als er , waren gute Leipziger Mittelstandsleute , die , mit Stilpes Mutter entfernt verwandt , den jungen Gymnasiasten aus Gefälligkeit aber nicht mit der Meinung aufgenommen hatten , daß hier besondere Aufsicht und Wachsamkeit nötig sei .
Der alte Wiehr hatte einen Porzellanladen am Markte , der ihn ausschließlich beschäftigte , und seine Frau ging in der Hauswirtschaft und zahlreichen Kaffeekränzchen auf .
Ihr einziger Sohn war ein zarter junger Mensch gewesen , bleichsüchtig und solide , nicht sehr begabt , aber fleißig ; er war gestorben , als er in Stilpes Alter gewesen war .
Die Alten sahen in Willibald dessen Fortsetzung und behandelten ihn wie jenen , nämlich mit vollendetem Zutrauen und vollkommener Ahnungslosigkeit .
Dies wurde durch Stilpes mimische Kunst , sich wie ein Lamm zu benehmen , unterstützt .
So hatte er eigentliche vollkommene Freiheit , und es fehlte ihm , um mit dieser Freiheit so viel anfangen zu können , wie er wünschte , nur an Gelde .
Leider machte sich dieser Mangel , seit sich Martha " verändert hatte , " viel fühlbarer als früher .
Ein geradezu lächerlicher Gedanke , jetzt mit den fünf Mark monatlichem Taschengelde auszukommen .
Man mußte , da eine regelrechte Erhöhung des Budgets außerhalb jeder Möglichkeit lag , auf Extraordinaria sinnen .
Da fing denn der junge Mann zunächst klein und bescheiden an .
Er durchmusterte seine Bibliothek .
Nun , da fanden sich ja einige Sächelchen , die vom Überflusse waren :
Alle die überwundenen Standpunkte der durchlaufenen Klassen , wie sie sich in alten Grammatiken , Lehrbüchern , Schulausgaben , Gesangbüchern verkörperten , und dazu des Knaben Willibald Belletristik :
Der Lederstrumpf , verschiedene Walter Scott-Romane , " für die Jugend " bearbeitet , eine " ausgewählter Goethe " ( fahre hin , Castrat ! rief Willibald ) und Anderes mehr .
Diese Literatur überlieferte Stilpe einem alten Zweites Buch , drittes Kapitel . verwachsenen Antiquar , der in einem Durchgegangen von der Betersstraße zum Neumarkt seine Bude hatte .
Herr Wopf war ein wunderlicher alter Bursche , ausgestattet mit einer sehr schönen Meerschaumpfeife , einer sehr großen , üppigen und noch jungen Gattin und einer eminenten Rundschrift , mit der er die Neuerwerbungen seines Lagers in gewaltig großen Zügen auf Pappendeckel schrieb , die wie die Ahnentafeln vor chinesischen Tempeln rechts und links seiner Ladentüre standen .
Außerdem besaß er noch eine verworrene Menge von Literaturkenntnissen und eine erstaunlich tremolierende Stimme , mit der er Passagen aus seinen Büchern vorlas , um diese seinen Kunden begehrenswert erscheinen zu lassen .
Wegen dieser Gabe des rollenden Rezitierens nannten ihn Stilpe und Girlinger den Deklamator .
Stilpe liebte ihn direkt und sah in ihm den Helden seines ersten Dramas .
In wiefern Herr Wopf den Anforderungen an einen dramatischen Helden entsprach , das war ihm freilich unklar , ging ihm aber auch nicht nahe .
Sicher war nur , daß die üppig blühende Gattin , die früher scheuern gegangen war , die Rolle der Ehebrecherin haben mußte .
Sich selbst dachte Stilpe als den Galan , doch stellte er sich in dieser Tätigkeit etwas älter und als berühmten Journalisten vor .
Die Hauptscene , der Drehpunkt des Ganzen , stand schon fest , aber nur im Kopfe , denn , und dies gilt für die meisten dichterischen Pläne Stilpes in dieser und späteren Zeit :
Er kam selten dazu , seine Entwürfe in Tinte umzusetzen .
Schade übrigens , daß Stilpe diese Szene nicht ausgeführt hat .
Sie war höchst verwegen naturalistisch gedacht und sehr geeignet , Ärgernis zu erregen , -- ein poetischer Zweck , der dem revolutionären Obertertianer ziemlich deutlich vorschwebte , obwohl seine Verwegenheit nicht bis zur Phantasmagorie einer Drucklegung ging .
Sie sollte sich direkt in Wopfs Ehebette abspielen .
Girlinger hatte Einwendungen dagegen , vornehmlich vom Standpunkte der Bühnenmöglichkeit aus .
Aber da kam er bei Stilpe übel an :
-- Bühne !?
Du sagst Bühne !
Was geht mich denn die Bühne an ?
Ich pfeife auf die Bühne .
Glaubst Du , ich will mich neben Herrn Blumental stellen ? --
Nein , aber neben Schiller . --
Ach , Schiller !
Zweites Buch , drittes Kapitel .
Dieses " Ach , Schiller ! " ist um die Zeit , in der Stilpe sein Wopf-Drama plante , auch sonst noch manchmal ausgesprochen worden .
Wer es mit dem Phonographen aufgefangen hätte , könnte sich heute damit auf den Jahrmärkten hören lassen .
Übrigens war der Deklamator Stülpen in erster Linie doch nicht als dramatischer Held , sondern als zahlungsfähiger Bücherkäufer wichtig .
Zwar , er zahlte niederträchtige Preise und verdiente schon deshalb , dramatisch als Hahnrei angemacht zu werden , aber er nahm wenigstens Alles , und in schwierigen Augenblicken gab er auch Vorschüsse auf später zu verkaufende Bücher .
-- Nächstes Ostern brauche ich meinen alten Cicero nicht mehr ; können Sie mir 1 Mark 50 drauf geben ?
Der Deklamator durchblätterte das dicke Buch und blies seinen Tabaksrauch wie desinfizierend hinein .
-- Quousque tandem , Catilina , abutere patientia nostra !
Haben wir auch gelesen !
Wie lange noch , Herr Liebknecht , wollen Sie uns mit Ihren Reden mopsen ?
Fünfundsiebzig Fänge , Herr Stilpe . --
Nee , mein Lieber , eine Mark doch mindestens .
8 Der Schmöker kostet neu ja fünf , und er sieht doch noch ganz jungfräulich aus . --
Fünfundsiebzig Fänge , Herr Stilpe !
Und übrigens : Wenn Sie nun sitzen bleiben und die Catilinarischen noch ein Jahr lesen müssen ? --
Na , hören Sie Mal , das finde ich stark !
Sie halten mich wohl für ein Kamel ?
Also gut , her mit den fünfundsiebzig , Sie Jude .
Der Deklamator zog seinen Beutel und fischte das Geld heraus .
Dann notierte er sich das Geschäft in sein Notizbuch , wo eine Seite in tadelloser Rundschrift überschrieben war : Herr Stilpe .
Leider hielt die Bibliothek der Jugendzeit nicht lange vor , und es war das Bücherverkaufen überhaupt ein etwas bedenkliches Geschäft , weil Stilpe dabei doch zuweilen den Deklamationen des Herrn Wopf unterlag und für seine alten Bücher andere mit in Zahlung nahm .
Zwar verkaufte er die gewöhnlich ein paar Wochen später zurück , aber es versteht sich , daß ihm der Deklamator nicht so viel zahlte , wie er sich hatte zahlen lassen . -- Se machen ze viel Randbemerkungen in de Bücher , Herr Stilpe .
Und , sehen Se , wenn de Marginalien auch sehr geistreich sin , wie z. B. hier gleich zweimal hinterenander : Quatsch !
Zweites Buch , drittes Kapitel .
Quatsch ! , so verlieren Se de Bücher doch dadurch an Wert .
-- Was !?
Warten Sie nur , Herr Wopf , warten Sie nur !
Wenn ich Mal berühmt bin , dann verdienen Sie ein Vermögen mit meinen Autogrammen .
Ich sage Ihnen : Heben Sie sich die Bücher auf ! --
Sie närrischer Kunde !
Wenn Se nun aber nicht berihmt werden ? -- : Schon Manchen sah ich mit erhobenem Haupt Im Lenz der Jugend mit den Sternen spielen , Der , als das Alter ihm den Kranz entlaubt , Froh war , nach Kegeln auf der Bahn zu zielen .
Schie'm Se Kegel , Herr Stilpe ?
Das is enne sehr gesunde Übung ! --
Nee , aber fünf Mark können Sie mir pumpen .
Der Deklamator zog sein Notizbuch : Sehen Se Mal her , Herr Stilpe : Jetzt ha'm Se schon acht Mark und fuffzig Fänge prae !
Jede Nacht treim ich , Se blei'm m'r sitzen .
Nee , pumpen kann ich Se nichts .
Also mußte Stilpe auf Anderes denken .
Ein Glück , daß er nicht ohne Erfindungsgabe war . 8 * Bald wurde für ein Ehrengeschenk zum Doktorjubiläum des Ordinarius gesammelt .
Dann hatte er eine Fensterscheibe in der Klasse zerschlagen .
Sehr oft drängte es ihn , eine Klassikervorstellung im Theater zu besuchen .
Ein Kamerad war gestorben , ein sehr guter Freund von ihm :
Da mußte ein Kranz her .
Unendlich häufig mußten Bücher gebunden , Hefte gekauft , neue Schulausgaben angeschafft werden .
Aus Versehen hatte er Tinte über den Atlas seines Nachbars gegossen .
Ein ekliger Kerl , wie der war , wollte er ihn ersetzt haben .
Es war erstaunlich , wie leicht ihm die Lügen fielen .
Er schmückte sie sogar mit ersichtlichem Vergnügen novellistisch aus .
Erzählte z. B. die ganze Lebensgeschichte des jubilanten Ordinarius , ahmte ihn nach , führte eine ganze Komödie von ihm auf -- Alles freiste Erfindung ; und das Ehepaar Wiehr wollte sich ausschütten vor Lachen .
Aber auch diese kleinen Mittel halfen nicht auf die Dauer .
Stilpe starrte ins Leere und fand nichts .
Zweites Buch , drittes Kapitel .
Da überfiel ihn ein Gedanke , vor dem er selber erschrak :
Die Ladenkasse . . . -- Aber nein , pfui Teufel , das ist ja eine Gemeinheit ! Weg damit !
Lieber diese Sumpfereien da sein lassen .
Es ist überhaupt widerlich . . Lieber arbeiten !
. . . Wieder mehr mit Girlinger disputieren !
. . . Ja , und endlich das Drama schreiben !!
. . . Und gleich holte er ein Heft aus dem Schubkasten und schrieb darüber :
Der Hahnrei Sittentragödie in . . . Ja , wieviel Akte mache ich !?
Natürlich nicht fünf !
Denn das ist banal .
Vielleicht vier ?
Vier ?
Bei dem Stoff ?
Nein ! sechs Akte !
Also : in 6 Akten Und nun die Personen : Schopf , ein buckliger Antiquar Clara , seine Frau Walter Wild , ein berühmter Journalist Wen denn noch ?
Girlinger ?
Ja ! : Wirlinger , ein Agitator .
Das ist famos !
Sozial !
Und nun : Volk , Arbeiter , Studenten , . . . Stilpe Nein !
Erst noch eine Hauptperson ! : Martha , eine Prostituierte .
Ah !
Das gibt was !
Da haben wir den Konflikt !
Ganz von selber kommt immer das Beste .
Natürlich : Martha !
Das ist die Retterin !
Sie opfert sich !
Am Schluß bricht eine Revolution aus !
Er kam ganz ins Fieber .
Die Prostituierte als Retterin !
Schopf als Typus des krämerischen Bourgeois .
Walter Wild der Idealist .
Clara das verführerische Weib .
Wirlinger der dämonische Volkstribun .
Und am Schluß die Revolution !
Er schrieb gleich die Schlüssen ; ungeheuer wild und natürlich bloß so in Umrissen , hingeklitscht wie mit der Maurerkelle .
Glockenläuten .
Kanonenschläge .
Barrikaden .
Brand .
Marseillaise .
Carmagnole .
Martha im schwarzen Hemd mit der roten Fahne .
Aber auf einmal war Alles aus .
Der Strom war vorbei geschossen .
Es wollte nicht mehr fließen .
Fortwährend drängte sich , schon bei diesem gewaltigen Hinpatzen der Farben , das Gefühl ein :
Aber der erste Akt ?
Wieso denn Revolution ?
Natürlich muß sie kommen .
Freilich !
Aber : Wieso denn ?
Es muß doch irgendwie motiviert Zweites Buch , drittes Kapitel . werden ?!
Und da blieb er stecken und kam nicht heraus .
Das Schlimmste war , daß er sich in seinem dichterischen Tumulte zu lebhaft mit Martha beschäftigt hatte . --
Ach , hol der Teufel !
Ich gehe hin !
. . . -- Haha !
Ich , mit meinen zwanzig Pfennigen !
. . . -- Girlinger anpumpen ?
. . . --
Ach der !
Schöne Redensarten !
Und dabei hat er Geld !
. . . . . . . . . .
Die Ladenkasse . . . ? . . . ?
. . . ! . . . . . . . Es ginge ganz leicht . . . Ich brauche bloß ' nunter zu gehen . . . Wiehr sitzt auf dem Stuhl an der Türe . . . Hinten auf dem Laden steht die Kasse , offen . . . Ich komme durch die Hintertür und stelle mich vor den Laden und spreche mit dem Alten . . . Und , während ich mit ihm spreche , halte ich die Hände auf dem Rücken und greife ganz einfach in die Kasse . . . Immer , während ich mit ihm spreche . . . Ich muß bloß was Komisches erzählen . . .
Oder , nein , sicherer , ich sage : Sehen Sie , Vater Wiehr , da wird Einer arretiert drüben , vor Äckerleins Keller !
Da stürzt er sicher gleich vor die Türe . . . Es wurde ihm unbehaglich heiß . --
Aber das ist ja doch niederträchtig !
Das ist ja Diebstahl !
Pfui Teufel !
. . . -- Und , wenn sie es beim Abrechnen merken ?
. . . --
Unsinn !
. . . Sie rechnen ja gar nicht ab , Philemon und Baucis !
. . . -- Und schließlich , drei oder meinetwegen fünf Mark . . . Das fühlen Sie ja gar nicht . . . -- Überhaupt : Diebstahl !
Mumpitz !
Ich soll_es ja so Mal erben !
Lachhaft !
. . . --
Ich kann es ja auch später wiedergeben , wenn ich selber Geld habe . . . -- Natürlich :
Das versteht sich von selbst .
Mit Zinsen !
. . . Und er stülpte sich seinen Hut auf und rannte hinunter .
Viertes Kapitel .
Stilpe war nach Untersekunda versetzt worden , aber nur versuchsweise und mit Nachprüfung in der Mathematik nach einem Vierteljahr .
Zudem fand sich in seinem Zeugnis eine Bemerkung , für die er nur die Bezeichnung Infam ! hatte .
Es war da die Rede von " Zerfahrenheit " , " Unaufmerksamkeit " , " Allotria " .
Wischiwaschi ! sagte Stilpe , kaufte sich eine Flasche Eau de Javelle und wischte die Bemerkung weg .
Er tat es in der Hauptsache wegen der alten Wiehrs , denn es lag ihm daran , daß diese nicht irre an ihm wurden .
In sein Tagebuch schrieb er mit Geheimschrift pathetisch ein :
" Nachdem ich wöchentlich und konsequent einige Diebstähle begehe , kommt es auf eine Urkundenfälschung nicht mehr an .
Ich bin also ein Verbrecher !?
Ha !
Das ist ausgezeichnet !
Wenn ich wöchentlich , wie Girlinger , 10 Mark Taschengeld hätte , brauchte ich nicht zu stehlen , und wenn die Pauker keine überflüssigen Bemerkungen schmierten , brauchte ich kein Eau de Javelle .
Also ?
Logik ?
Schluß ?
Die Hauptsache ist :
Sich nicht erwischen lassen ! "
An Girlinger verriet er von seinen Streichen nichts .
Er wußte , daß dieser " unfähig war , derlei zu verstehen " .
Und doch hätte er gerne Jemand gehabt , dem er_es sagen könnte .
Einmal hatte er bei Martha den Versuch gemacht , indem er sie fragte , sehr feierlich , was sie dazu sagen würde , wenn Jemand ihretwegen ein Verbrechen beginge .
Es gruselte ihn angenehm , wie er das sagte .
Sie aber antwortete bloß : Den würd'ch anzeigen .
Das gab ihm einen Stoß , und er fand von jetzt ab , daß " diese Person sehr gewöhnlich " sei .
Zweites Buch , viertes Kapitel .
Er war ihrer überhaupt überdrüssig und warf sich mehr ins Ideale , Heroische .
Es kam , ihm ein Wulst Gedanken wie :
Neues Leben !
Freiheit !
Selbständigkeit !
Je näher die Mathematiknachprüfung rückte , um so dringlicher wurden diese Gedanken .
Wenn er nun diese Prüfung nicht bestünde ?
Die Perspektive war scheußlich , aber das scheußlichste an ihr war der Gedanke , daß er , der jetzt in Untersekunde mit Sie angeredet wurde , in Obertertia wieder geduzt werden würde .
Also : Das Symbol der Knechtschaft !
Aber auch , wenn er bestünde !
Wie gräßlich war diese ganze Schule überhaupt !
Und so noch vier Jahre bis zur Freiheit , bis zur Universität !
Und in diesen vier Jahren immer dieses leere Stroh , das Einem vorgeworfen wurde :
Da , drisch , aber im Takt !
Und was waren das für Leute , die die Aufsicht dabei führten !
Oh , diese Draschmeister !
Herrgott , diese Professoren !
Ein paar waren ihm ja " interessante Knaben " , ein bisschen steifleinen und Steifbeinen , aber man konnte ihnen gut sein , denn , nun ja eben : Sie waren interessant und hatten zuweilen menschliche Töne .
Aber die Anderen !
Diese kalten Pedanten !
Diese langweiligen Schablonenmeister !
Kalbsköpfe alle miteinander !
Er würde einmal eine aristophanische Komödie schreiben :
Die Kaulquappen .
Dazu , als Modelle , seien sie zu brauchen , sonst zu nichts .
Ob wohl Einer von diesen Plärrern eine Ahnung davon hätte , was hinter ihm , dem Stilpe , steckte ?
Und solchen Leuten war er untertan , er , der Ziele vor sich hatte , an die sie ebensowenig dachten , wie der Igel an ein Himmelbett !
Nein , er mußte fort aus dieser Sklaverei und fort auch aus diesem Sumpf mit der Person da , die wirklich kein Hetäre war , wie Aspasia .
Ja , eine Aspasia , das wäre seine Retterin !
Ein Weib , himmlisch schön und von freier Nacktheit Leibes und der Seele , und voll Poesie !
Voll Ideal !
Ah !
Hellas !
Hellas !
HELLAS !
Zweites Buch , viertes Kapitel .
Pfui Teufel , was da auf seinem Arme stand , dieses blödsinnige Epsilon Gamma !
Was ging ihn dieses Deutschland an , ihn , den Kosmopoliten !
Er schrieb mit roter Tinte in griechischen Lettern Hellas auf eine Papptafel und hing diese über seinem Bette auf .
Griechenland , ja , das war ein Wort und ein Ruf , und sein Schrei !
Aber nicht das , was dieses Lehrergesindel im Munde führte , sondern das , von dem Heine schrieb als dem Gegensatz zum Christentum .
Denn mit dem Christentum war er nun auch im Reinen .
Er nannte es die Weltmasern und tat sich auf das Wort nicht wenig zu Gute .
Eines Tages ging er mit Girlinger ins Rosenthal .
Girlinger war sehr niedergeschlagen .
Sein Vater war hinter seine Lektüre gekommen und hatte ihn vor der ganzen Familie als " unreifen Zusammenleser unverschämter Dummheiten " lächer lich gemacht und zugleich Maßregeln getroffen , die seine Lektüre unter eine strenge Aufsicht setzten .
-- Der Herr Staatsanwalt hat ein Ausnahmegesetz über mich beliebt .
Aber er soll sich irren .
Ich bin nicht der unreife Knabe , für den er mich hält .
Ich habe es deutlich bemerkt , daß er von den Sachen , die er verdammt , so viel versteht , wie ich von seinem Büttelamte .
Ich lasse mich nicht knechten !
Ich werde es ihm zeigen ! --
So ?
Du ?
Weißt Du , Dein Vater kennt Dich sehr gut .
Der weiß , daß Du wie ein Pudel über den Stock springst , wenn Du auch vorher bellst .
-- Das wirst Du sehen !
Ich habe zwar nicht das große Maul wie Du , aber ich handle ! --
Da bin ich gespannt .
Wirst Du es mir nicht verraten ? --
Nein !
Der Tag wird kommen , wo Du_es siehst . --
Dann muß er bald kommen ! --
Wieso ?
-- Ich verrate auch nichts .
Sie gingen schweigend nebeneinander her , und Stilpe hieb mit seinem Spazierstock in die Büsche .
Endlich sagte er : Zweites Buch , viertes Kapitel .
-- Nein , und wenn Du mir auch nichts sagst , ich will offen sein !
Aber gib mir Deine rechte Hand , daß Du_es niemand sagst . --
Ja doch . --
Nein , die Hand !
Und das ist wie geschworen ! --
Ja doch . Habe ich schon was verraten ?
-- Also gut !
Und er blieb stehen und sagte leise , aber mit feierlichem Tone :
-- Ich gehe nach Griechenland .
Girlinger sah ihn groß an :
-- Ja , kannst Du denn Neugriechisch ?
Die Frage kam Stülpen unerwartet .
Daran hatte er noch nicht gedacht .
Er bis die Lippen ärgerlich aufeinander .
-- Natürlich nicht . --
Ja , was für eine Sprache wirst Du denn dort reden ? --
Es gibt eine deutsche Kolonie in Athen .
Stilpe wußte davon eigentlich nichts , es war eine seiner rettenden Improvisationen , aber Girlinger fand sie plausibel .
-- So , nun ja , aber was willst Du in dieser deutschen Kolonie machen ?
-- Irgend was : Schreiber , Kopist , Sekretär , irgend so was !
Girlinger schwieg eine Weile .
Dann meinte er :
-- Hast Du denn Geld zur Reise ?
Stilpe , langsam :
-- Ja .
-- Wieviel denn ? --
Weiß ich noch nicht . --
Ach so . . . Ich habe hundertunddreiundfünfzig Mark .
-- Was ?
Hundertunddreiundfünfzig !
Das ist ja kolossal ! --
Das ist viel zu wenig .
Ich habe gedacht , Du würdest mindestens tausend haben . --
Ja , woher denn ? --
Das ist einerlei .
Girlinger sagte das etwas im Tone des entschlossenen Bösewichts der Bühne , dumpf , Tremolo .
-- Nein , soviel kann ich nicht . . bekommen .
-- Was denkst Du denn , was die Reise kostet ? --
Ich laufe natürlich .
-- Da werden sie Dich bald Einhaben . --
Ich werde sie auf eine falsche Spur locken .
Natürlich denken sie Alle : Amerika .
Übrigens : Du willst doch nicht etwa nach Amerika ?
Zweites Buch , viertes Kapitel .
Girlinger lächelte spöttisch :
-- Du hältst mich für sehr dumm .
Nein , ich denke an England .
Und er setzte nun sehr kühl und eingehend auseinander , welche Vorzüge England habe :
Keine polizeilichen Anmeldungen , Nachfrage nach deutschen Kräften für kaufmännische Korrespondentenstellungen u. s. w. , u. s. w. Er hatte Alles , nach seiner Weise , praktisch bedacht und sich über Alles in Büchern Gewißheit verschafft .
Englisch und die doppelte Buchführung hatte er sich auch nach Möglichkeit beigebracht .
Aber Stilpe übergoß ihn mit ganz anderen Argumenten für seine Idee :
-- Was ?
England ?
Dieses große Krämernest ?
Dieses Land des Nebels und der Kommis ?
Diese Insel der Pfeffersäcke ?
Wo sie die Feigenblätter en groß fabrizieren aus Weißblech mit Ölfarbenanstrich ?
Wo man Sonntags nicht niesen darf ?
Ja , Mensch , kennst Du denn Byron nicht ?
Byron , siehst du , der wollte lieber in Griechenland sterben , als in England leben .
Nur Griechenland !
Nur Griechenland !
Denke doch :
Dieser Himmel !
Diese Erinnerungen !
Und :
Diese Weiber !
Ich sage Dir :
Ehe diese Bande hier ihr Abiturientenexamen gemacht hat , sind wir berühmt. 9 -- Ach was , ich will frei sein und nicht dichten .
-- In Griechenland wirst Du frei sein !
Und warum verstellst Du Dich denn ?
Ich weiß doch , daß Du noch viel ehrgeiziger bist , als ich .
Und dann :
Die Schönheit !
Die alte Kunst !
Die Akropolis !
Denke : Wenn wir da hinaufschreiten !
Und alles das Südliche überhaupt !
Ölbäume , Orangen , Zitronen , Rhododendren !
Girlinger hatte allerlei praktische Bedenken , aber schließlich legte auch er es sich zurecht .
Seine Phantasie war nicht so schnell losgelassen , wie die Stilpes , und sie schwärmte nicht ins Blaue , aber gerade diese Sehnsucht nach dem Süden war in ihm , und um so stärker , als er sich wirklich ein Bild vom Süden machte , während Stilpe nur den Abreiz von Worten spürte .
Sie gingen mit dem Versprechen Girlingers auseinander , daß er am nächsten Sonntag , in zwei Tagen , seinen endgiltigen Entschluß kund tun wolle .
Girlinger benutzte die Zeit , um gründlich über den Plan nachzudenken und nach Möglichkeit zu studieren , was ihm über das Griechenland von Heute zugänglich war .
Stilpe aber schwamm in einem heißen Ent Zweites Buch , viertes Kapitel . zucken bei dem Gedanken , die große Tat im Verein mit Girlinger zu vollführen und weidete sich an der Vorstellung , welchen Eindruck es machen würde , wenn nicht bloß er , der " zweifelhafte Schüler " , durchgebrannt und verschwunden war , sondern mit ihm der gepriesene Musterknabe und Primus .
Mit besonderem Genusse stilisierte er sich im Geiste die Notizen , die über dieses Ereignis in den Blättern stehen würden .
Er kam sogar auf die Idee , eine " Rechtfertigung " abzufassen , die er auf irgend eine Weise ( das Wie überließ er späterer Überlegung ) drei Tage nach ihrer Flucht ( Flucht ! ) von Leipzig aus dem Leipziger Tageblatt zukommen lassen wollte .
Vielleicht durch den Deklamator ?
Oder durch Martha ?
Diese Frage beschäftigte ihn am meisten .
Am Sonntag enthüllte ihm Girlinger in kurzen Worten , aber sehr ernst , daß er bereit sei , mitzugehen , aber nicht vor vierzehn Tagen .
Denn es sei noch viel zu ordnen und zu bedenken .
Er könne , Alles in Allem , 250 Mark zusammenbringen , teils durch Bücherverkauf , teils durch seine Schwestern .
Mindestens so viel müsse aber Stilpe beschaffen .
Diese Summe werde für jeden zur Hinreise genügen ( er hatte das Hendschel 9 * sche Kursbuch bei sich ) und außerdem Lebensunterhalt für zwei Wochen sicheren .
-- Natürlich werden wir in diesem Klima vegetarisch leben .
-- Selbstverständlich .
Eine ganze Anzahl praktischer Notizen hatte er auf einem Zettel zusammengeschrieben , und Stilpe mußte sich verpflichten , diese auch für sich anzuerkennen .
Da hieß es :
Es sind mitzunehmen pro Person :
Ein Koffer mit : Einem Anzug ein paar Stiefeln zwei Hemden drei paar Strümpfen ( NB . aus der Wäsche sind die Namenzeichen auszutrennen !! ) sechs Taschentüchern zwei Kragen .
Die Koffer werden in St. es Gartenhaus in der Versenkung , wo jetzt das Gartengerät aufbewahrt ist , niedergelegt .
Stilpe muß zwei Koffer stellen , da es für G. unmöglich ist , sich mit einem Koffer aus dem elterlichen Hause zu entfernen .
Zweites Buch , viertes Kapitel .
Ein Revolver , wenn billig zu haben , ist wünschenswert .
Stilpe fand den Revolver in allererster Linie für notwendig und machte sich anheischig , einen zu besorgen .
-- Natürlich einen , den man in die Brusttasche stecken kann ! --
Ja , aber doch nicht allzuklein !
Bereits am Dienstag brachte Stilpe den Revolver mit in die Schule und zeigte ihn Girlinger auf der Retirade .
-- Bist Du verrückt !
Steck ihn sofort ein !
Und er ist ja viel zu groß ! --
Ich werde doch kein Spielzeug mitnehmen !
Girlinger entfernte sich eilig , und als sie nach Hause gingen , sagte er sehr scharf :
Wenn Du_es so machst , nehme ich mein Wort zurück !
Überhaupt , wie benimmst Du Dich denn ?
Alle Augenblicke nimmst Du mich auf die Seite und machst mir Zeichen .
Jeder Mensch muß merken , daß wir was vorhaben .
-- Bringe lieber Deine Wäsche ins Gartenhaus statt daß Du mir Moral schwingst .
Meine Sachen sind alle draußen .
-- Bei mir geht das nicht so wie bei Dir .
Hier ( er sah sich nach allen Seiten um ) sind zwei Kragen .
Ich muß jeden Tag einzeln was bringen .
Wenn ich nur wüßte , wie ich_es mit dem Anzug mache .
Ich kann doch nicht mit ein paar Hosen überm Arm in die Schule gehen . --
Zieh den Mantel an und nimm sie unteren Mantel !
Oder , halte :
Ich komme und hole sie ! --
Nein , nein , ich werde schon Alles selber bringen .
Während so bei Girlinger die Schwierigkeiten mehr ins Einzelne gingen , hatte Stilpe nur ein großes Problem zu bewältigen :
Das Geld .
So viel war sicher :
Die Ladenkasse reichte nicht .
Man konnte sie höchstens mit fünfzig Mark ansetzen .
Also denn erstmal alles verkaufen , was in Griechenland überflüssig war an Kleidern , Wäsche , Büchern .
Geschah .
Von Büchern entgingen nur Börnes Werke , Tannhäuser in Rom und Byrons Don Juan dem Deklamator .
Aber Alles in Allem kamen nur vierzig Mark heraus .
Zweites Buch , viertes Kapitel .
Wie wäre es mit ein paar Anzügen Vater Wiehrs ?
Ein Gedanke !
Der Mann hatte ja seine ganze Vergangenheit noch im Kleiderschranke hängen .
Aber Vorsicht !
Vorsicht !
Und erst in den letzten Tagen .
Auf fünfzig Mark konnte man das aber immerhin ansetzen .
Fünfzig und fünfzig sind hundert , und vierzig sind hundertundvierzig . . .
Wenn ihm nur irgend ein Coup einfiele !
Das Geplempere mit kleinen Posten gefiel ihm gar nicht .
Hm .
Im Glasschrank stand so allerlei herum , auch Schmuckzeug . . .
Aber da verging ja kein Tag , an dem nicht Mutter Wiehr den Kram bestreichelte .
Halt !
. . .
Aber nein . . . nein . . . !
. . . Freilich , wenn gar nichts übrig blieb . . . ?
. . . :
Die Paten- und Konfirmationsgeschenke des verstorbenen Filius . . . ?
. . . ! . . . Die waren in dem verschlossenen Schranke in seiner Stube , und die Alten hatten eine große Scheu vor diesen Erinnerungen .
Sie hatten sie verschlossen , um sie nicht zu sehen ; nie machten sie den Schrank auf .
Da mußten ja wohl auch noch Bücher sein und sonst was . . . Das war aber doch ein verfluchter Coup !
Das war schon nicht mehr bloß , pfui Teufel , Diebstahl , das war so was wie Frevel .
Oder ?
Stilpe versuchte , den Gedanken mit Gewalt loszuwerden und erging sich , um ihn beiseite zu schieben , dafür in den abenteuerlichsten Plänen .
Sogar der schmierige Beutel des Deklamators tauchte auf und eine verbrecherische Intrige mit der rosigen Gattin .
Hatte sie ihm nicht kürzlich hinter dem Rücken des Alten zugelächelt ?
Wie , wenn er mit ihr im Bunde den Alten . . . ?
Aber , duliebergott , das war ja eine Kriminalnovelle und kein Coup !
Immer wieder der verschlossene , große , braune Schrank . . . Was da wohl alles drin steckte . . . Natürlich zuerst sämtliche Hosen und Höschen , Jacken und Jäckchen des gepriesenen Filius , von der Wiege bis zur Bahre .
Verdammt nochmal :
Auch noch Rücksicht auf Sentimentalitäten , wo es seine Freiheit und Zukunft galt !
Da gab_es doch kein Besinnen !
Dort der Tod !
Hier das Leben !
Hier Mottenfraß !
Hier Freiheit !
Zweites Buch , viertes Kapitel .
Er ging an den Schrank und versuchte seine Schlüssel am Schloß .
Ging nicht .
Also : Eintreten !
Einfach eintreten !
Er schlug mit der Faust auf die Schranktüre .
Aber wie er das Poltern hörte , lief er gleich weit weg und sah zum Fenster hinaus .
Wozu überhaupt diese Menge Geld ?
Hundertfünfzig waren auch genug .
Er stellte das Girlinger vor .
Aber der protzte seine ganze widerliche Konsequenz auf :
-- Wie wir_es ausgemacht haben , so bleibt_es .
Du hast mein Wort , und ich habe Deins .
Stilpe empfand eine kochende Wut über dieses Benehmen .
Nicht einmal sagen kann ich_es dem Kerl , was ich vorhabe .
Natürlich er :
Jede seiner Schwestern gibt ihm fünfzig Mark .
Und ich muß solche Gemeinheiten aushecken .
Aber wart nur :
Diese Erfahrungen , diese Kämpfe , die werden aus mir was Ganzes , Eigenes machen , wo Du bloß eine Molluske bist und bleibst !
Ich bin der Kämpfende !
Ich werde den Sieg haben !
Und dann , oben auf der Akropolis will ich Dir_es ins Gesicht schütteln mit meinen Fäusten :
Ich habe stehlen müssen für meine Freiheit und unendliche Frevel auf mich geladen für meine Ideale !
Du aber bist bloß der Pudel , der hinter mir herlief , aufgefüttert und vollgestopft , ohne Mark und Entschluß !
In diesem Aufsud stürmischer Gefühle fiel ihm Karl Moor ein , und er fühlte sich nun nicht bloß gerechtfertigt , sondern geradezu verpflichtet , den Schrank aufzubrechen .
Aber Vorsicht !
Vorsicht !
Und : Nicht zu früh !
Jetzt waren es noch sechs Tage bis zu dem Sonnabend , wo sie sich nachmittags im Gartenhause treffen wollten , um abends abzureisen .
Von Girlinger fehlte immer noch die Hose und ein Hemd im Koffer , aber er konnte ihn nicht einmal mahnen , denn der Primus blieb aus der Schule weg und hatte ihm verboten , ihn zu besuchen .
Er stelle sich krank , hatte er ihm geschrieben , um nicht unnötig durch ihn aufgeregt zu werden , auch habe er einen besonderen Trick vor mit dieser Krankheit .
Im Übrigen solle er nur Alles genau Zweites Buch , viertes Kapitel . nach Verabredung besorgen und tun .
Sonnabend um 3 Uhr am Gartenhause !
Stilpe hatte einen grenzenlosen Respekt vor Girlingers kühler Klugheit , und er stellte sich irgend etwas unerhört Schlaues vor , das hinter dieser Krankheit steckte .
Wer weiß : Er bringt vielleicht 500 Mark mit !
Wenn man_es nur wüßte !
Nur wüßte !
Dann wäre auch diese infame Chose mit dem Schrank nicht nötig .
Schon das Verkaufen von Vater Wiehrs Garderobe war eine verdammt schwierige Sache gewesen , und es war bloß Dusel , wenn es nicht zur Unzeit bemerkt wurde .
Nun aber der Schrank !
Das Heiterste wäre , wenn mich Mutter Wiehr angeschwindelt hätte , und es gäbe da drin gar nicht diese kostbaren Konfirmationskleinodien und Taufbecher .
Ob ich sie nochmal frage ?
Er nahm wirklich einen Anlauf dazu , brachte es schließlich aber doch nicht übers Herz .
Dafür machte er sich im Stillen einige moralische Komplimente über diese Feinfühligkeit und fand , daß er eigentlich sein Gewissen dadurch für beruhigt ansehen könnte :
Denn , wäre ich wirklich ein gemeiner Kerl , so hätte ich gefragt ; aber ich handle eben bloß unterm Zwang der Verhältnisse und schone dabei nach Möglichkeit , was zu schonen ist .
Unter diesen Erwägungen brach er kaltblütig den Schrank auf , nachdem er die Kammertür verschlossen und das Schlüsselloch verhangen hatte .
Schau , schau , gepfropft voll !
Aber ist es nicht sündhaft , alle diese Sachen von den Motten fressen zu lassen ?
Es scheint , die guten Wiehrs wissen nicht , wieviel arme Jungen keine ganzen Kleider am Leibe haben .
Natürlich !
Die Sentimentalität geht bei diesen Bourgeois Allem vor . . .
Der Überzieher da ist noch wie neu . . . Herrgott , wieviel Hüte hat denn der Filius gehabt ?
. . . Sogar seine ersten Hosen sind noch da . . . Übrigens : Insektenpulver haben sie doch gestreut . . . Donnerwetter :
Das kann mich ja verraten !
Die ganze Kammer wird stinken !
Er lief und öffnete die Fenster .
Unten ging gerade ein Schutzmann vorbei .
Stilpe machte eine Verbeugung :
Zweites Buch , viertes Kapitel .
Das Auge des Gesetzes wacht !
Sie , Schutzmann , hier wird gestohlen !
Ja , das möchte er wohl , der Gute , daß ich ihn raufwinkte .
Wird nicht verzapft !
Nun aber die Kleinodien !
In der Pappschachtel ?
Nein : Seidene Tücher .
Da könnt ich übrigens eins . . . Unsinn !
. . .
Aber es scheint wirklich kein Edelmetall . . .
Er holte sich einen Stuhl und stieg darauf , um besser sehen zu können , was auf dem oberen Schrankbrett stand .
Siehstewoll ?
Der Kasten ist schwer .
Und :
Er klappert .
Er nahm ihn langsam herunter .
Es war eine alte Schatulle aus eingelegtem Mahagoniholze mit zopfigen Ornamenten .
Ein kleiner Schlüssel mit herzförmigem Griff steckte im Schloß .
Er trug die Schatulle auf den Tisch und schloß sie auf .
Donnerwetter , was für ne Menge !
Zwei Uhren !
Eine silberne und eine goldene !
Und dito zwei Ketten .
Dieser Filius ist verzogen worden !!
Und goldene Ringe gar drei !
Was ?
Auch goldene Manschettenknöpfe ?
Das ist ja blödsinnig !
Am Ende hat der Junge auch noch eine Busennadel gehabt .
Richtig !
. . . Ekelhaft , das !
So einer muß ja ein Protz werden .
Und dabei war er dumm wie ein Heuroß .
Gut !
Gut !
Klappe zu !
Er stellte die Schatulle wieder an ihren Platz , lehnte die Schranktüre fest an , klemmte ein bisschen Pappe ein und hatte eine deutliche Empfindung von Zufriedenheit , wie er sah , daß äußerlich nichts an dem Schranke zu merken war .
Was aber nun anfangen mit dem Zeug ?
Er beschloß , es erst in Athen zu verkaufen .
Trödler gibt_es dort sicher auch . . . Nun kam der große Tag heran .
Das letzte , was Stilpe ins Gartenhaus getragen hatte , waren seine Tagebücher und Manuskripte gewesen .
Die letzten Worte in seinem Tagebuche lauteten schwungvoll so : Zweites Buch , viertes Kapitel .
Und nun , mein stolzes Schiff , Stich aus ins Meer !
Du trägst mein Alles , und dein Zeichen heißt : Freiheit , Hoffnung und Zukunft .
Meine Hand , Mit der ich nun die Ankerkette schnell Aufwinde , ist beschmutzt , doch wasch ich sie Im Meer der Schönheit , und ich schwöre : Nie , Bei allen Göttern , die ich suche , nie Soll wieder Schmutz an diese heiße Hand !
Die letzte Schulstunde , zu der er sich herabließ , war Griechisch .
Es wurden unregelmäßige Verba abgefragt , und da er sich nicht vorbereitet , auch nicht einmal in der Vorpause , wie er sonst zu tun pflegte , in der Grammatik nachgelesen hatte , blieb er jede Antwort schuldig . --
Warum haben Sie Ihr Pensum nicht gelernt ?
Er lächelte und dachte bei sich : Freiheit , Hoffnung und Zukunft ! -- Wollen Sie wohl antworten ?
Warum haben Sie Ihr Pensum nicht gelernt ? --
Es war mir zu langweilig .
Der Professor schnappte nach Luft .
Das war der Gipfelpunkt der Frechheit .
Das war jenseits aller Bezeichnungsmöglichkeit .
Nur das eine Wort : Karzer ! wühlte sich aus dem verstopften Sprachschatze empor . --
Wie viel Stunden , Herr Professor ? fragte Stilpe mit unterwürfigem Lächeln .
-- Ist der Mensch verrückt geworden ?
Die ganze Klasse hatte mit dem Professor nur diesen einen Gedanken und starrte auf den lächelnden Stilpe .
Sein Nachbar rückte ein Stück von ihm ab .
Er aber setzte sich gelassen und tat , als ob die Sache für ihn erledigt wäre .
Der Professor , eben noch violett , wurde weiß wie weicher Käse und rief , indem er sein Buch von sich warf :
Verwegener Bube !
Ah !
Ah !
Am Montag werden Sie erfahren , was Sie sich zugezogen haben .
Bei dem Worte Montag hätte Stilpe laut auflachen mögen , aber es kam ihm der Gedanke , daß man ihn gleich heute am Nachmittag einsperren könnte , und so hielt er sich stille .
Zweites Buch , viertes Kapitel .
Als die Stunde vorüber war und die Sekundaner ihre Bücher zum Heimgehen packten , bildete sich ein Kreis um Stilpe :
-- Na , die Unverschämtheit kommt Dir teuer zu stehen , mein Söhnchen . . . Du hast wohl Lust , geschwenkt zu werden ? . . . Du bist wohl nicht bei Troste ?
. . . Stilpe lächelte bloß geringschätzig .
Gerne hätte er jetzt irgend eine kleine Andeutung gemacht .
Es wurde ihm sehr schwer , sie zu verbeißen .
Aber er überwand sich .
Und nun kam er in Aufregung .
Wenn er nur nicht noch zu Tische zu gehen brauchte !
Aber das mußte er natürlich , ganz abgesehen davon , daß er recht gut bei Appetite war .
Kaum aber , daß er sich vom Tische erhoben und gesegnete Mahlzeit gewünscht hatte , lief er aus dem Hause und rannte durch die Straßen .
Es war ein unfreundliches Spät-Frühlingswetter , Regen und Wind .
Da er keinen Schirm hatte , war er bald ganz durchnäßt .
Aber er lief , 10 so unangenehm ihm diese eindringende Feuchtigkeit war , immer auf und ab und immer denselben Weg : Grimmmaische und Betersstraße .
Er wollte nicht eine Minute früher als Punkt 3 Uhr am Gartenhause sein , aber er wollte auch nirgends vorher einkehren , denn er fühlte , daß er nicht sitzen könnte .
Sein einziger Gedanke war : Wenn wir nur erst im Zuge sitzen .
Und dann bis Triest in einem Saus !
Ah !
Nacht und Tag und Nacht !
Und dann das Schiff !
. . . Freilich :
Die Seekrankheit . . . Unsinn !
Wenn erst die schimmernde Küste Griechenlands auftauchen wird . . . !
Venus Anadyomene !
. . . Und diese Hellenen in ihren bunten Trachten ; auch Türken , Armenier !
Und herrliche Weiber mit Krügen auf den Köpfen !
Großäugig !
Glutäugig !
Und bronzene Brüste schimmern durch paphische Gewänder . . . !
Und Marmorpaläste , südliche Gärten und sengende Sonne !
Und nun mein stolzes Schiff , Stich aus ins Meer !
Plötzlich kam ihm seine Mutter in Sinn .
Es kam so unvermutet und grell , daß er mitten im Rennen stehen blieb .
Zweites Buch , viertes Kapitel .
Herrgott , wie wird sie weinen . . . Es ist doch eigentlich . . .
Ah , aber nein :
Wenn ich sicher bin , schreibe ich ihr Alles , und wenn sie sieht , wie glücklich ich bin , dann wird sie stolz auf mich sein !
Sie versteht mich ja !
Sie weiß , daß aus mir was Großes werden wird !
Mütterchen weine nicht , weine nicht so , Sieh ich bin in der Fremde froh Und denke Dein .
Er hoffte , es würde ein ganzes Gedicht werden , aber es blieb , wie gewöhnlich , beim Anfange .
Endlich 3/43 Uhr !
Nun zum Gartenhaus !
Er lief im Trabe mitten durch Pfützen und ohne aufzusehen , wie ein Junge neben dem Reifen .
Jetzt am Garten .
Nun die Allee hinauf .
Ob Girlinger schon da ist ?
Nun den Seitengang .
Gott sei Dank , daß es regnet und niemand im Garten ist .
Aber der Dreck !
Der Dreck !
Ganz bespritzt !
Das wird doch auf der Eisenbahn nicht auffallen ?
So , jetzt bei Kürners Garten vorbei und nun mit Barrieresprung übers Staket .
Teufel !
Mitten in eine Pfütze !
So ein Blödsinn !
10 * Punkt drei !
Aber Girlinger ist noch nicht da . Natürlich ; der macht sich_es bequem und kommt sicher in Gummigaloschen und muß um jede Pfütze einen Bogen machen und womöglich bei jedem Buchladen stehen bleiben .
Ekelhaft diese Hundsschnauzigkeit .
Er ging zum Gartenhaus und griff in seine Tasche nach dem Schlüssel .
Plötzlich fuhr er zusammen und starrte auf etwas weißes , das in der Türsperre klemmte .
Sein Gesicht verzerrte sich : Ah , du Hund , du !
Er riß das eingeklemmte Papier heraus .
Herunter das Couvert .
Da stand mit den schönen , so oft in der Schule belobten Schriftzügen unter Einhaltung des Höflichkeitsrandes etc. folgendes :
Lieber Stilpe !
Nachdem ich mir unseren Plan noch vielmals und reiflich überlegt habe , bin ich zu der unumstößlichen Überzeugung gelangt , daß es im Grunde bloß ein etwas persönlich drapierter Dummejungenstreich wäre .
Wenigstens was mich angeht .
Du bist ja anders , und Dein Temperament berechtigt Dich gewissermaßen zu einem solchen Schritte , der ins Ungewisse führt .
Zweites Buch , viertes Kapitel .
Aber ich bin nicht zu dergleichen kühnen Entschlüssen geeigenschaftet .
Also : Ich kann nicht mittun .
Verachte mich , soviel Du willst und nenne mich einen Feigling und Wortbrüchigen .
Ich kann nichts dagegen tun .
Höchstens , daß ich auch Dir rate : Stehe auch Du von dem Plane ab .
Selbstverständlich bist Du strengster Geheimhaltung von meiner Seite aus sicher .
Aber ich erwarte auch von Dir , daß Du nicht etwa in einem Deiner Wutausbrüche mich als Deinen Komplizen nennst .
Das wäre keineswegs honorig .
Indem ich Dir , für den Fall , daß Du den Plan zur Ausführung bringst , alles Glück aufrichtig wünsche , bin ich , auch wenn Du mich verachtest , Dein Freund Robert Girlinger. P. S.
Meine Sachen nimm , wenn Du gehst , mit .
Sie werden Dir nützlich sein .
Stilpe geriet in eine maßlose Wut .
Zuerst ließ er sie an dem Briefe aus , den er mit den Zähnen zerriß und in das matschige Erde reich hineinstampfte .
Dann warf er seinen Hut auf die Erde und schlug mit den geballten Fäusten an die Gartenhaustür .
Er war aschfahl im Gesicht und bis sich fortwährend auf die Lippen , als wenn er das Bedürfnis hätte , etwas zu zerfleischen .
Dann schloß er die Tür auf und ging ins Gartenhaus .
Mit einem Fußstoße öffnete er die Decktür zu der Versenkung , wo die Koffer standen und spuckte auf diese .
Dann warf er die Decktür zu , daß es krachte und setzte sich auf einen Gartenstuhl .
Ein Windstoß warf die Türe zu , und nun war er im Dunklen allein mit seiner kochenden Wut .
Was tun ?!
Was tun ?!
Ah , vor Allem Eins : Rache an diesem feigen Hund ! Hin zu Girlinger und ihm laut ins Gesicht schreien , was für ein erbärmliches Subjekt er ist .
Das ganze Haus zusammenschrein !
Ihm den Koffer vor die Füße , nein , vor den Bauch werfen .
Und ihn prügeln !
Prügeln !
Unsäglich und lange prügeln !
Ach was , erschießen müßte man ihn !
Erschießen !
Das ist ein Gedanke !
Ah , und da ist ja auch der Revolver !
Gott_sei_Dank , daß er so groß ist !
Aber das war schon mehr bloß pathetische Zweites Buch , viertes Kapitel .
Zierleiste .
Er merkte das selber , und den Gedanken , sich hinter her etwa selber zu erschießen , ließ er nur ganz von Ferne vorbeidrohen .
Überhaupt nein : Weder Prügel noch Revolver , nur Verachtung !
Ein einziges Wort auf eine Postkarte geschrieben :
Lump ! und dann fort !
Fort !
Fort !
Fort !
Er rüttelte das Wort in sich hin und her .
Fort !
Fort !
Aber es geschah halb mechanisch , wie er sich das in plumpen Stößen immer wiederholte .
Fort !
Fort !
Natürlich : Fort !
Ich werde doch wohl wegen dieser Kanaille nicht hier bleiben !?
Aber diese Bestie hat ja das Kursbuch !
Der ganze Reiseplan stand ja bei ihm !
Ich Wickelkind habe ihm ja Alles überlassen !
Sonderbar : Der Gedanke , sich nun selbst ein Kursbuch anzuschaffen und einen Reiseplan zu machen , kam ihm nicht .
Dafür entwarf er bereits den Brief , den er nach seiner Ankunft in Athen " diesem Elenden " schicken wollte :
" Hier bin ich , auf der Akropolis , und gottlob ohne den Pinscher , der mir folgen wollte . . . Ich habe eine sehr angenehme Stelle als Sekretär eines deutschen Privatgelehrten . . .
Meine Adresse Teile ich Dir nicht mit , um vor Deiner Verräterei sicher zu sein .
Denn es gibt keine Gemeinheit , die ich Dir nicht zutraute .
. . "
Dieser Brief , den er vielmal in sich hin und her wandte und mit zahlreichen vergifteten Spitzen versah , beruhigte ihn ungemein .
Als er ihn auswendig wußte , war er so weit , die " Jammerhaftigkeit dieses Staatsanwaltssprößlings " für ein Glück anzusehen .
Wäre ich denn in seiner Gegenwart frei gewesen ?
Hätte er mich nicht in meinen besten Entschlüssen gestört ?
Was für eine unglaubliche Verirrung dieser Gedanke überhaupt gewesen ist , mit dieser Hundeschnauze zusammen nach Griechenland gehen zu wollen .
Aber eine gute Lehre das !
Immer und Alles allein !
Jedes Vertrauen ist Wegwurf !
Er schrieb sich diese Maxime in sein Notizbuch und empfand das ganze differenzierte Wohlgefühl des Pessimisten .
Er wurde sogar übermütig .
Warte , mein braver Knabe , dachte er sich und nahm die Girlingerschen Sachen aus dem Koffer , hing sie , nachdem er sie zerrissen hatte , auf eine Bohnenstange und stellte das Ganze nach Art einer Vogelscheuche in ein Zweites Buch , viertes Kapitel .
Beet .
Daran befestigte er ein Stück Papier mit der Aufschrift : Siegeszeichen des Wohlverhaltens .
Dann nahm er den Koffer mit seinen Habseligkeiten und schlug den Weg zu dem Hause ein , in dem Martha waltete .
Es war selten , daß dort ein Mensch männlichen Geschlechtes mit einem Koffer erschien , denn , wenn auch viele Handlungsreisende in diesem gastfreien Hause verkehrten , so ließen sie ihre Musterpakete doch gewöhnlich im Hotel .
Und so erregte er ein gelindes Aufsehen . --
Ja , Schnutchen , kleines , willst Du denn verreisen ? rief ihm Martha entgegen , die , mit einem schwarzseidenen Hemde bekleidet , nicht mehr an die Gemälde Professor Tumanns erinnerte .
-- Ich bin auf dem Wege zum Bahnhofe und will Dir nur Lebewohl sagen , erwiderte Stilpe etwas ernster , als es im Stile dieses Milieus war . --
Nanu , doch nicht ganz fort , Schnutchen ?
Dann muß ich ja weinen !? --
Ganz fort .
Weit weg .
Aber frage nicht .
Wir wollen noch einmal fröhlich sein .
Er gab sich hier sonst gerne frivol , weil er fürchtete , im anderen Falle seine Jugend zu verraten , die ihn in diesem Hause immer etwas genierte , aber diesmal konnte er die jugendliche Feierlichkeit nicht verleugnen . --
Jetzt wird mir_es aber ängstlich , Schnutchen .
Wer soll mir denn dann Verse vorlesen ?
-- Du brauchst nicht so spöttisch zu sein . --
Aber nee , ich mein's ernst , auf Ehre .
Ich kann sie ja auswendig !
Und sie deklamierte mit unverstellter Genugtuung :
Wie jene Ritter in der alten Zeit , Die für die Liebe stritten todbereit , Streit ich für Dich und Deine Edelheit .
Ich liebe Dich und glühe mich Dir an , Vor Deinen Füßen liege ich , sieh mich an , Ein Knabe bin ich , küsse mich zum Mann !
Nein , bin kein Knabe !
Denn ich weiß durch Dich , Was Liebe ist , Dein Blick erweckte mich , Darum singe ich Dank Dir heute und ewiglich !
Zweites Buch , viertes Kapitel .
-- Siehst Du , ich kann es ganz auswendig !
Stilpe war selig .
Seine Verse klangen ihm aus diesem Munde wie der Inbegriff aller Poesie , und er fiel dem Mädchen heiß um den Hals . --
Rotwein !
Champagner !
Und Zigaretten ! --
Aber Schnutchen , hast Du denn soviel Geld ? --
Ja , ja , massenhaft !
Laß nur kommen . --
Nee , Schnutchen , laß das doch die alten Onkels machen .
Ein paar Glas Bayrisch tut es bei Dir schon .
-- Nein , nein !
Heute müssen wir Wein trinken !
Weißt Du , eine Orgie feiern !
Eine Orgie !
Weißt Du , was das ist ? --
Ja , ja , so was Verrücktes .
Aber wozu denn ? --
Mache !
Mache !
Ich habe nicht lange Zeit .
Ich muß fort .
Bestelle nur !
. . . Ach so , vorausbezahlen ?
Da , da ist Geld .
Er gab ihr sein ganzes Portemonnaie .
-- Gehört das ganz meine ?
Stilpe erschrak sehr .
Aber er faßte sich und sagte mit edlem Anstande :
-- Wie Du willst .
Aber dann kann ich nicht reisen .
-- Gott , bist Du ein anständiger Junge ! sagte das Mädchen und gab ihm das Portemonnaie zurück .
Diesmal ärgerte ihn das Wort Junge nicht .
Der Wein nahm seiner Stimmung den Rest von Gedrücktheit .
Zwar wollte sich durchaus nicht das entwickeln , was er eine Orgie nannte , denn das Mädchen bemutterte ihn heute noch mehr als sonst , aber wenn er auch nicht tanzte , so lief er doch recht lebhaft in dem kleinen Zimmer , soweit es nicht Bett war , auf und ab .
-- Wenn Du wüßtest , was ich vorhabe !
Wenn Du wüßtest , wohin ich reise ! --
Na , so sag mir doch .
Er blieb stehen und sah sie ekstatisch an . --
Ja !
Wenn Du mir versprichst , mit mir zu reisen ! --
Ja . wenn Du bei Mutter Zanken meine Schulden bezahlst .
-- Wieviel sind es ! --
Na , bloß so dreihundert Märker . --
Herrgott !
Dreihundert !
Nein , das kann ich nicht .
Oder !
Halt !
Warte Mal !
Und er stürzte sich auf seinen Koffer und brachte die Uhren und Ringe ans Bett .
-- Da , was kriegt man dafür ?
Erstes Buch , viertes Kapitel .
Martha kniete sich im Bett auf und breitete die Tauf- und Konfirmationsgeschenke von weiland Wiehr junior vor sich aus , hübsch eins neben das andere ; es gab eine lustige Reihe , die im Lichte der roten Bettampel verstohlen blinkte . --
Das kann schon zweihundert Mark geben , wenn Du Dich nicht beschummeln läßt .
Sie sah die Sachen verliebt an , steckte sich die Ringe an die Finger , schüttelte die Uhren und hielt sie ans Ohr und ließ die Diamanten der Busennadel leuchten .
Plötzlich warf sie den Kopf zurück , daß die langen blonden Haare von den Brüsten weg über die Schultern fielen und fragte erstaunt :
Ja , wo hast Du denn die Sachen her ?
Stilpe überlegte .
Sollte er_es sagen ?
Hatte sie sich damals nicht so verdammt moralisch gehabt ?
Aber jetzt steht die Sache doch anders .
Das Zeug liegt auf dem Bette und gehört beinahe schon ihr .
Ob sie da nicht . . ?
. .
Aber er zögerte doch und sagte bloß : Alte Tauf- und Konfirmationsgeschenke .
-- Und das willst Du verkaufen ?
Das ist aber nicht schön von Dir !
Was ?
Schon das fand sie Unrecht ?
Das em Porte ihn förmlich , es kam ein Gefühl von Zorn über ihn , und zugleich regte sich etwas wie Furcht .
Er wurde mit einemmal irre .
Aber , wart , nun gerade soll sie_es wissen , diese elende Duckmäuserin .
Das wird einen Effekt geben !
Ob sie das Zeug aus dem Bette und mir vor die Füße wirft ?
Und er erzählte ihr ganz kühl , daß er die Sachen gestohlen habe und wem sie gehörten .
Sie sah ihn bloß erstaunt an und schüttelte den Kopf .
Dann sagte sie langsam und wie ungläubig :
Nein . . ! . . Du . . ! . . Das . . ? . . -- Ach mache kein solches Gehabe .
Es ist so , und ich finde gar nichts dabei .
Jetzt sprang sie aus dem Bette und faßte ihn an den Schultern :
-- Aber , Junge !
Was ist denn mit Dir los ?
Du bist doch kein so gemeiner Kerl !
Herr du mein Gott , wie kommst Du denn auf so was !
Sie sagte das fast tonlos und mit einer ganz anderen Stimme , als er an ihr gewöhnt war .
Es ging ihm durch und durch .
Mit einemmal fühlte er , daß er etwas Gemeines getan hatte .
Zweites Buch , viertes Kapitel .
Hätte sie nur im Geringsten was pathetisches gesagt oder getan , er würde ihr ins Gesicht gelacht , und , wenn sie etwa Miene gemacht hätte , Lärm zu schlagen , alles geleugnet haben .
So aber war_es wie ein Urteil , wie eine Verdammung .
Er mußte auf den Boden sehen und fühlte sich gedemütigt , ohne sich dagegen aufzulehnen .
Was sie nun noch sagte , war eigentlich überflüssig und schwächte den Eindruck der ersten Worte eher ab .
Aber er ließ Alles über sich ergehen und sagte nichts dazu .
Sie legte durchaus den Hauptton darauf , daß er den alten Leuten das genommen hätte , was ihnen das Liebste war .
Sie sagte das nicht in feinen und gefühlvollen Worten , sondern fast roh und ungeschickt .
Immer wieder kam das Wort :
So eine Sünde , und gar nichts dabei zu fühlen !
Er wagte nicht ein einziges Mal aufzusehen , und ihre Hände auf seinen Schultern fühlte er wie eine unerträgliche heiße Last . --
Was soll ich aber nun tun ? sagte er ganz verzweifelt , wie sie schwieg .
-- Gleich Alles wieder hintragen !
Alles sagen ! --
Das geht nicht !
Und nun erzählte er ihr , schluchzend und unfähig , seine Tränen zurückzuhalten , Alles , was er vorhatte , Alles , was ihm geschehen war , Alles , was ihn drückte .
Das machte weniger Eindruck auf sie .
Sie verstand es nur unklar , aber das Davonlaufen begriff sie . --
Fahre hin , wo Du willst , wenn Du nicht mehr in die Schule gehen magst .
Sie erwischen Dich doch bald .
Aber das Zeug da nimmst Du nicht mit . . . Nein . . .
So ein Junge !
Gott_sei_Dank , daß Du zu mir gekommen bist !
Denke bloß : Später !
Wenn Du_es gefühlt hättest , was Du getan hast . . . Herr du mein Gott , so ein Unglück !
Du wärst ja ein Lump geworden , Junge !
Gott weiß , was Du noch Alles angerichtet hättest !
Mord und Totschlag !
Wahrhaftig ein Glück , daß der andere Bengel nicht gekommen ist .
Sonst hätte ich Dich nicht hier .
Es beleidigte ihn gar nicht , daß sie ihn so in aller Deutlichkeit als Junge etc. traktierte .
Er war vollkommen mürbe .
Nach langen Beratungen kamen sie schließlich überein , daß er die Nacht noch hierbleiben sollte ( denn er fühlte sich nun unfähig zu jedem anderen Zweites Buch , viertes Kapitel .
Vorhaben , als eben hier zu sein ) ; am nächsten Tage möge er dann getrost nach Griechenland oder Kamerun fahren ; sie aber werde die Sachen einpacken und mit einem Brief , den er schreiben müsse , an die Adresse der alten Wiehrs schicken .
Der Brief lautete : Lieber Vater und liebe Mutter Wiehr !
Seien Sie mir nicht böse , daß ich ohne Abschied von Ihnen fortgegangen bin und nahe daran war , eine große Schlechtigkeit zu begehen .
Ich hoffe , Alles gut machen zu können , und bitte Sie , meinen Eltern nichts von dem zu sagen , was ich beinahe begangen hätte .
Lassen Sie mich nicht verfolgen und melden Sie mich in der Schule ab .
Es dankt Ihnen für alles Gute , was Sie ihm , dem Unwürdigen , getan haben , Ihr Pflegesohn W. St .
Die Schlußsätze des Briefes waren eigenste Hinzufügung Stilpes .
Sonst war der Brief nicht eigentlich nach seinen Intentionen .
Er hatte ihn zerknirschter und umfangreicher angelegt , mit einer 11 großen Diatribe gegen das Geschlecht der Gymnasiallehrer als Mittelstück , aber das Mädchen wollte nichts davon wissen .
Als aber der Brief geschrieben war , fingen beide an , vergnügter zu werden , als vielleicht die Leute glauben , die da nicht wissen , zwischen welch fernen Gegenden die Schaukel in der Seele mancher Menschen hin und her schwingt .
Denn Himmel und Hölle , Reue und Wollust liegen zuweilen nicht weiter von einander entfernt , als die Lippen zweier Menschen , die sich küssen .
Fünftes Kapitel .
Die Oberprima des Königlichen Gymnasiums einer kleinen sächsischen Industriestadt war ausnahmsweise Sonnabend Nachmittag in die Schule berufen worden , weil der Geheimrat Ammer , der als Königlicher Kommissarius die bevorstehende Abiturientenprüfung zu überwachen hatte , mit dem Wünsche hervorgetreten war , die Kandidaten schon zuvor persönlich kennen zu lernen .
Er hatte sich mit ihnen in einer sehr freundlichen und schmeichelhaften Art unterhalten , nämlich gar nicht so , wie es die Art der Lehrer war , sondern in der gewinnenden Manier eines älteren Freundes etwa , der seinen Vorsprung an Jahren und Reife als nebensächlich behandelt und ein Verhältnis von Vertraulichkeit zu schaffen oder wenigstens vorzutäuschen sucht , soweit dies möglich ist .
Er 11 * hatte sogar " Meine Herren ! " gesagt .
Und statt der Vorprüfung , die man befürchtet hatte , war es wirklich bloß eine Art Unterhaltung gewesen , bei der der Geheimrat jeden Anschein von Examinieren vermieden hatte .
Die Oberprimaner verließen das Schulgebäude also mit stolz erhobenen Häuptern , auf denen hellrote Mützen meist sehr weit nach hinten gerückt saßen .
Diese Mützen hatten die Form von umgedrehten kleinen niedrigen Näpfchen , nur drei der jungen Leute trugen solche von anderer Fasson , nämlich breite , hinten etwas nach abwärts gedrückte Deckel .
Diese drei Schlappdeckel , wie die anderen sie nach ihren Mützen nannten , gingen in sehr eifrigem Gespräche abgesondert .
-- Eigentlich war_es etwas gewagt von Schaunard , ausgerechnet die beiden Gracchen als seine Lieblings-Römer zu nennen , nachdem der Hohe Rat ihn wegen Sozialismus und Atheismus schon Mal hat schwenken wollen , sagte der Eine , ein untersetzter Bursch mit schläfrigen , aber nicht geistlosen Augen und einem bereits sehr dichten Schnurrbart . --
Aber mein süßer Rodolphe !
Du geruhst immer noch , Dich um drei Gramm dümmer zu Zweites Buch , fünftes Kapitel . stellen , als wofür Du uns hältst .
Du weißt so gut wie wir , daß Schaunard ein Psychologe von vielen Geraden ist .
Er hat diesen vortrefflichen Geheimrat bloß sehr gut erkannt .
Denn siehe da :
Schon ist er zu einer Privataudienz zurückbehalten worden !
Der das sagte , war ein dürrer brünetter Mensch mit einer sehr schönen Nase und wunderschönen braunen Augen , die leider hinter sehr starken Klemmergläsern saßen .
Er ging etwas gebückt , aber nicht aus irgend einem körperlichen Grunde , sondern aus philosophischer Koketterie .
Es wäre ihm ein Vergnügen gewesen , buckelig zu sein .
-- Marcel hat Recht .
Schläue und abermals Schläue !
Heute hat Schaunard seinen Abitur gemacht , sage ich !
Das Backpflaumenmännchen hat sich in ihn verliebt und wird ihn trotz allen Konrektorahlen Gekrähes und Geheules durchschleppen .
Wetten ?
Der so sprach , war ein sehr jung und zart aussehender Jüngling , der sich aber ein bisschen renommistisch gebärdete und damit den knabenhaften Eindruck seiner Person zu verwischen suchte .
Auffällig an ihm war seine Haarfrisur , die etwas an die napoleonische Zeit erinnerte , wo man es liebte , nach dem Vorbilde des Cäsaren die Haare ins Gesicht und über die Ohren zu streichen .
Wer Mürgers Boheme-Buch kennt , wird , nachdem die Namen Rodolphe , Marcel und Schaunard gefallen sind , ohne weiteres wissen , daß sich dieser Jüngling des Spitznamens Colline erfreute .
Diese Spitznamen waren übrigens in der Schule nicht allgemein gültig , sondern ein Reservatrecht des " Cénacles " oder der Vereinigung der vier Schlappdeckel unter sich , die , als zukünftige Dichter und Künstler , wie sie sich fühlten , sich das Cénacle in Mürgers Vie de Boheme zum Muster genommen hatten und sogar nach Möglichkeit die Ausdrucksweise ihrer Vorbilder nachahmten .
Sie hielten sich , im Gefühle ihrer Zukunft , sehr exklusiv gegenüber den anderen Primanern , die eingestandenermaßen bloß Pastoren , Lehrer , Ärzte , Juristen , Offiziere werden wollten , und wurden dafür wieder von diesen als überspannt und lächerlich abgetan .
Ihre bürgerliche Nomenklatur war diese :
Rodolphe : Bruno Wippert , Marcel :
Max Stössel , Colline : Ludwig Barmann , Schaunard : Willibald Stilpe .
Zweites Buch , fünftes Kapitel .
Stilpe war der Gründer des Cénacles und sein anerkanntes Haupt .
Er war damals , nachdem er sich von Martha getrennt hatte , nicht gar weit gekommen .
In Halle , das doch nicht auf der Route Leipzig-Athen liegt , hatte man ihn in einem Tingeltangel festgenommen , weil er in der Betrunkenheit unablässig laut und rhythmisch geschrien hatte :
Auf die Polizei gebracht und nach dem Grunde dieser mathematischen Rezitation gefragt , hatte er auf die ihm drohende Nachprüfung in der Mathematik als einen höchst triftigen Grund hingewiesen und überdies gebeten , man möge ihm seine Logarithmentafel holen , die in der Untersekunda der Leipziger Domasschule Zötus B auf seinem Platze liege , unten auf der letzten Bank rechts .
Damit hatte er sich zur Genüge als der durchgebrannte Gymnasiast aus Leipzig legitimiert , dessen Signalement auch auf der hallischen Polizei eingetroffen war .
Was sich dann begeben hat , bleibe im Schatten der Vergessenheit , wie auch Stilpe selbst nie mehr daran dachte .
Denn er liebte unangenehme Erinnerungen wenig und besaß ein ausgesprochenes Talent dafür , fatale Dinge zu vergessen .
Es fehlte nicht viel , daß er damals wirklich , aber nicht in Athen , die Stelle eines Sekretärs , aber nicht bei einem Privatgelehrten , erhalten hätte .
Der verzweifelte Lepidopterologe wollte ihn durchaus als Schreibgehilfe bei der Magistratskanzlei in Leißnig anketten .
Aber den Bitten der Mutter und den guten Urteilen über Willibalds Begabung , die einer seiner Leipziger Lehrer abgab , gelang es , den Vater zu einem letzten Versuche zu bewegen .
So kam Stilpe an das eben begründete Königliche Gymnasium der kleinen Stadt , in dem er es jetzt wirklich bis zum Oberprimaner gebracht hatte .
Auch hier war sein Studiengang nicht ohne Fährlichkeiten abgelaufen , denn die Lehrerkonferenz bedachte ihn mit ausgezeichnetem Mißtrauen , indem sie ihn bald für einen Freund wüster Zechgelage Zweites Buch , fünftes Kapitel . und bedenklicher Mädchen , bald für einen Propagandisten gemeingefährlicher Ideen ansah .
Aber er war klug geworden .
Ohne nach dem Ruhme eines Musterschülers zu geizen , aber auch ohne sich irgend etwas abgehen zu lassen , was er zu seinem Wohlbefinden für nötig hielt , lenkte er das scharf beobachtete Schiff seiner Schülerexistenz geschickt zwischen allen Präzeptorenklippen hindurch , indem er aufs Genaueste die Taktik befolgte , sich aller offenkundigen Manifestationen seiner Privatvergnügen zu enthalten .
Er war , wie er es selber einmal in seinem immer üppiger werdenden Tagebuch ausdrückte , " zur Höhe eines vorsichtigen Kynikers emporgestiegen " .
Was er seine Orgien nannte , feierte er in Leipzig , und den verbotenen Ideen frönte er still für sich , ohne etwa in deutschen Aufsätzen , wie damals als " biederer Sekundaner " , davon etwas merken zu lassen .
Vielmehr kultivierte er jetzt in seinem Schul-Aufsätzen , deren Gewandtheit und Schwung sogar anerkannt wurde , eine virtuosenhafte Jongleurkunst mit wohlgebauten Phrasen , in die er nur die bestakkreditierten Meinungen silbern und golden einspann .
Zum Glück lernte er in den drei bereits genannten Kameraden Leute von ähnlichen Neigungen kennen .
Zwar achtete er sie nicht für seiner ebenbürtig , ja er hatte sogar ein stilles Mitleid mit ihnen , weil sie , wie er bemerkte , noch " einige biedere Züge von Wohllöblichkeit " hatten , aber er fühlte es doch als einen sehr angenehmen Zufall , daß er in ihnen " Instrumente fand , auf denen er spielen konnte " .
Colline-Barmann war seine Baßgeige , Marcel-Stössel sein Fagott , Rodolphe- Wippert seine Trommel .
Natürlich empfanden sich die Drei selber als beträchtlich mehr , und er seinerseits ließ es ihnen nur selten merken , daß er " auf ihnen spielte " .
Auch liebte er sie in einem gewissen Sinne wirklich .
Einer ganz hingebenden Freundschaft war er zwar nicht fähig , aber die Frivolität seines zur Schau getragenen Zynismus gegenüber diesen Freunden war doch zum guten Teile bewußt angeschminkt .
Zuerst begann die Vereinigung der Vier mit einem literarischen Zirkel , " Lenz " genannt .
Dieser Titel galt in zweierlei Bedeutung .
Einmal in der , wie ihn die Lyriker als Synonym für Zweites Buch , fünftes Kapitel .
Frühling verbrauchen , und dann in der des Namens ihres literarischen Hauptheiligen .
Denn sie lasen damals ausschließlich Dichtungen der Sturm- und Drangperiode .
Dann schoben sich Ibsen und die Russen , dann Zola und der Naturalismus ein , und nun wurde aus dem Lesezirkel , wo man mit verteilten Rollen " Die Kindermörderin " , " Sturm und Drang " , " Der Hofmeister " gelesen hatte , ein Debattierklub , wo man vor allem " Herrn Schillinger " , den Dichter " des pp. Wallenstein " , vernichtete und Vorträge folgender Art hielt : " Die Wahrheit als einziges Prinzip der Kunst " , " Inwiefern Naturalismus und Sozialdemokratie Parallelerscheinungen sind " , " Emile Zola und Henrik Ibsen :
Die Tragesäulen der neuen Literatur " , " Worin liegt die Gemeingefährlichkeit des sogenannten Idealismus ? "
Zu dieser Zeit waren die Vier sehr rabiat .
Ihr zweites Wort war : Konsequenz .
Gewisse Namen durften , bei hohen Strafen , bis zu zwanzig Pfennigen , unter ihnen nicht genannt werden , so Paul Heyse und Julius Wolf .
Wer es wagte , " Schiller und Goethe " zu sagen , statt " Goethe und Schiller " , mußte , da gab es kein Erbarmen , Tabak für alle Vier auf einen Monat kaufen .
Aber auch Goethe galt nur für voll , " insoweit er nicht Geheimrat war " .
Das war sogar statutenmäßig festgelegt .
Shakespeare wurde fortwährend und mit besonderer Ehrerbietung genannt , aber doch mehr als " merkwürdiges Phänomen eines frühen Naturalismus . "
Denn es stand ihnen fest , daß die eigentliche Literatur jetzt erst begänne , und Stilpe führte den Gedanken mit Vorliebe aus , daß man jetzt in dem wirklichen Sturm und Drang stehe , aus dem der " neue und ganze Goethe " hervorgehen werde .
Wenn man ihn dann höhnisch fragte , ob er vielleicht Lust habe , diese Rolle zu übernehmen , so grinste er mit sichtlicher Anstrengung und sagte :
Vor der Hand sind wir Alle bloß Teig .
Das Leben wird uns erst kneten und backen .
-- Du aber hast die großen Rosinen , entgegnete ihm darauf Stössel .
-- Und Dir fehlt es an Salz , revanchierte sich Barmann aber ließ etwas von " zukünftigen Dreierbroten " vernehmen , und Wippert meinte , auch Hundekuchen sei ein Backwerk .
In diesem Stile bewegten sich die Verhandlungen des Debattierklubs , wenn man aufs Person Zweites Buch , fünftes Kapitel . liche kam .
Sonst war die Ausdrucksweise trotz der naturalistischen Tendenz mehr auf höhere Tropen bedacht .
Aber eines Tages , es war ganz zu Anfang des Oberprima-Jahres , begann Stilpe in einem neuen Stile und von anderen Dingen zu reden .
Er baute fürchterliche und schnöde Hyperbeln , fand den " Naturalismus in Worten " lachhaft , fragte , ob es " in diesem Neste " nicht ein Trictrac gebe und erklärte , die famoseste Mädchenfigur der Weltliteratur sei Mamsell Musette .
Dazu kamen die Worte : Nasenwärmer , Boheme , Cénacle und eine große Menge französischer Flüche .
Auch trug er fortwährend ein kleines Buch aus der Reklamebibliothek mit sich herum , das er sein Brevier nannte .
Eine Woche später sah man aber an dessen Stelle ein anderes , französisches .
Er sagte :
Ich lese jetzt meine Bibel im Urtext .
Durch diese Geheimthuerei voll herablassend abgegebener Andeutungen fühlten sich die Anderen beleidigt , und es wäre fast zu einem Bruch ge kommen , denn Stilpe behandelte sie im Grunde wie kleine Knaben , die nicht wissen , was ein Mädchen ist , da rückte der Adept endlich mit seinem Mysterium heraus , indem er eine Versammlung mit einem Schreiben einberief , das folgenden Wortlaut hatte :
Die ehrenfesten und rühmlichst bekannten Säulen des königlich sächsischen Gymnasialnaturalismus zu . . . werden hiermit so höflich wie dringend eingeladen , in der bescheidenen Behausung des unterzeichneten Renegaten und Müsettisten Schaunard , weiland Stilpe , zu erscheinen und außer zwei Steinguttellern mit Zwiebelwurst und Muldekaviar einen Vortrag entgegenzunehmen , dessen Titel und Thema ist :
Der Müsettismus als einzige und eigentliche Künstlerreligion , nachgewiesen an dem klassischen Werke wahrer Künstlerfreiheit und Laune :
Scenes de la Vie de Boheme par Henry Murger .
Zweites Buch , fünftes Kapitel . ( NB . !
Das Werk wird auch in einer Übersetzung herumgereicht , und im Urtext sind die schwierigeren Vokabeln in deutscher Übersetzung beigeschrieben . )
Nach beendigtem Vortrag wird der Unterzeichnete sich die Freiheit nehmen , zu beantragen was folgt :
Der naturalistische Debatterklub wird aufgehoben , und an seine Stelle tritt Das Cénacle der vier Schlappdeckel .
Zur Leitung der unausbleiblichen Debatte wird der ehrenwerte Naturalist Barmann berufen , falls er sich für die Dauer dieses Ehrenamtes seiner ihm angeborenen Grobheit zu enthalten verspricht , die vielleicht einem Naturalisten , nicht aber einem zukünftigen Cenaclier angemessen ist . NB . !
Vier Pariser Nasenwärmer sind heute eingetroffen und stehen , aber erst nach Konstituierung des Cénacles , zur Verfügung . NB . !
Der Unterzeichnete hat sich in Anbetracht des ungewöhnlichen und wichtigen Ereignisses in Unkosten gestürzt und vier Flaschen Bontet Canet ( Marke : Le petit bleu ) herbeigeschleift .
Doch wird man gebeten , Weingläser mitzubringen , da es stilwidrig wäre , Rotwein aus Bierseideln oder Kaffeetassen zu trinken . NB . !
Petita Molinarina wird die Honneurs der Schaunardschen Hütte machen , falls der gute Zufall , der Gott des künftigen Cénacles , es so einrichten sollte , daß die schauderhafte Mutter des erfreulichen Mädchens zur Zeit der Feierlichkeit nicht zu Hause wäre . NB . !
Da die Schildkröte des Unterfertigten , deren Intelligenz so häufig als überlegenes Gegenstück zu der des Hüh-Wüh- Konrektors anerkannt worden ist , sich leider entschlossen hat , seit vergangener Nacht als Leiche zu existieren , so erscheint es angemessen , sie künftig als Symbol des verewigten naturalistischen Debattierklubs in pietätvollen Ehren zu Zweites Buch , fünftes Kapitel . halten .
Sie wird in einer rosa auswattierten Zigarrenkiste als Tafelschmuck funktionieren . NB . !
Man spanne seine Erwartungen hoch !
Schaunard .
Da man das Muster dieser Einladung nicht kannte und überhaupt lauter Rätseln gegenüberstand , so wirkte das Schriftstück auf die Drei ungewöhnlich stark .
Völlig verblüfft war man aber , als man , der Einladung folgend , Stilpe erblickte .
Er präsentierte sich nämlich in Unterhosen und Frack .
Im Munde hatte er eine kurzgebissene rotbraune Tonpfeife , und sein ganzes Benehmen war ungemein zeremoniell und feierlich .
-- Petita Molinarina kann leider nicht gereicht werden .
Diese beklagenswerte Bourgeoise hat sich an meinen Unterhosen gestoßen und war nicht dahin zu bringen , zu begreifen , daß diese nur als Surrogat für weiße Nangkingpantalons anzusehen und damit nicht nur entschuldigt , sondern geradezu in die Sphäre des Schönen und Wohlanständigen erhoben sind .
Dafür ist die Schildkröte mit der 12 ganzen Würde eines amphibischen Leichnams zur Stelle .
Sie darf betrachtet werden , und ich bitte zu bemerken , wie sie im Tode noch mehr den rührenden Zug einer Familien- und Intelligenzverwandtschaft mit Sr. Brüllenz Hüh- Wüh hat .
Da auch der Rotwein keine Fiktion war , so stand einer fröhlichen Sitzungseröffnung nichts im Wege .
Barmann übernahm mit einem geharnischten Proteste gegen den Vorwurf der Grobheit den Vorsitz .
Seine Eröffnungsansprache , die er ohne Zweifel auswendig gelernt hatte , schloß schwungvoll so :
-- Und nun möge Stilpe , den wir einstweilen noch so und nicht anders nennen wollen , seinen Vortrag halten , an den sich ein so wichtiger Antrag knüpfen soll .
Ich bin beauftragt , ihm zu erklären , daß wir ernstlich indigniert sein werden , wenn sich seine Machination ( Stilpe : Oho ! ) als Frivolität entpuppen sollte .
Wir sind bereit , uns überzeugen zu lassen , aber wir werden entschieden und scharf Front machen gegen jeden Versuch , unsere augenblicklichen Prinzipien ( Stilpe :
Sehr gut ! ) nur mit den billigen Waffen seichten Witzes ( Stilpe : Zweites Buch , fünftes Kapitel .
Tautologie ! ) anzugreifen .
( Stössel und Wippert : Bravo ! ) Stilpe hat das Wort !
Stilpe erhob sich und machte jedem Einzelnen , zuerst dem Vorsitzenden , eine tiefe Verbeugung , wobei er beide Hände auf den Bauch legte .
Dann fuhr er sich mit entschlossenen Fingerkammstrichen durch die Haare , schleuderte seinen Zwicker ( sämtliche Schlappdeckel trugen schwarze Hornzwicker mit sehr breiten Bändern ) wie etwas überaus Lästiges von sich und begann :
Meine Herren Naturalisten !
Gleich vier Edelaustern unter unzähligen Massen niedrigen Kümmelkäses , harter Picklinge , gekrümmter Sardellen und anderer Mopdelikatessen verwandter Art befinden wir uns in dieser schäbigen Industriestadt und versuchen es , wenigstens unter uns den Sinn für Geistiges zu kultivieren .
Wir haben zuerst das denkwürdige Lesekränzchen " Lenz " gegründet und unterhalten , indem wir uns an den kühnen , wenn auch künstlerisch mangelhaften Bestrebungen der Sturm- und Drang-Dichter erbauten , die unter dem Rousseaurufe " retournons à la Natur " den Limonadenteich der damaligen Modeliteratur mit riesigen Klumpen Edel 12 * Metalls aus dem Schachte ihrer Seelen ausfüllten und damit beseitigten .
( Wippert : Ist das Bild von Dir ?
Stilpe : Ich gebe nur eigene Münze aus und verbitte mir im Übrigen Zwischenrufe von beleidigender Fraglichkeit .
Barmann : Die Kritik der Zwischenrufe steht bei mir .
Stilpe macht drei Verbeugungen vor der Person des Vorsitzenden . )
Nachdem wir damit zu Ende waren und keine Lust verspürten , die deutschen Klassiker , die im Pennal ohnehin genug malträtiert und zu Popanzen der Langeweile mumifiziert werden , auch unsrerseits privatim zu traktieren , haben wir uns , mitgerissen von der modernen Sturm- und Drangbewegung , entschlossen , den Lesezirkel Lenz durch einen naturalistischen Debattierklub abzulösen .
Wir haben die Hauptwerke der nordischen , französischen , russischen und deutschen Naturalisten nicht allein gelesen , sondern auch in heißen Debatten eingehend besprochen , und wir haben so , während unsere biedere Lehrerschaft von der Existenz einer solchen Literaturbewegung nicht viel mehr weiß , als eine Hebamme von unser lieben Frau Aspasia ( Allgemeines Bravo !
Ausgezeichnet !
Famos ! ) , in uns Alles aufgenommen , was heute in der Literatur Zweites Buch , fünftes Kapitel . aller Völker bewegend ist .
Wir können , wenn uns auch bei dieser Gelegenheit einige unregelmäßige Verba im Griechischen entfallen sein sollten ( Stössel : Man denke ! ) , auf diese Tatsache stolz sein , denn wir haben nach dem ewig zitierten , aber sonst nie befolgten Satze gehandelt :
Non scholae , sed vitae discimus ( Barmann , sehr laut : Jawohl !
Haben wir auch !
Stilpe : Gewiß , haben wir ! ) Wem aber soll unser Leben dienen ?
Irgend einem dieser sackleinenen " wissenschaftlichen " Broterwerbe , als da sind :
Die Lehre , den Menschen juristisch zu verblöden , die Lehre , den Menschen theologisch zu kastrieren , die Lehre , den Menschen medizinisch zu vergiften , die Lehre , den Menschen philosophisch zu benebeln , die Lehre , den Menschen philologisch zu schweinsledern ?
Bei allen schönen Mädchen und guten Geistern , wir rufen : Nein !
Sapristi !
Nein !
( Tosender Beifall .
Barmann schwingt die Arme . )
Unser Leben soll der Kunst dienen !
Wir wollen Dichter werden !
( Gläserklingen .
Hörbare tiefe Schlucke .
Stilpe lächelt . )
Aber eben darum , meine lieben Debattiernaturalisten , müssen wir jetzt unseren Debattier Club auflösen , dem Naturalismus Lebewohl sagen und den Müsettismus proklamieren !
( Alle möglichen Rufe durcheinander : Wieso !?
Was ist das !?
Nur nicht so fix !?
Wo hast Du denn das her ? )
Und nun erging sich Stilpe in einer Schilderung der Mürgerschen Boheme , als eines Musters für alle künstlerischen Seelen , die nicht bloß von Kunst reden , sondern Kunst leben wollten .
Natürlich sei " dieser Haufen Steine hier " nicht Paris , und sie selber seien ja noch für elf Monate " Geisteigene verschiedener patentierter Knabenerzieher " , aber der Grundgedanke dieses vorbildlichen Lebens :
Die Verbindung von Kunst und Genuß , von revolutionärem Streben und " Lachesinn " ( das Wort wurde beanstandet ) , kurz das , was er Müsettismus nenne , der müsse und könne gepflegt werden .
Um praktisch zu reden :
Man müsse , statt über Naturalismus zu debattieren , in fröhlichen Zusammenkünften brav trinken und eigene Lieder singen , man müsse sich entsprechende Mädchen beilegen , kurz man müsse nicht bloß in Worten , sondern in Werken " bald zwanzig " sein .
So erst werde Zweites Buch , fünftes Kapitel . man sich dem zukünftigen Berufe recht vorbilden :
Et nous chanterons à la ronde , Si vous voulez , Que je l'adore , et qu' elle est blonde Comme les bles !
Stilpes glutvolle Rede und zumal die Zitate aus dem Zigeunerleben wirkten absolut überzeugend , und der Antrag auf Gründung des Cénacles wurde mit ungewöhnlicher Begeisterung durch Akklamation angenommen . --
Vive le cénacle !
Vive le cénacle !
Stilpe konnte die eigentliche Sitzung mit der Verteilung der " Nasenwärmer " schließen , aus denen innerhalb einer Viertelstunde solche Massen von Tabakrauch produziert wurden , daß man die Notwendigkeit einsah , morgen in die Schule andere Röcke anzuziehen . --
Vive le cénacle !
Vive le cénacle !
Das Cénacle schloß die vier Schlappdeckel noch viel enger aneinander , als es die früheren Vereinigungen getan hatten .
In diesem Müsettistenklub lagen denn doch noch ganz andere Reize und Hilfsmittel der Freundschaft als in jenen Deklamier- und Debattier-Zirkeln .
Zwar waren auch jene unerlaubter und daher verführerischer Natur gewesen , aber ihr Fehler war Einseitigkeit .
Sie hatten die strotzende Fülle des Unerlaubten nicht kühn genug erschöpft .
Stilpe hatte das sehr klar erkannt und mit den an seine Lektüre von Büchners Kraft und Stoff erinnernden Worten ausgedrückt :
Wir haben an einer Hypertrophie der Zerebralbedürfnisse gelitten ; besinnen wir uns auf die -- Niederlande , ( hier hatte er gewartet , ob man seinen Witz verstünde ; da es nicht den Anschein hatte , fügte er erklärend hinzu ) -- : Wir müssen unseren werten Sinnen auch was zukommen lassen .
Aber das war es nicht allein .
Eine Hauptsuggestion lag in dem Worte : Paris .
Die vier Oberprimaner spürten das Komische , das in ihrer Imitation lag , nur wenig ( bisweilen Zweites Buch , fünftes Kapitel . nämlich doch , anflugweise ) , aber sie empfanden es als etwas verteufelt Keckes und Unverschämtes , den Ausbund der französischen Künstlerschaft zu kopieren .
Natürlich konnte die Kopie nicht sehr treu sein , aber das war ein Reiz mehr , daß sie ihre Muster in vielen Beziehungen wenden und drehen mußten .
Sie trieben den verrücktesten Unfug .
Die tote Schildkröte wurde allmählich ihr Wahrzeichen , indem sie sich daran erinnerten , daß eine Schildkrötenschale das Urmaterial zur griechischen Lyra abgegeben hatte .
Da sie , was Tric-trac sei , nicht ausfindig machen konnten , und es ihnen höchst notwendig erschien , auch ihrerseits etwas zu spielen , das nicht an den üblichen Skat der deutschen Primaner erinnerte , so legten sie sich ein japanisches Brettspiel bei , das " die Gabe hatte , Jeden , der im Verdauen war , unfehlbar und höchst angenehm zu idiotisieren " wie Stilpe behauptete .
Mit Eifer frequentierte man die sonntägigen Tanzvergnügungen auf den benachbarten Dörfern , die " Kuhschwöfe " , doch stellte es sich bald heraus daß sich dort nichts fände , was auch nur mit " Phemie Teinturiere " verglichen werden konnte , geschweige denn mit Mimi oder der völlig götzendienerisch verehrten Musette .
Dafür verliebte sich Stössel in die Tochter eines Gerbers , Wippert in die eines Viktualienhändlers und Barmann , der immer was ganz Ausgefallenes haben mußte , in das boshafteste und häßlichste Mädchen der Stadt , die Tochter eines Arztes .
Diese Liebschaften fand Stilpe allesamt blamabel , denn , so sagte er , selbst ein blindes Huhn sieht , daß sie irreparabel platonischer Natur sind .
Dafür ging er selber ein vollkommen und zielbewußt unplatonisches Verhältnis mit dem Dienstmädchen seiner Wirtsleute ein , einem stämmig liebenswürdigen Wesen , das sich für ihn hätte vierteilen lassen , so verliebt war es in ihn .
Er machte ganz heillose Gedichte auf dieses Verhältnis , und es gehörte zu den stürmischsten Augenblicken der Cenaclezusammenkünfte , wenn er diese freien Rhythmen losließ , die an Überschwänglichkeit Alles in den Schatten stellten , was den Schlappdeckeln an erotischer Lyrik bekannt war .
Im Übrigen wurden die Cénacle Zweites Buch , fünftes Kapitel . Zusammenkünfte mit Theetrinken ( doch war viel Rum dabei ) und den ungeheuerlichsten Gesprächen ausgefüllt .
Es durfte von Allem gesprochen werden , nur nicht von der Schule .
Hauptsächlich sprach man von zukünftigen dichterischen Plänen .
Stössel , der zugleich Musiker war , wollte Opern dichten und komponieren :
Wißt ihr , Opern moderner Art , voll fabelhafter Sinnenfreudigkeit , ungeheuer umfassend , allegorisch , aber lebendig !
Mehr war darüber nicht zu erfahren , und wenn er am Klavier saß , Kamms immer auf die ungarischen Rhapsodien von Liszt heraus .
Wippert hatte vornehmlich satirische Pläne .
" Juvenalia " sollte sein erstes Werk heißen mit dem Untertitel :
Ein Hechelepos in sieben Zinken .
Jede Zinke sollte " einen Hauptstand der gegenwärtigen Ordnung strählen " .
Die erste Zinke , in gereimten Hexametern , behandelte die Sippe der Gymnasiallehrer und begann so : Strähle mir , Zinke , den Mann , der schwitzend auf dem Katheder Mit höchsteigener Hand verteilt sein eigenes Leder !
Barmann hatte noch viel vom alten und neuen Sturm und Drang .
Obwohl er am wenigsten von der wirklichen Welt wußte ( wie denn Alle , mit Ausnahme Stilpes , ziemlich unwissend in diesem Punkte waren ) , haßte er diese Welt doch mit einem sehr grimmigen Hasse und wollte ihr " in machtvoll wahren , meinethalben krassen Dramen einen Spiegel vorhalten , daß sie sich vor Selbstekel übergeben sollte . "
Stilpe aber hatte so viel Pläne , daß niemand recht wußte , was er eigentlich vorhatte .
Manchmal fühlten sie ihm höhnisch auf den Zahn :
Ob er vielleicht immer bloß seine jeweiligen Betthasen besingen wolle ?
Er aber antwortete gelassen : Wohl möglich !
Jedenfalls wird immer mein Prinzip sein : Erst leben und dann dichten !
Ich heiße doch nicht Müller von der Werra , sapristi !
Ich bin doch nicht bloß zum Skandieren da !
Das Dichten ist bloß Wiederkäuen des Genusses .
Aber um wiederkäuen zu können , muß man vorgekäut haben .
Verlaßt euch drauf :
Ich werde enorm vorkäuen !
Die anderen fühlten instinktiv , daß er der Einzige unter ihnen war , der sein Programm sicher durchführen würde , und sie hatten deshalb viel Zweites Buch , fünftes Kapitel .
Respekt vor ihm , obwohl sie auch nicht ohne Neid waren .
So rollte das Jahr bis an die Schwelle der Abiturientenprüfung .
Bis auf Stilpe waren die Schlappdeckel so ziemlich sicher , daß sie das Examen bestehen würden .
Was aber ihn anging , so hatte Barmann recht gehabt , als er sagte , daß auch er jetzt so gut wie durchgekommen sei , da der Königliche Kommissarius ein so auffälliges Interesse für ihn an den Tag legte .
Der alte Geheimrat Ammer hatte schon aus den deutschen Aufsätzen dieses " zwar begabten , aber sonst in mehr als einer Beziehung bedenklichen Schülers " , wie er ihm bezeichnet worden war , gesehen , daß Stilpe in der Tat ein merkwürdig frühreifer Kopf und überhaupt ein ungewöhnlich angelegter Jüngling sei .
Die Probestunde mit den Abiturienten hatte ihm das noch deutlicher gezeigt .
Er hatte die Primaner aufgefordert , ihm zu sagen , welche Männergestalten ihnen aus dem Altertum am nächsten stünden .
Die Antworten lauteten durchgängig so , daß er sich über die völlige Gleichgültigkeit , die die jungen Herren gegenüber den antiken Männern empfanden , sehr klar wurde .
Wie oft war Odysseus genannt worden , sogar Cicero dreimal !
Nur dieser Stilpe hatte die Kurasche gehabt , die beiden Gracchen zu nennen und " mit schöner Offenheit " , wie der Kommissarius meinte , zu erklären , sie seien ihm deshalb besonders lieb , weil sie ihn " fast modern anmuteten in ihren sozialpolitischen Forderungen " .
Der Geheimrat machte sich sogleich ein Bild von der Entwicklung dieses ungewöhnlichen Jünglings , wie sie sich gestalten würde , wenn man ihn rechtzeitig und früh auf die richtigen Bahnen lenkte .
Unzweifelhaft : Ein zukünftiger Publizist !
Jetzt natürlich noch unreif und verworren , eines Tages wahrscheinlich sozialdemokratischer Idealist , aber dann , immer eine geschickte Beeinflussung vorausgesetzt , wahrscheinlich einmal eine glänzende und feste Stütze der staatserhaltenden Institutionen !
Dieser alte Geheimrat war ein sehr kluger Herr und ärgerte sich im Stillen rechtschaffen über die Zweites Buch , fünftes Kapitel .
Plumpheit , mit der sich die Lehrerschaften der verschiedenen Gymnasien die Gelegenheit entgehen ließen , Talente für den Staat zu erziehen , die den staatsfeindlichen Gewalten in der Hauptsache deshalb zum Opfer fielen , weil sie sich schon auf der Schulbank zu Revolutionären gestempelt sahen .
Sein Bestreben war , wenigstens im letzten Augenblicke gut zu machen , was noch gut zu machen war .
Daher auch sein Verhalten Stülpen gegenüber .
Er behielt ihn , als die anderen Schüler fortgingen , zurück und machte den Weg in sein Hotel mit ihm zusammen .
Dabei verhehlte er ihm nicht , daß seine Aussichten , das Examen zu bestehen , nicht eben glänzend wären , aber er ließ auch deutlich durchblicken , daß mancherlei zu seinen Gunsten in die Waagschale fiele . --
Nehmen Sie beim deutschen Aufsatz alle Kräfte zusammen !
Gelingt der Ihnen so gut wie die häuslichen Aufsätze , so haben Sie viel gewonnen .
In der mündlichen Prüfung hoffe ich mir eine gute Leistung im Übersetzen aus dem Griechischen und Lateinischen ins Deutsche .
Zeigen Sie , daß Sie den Geist der Alten schnell erfassen können !
Daß Sie so manches , zumal Mathe madig und alles Grammatikalische , so vernachlässigt haben , ist schlimm , sehr schlimm , aber , wenn Sie zeigen , daß Sie dafür anderen Dingen um so mehr Liebe entgegenbringen , dann wird sich das gelinder ansehen lassen .
Und nun noch dies :
Was Sie auf der Schule in Hinsicht der sittlichen Führung gefehlt haben , machen Sie das auf der Universität gut !
Wenn Sie , wie ich hoffe , auf unserer Landesuniversität studieren werden , so wird es mir eine liebe Aufgabe sein , Sie in den Augen zu behalten .
Vergessen Sie das nicht !
Stilpe antwortete mit edler Offenheit und in gut zu Tage geförderten Sätzen , die eine heiße Dankbarkeit und tiefe Vorsatzname alles Guten schön erkennen ließen .
Der Kommissarius :
So sei es !
Ich hoffe , wir werden uns auch in veränderten Verhältnissen noch sehen und sprechen .
Meine Anteilnahme für Sie gründet sich auf eine gute Meinung und wird so lange andauern wie diese .
Denken Sie immer daran !
Es handelt sich um mehr als die Reifeprüfung .
Stilpe ( sehr leise und mit einer fast zärtlichen Tonfärbung ) : Ich werde immer an diese gütigen Zweites Buch , fünftes Kapitel .
Worte denken und bestrebt sein , mich ihrer würdig zu erweisen .
Händedruck und ein tiefer Abwärtsschwung der Schlappmütze .
Als der Geheimrat verschwunden war , setzte Stilpe seine Mütze nicht wie sonst auf den Hinterkopf , sondern tief in die Stirn .
Er kam sich unendlich brav vor und stieß seine Vergangenheit energisch von sich .
Kein Zweifel :
Er würde das Examen bestehen !
Und mehr noch :
Seine Zukunft war gemacht .
Dieser Geheimrat hatte erkannt , was in ihm steckte , und es wäre ein Frevel , sein Vertrauen zu täuschen .
Wer weiß , was er mit ihm vor hatte !
Offenbar ganz hohe Posten !
So etwa als literarischer Regierungssekretär oder . . . aber gleichviel :
Irgend etwas sehr Angesehenes .
Natürlich : Erst studieren , und zwar neben Kunstgeschichte und Literatur auch Jurisprudenz !
Seine alten Pläne waren durchaus versunken .
Hier winkte Außerordentliches !
War 13 nicht auch Goethe Geheimrat und Minister gewesen ?
Das war_es , was winkte !
Die Verbindung von Staatsmann und Poet .
Sollte er etwa wie Lenz untergehen ?
Nein : Seine Sturm- und Drangperiode war vorüber . Endgiltig .
Hinter ihm Nebel des Wüstseins , vor ihm die breite , sonnenhelle Marmortreppe zu Einfluß und Ruhm und Reichtum .
Oh diese Eselhaftigkeit , zu vergessen , daß ohne Reichtum Genuß undenkbar ist .
Was wäre ich geworden ?
Ein genialer Lump !
Eine hungrige Berühmtheit , nein , pfui Teufel , ein Literat !
Was hätte ich gehabt ?
Nichts zu essen und mediokere Weiber , Nähmädchen , höchstens Choristinnen .
Nun aber !
Stellung und Ansehen !
Mitten in den höchsten Kreisen !
Ach , diese aristokratischen Damen !
Alles an ihnen Schönheit und Eleganz , rauschende Seide , feinster Geist !
Er sah einen ganzen Hofball vor sich von nackten Schultern und Brüsten , Diademe in duff Zweites Buch , fünftes Kapitel . tenden Haaren , heiße Blicke hinter Straußfederfächern .
Und er fing gleich zu dialogisieren an : --
Ah , Exzellenz , Ihr letztes Drama , wie herrlich !
-- Hat es Ew. Hoheit Beifall ? --
Ach , ich bin hingerissen !
Und die Herzogin sah ihn glühend an , diese Herzogin , die geistreichste Frau des Hofes , und so jung und schön !
Ah !
Ein ganzer Roman entzündete sich in ihm .
Zuletzt lag er der Herzogin zu Füßen und küßte ihr die Knie , und sie neigte sich über ihn , und er küßte sie auf die . . . -- Höhe !
Schaunard !
Musterknabe !
Favorit !
Prima-Nota-Jüngling !
Die drei Schlappdeckel !
Ekelhaft !
Er machte ein ärgerliches Gesicht :
-- Was wollt ihr !!! --
Na !
Na !
Na !
Stolz und grob wie ein Günstling !
-- Ich verbitte mir diese Albernheiten . --
Köstlich !
Er verbittet sich ! --
Er ver--bit--tet sich ! --
Unglaublich !
Weil ihm der Geheimrat die Hand gedrückt hat , ist er übergeschnappt .
13 * --
Das ist ein Zeichen von schwacher Zerebralkonstitution . --
Affen ! --
Hahahaa !
-- Er sieht förmlich frisiert aus . --
Guckt nur , wie er die Mütze aufhat ! --
Er hat ja einen Heiligenschein ! --
Sogar zweie , einen um den Kopf und einen um den Hinteren .
-- Aber ein bisschen verblödet sieht er aus . --
Man könnte fast stupid sagen .
Stilpe machte ein Zeichen der Verachtung , und zwar so :
Er fuhr über die dünn stehenden schwarzen Haare seines Schnurrbartes und hustete dann in die Hand . --
Der reine Gesandtschaftsattache !
-- Ich glaube , der Geheimrat hat ihm einen Schwor abgenommen , Jurist zu werden .
-- Habe wenigstens die Gnade , uns zu sagen , ob Du noch mit uns verkehren willst .
Das sagte Stössel .
Aber Barmann fuhr hinterdrein : -- Was !
Er !
Ob er will !
Ob wir wollen !
Das ist die Frage !
Ein Mensch , der offenbar zu Kreuze gekrochen ist !
Ein Renegat !
Zweites Buch , fünftes Kapitel .
Wippert : Ein Feigling !
Barmann : Pater peccavi hat er gemacht !
Stoffel : Höre Mal , mein Lieber , Du hast wohl die beiden Gracchen zurückgenommen ?
Barmann : Ja , und Cicero als Lieblingsrömer proklamiert , wie dieses Stint , der brave Müller-Emil !
Das war Stülpen zuviel .
Dieser Vergleich wühlte seine ganze Natur auf , und er sprach :
-- So !
Also bis zu dieser Niederträchtigkeit depraviert euch ein jämmerlicher Neid !
Wißt ihr , was ich getan habe ?
Ich habe diesem Biedermann gesagt :
Nicht die beiden Gracchen verehre ich am höchsten , denn das sind die Nationalliberalen des alten Rom , und sie kommen mir vor , wie zwei rot angemalte Zuckerstengel . . . --
Das hast Du nicht gesagt ! --
Beim Momus , das habe ich gesagt !
Und noch was habe ich gesagt : Mir imponiert überhaupt gar keiner in der ganzen alten Toga-Gesellschaft mit Ausnahme von . . . -- Von . . . !? . . Na . . . ? . . . --
Von Catilina ! --
Donnerwetter !
Ist der Kerl nicht in Ohnmacht gefallen ? --
Ach Der !
So ein Amphibium !
Habt ihr nicht bemerkt , daß er aussieht , als wenn er einem Aquarium entsprungen wäre ?
Wenn man ihn grün anstriche , könnte man ihn von einem Laubfrosch nicht mehr unterscheiden .
So sprach Schaunard .
Sechstes Kapitel .
Stilpe kam , während er sich auf das Abiturientenexamen vorbereitete , noch manchmal auf seine Hofdichterphantasien , wie er es nun nannte , zurück .
Die Vorstellung , einmal eine Rolle in der großen Welt zu spielen und dabei Verhältnisse mit Herzoginnen anzuknüpfen , tat ihm zu wohl , als daß er endgiltig auf sie verzichten sollte .
Aber im Ganzen erwies sich Henri Mürger doch stärker , als Geheimrat Ammer .
Wenn sich beides vereinigen ließe ! war sein Lieblingsgedanke .
Und er fabulierte sich auch diesen Gedanken .
Warum sollte es nicht möglich sein ?
Es kam lediglich auf den Potentaten an , mit dem er es zu tun haben würde .
War nicht Karl August anfangs ein sehr fideler Bruder gewesen ?
Hatte er nicht auch mit der Reitpeitsche geknallt ?
Daß er schließlich so gräßlich ernsthaft geworden ist , wer war daran schuld , wenn nicht Goethe selber , der eben in sich den Geheimratskeim schon geerbt hatte von seinem Vater ?
Goethe und Lenz in einer Person zu sein das war das Problem , das war das Ideal !
Indessen dachte er dabei doch mehr an Lenz , als an Goethe .
Auch Günther , dem " sein Leben wie sein Dichten zerrann " , fiel ihm zuweilen ein , doch kannte er von diesem nichts .
Aber er verehrte ihn sehr und nannte ihn oft , nur eben , weil Goethe so von ihm gesprochen hatte . --
Ein fabelhafter Kerl , dieser Günther ! dachte er bei sich , und er las oft , was Goethe über ihn geschrieben hat .
Man sollte ihn eigentlich lesen .
Na , später !
Überhaupt , er schob jetzt noch mehr auf , als es ohnehin seine Art war .
Das Examen bedrückte ihn doch , obwohl er nicht mehr daran zweifelte , daß er durchkommen würde .
Aber es blieb eine unangenehme Perspektive und fatal wie alles Unvermeidliche .
Zweites Buch , sechstes Kapitel .
Sein Haupttrost war Bertha , das Dienstmädchen .
In Deinen blauen Augen , Schatz , Sind keine Wolken , Also sage ich :
Es gibt Keine Wolken .
Stössel machte eine Parodie auf diese freien Rhythmen :
Unter Deinen tümpelbraunen Augen , Schaunard , Sind schwarz-grüne Wolken , Also sage ich : Du bist Eine schwarz-grüne Wolke .
Und das war richtig :
Stilpe sah sehr schlecht aus , so schlecht , daß man wirklich glauben konnte , er überarbeite sich wegen des Examens .
Er fand das riesig interessant und gewöhnte sich überdies an , die Lippen nach unten zu ziehen , um das Ansehen beständiger Weltverachtung zu haben .
Freilich stimmte das nicht zur Heiterkeitsdevise des Cénacles , aber eben das war wieder paradox , und das Paradoxe hielt Stilpe damals für die Hauptsache .
Das Examen kam heran .
Alle Vorbereitungen waren getroffen .
Die Übersetzung ins Griechische abonnierte er bei Wippert , die ins Lateinische bei Barmann , die Mathematikaufgabe bei Stössel .
Es war sehr gut , daß für jedes Manco seiner Schultüchtigkeit im Cénacle Rat geschafft werden konnte .
-- Wir sind die reinen Freimaurer , sagte Stilpe , wir lassen keinen *** Bruder bankrott gehen .
Es lebe Musette !
Es lebe der Kommunismus der überflüssigen Kenntnisse !
Schade , daß ich euch gar nichts dagegenbieten kann .
Höchstens , daß Barmann von meinem französischen Stile zehren könnte .
Aber Barmann verzichtete und meinte , er könne seine grammatikalischen Fehler alleine machen .
Und es ging Alles gut vorüber , obwohl Stilpe die Mathematikaufgabe sogar falsch abschrieb .
Dafür errang er einen Triumph im deutschen Aufsatz , der das tiefe Thema behandelte :
Wie befreite sich Goethe von den Fehlern der Sturm- und Drangperiode ?
Zweites Buch , sechstes Kapitel .
Hei , wie da Stilpe ins Zeug ging !
Er war ganz Hofpoet , ganz Harmonie , ganz " Weltauge " .
Ohne es sich merken zu lassen , natürlich , identifizierte er sich während der fünf Stunden , da er seine Perioden baute , völlig mit Goethe und endete mit einem feierlichen Panegyrikus auf Karl August , der gleichfalls " aus Sturm und Drang emporgedieh zur fürstlichen Ruhe schönheitbeschirmender Macht " .
So gut hatte er den königlichen Kommissarius verstanden .
Auch im mündlichen Examen ging Alles vortrefflich , und das Ende war , daß Stilpe mit Note 2 b das Zeugnis der Reife zum Universitätsstudium erhielt .
Eine große Cenaclefeier schloß sich der Verkündigung der Examenergebnisse an .
Man trank lediglich deutschen Schaumwein , und Stilpe verwahrte sich gegen alle literarischen Gespräche .
Dafür wurde lebhaft darüber debattiert , ob ein Cenaclier in ein Korps oder in eine Burschenschaft einspringen müsse .
Man kam aber zu keinem Entschluß , sondern setzte fest , daß darüber endgiltig in einer letzten Cenaclesitzung zu befinden sei , die man im Freien , draußen an den Ufern der Mulde , abhalten wollte .
Im Übrigen waren alle Vier vollkommen betrunken , als dieser Beschluß gefaßt wurde , Stilpe aber immerhin noch mehr als die anderen .
Er wollte durchaus ein Korps " Bertha " gründen und rief beharrlich mit lallender Stimme :
Bertha seist Panier !
Der Abiturientenball war vorüber , der Abiturientenkommers war vorüber .
Nun kam am letzten Tage ihres Aufenthaltes in der Gymnasialstadt die Schlußsitzung des Cénacles .
Bedeckt mit großen schwarzen weichen Filzhüten ( aber Stilpes Hut war der breiteste ) wanderten sie zu einem an der Mulde gelegenen Dorfe .
Jeder trug einen dicken Spazierstock , jeder trug ein rotes Klemmerband .
Jeder lächelte Zweites Buch , sechstes Kapitel . souverän , wenn Bürgerin und Bürgersmann mauloffen stehen blieb .
Aber Stilpe lächelte am souveränsten , denn er trug in der linken Hand die Schildkröte .
Als sie dem Polizisten begegneten , der sie einmal abends beinahe arretiert hätte , lüftete Stilpe mit großem Schwunge seinen Hut und fragte ihn :
-- Sagen Sie , Bürger Nationalgardist , ist das der Weg ins Bois de Boulogne ? --
Quatsch ! antwortete der Polizeidiener , worauf Stilpe den Kopf schüttelte und bemerkte :
-- Dieser Funktionär spricht ein ungewöhnliches Französisch .
Er scheint das hiesige Gymnasium frequentiert zu haben . --
Der Frühling scheint mir noch nicht ganz fertig zu sein , sagte Stössel , als sie außerhalb der Stadt waren . --
Es ist der richtige Mulus-Frühling , erwiderte Wippert .
-- Der Religionslehrer an der höheren Bildungsanstalt dieser Stadt würde sagen :
Mit ein wenig mehr Eifer hätte der Schüler sein Ziel vollkommener erreichen können ! fügte Wippert hinzu .
Stilpe aber sang , indem er Fechthiebe phantastischer Natur in die Luft schlug :
Der Frühling ist ein Mädchen , Das Bertha Linke heißt , Oh weh , daß aus dem Städtchen Schaunard , der Knabe , reist , Ein Knabe sonder Makel , Der Knabe Schaunard , Der treu dem Cénacle Und Fräulein Bertha war .
Oheh !
Oheh !
Das Leben ist ein Kuhschwof , Und Scheiden tut nicht weh .
Sofort schwangen die Drei gleichfalls ihre Stöcke und sangen mit Überzeugung :
Oheh !
Oheh !
Das Leben ist ein Kuhschwof , Und Scheiden tut nicht weh .
Stilpe aber sang weiter ( es hatte den Anschein einer sorgsamen Vorbereitung ) : Der Tacitus Ist kein Genuß , Zweites Buch , sechstes Kapitel .
Wenn man ihn präparieren muß , Dagegen lieb ich sehr Den Vater Homer , Denn ich lese , denn ich lese , Denn ich les ihn nimmermehr !
Stürmischer Kehrgesang der drei , sechsmal wiederholt .
Und wieder Stilpe :
Und die Mathematik Hatte ich lange schon dick , Fast wäre_es ihr gelungen , und sie brach mir_es Genick .
Da sangen die Drei nicht mit , denn in diesem Punkte fühlten sie sich Stülpen überlegen .
Aber das hielt ihn keineswegs ab , weiter zu singen :
Wer weiß mir zu raten , Wo finde ich , wo , In Schobern und Schwaden Das trockenste Stroh ?
Liebwerte Kameraden , Ach , sagt es mir : Wo ?
Als wenn er auf Antwort wartete , schwieg er einen Augenblick , dann gellte er in höchster Fistel :
Im Ci--cero !
Und alle Kehlen stimmten krähend bei :
Im Ci--cero !
Im Ci--cero !
Stilpe aber , in der Melodie des Postillons von Lonjumeau :
Hoho !
Hoho !
Das steifste Stroh Verzapft Herr Konsul Cicero !
Unter diesen und ähnlichen anmutigen Gesängen erreichten sie das Dorf an der Mulde , das das Cénacle für würdig gefunden hatte , zum Schauplatz seiner letzten Sitzung zu ernennen .
Nun , es ging hoch her , und vorzüglich in Versen .
Eigentlich hatte man vorgehabt , hier , mit freier Benutzung des Hambacher Festes als Vorbild , sämtliche Schulbücher zu verbrennen , aber Stilpe hatte sich rechtzeitig des Deklamators in Zweites Buch , sechstes Kapitel .
Leipzig erinnert , wo man diese nichtswürdigen Schwarten gewinnbringender anlegen könnte , und so unterblieb dieser Teil des ursprünglichen Programmes .
Dafür wurde die Schildkröte des Cénacles , " in ihrer Eigenschaft als Symbol einer in Unfreiheit befangenen Vereinigung und um ihrer nachgerade störend wirkenden Ähnlichkeit mit jenem pp .
Pädagogen Willen " , in die Mulde geworfen , wozu man sang : Lebewohl !
Lebewohl , Niederträchtiges Symbol !
Schwimme vorbei !
Schwimme vorbei , Schauderhaftes Konterfei !
Dann aber hob Stilpe seine große Schlußrede an , die mit den beifallumtosten Worten endete :
Le cénacle est mort !
Vive le cénacle !
Und man schwor sich , in Leipzig " keinesfalls den atavistischen Farbenblödsinn jener kläglichen Jünglinge mitzumachen , die einer bunten Mütze bedürfen , um sich als Studenten und freie Bürger einer Universität zu fühlen , sondern sofort ein neues , das eigentliche Cénacle zu gründen als die erste künstlerische Studentenverbindung mit neuen Bräuchen und neuen Zielen ! " 14 Eine unendliche Debatte knüpfte sich an diesen Schwor .
Stilpe entwickelte das größte Programm : 1 )
Jeder muß ein Mädchen haben ( aber richtig haben , nicht etwa bloß in dieser knabenhaft blümeranten Manier ! ) . 2 )
Jede Ähnlichkeit mit bestehenden Verbindungen muß vermieden werden .
Keine Mützen !
Sondern graue Zylinderhüte ! 3 )
Man geht nur auf Säbel los !
Die Schläger sind pur enfantillage .
( Das Wort war ihm aus der Vorrede zur deutschen Übersetzung der Vie de Boheme geläufig. ) 4 )
Man muß eine Zeitschrift gründen . 5 )
Man muß sich einen Barbemuche zu verschaffen suchen , d. h. einen ehrgeizigen Esel , der für " bessere Bowlen " sorgt .
Dieses Programm wurde im Allgemeinen angenommen , eine sehr genaue Beratung und Ausarbeitung jedoch vorbehalten .
Als man sich dann zum Heimgehen anschicken mußte , weil das Dorf eine " geradezu mittelalterliche " Polizeistunde hatte , war Stilpe so betrunken , daß die Drei ihn schleppen mußten .
Unaufhörlich stellte Zweites Buch , sechstes Kapitel . er den Antrag , für Cénacle künftig Berthacle zu sagen und ihn zum Geheimrat Ammer zu bringen , wo er sich durchaus vorstellen müsse .
Die Anderen aber sangen unablässig , fast pausenlos :
Auf in den Kampf Tore--e--e--ero !
14 * Drittes Buch VIR IVVENIS Dominus STILPE In Gottes Apotheke gehrt Ein Stoff , der ist mir herzlich wert , Ihm habe ich mich ergeben .
Wäre er nicht da , die Welt wäre hohl ; Oh Du viel lieber Alkohol , Von Dir lernt ich das Schweben .
Jawohl !
Jawohl !
Das Schweben zwischen den Polen , Das lehrte mich der Alkohol ; Will mir einmal der Teufel wohl , Soll er mich Alkoholen .
Aus Stilpes zerstreuten Versen .
Erstes Kapitel .
Wenn ein neues Semester begonnen hat , pflegen die farbentragenden Studentenkorporationen in Leipzig mit besonderem Eifer das zu kultivieren , was sie den Grimmschen Bummel nennen .
Es ist das eine Art stolz geschrittenen Corsos auf der Grimmmaischen Straße , wobei sich die zu einem größeren Gesamtverbande gehörigen Verbindungen sehr feierlich nach der gerade im Schwange befindlichen Mode begrüßen .
Denn die Art , die Mütze abzunehmen , ist unter Couleurstudenten gewissen zyklischen Schwankungen unterworfen .
Auch hier ist das Walten harmonischer Gesetze erkennbar .
Alte Semester haben darüber kulturhistorisch bedeutsame Aufzeichnungen gemacht , aber das Verdienst , das Gesetz des Zyklus erkannt zu haben , gebührt der kleinen Anna , einem Mädchen von sehr ausgedehnten Bekanntschaften in corpsstudentischen Kreisen .
Wie die Muse der Geschichte hat sie die Semester an sich vorüber streifen ( ja , streifen ) sehen und dabei dies beobachtet :
Als Beginn eines Zyklus ist allemal die primitive Zeit zu betrachten , wo man die Mütze ganz einfach vorn beim Schild ergreift und sie in leichtem Bogen ziemlich senkrecht nach unten schwingt .
Dann folgt :
Die Periode des rechten Randgriffs , die in zwei Unterabteilungen zerfällt : a ) man ergreift die Mütze am rechten Rande und führt sie mit gebogenem Arm langsam nach vorn , b ) man ergreift sie wie unter a , führt sie aber nicht nach vorn , sondern stößt sie rechtsseitig steif nach oben .
Sodann folgt die Periode des hinteren Randgriffs , bei der die Mütze also am hinteren Rande ergriffen wird .
Sie hat drei Unterabteilungen : a ) weiter Bogen nach vorn , b ) steifer Stoß nach oben , Drittes Buch , erstes Kapitel. c ) ganz kurze Lüpfung , wobei das Schild und der vordere Rand fest aufliegen bleiben .
Diese Phase , als gewöhnlich letzte des Zyklus , hat etwas marode Dekadentes .
Zuweilen fügt sich als vierte Periode noch der vordere Randgriff an , der sich als Pendant zu 3c kennzeichnet .
Gewöhnlich indessen beginnt der Zyklus nach der kurzen Lüpfung aufs Neue .
Natürlich sind in diesem kurzen Abriß alle Nuancen , deren es sehr feine gibt , beiseite gelassen worden .
Man befand sich wieder einmal in der Periode 3 b , als das weiland Cénacle die Leipziger Universität bezog , und es gab keinen Fuchs , der die Mütze so energisch nach oben stieß , wie der stud. Phil. et jur .
Willibald Stilpe oder , wie er auf der Matrikel feierlich und lateinisch hieß : vir iuvenis dominus Stilpe leissnigensis .
Die Mütze , die er in dieser Weise handhabte , sah gelb aus , genauer gesagt : Kanariengelb , und zeigte außerdem einen weißen und einen schwarzen Streifen .
Stilpe war , uneingedenk des Schwurs an der Mulde , einer Verbindung beigetreten , einer Verbindung schlechthin , die nicht Korps , nicht Burschenschaft , nicht Landsmannschaft war .
Das Kanariengelb war schuld daran .
Stilpes koloristischer Blick hatte sofort bemerkt , daß diese Farbe zu seinen glänzend schwarzen Haaren eminent ( das Wort liebte er jetzt ) stehen müsse , und es lag überhaupt etwas Schmetterndes , Verwegenes in ihr , etwas , das zu seiner augenblicklichen Stimmung genau paßte .
-- Bitte , was kostet diese Handelsstadt ?
Nur keine Bange !
Nur den Preis genannt !
Ich zahle ohne Feilschen .
Ein Triumphatoren- , ein Sankt Georgsgefühl !
Hinter ihm , ein widerlich geschwollenes Grau , lag der überwundene Drache Gymnasium , vor ihm breiteten tausend junge schöne Mädchen glänzende Teppiche aus , weit ins Land hinein , wo rechts und links die angenehmsten Dinge als rotgoldene Ähren auf gelbgoldenen Halmen schaukelten .
Bloß mitnehmen !
Bloß Einscheuern !
Sklaven Drittes Buch , erstes Kapitel . wimmeln ringsum und schielen aus tiefer Verbeugung nach Seiner Herrlichkeit gelassenen Winken . . . Und diese vielen Restaurants !
Und keins verboten !
Kühn darf man mitten in Damenbedienung sitzen und das Taschentuch behaglicher Paschawünsche werfen .
In dieser Stimmung hatte er sich ohne viel Besinnen die kanariengelbe Mütze aufgesetzt .
Und nun saß sie fest und sah gut aus .
Nachdem er sich für sie einmal entschieden hatte , erbaute er sich aber auch ein System von Gründen dafür , daß er just in eine simple Verbindung , nicht in ein Korps , nicht in eine Burschenschaft , nicht in eine Landsmannschaft eingetreten war :
Das Korps : Rückständige Institution aus unfreien Zeiten , daher Fuchsenssklaverei , Burschentyrannis , starrer Formelenkram ; die Burschenschaft :
Entweder rückständige Romantik , Tugendbund und Keuschheit bis zum Ehebette oder Form ohne Inhalt ; die Landsmannschaft : Traditionslose Neugründung , bemäntelt mit einem alten Namen , ohne Wurzeln im Alten , ohne Greifranken ins Neue : Zwitter .
Die bloße Verbindung dagegen , nun ja :
Das war eben eine Sache für sich , etwas mehr Improvisiertes , das daher auch nicht so umklammerte und absorbierte .
Zweifellos bot sich hier auch die leichtere Möglichkeit , eine beeinflussende Stellung zu erhalten .
Und das ist doch wohl das Wichtigste !
So verteidigte sich Stilpe vor sich selber .
Erst hinterher kam ihm der Gedanke :
Aber warum denn überhaupt eine farbige Mütze ?
Das war ja doch wohl eigentlich eine Kinderei , -- wie ?
Ein Atavismus ?
Ein testimonium paupertatis animi ?
Hatte er nicht das Wort geschliffen :
Ein freier Kopf braucht keine bunte Mütze ?
Gewiß , gewiß !
Aber :
Si duo faciunt idem , non est idem !
( Seitdem er nicht mehr Latein treiben mußte , zitierte er viel Lateinisches . )
Für jene anderen ist die Mütze eine gewisse Notwendigkeit und ein Ziel ; für ihn aber nichts als ein in souveräner Laune frei gewähltes Mittel .
Mittel , -- wozu ?
Erstens zur Erzielung gewisser landsknechthafter Empfindungen !
Denn es steckt Historie in dieser Institution des wehrhaften deutschen Rauf- und Sauf-Studenten und ein rechter Kerl zeigt seine Rasse ; und zweitens zur Kenntnis eben dieses Drittes Buch , erstes Kapitel .
Milieus für seine zukünftige künstlerische Verwertung , denn : Wie sollte er einmal den deutschen Studenten darstellen , wenn er nicht auch diese Spezies studiert hatte ?
So rechtfertigte er , der nicht gerne etwas bereute , aber noch weniger gerne etwas unterließ , was ihm lustig dünkte , vor sich selber den improvisierten Schritt , und er legte sich damit auch gleich die Sätze zurecht , mit denen er den Cénacliers entgegentreten wollte , wenn sie ihm mit den Einwendungen kommen würden , die ja eigentlich aus der Rüstkammer seines Intellekts stammten .
Er hatte sogar vor , sie für seine Verbindung zu keilen .
Indes : Er kam zu spät .
Eines Tages , als er mit seiner Mütze und seinen Verbindungsbrüdern leuchtend den Grimmschen Bummel absolvierte , gewahrte er , obwohl er regelrecht und stolz geradeaus ging und scheinbar kein Auge für andere Couleuren hatte , unter den fünf Mitgliedern eines rotmützigen Korps -- Stössel .
Es gab ihm einen Ruck , und schon wollte die Hand zum hinteren Rande der gelben Mütze zucken , da kam ihm noch rechtzeitig die Kluft zum Bewußtsein , die zwischen diesem schmetternden Gelb und jenem trüben Rot lag .
Und er lächelte nur ein wenig und dachte bei sich : -- Schau , schau , -- Corpsier !
Dieser Knabe Marcel war immer ein bisschen eitel .
Nun , mögen sie ihn bisaken , die Herren C. B. C.B. Übrigens sah er schon verbisakt genug aus .
Natürlich wird er mich verachten . . . Wie ?
Er ?
Mich ?
Er möge sich_es gefälligst unterstehen !
Dieses Knickebein !
Sah er nicht aus wie ein frisiertes Meerschweinchen ?
Welch ein üppiger Knabe !
Im Grunde war es ihm höchst ärgerlich , daß Stössel Corpsstudent geworden war , und er bemerkte plötzlich , daß seine Verbindungsbrüder an äußerer Eleganz einiges zu wünschen übrig ließen .
Er nahm sich vor , da Wandel zu schaffen .
Kaum , daß er seinen Ärger ein bisschen verwunden hatte , sah er Barmann als hellrotmützigen Burschenschaftler vorüberziehen .
Diesmal dachte er schon nicht mehr ans Grüßen und verfolgte mit innerlichstem Wohlgefühl die Hand des wackeren Colline , die schon an der Mütze saß , um dann freilich schüchtern herabzusinken .
Und Stilpe dachte dies :
-- Was man nicht Alles erlebt !
Dieser Colline , Drittes Buch , erstes Kapitel . der einen Vortrag im Cénacle hielt über " die Epoche der patriotischen Phrase " , als Fahnenschwinger für Ehre !
Freiheit !
Vaterland !
. . . !
Gut !
Gut !
Allerliebst und sehr niedlich !
Die Haare haben sie ihm aber schon nach hinten gekämmt .
Und wie er errötötöte !
Jetzt sieht er sich sicher nach mir um .
Nein , mein Lamm , ich nicht !
Ich habe schon genug gesehen .
Über diesen Fall ärgerte er sich übrigens weniger .
Burschenschaft -- bah !
Aber gespannt war er nun , " in welcher Couleur der tüchtige Rodolphe eidbrüchig geworden sein möchte " .
Er taxierte ihn voll Zorn auf Akademischen Turnverein :
Wir recken den Arm , wir strecken das Bein , Wir sind der akademische Turnverein .
Aber nein : Wippert war Landsmannschaft geworden und trug eine dunkelblaue Mütze stolz an Stilpes gelber vorüber . --
So wären wir denn also glücklich nach allen Windrichtungen auseinandergefahren .
Das ist eigentlich eine Direktionslosigkeit .
Warum haben es diese Knaben denn nicht für nötig gehalten , mich aufzusuchen , ehe sie so weitgehende Entschlüsse faßten ?
Kein Zweifel : Sie wollten sich meinem Einflusse entziehen !
Sie wußten , daß ihr Wille verloren war , sobald sie sich in die Zerreibungszone meiner Beredsamkeit begaben , und feig flohen sie davon .
Crapüle !
Dabei trug dieser Rodolphe eine Art von nasensteifem Selbstbewußtsein zur Schau , die mir nicht gefallen hat .
Nun , im Walde pfeifen die Handwerksburschen , wenn ihnen die Hosen schlottern . . .
Eine erstaunliche Sippschaft .
Wie bringe ich sie zur Raison ?
Es war ihm doch fatal , daß die Drei sich so ohne weiteres von ihm emanzipiert hatten .
Hätte er nur nicht selber schon die gelbe Mütze aufgehabt !
Das komplizierte seine Stellung den Abtrünnlingen gegenüber stark .
Es war , als wenn er mit vernagelten Kanonen schießen sollte .
Aber es dauerte nicht lange , und er hatte seine volle Sicherheit wiedergewonnen .
Er schrieb in drei gleichlautenden Stücken folgenden Brief und sandte ihn an die Drei .
Landerirette !
Farben sind stärker als Eide , und was die Mulde gehört hat , braucht die Pleiße nicht zu wissen .
Sela .
Drittes Buch , erstes Kapitel .
Indessen : Soll gelb oder blau oder Dunkelode hellrot auch stärker sein , als Herz und Intelligenz ?
Soll die Pleiße völlig entbehren müssen , was die Mulde Füllereiche genoß ?
Nein !
Unsere Mützen sind gelb , blau , dunkel- oder hellrot , aber unsere Herzen schlagen noch im Takte des momischen Alexandriners : O l' Amour ! o l' Amour ! prince de la jeunesse !
Oder ?
Schmach dem Fragezeichen !
Wir haben nicht aufgehört , Menschen zu sein , indem wir unsere respektiven Mützen aufsetzten , und so haben wir auch nicht aufgehört , Cénacliers zu sein .
Und also darum sage ich euch , ich , der ich Schaunard war , bin und sein werde : Wir müssen die farbigen Schranken und Planken , hinter die wir uns , jeder nach freier Wahl und geistvoller Erwägung , begeben haben , wenigstens aller zwei Wochen einmal mit dem Elan unserer Cenacleherzen überspringen und einander in die Arme eilen !
Eine Jammerlende , die diesen Sprung nicht wagt , eine Groschenseele , die sich vor dem Comment mehr fürchtet 15 Stilpe als ehemals vor dem Konrektor , ein Castrat des Herzens , wer nicht wenigstens aller zwei Wochen einmal singen will :
Der Freiheit Tabernakel , Ja -nakel !
Der Freude Heiligenschrein Ist einzig das Cénacle Und wird es ewig sein .
Landerirette !
Man trifft mich Sonntag Abend in meiner Wohnung , die den Kopf dieses Briefes ziert .
Schaunard .
Zweites Kapitel .
Stilpe hatte sich nicht getäuscht :
Die Gründung des " Geheim-Cenaclecs " , so sehr sie gegen den Verbindungscomment der Einzelnen war , geschah , und die vier Cénacliers , die sich , wenn sie ihre Mützen aufhatten , nicht einmal grüßen durften , fanden sich zweimal des Monats an Sonntagen zu Vergnügungen zusammen , die jedem viel lieber waren , als die Pflichten ihrer Verbindung .
Zwar , keiner gestand das zu , denn jeder bemühte sich aufs höchste , den Anschein zu erwecken , als fühle er sich unter seiner bunten Mütze über die Maßen wohl .
In Wahrheit fühlten sich Alle sehr elend darunter , bis auf Stilpe , der auch in diesem Verhältnisse mit Hingabe aufging .
Er war fast nie nüchtern und wurde von seinen Verbindungsbrüdern sehr bald als eine phäno 15 * menale Kraft sowohl auf der Kneipe wie auf dem Fechtboden erkannt .
Seine Zügellosigkeit , die ihn in einer Korporation von festerem Gefüge unmöglich gemacht hätte , war ihm hier , wo er sehr bald anfing , die Rolle des Überlegenen zu spielen , nur wenig hinderlich .
Schon im zweiten Semester hatte er " seine Leute " ungefähr auf seinen Ton gestimmt .
Er pflegte zu den Cénacliers zu sagen :
Die Bären tanzen schon ganz wacker die schwierigsten Sachen ; nächstens werde ich ihnen das Dichten beibringen .
Aber er dachte selber nur wenig ans Dichten .
Nur " was er so für die Liebe und das Cénacle brauchte " , sonst :
Wie kann ich singen , da ich saufen muß ?
Die heikle Muse meidet meinen Kuß , Pfui , sagt sie , pfui , Du stinkst nach Spiritus !
Das war Selbsterkenntnis , aber keineswegs Selbstanklage .
Im Gegenteil , er tat sich innerlich sehr viel darauf zu gute , daß er " in den Wolken des Alkohols taumelte wie nur ein Erkorener der neun Grundräusche taumeln kann " .
Die neun Grundräusche waren Drittes Buch , zweites Kapitel .
1 ) das braune Bier , 2 ) die blonden Mädchen , 3 ) der rote Wein , 4 ) die braunen Mädchen , 5 ) der weiße Wein , 6 ) die schwarzen Mädchen , 7 ) die Schnäpse jeglicher Observanz , 8 ) die edle Kunst rasender Reime , 9 ) die große Ewigkeit gewaltigen Ruhmes .
Er pflegte zu sagen :
-- Hütet euch vor Dichtern , die nicht saufen !
Sie bedeuten für die Literatur dasselbe , was die alten Jungfern für die Fortpflanzung des Menschengeschlechtes bedeuten .
Sie sind ein Greuel und eine große Gefahr .
Wehe , wenn sie die Welt mit ihrem Laster strohtrockener Verse anstecken .
Dann ist das Ende nahe herbeigekommen .
Selbst Schiller trank Likör , aber , wenn er nicht trank , schrieb er diese bedenklichen Sachen , an denen heute noch sämtliche Gymnasiallehrer leiden .
Shakespeare dagegen soff wie ein Loch .
Wie ?
Ihr fragt nach den Belegen ?
Ja , wenn ihrs nicht fühlt !
Ich mache mich anheischig , bei jedem seiner Stücke zu sagen , was er damals gerade getrunken hat .
Im Hamlet steckt viel Porter .
Daher diese etwas schwermütige , aber immerhin sublim betrunkene Grundstimmung .
Voll Whisky- Brandy ist Othello , doch mit einem Schuß Sherry .
Ale , Ale und abermals Ale ist King Lear .
Es ist das hohe Lied des Ales .
Immer , wenn ich_es gelesen habe , muß ich zum alten Krause gehen , der dieses blondeste aller Biere am besten schenkt .
Ein paar Sommersprossen Porter auf diesen weißen Teint gespritzt , und man versteht die Lieder des Narren und weint in großer Seligkeit .
Auch Knickebein hat Shakespeare getrunken , und zwar viel .
Seine Komödien sind der Beweis dafür .
Wie vermählt sich da überall das Ei dem seimigen Liköre !
Und da hat irgend so ein Fünfgroschenphantast behauptet , Andreas Hofer habe den Knickebein erfunden .
Wie kümmerlich !
Schon die alten Juden kannten ihn .
Das Prinzip der Parallelität der Verse in den Psalmen ist geradezu ein Symbol des Knickebeins . . . Die ganze Literaturgeschichte , wohl gemerkt , so weit es sich um Verse handelt , ist nichts als eine große Tafel der Getränke .
Ich werde meine Doktordissertation über dieses Thema schreiben .
In diesem Stile sprach er überhaupt oft , und manche seiner Dikta gingen in den Schatz der ge Drittes Buch , zweites Kapitel . flügelten Worte der Studentenkneipen über .
Auch war er der fruchtbarste Vermehrer jener ungeschriebenen Literatur , die sich um die Figur der Wirtin an der Lahn gebildet hat .
Er konnte sich stundenlang damit abgeben , aus einer Zote einen Reim oder aus einem Reim eine Zote zu locken .
Herauskitzeln nannte er das .
Zuweilen , aber keineswegs oft , kam ihm der Gedanke , daß er eigentlich etwas Besseres tun sollte .
Dann gruppierte er seine Gedanken um die Worte " schal und unerquicklich " und bewarf sich " mit den faulen Eiern des moralischen Katzenjammers " .
Aber es war auch nur eine Art Stilübung .
Einmal empfing er die Cénacliers in solcher Stimmung und hielt zehn Minuten einen Monolog in Jamben an Dieses Lotterfleisch voll Alkohol Und niederträchtiger Verse , die wie Schmer Von Trichinosen Schweinen blau geädert sind Und übel riechen wie die Pestilenz Des ganz bedreckten Nests des Wiedehopfs .
Aber als er zu Ende war , ganz aufgeregt und wie es schien direkt vor einem stürzenden Tränen Ausbruch , so daß niemand im stande war , zu entscheiden , ob hinter diesen burlesken Selbstanklagen nicht doch eine Spur von Ernst steckte , da rief er :
Aber das kommt von der Abstinenz !
Seit 75 Minuten habe ich keinen Alkohol gesehen .
Auf !
Laßt uns in ein Gebärhaus tröstlicher Gedanken wallen , und wenn es eine Gossenstube wäre .
Kennt ihr mein Ritornell ? :
Molkige Gose !
Bezeugte nicht Dein Rausch sehr hohen Rang , nennt ich dich Sauce .
Mit einziger Ausnahme des Brechweines gab es kein alkoholisches Getränk , dem sich Stilpe nicht mit Hingabe widmete .
Aber die " schweren Sachen " bevorzugte er .
Das Leipziger Lagerbier war bald nicht mehr im stande , ihm irgend etwas anzuhaben .
Er nannte es " schlechterdings Wasser " und konnte es durchaus nicht begreifen , daß man " es noch immer in Brauereien herstellt ; man sollte doch merken , daß es aus dem Schoße der Erde quellt , denn es ist im eigentlichen Sinne kulturlos . "
Dagegen zollte er direkt Ehrerbietung der ostpreußischen Bowle , die aus Burgunder , Porterbier , Sekt und Kognak Drittes Buch . zweites Kapitel . besteht .
Dieses Getränk , so sagte er , hat die Kraft und das heilige Rauschen des germanischen Urwaldes .
Man fühlt direkt Speere in der Faust , wenn man es trinkt .
Seine Hauptgnade aber besteht darin , daß es wunschlos macht .
Es ist das Katholikon der Getränke .
Auserwählten ist es gegeben , zu sehen , daß diese Bowle eine tiefgoldene Gloriole hat .
In dieser Weise charakterisierte er im Kreise des Cénacles " die gesamte Aristokratie der Spirituosen " , und er lehnte es durchaus nicht ab , wenn man ihn den Homer des Alkohols nannte .
Aber die Getränke , die er liebte , waren kostspielig , und weder er noch die anderen drei Cénacliers waren auf die Dauer im stande , das Geld dafür aufzubringen .
Deshalb beschloß man , einen " Barbemuche zu etablieren " , d. h. nach dem Muster des Mürgerschen Cénacles jemand ausfindig zu machen , der " also geeigenschaftet wäre :
Ehrfürchtig vor dem Geiste , Sehnsüchtig zur Kunst , Wohlausgestattet mit Gelde , Ein bisschen dumm und dessen dumpf bewußt , Demütigen Herzens und Angenehm lächerlich . "
Stilpe war es , der einen solchen Jüngling entdeckte :
-- Herrn stud. phil. Lehmann aus Liegnitz .
Er hatte ihn in " so einem " Hause der Magazingasse aufgelesen .
Dort , in einem Salon , war ihm der blasse , etwas angefettete junge Mann durch eine sehr dicke Brieftasche und schwermütiges Betragen aufgefallen .
-- Sie fühlen sich nicht wohl in dieser Umgebung , hatte Stilpe zu ihm gesagt , als sie sich einander vorgestellt hatten .
Ich begreife das .
Man geht hierher , um sich nicht wohlzufühlen .
Man will sich kasteien .
Sie peitschen sich lieber mit blonden Ruten , ich lieber mit braunen .
Das ist der ganze Unterschied .
Temperamentssache . --
Ach ja , es ist schrecklich , antwortete der Philologe Lehmann ; ich verabscheue diese Häuser , aber , sehen Sie , ich finde ja draußen nichts , und dabei bin ich doch so . . . so . . . so sinnlich .
Ach , leider !
Drittes Buch , zweites Kapitel .
-- Wie ?
Leider ?
Sie sagen : Leider ?
Sie haben doch leider gesagt ?
Hm. Hm. Hm ! --
Aber natürlich : Leider !
Es ist doch schrecklich , so direktionslos zu sein ! --
Direktionslos nennen Sie das , wenn Alles so deutlich ins Schwarze zielt ?
Das nennen Sie di . . . , aber Herr Lehmann !
Sie sind beneidenswert um diese gerade Tendenz Ihres Wesens !
Seien Sie fröhlich , Herr Lehmann !
Es fehlt Ihnen bloß die rechte Gesellschaft .
Sie sind ein Einsiedel-Lehmann , und das ist für solche Naturen eine Gefahr .
-- Freilich ist es das .
Ich fühle es selber .
Aber ich schließe mich schwer an .
Wissen Sie , die meisten Studenten sind so banausisch , so entsetzlich interesselos , und ich möchte doch Jemand haben , der auch noch etwas mehr will , als Doktor werden .
Sechs Tage ochsen und einen Tag sumpfen , das mag ich nicht mitmachen ! --
Das ehrt Sie , Herr Lehmann !
Sie suchen den Einklang von Lebenskunst und Wissenschaft .
Sie wollen Streben und Genuß vereinen .
Sie wollen , mit einem Worte , aber verstehen Sie mich recht und nehmen Sie das nicht etwa als einen Witz : Sie wollen ein runder Mensch werden ! --
Ich ahne , was Sie meinen , und es ist wahr , das deckt sich wohl mit dem , was ich suche . --
Rund sein ist alles , Herr Lehmann !
Wissen Sie , wie diese indischen Götter :
Rund um den Leib herum tausend Arme , und immer zwischen zwei Armen eine Göttin .
Aber Gott bleiben !
Ein runder Gott bleiben mit tausend Armen und fünfhundert Göttinnen dazwischen !
Oder , weniger exotisch gesprochen : Goethehaft !
Herr Lehmann lächelte höchst bitter :
-- Sie wollen mich wohl verspotten .
Goethe und -- ich !
Ich mit meiner klassischen Philologie .
Ich studiere nämlich klassische Philologie .
Aber Sie müssen da nicht gleich denken , daß ich Gymnasiallehrer werden möchte .
Nein , ich möchte mich der akademischen Karriere fürs Griechische widmen .
Es ist da noch viel zu holen , sage ich Ihnen !
Mein Fach ist im Niedergange .
Es fehlt an Kapazitäten .
Ein neues Alexandrinertum ist eingerissen ! --
So reißen Sie es um , Herr Lehmann !
Schmeißen Sie die Perücken zum Tempel hinaus !
Der Moder stinkt !
Hygiene tut Not !
Fort mit den Schwartenschwenkern !
Das reine Hellas ziehe ein !
Und was ist der Hellene des Altertums ?
Drittes Buch , zweites Kapitel .
Der runde Mensch !
Was ist Hellas ?
Die Synthese von Genuß und Erkenntnis !
. . . Kürzlich stellte ich für einen kleinen Kreis von Freunden , der sich , ganz in Ihrem Sinne , Herr Lehmann , zu einem Zirkel der Lebenskunst und Kunstliebe vereinigt hat , eine Namenstafel der Spezialheiligen unserer Religion auf .
Sie ist noch unvollständig , aber es fiel mir gleich auf , wie viel Hellenen dabei sind . --
Ach , das interessiert mich , der ganze Zirkel sowohl , als die Namenstafel .
Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen , aber vielleicht darf ich Sie bitten , mir Näheres darüber zu sagen ?
Herr Lehmann sagte das mit dem Tone ernstester Anteilnahme und zog die Augenbrauen hoch .
Stilpe lachte wieder einmal " mit den Eingeweiden " und zog sein Notizbuch .
-- Über den Zirkel ist nichts weiter zu sagen , als was ich schon andeutete .
Zur Kunst erhöhtes Leben in jedem Betracht .
Die Namenstafel aber , nun , wie gesagt , sie ist noch unvollständig , aber ich kann Ihnen das Fragment schon mitteilen .
Also : I .
Männlichen Geschlechts : Anakreon , Aristophanes , Alkibiades , ( es geht gleich griechisch an , wie Sie sehen ) Georg Büchner ( um Gotteswillen : Georg , nicht Ludwig ! ) Bizet , Gottfried August Bürger , Cervantes , Catull , ( aber der hat ein Fragezeichen )
Michael Georg Conrad .
-- Ist das der preußische Prinz , der die Dramen schreibt ? fragte Herr Lehmann bescheidenen Tones . --
Gott behüte und Gott bewahre !
Machen Sie immer solche Witze ? rief Stilpe .
Dafür müßten Sie schon eine Bowle schmeißen , Herr Lehmann .
Sind Sie bereit ?
Der Philologe Lehmann errötete und sagte :
Es wird mir ein Vergnügen sein , denn damit werde ich Drittes Buch , zweites Kapitel .
ja das Vergnügen haben , auch die anderen Herren kennen zu lernen . --
Gut ! sagte Stilpe schon im Tone des Cenacle-Präsidenten .
Dafür werden Sie dann auch erfahren , welches unser Conrad ist .
Weder Prinz noch Preuße .
Also nun in der Liste der Heiligen weiter : Danton , Demokritos , ( schon wieder ein Grieche ! ) Devrient ( Sie wissen : Lutter und Wegers Weinstube in Berlin ! ) Fischart , Franz der Erste von Frankreich , -- Warum Der ? fragte Herr Lehmann .
-- Lesen Sie im Rabelais nach !
Grabbe , Meister Gottfried von Straßburg , Der junge Goethe , ( Sie wissen doch , daß es drei verschiedene Goethes gibt ? ) Eduard Grisebach , Johann Christian Günther , Horaz , ( hat aber zwei Fragezeichen ) Theodor Amadeus Hoffmann , Heinrich Heine , Mozart , Mirabeau , Momus , ( unser Wirt mit der langen Kreide ) Musset , Mürger , Marat .
-- Pardon , sagte Herr Lehmann , dessen Vater Fabrikbesitzer war , warum eigentlich diese Revolutionsmänner ?
-- Sie tranken sämtlich gerne und waren sehr verliebte Leute .
Daß wir keine Sozialdemokraten sind , sehen Sie an Franz dem Ersten .
Rabelais , Rembrandt , Sokrates , Sullivan , Tschang-hsien-tschung . --
Wer ist das ? --
Das ist ein chinesischer Pelzhändler , später Gegenkaiser , der einmal an einem Tage 50000 Ge Drittes Buch , zweites Kapitel . lehrte hat köpfen lassen .
Ich werde ein Epos auf ihn machen . --
Ach , dichten Sie ? rief Herr Lehmann eifrig .
-- In der Tat , bisweilen .
Sie natürlich auch ? --
Ach . . . ein . . . ich . . . nein . . . ich kann nicht sagen , daß ich . . .
Aber . . . -- Sie möchten gerne ? --
Ich . . . weiß . . . nicht . . . -- Diese Schüchternheit ist ein schönes Zeichen .
Übrigens : Dichten , -- na ja .
Das is nun so ne Sache .
Notwendig ist es nicht , Herr Lehmann .
Es . . . aber : Genug !!
Wir sind mit dem männlichen Geschlecht fertig und es folgt II .
Weiblichen Geschlechts : Aspasia , ( also auch hier Griechenland an der Tete ! ) Die kleine Anna , Anna mit den gewürfelten Strümpfen , Anna Ach--gehn--Se--weg .
-- Ja . . . aber . . . ? . . . sagte Herr Lehmann .
16 -- Ich verstehe : Sie kennen diese drei Annas nicht .
Es sind vorderhand noch Privatpersonen , und sie kommen auf mein Konto .
Die mit den gewürfelten Strümpfen schlägt , glaube ich , in Ihren Geschmack .
Ich schenke sie Ihnen .
Herr Lehmann war ganz verblüfft . --
Na , wollen sie nicht wenigstens Danke ! sagen ?
Das Mädchen kommt noch in die Literaturgeschichte !
Ich habe sogar ein Sonett auf ihre Strümpfe gemacht !
Aber weiter !
Bertha , ( Hat zwei Ausrufezeichen .
Es ist aber nicht jene Bertha mit den großen Füßen , die Uhland besungen hat , sondern auch dieses Mädchen geht mich an .
Ich habe sie immens geliebt .
Und sie liebt mich heute noch , obwohl sie einen Gelbgießer geheiratet hat .
Achten Sie die Treue des weiblichen Geschlechtes , Herr Lehmann , aber sehen Sie zu , daß der Andere der Lackierte ist .
Übrigens werde ich jetzt die Privatmädchen weglassen , weil ich Ihnen sonst fortwährend Kommentare geben müßte ; ich werde also nur die historischen Damen nennen , nämlich ) :
Mimi Pinson , Die Königin Pomare , Drittes Buch , zweites Kapitel .
Musette , Lais , Ninon de l' Enclos , George Sand , Bérangers Lisette , Päpstin Johanna , Fränzchen mit dem Muff , Margarethe von Navarra , La belle heaulmiere , Marion Delorme , Die schöne Seilerin , Roswitha von Gentersheim .
Die Liste ist noch schrecklich lückenhaft .
Vielleicht könnten Sie uns noch ein paar tüchtige Griechinnen empfehlen .
Wie hieß doch gleich die , die sich auszog ?
-- Sie meinen Phryne ? --
Richtig !
Phryne !
Dieses ganz vorzügliche Mädchen !
Warten Sie , ich werde sie gleich einfügen .
Es ist eine Schande , daß ich sie vergessen habe .
Aber Sie sehen , wie gut wir Sie brauchen können .
Im klassischen Altertum sind wir doch ein bisschen schwach .
Herrn Lehmann war es gar sonderbar zumute .
16 * Diese Welt war ihm neu , aber er hatte die Empfindung , daß es sehr lustig in ihr zugehen müsse .
Vor allem fühlte er , daß er im Cénacle Anschluß an " Weiber " finden würde , und daran lag ihm viel , denn er hatte es nachgerade bemerkt , daß er von sich allein aus diesen Anschluß nie erreichen würde .
Und bei alledem doch diese vielen literarischen Aspirationen , also die Gewähr des Höheren !
Kein bloßer Sumpf !
Sondern , wenn schon Sumpf , so doch von ganz ungewöhnlicher Art !
Ein origineller Sumpf .
Ach , danach hatte er sich ja gesehnt !
Er wollte originell , geistreich sumpfen .
Da bot sich die Möglichkeit !
Also zugegriffen !
Er verließ am Arme Stilpes das Haus in der Magazingasse mit dem angenehmen Gefühl , es fürder nicht mehr nötig zu haben .
Als er am nächsten Morgen erwachte , lag er auf seinem Sofa und Stilpe in seinem Bette .
Da dieser ihn duzte , mußten sie wohl Brüderschaft getrunken haben .
Auch einen anderen Namen hatte er erhalten : Barbemuche , und auf seinem Nachttisch lag ein völlig mit Porterbierflecken bedeckter Zettel dieses Inhaltes : Drittes Buch , zweites Kapitel .
Quittung .
Für weiland Herrn Lehmanns Aufnahme ins niedere Barbemuchiat 50 Mark erhalten zu haben , bestätigt i. N. d. C. Schaunard .
Drittes Kapitel .
Obwohl das Cénacle keine moralische Anstalt war , so bedeutete es für Stilpe doch einen Haltepunkt und eine Verbindung wenigstens mit der Fiktion " extra-alkoholischer Tendenzen " .
Stilpe führte damals kein Tagebuch mehr , denn er hatte überhaupt das " unzüchtige Verhältnis mit Büchern " aufgegeben , aber zuweilen , wenn er sich übel fühlte , ergriff er , wiederum in seinem Stile von damals zu reden , den " Stecken und Stab des Bleistiftes und wanderte gedankenvoll über die ausgebleichte Wüste weißen Papieres " .
Einige dieser Notizen sind geeignet , ein Stück seiner Seele von damals erkennen zu lassen :
Die Gelbmützelei ist ein scheußlicher Unsinn und meiner unwürdig .
Aber ich selbst bin Drittes Buch , drittes Kapitel . meiner unwürdig , denn ich werfe die gelbe Mütze diesen Idioten nicht vor die Füße , sondern ich trage sie noch immer mit einer lachhaften Würde .
Heiße jetzt Erster Chargierter gar .
Kann man tiefer sinken ?
Ich tyrannisiere diese gelbmützigen Banausen mit vollendeter Kunst und einigem Genuß , und keiner von ihnen erfreut sich mehr eines intakten Magens .
Nie wurde so gesoffen wie unter meiner Ägide .
Was soll man auch mit diesen Knaben anderes anfangen ?
Frösche muß man in den Sumpf treiben .
Ich fange an , unzufrieden mit mir zu werden und erwäge den Plan , diese gelbe Blase zu sprengen .
Wenn ich sie nur nicht alle so tiefgründig angepumpt hätte . . . Und außerdem : Was soll ich denn sonst anfangen ?
Noch scheint die Zeit nicht erfüllt zu sein , wo ich mich diesem Herrn Geheimrat Ammer , falls er sich nicht schon zu seinen Vätern versammelt hat , als Stütze des Staates anbieten kann .
Oder sollte ich tatsächlich studieren ?
Welch eine Idee !
Nicht Mal für Liebe habe ich genügend Zeit .
Wann , frage ich , wann kann ich mit Hingabe und Hinnahme lieben ?
Um zehn Uhr zerrt mich der Leibfuchs aus dem Bett und kredenzt mir das Antidotum gegen den Datterich , die liebliche Las voll Culmbacher Biers .
Bis zwölf Uhr pauke ich der Füchse summende Herde für die Mensuren ein .
Dann salbt mich der Friseur , und bis um drei Uhr treibe ich die braven Knaben in die Lichtenheiner Schwemme .
Hole sie der Teufel , ich beneide sie !
Denn selbst dieses Lehmwasser macht sie betrunken .
Auch mein Mittagsmahl erledige ich um diese Zeit .
Es ist erstaunlich , wie mäßig ich darin bin .
Drittes Buch , drittes Kapitel .
Rohes Fleisch und Kaviar , etliche Eier und Bouillon erhalten diesen schwachen Leib .
Von drei bis fünf der Kaffeelachs ; doch ist das ein leerer Name , denn ich habe längst den Kaffee durch Liköre ersetzt , und statt des Skates herrscht der Lederbecher mit den Knobelknochen .
Das ist meine palaestra musarum , denn erstens erfinde ich neue Knobeltouren und zweitens muß ich beim Mogeln immerhin aufpassen .
Das erschöpft mich sehr , und ich begebe mich nun auf das schwarze Ledersofa in der Kneipe , wo ich der Ruhe Pflege , bis das Gas angebrannt wird und die werten Knaben anrücken , um bis früh zwei , drei Uhr von mir vollgeplumpt zu werden .
Mir scheint , das ist kein Leben nach dem Geschmacke Apollos und der neun Musen , -- oder sind es zwölf ?
Ewig verwechsle ich die Apostel mit den Musen .
Und die Liebe !
Sie muß hungern !
Liebe und Alkohol sind feindliche Mächte .
Tragisches Geschick , beiden hold zu sein .
Zuweilen gibt es Mensuren .
Ich leugne nicht , daß diese kleine Aufregung mich amüsiert .
Trinkt man vorher fünf Cognacs , so ist man erstaunlich wacker und ließe sich mit Heroismus den Schädel spalten .
Nein : Lieber bloß die Backe , denn das ist_es ja , was den Menschen ziert , und dazu wurde ihm der Verstand :
Der Durchzieher .
Ich glaube , jetzt etwa Einschockmal gefochten zu haben , wenn man diesen mathematischen Wechsel von Schlag und Parade fechten nennen kann .
Man gewöhnt sich daran wie der Pudel ans Baden .
Das Schönste dabei ist der Geruch , diese allerliebste Mischung von Jodoform , Karbol , Kognak und ein bisschen Schweiß .
Es wirkt wie ein Aphrodisiacum auf mich .
Aber es ist möglich , daß ich ein bisschen pervers bin .
Blutdurst und Wollust !
Gib mir dein Herz zu saufen , Laura :
Ich liebe Dich !
Die schweren Sachen meid ich .
Meine Säbelmensur war nicht eigentlich prima nota .
Ich hatte den Kognak überschätzt .
Man muß entschieden Porter dabei zur Hand haben .
Porter und Kognak zusammen macht sicher sehr säbelmutig .
Man muß nur auch die Dosis richtig bemessen .
Ich halte es nicht für ausgeschlossen , daß ich Drittes Buch , drittes Kapitel . ohne Alkohol mehr horazischen als achilleischen Mut bewähren würde .
Dies unter uns gesagt .
Kürzlich focht ein Jüngling auf unsere Waffen , der entsetzliche Angst hatte , sich aber doch nicht eher umdrehen ließ , als bis er einen ausgewachsenen Durchzieher hatte .
Später gestand er mir , daß er " aus Liebe " gefochten hätte .
-- Wie ? rief ich , hat Ihr Gegner sich erfrecht , Ihr Fräulein Braut zu betasten ? --
Ach nein , sagte er , meine Braut wünscht nur , daß ich einen schönen Schmiß habe .
So heroisch sind die Töchter Thusneldas angelegt .
-- Hörst du nicht den Eichwald rauschen ?
Als ich noch Bücher las , habe ich irgendwo das Diktum gefunden , daß der Mensch nie verzweifeln könne , denn es bleibe ihm auch beim schlimmsten Zahnweh immer die tröstliche Möglichkeit des Selbstmordes .
Ich habe ein Analogon dazu ; ich sage mir : Du kannst zwar versumpfen , aber es bleibt Dir immer noch die Möglichkeit , Journalist zu werden .
Diese Verachtung des Journalismus gehörte zum Repertoire des Cénacles , aber Stilpe fing doch bereits an , sich mit dem Gedanken sehr vertraut zu machen , daß ihm schließlich die Laufbahn des Zeitungsliteraten blühen möchte .
Zwar war er keineswegs an seiner dichterischen Bedeutung irre geworden ; der Nagel saß fest .
Aber der Umstand , daß er jetzt im Grunde nicht einmal mehr Pläne zu künftigen Werken machte , kam ihm doch manchmal zum Bewußtsein , und dann sagte er sich :
Ich bin eine zersplitterte Natur , der Fluch des modernen Menschen lastet auf mir , daß wir uns nicht sammeln können ; gut also , so ziehe ich ohne Wehleidigkeit den Schluß daraus und schlage mich zu jenen , die ihre Goldbarren täglich stückweise und halb ausgeprägt vor die Maße werfen müssen .
Drittes Buch , drittes Kapitel .
Und sofort malte er sich eine vollkommene Umwälzung der deutschen Zeitungsliteratur aus , die vor sich gehen würde , wenn er zu ihr gehörte .
Aber , als ihm ein Artikel , den er einmal in den Ferien geschrieben hatte , zurückgeschickt wurde , erfaßte ihn gleich wieder der große Ekel vor diesen " öffentlichen Männern , die sich zeilenweise prostituieren und sich von ihren weiblichen Berufsgenossinnen nur dadurch unterscheiden , daß sie nicht gutmütig wie jene sind . "
Und die Zeitungen nannte er nun wieder " Holzpapierbordells " .
Um diese Zeit war es , daß Girlinger wieder vor ihm auftauchte .
Girlinger hatte in Zürich und Genf studiert , trug schwarze Koteletten , einen Zylinder und immer Handschuhe .
Er war sehr gesetzt und durchaus solide .
Sein Plan war eigentlich gewesen , romanische Philologie zu studieren , und er hatte diesem Fach , wofür er Fleiß und Talent in sehr hohem Grade besaß , auch wirklich mit Eifer obgelegen , aber , da sein Vater darauf bestand , er müsse sich der Juris prudenz widmen , so hatte er sich schließlich dazu verstanden und trieb nun auch Jurisprudenz mit Eifer und Zielbewußtsein .
Ein gewisser Zug von echter Resignation stand ihm dabei sehr gut .
Äußerlich erlebt hatte er so gut wie nichts , aber er hatte viel an sich gearbeitet .
Als er Stülpen zum ersten Mal in seiner gelben Mütze sah , nahm er seinen Zylinder sehr tief und zeremoniell ab und machte sogar eine Verbeugung dabei .
Stilpe empfand das als Hohn und stürzte sich auf ihn :
-- Ach , der Herr Referendar !
Welch ein Zylinder !
Wo hast Du die Samtbürste , Freund meiner Jugend ?
Girlinger erwiderte :
Ich schlage einen anderen Stil vor , wenn wir uns unterhalten wollen .
Übrigens bin ich meinem Examen ferner als Du , denn ich stehe im ersten juristischen Semester .
-- Ich schlage vor , daß wir weder von Semestern noch von Examen reden , wenn wir uns unterhalten wollen .
Ich spreche nicht gerne von gleichgültigen Dingen .
Nur zu Deiner Orientierung bemerke ich , daß ich immer noch als stud. jur. et phil. immatrikuliert bin , ohne indes Drittes Buch , drittes Kapitel . von diesen Würden Gebrauch zu machen .
Ich fahre noch immer fort , mir das Leben anzusehen .
Auch trinke ich gerne Spirituosisches .
Du scheinst mir dagegen ein buveur d'eau zu sein . --
So , Mürger kennst Du auch ? --
Es gibt keinen besseren Kenner dieses Klassikers .
Schade übrigens , daß die Stelle eines Barbemuche in unserem Cénacle schon besetzt ist , ich würde sonst Dir meine Fürsprache nicht vorenthalten .
-- Danke .
Ich bin nicht für gelbe Mützen . --
Köstlich !
Nein , diese Biermütze hat mit dem Cénacle nichts zu tun .
Dein Zylinderhut läuft keine Gefahr , wenn Du uns die Ehre und das Vergnügen machen willst , der definitiven Aufnahme des Herrn Lehmann in das höhere Barbemuchiat beizuwohnen .
Morgen Abend um acht auf meiner Bude , wenn ich bitten darf .
Oder fürchtest Du Dich vor ostpreußischen Bowlen . . . -- Herr Lehmann ist wohl ein Idiot ? --
Nein , ein Idealist , aber mit Barmitteln .
Du wirst Deine Menschenkenntnis bereichern , wenn Du kommst , und außerdem einige Chorgesänge vernehmen , die sich meiner Verfasserschaft rühmen .
Wenn Du aber nicht kommst , so werde ich mich Stilpe aus Gram betrinken und in der Betrunkenheit dem Cénacle Deine Flucht nach Griechenland erzählen . --
Warum soll ich nicht kommen ?
Da Herr Lehmann die Bowle bezahlt , bin ich ja sicher .
-- Schön , aber Zigarren kannst Du wenigstens mitbringen .
-- Ich rauche nicht . --
Um so besser , so wirst Du uns nicht berauben .
Aber merke Dir die Marke : Henry Clay .
Schreibe Dir_es ins Notizbuch .
Eine Kiste genügt .
Schreibe aber Clay richtig , nicht wie das Kuhfutter , sondern so : C . . . l . . . a. . . y .
So ist_es richtig .
Du wirst wohl empfangen sein ! --
Sind Weiber dabei ? --
Pfui !
So einer bist Du ?
Daher der Zylinderhut und die Koteletten ?
Kalipsichore verhüllt ihr Haupt . --
Wer ? -- Kalipsichore , die Muse der epischen Tanzkunst , wenn_es gefällig ist .
Sie wird persönlich da sein .
Im Zivil heißt sie Hulda Ranker .
Du kennst doch das Zeitwort rankern ? --
Ich glaube , Du bist betrunken . --
Bleibe fest und glaube getrost , Du wirst Drittes Buch , drittes Kapitel . nicht irre gehen .
Aber vergiß die Zigarren nicht !
Du kannst auch Huldan ein Korsett mitbringen .
Ich habe_es ihr schon lange versprochen .
Doch von Seide muß es sein !
Girlinger hielt es für gut , sich nun zu verabschieden .
-- Total versumpft ! dachte er bei sich .
Und wie der Mensch aussah !
Dieses angeschwemmte Fett unter fast gelber Haut !
Diese unstäten , schwimmenden Augen !
Und salopp !
In einem Korps scheint er nicht zu sein .
Sogar die Wäsche nicht sauber .
Und die Hand feucht .
Wie er dahin geht , der richtige Gewohnheitssäufer , der zwar nicht direkt schwankt , aber doch auch nicht richtig geradeaus gehen kann .
Natürlich auch Gedankenflucht .
Er kann sicherlich keine zehn Zeilen logisch schreiben .
Delirantenphantasie .
Ein Ragout im Hirnkasten .
Wie viel Schulden mag der Mensch haben !
Girlinger hatte ein schönes psychologisches Thema für sein Tagebuch .
17 Stilpes Wohnung lag im Durchgang der großen Feuerkugel ( Einst wohnte Goethe hier -- jetzt Wir ! ) drei Treppen hoch und bestand aus einem mäßig großen Zimmer und einem Alkoven . --
Der einzige Fehler dieser Bude ist , pflegte Stilpe zu sagen , daß sie gerade Wände hat .
Schiefe Wände wären stimmungsvoller .
Aber man beachte die charaktervolle Schäbigkeit der Ausstattung !
Wer angesichts dieses pöbelhaften Sofas , dieser kontrakten Stühle , dieses ewig wackelnden Tisches und dieses immer aufklaffenden Kleidersargs , von dem infamen " Napoleon in der Schlacht bei Leipzig " ganz zu schweigen , daran dächte , hier die Miete nicht schuldig zu bleiben , müßte ein gefühlloser Barbar genannt werden .
Was aber das Bett anlangt , meine Lieben , so gibt es keine vorlautere Bestie als dies .
Es quietscht schon , wenn man es ansieht , geschweige denn . . . aber das ist ein rein musikalisches Thema .
In dieser Wohnung also , die wirklich abscheulich war , versammelte sich am folgenden Sonntage das Cénacle zur Feier der endgiltigen Aufnahme des Philologen Lehmann , der soviel Geschmack am Cénacle genommen hatte , daß er sich selber an den gröbsten Verhöhnungen seiner Person beteiligte .
Drittes Buch , drittes Kapitel .
Stilpe erschien eine halbe Stunde vor Beginn der Festlichkeit .
Mit ihm betrat Hulda Ranker das Zimmer .
Sie tat es mit der Sicherheit einer Person , die mit den Lokalitäten vertraut ist .
Hübsch war sie eigentlich nicht , aber sie hatte das gewisse Pusselig-Graziöse der Leipzigerin , an der der Kenner noch heute die Erbreste aus jener galanten Zeit bemerkt , in der , wie die Kulturhistoriker sagen , " die Leipzigerinnen an lockerer Moral mit den Pariserinnen um die Palme rangen , "
Die Moral Huldas war wohl nie sehr fest gewesen , aber Stilpe hatte sie , obwohl er erst vor vier Wochen dem Mädchen " das Taschentuch zugeworfen " hatte , derart gelockert , daß sie vollkommen durchsichtig geworden war .
Aber das stand Fräulein Hulda gerade gut .
Sie gehörte zu den Mädchen , die an Charakter gewinnen , indem sie an Moral verlieren .
Im Übrigen war sie schlank , von guter Taille , brünett und passabel angezogen .
Tagüber verkaufte sie Krawatten .
Diesem Umstand verdankte die geistsprühende Scherzfrage Stilpes ihr Dasein :
Welcher Unterschied besteht zwischen Hogarth und mir ?
Antwort :
Jener malte ein Crevettenmädchen , ich bedichte ein Cravattenmädchen. 17 * Aber mit dem Dichten sah es auch in diesem Falle windig aus .
Außer dem verwegenen Ritornell :
O holde Hulda !
Ganz ohne Makel wärst Du , reimtest Du Dich nicht Auf Ludwig Fulda existierte keine Zeile , zu der Fräulein Ranker Pate gestanden hätte , und auch dieses zierliche Stachelpoem verdankte seine Entstehung mehr Stilpes Antipathie gegen " diesen schreibenden Kapitalisten " , als seiner Liebe zu der braunen Verkäuferin , ganz abgesehen davon , daß es eine von den auch sonst nicht seltenen Improvisationen seiner Skandierkunst war , die sich auf einen Reimzufall zurückführen ließen .
-- Laß die Rollfahnen runter , Mädchen , und mache Licht ! kommandierte Stilpe .
Es gibt hier in der Umgegend keusche Augen , die sehr lüstern sind .
So !
Die Beleuchtung ist mangelhaft , aber das kommt Deinem Teint zugute .
Im Schummerigen wirken die Weiber überhaupt am besten .
Daher die vielen Rendez-vous bei der Gaslaterne .
Das elektrische Licht wird die Rendez-vous stark Drittes Buch , drittes Kapitel . reduzieren , und Herr Siemens ist für die Moral sehr viel wichtiger , als der Sittlichkeitsverein .
-- Quatsch nicht , Käfer .
Heute wird so wie so wieder furchtbar geredet werden . --
Sehr richtig !
Aber auch getrunken , meine braune Taube , ja sogar gegessen , und zwar keineswegs Schweinsknochen mit Klößen , sondern fabelhafte Sachen .
Außerdem wirst Du drei neue Männer kennen lernen und zwar 1 ) jenen Lehmann , 2 ) einen Herrn im Zylinder und 3 ) einen Zylinder mit einem Herrn . --
Mit Deinem närrischen Zeige !
( Huldas Aussprüche müssen immer Leipzigerisch gelesen werden , auch wenn sie deutsch wiedergegeben sind . ) --
Ich rede ernst wie immer .
Der dritte Mann ist nämlich der kleine August , den Kenner trotzdem August den Starken heißen . --
Warum denn ? --
Nicht bloß im Biceps liegt die Kraft des Manns !
. . . -- Komme , sage mir , warum er August der Starke heißt ! --
Ich werde mich hüten , denn ich liebe Dich .
Nur soviel :
Dieser kleine Mann , der sich durch einen hohen Zylinder zu recken trachtet , ist ein fulminanter Musikus und würde schon viele Opern geschrieben haben , wenn er nicht immer trinken müßte .
Zwar behauptet er , ich wäre schuld daran , weil ich ihm den Text nicht schreibe , den ich ihm versprochen habe .
Aber das ist eben jene Schlange , die sich in den werten Schwanz beißt :
Ich dichte nicht , weil er nicht komponiert , und er komponiert nicht , weil ich nicht dichte .
Ergo müssen wir beide saufen . --
Sage doch nicht saufen , das klingt so ruppig .
-- Kann ich dafür , daß die Wahrheit ein Rauhbein ist ? --
Du bist eins ! --
Und dennoch liebt mich Deine Sanftheit !
Aber es klingelt !
Schwinge Dich hinaus , Mädchen !
Es war Herr Lehmann mit drei Packträgern .
Er machte eine tiefe Verbeugung , der man die Tanzstunde ansah , vor Hulda und begrüßte Stülpen ehrerbietig .
-- Schön , mein Engel , sprach dieser , ich sehe , Du hast Alles gut in die Wege geleitet .
Nun laß mich das Auspacken überwachen .
Setze Dich zu diesem schlanken Mädchen , aber halte Dich in den Grenzen der Wohlanständigkeit .
Noch bist Drittes Buch , drittes Kapitel .
Du nicht in der Gemeinde derer , denen Alles erlaubt ist .
Und nun kommandierte er :
-- Der die Flaschen hat , vortreten !
. . .
Ah !
Sie !
Gut gewählt , der Mann .
Er ist würdig , volle Flaschen zu tragen !
Lieben Sie Nordhäuser ?
Schon gut !
. . . Nun packen Sie aus !
Vorne ran die dicken Flaschen !
Gut !
. . . Wieviel ?
Sechs ?
Gut !
. . .
Jetzt die kleinen stämmigen !
Das müssen vierundzwanzig sein !
Stimmt ?
Gut !
Sehr gut !
. . .
Jetzt die rothalsigen !
Süße Kerlchen , was ?
. . . Zehn ?
Da fehlen zweie !
Mensch , Sie werden doch nicht ?
Ah , da strecken sie ja die roten Hälse vor .
Zu den anderen !
Schön ausrichten !
Gut !
Ganz gut und wacker !
. . . Sie waren gewiß Unteroffizier .
Natürlich !
Es lebe der Reservemann !
. . .
Aber jetzt die Gelbkapseln , die feierlichen und steifen .
Gelbkapseln !
. . . Drei !
Ja , ja , es werden nicht mehr .
Aber reichen Sie mir Mal eine .
Schön .
Ich bin zufrieden .
Lassen Sie sich auszahlen bei dem Herrn dort .
Er wird Ihnen auch ein paar Zigarren geben . --
Jetzt der zweite mit dem Freßkober und dem Geschirr !
. . . Umgotteswillen vorsichtig !
Den Bowlenbauch mitten auf den Tisch .
Die Gläser wie ein Kranz herum . . . .
So !
Sie haben Talent , alter Herr . . . Nun die Teller .
Aber da soll dieses Fräulein helfen . . . Hulda , arrangiere das Tellerwesen .
Und nimm Dich auch der Messer und Gabeln an .
Und nun :
Was ruht im werten Schrein !?
Gut !
. . .
Gut !
. . . Es ist Alles in rechtem Verhältnis , sowohl das , was dem Meere entstammt , wie das vom festen Lande .
Die ganze Geographie ist vertreten , von der Adria bis zum schwarzen Meere . . . Ja , die Eisenbahnen sind ein rechter Segen , nicht wahr , Mister ?
. . . Und nun lassen Sie sich gleichfalls von dem verehrten Gastgeber auslohnen .
Auch Sie haben drei Zigarren extra verdient .
-- Und nun der Düstere in der Ecke mit dem schwarzen Sarg !
Heran und ausgepackt !
. . . Wie ?
Ein Cello ?
Seit wann zählt das zu den Viktualien ?
. . .
Ah , Du willst Kniegeigen ?
Schön !
Placet !
So kann ich mir mein Bettduo sparen .
Die Packträger traten ab .
Kaum waren sie draußen , so hörte man in einer Art Baßfistel kreischen :
Infames Rindvieh !
Haben Sie keine Augen ?
Das Luder hat mir die Galoschen abgetreten !
Und herein stürmte ein kleiner Mensch mit Drittes Buch , drittes Kapitel . kurzem weißen Stoppelbarte , kaum einen Meter hoch , aber mit einem hohen Röhrenhute bedeckt .
Er schrie immer noch und fuchtelte dabei mit seinem Regenschirm herum :
Meine rechte Galosche !
Dieses Trampeltier !
Wie ?
Ochse !
Direkt auf die Galosche !
Ich gehe sofort ! --
Aber August !
Siehst Du die Dame nicht ? klagte Stilpe .
Und sofort war der kleine Mann friedlich . --
Hehe !
Warten Sie , mein Fräulein , gleich komme ich und lege mich Ihnen zu Füßen .
Bloß den Hut und Schirm und Mantel , puh , diesen zentnerschweren Mantel , diese Rüstung , Luder , das . . . Herr Lehmann stürzte herbei und nahm dem Kleinen die Garderobe ab . --
Sehr nett , Herr . . . ? --
Leh . . . Barbe . . . ( Herr Lehmann wußte im Cénacle bis jetzt noch nicht , wie er hieß ) .
-- Sehr freundlich , Herr Lehbarb !
Stilpe wieherte vor Entzücken .
-- Gottverdammich , was heulst Du wie eine Lokomotive !
Willst Du mich wahnsinnig machen ?
Kennst Du keine Rücksicht ?
Ich gehe sofort ! --
Aber August !
Du hast Dich dem Mädchen immer noch nicht zu Füßen gelegt . --
Oh , Oh , Oh , Oh , Dein Geschrei !
Dein Geschrei !
Aber jetzt liege ich schon !
Und er fuhr auf Hulda los und ergriff ihre Hände und machte dabei eine Verbeugung , so daß er sie niederzog wie einen Plumpenschwengel . --
Ach , die reizenden warmen Händchen !
Uh , uh , uh , ti , ti , ti , so warme kleine Patschen !
Mm , mm , mm !
Heißen ?
-- Hulda heißt das Mädchen , bemerkte Stilpe .
-- Hab ich Dich gefragt ?
Weg !
Weg !
Kommen Sie , Huldachen , zu mir aufs Kanapee , Huldachen .
Er schleppte sie förmlich zum Sofa , auf das er sich nach türkischer Art setzte , weil er europäisch sitzend mit den Füßen nicht zum Boden gereicht hätte .
Das Zimmer war jetzt eigentlich schon voll , aber es kamen noch sieben Personen , nämlich :
1 ) Girlinger , der sich überaus schüchtern und mit der ganzen Ratlosigkeit eines stark kurzsichtigen Menschen benahm , dem die Brille angelaufen ist .
Die Zigarren hatte er mitgebracht ; Drittes Buch , drittes Kapitel .
2 ) Stössel , der diskret den Corpsstudenten zu markieren bemüht war und übrigens etwas blasiert aussah .
Mit ihm 3 )
Fräulein Grete Gramm , genannt das alliterierende Mädchen , eine etwas üppige Blondine , phlegmatisch , aber unendlich verliebt .
Übrigens eine " Bürgerstochter " ; 4 ) Wippert , der jetzt einen sehr schönen dichten Schnurrbart hatte und nicht ganz geschickt den ungezwungenen Weltmann spielte .
Mit ihm 5 )
Fräulein Clara Winkler , ein sehr lebhaftes rotblondes Ding , das draußen am Carolatheater Choristin war und den braven Wippert ein bisschen tyrannisierte ; 6 ) Barmann , der immer noch wie ein Knabe aussah , obwohl er eine Menge Schmisse auf der linken Backe hatte und ungemein selbstbewußt auftrat .
Dieser mit 7 )
Fräulein Anna Obersdorfer .
Das war eine sehr kleine , flinke Person mit großen lebhaften schwarzen Augen und braunen , lockigen Haaren , die die Stirn ganz verdeckten .
Sie hatte etwas spätzinnenhaftes in ihrer hupfen Hurtigkeit .
Auch " Bürgerstochter " , aber schon eigentlich nicht mehr ganz .
Die elf Personen wurden folgendermaßen plaziert : Sofa :
Linke Lehne : Stössel .
Rechte Lehne : Barmann .
Neben Stössel das alliterierende Mädchen .
Neben Barmann die kleine Anna .
Mittelplatz : Der kleine August mit Hulda .
Dem Sofa gegenüber , auf Stilpes Koffer ( einst war er , mit Schmetterlingen angefüllt , in Südamerika gewesen ) , Wippert und die rote Clara .
An der linken Schmalseite des Tisches Girlinger , an der rechten Stilpe .
Herr Lehmann stand , gelehnt an sein Cellogehäuse , zwischen Tisch und Alkoventür .
Wenn vier Leipzigerinnen mit sechs jungen Männern und einem alten Herrn von der Art des kleinen August zusammen sind , so geht es nicht leise zu , sondern sehr schnabellaut wie in einem Spatzenschwarme , der sich auf einem vollen Kirschbaume niedergelassen hat .
Als ob sie vier Wochen in ein Terapistenkloster eingesperrt gewesen wären , schwatzten die Mädchen , und die Cénacliers taten das Drittes Buch , drittes Kapitel .
Gleiche .
Aber der Quetschdiskant des kleinen August dominierte deutlich .
Allen Mädchen gleichzeitig galante Komplimente zu sagen , aber zugleich die jungen Herren mit Grobheiten zu regalieren , schien sein Programm zu sein .
Die anderen spielten nur ihr Instrument , er , der Kapellmeister , beherrschte die Partitur .
Es war wirklich eine Leistung .
Girlinger , neben Herrn Lehmann der einzig Schweigende , duckte sich unwillkürlich etwas in diesem Gestöber von Worten .
Da erhob sich Stilpe mit der gelassenen Eleganz eines Hofmarschalls und sprach :
-- Mädchen und Freunde !
Der Wohllaut eurer Stimmen ist lieblich , und ich möchte ihm gerne noch stundenlang lauschen .
Aber die Pflicht hebt ihren ernsten Zeigefinger .
Wir haben heute eine Sache von Wucht und Wichtigkeit vor ; laßt uns sogleich daran gehen !
Es gilt , diesen Herrn ( treten Sie vor , Novize ! ) , der sich in den niederen Probegraden nicht ganz übel benommen hat , nun endlich und formell zu entlehmannen .
Seht ihn euch noch einmal prüfend an und laßt euch nicht den Blick durch diese Flaschen und Viktualien trüben , indem ihr euch die Frage vorlegt :
Darf er der Schwelle bittend nahen ? --
Er darf ! riefen die Drei dumpf . --
Aber natürlich ! sagte die kleine Anna .
Warum soll er denn nicht dürfen ? S is ja n ganz netter Herr ! --
Colline , binde Deiner Göttin das Gehege der Zähne zusammen ; sie macht den Novizen eitel .
Wir aber wollen beginnen ! --
Novize !
Beherrschen Sie die glänzenden Verse , in denen Sie zu uns zu reden haben ?
Herr Lehmann verbeugte sich und sagte : Ja ! --
Novize !
Schwören Sie , demütig und ohne Murren Alles zu vernehmen , was man Ihnen jetzt sagen wird ?
Herr Lehmann verbeugte sich und sagte : Ja ! --
Novize !
Fangen Sie an !
Herr Lehmann trat einen Schritt vor , legte beide Hände kreuzweise über die Brust , machte in dieser türkischen Haltung eine ganz tiefe Verbeugung , ließ dann die Hände an den Seiten herabsinken und deklamierte , wirklich nicht übel , was folgt :
Wie Runkelrübenzuckernachgeschmack Liegt mir im Inneren schlammig schwabbelig Drittes Buch , drittes Kapitel .
Ein ekelhaftes je ne sais quoi .
Oh welch ein Bandwurm quält mich Unglückswurm ?
Ich fragte herum in manchem braven Haus , Des Fenster aus bestrichenem Glase sind Und dessen Hausflur rot beleuchtet ist , Ich . . . Da rief die kleine Anna : Schämen Sie sich , Herr Lehmann !
Stilpe war empört :
-- Colline !
Wenn Dein Ideal nicht den Schnabel hält , mußt Du die Bowle . . . aber ich will nicht vorgreifen .
Weiter , Novize !
Herr Lehmann fuhr fort :
Ich fragte manche blonde Pythia ( Auch manche braune , wie es gerade kam ) : Setze auf den Dreifuß Dich und sage mir Wie heißt der Bandwurm , der mich so zerstört ?
Doch da kein Dreifuß gegenwärtig war , Wurde kein Orakel mir .
Ich zahlt und ging .
Barmann mußte , während Herr Lehmann eine Pause machte , der kleinen Anna eine Serviette um den Mund binden .
Aber der kleine August war außer sich vor Vergnügen , und er schrie :
Er zahlte und ging !
Hehehe !
Warum war auch kein Dreifuß gegenwärtig !?
Hulda !
Warum ?
Stilpe machte :
Pst !
Herr Lehmann fuhr fort :
Da fuhr aus grauer Wolke breit und schräg Ein Balken Licht in mein gequältes Herz , Und eine linde Stimme sprach : Kamel !
Zu viel des Leders fraßest Du , darum Bist Du so ledern selber ganz und gar -- :
Gehe hin , purgiere Dich des Pergaments , Stoß aus den Wust vou Chi und Phi und Psi Und zähle fürder keine Kommas mehr In alten Schwarten , denn ich sage Dir , Das ist der Wurm , der Dich zum Wurme macht .
Und ich purgierte mich .
Das Seminar Mied ich wie böser Gase üblen Stank Und wälzte keine Folianten mehr Und lauschte nicht mehr mit gedehntem Ohr Dem Oberkommazähler , und ich wurde Beinahe ein Mensch .
So stehe ich hier am Tor Und klopfe mit gekrümmtem Finger an : Drittes Buch , drittes Kapitel .
Laßt mich , nicht in den Tempel , sage ich , Oh , Nein laßt mich in den Vorhof bloß hinein , Daß , ein bescheidener Wandler , rund herum Um des Cénacles wunderbaren Bau Ich leise schreiten darf und hie und da Hinlegen auf der Schwelle Marmorweiß Ein kleines Opfer der Ergebenheit .
Herr Lehmann schwieg und machte wieder eine ganz tiefe Verbeugung .
Stilpe erhob sich mit Priesterwürde und skandierte :
Die ihr Adepten seid , sprecht euren Doppelvers !
Und Barmann brummte :
Ein sehr verwegener Knabe , in der Tat !
Weinreben nehmt und schlagt ihn auf den Steiß !
Herr Lehmann erschrak und trat einen Schritt zurück .
( Denn er hielt Alles für möglich . )
Wippert aber rief :
Legt mir den Jüngling in ein Lexikon Als Lesezeichen , klappt das Buch dann zu !
Herr Lehmann schüttelte betroffen das Haupt . 18 Und Stössel im Ä-bäh-Tone :
Es müsst der Mensch .
Er riecht nach Wasserfleck .
Desinfiziert ihn mir mit Bibergeil !
Herr Lehmann wollte beinahe ärgerlich werden , er erhob schon die Arme .
Aber Stilpe sah ihn durchdringend und zornig an .
Dann sprach er selbst :
In strenge seid ihr , und ich tadle euch .
Seht ihr die Flaschen nicht , das Roastbeef nicht ?
Oh lenkt von dieser bangen Menschlichkeit Den strengen Blick zu diesem Kaviar Und seht der Sprotten goldene Enge an , Der Flundern breite Liebenswürdigkeit , Und ach , den Rollmops , wie er zärtlich blinkt Im Zwiebelkranze , pfeffereingekörnt .
Seid milde , milde , milde , sage ich euch , Wie dieser Thunfisch , der im Öle schwimmt , Denn wisset , was in Silber rundlich hier Priapisch leuchtet , ist kein leerer Wahn , Nein :
Echt Straßburger Gänseleberwurst !
Und also sage ich :
Wer kein Unmensch ist , Entlehmannt diesen Lehmann , und mein Wort Drittes Buch , drittes Kapitel .
Heißt : Heil Barbemuche , tritt in den Vorhof ein , Und nimm aus Deiner Westentasche das Rezept , Wie man die Bowle , die Imanuel Der große Kant erfunden , weislich mischt !
Bei diesen Worten erhoben sich die drei Cénacliers mit ihren drei Mädchen und riefen selbsechst sehr laut und stürmisch :
Es lebe Barbemuche !
Er mache die Bowle !
Heil !
Hurra !
Landerirette !
Der kleine August aber schrie :
Komme Se her , Herr Barbemuche , gäm Se mir n Kuß !
Nee , warten Se Mal , lieber nicht !
Gäm Se Huldan n Kuß !
Und Hulda gibt mirn wieder , wenn Stilpe nichts drwider hat .
Und jetzt ging_es los .
Stilpe sang mit seiner grausamen Stimme das Lied von der Königsberger Bowle : Braun , braun , braun , Braun ist die Bowle , wie was ?
Wie was ?
Wie was ?
Ach , Kinder , seid moralisch , Die Bowle , die ist naß , Die Bowle , die ist naß .
18 * -- Heda , rief Wippert , die Mädchen beengen uns .
Sie sollen hinter den Stühlen stehen und uns bedienen .
Wir sind die Herren mit dem Peitschenstiel !
-- Du bist wohl verrückt , rief seine rote Clara , wie er sich mausig macht ! --
Nein , er hat recht ! schrie der kleine August .
Alle Mädchen raus !
Raus !
Mädchen sind gut , aber erst trinken !
Dann könn se wieder rein !
Zu enge !
Zu enge !
Er hatte schon fünf Glas getrunken .
Stilpe schlichtete das Problem salomonisch :
-- Es ist zu enge , das ist klar .
Aber die Mädchen in den Alkoven zu sperren , wäre grausam und gefährlich .
Ich schlage dies Arrangement vor : Barbemuche und mein Freund Girlinger schieben diesen köstlich beladenen Tisch in die Ecke , und wir legen uns in den Lichtkreis dieser Petroleumampel auf die Erde .
Hulda , hole die Kissen rein !
So wollen wir schlemmen und schlampampen nach griechischer Art , lang liegend wie Schläuche , immer ein männlicher neben einem weiblichen . --
Ja , liegen , liegen ! rief der kleine August .
Hulda , kennst Hamletn ?
Und sie lagerten sich griechisch , wie Schläuche .
Drittes Buch , drittes Kapitel .
Das alliterierende Mädchen nahm sich besonders gut aus . --
Sie sind das schönste Kanapee im Möbelmagazine des Herrn , sagte der kleine August .
Herr Lehmann mußte anstatt eines Mädchens sein Cello neben sich legen und die wichtigsten Reden , zumal , wenn sie rhythmisch wurden , mit leisem Saitenrupfen begleiten .
Es entwickelte sich ein unbeschreiblicher Lärm , zumal dann , als die Delikatessen , von denen Stilpe übrigens einige beiseite gebracht hatte , aufgezehrt waren und die Henry Clays dampften .
Der kleine August wälzte sich von Mädchen zu Mädchen und ächzte nur noch , wenn er nicht trank .
Ächzend entwarf er verführerische Schilderungen seines Schlafrockes , den ihm Richard Wagner geschenkt haben sollte :
-- Besucht mich doch Mal , Kinder , mein Schlafrock ist aus Seide , hehe , so mollig , und meine Badewanne ist auch nicht aus Pappe , nee !
Wenn aber jemand zur Unzeit lachte , wurde er ungeheuer wild und brüllte Schimpfworte der unerhörtesten Art .
Manchmal sang er auch Melodien aus seinen vielen ungeschriebenen Opern , die alle höchst erotischer Natur waren und im Oriente spielten .
-- Hehe , was hat der Meister gesagt ?
Gott_sei_Dank , hat er gesagt , daß der kleine August säuft , sonst müßten wir uns einpacken lassen .
-- Und deshalb säufst Du ja bloß , August , sagte Stilpe .
Er säuft aus Liebe zu Wagner , weil er den nicht umbringen will .
Es lebe August der Großmütige ! --
Halts Maul , Stilpe , ächzte August , Du bist die frechste Canaille , die ich kenne , aber ich liebe Dich , ich liebe alle frechen Kanaillen .
Hulda , klopf mir den Buckel ab !
Es dauerte nicht lange , und Alle waren betrunken , sogar Girlinger , der sich abwechselnd einen Rabulisten nannte und provenzalische Minnelieder sang .
Barmann hielt Volksreden , wobei er fortwährend wiederholte , nicht Bebel sei Präsident , sondern Bismarck .
Auch der kleine August schrie , daß er Bismarck liebte , nur wäre es schade , daß er kein Sachse wäre .
Wippert lag sehr lange auf den Knien und küßte der roten Clara die Schuhe .
Dazu sang er : Lang , lang ist_es her .
Drittes Buch , drittes Kapitel .
Stössel entwickelte Ideen über das Salondrama , das nur geflüstert werden dürfte und wobei man , wie jetzt Operngucker , Hörröhren im Theater verleihen würde .
-- Das Flüstertheater ist das Theater der modernen Nerven , das Theater der intimsten Seelendüfte .
Seelengesäusel !
Wollustgewisper !
Sanft !
Ganz sanft !
Hauch !
Und er flüsterte selber nur noch so leise , daß ihn kein Mensch mehr verstand .
Aus reiner Opposition stellte Stilpe das Ideal eines " Schmettertheaters " auf . --
Nur noch Verse , lang hinhallend Verse wie Fanfaren , Posaunenstöße , die wie lange Donner machtvoll ausrollen .
Z. B. so , und er brüllte mit voller Lungenkraft :
Ein Meer von Bowle , Dir , Natur , gebracht , in langen , langen , langen Zügen , ohhh !
Sonst sprach man mehr von unliterarischen Dingen , und Stilpe stellte sogar die Behauptung auf , es sei eine Schande , an Literatur auch nur zu denken , so lange der Magen noch gesund sei . --
Nur Magenkranke dichten .
Wer gesund ist säuft .
Und das ist der Grund unseres Saufens : Wir saufen , um auf dem Umwege über eine Magenkrankheit einmal Dichter werden zu können .
Unendlich oft sank man sich in die Arme , zumal , als die Mädchen eingeschlafen waren .
Die dicke Grete hatte sich mit Hulda direkt ins Bett gelegt , und die kleine Anna glaubte offenbar , sie wäre zu Hause , denn sie zog sich bis aufs Hemd aus und legte sich aufs Sofa .
Herr Lehmann durfte ihr ein Schlummerlied auf dem Cello geigen , und sie küßte ihn dafür recht herzlich , wenn auch im Schlafe .
Die rote Clara hatte sich nur die Haare aufgemacht und lag dem kleinen August im Schoße , der aber keinen Sinn mehr dafür hatte und ein paar Mal rief : Nehmt doch die Apfelsine weg !
Früh um drei schlief Alles .
Nur Stilpe stieg zwischen den Schlafenden hin und her und trank die Bowle leer . --
Die Betrunkenheit hob und senkte sich in ihm .
Ihm war , als führe ihn etwas im Kreise herum .
Zuweilen lallte er :
Wie dieser Lehmann schnarcht !
Drittes Buch , drittes Kapitel .
Dieser Idiot ist ganz selig .
Warum ?
Er hat seine Kniegeige .
Und dieser lasterhafte Greis !
Glücklich ist der Halunke .
Warum ?
Er glaubt an Richard Wagner .
Und diese lieben Knaben , eingeschlossen Girlinger .
Unbeschreiblich zufriedene Burschen !
Warum ?
Sie haben ihre Frauenzimmer oder ihren Zylinder .
Dahingegen ich !
Ich muß über ihre schnarchenden Leichen steigen und kann nicht schlafen .
Ach , was bin ich elend !
Ach !
Ach !
Ach !
Heulen !
Heulen !
Warum ist mir so übel ?
Warum geht Alles in mir auseinander ?
Die Schulden !
Die Schulden !
Überall Schulden !
Und , äh , ich weiß nicht recht , verlohnt sich denn das Alles ?
Ich . . . rutsche ja . . . ich . . . rutsche ja . . . Plötzlich gab er Girlinger einen Stoß mit dem Fuße .
Girlinger lallte : Drücke mich nicht so , Johanna !
Stülpen erfaßte ein wütender Zorn :
Also auch dieser Hering seufzt !
Und er stieß ihn noch einmal :
Girlinger ! --
Was denn ? --
Was hältst Du eigentlich von mir !
He ?
Nicht wahr , ich bin ein Lump und kuhdumm !? -- Versumpft , ganz versumpft , total . --
So , so ?
Reizend !
Hast Du gar keinen Respekt vor mir mehr ?
Wie ? --
Laß mich schlafen , ich muß schlafen .
Die Zigarren sind sehr teuer . --
Ob Du mich für dumm hältst ! --
Ja , ja doch , meinetwegen , Du bist ja natürlich dumm .
Das ewige Saufen . . . Du mußt ja verblöden .
Und außerdem . . . geschmacklos . . .
Ah . . . Ich muß schlafen .
Natürlich : Dumm !
. . . Ja , ja , das Saufen !
. . . Geschmacklos . . . Freilich . . . Blöde . . .
Hm . . . Mir ist selber so . . . Äh , wie die Mädchen schnarchen . . .
Er stellte sich vor die kleine Anna hin :
Wie rund sie ist .
Hm. Fest .
Warm .
Und ich stehe da wie ein Klotz .
Ich . . . ich . . . habe nicht Mal mehr Lust an dem .
Ich . . . Gott !
Gott !
. . .
Er sah sich scheu um und fuhr ihr mit der Hand über die Brust , aber wie angeekelt zog er die Hand schnell zurück .
Plötzlich warf er sich mitten ins Zimmer .
-- Ein Sauleben !
Ein Sauleben !
Alles hin !
Drittes Buch , drittes Kapitel .
Alles leer !
Fertig !
Fertig !
Jetzt schon fertig !
. . .
Er lachte laut auf und trank den Rest der Bowle aus dem Löffel .
-- Und was für eine Art Besoffenheit das ist .
Ich werde jetzt moralisch , wenn ich bezecht bin .
Köstlich !
Über alle Begriffe köstlich !
Das ist der Finger Gottes !
Ich soll in mich gehen !
Ein ausgezeichneter Fingerwink !
Eine sublime Ironie ! :
Halt ein mit dem Suff , sonst kriegst Du die Moral !
Man kann nicht deutlicher sein .
Oh ja , es gibt eine Vorsehung , meine Herrschaften !
Äh , pfui Teufel Viertes Kapitel .
Eine kalte Märznacht ; Regen , Wind und zerfetzt jagende Wolken .
Das Theater ist aus .
Karl Häuser aus München hat den Falstaff gegeben , und trotz des abscheulichen Wetters ist es den Leuten , die aus dem Theater kommen , behaglich zu Mute .
Auch Girlinger ist darunter .
Eben spannt er den Regenschirm auf , um seinen Zylinder und den neuen langen englischen Überzieher zu schützen , da tritt Stilpe an ihn heran .
Er hat keinen Überzieher , und statt der gelben Mütze sitzt ihm ein alter Schlapphut auf dem Kopfe .
Seine Hosen sind unten ausgefranzt , seine Stiefel zerrissen , statt Kragen und Shlips trägt er ein wollenes Halstuch .
Girlinger erschrickt , wie er ihn sieht , und macht eine Bewegung , als wolle er davon .
Drittes Buch , viertes Kapitel .
-- Aber es ist ja dunkel , Herr Referendar !
Du wirst Dich nicht kompromittieren , und ich werde Dich nicht einmal anpumpen , denn die zwei Mark , die Du mir spenden würdest , helfen mir nichts .
Aber reden möchte ich n bisschen mit Dir .
Mir ist , als hätten wir uns eine gute Weile nicht gesehen .
-- Ich wußte nicht , daß Du noch hier bist .
Ich glaubte . . . -- Was glaubtest Du ?
Geniere Dich nicht ! --
Nun , ich dachte , Du wärest vielleicht . . . -- Nach Amerika ?
Oder zur Schutztruppe ?
-- Ich meinte , Du wärest fort . --
Fort !
Sehr gut !
Aber siehe , noch ist er da !
Ja : Bleibe im Lande und nähre dich redlich , wenn Du kein Reisegeld hast , mein Sohn . . . .
Wo gehst Du hin ? --
Nach Hause . --
Ah so !
Nach Hause .
Das klingt ungemein nett .
Sage Mal , Du hast doch einen Hausschlüssel ? -- Gewiß .
-- Schön .
Dann kannst Du mir wohl ein paar Viertelstunden schenken ?
-- Eigentlich habe ich keine Zeit , da ich morgen Sitzung habe und mich noch etwas in den Akten umsehen muß . --
Sitzung !
Akten !
Nein , daß ich mit solchen Würdenträgern umgehen darf !
Wenn Leipzig russisch wäre , wärst Du sicher schon Beamter der achten Rangklasse . --
Ja , wenn Du mich verhöhnen willst . . . -- Nein , Girlinger , wirklich nicht .
Nee .
Ich bin so matsch . . Weißt Du , meine Stiefeln haben nur noch nominell Sohlen , und Abendbrot habe ich auch noch nicht gegessen .
Da sollte ich höhnen ?
Nein , ich höhne nicht . --
Aber , Mensch , wovon lebst Du eigentlich ! --
Sei unbesorgt : Louis bin ich nicht , obwohl . . . na , gleichviel .
Du warst im Theater ? --
Ja .
-- Ich auch .
-- Wie ?
Obwohl Du kein Geld zum Abendbrot . . . --
Ja , die Kunst , mein Lieber !
Die Kunst !
Ich bin nämlich Aushilfsstatist .
Hast Du mich nicht bemerkt ?
Gelbe Schlappstiefel und einen grünen Busch .
Ho !
Wenn nur die Wämser nicht so stänken . . .
Aber , was : Der Häuser , das ist ein Kerl !
Wie ?
Es ist gemein von Heinrich , Drittes Buch , viertes Kapitel . diesen Falstaff am Schlusse so zu behandeln . . . man könnte heulen !
Überhaupt : Das ganze Stück wird zur Tragödie durch diesen Schluß .
Und diese Parkett- und Galeriewanzen fühlen das gar nicht .
Oder etwa Du ?
Oh nein !
Welch eine Genugtuung , daß das fette Laster sein Teil kriegt .
Widerlich .
Auch Shakespeare war ein kluger Herr und verstand das Geschäft wie Ludwig Fulda .
Äh !
Mich hat_es gejuckt , laut aufzuschreien und diesem grünen Tugendprotz von Heinrich meine Schlappstiefel an den Kopf zu werfen .
-- Ein angenehmer Effekt . --
Ja , aber er hätte mich meine künstlerische Position gekostet .
Nein , ich darf Shakespeare keine Gemeinheit vorwerfen .
Ich bin auch ein rechnendes Schwein .
Mangelnde Abendbrote demoralisieren .
Girlinger fing an , einen psychologischen Bissen zu ahnen .
Es mußte wohl interessant sein , das Problem der Verlumptheit an einem konkreten und dabei einigermaßen vertrauten Fall zu studieren .
Er liebte solche Studien , wenn sie bequem gemacht werden konnten .
Also lud er Stülpen ein , mit ihm in ein Lokal zu gehen und Abendbrot zu essen .
Stilpe nahm diese Einladung mit Lebhaftigkeit an :
-- Mensch , wie schön sind Deine Gedanken !
Und ich hielt Dich keines Schwungs für fähig !
Verzeihe mir !
Aber Du mußt das Lokal mich bestimmen lassen .
Nur ist es schwer , denn Dein Zylinder paßt nicht in meine Milieus . . .
Aber es geht schon .
Die Gossenstube in der Klostergasse ist ein Rahmen , der für Dich und mich paßt .
Auch gibt es dort wunderbare Sooleier und einen Nordhäuser , der die Seele mit feurigem Besen fegt .
Du hast das ja nicht nötig ; Deine Seele ist rein ; dafür kannst Du Dich ja an die milde Gose halten .
Ich aber werde mich auf Deine Kosten gewaltig ausfegen .
Sie gingen in die Gossenstube und fanden einen leeren Tisch .
Stilpe aß mit Heißhunger und sehr viel , die Gose aber benutzte er nur als Vorwand für eine große Anzahl von Nordhäusern , die er mit " Kutscherschwung " zu sich nahm , wobei es stets den Anschein hatte , als wolle er das Glas mit verschlingen .
Im Lichte der Gasflammen sah Girlinger , wie ihm die letzten drei Jahre zugesetzt hatten .
Das unrasierte Gesicht fahl und aufgedunsen , die Lippen bläulich , die Augen scheinbar kleiner geworden und sehr unstet .
Eine zuckende Unruhe im ganzen Drittes Buch , viertes Kapitel .
Wesen , zumal in der Bewegung der Hände etwas ziellos Fahriges .
Aber der Nordhäuser schien zu beruhigen .
Zuletzt bekam Stilpe sogar seinen alten Zug von souveräner Ironie und die gewisse , etwas zu deutlich markierte vornehme Lässigkeit der Gesten .
Zumal den Rauch der Zigarre blies er ganz wie früher so grandios und dabei mit Genußmiene von sich .
Auch seinen alten Stil gab ihm der Nordhäuser ungefähr wieder . --
Ja , mein Teurer , bis auf diese etwas kleckerige Bank da habe ich mich glücklich hinabavanciert , seitdem diese lieblichen Idioten mit den gelben Mützen mich hinausgetan haben .
Wie heißt es doch : c. i. , das ist cum infamia .
Nun ja :
Eine reizende Phrase .
Ich hätte die ganze Sache mehr von diesem ästhetischen Standpunkte ansehen sollen .
Und wie nett das eigentlich war , ich meine , wie gut es dieses brave Schicksal eigentlich gedeichselt hat , wie mütterlich vorbereitend .
Erst diese Jünglinge mit ihrem Mikrokosmos von Bierjudikatur , und drei Monate später dieser Makrokosmos des Senats der freundlichen Alma mater . Nochmal c. i .
So sind die Naturgesetze .
Du verstehst mich doch ? --
Ja , aber sage Mal : Hast Du denn wirklich . . . ? 19 -- In der Tat :
Ich habe wirklich .
-- Aber Mensch , Du mußtest doch bedenken . . . -- Was mußte ich bedenken ?
Daß die Kasse der gelben Mützen nicht meine Kasse war ?
In der Tat !
Dieser Umstand war mir nicht verborgen .
Aber ad 1 :
Eine andere Kasse hatte ich leider nicht und ad 2 schwang mich die Wiege der Zuversicht , das biedere Cénacle , inklusive die beiden kapitalkräftigen Barbemuches , würden mich momento quo ( das ist mein Privatlatein ) nicht in der Galläpfelsauce sitzen lassen .
Ein falsches Kalkül , mein Holder , und wenn Du ein bisschen in der Weltgeschichte blätterst , wirst Du die Erfahrung machen , daß so was schon manchmal mehr als eine gelbe Mütze und eine Matrikel gekostet hat .
Übrigens wäre ich wirklich beinahe der honorigen Studentenschaft erhalten blieben .
Aber nicht immer vermögen die Unterröcke zu retten , was die Hosen versehen haben . --
Das verstehe ich nicht .
-- Tröste Dich : Ich werde es Dir gleich erzählen .
Erinnerst Du Dich an meine erste Liebe ? --
Welche ?!
Drittes Buch , viertes Kapitel .
-- Die chronologisch erste . . . Ich habe es Dir wie jedem Anderen damals unfehlbar erzählt .
Josephine hieß sie . --
Ach so , die , wo Du erst acht Jahre alt warst , in dem Dresdener Institut ?
-- Präzis die .
Josephine .
Buschklepper seine .
Dieser Engel hat mich retten wollen .
Es ist zweifellos rührend . --
Aber wieso denn ? --
Sehr einfach .
Du erinnerst Dich , wie ich euch damals die ganze Sache klar machte .
Nicht wahr ?
Ich sprach doch , wie Cicero und Catilina in einer Person .
Es war einer meiner Höhepunkte .
Ein paar Anakoluthe habe ich noch in der Erinnerung .
Nun , ihr wart mit Talg gepanzert .
Es rollte Alles ruhig ab .
Besonders Du warst ein großes Achselzucken .
Hehe , famos hast Du das gemacht , mein Liebling ! Prost !
Dafür sollst Du heute noch viele Nordhäuser bezahlen .
Also schön .
Ich raste ab .
Du mußt Dich daran erinnern .
Ich habe in meinem Leben das Wort Schweinehunde !
nie wieder so schön tremoliert .
Und überdies warf ich Dir ja ein Bierseidel an den Bauch .
Nicht wahr , Du erinnerst Dich deutlich ? --
Ja , Du warst noch unflätiger , als sonst .
19 * --
Das ist mir lieb , zu hören .
Aber Sela !
Als ich draußen war , sagte ich mir :
So , die Sache ist nun fix ; wo tröste ich meine Seele ?
Und da besuchte ich denn , aber Du darfst nicht rot werden , Referendar , jene Hausbesitzerin , von der wir manchmal gesungen haben : Warum ist Deine Laterne wie Blut so rot , Amalie ?
Du hast das sehr schön singen können , mein Engel , und oft habe ich Dich im Scheine dieser Laterne stehen sehen , überglüht wie von der Morgenröte .
So magisch wirst Du nie wieder aussehen , nie !
Und darum prost und Sela !
Apropos : Du bist doch verlobt ? --
Das gehört wohl nicht hierher .
-- Nein , es fiel mir in diesem Zusammenhänge bloß so ein .
Weißt Du , mir fällt immer das Ungehörige ein , hehe .
Übrigens fange ich an , in Stimmung zu kommen , und da rutschen mir immer die Gedanken aus .
Wart Mal , wovon sprach ich doch .
Richtig : Von Deiner Braut !
Ist sie wieder gesund ? --
Sei nicht albern .
Du sprachst von dem Hause dieser alten Vettel , dieser Amalie .
Drittes Buch , viertes Kapitel . --
A--ma--li--eh !
Richtig !
Und , daß ich damals hinging , wie ihr mich verstoßen hattet .
Richtig !
Ich bin im Gleise wie die Pferdebahn .
Nun gerade aus !
Hüh !
Brr !
Ulrichsgasse !
Alles aussteigen !
Ah !
Was gibt_es Neues , Mutter der Houris ?
War -- as ?
Wer ist denn das da ?
Ruhe !
Na ja , is gut . . . -- Mensch , Du phantasierst ja .
-- Roll mir ein paar Sooleier her , und ich steige auf die Erde .
Er aß ein paar Sooleier und kam zu sich .
-- Also denke Dir :
Ich gehe mit einem Mädchen hinauf und unterhalte mich mit ihr .
Sie gefiel mir nicht etwa .
Nein , sie gefiel mir gar nicht .
Sie war so , ich weiß nicht , so fatal dürr und , ja : Gläsern .
Sie hatte entschieden grüne Augen und unendlich viel Sommersprossen .
Aber um den Mund rum hatte sie so was Verächtliches , als ob er schon oft vor Ekel ausgespuckt hätte .
Weißt Du , wer so einen Mund gehabt hat ?
Unser alter Freund Börne .
Also , sie setzt sich aufs Bett und sagt : Na ? --
Hm , sage ich , schenken wir uns das !
Sie guckt mich groß an . --
Weißt Du was , sage ich , Du kannst mir dafür Deine erste Liebe erzählen .
-- Ich ? sagt sie , ich habe gar keine erste Liebe gehabt .
Gerade , wies anfing , war_es aus ! --
Nee , sage ich , so was !
Das mußt Du mir nun gerade erzählen .
Sie wollte durchaus nicht , aber ich hatte die Gabe der Eindringlichkeit , weißt Du , mit ein bisschen Schauspielerei und ein bisschen Gefühl neben dran .
Denn ich war ja immer gefühlvoll neben dran , hehe .
Und so erzählt sie mir denn . . . aber das war wirklich . . . hole mich der Teufel noch einmal !
. . . ich dachte , ich wäre endlich wieder Mal betrunken . . . ja , denke Dir : Sie erzählt mir meine Geschichte von damals !
Ganz genau !
Unterm Katheder und dann im Garten !
Ich kriegte direkt Angst .
Ich packte sie an den Handgelenken und sah sie so fürchterlich an , daß sie aufschrie .
Und da nannte ich ihren Namen , den richtigen , und dann meinen .
Nordhäuser !
Nordhäuser !
Er war ganz aufgeregt . --
Wie sie mich da ansah !
Die grünen Augen wurden tiefblau und strahlig .
Und mit einem Male lag sie mir am Halse und heulte , daß ich Drittes Buch , viertes Kapitel . denke , sie läuft aus .
Und stammelt und stottert und klappert mit den Zähnen .
Herrgott !
In meinem Leben habe ich ein fremdes Leben nie wieder so gefühlt .
Mir war_es , als hätte ich ihr Herz leibhaftig und blutend und stoßend in meiner Hand , und es rönne mir über die Finger .
-- Du Windelband !
Glotze gescheiter .
Hehe !
Dieser Referendar ist ergriffen !
Er lehnte sich zurück und blies den Zigarrenrauch lachend von sich . --
Komisch !
Furchtbar komisch !
Was ?
Das Leben ist talentvoll .
Es macht die schwierigsten Sachen ohne allen Apparat .
Schmeißt da zwei Zerschmissene aufeinander und sagt :
Da habt ihr euch !
Er sah Girlinger blinzelnd an :
-- Nicht wahr , die Geschichte ist ein paar Nordhäuser mit Sooleiern wert ?
Aber mir wird sie langweilig .
Was kam auch noch ?
Ich hatte das Stichwort und goß nun meine Geschichte von mir :
So , na und dann bist Du also gefälligst bald dorthin gekommen , wo Du jetzt bist , mein teures Mädchen ; bon !
Des Herrn Wege sind unerforschlich , und :
Wer weiß , wozu es gut ist , sagt der Christ .
Ich aber . . . Ach , ich mag nicht mehr erzählen !
Kurz und gut , wie sie erfuhr , was mir bevorstand , wollte sie das Geld aufbringen .
Viel Gesuche in allen Kasten , dann Geschrei und Gebettel bei Madame Amalie . . . Satis superque , es langte nicht .
Die Beiden schwiegen eine Weile .
Dann Girlinger : Und , was hast Du dann eigentlich getrieben ?
-- Ich ?
Getrieben ?
Welch ein Tropus !
Ich habe mich treiben lassen .
Ach so , Du willst wissen , was ich " gewesen " bin ?
Höhe !
Reichskanzler nicht ! --
Haben denn Deine Eltern . . . ? --
Ich habe eine Schmetterlingssammlung geerbt .
Es waren ein paar reizende Kerle darunter .
Das andere hat beinahe für die Schulden gelangt .
-- Warum bist Du nicht unter die Journalisten . . . -- Du siehst doch , daß ich noch unter die Journalisten gegangen bin . --
Aber , Mensch , Du hast doch Talent ! --
Aber das Leben hat noch mehr , wie ich Drittes Buch , viertes Kapitel . mir schon ein Mal zu bemerken erlaubte .
Übrigens , mein Sohn , irrst Du Dich , wenn Du denkst , ich bin unter den Rädern .
Ich bin bloß zwischen dem Roßmist .
Du brauchst mir nur das Reisegeld nach Berlin zu leihen , und ich stürze Herrn Bleibtreu .
Oh , es kommt schon noch die Zeit , wo ihr mit einigem Stolze sagen werdet :
Den berühmten Stilpe kenne ich !
Das ist ein Freund von mir. Deinen Nordhäusern von heute wirst Du es zu verdanken haben , wenn ich Dich dann nicht verleugne .
Viertes Buch Ecce poeta Reich mir einen Lorbeerkranz , Schicksal , oder aber Einen Bund voll Hafer .
Aus Stilpes zerstreuten Weisheiten .
Erstes Kapitel .
Ein junger Lyriker und ein noch jüngerer Dramatiker saßen im Café Kaiserhof in Berlin und erörterten die Zukunft der deutschen Literatur .
Da ging ein Herr an ihrem Tisch vorüber , und der Lyriker hielt mitten in der Bemerkung , daß erst nach völliger Austilgung der Tagespresse wieder an eine anständige Literatur zu denken sei , inne , um diesen Herrn , der sehr elegant gekleidet war und ein etwas blasiertes Wesen zur Schau trug , mit tiefer Verbeugung zu begrüßen .
Der Herr , an dem eine Fülle schwarzer , weit in die Stirn gekämmter Haare und ein Klemmer mit sehr breitem schwarzem Bande besonders auffiel , sagte mit einem schiefen Lächeln :
Nächste Woche kommen Sie dran !
Die freien Rhythmen habe ich schon klein gehackt .
Man tut , was man kann .
Der Lyriker machte noch eine Verbeugung und wollte etwas sagen , aber da war der Herr mit dem schwarzen Klemmerbande schon weiter gegangen .
An einem Ecktisch , wo der Kellner bereits den Absinth filterte , ließ er sich nieder . --
Wer war denn das ? fragte eifrig der Dramatiker .
-- Kennst Du denn den nicht !
antwortete erstaunt der Lyriker :
Stilpe !
-- Was ?
Den Kerl grüßt Du ?
Dem schickst Du Deine Bücher ?
Das ist ja der infamste Hund , der je kritisch gebellt hat ! --
Schrei doch nicht so !
Mit dem ist Freundschaft besser als Feindschaft .
Übrigens hat er wirklich Geist .
-- Ach was : Geist !
Ein Molch ist er !
Eine niederträchtige Bestie !
Ein impotenter Neidbold , der sich einbildet , mit Schnoddrigkeit alles totmachen zu können .
Die Reitpeitsche gehört ihm !
Eine Witzwanze ist er ! --
Was hat er Dir denn getan ?
-- Mir wird er erst noch was tun , aber ich hasse ihn schon vorher .
Dieses Gezücht muß ausgerottet werden , Du hast es ja vorhin selber gesagt !
Viertes Buch , erstes Kapitel . --
Bitte recht sehr !
Ich war noch nicht fertig !
Leute wie Stilpe nehme ich aus .
Er ist freilich ein Pamphletist , aber , zum Teufel , er hat einen alten Hut voll Talent .
-- Ich pfeife auf diese Art von Talent , hinter dem kein Charakter steckt .
Galle , Neid und Größenwahn , nichts weiter !
Den alten Hut haben hier Viele auf . --
Du irrst Dich , es steckt mehr dahinter .
Stilpe ist eine der interessantesten Erscheinungen in der Berliner Literatur .
Ein giftiges Aas , meinetwegen !
Aber : Unerschrocken !
Kennst Du denn seine Karriere ? --
Ach was !
Er wird sich durchgebohrt haben wie alle diese Holzpapierwürmer .
-- Urteile doch nicht so ins Blaue !
Ich sage Dir offen :
Ich habe Respekt vor dem Mann ! --
Oder Angst . --
Unsinn !
Respekt sage ich . --
Auch Hochachtung ? --
Ach !
Hochachtung .
Vor einem Kritiker hat man nie Hochachtung .
Aber er imponiert mir .
Die Art wie er sich durchgesetzt hat , gefällt mir , weil sie beweist , daß ihm der ganze Journalismus nur eine Gelegenheit zu Stilübungen ist .
Vor drei bis vier Jahren ist er hier in einem Coupe vierter Klasse angekommen , ganz abgerissen , ohne die geringsten Verbindungen .
Als Reporter hat er angefangen , d. h. eigentlich bloß als Hilfsreporter , und bei was für Blättern !
Es heißt übrigens , daß er damals in verschollenen modernen Revuen Gedichte veröffentlicht hat .
Jedenfalls hat er , während er hier beim literararischen Troß mitschuftete , nach auswärts in Literaturblättern die unerhörtesten Brandartikel geschrieben , als wäre er der heimliche Kaiser der deutschen Literatur .
Ich sage Dir : Dreck und Feuer , aber angemacht mit Flammpunsch !
Durch eine Serie von Ohrfeigen , die er von einem Schauspieler kriegte , wurde er berühmt .
-- In der Tat :
Imposant !
-- Ist es auch !
Denn diese Ohrfeigenserie war nichts weiter als ein abgekarteter Coup , wie sich später herausstellte .
Er und der Schauspieler prügelten sich programmmäßig nach gemeinsam aufgestelltem Regieplan und zwar mit nachdrücklichster Naturtreue .
Wie der Streiche geglückt und ihr Name in allen Zeitungen war , fuhren sie zusammen in einer offenen Droschke durch die Friedrichstraße und Stilpe ließ eine höchst amüsante Ehrenerklärung , die von Witz sprühte , durch die Viertes Buch , erstes Kapitel .
Blätter laufen , und die Aufmerksamkeit der Redaktionen galt nun nicht mehr seinen Ohrfeigen , sondern seinem offenbar großen journalistischen Talent .
Er kam an einem konservativ-antisemitischen Blatte an und schrieb nun das boshafteste Zeug , was sich nur denken läßt , gegen die " koschere Literatur " .
Er hat geradezu den antisemitischen Knüppelstil erfunden .
Und auf einmal , wie mit einem Krach , saß er auf der anderen Seite und drasch auf die Antisemiten los , daß es nur so knackte . --
Na , das ist doch der Zynismus der Charakterlosigkeit in frechster Form ! --
Aber es hat Stil , mein Junge , und , übrigens : Denkst Du heute noch über Arminius so , wie in Sexta ? --
Erlaube Mal , damit läßt sich jede Käuflichkeit entschuldigen .
-- Ich behaupte ja nicht , daß er ein moralisches Exempel ist .
Er ist ein Landsknecht der Feder , jedem zu Diensten und in jedem Dienste ein Draufgänger .
Wie ein General zur Zeit der italienischen Renaissance , der seinem Feldherrenstab bald das , bald jenes Wappen als Knauf aufsetzte , so schwang er bald diese , bald jene Fahne .
Aus dem Radtau-Antisemiten und fortschrittlichen Los 20 Gänger wurde erst noch eine Art literarischer Volkstribun der Sozialdemokratie , und es schien , als würde er dabei stehen bleiben .
Er schrieb damals mit einer merkwürdigen nüchternen Härte und hieb besonders auf den " Bourgeois-Anarchismus " der jungen Literatur los .
Aber plötzlich ein wilder Quersprung , und er enthüllte die Kunstfeindlichkeit der Sozialdemokratie mit einer solchen Unerbittlichkeit und bekannte so flammend seinen Irrtum , daß man wirklich glauben mußte , er sei vom Geiste aller freien Künste apollinisch besessen .
Seitdem datiert sein Ruf als literarischer Kritiker .
Er verließ die Politik und wurde der Schrecken der Belletristen .
Er fing an , fein zu werden , Du verstehst mich : Fein im Berliner Sinne , also witzig und scharf .
Natürlich muß er infolgedessen mehr verreißen , als loben .
Kritik ist Scheidekunst sagt er ; also :
Scheidewasser her !
Aber gerade deshalb liebt ihn sein Leserkreis .
-- Und das findest Du also imposant ! --
Nein , das gerade nicht , aber diese ganze Schamlosigkeit , mit soviel Witz und frechem Mute vertreten , zwingt mir sehr viel mehr Respekt ab , als die langweilige Leisetreterei der furchtbar ernsthaften Leute , die konsequent und reputierlich sind , Viertes Buch , erstes Kapitel . weil ihre Beschränktheit es nicht anders gestattet .
Sie schulmeistern die Literatur , er macht sich über sie lustig .
Nenne ihn einen Lump , aber ist er es in Großfolio , und wenn Du etwa sagen willst , daß er Schaden anrichtet , so behaupte ich , daß er das Interesse für Literatur hundertmal stärker anregt , als die anständigsten kritischen Registratoren .
Übrigens interessiert er mich im Grunde als Mensch .
Ich bin zwar bloß Lyriker , aber ich wittere hier einen tragischen Fall . --
Köstlich !
Wenn ein Lyriker es mit der Phychologie hält !
Jaja !
Ich sage Dir , dieser Mensch fühlt sich in seinem Salonrocke unendlich wohl und verachtet die gesamte schöpferische Literatur , wenn er nur immer genügend hohes Zeilenhonorar kriegt , um gut essen und trinken zu können .
Die Absinth-Flasche hat er schon bald leer . --
Ja , man sagt , daß er säuft , und das stützt wieder meine Meinung von der Tragik , die hinter diesem Menschen steckt .
-- Du bist wirklich ein Lyriker .
Dann sprachen sie wieder von der Zukunft der deutschen Litteratur. 20 * Der psychologische Lyriker hatte recht :
Stilpe fühlte sich in seiner bevorzugten Lage sehr unglücklich .
Er lebte allerdings sehr gut , seitdem er " in der Feuilletonmanege die Pausen durch schwierige Scherze ausfüllte " , wie er sein kritisches Amt umschrieb .
Er aß bei Kempinsky , ließ bei einem englischen Schneider arbeiten , trank nur ausgesuchte Spirituosen und hatte , wenn auch kein ständiges , so doch eine Art von Wanderharem , " wohlassortiert " .
Daß darunter keine eigentliche Geliebte war , empfand er nicht als Mangel .
Dieses Bedürfnis hatte er nicht , wenn ihn auch manchmal so etwas wie Sehnsucht danach anwandelte .
-- Vielleicht wäre es gut , wenn ich mich einmal richtig verliebte , sagte er sich ; das wäre doch wenigstens ein Surrogat für das Andere .
Aber es gelang ihm nicht .
Was aber war " das Andere " ?
Ein paar Stellen seines " Heftes der Aufrichtigkeiten " geben darüber Aufschluß .
Dieses Heft legte er zu dem Zeitpunkte an , als seine Stellung anfing , gesichert zu werden ; und das war dieselbe Zeit , um die er begann , sich unzufrieden zu fühlen .
Viertes Buch , erstes Kapitel .
Auf der ersten Seite stand dies :
" Jede Pflichtgewohnheit ist gemein , also auch das Lügen , als welche Kunst ich jetzt gewerbsmäßig und , wie ich mir sagen darf , nicht ohne Begabung , aber ich will ja hier ehrlich sein , also :
Mit ungewöhnlichem Talente betreibe .
Deshalb will ich wenigstens zuweilen diese Gewohnheit brechen und auf diesen Blättern die Wahrheit sagen .
Daß ich auch dabei lügen werde , versteht sich am Rande .
Aber diese Lügen werden eine eigene und amüsante Nuance haben .
Ich stelle es mir sehr anmutig differenziert vor : Lügen , die Wahrheiten sein wollen , aber nicht daran glauben , und Wahrheiten , die sich selber keineswegs trauen , aber ihrer Lügenhaftigkeit immerhin nicht ganz sicher sind und sich manchmal im Stillen zweifelnd sagen :
Wer weiß , am Ende sind wir wirklich wahr ?
Eine liebliche Sorte Schlinggewächs also , -- mein Gehirn mag eine ähnliche Struktur haben . "
" Es scheint wirklich :
Der Mensch lebt nicht von Brot allein und auch nicht von dem , was besser schmeckt ; er braucht ein Ziel , was er lieb hat , um " glücklich " zu sein .
Aber er muß dran glauben .
Beispiel : Ich war glücklich , als ich das Ziel lieb hatte , ein -- Dichter zu werden , obwohl ich damals lauter Schulden und keine Aussicht hatte , sie zu zahlen .
Oder : Ich war glücklich , als ich das Ziel lieb hatte , ganze Stiefeln zu bekommen .
Und ich hatte doch nichts zu essen .
Nun aber : Bitte , wo ist das Ziel , das ich lieb hätte ?
Ganze Stiefeln habe ich , und ein Dichter mag ich einstweilen nicht werden . . .
Alles wüsste und leer . . .
Das Ziel , einen Rausch zu bekommen . . . !
. . . ?
Ach , wie erbärmlich sind jetzt meine Räusche !
Ich trinke , weil_es schmeckt , und das ist niedrig neben dem eigentlichen Ziel des Trinkens , dem großen Rausch .
Vielleicht Morphium ?
Aber ich fürchte den Selbstmord . . .
Meine Krankheit heißt überhaupt Feigheit . . . Ich habe mich zu sehr an Kempinsky gewöhnt . . . Viertes Buch , erstes Kapitel .
Halt !
Ich werde nach Dressel streben !
Jede Woche zwei Feuilletons mehr , und es geht !
. . . Ach , wie kümmerlich und einfältig !
Bin ich denn schon ganz verblödet ?
Jeder Tag Dressel , das wäre ja eine Rohheit und unsagbar stümperhaft .
Ich würde mir ja selbst die Möglichkeit zu Magenidealen rauben . . .
Also : Ideale fehlen mir ?
Schau , schau , wie tugendhaft ich bin . . . Unsinn : Ideale !
Schon das Wort ist die verkörperte Maulsperre : I. . . e. . . a !
Pfeifen wir lieber darauf !
. . .
Aber das schweiß- und lustlockende Ziel . . . Sollte es die Liebe sein , die Li--a--bee ?
Oh nee !
Indessen . . . manchmal . . . ?
. . . hm . . . !
. . . Kürzlich liebte ich sehr stark in der Gegend des Weddings .
Ich zog mich schlecht an ( wie schade , daß ich meine letzte Leipziger Garderobe nicht mehr habe ! ) und entzündete den Scharlachfeuerbrand bei einem recht süßen Ding von Mantelnäherin .
Oh ja , es hatte was .
Die Armeleutliebe hat ihre Reize wie die Armeleutmalerei , und ich kam mir vor wie der dicke Kommerzienrat Katz , der einen Ude in seinem Speisezimmer hängen hat .
Er vertritt ihm die Stelle des Tischgebets .
Aber ich bin wohl nicht so christlich veranlagt wie der Kommerzienrat .
Ich zog mich wieder in die Nähe des Wintergartens zurück . . . Nein , die Liebe ist es nicht . . .
Zur Liebe bin ich jetzt entschieden zu ästhetisch geworden . . .
Oder zu niederträchtig ?
Nur keine Gene , werter Freund !
Den Sport will ich mir wenigstens bewahren , daß ich mich selber beim rechten Namen nenne .
Und jetzt will ich zu Emmy gehen , die mich " Kaviarbrötchen " nennt . "
" Ich nähre mich jetzt hauptsächlich von Lyrikern , und was ich dann von mir gebe , ist das Entzücken meines reizenden Publikums .
Nichts erfreut es so von Grund aus , als wenn man ihm einen gerupften Dichter vorsetzt .
Es besteht also in dieser deutschen Welt von heute immer noch eine Art Neid gegen diese Profession ?
Und , wenn ich mir selber auf die Plombe fühle :
Beneide ich das Geflügel nicht auch im Grunde Viertes Buch , erstes Kapitel . ein bisschen ?
Zumal die , die sich so verdorben stellen und so selig in der Einbildung sind , gewaltige und verruchte Sünder zu sein , -- sind sie nicht wirklich beneidenswert ?
Kerls , die sich noch geißeln können , muß man die nicht beneiden ?
Und überhaupt dieses Behagen , sich in Versen auszuschwemmen .
Es ist ganz sicher eine ejakulative Wollust .
Und der Rhythmus ist das Leben , Und die Prosa ist der Tod . . . Hole sie der Teufel !
Sie genieren mich .
Sie erinnern mich an Zeiten , da ich gerade so dumm und pueril war wie sie , und ich finde , es ist ungerecht , daß ich leiden muß , weil ich klüger wurde . . . Also : Ich leide ?
Sehr schön gesagt .
Ein dekoratives Wörtchen .
Schon die Stimmgabel zum lyrischen Gesang .
Ich werde mir auch so eine dicke schwarze Halsbinde kaufen , die Einem so was Biedermeierischhalbabgewürgtes gibt und zur lyrischen Livrée von heute gehört . "
" Im Grunde genommen , werter Herr , sind Sie den Idealen Ihrer Jugend ein wenig untreu geworden .
Fanden Sie nicht dermaleinst , daß es die Gemeinheit der Gemeinheiten sei , ein Dichter sein zu können und um der besseren Speise- und Weinkarte Willen ein Journalist zu werden ?
Ganz richtig .
Nur erlaubt sich irgend wer die Frage : Kann ich denn ein Dichter sein ?
Lächerlich !
Höchst lächerlich !
Sind Sie ein Lump , daß Sie sich verstellen ?
Wissen Sie nicht ganz genau , daß Sie ein Dichter wären , wenn Sie nicht , leider , es für bequemer hielten , ein Schubiak zu sein ?
Hm ; vielleicht nehmen wir bloß ein Schlammbad !
. . .
So zur Austreibung böser Säfte , wissen Sie . . .
Aber wer hat es Ihnen denn verschrieben ?
Meine Natur , meine schlechte , niederträchtige , gemeine Natur .
Durch Schlamm zum Rosenöl ! sagt sie .
Reizend , in was für Tropen Ihre Natur lügt .
Aber : Sie glauben ihr doch nicht ?
Je wo !
Ich kenne sie ja . "
Viertes Buch , erstes Kapitel .
" Es fängt an , geschmacklos zu werden , wie unwohl ich mich fühle .
Mein Ruhm stinkt zum Himmel , daß Pietro Arretino vor Neid semmelblond wird , meine Honorare könnten einem Cirkusklown den Schlaf rauben , mein Stil , dieses Gemächte aus Sprachnotzucht und Drehkrankheit , wird mehr kopiert , als die sixtinische Madonna , -- und ich bin der Gelbsucht nahe .
Was , zum Teufel , sitzt mir in der Leber !?
Oh , ich fühle_es !
Es ist ein Ekel an dieser Komödie , die ich aus mir gemacht habe mit dem Vorsatz , sie vom Repertoire zu streichen , sobald ich genug an ihr hätte , und die ich nun Tag für Tag seit Jahren spielen muß , weil ich sonst hinter die Kulissen geschmissen würde .
Ein schundgemeines Kassenstück , aber wehe , wenn ich ein anderes gäbe !
Es gilt nur die Frage : Verlohnt die Einnahme wirklich den Ekel ?
Wäre es nicht besser , ich träte endlich einmal vor und spiee dem werten Publikum ins Gesicht ?
Hollah !
Ahmende gäbe das erst recht einen Erfolg , und ich wäre obendrein die Ekelplage los ?
Wie , wenn ich Va--banque spielte ? "
" Ich sehne mich nach Unordnung , nach Verrücktheit , nach dem Gelächter derer , die nichts zu verlieren haben .
Ah , Du altes , treues Wort : Boheme !
Ein gelangweilter Lump zu sein , ein Lump in Wohlsein und Ängsten vor dem bisschen Daseinsgefahr , -- wie schal und schäbig !
Aber ein lachender Lump , ein königlich selbstherrlicher Lump mit leerem Beutel und den Taschen voll Hoffnung , ein dichtender Lump , ein Lump voll Laune und närrischen Plänen , ein freier Lump mit der Grazie des selbstbewegten Lebens , -- wie köstlich und groß !
Boheme !
Boheme !
Der Gedanke läßt mich nicht mehr los : Heraus aus diesem behäbigen Lumpentum und hinein in freche Abenteuer !
Ich muß mich wieder berauschen können und nicht bloß trinken .
Ich muß wieder einen Kreis um mich haben , in dem man betrunken wird an sich selber .
Viertes Buch , erstes Kapitel .
Diese schweren Weine machen faul , diese Champagner lügen bloß von Räuschen , diese kostbaren Liköre sind wie Seidenpolster , in denen man versinkt , ohne daß man glaubt , Houri-Arme schlängen sich um Nacken und Brust .
Was ist das für ein Leben !
Kein Ruck und Zuck , kein Taumeln und Drehen .
Geradehin , auf Gummirädern , hinter verschlossenen Kaleschenfenstern , allein .
Diese " Kollegen " !
Wie ernst !
Wie bedeutend !
" Beamte der öffentlichen Meinung .
Richter im Reiche des Schönen .
Staatsanwälte des Geistes .
Pioniere des Fortschritts .
Enkel Lessings .
Verantwortliche Redakteure der Moral . "
Oh , ihr . . . !
Na !
Ich kenne euch doch ?
Ihr habt doch allerhand Respekt vor mir ?
Ich unterstehe doch annoch makellos eurem Ehrengerichte ?
Wißt ihr denn nicht , daß ich täglich Unzucht mit allen Lastern des Witzes treibe ?
Warum werft ihr mich denn nicht hinaus ?
Solltet ihr . . . auch . . . ?
Bloß nicht mit soviel Frechheit . . . ? . . . Wie , wenn ich einmal meine Komödie , die ja ein Stück der euren ist , ohne Schminke auf eure Papierbühne brächte ?
Wenn ich die literarischen Hungerleider , die von Gnaden des Elends noch anständig sind , aufriefe gegen die gewirteten literarischen Beutelschneider und Gaudiebe ?
Wenn ich zeigte , was für Wäsche unter den schönen Röcken der Würdenträger der öffentlichen Meinung steckt ?
. . . Halt !
Das ist Stil für die Öffentlichkeit ; ich kann die Passage in meiner Broschüre verwenden , die ich wie einen Klotz in den Tintensumpf werfen will .
Ah !
Da haben wir ja schon Plan und Titel :
Eine Broschüre : Der Tintensumpf .
Schon bin ich inspiriert !
Aber hier wollen wir doch lieber nach Möglichkeit ehrlich sein , -- was habe ich also vor !?
Wenn ich es mir recht überlege :
Ich will mir , da ich von dieser Bühne abzutreten gesonnen bin ( bin ich_es wirklich ? ) einen guten und womöglich praktischen Abgang verschaffen .
Ich will sensationell abtreten , um -- drüben ein anderes gutes Engagement zu bekommen ?
Nein , das nicht .
Aber es wäre vielleicht möglich , daß mir dieser Abgang die Möglichkeit gäbe , eine eigene Bühne , eine Protestbühne zu gründen . ?
. .
Hm .
Die Perspektive ist gut . . . Geht die Broschüre , so findet Viertes Buch , erstes Kapitel . sich wohl ein spekulativer Herr , der mir meine eigene Zeitung gründet :
Die Zeitung der Zurückgewiesenen , das Blatt der Boheme auf jedem Gebiete . . . Und : Kein Zweifel , daß die Broschüre gehen wird !
Welcher Skandal ginge nicht ?
Aber ich muß rücksichtslos sein , wie ein Wilder und boshaft wie ein Affe .
Sagen wir ruhig :
Es muß ein braves Pamphlet sein .
Machen wir !
Ist nicht der Tintensumpf unleugbar ?
Bin ich mir nicht das schönste Modell ?
Hat mich dieser Sumpf nicht ruiniert ?
. . .
Der Teufel , ich komme immer in den Stil für die Öffentlichkeit .
Ich bin wirklich allerliebst eingeseucht ; es scheint , ich kann mir schon selber nicht mehr die Wahrheit sagen .
Aber für diesen Zweck ist das eigentlich ausgezeichnet !
Ich werde teilweise unbewußt lügen , und eine unbewußte Lüge knattert viel stärker als zehn bewußte Wahrheiten .
Eben rieb ich mir die Hände .
Es scheint , die Bösewichter auf dem Theater sind echter , als wir glauben .
Bösewicht !
Ich möchte jetzt Mal in den Spiegel sehen .
Wie sonderbar aufgeregt ich bin .
Rein wie betrunken .
Oh , ich ahne Räusche !
Wenn ich jetzt schon so außer mir gerate !
Und nun habe ich endlich das Wort für mich :
Ich will wieder außer mir geraten können !
Komme , was will :
Ich muß aus mir heraus , heraus aus diesem meinen Sumpf , und ich will mit gewaltigem Spektakel ans Land springen !
Platschen soll es . "
Zweites Kapitel .
Gleich nach dem Erscheinen des Tintensumpfs hatte Stilpe sein Quartier aus dem Karlsbad , das ihm längst zu still gewesen war , in die Nähe der Weidendammer Brücke verlegt .
Da hauste er nun vier Treppen hoch nach seinem Geschmack wie ein Student , nur , daß es keine kümmerliche Bude nach dem Hof hinaus war , sondern groß , hell , mit dem Blick nach der Spree und weithin über einen guten Teil Berlin .
Und laut war sie , umbrodelt vom Lärm der Friedrichstraße , den man wie ein rollendes Rauschen hörte .
Dazu das Rattern der Züge , die in den Bahnhof Friedrichstraße einfuhren , und von den Arbeiten am Neubau der Weidendammer Brücke her die dröhnenden Schläge des Rammwolfs , der die Notpfeiler in das Flußbett trieb .
21 Da aber gefiel es Stülpen gut .
Hier fühlte er sich zu Hause .
Das war nach seinem Geschmack :
Ein schmuckloses Zimmer mit abgenutzten Möbeln , die er nicht mit besonderer Schonung zu behandeln brauchte ; zu Nachbarn Garcons wie er , Studenten , Künstler und ein " besseres Mädchen " ; die Hausordnung dementsprechend liberal , die Wirtin desgleichen .
-- Ein guter Dunstkreis , hatte er gesagt , wie er die Wohnung bezog ; hier laßt uns die Götter locken mit Pfeifen und klingenden Gläsern .
Er hatte gleich seine alte Frechheit wieder , die er so lange unter einer anderen hatte verbergen müssen .
Es fehlten ihm nur noch die Genossen .
Aber sein Aufruf am Schluß des Tintensumpfs :
An das bisschen Boheme in Berlin ! hatte bald gezogen .
Es kamen sogar sehr viel mehr , als er gewünscht hatte , und vor Allem kamen sehr viele falsche Bohemeleute , unglaubliches Volk voll innerlicher Philistrosität , Theorienaushecker , Weltverbesserer , Pseudoanarchisten , auch einige lebendige Beispiele aus Krafft-Ebings Psychopathie sexuales : Alles , was irgendwie in der Welt nicht zurechtkam , glaubte zur Boheme zu gehören und im Verfasser des Tintensumpfs den Mann ge Viertes Buch , zweites Kapitel . fanden zu haben , der ihnen in einer neuen Zeitschrift weißes Papier bogenweise zur Verfügung stellen würde .
Dagegen blieben anfangs die aus , an die allein er gedacht hatte :
Die Dichter und Künstler .
Nur einige Jünglinge , denen der Dilettantismus mit jenem bekannten Strohfeuer aus den Augen leuchtete , waren als Vertreter der Kunst bei dieser ersten Flutwelle .
Erst nach ein paar Wochen , wie Stilpe von der gesamten Presse mit Einmütigkeit und ganz kurz als Schandfleck des Journalismus abgetan worden war , fanden sich die Rechten ein .
Stilpe merkte es sogleich daran , daß sie ihn unverzüglich anpumpten , und dann beim " Orakel der Buttelje " .
Sie tranken ungefähr mit derselben Technik wie er .
Nach etwa vier Wochen hatte er wieder ein " Cenacle " beisammen , und diesmal war es ein echtes .
Eine Maskerade mit französischem Namen war hier nicht mehr am Platze .
Seine neuen Freunde waren selber Originale , kantig geblieben in der großen Rührbüchse eines derb zugreifenden Lebens , und gaben den Freunden Mürgers nichts nach .
Es waren köstliche Kumpane für ihn und dabei 21 * entschiedene Talente für feinste Kunst und freistes Leben .
Nur ein paar von ihnen waren schon mit Werken an die Öffentlichkeit getreten , und es war nun eine Quelle gemeinsamer herzlicher Freude , wenn sie und Stilpe die niederträchtigen Kritiken zitierten , mit denen " der gefürchtete Kritiker W. St. " sie einst an den Pranger gestellt hatte .
Die Mehrzahl war so gut wie ungedruckt , denn es gab kein Blatt , das exzentrisch genug für sie gewesen wäre .
Nun sollte Stilpe natürlich dieses Blatt gründen .
Bei allen Zusammenkünften , soweit sie nicht bloß mit Trinken oder Rezitationen der " neuesten Sachen von Rang " ausgefüllt wurden , war diese Gründung das Hauptthema .
Aber nun waren schon zwei Monate seit dem Erscheinen des Tintensumpfes verstrichen , das Interesse für diese Broschüre ebbte nach der Provinz hin ab , und man war noch zu keinem Entschluss gekommen .
Da erlies Stilpe an den " inneren Kreis der Eigentlichen " eine Einladung , die unter dem Hinweis darauf , daß " mit den schwindenden Monden auch die Moneten verrollten " , zu einer letzten und endgiltigen Sitzung " in punkto Blatt " zusammenrief .
Postskriptum : " Um nüchternes Erscheinen Viertes Buch , zweites Kapitel . wird gebeten . . .
Der Peripatetiker soll die unmündige Tochter des Regenschirmhändlers zu Hause lassen . "
Stilpe erwartete die Gesellschaft ganz mit der Heiterkeit , die ihn immer leise hob , wenn ihm Gelegenheit zu Trinken und Reden in Aussicht stand .
Das hatte ihm in seiner " fundierten Periode " vornehmlich gefehlt :
Gesprächweise trinken zu können .
Im Rausche die Welt mit Worten aus den Angeln zu heben , das war ihm immer Bedürfnis gewesen , und das war ihm nicht erfüllt worden , als er das Dasein des gefürchteten Kritikers führte .
Denn damals fehlten die rechten Geburtshelfer für seine Worte .
Diese Art , sich dem Rausche des improvisierten Wortes hinzugeben , war sein Teil Produktivität , und er hatte sich im Grunde deswegen so unglücklich damals gefühlt , weil er zur Unfruchtbarkeit verurteilt war , weil ihm die Wollust , sich auszugeben , nicht wurde .
Hätte er die Fähigkeit und Freiheit besessen , so zu schreiben , wie er sprach , hätte er nicht im Grunde wider sein Wesen und wider seinen Stil schreiben müssen , so wäre die Gewaltaktion des Tintensumpfes kaum in dieser brückenabbrecherischen Art vor sich gegangen .
Er selber ahnte dies nur dunkel , in den seltenen Stimmungen , wo er sich einmal vor die Seele führte , was er eigentlich getan hatte mit seinem Schritt , den niemand begriff , und hinter dem man in den betroffenen Kreisen allerlei weitgehende Absichten vermutete , weil man es sich nicht vorstellen konnte , daß ein so " gerissener Kunde " wie Stilpe , der bisher ein Lager immer nur verlassen hatte , weil in einem anderen weichere Polster winkten , sich ohne bestimmte Aussichten eine ausgezeichnete Position verscherzt haben sollte .
Gerade jetzt , wie er die neuen Freunde erwartete , bedachte er einmal seine Lage .
Die Hände unterm Kopf zusammengeschlagen , die kurze englische Pfeife mit Old Judge im Munde , lag er auf dem breiten Lederdivan und betrachtete ein großes , rot , grün und schwarz gehaltenes Plakat , das an der Wand gegenüber befestigt war .
Die Worte darauf , in riesigen ziegelroten Buchstaben , lauteten : Viertes Buch , zweites Kapitel . !!
Sensationell !!
Der Tintensumpf Enthüllungen und Selbstbekenntnisse von Willibald Stilpe Dazu sah man in stilisierten schwarzen Wellen einen aufgeregten Tümpel , aus dem höchst entsetzte grüne Froschgesichter und die Schwimmfüße nach unten tauchender Frösche herausragten , während ein herkulisch gebauter Frosch , von dem das schwarze Sumpfwasser abfloß , große Ziegelsteine mit Aufschriften , wie : Heuchelei , Prostitution , Bestechlichkeit , Plagiat , Feigheit in den Tümpel warf .
Eine große , rote , aufgehende Sonne fehlte nicht .
Stilpe lächelte .
Der herkulische Frosch war also er , und die anderen saßen in der Tinte .
Gut soweit !
Aber was nun ?
Wenn die Zeitschrift den Erfolg hätte , wie die Broschüre , so wäre die Sache glatt .
Aber : Wenn nicht ?
Er war ja ausgesperrt , und es war kaum Aussicht vorhanden , daß man ihn in Gnaden wieder aufnehmen würde .
Denn er hatte sie alle beschimpft , von rechts nach links , ausnahmslos :
" Aber es gibt doch auch anständige Elemente in der Presse ! rufen Sie , mein werter Mitbürger .
Ei ja wohl .
Man hört es sagen .
Aber das Element selber ist unanständig . "
Stilpe überlegte :
Da ist eine Redefigur mit mir durchgegangen , scheint mir .
Hm .
Das war wohl ein taktischer Fehler . . .
Aber es klang !
. . . Ach was !
Wenn nur die Figur gut war .
Das liegt so in der Technik des Pamphlets .
Man muß Stil haben . . .
Das Pamphlet liegt mir überhaupt .
Jedes Jahr bloß eins , und ich kann auf alle Redaktionen pfeifen . . . Äh , was für Ideen !
Das wäre eine neue Schweinerei . . . Bin ich denn ganz verkommen ?
. . . Warum denke ich immer wieder an so was !
. . . Warum denke ich nicht wie meine vier Eigentlichen ?
Warum habe ich nicht bloß Verse , Phantasien , Burlesken , Träume im Kopfe ?
. . . Es ist schauerlich , wie zerfahren ich bin .
Da steckt nun was in mir ; ich hoffe doch , -- Viertes Buch , zweites Kapitel . oder . . . ?
Nein , es steckt schon was irgendwo , aber immer wieder hundsföttische Anwandlungen .
Zwei Seelen , ach ?
Aber die anderen haben ja zwei Dutzend !
Nur fahren sie nicht so auseinander . . .
Ein Ziel !
Ein Ziel !
Herrgott nochmal , endlich ein Ziel !
. . .
Also die Zeitschrift !
Ja , ja , ja !
Ist das nicht eine Tat ?
He ?
Die neue Literatur machen ?
Die freie Kunst zum ersten Male rücksichtslos proklamieren !
Zum ersten Male sagen :
Wir sind die Herren , kuscht euch , Gesindel !
. . . ? . . . Äh , im Grunde ist mir das wohl auch nicht gerade " Herzblut " . . . Diese ganze Schreiberei überhaupt : Geplärr . . .
Kann man zeitlebens seine Freude daran haben , Lesefraß zu kneten ?
. . .
Ist denn Schreiben Leben ?
Handlangerei für den besseren Mob ! Kellnergewerbe . . .
Er lächelte nicht mehr .
Eine scharfe , steile Falte teilte seine Stirn .
Seine Heiterkeit war verschwunden .
So ging es ihm immer , wenn er allein über sich nachdachte .
Deshalb brauchte er Leute um sich , die das wegschwemmten . --
Kommt denn die Bande nicht ?
Die Dämmerung kroch ins Zimmer , sie , die der " Bärenführer " den " Teppich der behaglichen Lyriker " nannte .
Dazu dröhnten von unten her die Dampframmen .
-- Der Bärenführer ist der glücklichste aller Menschen .
Zwar hat er kein Portemonnaie , aber er hat Weisheit .
Zwar liebt er die Weiber nicht , aber er liebt seinen lieben Gott , der ihm täglich von 10--12 Uhr zwanzig Quarteseiten Phantasien schenkt .
Hat er die niedergelegt , und hat ihm sein Kochbär ein tüchtiges Mittagessen mit Grobheiten gewürzt , so wandert er los wie ein tanzender Derwisch , und die Welt ist ihm eine Cremestange mit Cognacfüllung .
Er macht sich selbst zum Narren und lacht doch Alle aus , denn seine Narrheit ist ihm sein Spiel .
Er will nichts ; das ist sein Geheimnis und seine Heiterkeit .
Stilpe dachte das nicht ohne Neid .
Der " Bärenführer " war der " Erste der Eigentlichen " , ein wunderlicher Mensch , der mitten in Berlin mit dem Gleichmut eines orientalischen Weisen lebte und , arm wie ein persischer Bettelmönch , sich mit einer köstlichen Grazie des Geistes aushalten ließ .
Sein Reich war nicht von dieser Viertes Buch , zweites Kapitel .
Welt , aber wer sein Reich kannte , diese weiten kosmischen Räume voll unerhörter Phantasien und diese bunten Fabelstädte mit den intimsten Winkeln genießender Ruhe nach rasenden Räuschen , der wußte , daß seine Welt beträchtlich schöner war , als unsere .
Ein Fakir mit Humor .
In der Heimat seines Geistes , in Indien , wäre er wohl auch ohne Alkohol weise und heiter gewesen ; in Berlin aber mußte er sehr viel trinken .
Doch selbst im Alkohol blieb er harmonisch .
Es schien , als ob er wirklich die Fakirkunst besäße , sich durch seelische Kräfte gegen alles Giftige immun zu machen .
Besonders darum beneidete ihn Stilpe , der zuweilen selber merkte , wie der Alkohol an ihm zehrte , und wie er immer abhängiger von ihm wurde .
Der zweite der Eigentlichen war der " Peripatetiker " .
Auch er repräsentierte Weisheit in einem ganz unmodernen Sinne .
Stilpe behauptete , er sei die Reinkarnation des alten Diogenes , und diese Meinung traf das Wesen des Peripatetikers im Ganzen wohl .
Nur kam ein gut Teil weicher Verträumtheit hinzu .
Er übertraf den Bärenführer noch an sozialer Untergrundslosigkeit , denn er besaß keinen weiblichen Bären , der ihm kochte .
Es kam vor , daß er im Tiergarten übernachtete .
Sonst wohnte er bei Freunden herum .
Dabei war er von sehr edlem Anstande und fühlte die Würde seines Geistes .
Traf es sich , daß er in " bürgerlicher Gesellschaft " war , so trug er sofort , doch ohne Pose , ganz aus einem inneren Überlegenheitsgefühl , den Propheten zur Schau , der die Gewöhnlichen milde zum Handkuß zuläßt .
Er hätte einen guten , feinen Mönch abgegeben , wenn er nicht etwas Vagantenhaftes gehabt hätte .
Sein ganzes Leben war ein unausgesetztes Denken und Dichten .
Wo auch immer er war :
Er schrieb , und stets trug er Manuskripte mit sich herum , reich genug , fünf Nummern der Times zu füllen .
Nur konnten sie nicht abgedruckt werden , da sie niemand außer ihm lesen konnte .
In schwierigen Fällen war er selber nicht dazu imstande .
Stilpe besaß ein Manuskript von ihm , einen Conceptbogen in Quart , der außer den ersten Szenen zu einem Drama zwei Kapitel aus verschiedenen Romanen , sechs Gedichte in Prosa , drei in Versen und außerdem etwa fünf Dutzend Aphorismen und verschiedene Essay-Brouillons enthielt , alles durcheinander geschrieben , erst waagerecht , dann in senkrechten , dann in diagonalen Zeilen dazu .
Und Viertes Buch , zweites Kapitel . man durfte mit Recht und ohne Übertreibung sagen , daß ein geordneter , ökonomisch disponierender Literat von diesem einen Bogen gut ein Jahr seine geistigen Ausgabebedürfnisse hätte bestreiten können .
Leidenschaften kannte der Peripatetiker nicht , doch liebte er kleine Mädchen , so bis zum 10. Jahre etwa , sehr .
Für die Seele des Kindes war er geradezu hellseherisch begabt , und man konnte Kleinodien an Kinderscene von ihm vernehmen .
Er konnte übrigens ohne Alkohol auskommen .
Nicht so der dritte der Eigentlichen : Casimir , der Fugenorgler .
Es war ein gar wilder Pole voll von Dämonie und allen Künsten der Blague .
Er hatte als Dichter nur ein Thema , Stilpe nannte es die medizinisch-katholische Abgrundweiss , aber dieses beherrschte er mit der Meisterschaft bornierter Genies .
Sein Dichten war eine Art verzückter Drehkrankheit , und man wußte nicht , ob er sich drehte , um zu dichten , oder ob er dichtete , um sich zu drehen .
Doch konnte sich keiner der Macht dieser grandios wirren Eintönigkeit entziehen .
Es war schöpferische Besessenheit , die indessen manchmal mehr Beängstigung als künstlerischen Genuß hervorrief .
Er wäre als Gesell Schafte unmöglich gewesen , wenn er nicht gleichzeitig ein unübertrefflicher Blagueur , geradezu ein Meister der Blague gewesen wäre .
Stülpen , der selber in dieser Kunst viel vermochte , konnte er dadurch manchmal rasend machen .
Nur der Bärenführer und der Peripatetiker ließen sich nie beirren , der Bärenführer , weil er überhaupt aus Allem nur inwendige Heiterkeit schöpfte , und der Peripatetiker , weil sein Geist doch immer noch schneller lief , als die Blague des Polen .
Dagegen ließ sich der vierte der Eigentlichen , den sie den Zungenschnalzer nannten , nicht selten verführen , Kasimirn auf das polnische Glatteis mystischer Schnoddrigkeiten zu folgen .
Er liebte das Mystische gar nicht , er war ganz auf das Ästhetische und Erotische gerichtet .
Stilpe nannte ihn Doktor der Erotologie .
Er bestritt der Menschheit das Recht , in erotischen Dingen irgend etwas pervers zu nennen und machte aus dem , was er nun nicht pervers , sondern kultiviert nannte , ein eifriges praktisches Studium .
Er wäre gerne ein Don Juan der Perversität gewesen , indessen entgleiste seine Don Jüanschaft schon auf dem gewöhnlichen Gebiete der Erotik recht häufig .
Aber er nahm Alles für genossen und schnalzte mit der Viertes Buch , zweites Kapitel .
Zunge .
Als Dichter pflegte er das Gebiet des Undruckbaren mit anerkannter feiner Meisterschaft .
Und : Einen sachkundigeren Zirkuskritiker als ihn gab es nicht .
Als Gesellschafter war er unter den Vieren weitaus der angenehmste , denn er war von einer entzückenden echten Liebenswürdigkeit , voller Geist und Laune .
Nur mußte man früh um fünf Uhr nicht schon nach Hause gehen wollen .
Doch trat dieser Wunsch unter den Eigentlichen nie auf . --
Es kann eine ganze nette Zeitschrift geben mit den Vieren , dachte sich Stilpe , aber es ist mir unklar , ob irgend eine Nummer davon unverboten bleiben wird .
Man wird sie als Brief versenden müssen und von vornherein darauf schreiben :
Nicht für die Öffentlichkeit .
Hollah !
Ein neuer Trick .
Ein unöffentliches Blatt !
Das ist eine unbezahlbare Idee !
Er war Feuer und Flamme dafür und entwickelte sie sofort mit Leidenschaft , als die Viere bei einander waren .
Köstlich sahen der Bärenführer und der Peripatetiker aus , die Stilpes abgelegte Kleider aus seiner Kritikerzeit anhatten .
Er selber trug sich wieder mit einem Stich ins Salopp-künstlerische .
Die eleganten Kostüm aus dem englischen Atelier waren ihm nie sehr zu passe gewesen .
Jetzt nahm sich der Bärenführer in einem braunen , unendlich langschößigen Gehrock mit hohem , breitem , geschwungen geschnittenem schwarzem Samtkragen , eine seidene , bestickte Weste dazu , sehr drollig aus , und der Peripatetiker in einem seidenkragigen schwarzen Smoking nebst viereckig ausgeschnittener Weste war ein grotesker Anblick .
Der Pole suchte eine halbe Stunde lang in den weiten grauen Hosen nach den diogenischen dünnen Beinen .
Dann begann aber die Debatte .
Die Idee mit der Unöffentlichkeit schlug ein , doch hielt das nicht ab , sie sofort auch ein bisschen lächerlich zu machen .
Der Bärenführer wollte , daß das Blatt in einer Geheimschrift von arabischem Charakter und natürlich von rechts nach links gedruckt würde .
Casimir schlug vor , die Beiträge des Peripatetikers als Autogramme drucken zu lassen , um Viertes Buch , zweites Kapitel . jede Gefahr auszuschließen , daß sie gelesen werden könnten .
Der Peripatetiker schüttelte langsam den Kopf :
Aber ich möchte sie doch lesen !
Stilpe wurde ärgerlich und erklärte , er würde nicht eher etwas zu trinken geben , als bis man anfinge , ernsthaft zu reden .
Er fühlte sich beinahe schon als dekretierenden Redakteur .
Es wurde die parlamentarische Form bestimmt , damit man doch zu einem Beschlusse käme . --
Also , gut , wie gesagt , selbstverständlich :
Eugen Richter ; wie gesagt :
Ich bitte ums Wort ! rief der Bärenführer .
Stilpe , der natürlich präsidierte , erklärte , daß er ihn vormerken wolle ; zuvörderst aber müsse die Gesellschaft ein paar Worte von ihm entgegennehmen :
-- Erstens , meine Freunde , wollen wir uns geloben , heute zu einem Entschluß zu kommen .
Ich schlage vor , daß wir dies nicht ohne Feierlichkeit tun .
Lasst uns symbolisch vorgehen !
Wer sich verpflichtet , mitzuwirken zu einem endgiltigen Entschluss und wer zu erklären bereit ist , daß er sich jeder Entscheidung , die heute fällt , unterwerfen will , auch wenn sie gegen seine etwaigen Anträge 22 sein sollte , der wähle mit mir aus diesen Flaschen eine gelbgekapselte .
Es ist Kognak .
Die Weißkapseln enthalten Gin . --
Ich protestiere gegen diesen Wahlmodus ! erklärte zum größten Erstaunen Aller der Peripatetiker .
Ich habe noch nie Gin getrunken und möchte deshalb eine weiße Kapsel wählen , obwohl ich zu jeder Verpflichtung bereit bin .
-- Also gut ; die Erklärung wird zu Protokoll genommen , und Deine weiße Kapsel gilt für gelb , erklärte Stilpe .
Im Übrigen sehe ich , daß das Skrutinium allgemein für gelb entschieden hat .
Wir können also beginnen .
Um zu verhüten , daß wie bei allen vorigen Sitzungen ein Chaos der Meinungen durcheinander gehrt , schlage ich vor , daß jeder nur einmal das Wort erhält .
Damit ist gesagt , daß jeder sich genau überlegen muß , was er vorbringt , denn er wird keine Gelegenheit haben , sich später zu korrigieren .
-- Wie gesagt , ich bitte ums Wort ! rief der Bärenführer .
-- Du wirst es gleich bekommen .
Ich will nur noch das sagen :
Die Reden sollen sich an folgende Punkte halten : 1 )
Welcher Art soll die Zeitschrift Viertes Buch , zweites Kapitel . sein ? 2 )
Wie soll sie heißen ?
Ich denke , dieses Verlangen ist billig .
Wollen wir es so halten ? --
Ich bitte ums Wort , rief Casimir . --
Bitte ! --
Sehr schön !
Ausgezeichnet !
Aber : Muß man so feierlich sein , wie Stilpe , wenn man redet ? --
Das wird sich finden , aber ich bitte allerdings um eine ernste Behandlung des Gegenstandes .
Wenn wir uns dazu zwingen , werden wir auch schnell zum Ziele kommen , denn es ist freilich nicht amüsant , Reden zu halten , wie in einer Generalversammlung .
Wenn nichts gegen meine Vorschläge eingewandt wird , können nur wohl anfangen .
Es wurde nichts eingewendet .
Alle hatten das Bedürfnis , dieser ernsten Sitzung bald ein Ende zu machen .
Man rauchte stark und trank Toddy dazu .
Der Bärenführer begann :
-- Wie gesagt , selbstverständlich bin ich für eine in--de--pen--dente wie gesagt .
Sie muß anders sein .
Wie gesagt : Anders .
Ganz anders .
Selbstverständlich , wie gesagt , muß sie Honorare zahlen .
Aber schließlich , wie gesagt , ist das einerlei .
Wenn 22 * sie mir viel Raum hat .
Plakatformat , wie gesagt , gelbes Papier und zinnoberrote Lettern , von rechts nach links gedruckt , wie gesagt , in Lederrollen versandt .
Stilpe runzelte die Stirn und bemerkte :
Ich muß Dich wirklich bitten , ernsthafte Vorschläge zu machen .
-- Aber er ist doch ganz ernst , Bruder ! rief Casimir .
Ich finde das entzückend ! --
Wie gesagt , natürlich , das ist mein Ernst , selbstverständlich , wie gesagt .
Das ist doch sehr fein und , wie gesagt : Praktisch !
Die erste Nummer lassen wir an die Litfaßsäulen kleben , wie gesagt .
-- Hehe , und solche nette kleine Sandwichmänner lassen wir laufen , die sie auf dem Rücken herumtragen , hehe , und so werden sie dazu immer schreien und rufen , hehe :
Meine Herren Berliner , hehe , lesen Sie bloß , was der Bärenführer wieder gemacht hat !
Der reine Jeute !
Hehe !
Sie kennen doch Herrn Jeute , den Verfasser der Farbenlehre ?
Hehe !
Er ist auch ein bisschen pervers gewesen , der gute Mann , hehe ; so ein paar niedliche Epigrämmlein hat er gemacht . . . ah ! er war nicht ohne Begabung !
Viertes Buch , zweites Kapitel .
-- Was verstehen Sie denn von Goethe mein werter Pole , bemerkte der Zungenschnalzer .
Sie sollen erst einmal an die Ahnungsgrenze der Erotik kommen . . . -- Ich bitte , keine Privatgespräche zu führen , rief Stilpe .
Goethe und die Erotik beiseite :
Was will der Bärenführer noch ? --
Wie gesagt , ich bin für das Litfaßsäulenplakatformat und rot auf gelb , wie gesagt , und als Titel , wie gesagt , schlage ich vor :
Die gesprenkelte Nachtigall .
-- Pschakreff , kikeriki , wallahei , Bruder , Du hast recht : Ausgezeichnet !
Casimir stürzte ein Glas Toddy hinunter .
Die anderen , außer dem Peripatetiker , lachten .
Der Bärenführer mischte Gin in seinen Kognak .
Der Peripatetiker aber erhob sich im Tumulte des Lachens , sah gerade vor sich hin und begann ganz leise :
-- Unsere Zeitschrift sollte :
Das Prisma heißen .
Damit ist für Alle Alles gesagt .
Wie ein Prisma , das Strahlen fängt und Farben strahlt .
Nicht Spiegel des Körperlichen , sondern Lichtsammler und Scheinwerfer .
Nicht willkürlich in Kanten und Flächen , nicht roh und rauh , nicht zufallschön oder zufallwahr , sondern nach Gesetzen geschliffen , in reinen Linien verbunden und abgegrenzt ; nicht irgendwo liegend , nicht mit irgend einer Seite flach auf dem Boden , sondern an goldenem Faden aufgehängt in freier Luft , schwebend aus sich bewegt in einem langsamen Schaukelschwunge oder einen Kreis scheibend , da einen roten , da einen grünen , da einen gelben Strahl fangend und wieder von sich gebend , aber im Inneren Alles sammelnd , kernreich , keimheiß , in der Tiefe das Auge Gottes , auf den Flächen der Schein der durchschwebten Lichtwelt . . . Plötzlich zog er ein Stück Zeitungspapier aus seinem herrlichen Smoking und schrieb emsig auf den Rand , so weit er noch unbeschrieben war .
Die Anderen lächelten innig und tranken .
Stilpe erklärte , daß ihm der Titel Das Prisma gut gefiele . --
Oh , rief Casimir , mir gefällt besonders der goldene Faden .
Das ist das Symbol des Honorars .
Und dann :
Wie es im Kreise schwebt : Ausgezeichnet .
Hehe : So angenehm idiotisch , immer im Kreise , hehe , mit dem Auge Gottes .
Er stürzte wieder ein Glas Toddy hinunter .
Der Bärenführer fand Das Prisma auch gut , Viertes Buch , zweites Kapitel . aber er meinte , als Untertitel müsse Die gesprenkelte Nachtigall stehen : Wie gesagt :
Das Prisma , eine gesprenkelte Nachtigall !
Aber natürlich , wie gesagt , in Lederrollen versandt !
Jetzt lehnte sich der Zungenschnalzer in seinen Stuhl zurück und lächelte Stülpen überaus höflich mit einem fragenden Ausdruck in den schönen großen dunkelblauen Augen an .
Stilpe machte eine einladende Bewegung , und der Zungenschnalzer begann :
-- Meine Herren !
Sie werden ( er war der einzige , der sich mit Niemand duzte ) von mir nicht erwarten , daß ich Pläne und Titel vorbringen werde , die an Originalität und Erhabenheit mit denen meiner Herren Vorredner zu wetteifern vermöchten .
Ich bin der Meinung , daß wir in erster Linie volkstümlich sein müssen .
In diesem Augenblicke schlug Casimir eine gräßliche Lache auf und trank mit einer ungemeinen Schnelligkeit zwei Glas Toddy aus , dann kniete er vor dem Zungenschnalzer nieder und küßte dessen Stiefel .
Der Zungenschnalzer leckte sich den Schnurrbart , grinste und fuhr fort :
-- Wir müssen eine Kunst haben , die auf den Mittelpunkt alles Empfindens geht , auf das Geschlecht .
Nur eine Geschlechtskunst ist echt , ist Instinkt , ist Genuß , ist Leben , ist Volkskunst .
Eine ejakulative Kunst , orgastisch , brünstig .
Ein Hineinknieen in die Urakkorde der Animalität , aber in allen Finessen raffiniert , differenziert bis in die äußersten Nervenenden .
( Er schien seinen Schnurrbart verschlucken zu wollen , so verzückt bearbeitete er ihn mit seiner Zunge . )
Dabei aber verwegen bunt , jagend , peitschenknallend , fieberisch !
Tanzmelodien und Hengstwiehern .
Korsettkrachen und die Melancholie des Leierkastens .
Blechmusik und das Rauschen von seidenen Unterröcken .
Pubertätswimmern und das Schollern von Eisplatten in breiten , wälzenden Strömen .
Einen Titel dafür weiß ich nicht .
Das Unsagbare kann man wohl stammeln , aber nicht benennen .
-- Hehe , so sagen Sie doch : Der Stammler , werter Herr , oder : Stimmwechsel .
Das sind ausgezeichnete Titel .
Hehe , oder : Der Hengst des Volkes .
Das ist noch entzückender !
Oder : Der rote Faden !
Oder : Das Nadelöhr der Welt .
Hehe !
Ausgezeichnete Titel !
Der Pole schien sich ein bisschen zu ärgern .
Der Zungenschnalzer lächelte verbindlich : Viertes Buch , zweites Kapitel . --
Dann würde ich schon lieber gleich Phallus oder Priapus vorschlagen , wenn es nicht fürs Volk unverständliche Fremdworte wären , und die deutschen Ausdrücke sind leider zu Rohheiten gestempelt worden .
Es versteht sich , daß sie dadurch für mich unmöglich werden , denn das Rohe schließe ich ja aus .
Er lehnte sich wieder vor und lächelte mit einem Ausdruck wie :
Ich bin fertig , Herr Präsident !
Stülpen an .
Stilpe war mittlerweile betrunken worden und konnte nicht mehr an sich halten ; nun mußte er reden .
Er stand auf , setzte seinen Hornklemmer ab und ließ ihn an dem breiten Bande schwingen .
Dann begann er sehr laut :
-- Die gesprenkelte Nachtigall !
Gut !
Bunt !
Ornithologisch !
Also : Deutsch !
Wir würden sämtliche Mädchen damit verführen .
Oder wie ?
Es ist kein Zweifel erlaubt !
Denn es ist ein befiederter Titel . . . . Jawohl !
. . . Indessen !
Ah ! :
Das Prisma !
. . . Streng !
Keusch !
Gläsern !
Ideal !
Mathematisch !
Die Welt der Gymnasiallehrer würde zu uns strömen !
. . .
Sehr gut !
Indessen , mir scheint , . . . aber nein :
Sehr gut !
Nur . . . es blendet , es sticht in die Augen , und :
es ist kalt , sehr kalt !
Überaus kalt !
Außerdem weiß kein Mensch , was ein Prisma ist .
Der Titel erfordert ein Konversationslexikon .
Auch kann man keine Lyrik unterbringen .
Oder ?
Nein , man kann nicht , durchaus nicht !
. . . Dagegen : Phallus !
Ja :
Hier ist Lyrik , ausgesprochen Lyrik .
Sehr warm .
Winkend .
Kraft und Saft und Sinndeute der Welt . . . .
Aber warum nicht :
Der Phalluswald ?
Hört doch nur :
Der Phalluswald !
In ihm singt die gesprenkelte Nachtigall mit süßem Geschluchze , in ihm auch kann man irgendwo das Prisma aufhängen !
Sinnend wandelt hier der Peripatetiker , anmutig lehnt hier der Bärenführer und läßt aus seiner großen Zehe eine neue Welt wachsen , neue Tänze übt zwischen den fauligen Stämmen der Zungenschnalzer nach der Melodie des Bauchtanzes von Hawaii , tief bohrt sich ins Wurzelgeflecht die blutige Seelensuchekralle Kasimirs , und auch ich werde in diesem Schattenhain der Urgefühle die Lieder finden , die , wie ich mit Bestimmtheit behaupten darf , irgendwo in mir schlummern .
Lieben Freunde , trinkt Kognak und Gin , macht ein Feuer in euch an , daß eure Augen glühende Kugeln werden , groß wie die Uhrscheiben am Rat Viertes Buch , zweites Kapitel . hausturm , und eure Fäuste stark wie die Dampframmen der Weidendammerbrücke , trinket Gin und Kognak , Freunde , lieben Freunde und Genies , trinkt und glaubt an meine schlafenden Lieder , diese feisten Murmeltiere , aus deren Fett ich Elender Feuilletons gebacken habe , trinkt , trinkt , trinkt , schlagt euch rotgeränderte Wolken um die Schultern als Regenmäntel und kommt mit mir in den Phalluswald !
Kommt , o kommt und seid nicht träge , Sind auch glitschrig die Wege : Rot wie Rosen lacht das Ziel , Und wir wollen ins Behagen Milde , gütig jeden tragen , Der in eine Pfütze fiel !
Er war unmäßig gerührt und legte sich neben den Polen , der sich mitten im Zimmer niedergelassen hatte und nichts sagte als :
Der Seelenkrebs , Bruder , der Seelenkrebs , hehe , das ist der Titel , das ist das Programm !
Der Peripatetiker stand schweigend am Plakate des Tintensumpfs und bedeckte dessen unbedruckte Flächen mit Hieroglyphen , der Bärenführer ordnete die Cognac- und Ginflaschen und kommandierte : Leibgarde des Sultans !
präsentiert !
präsentiert !
Der Zungenschnalzer leckte sich den Schnurrbart und trank weiter .
Da klingelte es , und kurz darauf öffnete sich die Türe .
Herein trat mit einem leichten Aufschrei eine üppig schlanke , theatermäßig geschminkte Dame mit einem weiten blauen Theatermantel und einem riesigen Federhut .
Der Zungenschnalzer ging ihr mit Anstand entgegen , Stilpe drehte sich bloß um und rief : Süße Kamelie , leg Dich an meine Seite , wir haben Großes geleistet ! --
Das sehe ich .
Sage Mal , wie findest Du das eigentlich ?
Eine halbe Stunde habe ich am Wintergarten gewartet .
Is das nett ?
Sie sprach mit einem Anflug von Hamburger Dialekt .
Wie sie sich im Lichte der Lampe auf Stilpes leeren Stuhl niedergelassen hatte , sah der Zungenschnalzer , daß sie sehr hübsch , wenn auch nicht mehr ganz jung war .
Man hätte sie wohl für eine Dänin halten können :
Ganz hellblaue Augen mit großem Stern , flachsblonde Haare , die Nase ein klein wenig , aber sehr anmutig abgestumpft ; dazu ein sehr kleiner , schön geschwungener Mund , der ganz besonders zu dem kindlichen Ausdruck Viertes Buch , zweites Kapitel . dieses Gesichtes beitrug .
Die Haare trug sie in der Mitte gescheitelt und , die Schläfen wie einen großen Teil der Stirn ganz bedeckend , glatt über die Ohren gelegt ; hinten bildete ihre dichte Fülle einen üppigen Zopfkranz .
Diese Frisur gab ihr etwas süß Frauliches zu dem Kindlichen .
Wenn man ihr aber genauer in die Augen sah , so spürte man , daß eine heitere Energie der Grundzug dieses Wesens war .
Sie war , eine geborene Holsteinerin , dänischdeutsche Liedersängerin und trat jetzt im Wintergarten auf .
Stülpen hatte sie sehr gerne , aber sie war nicht eigentlich sein Fall .
Er liebte " die Weiber nicht sehr , vor denen man Respekt haben muß " , und vor ihr hatte er Respekt . --
Ach Gott , Du wärst so reizend , wenn Du nicht im Grunde so anständig wärst , hatte er oft zu ihr gesagt .
Man kommt sich mit Dir immer verheiratet vor .
Der Respekt , den er vor ihr hatte , brachte es jetzt auch zustande , daß er sich erhob und ein bisschen nüchtern wurde . --
Siehst Du , mein blondes Gewissen , ich konnte nicht kommen .
Erst die Literatur , dann die Liebe .
Wir haben soeben die deutsche Literatur mit einer neuen Zeitschrift begnadet :
Der Mastenwald oder so ähnlich , Organ für gesprenkelte Nachtigallen und Seelenkrebs .
Ja !
Das wird eine Nummer , Madame ! --
Ich kann mir den Unsinn schon vorstellen .
Du bist nicht mein erster Dichter .
Ich kenne das mit euren Zeitschriften .
Snak ! Dich hätte ich eigentlich für klüger gehalten .
Fällt euch denn gar nichts Neues ein ?
Der Bärenführer , der auch darin Orientale war , daß er die Weiber nur sexuell nahm , und auch das nicht eben mit Leidenschaft , wurde ärgerlich .
Er warf drei Flaschen um und rief :
-- Kattarattazambu !
Plokjotratuzupina !
Pschattu !
Pschattu !
Pschattu !
Dazu machte er ein sehr zorniges Gesicht .
-- Mein Gott , was hat denn der Herr ? fragte lachend die Sängerin .
-- Ich spreche , wie gesagt , die Affensprache , mein Fräulein , selbstverständlich platt , wie gesagt .
-- Gott , ist der aber komisch !
Was hat denn das geheißen ? --
Wie gesagt , selbstverständlich gar nichts , das heißt , natürlich :
Sehr viel , wie gesagt , nämlich : Viertes Buch , zweites Kapitel .
Was verstehen denn die Weiber von der Wortkochkunst , wie gesagt .
-- Aber ich verliebe mich doch fortwährend in Dichter , wie gesagt , da gehöre ich doch mit dazu .
Nicht ?
Jetzt drehte sich der Peripatetiker um und schritt langsam auf die Sängerin zu :
-- Guten Abend , Mathilde !
Er sagte das sehr zärtlich .
Die Sängerin sah ihn groß mit lachenden Augen an :
-- Ich heiße aber Martha ! --
Nein : Mathilde .
Ihre Stimme klingt wie Mathilde .
Ganz seraphimflügelblau mit einem Kern von willefrohem Ultraviolett .
Auch Ihre Hände flüstern Mathilde .
So lilienblattschmal und immer betend mit leis durchbluteten Adern .
Er nahm ihre rechte Hand und hielt sie vor das Lampenlicht :
-- Kinderpatscheken !
Sie sind ein guter Mensch , Mathilde !
Die Sängerin schüttelte ganz ernsthaft den Kopf : -- Nein , so was !
Sind Sie der liebe Gott , Sie freundlicher Herr ?
Dann lachte sie belustigt :
-- Nein , was hast Du denn da wieder für eine Menagerie ?
Jetzt weiß ich schon gar nicht mehr , in wen ich mich verlieben muß . --
Bitte , in mich ! sagte der Zungenschnalzer in einem zärtlich dringenden ernsten Tone . --
Sehen Sie : Ich könnte auf Ihnen spielen !
Seien Sie meine Liebesgambe !
Sehen Sie in meine Augen !
Was sehen Sie ! --
Sie haben sehr schöne Augen , wirklich .
-- Bloß schön ?
Nicht auch tief ?
Sehen Sie noch einmal hinein !
Es sah aus , als wollte er die Sängerin wie eine Auster mit den Augen verschlucken .
-- Aber Sie müssen meine Knie in Ruhe lassen .
Wirklich :
Sehr schöne Augen !
Sind Ihre Gedichte auch so schön ? --
Ach , lassen Sie meine Gedichte !
Meine Gedichte sind nichts , aber meine Liebe ist wie eine tigerbunte Orchidee .
Kennen Sie die Orchideen mit den gekrümmten Pistillen , die wie gelbgepuderte Schlangen sind ?
Die Sängerin schob ein zweites Mal die Hände des Zungenschnalzers von ihren Knien , dann lachte sie : -- Jetzt tut mir_es bloß leid , daß der da unten schläft .
Das is gewiß auch ein Netter !
Viertes Buch , zweites Kapitel .
Stilpe bemühte sich sogleich , Kasimirn zu wecken , aber der war endgiltig fertig und konnte bloß noch : Seelenkrebs ! schluchzen .
Die anderen aber setzten sich um die Sängerin herum und vereinigten sich , den Bärenführer nicht ausgeschlossen , in wohlausgesuchten Reden zu ihrem Preise .
Die Sängerin amüsierte sich sehr und tat auch jedem in Toddy Bescheid .
Das rührte den Bärenführer , der nun immer betrunkener wurde , ungemein , und er flüsterte :
-- Wie gesagt , Martha , selbstverständlich : Sie sind schön , schön wie mein Bär , wie gesagt .
Ich umarme Sie mit meiner Seele .
Ich liebe Sie fabelhaft !
Wie gesagt : Sie sind wie ein Bündel rosengelber Schlangen !
Sie müssen die gesprenkelte Nachtigall abonnieren !
-- Und das Prisma ! flüsterte der Peripatetiker .
-- Und den Phallus ! stöhnte der Zungenschnalzer .
-- Und den Phalluswald ! rief Stilpe .
-- Machen wir ! sagte die Sängerin .
Da schrie Stilpe laut auf :
-- Eine Idee !
Gründen wir vier , nein fünf Zeitschriften !
Auch Casimir muß seine haben .
Und jeder schreibt immer seine allein !
Wie ?
Ist das 23 nicht die Lösung ?
Jeder sein eigener Redakteur !
Ist das nicht , ja , ist das nicht . . . Wie ? --
Selbstverständlich , wie gesagt :
Fünf Zeitschriften in Plakatformat !
Die Sängerin schüttelte den Kopf : -- Aber , Kinder , seid ihr denn wirklich verrückt ?
Vorhin wart ihr doch bloß duhn .
Wenn ihr durchaus was gründen wollt , so gründet doch ein anständiges Tingeltangel ! --
Hu hu hu ! lachte der Bärenführer ; aber die anderen saßen da , als hätte sie jemand von oben fallen lassen . --
Ernsthaft !
Ein literarisches Tingeltangel !
Wirklich !
So was fehlt !
Wo gute Sachen gesungen werden .
Sie können ja auch verrückt sein .
Aber Sachen von Dichtern .
Und dann überhaupt Alles geschmackvoll , so , wie die englischen Balletts ; überhaupt :
Was Schönes !
Stilpe und der Zungenschnalzer erhoben sich gleichzeitig wie zwei Ergriffene und riefen durcheinander : --
Herrgott !
Donnerwetter !
Natürlich !
Das ist es !
Das müssen wir tun ! --
Selbstverständlich , wie gesagt :
Ein ästhetisches Tingeltangel !
Ach , Martha , Sie sind das Viertes Buch , zweites Kapitel .
Sternbild des großen Bären !
Wie gesagt , natürlich , selbstverständlich ein Tingeltangel , wie gesagt !
Auch der Peripatetiker war , in seiner patriarchenhaften Weise , von dem Gedanken ergriffen :
-- Eine Renaissance der Kunst , aller Künste !
Leise Singetänze in blauem Lichte .
Die verruchte Holdheit der Bajadere .
Der Rhythmus griechenmeerplätschernder Oden im Schmiegeschwunge nackter Brüste .
Sehen Sie , wie recht ich hatte , daß Sie Mathilde heißen ?
Am lebhaftesten aber waren Stilpe und der Zungenschnalzer ; Stilpe war durch die Idee nüchtern geworden , der Zungenschnalzer berauscht .
Der Abend endete mit dem festen Beschlusse , keine Zeitschrift , sondern das Literatur-Variete-Theater MOMUS zu gründen .
23 * Drittes Kapitel .
Stilpe saß an seinem Schreibtisch und arbeitete .
Er machte dazu ein Gesicht wie der lachende Zola , unendlich zufrieden und mit einem Blick , der auch noch im Lachen ein Ziel im Auge hat .
Die Pfeife saß im rechten Mundwinkel , von den Zähnen nach oben gestemmt , so daß es gar verwegen aussah .
Die Dampfwolken fuhren mit Kraft aus dem vollen Munde mit den aufgeworfenen Lippen .
Rechts und links türmten sich neben verschiedenen Liqueurflaschen Papiere , Briefe , Druckproben zu Programmen , Zeitungen , Zeichnungen , Manuskripte , Notenstöße .
Große offene Körbe standen im Zimmer , aus denen blumig bedruckte Musselinstoffe , dünne indische Seidengewebe in hellen schönen Farben , schwere dunkle Samte , Spitzen , Gold Viertes Buch , drittes Kapitel . Franzen hervorquollen .
An den Wänden hingen große bunte Kostümbilder im Geschmacke der englischen Ästheten , aber heiterer , frecher .
Mit dem Geruch des Old Judge mischten sich Parfüms von der resoluten Art , wie man sie in den Garderoben von Varietedivas einatmet .
Stilpe war von Grund der Seele aus vergnügt .
Wenn er einmal die Feder weglegte , rieb er sich die Hände und pfiff vor sich hin .
Ja , er murmelte sogar zuweilen Worte erregter Befriedigung :
Hopp !
So !
Tja , tja , tja , tja !
Höhe !
Das reißt !
Und doch war der erste Momus-Rausch , der Rausch der Pläne und Phantasien vorüber , der Rausch der Tage und Nächte , als sie in täglichen Zusammenkünften die Idee der Sängerin im Verein mit ihr genauer durchgesprochen hatten .
Wie hatten sie da über die Zeitschrift gelacht , wie hatten sie die Sängerin gefeiert als Retterin aus dem schlimmsten aller Tintensümpfe ; wie war da Stilpe von Tag zu Tag lebhafter , lustiger geworden . --
Ha :
Die Renaissance aller Künste und des ganzen Lebens vom Tingeltangel her !
Oh , das ingeniöse Mädchen aus Holstein !
Man wird sie preisen wie eine neue und größere Neuberin , als die moderne Muse in Person .
Unter ihrem Zeichen werden wir das neue , echte , ganze , das lachende Heidentum heraufführen mit Bocksprüngen und höchst edlen Faltenwürfen zärtlicher Gewänder .
In unserem Schlepptau wird Alles hängen : Malerei , Poeterei , Musikerei und Alles überhaupt , was Schönheit und genießendes Leben will .
Was ist die Kunst jetzt ?
Eine bunte , ein bisschen glitzernde Spinnwebe im Winkel des Lebens .
Wir wollen sie wie ein goldenes Netz über das ganze Volk , das ganze Leben werfen .
Denn zu uns , ins Tingeltangel , werden Alle kommen , die Theater und Museen ebenso ängstlich fliehen , wie die Kirche .
Und bei uns werden sie , die bloß ein bisschen bunte Unterhaltung suchen , das finden , was ihnen Allen fehlt : Den heiteren Geist , das Leben zu verklären , die Kunst des Tanzes in Worten , Tönen , Farben , Linien , Bewegungen .
Die nackte Lust am Schönen , der Humor , der die Welt am Ohr nimmt , die Phantasie , die mit den Sternen jongliert und auf des Weltgeists Schnurrbartenden Seil tanzt , die Philosophie des harmonischen Lachens , das Jauchzen schmerzlicher Seelenbrunst , -- ah , werft mir ein paar Feigenkränze voll Worten zu , blast mir Asso Viertes Buch , drittes Kapitel . ziationen ein , laßt mich in Inkohärenzen lallen , laßt mich farbige Wortflutsäulen ausnüstern , groß wie die Wasserwürfe aus den Nasen verzückter Walfische !
Wir werden ins Leben wirken wie die Troubadours !
Wir werden eine neue Kultur herbeitanzen !
Wir werden den Übermenschen auf dem Brettl gebären !
Wir werden diese alberne Welt umschmeißen !
Das Unanständige werden wir zum einzig Anständigen krönen !
Das Nackte werden wir in seiner ganzen Schönheit neu aufrichten vor allem Volke !
Lustig und listig werden wir diese infame , moralklapprige Welt wieder machen , lustig und himmlisch frech !
Leichtsinnig soll die Bande wieder werden und soll bauchtanzen lernen !
Ah , wir ahnen vielleicht gar nicht , was für raffinierte Sachen die Biedermänner Germaniens leisten werden , wenn unser Geist über sie gekommen ist !
. . . Kinder , küßt unseren blonden Engel hier und umarmt mich , denn wir haben die Welt im Sacke !
In diesem Stile und toller noch gebärdete sich die Wollust Stilpes , endlich einmal ein Ziel gefunden zu haben , das seinem Wesen gemäß war .
Und die anderen , der Zungenschnalzer voran , waren nicht weniger außer sich .
Dabei entwickelte Stilpe aber auch eine wirk liche Tätigkeit , und , kaum , daß ein Monat vergangen war seit dem ersten Auftauchen der Momus- Idee , da hatte er auch schon " Kapital am Bändel " , und die Aktiengesellschaft Momus war gegründet , ein verkrachtes kleines Theater gemietet und er " artistischer Direktor " des Ganzen .
Seine Gabe , sich auch klug zu benehmen , wenn es Not tat , kam ihm dabei sehr zu statt .
Es war ein Schauspiel , ihn zu sehen , wie er in seinem Staatsrocke und mit seinen lässigen Gesten des sicheren Geschäftsmannes bei " Leuten von Gelde " am Werke war , die aussichtsreiche neue Idee mit einem großen Aufwande von Zahlen aus dem Geschäftsberichte der Londoner Empire-Gesellschaft zu entwickeln , und wer ihn anzuhörte , wie er in gesetzter Rede , aber mit einem Grundton tiefer künstlerischer Überzeugung und dabei gestützt auf entwickelungsgeschichtliche Ideen origineller Art nachwies , daß das Unternehmen eines " künstlerisch-literarisch bedeutsamen Kunstinstitutes mit Variete-Prinzip " geradezu eine Forderung des Zeitgeistes sei , der zweifelte nicht , daß hier eine " Sache " im Entstehen war . --
Sehen Sie die Theater an !
Sie sind leer !
Gehen Sie in den Wintergarten !
Er ist voll !
Dort Ableben , hier Aufleben !
Wer die Kunst liebt , Viertes Buch , drittes Kapitel . muß von Schmerz ergriffen werden bei diesem Anblicke , und Sie wissen , wie sehr sich kunstfreundliche Kreise bemühen , durch Gründung billiger Theater etc. das Publikum , zumal der breiteren Volksschichten , dem Variete zu entziehen .
Ein lobenswerter Plan , aber eine falsche Methode , ein verhängnisvoller Irrtum , entsprungen einem Mangel an Zeitpsychologie und an Verständnis für entwickelungsgeschichtliche Resultate !
Die Zeit des Theaters ist im Ganzen vorbei !
In diesen alten Schlauch füllt nur der Unverstand neuen Wein !
Nein , wie das Theater , ehedem ein Appendix der Kirche , sich von dieser losmachte und sich selber eine neue , damals zeitgemäße Form gab , so muß sich die Kunst heute vom Theater emanzipieren und entschlossen die Form annehmen , für die sich der Zeitgeschmack entschieden hat :
Die Form des Variétés !
Beides ist reif zum Untergange :
Das Theater , weil seine ganze Struktur zu klotzig , schwer und unbeweglich ist für die Genäschigkeit des modernen Kunsttriebs , und das jetzige Variete , weil es seine überaus günstige , allen Wünschen einer nervösen Zeit gemäße Form nicht mit wahrhaft künstlerischem Inhalt zu erfüllen versteht .
Lassen Sie uns ein Variete gründen als ästhetische An stahlt im weitesten Sinne , als Trägerin und Verkörperung all der heute so üppig sich entfaltenden Richtungen in den Künsten , als Schaubühne des Schönen für Auge , Ohr und Gemüt , und Sie werden sehen , daß Sie sich an einer wahrhaft kulturellen und zugleich eminent praktischen Tat beteiligt haben !
Mit dieser Anrichtung seiner Ideen für den Geschmack von Leuten , die in Kunst spekulieren wollten , hatte er umsomehr Erfolg , als er sich gleichzeitig den Anschein des vorsichtig bedachten Geschäftsmannes zu geben wußte , der es fürs Erste ablehnte , ein Rieseninstitut ins Leben zu rufen .
Ganz von selbst werde sich aus bescheidenen Anfängen das große Etablissement der Zukunftsbühne entwickeln .
Sein bekannter Name , mit dem sich die Empfindung von " geistreicher Schriftsteller " verband , tat das Übrige dazu , auch wirkte es besonders überzeugend , daß er selbst als Erster fünftausend Mark allein zeichnete .
So erfolgte die Gründung der Gesellschaft schnell , und er erhielt einen Kontrakt als artistischer Direktor mit vollkommener Selbständigkeit .
Da er so klug war , bei den ersten Ankündigungen des entstehenden Unternehmens seinen Namen , ob Viertes Buch , drittes Kapitel . wohl ihm das sehr schwer fiel , beiseite zu lassen , so nahm sich auch die Presse , wenn auch mit den üblichen Vorbehalten , der Sache an , und der Name Momus tauchte in kurzen Zwischenräumen halb geheimnisvoll immer wieder in den Blättern auf .
Es konnte kein Zweifel mehr sein , daß das Berliner Publikum , in erster Linie die literarisch und künstlerisch interessierten Kreise , der neuen Sache mit Spannung entgegensahen .
Der Umstand , daß die Witzblätter das Schlagwort vom poetischen Tingeltangel aufbrachten , allerlei literarische Chansons vorschlugen , Ernst von Wildenbruch als Hausdichter des Momus , Menzel als Kostümzeichner und Karl Frenzel als Tanzmeister namhaft machten , trug dazu bei , das Interesse wachzuhalten .
Indessen arbeitete Stilpe mit heiterer Ausdauer unausgesetzt an der Ausgestaltung des Unternehmens bis ins Einzelne .
Der Bärenführer und der Peripatetiker schleppten täglich die unerhörtesten Chansons herbei , der Zungenschnalzer entwarf erotische Szenen von trikotloser Kühnheit , Casimir röchelte im Psalmenstile schauerlich schöne Seelenmonologe voll krebsgeschwürigen Abendröten und satanischen Absinthismen , gestimmt und berechnet auf die Maultrommelbegleitung aztekischer Urmelodien , die ge samte junge Lyrik aller Schattierungen sandte nach Berlin NW. 32 , " postlagernd Momus " , Lieder jeder erdenklichen Art , die Komponisten waren auch nicht faul , und die jungen Maler und Zeichner ebensowenig .
Dazu wimmelten Chansonetten und Komiker , Reckturner und Jongleure , Tierbändiger und Zauberkünstler , Knockabouts , Clowns , Gedankenleser , Schlangenmenschen , plastische Poseusen , Schnellmaler , Schnelldichter , Schnellmodelleure , Schnellrechner , Mimik , Negertänzer , Skandalfürstinnen , Antispiritisten , Bauchredner , Zwerg- und Riesenmenschen , kurz alles herbei , was nur auf den Namen Variete hörte und das Literarisch-Künstlerische für Nebensache erachtete .
Sogar Herr Alward kam .
All das bereitete Stülpen ein herzliches Vergnügen , und er bedauerte fast , daß das Programm des Momus so enge Grenzen hatte .
Dabei war er in Auslegung des Begriffes Ästhetisch keineswegs engherzig und legte es im Grunde mit " irgendwie angenehm " aus .
Nur mit Aufgebot von außerordentlicher Energie ließ er zumal weibliche Artisten ziehen , wenn sie irgendwie angenehm auf ihn wirkten , und gewaltig groß war die " Liste der für später notierten Mädchen " , die er zwar Viertes Buch , drittes Kapitel . nicht sogleich brauchen konnte , denen er aber mit väterlichem Wohlwollen erklärte : Später peutetre !
Seine Haupthelfer waren der Zungenschnalzer und Martha die Muse .
Diese beiden besaßen die eingehende Fachkenntnis , die ihm , dem Organisator und Neuschöpfer , doch abging .
Der Zungenschnalzer wurde als " Choreograph " , Martha als " Direktrice für Chanson und verwandte Gebiete " engagiert .
Der Bärenführer , der Peripatetiker und Casimir konnten in festen Stellungen nicht verwandt werden , doch übten sie das Amt lyrischer Lektoren aus .
Casimir stöhnte am lautesten unter dieser Bürde :
-- Lauter Joethes , Bazillenschwärme von Joethes ; es ist sehr scheußlich .
Und fortwährend zitierte er die ihm verfallenen Lyriker mit dem Tone ironischer Ergriffenheit .
Der Peripatetiker mißbrauchte die ihm anvertrauten Gedichtblätter zu Manuskripten , und der Bärenführer erklärte , daß er nur über solche Lyrik objektiv urteilen könnte , der deutsche Briefmarken als Rückporto beigelegt seien .
Im Übrigen interessierte der ganze Momus diese Drei nur insofern , als sie durchaus wünschten , auf dem Programm der Première zu stehen .
Stilpe war auch ganz damit einverstanden , nur waren die bis jetzt von ihnen vorgelegten poetischen Erzeugnisse nach seiner Meinung noch nicht momusreif .
-- Druckreif und momusreif ist ein Unterschied , meine Süßen !
Ihr seid noch nicht auf der Höhe des Brettls , ihr seid noch zu papieren ! rief er ihnen immer wieder zu .
Übrigens entschied er nicht allein darüber ; Martha die Muse hatte das Hauptwort dabei .
Wie er mitten im vergnügtesten Korrespondieren war , trat sie ein :
-- Na , haben wir endlich ein paar Dichter ? --
Nee , ich glaube nicht .
Wir müssen den Stil erst erfinden .
Entweder fehlt ihnen der Mut oder der Geschmack zum Gassenhauer .
Bloß der Zungenschnalzer hat ein paar gute Sachen produziert , und das Schönste ist , daß er sie auch selber singen kann .
Er ist überhaupt unbezahlbar , und ich werde ihn zum Konrektor des Momus ernennen .
Er kann direkt Alles , nur muß man ihn eigentlich erst ein bisschen kastrieren .
Himmelschreiend diese Erotik !
Die vier Tanzmädchen hat er schon vollständig verdorben , und sie wollen nun schon gar nichts mehr anziehen .
Er übt jetzt ein Literaturballett mit ihnen ein und ist schon bei den Roman Viertes Buch , drittes Kapitel . tickern :
Pas de Tieck .
Dann hat er mit den drei Poseusen eine herrliche Nummer ausgeheckt :
Das Heinedenkmal .
Die Idee ist von mir , aber ich muß sagen :
Er hat sie direkt mit Diamanten übersät .
Er wird Heine selber darstellen , im Bett liegend , von anmutigen weiblichen Visionen ergötzt .
Auch einen dressierten Bären hat er als Atta Troll aufgetrieben .
Na , Du wirst ja sehen !
Es ist eine unbeschreibliche Nummer !
Damit die Antisemiten nicht Spektakel machen , lassen wir darauf das " Journalistische Trio " folgen mit den drei jüdischen Komikern .
Sie sind zwar ein bisschen ruppig , aber ohne Ruppigkeiten geht_es nicht .
Übrigens ist mein Text dazu um so feiner .
Die Bande soll_es spüren !
Jetzt , wo sie wissen , daß ich die Sache mache , druckt kein Mensch unsere Waschzettel mehr .
Na , dafür haben wir die Litfaßsäulen !
Totschweigen gibt_es nicht ! --
Nur :
Diese verfluchten Lyriker !
Schließlich muß ich alle Couplets alleine machen .
Wenn ich nur mehr Zeit hätte !
Und dieser Bärenführer , auf den ich so viel Hoffnung gesetzt hatte !
Der Mensch weigert sich , regelmäßige Strophen zu bauen und steift sich fortwährend auf das , was er " Finesse " nennt .
Der Peripatetiker tut auch nicht , was man will , und Casimir kennt seit zwei Wochen bloß noch ein Thema :
Die Blutschande .
Was soll man mit solchen Leuten machen ?
Die Literatur sitzt ihnen im Schädel wie eine Riesentrichine .
Keiner begreift , daß wir die Bühne der Zukunft gründen wollen !
Sie werden heute wieder anrücken und Vorschuß verlangen .
Ich zahle jetzt aber nicht mehr in bar , sondern in Viktualien .
Dabei hat sich Casimir in die zweite Poseuse verliebt und will für sie einen Seelenrhythmus dichten , natürlich ohne Worte , bloß " Gebärden einer profunden Idiotie des Geschlechtszentrums " .
Das geht noch über den Zungenschnalzer !
Dafür verlangt der Bärenführer -- den antierotischen Bauchtanz !
Nächstens schmeiße ich alle Drei die Treppe hinunter .
Sie haben keinen Ernst , weil sie keine Verantwortung haben ! --
Gott , vorhin hast Du so_ein fideles Gesicht gemacht , und jetzt bist Du der richtige Direktor ! --
Ach , ja , freilich !
Weißt Du :
Die ganze Geschichte wäre herrlich , wenn bloß nicht diese verdammte Literatur dabei wäre .
Natürlich bin ich fidel !
Ich habe ja was zu tun !
Aber , wie gesagt :
Die Literatur !
Wenn wir bloß keine Literatur brauchten !
In diesem Augenblicke schoben sich die Drei zur Viertes Buch , drittes Kapitel .
Türe herein , und der Bärenführer rief , indem er Miene machte , sich in einen Dufthaufen hellblauen Musselins zu setzen :
-- Verzeihe mir , Stilpe , verzeihe mir , wie gesagt , ich bin betrunken , und Du mußt mein Couplet nehmen !
Es ist ja so schön !
Der Droschkenkutscher Nr. 8715 hat mich dafür gratis fahren wollen !
Wirklich , wie gesagt , Du mußt es als Prolog von mir deklamieren lassen !
Und er schrie ganz wild , fast schäumend :
Rum will ich !
Uranusbraunen Rum will ich !
Keinen Tee !
Denn ich will betrunken sein !
Gleich den tiefen Unken sein !
Fröhlich wie ein Schnee- König will ich sein !
Der Peripatetiker fange kindlichen Tones im Refrain : Fröhlich wie ein Schnee- König will ich sein .
Der Bärenführer fuhr mit rollenden Augen fort : Arak will ich !
Sehnsuchtblonden Arak will ich !
Keinen Tee ! 24 Denn ich will besessen sein !
Gleich den rauchenden Essen sein !
Fröhlich wie ein Schnee- König will ich sein .
Der Peripatetiker säuselte den Refrain dreimal nach .
Der Bärenführer aber , mit plötzlich veränderter , sanft flehender Stimme sprach :
-- Ach , Stilpe , sieh doch nur :
Wie regelmäßig diese Strophe ist !
Siehst du , ich folge dir , ich tue was du willst !
Ich mache , wie gesagt , regelmäßige Strophen .
Und nun wieder mit dem knurrenden Zorn eines Ebers :
Gin will ich !
Gletscherweißen Gin will ich !
Keinen Tee !
Denn ich will betümpelt sein !
Lilagrün bewimpelt sein !
Fröhlich wie ein Schnee- König will ich sein .
-- Wie gesagt , selbstverständlich führe ich die Strophe regelmäßig durch alle Schnäpse fort :
Absinth will ich !
Qualwolkigen Absinth will ich !
Keinen . . . Viertes Buch , drittes Kapitel . --
Genug ! schrie Stilpe .
Bist Du verrückt !?
Denkst Du , ich will mir mein Publikum mit hoher Literatur verjagen ?
Du bist ganz unbrauchbar !
Du kannst beim Momus die Lichter putzen !
Der Bärenführer war tief betrübt und setzte sich in die Sofaecke .
Der Peripatetiker aber schüttelte den Kopf :
-- Ja , aber , was willst Du denn haben ?
Dieses Schneeköniglied ist doch essenzhaft tief und dabei heiter wie eine weiße , segelnde Wolke über Fabrikschloten .
Es hat etwas modern-goliardisches .
Nicht wahr , Mathilde :
Es ist ein schönes Lied !?
Die Muse lächelte :
-- Ach ja , es ist ganz nett , und man könnte es später schon Mal singen lassen , als Alkoholistenintermezzo , aber für den Anfang . . . ? nein : Ihr müßt euch mehr an den Brettlstil anlehnen vorderhand .
Habt ihr denn gar nichts Verliebtes ?
Der Peripatetiker machte ein mild-ernstes Gesicht und ließ seine rechte Hand in der linken Brusttasche des Smokings verschwinden , der jetzt schon ein bisschen speckig geworden war .
Dann entfaltete er eine Nummer der Kreuz-Zeitung und las aus dieser , aber nicht aus ihrem gedruckten Texte , dies : 24 * Gib mir Deine Hände , Kind , Deine kleinen weichen Hände , Die wie Blütenblätter sind , Kühl und feucht .
Gib mir Deine Hände leis , Deine kühlen , feuchten Hände , Denn die meinen sind so heiß Wie mein Herz .
Gib mir Deine Hände , gib Still sie mir in meine Hände , Kleines Mädchen , habe mich lieb , Hab mich lieb !
Er las das mit einem seltsamen Flüstertone , flehend .
Stilpe schüttelte den Kopf : -- Aber wer soll denn das singen !
Das ist ja Lyrik !
Himmlische Mächte : Was soll ich mit Lyrik anfangen ?
Das geht ja nicht !
Das ist ja viel zu zart !
Ein Tingeltangel ist doch kein Lesekränzchen !
Der Peripatetiker steckte die Kreuzzeitung ruhig in die Hosentasche und sagte bloß :
-- Ich dachte , es paßte .
Ich fände das Gedicht sehr passend , wenn es ein junger müder Mann an ein kleines Mädchen hinsänge , und er nähme ihre Viertes Buch , drittes Kapitel .
Hand und küßte ihr dann die Füße .
Aber ich habe auch komische Gesänge .
Ein Lied vom geschorenen Pinscher habe ich einmal gemacht .
Ich werde es suchen .
Er setzte sich neben den Bärenführer und strich mit seinen schönen schmalen Händen den langen Apostelbart .
Casimir grinste :
-- Hehe , Du hast wohl genug , Direktor .
Weißt Du , meine polnische Rhapsodie werde ich Dir auch hier lassen .
Auf diesem sehr umfangreichen Schreibtisch da .
Hehe , sie wird auch nicht passen .
Du willst natürlich , hehe , Humor !
Und so mußt Du Herrn Stinte engagieren oder diesen , äh , wie heißt doch der Herr , diesen dicken deutschen Biertrinker , hehe , richtig : Hartleben , hehe ; dieser Pilsener-Bier- Jeute paßt für Dich sehr gut .
Das ist ein hervorragender Dichter , hehe , geradezu der Onkel der deutschen Poesie .
Ich liebe ihn , hehe !
Er hat gerade so einen schönen Hornkneifer wie Du .
Stilpe lächelte .
Gegen diese Manier fühlte er sich gewappnet .
Aber wütend war er doch .
Sie fingen also schon an , ihn zu verachten .
Bloß , weil er klug war .
Weil er langsam vorgehen wollte .
Nicht mit dieser tolpatschigen Hast junger Jagdhunde , sondern mit der Ruhe bewußter Verantwortlichkeit .
Unter seiner Freude an der bewegten Arbeit eines Sprechstunde abhaltenden Theaterdirektors hob sich mehr und mehr ein Ingrimm gegen die Leute , mit denen zusammen er eigentlich gedacht hatte , das Momus-Theater zu machen .
Ihre Unfähigkeit , für die Zwecke dieses Theaters zu arbeiten , empfand er nicht als einen Mangel ihrer Begabung , sondern er ärgerte sich darüber , daß sie auch in diesem Falle keinerlei Konzessionen an den Begriff des Zweckes in der Kunst machten , und er beneidete sie im Grunde darum .
Zwar sagte er sich manchmal , daß sich darin auch Schwäche und Zügellosigkeit offenbarte , aber seine eigene Fähigkeit , gerade für das Momus-Theater zu arbeiten , erschien ihm als ein Anzeichen seiner künstlerischen Inferiorität .
Er fing mit einemmal an , die " Dichterei " zu hassen , und es war ganz ehrlich , wenn er der Muse gegenüber es verwünschte , daß die " Literatur " ein Hauptprogrammpunkt ihrer Gründung war .
Und dabei hätte er doch auch um Alles nicht ein bloßer Tingeltangeldirektor sein wollen .
Der Gedanke , auf so paradoxe Weise der Kunst zu dienen , kitzelte ihn angenehm .
Viertes Buch , drittes Kapitel .
Aber gerade für das Eigentliche des Unternehmens , gerade für die Verbindung des wertvoll künstlerischen mit dem Tingeltangelhaften , tat er am wenigsten .
Dafür mußten der Zungenschnalzer und die Muse die Hauptarbeit leisten .
Er warf nur zuweilen " Ideen hinter die Kulissen " , schrieb ein paar Couplets von geistreicher Frechheit und entfaltete im Übrigen eine mehr fahrige als zielbewußte Tätigkeit .
Besonders groß war er in der Anschaffung schön bedruckter Stoffe aus England und Belgien .
Auch ließ er ausgezeichnete Plakate lithographieren und drucken .
In Paris und London engagierte er brillante Tänzerinnen und Sängerinnen zu sehr hohen Gagen ; das Beste , was das Ausland an Variete-Theaterkunst hervorbrachte , verpflichtete er dem Momus-Theater .
In gewissen Äußerlichkeiten war er sehr erfinderisch und originell .
So stellte er anstelle von Logenschließern hübsche junge Mädchen in allerliebst dekolletierten Kleidern an , sorgte für schöne Blumenverkäuferinnen und benutzte seine vorzüglichen Verbindungen in der besseren Berliner Halbwelt zu einer auf das Prinzip der Auswahl des Besten hin systematisierten Verteilung der Freibillets .
Der Pole karakterisierte das Ganze in seiner Weise so : -- O Herr Direktor , Du bist geradezu dschenial !
Du eröffnest Ausblicke in geradezu orientalische Kulturen !
Du solltest direkt ein literarisches Bordell gründen !
Weißt Du , hehe , wo die Mädchen auch gleich dichten oder Jeute deklamieren .
Hehe , was Du da für reizende Divenchen in die Logen gestellt hast !
Und diese köstlichen Rosa-Ampeln !
Hehe , und daß man die Logentüren von innen verriegeln und an der Brüstung die Vorhänge zuziehen kann , -- daran erkenne ich den Meister !
Und so sollst Du überhaupt gar keine Vorstellungen geben lassen , sondern bloß , hehe , Eintrittspreise verlangen ; hehe :
" Damen zahlen die Hälfte . "
-- Na , und wenn es so wäre ! entgegnete Stilpe unerschrocken , wäre das nicht auch schon Verdienst genug ?
So ein bisschen angewandte Erotik ist genau so wichtig , wie eure ganze Schreiberei .
Und deshalb ärgert ihr euch eben : Weil Ihr seht , daß ich ins Leben wirken will mit dem Momus und nicht bloß in die Literatur .
Ihr seid die großen Geister ; gut , schön , eminent :
Ich laß euch eure Lorbeerkränze .
Ich bin ein einfacher Pionier des neuen Lebens .
Nur der Zungenschnalzer versteht mich , weil er den Viertes Buch , drittes Kapitel .
Willen der Zeit versteht .
Und denkt ihr denn , ich habe den alten Hut voll Geld gekriegt , um eine Bouillonkultur Seelenkrebs anzulegen ?
Ich habe das Amt erhalten , die Berliner in ein künstlerisches Leben hinüber zu amüsieren , nicht aber , sie mit Literatur zu mopsen .
Der Zweck des Momus ist direkt , eurer ganzen Literatur den Rest von Interesse zu nehmen , den sie etwa noch hat .
Wir wollen die Berliner ästhetisch machen .
Es gibt hier immer noch Menschen , die Bücher lesen .
Das muß aufhören .
In den Spitzenunterhöschen meiner kleinen Mädchen steckt mehr Lyrik , als in euren sämtlichen Werken , und wenn die Zeit erst so weit ist , daß ich ohne Unterhöschen tanzen lassen kann , dann werdet sogar ihr begreifen , daß es überflüssig ist , andere Verse zu machen , als solche , die bei mir gesungen werden .
Umgotteswillen , begreift doch die Situation !
Schöne Kleider , schöne Frisuren , schöne Arme , Brüste , Beine , Bewegungen -- darauf kommt an .
Erfindet mir Tänze , dichtet Pantomimen , löst mir das Problem der Emanzipation vom Trikot , -- das sind Sachen , die ich brauchen kann .
Und wenn ihr schon durchaus Verse machen müßt , so vergeßt doch nicht , daß sie von schönen Mädchen gesungen werden , die nicht mit leeren Korsetts auftreten .
Und seht euch Mal die bunten , feinen Stoffe da an !
Was müssen das für Verse sein , die mit solchen Farben , solchen Mustern konkurrieren wollen !
Zieht doch eure Verse endlich Mal aus !
Ich lasse Rops tanzen , -- habt ihr doch die Kurasche , Rops zu dichten !
Unser Theater heißt doch Momus und nicht Stöcker .
Seid ihr denn Predigtamtskandidaten ?
Mein Gott , was täte ich , wenn ich auf euch angewiesen wäre !
So polterte er sich aus und genügte seinem Bedürfnisse , ab und an verwegene Worte zu ballen .
Aus diesem Grunde waren ihm die renitenten Dichter , obwohl er sich herzhaft über sie ärgerte , doch unentbehrlich .
Er konnte " an sie hin reden " und sich bei dieser Gelegenheit klar machen , worauf hinaus er eigentlich wollte .
Diese Art , sich in Feuer zu reiben , tat ihm gute Dienste .
Er fand sich mit seinem literarischen Gewissen ab , indem er sich mit den ungebärdigen Poeten abraufte .
Wären sie nicht immer wieder aufgetaucht , so hätte er die Literatur überhaupt vergessen und wäre ganz in Mußlin und Seide aufgegangen .
Viertes Kapitel .
Das Leipziger Cénacle , das durch die " fatale Stilpe-Sache " damals gesprengt worden war , hatte sich schließlich doch wieder zusammengefunden .
Freilich ohne Stilpe .
Dieser war um die Zeit der neuen Vereinigung gerade in den Vollgenuß seiner kritischen Berühmtheit getreten und hatte auf die Einladung , der ersten Sitzung in Leipzig beizuwohnen , eine schnöde Absage erteilt .
Es war darin von Kinderschuhen die Rede , die er den Herren gerne zur Verfügung stellen würde , wenn er nicht befürchten müßte , daß auch sie ihnen noch zu groß seien ; im übrigen sei er bereit , die poetischen Werke der erlauchten Cénacliers mit derselben Objektivität zu tranchieren , mit der er die übrigen Erzeugnisse des dichterischen Germaniens der öffentlichen Meinung vorsetzte .
Diese Bemerkung war das Boshafteste in dem Briefe , denn die Herren Barmann , Stössel , Wippert und Girlinger hatten ihren künstlerischen und dichterischen Jugendplänen längst den Abschied gegeben .
Barmann war Gymnasiallehrer geworden , Stössel hatte reich geheiratet und gab vor , musikgeschichtliche Studien zu treiben , Wippert war auf dem Umwege über orientalische Philologie langsam zur Medizin gelangt und hatte eine Klinik für Frauenkrankheiten , Girlinger steuerte auf die Laufbahn eines königlichen Staatsanwalts zu .
Wenn sie sich trotzdem zu einem neuen Aufguß des Cénacles vereinigten , so geschah es in einer gewissen melancholischen Stimmung und in der Hoffnung , unter sich wenigstens eine Art Abglanz jenes einbildungsvollen Übermutes zu erzeugen , an den sie sich nicht ohne ein leises Hochgefühl erinnerten .
Es war ihnen im Grunde doch leid , daß jene überschwänglichen Einbildungen einer künstlerischen Zukunft nicht zur Wahrheit geworden waren .
Sie gestanden sich das zwar nicht ein , konstruierten sich vielmehr ein Gefühl von ernster Zufriedenheit darüber , daß sie sich in bürgerlich gefestete Zustände und in einen praktischen Wirkungskreis hinübergerettet hätten , aber es gewährte ihnen doch Genug Viertes Buch , viertes Kapitel . Tuung , daß sie auf so etwas wie eine geistige Sturm- und Drangperiode zurückschauen konnten .
Auch hegten sie die stille Hoffnung , daß sie vielleicht viribus unitis doch noch die Fähigkeit besitzen möchten , wenigstens unter sich ein bisschen über die Stränge zu schlagen .
Da war nun die Absage Stilpes , vor dessen literarischer Stellung sie doch etwelchen Respekt hatten und in dem sie den durchgedrungenen Cenaclier verehrten , sehr fatal gewesen .
Ohne ihn entwickelte sich das Cénacle stark ins hausbacken Solide , und eigentlich gab_es eine Wiedergeburt jenes Debattierklubs auf dem Gymnasium , nur daß mit der Unreife auch der Enthusiasmus fehlte .
Es wurde aus dem Cénacle eines der kritischen Konventikel , wie sie sich jetzt gerne um die Literatur und Kunst herumgruppieren , wo man sich über das Neue unterhält , die Entwicklung mit bald wärmerer , bald kühlerer Anteilnahme verfolgt , und wo der heimliche Lessing dieser kritisch noch immer nicht unter einen Hut gebrachten Zeit in vielen Exemplaren wächst , blüht und gedeiht .
Ein Hauptsport dieses zeitgemäß gewordenen Cénacles war die Psychologie , diese Lieblingsneigung aller unproduktiven Köpfe , die zu klug und zu stolz sind , um zu dilettänteln .
An Stoff gebricht es diesem Sporte niemals , aber hier war er besonders üppig und interessant , weil die Cénacliers in ihrem ehemaligen Freunde , dem Ex- Schaunard Stilpe , ein besonders ergiebiges Objekt hatten .
Die Debatte drehte sich recht häufig um ihn , und besonders Girlinger wurde nicht müde , ihn zu vivisezieren .
Er sprach es direkt aus , daß Stilpe für ihn das interessanteste Schauspiel sei , und daß er ihn ganz sicher niemals aus den Augen verlieren werde .
Er hatte natürlich auch schon eine Prognose bis ins Letzte in Bereitschaft , hütete sich aber doch , sie mit Bestimmtheit verlauten zu lassen .
Die Kühnheit Wirts , der im Geiste schon das Sterbebett Stilpes in der Charite mit der Aufschrift del. trem. sah , besaß er doch nicht .
Dafür dachte er seinem Metier zufolge mehr an Plötzensee .
Barmann , der in Secunda deutsche Literaturgeschichte traktierte , huldigte höheren Perspektiven ; er konstruierte sich einen modernen Fall Günther .
Stössel war im Grunde voll phantastischer Erwartungen :
-- Paßt auf : Plötzlich tritt er mit einem Werke hervor .
Jetzt ist alles Schutt und Scherben .
Aber Viertes Buch , viertes Kapitel . mit einem Male wird er sich zusammenfassen und aufraffen , und dann zeigt er erst seine wahre Gestalt , seine innerliche Kraft .
Vielleicht muß er bloß erst heiraten !
So psychologisierte jeder nach seinen Erfahrungen , und Stilpe wurde nicht müde , in bunter Folge jeder Ansicht neue Nahrung zu geben .
Zu einer konkreten Zusammenfassung reeller Unterlagen für diese psychologischen Bemühungen kam es aber erst als Girlinger nach Berlin versetzt wurde .
Es war etwa über ein Jahr nach der Gründung des Momus , da sandte Girlinger folgenden Bericht quoad Stilpe an das Leipziger Cénacle : Endlich ist es mir gelungen , nicht bloß Authentisches über den Fall Stilpe-Momus zu erfahren , sondern auch unseren ehemaligen Schaunard selber aufzufinden .
Ich hätte euch schon früher allerlei mitteilen können , aber ich wollte mit Tatsachen aufwarten und nicht bloß referieren , was ihr aus den Zeitungen von damals ebensogut wißt , wie ich , und was doch durchweg mehr oder weniger feindliche Preßmage war .
Ich verkehre hier ab und zu mit Journalisten und habe in dieser Gesellschaft zuweilen versucht , das Gespräch auf Stilpe zu bringen , aber es ist mir nicht gelungen , von dort her mehr zu vernehmen als Äußerungen einer fertigen Verachtung , die sich nicht zur Darlegung von Gründen herbeilassen wollte .
Stilpe gilt in diesen Kreisen einfach als bête Noir , und schon aus Korpsgeist vereinigt man sich zu einstimmiger Verdammung des räudigen Schafes .
Nur einige geben noch zu , daß der " Mensch " ein " starkes pamphletistisches Talent besessen habe " , aber auch sie fügen die Bemerkung daran , daß er " nicht einmal für einen Schmähschreiber genug Charakter besitze " .
Den Momus- Krach stellen sie als wohlverdiente Strafe hin 1 ) für die Frivolität , die das Gepräge dieser ganzen Gründung gewesen sei und 2 ) für das " ans Gaunerhafte grenzende Gebaren , das Stilpe in der ganzen Angelegenheit gezeigt haben soll und Viertes Buch , viertes Kapitel . zwar sowohl bei Aufbringung wie bei Verwendung der Momusgelder .
Durch Zufall lernte ich dann eine Gruppe von Dichtern kennen , die über jedem Verdachte journalistischer Verbindungen stehen , weil sie es schon längst aufgegeben haben , ihre Erzeugnisse durch die periodische Presse zu verbreiten , und die gerade über den Momusfall mitreden können , weil sie an ihm beteiligt gewesen sind .
Da sie trotzdem im Grunde von Stilpe nicht viel wissen wollen ( weil er , wie sie sagen , den Momusgedanken prostituiert hat ) , so ist es erlaubt , ihre Aussagen wenigstens für insoweit objektiv zu halten , als die Herren überhaupt einer objektiven Betrachtung der Dinge dieser Welt fähig sind .
Von diesen Herren habe ich nun dies erfahren :
Das Momustheater erlitt ein vollkommenes Fiasko , weil es als Tingeltangel " immerhin " zu künstlerisch , als Kunstinstitut aber viel zu sehr Tingeltangel gewesen sei .
Das Publikum lehnte " das bisschen Literatur und Kunst " , was dabei mitspielte , schon als zu viel ab , und die Presse , die im Verein mit dem " Schock Berliner Kunst- und Literaturfreunde " sich " wenigstens den Anschein gab , etwas Künstlerisches erwartet zu haben " , er 25 klärte mit " der ganzen Entrüstung lackierter Elitemenschen " , daß sie von Literatur und Kunst im Momus nicht mehr zu finden vermöchten , als im " Malepartus . "
Das sei nun freilich zuviel gesagt , meinten meine " Dichter " , und sie führten zum Beweis der " Nuance von reeller Literatur im Momus " jeder eine Programmnummer an , die den Zitierenden zum Verfasser hatte .
Ich muß gestehen , daß schon die Titel dieser Programmnummern mich in Staunen versetzten , und als mir eine Probe " interpunktionsloser Lyrik " vorgetragen wurde , die im Momus unter " Pizzikatobegleitung von acht Bratschen " deklamiert worden ist , da begriff ich , daß das dem Publikum zu viel gewesen war .
Diese merkwürdigen Dichter amüsierten sich übrigens selber am meisten über ihre Programmnummern , und ich vermochte mir nicht darüber klar zu werden , ob sie diese Produkte ernst oder als einen Ulk nahmen , den sie sich mit Stilpe erlaubt hatten .
Es war bei der Première sehr lärmhaft zugegangen , und zwar hatten , wie meine Dichter behaupten , zwei Parteien " um die Palme des Radaus gerungen " :
In erster Linie die journalistischen Feinde Stilpes und dann ein Aufgebot der christlichen Jünglingsvereine .
Nach Allem , Viertes Buch , viertes Kapitel . was ich zumal über die Ballettleistungen des Momus vernommen habe , muß ich erklären , daß ich die Opposition derart inkorporierter Jünglinge verstehe .
Es ist auch sehr bald die Polizei gegen den Schnitt der Ballettgewänder im Momustheater eingeschritten .
Dieser Umstand in Verbindung mit dem einmütigen Verdikte der Presse , daß der Momus durchaus kein Kunstinstitut im höheren Sinne sei , hat den Aufsichtsrat der Momus-Gesellschaft , also die Geldgeber , veranlaßt , sich den Paragraphen in Stilpes Kontrakt zunutze zu machen , der es gestattete , den " artistischen Direktor " zu entlassen , freilich unter Zahlung einer sehr beträchtlichen Entschädigungssumme für diesen .
Der leise unternommene Versuch , diese Entschädigung durch allerlei Anschuldigungen bedenklicher Natur in punkto Geschäftsgebarung zu umgehen , ist schließlich nicht gemacht worden , aber schon der Ansatz dazu hat genügt , jenes von mir bereits erwähnte Gerücht von " Gaunereien " etc. zu erzeugen .
Das Momustheater ist sehr bald an einen regelrechten Tingeltangeldirektor übergegangen , und man hat eine Weile geglaubt , daß Stilpe selbst mit seiner Entschädigungssumme der Hintermann 25 * dieses Variete-Mannes gewesen sei .
Der Umstand , daß seine damalige Geliebte , eine Hamburger Chantantsängerin , die Diva des neuen Momustheaters wurde , deutete wohl darauf hin , aber die Stellung eines Hintermannes scheint mir nicht im Charakter Stilpes zu liegen .
Zweifellos und leider in Stilpes Charakter sehr ersichtlich begründet ist dagegen die Tatsache , daß er sich nach seiner Entlassung einem völlig verrückten Lotterleben hingegeben hat .
In seiner Eigenschaft als " Direktor " hatte er eine unendliche Schar von Artisten und Artistinnen kennen gelernt , und er umgab sich nun mit einem wahren Heerbann von stellenlosen Sängerinnen und Tänzerinnen .
Es wird euch genügen , das Faktum zu vernehmen , um euch ein Bild davon zu machen , in welchem Stile er eine Weile gelebt hat .
Meine dichterischen Gewährsmänner machen ihm nicht sowohl dieses Faktum , als den Umstand zum Vorwurf , daß er jede Beziehung mit ihnen und überhaupt mit dem , was sie Literatur und Kunst nennen , abgebrochen habe .
Sie sagen in ihrem Stile so : " Er sumpfte wie ein Kapitalist , der sich eine Leibgarde von Mitsumpfern aushalten muß , weil es ihm an Geist und Größe gebricht , Viertes Buch , viertes Kapitel . allein oder mit erlauchten Leuten kongenial zu sumpfen .
Er fing wieder an , schwere Getränke nötig zu haben , wo dem Erlesenen schon Gilka genügt , um den Kontakt mit dem Weltgeiste zu finden .
Auch bei ihm war es die Verzweifelung der Impotenz , die ihn zwang , für teures Geld wertlose Räusche zu kaufen .
Man brauchte sich schließlich kein Gewissen daraus zu machen , ihn anzupumpen wie einen Kunstfreund von hoher Steuerklasse . "
Diese Verachtung von dieser Seite her besagte für mich eigentlich den tiefsten Stand der Stilbischen Dinge .
Unser ehemaliger Schaunard , so sagte ich mir , hat also den brutal sinnlichen Zug seines Wesens vollkommen Herr über sich werden lassen und ist , da ihm mehr Geld zur Verfügung stand , als für ihn gut war , in gemeiner und geistloser Schwelgerei untergegangen .
Der andere Zug seines Wesens , und wenn es auch bloß eine untergrundlose Verblendung war :
Das Hinaufbegehren in freie , schöpferische Geistigkeit , die Zuversicht , aus sich etwas Großes , einen Poeten zu machen , das hat er ganz verloren .
Aber ich fügte in mir den Gedanken bei :
Er muß , wenigstens in vorüber wehen den Augenblicken der Klarheit , wenn der Alkohol versagt , sehr unglücklich dabei sein .
Deshalb gab ich mir Mühe , seiner habhaft zu werden .
Aber es gelang mir lange Zeit nicht .
So lange er Geld hatte , wohnte er , wenn er in Berlin war , bald in diesem , bald in jenem Hotel , und häufig war er offenbar von Berlin abwesend , vielleicht an den Orten , wo die eine oder andere seiner Favoritinnen gerade ein Engagement an einem Tingeltangel hatte .
Jetzt aber haben ihn die Favoritinnen ganz ausgezogen , und -- er hat selber ein Engagement an einem Tingeltangel hier .
Ich erfuhr , daß er in einem der kleinen Chantants draußen in Berlin N. , wo die Chausseestraße anfängt , als Komiker auftrete , und ich beschloß sofort den nächsten Abend zu einem Besuche in diesem Lokal , das sich Zum Nordlicht nennt , zu benutzen .
Das Milieu brauche ich euch nicht zu schildern ; ihr kennt es aus eigener Erfahrung und aus den Novellen der ersten Periode unseres deutschen Naturalismus .
Ich muß sagen :
Mit einer wahren Angst sah ich dem Auftreten Stilpes auf dieser Bühne entgegen , auf der sich im Übrigen nur Chansonetten letzten Ranges produzierten .
Au , Viertes Buch , viertes Kapitel . dem Programm stand er als -- " Rudolph Schonaar " verzeichnet .
Ist das nun ein Stück Selbstironie ? dachte ich mir ; hat er wirklich noch den Humor , sich über sich selbst lustig zu machen ?
Wie wird er bloß aussehen !?
Und , mein Gott , wie wird er singen ?!
Ich war auf alles mögliche gefaßt , aber nicht auf das , was kam .
Daß ich es kurz sage :
Es war eine Leistung !
Ich bin ja freilich kein Kenner auf diesem Gebiete , aber das getraue ich mir zu sagen :
In seiner Art war die Charge , die unser Schaunard von ehedem darstellte , ein brillantes Stück grotesk-realistischer Tingeltangelkunst .
Es war im Grunde niederdrückend für mich , was ich sah , und doch ging ein Gefühl nebenher , das ich so ausdrücken möchte :
Der Kerl imponiert mir doch !
So sich über sich selber zu stellen mit den Mitteln einer zwar niedrigen , aber in ihrem ganzen Stile fabelhaft erfaßten Kunst , so das ganze traurige Ergebnis seines Lebens mit grotesker Laune tragikomisch dem Pöbel vor die Füße zu werfen , so von oben herab auf sich selber herumzutreten und doch den Eindruck eines Mannes zu machen , der sich dabei amüsiert , -- wißt ihr :
Das ist kein gewöhnliches Stück , da steckt trotz Allem eine künstlerische Persönlichkeit dahinter .
Also stellt euch vor :
Stilpe trat als verlumpter , versoffener alter Dichter auf .
Lange graue Haare , zerknüllter Zylinder , Bratenrock , flatternder Künstlershlips , -- dies also die alte schablonenhafte Figur des idealistischen Dichters in übler Vermögenslage .
Aber nun hättet ihr sehen sollen , wie das Gesicht , die Bewegungen , die Worte dazu paßten .
Zum Gesicht hatte er freilich keine Kunst nötig gehabt :
Diese aufgedunsenen Züge , diese alkoholisch poröse , kupferige Nase , diese schwimmenden , unstäten Augen , -- das war leider Alles Natur .
Auch die Bewegungen , dieses Fallenlassen der Arme , die dann an den Schenkeln herumsuchten und tasteten , dieses nervöse Zucken der Schultern , dieses zitternde Auflegen der rechten Hand auf die Stirn , dieses langsame Auf- und Niederneigen des Kopfes , dieses Nachschleifen der Füße beim schwankenden Gange , -- auch dies war im Grunde Natur , nur unterstrichen , perspektivisch berechnet .
Aber nun :
Was er sprach und sang !
Es war so eine Soloßene , wißt ihr : Monologe mit Gesangseinlagen wechselnd ; man kennt das ja ; diese Geschichten sind eigentlich nicht mehr modern ; Viertes Buch , viertes Kapitel . ein paar haben sich indessen sogar auf der großen Bühne erhalten .
Aber Stilpe hat , ich sage es ohne Überschwänglichkeit , ein Kunstwerk daraus gemacht .
Ich wäre auch ergriffen zwischen Lachen und Grausen hin- und hergeworfen worden , wenn kein persönliches Interesse mitgewirkt hätte .
Er kam langsam , ruckweise schwankend ans der linken Kulisse und bewegte sich im Zickzack , scheu sich umsehend , nach einer Bank rechts .
Wie er sich auf die hinfallen ließ , wie er den Zylinder müde abnahm , sich durch die Haare fuhr und nun mit einem leeren , ängstlichen Blick rund im Zuschauerraum herumsah , das war für mich schon ein Eindruck , wie ich ihn selten von einer Bühne herab gehabt habe .
Plötzlich kicherte er , bückte sich und hob einen Zigarrenstummel auf , griff dann lässig an sich herum , fuhr suchend in die Taschen , zog die Hände resigniert heraus und sagte dann leise vor sich hin : Ja , Feuer !
Is nicht !
Wieder ein paar Blicke im Kreise .
Dann plötzliches Aufrichten und im Vorwärtsschreiten das Bemühen , nicht zu schwanken , sondern anständig , mit Würde zu gehen .
Und nun , an der Rampe , eine höfliche Verbeugung vor dem Baßgeiger und im Tone vollendeter Höflichkeit mit gebrochener Stimme : Dürfte ich Sie um etwas Feuer bitten , werter Herr ?
Er erhält ein Streichholz , verbeugt sich wiederum sehr höflich und zündet sich den Stummel an ; stößt die Tabakwolken mit Genuß von sich , betrachtet den Stummel mit Zärtlichkeit , lächelt und sagt : Sie müssen nämlich wissen :
Ich bin auch Künstler !
Der Baßgeiger sieht ihn fragend an . --
Ach nein , so schön geigen kann ich nicht .
Nein .
Aber -- dichten !
Haben Sie keine Kindtaufe in Aussicht ?
Ich machs billig .
Wenn nur vom Essen was übrig bleibt . . .
Dies sehr demütig , traurig .
Aber auf einmal wird er wild und fängt an zu schimpfen :
Auf das Gesindel , das Geld und kein Talent hat , auf alle , die ihn verachten , weil sie Kamele sind , während er ein Genie ist u. s. w. -- Ich sage euch :
Ein fabelhafter Ausbruch mitten in den johlenden Mob hinein , der sich königlich zu amüsieren anfängt , während der Dichter , an der Rampe hin- und herrennend wie ein Eisbär im Käfig , Zorn , Wut , Verachtung nach allen Richtungen schleudert .
Ich hatte die Empfindung , daß Stilpe dies alles improvisierte .
Dann fiel er wieder in den demütigen Ton und Viertes Buch , viertes Kapitel .
bat um Verzeihung und ein Glas Gilka .
Nachdem ihm dies hinaufgereicht worden war und er es mit der Hast eines Verdurstenden hinuntergestürzt hatte , erklärte er , nun wolle er auch nicht so sein und seinerseits etwas zum Besten geben .
Und er begann im Schauerballadenstil sein Leben , das Leben des verkommenen Genies , herunterzusingen .
Es war einfach grausig , sage ich euch , wie er immer sich selber als zweite Person behandelte und gleichsam mit dem Stocke auf sich wies , wie die alten Jahrmarktsmoritatensänger auf die warnenden Exempel .
Dabei stellte er in großen Zügen wirklich sein eigenes Leben dar , natürlich grotesk verzerrt und mit burlesken Beigaben .
Aber ich habe dieses sein Leben nie mit so greller Deutlichkeit erkannt , wie während dieser Ballade , die überdies als parodistische Leistung ein Leckerbissen zu nennen ist .
Am Schlusse immer der Kehrreim :
O lockert eure steinernen Gebärden !
Ich bin ein Lump und ihr könnt Lumpe werden .
Seht dieses Fleisch und schlotternde Gebein , Jetzt saufe ich Gilka und einst soff ich Wein .
Nachdem er die Ballade zu Ende gesungen hatte , trat er unter johlendem Beifall ab .
Der Beifall hielt an , und er erschien wieder , trat ganz an die Rampe vor und sagte :
" Übrigens haben Sie mich vorhin gestört .
Ich bin nicht hier hergekommen , Ihnen was vorzuflöten . "
Dann ganz leise :
" Es ist doch kein Schutzmann unter Ihnen ... ? ... "
Rufe aus dem Publikum :
Je wo ! --
Stilpe : " Ich ... ich ... möchte mich nämlich erhängen . "
Ihr werdet es kaum glauben , aber das wurde in einem Tone gesagt , daß selbst dieses Publikum erschrak .
Aber nun schlug Stilpe eine Lache auf : Sie denken wohl , das ist unangenehm ?
Im Gegenteil !
Ich habe mir sagen lassen , man erlebt da seine schönsten Sachen alle noch einmal .
Gott nee , was ich mir auf Laura'n freue !
Und jetzt folgte ein bockiges Herumstolzieren mit vorgestrecktem Bauche , eine laszive Szene ohne Worte , die in mir direkt den Staatsanwalt wachrief .
Gemein !
Gemein !
Das Publikum wand sich vor Entzücken .
Stilpe aber hielt plötzlich inne und rief : Aber wissen Sie denn auch , warum ich mich erhängen will ?
Und nun folgte , ich kann es nicht anders nennen , eine Dissertation über den Selbstmord .
Viertes Buch , viertes Kapitel .
Und zwar so , daß er erst alle möglichen gewöhnlichen Selbstmordgründe ablehnte , um schließlich als einzig zwingenden und berechtigten Grund den anzuführen :
Es gibt kein Getränk mehr , das mich umbringen könnte , darum muß ich mir selber umbringen .
Nun zog er den Strick hervor und sang ihn als " Schnaps der Schnäpse " an .
Während der Schlußstrophe warf er den Strick um einen Laternenhaken , und während der Vorhang fiel , legt er sich den Strick um den Hals .
Ich atmete auf , wie der Vorhang unten war .
Das Publikum aber klatschte wie besessen .
Nach einer Weile hob sich der Vorhang wieder , und ich sah , daß die Originalität unseres verflossenen Freundes auch als Tingeltangelsänger keine Grenzen kennt :
Der Dichter hing an der Laterne und sang , ungeachtet des Einspruchs der Naturgesetze , in dieser Situation , röchelnd und nach Luft schnappend , sein Schwanenlied , eine schauerliche Mischung von Grausen , grotesker Komik und Zynismus .
Dann ein letztes Schlenkern mit den Beinen , die Zunge weit heraus , dem Publikum entgegengestreckt , -- der Vorhang fiel .
So oft er sich wieder unter dem Beifallgewieher des Publikums hob , sah man den Dichter am Laternenpfahl hängen und mit herausgestreckter Zunge den grinsenden Kopf dankend verneigen .
Scheußlich !
Scheußlich ! werdet ihr sagen , und ihr habt ganz gewiß recht , aber ich wiederhole es :
Was in meiner Darstellung bloß widerlich wirken kann , machte von der Bühne herab , ich muß es bekennen , in der Hauptsache auf mich doch den Eindruck von ergreifender Kunst , schauderhaft verirrter , gottsträflicher , infamer Kunst zwar , aber ich wäre nicht im Stande gewesen , etwa inmitten dieser schauerlichen Frivolitäten aufzustehen und fortzugehen .
Alles in mir empörte sich , aber ich war gefesselt .
In jedem anderen Falle wäre ich nun freilich jetzt weggegangen , zumal , da auf diese pièce de Résistance des Nordlichtes nur noch die ausgesungenste aller Chanteusen folgte , aber mich verlangte es , Stilpe nun auch " in Zivil " zu sehen .
Wie muß der Mensch , der aus seinem Leben einen solchen grausigen Clownwitz zu machen im Stande ist , aussehen , wie muß er sich benehmen , wenn er mir gegenüber steht , der ihn aus Zeiten her kennt , wo es trotz Allem doch eine solche Perspektive auf das Ende nicht gab !
Viertes Buch , viertes Kapitel .
Ich schickte ihm meine Karte hinter die Bühne .
Nach einer Viertelstunde erschien er , die Vorstellung war mittlerweile durch den üblichen Galopp geschlossen , an meinem Tische .
Unglaublich !
Er gebärdete sich wenigstens ganz wie früher .
-- Willst Du mich verhaften , Staatsanwalt meiner Seele ?
Wieviel Jahre stehen auf den Bauchtanz meiner Prägung ?
Ich hatte Mühe , ihn von diesem Stil abzubringen .
Ganz hat er ihn überhaupt nicht aufgegeben .
Das Endresultat , was ich euch zu vermelden habe , ist dies : Stilpe erklärt , sich recht wohl zu fühlen , wenngleich es ihm nur in den seltensten Fällen noch gelingt , sich zu betrinken .
Als Entschädigung für diesen beklagenswerten Umstand bezeichnet er die " glorreiche Tatsache " , daß er endgiltig darauf verzichtet habe , in die Literaturgeschichte zu kommen . --
Literatur ?
Pf !
Das Tingeltangel ist die Kunst der Zukunft .
Übrigens hat meine Orgel bloß noch eine Pfeife .
Sonst ?
. . . Na , mein Junge , wenn alle Pfeifen schweigen , -- die Heilsarmee leckt alle Finger nach mir .
Ein bisschen religiös komme ich mir überhaupt manchmal vor .
Wer weiß . . . ? . . . Wer kann wissen . . . ? . . . Überhaupt . . . der liebe Gott !
. . . Na . . . einstweilen halten wir Mal die Fahne hoch . . .
Aber nicht wahr :
Meine Nummer is gut !?
Schlußkapitel .
Etwa drei Wochen nach dem Gespräche Girlingers mit Stilpe erhielten die Berliner neben anderen Frühstücksbeilagen auch diese Notiz vorgesetzt : ( Selbstmord eines Chantantekomikers . )
Die Besucher der Varietebühne " Zum Nordlicht " waren gestern Abend Zeugen eines grausigen Schauspiels .
Der Komiker Schonaar hat sich auf offener Bühne vor den Augen des Publikums erhängt .
Da der Schlußtric in der Nummer dieses Komikers ( ! ) darin bestand , daß er sich an einem Laternenpfahl aufhängte , so gewahrte das Publikum es anfangs nicht , daß diesmal das an sich scheußliche Schauspiel entsetzliche Wirklichkeit war .
Es applaudierte , die scheinbare Naturwahrheit der Darstellung bei 26 wundernd , anhaltend , so daß sich der Vorhang dreimal über dem zuckenden Körper des Hängenden erheben mußte .
Da erst fiel es den " Habitues " dieser Schaustellung auf , daß der Darsteller nicht wie sonst seinen Kopf in der Schlinge gegen das Publikum verneigte .
Man eilte über die Rampe weg auf die Bühne und schnitt den Erhängten ab .
Da es nicht möglich war , ihn wieder ins Leben zu bringen , so muß mit Bestimmtheit angenommen werden , daß Schonaar , um ganz sicher zu gehen , sich vorher vergiftet hat .
Die polizeiärztliche Untersuchung wird zweifellos die Richtigkeit dieser Mutmaßung ergeben .
In den Taschen des Selbstmörders fand man ein Paket mit der Aufschrift :
An den Staatsanwalt Girlinger .
Dies erweckt die Vermutung , daß dieser Selbstmord vielleicht noch anderweites kriminelles Interesse hat .
Wir kommen auf den krassen Fall zurück .
Schon zum Abendbrot hatten die Berliner volle Aufklärung über den Fall Schonaar .
Sie lasen :
( Zum Selbstmord im " Nordlicht " . )
Der scheußliche Selbstmord auf offener Bühne , von dem wir heute früh berichtet haben , hat Viertes Buch , Schlußkapitel . kein weiteres kriminelles Interesse , wohl aber eine psychologisches traurigster Natur .
Der Selbstmörder , der unter dem Namen Schonaar ein elendes Dasein als Komiker niederster Gattung gefristet hat , war der ehemals viel genannte und gefürchtete Kritiker Willibald Stilpe , derselbe , der sich in der Literatur durch das berüchtigte Pamphlet " Der Tintensumpf " unmöglich gemacht und dann das bald verkrachte " Literatur-Tingeltangel Momus " gegründet hat .
Wieder einmal ein Talent , das an seiner eigenen Charakterlosigkeit zu Grunde gegangen ist !
Über die direkten Motive zu diesem in so schauerlicher Weise in Szene gesetzten Selbstmord haben wir vom Herrn Staatsanwalt Girlinger , an den der Selbstmörder ein Bündel Manuskripte geschickt hat , nichts erfahren können .
Man kann sie wohl in das eine Wort zusammenfassen : Delirium .
Das war das Amen-Wort der Öffentlichkeit zum Lebensabschluß Stilpes. 26 * Das Leipziger Cénacle hatte den Vorzug , Stilpes eigene Meinung darüber zu vernehmen .
Girlinger schrieb den Freunden : . . . Nous allons , si tu veux , Kanter le dernier psaume . . .
Hier sind die letzten Worte Schaunards .
Seine Leiche ist , wie er wünschte , in der Anatomie .
Ich habe sie gesehen und fürchte , daß ich den Anblick nie mehr los werde .
Seid froh , daß ihr das nicht gesehen habt .
Stilpes Brief an Girlinger lautete so : Landerirette !
Wie schreiben die kleinen Mädchen ( ach , ach , ach , wie nett das klingt , -- Mädchen ist ein liebes Wort ) , die kleinen Mädchen , wenn sie sich vergiften ?
So schreiben die kleinen Mädchen :
" Lieber Emil !
Wenn Du diese Zeilen liest , dann bin ich tot ! "
TOT Das Wort hat rechts und links eine Peitsche und in der Mitte ein Loch .
Graphologie !
Graphologie !
Ist es nicht tiefsinnig ?
Peitsche -- Loch -- Peitsche .
Wie witzig !
Profund !
Viertes Buch , Schlußkapitel .
Und dann der Ton , wenn man_es ein bisschen dumpf und gedehnt sagt , -- das O ist sublim .
Wie wenn man über einen Flaschenhals hinpfeift .
Heisere Sirenen .
Indessen !
Höre mich !
Höre mich !
Ich sage Dir : Sterben ist ein dummes Wort .
Man sollte sterben schreiben .
Da käme die ganze breit hingeschmierte Gemeinheit des Wortes zu Tage .
Ekel .
Würgen .
Fuselaufstoßen .
Und quoad Fusel , ich weiß nicht recht : Ist der Fusel von heute schuld oder die ostpreußische Bowle von damals . . . ?
Schuld ?
Schuld ?
Das Wort macht mir Wut .
Wie ein Brummer rennt an mich an .
Bin ich eine Fensterscheibe ?
Fliegenklatsche her !
Fliegenklatsche !
Sei ruhig !
Ich bin nicht betrunken .
Wirklich nicht .
Das ist es ja eben !
Ich bin nicht betrunken , und ich werde es niemals mehr sein .
Bloß manchmal verrückt .
Entschieden , Alter !
Verrückt , das heißt : Geschüttelt , gezerrt , gestoßen , an die Wand geworfen , -- und dazu lacht Einer .
Das Lachen legt sich Dir um den Hals wie eine Peitschenschnur um den Kreisel , einmal , zweimal , dreimal , viermal , fünfmal , immer nochmal , immer noch , immer noch , immer nochmal ; -- laß los ! laß los ! --
Jetzt : Wwwt ! und Du drehst Dich wie ein Kreiselchen , Kreiselchen , drehst Dich wie ein Kreiselchen auf einem Nagelkopf , scheibum , scheibum , lalalala , lalalala , scheib -- um . . . Hund !
Hund !
Lache nicht , Peitsche , lache nicht !
Wwwt !
Wwwt !
Scheib -- um !
Unwürdig , Staatsanwalt , unwürdig !
Ein homo sapiens !
Wie kann man nur !
Aber das ist es nicht .
Auch nicht die roten Mäuse und die weißen Männchen , und die lieben kleinen Drehdingerchen , die immer so hin und her und hin und her , und oben an der Decke und unten an der Diele , -- tritt doch ! tritt doch ! rufen sie -- , du lieber Gott , an die Menagerie bin ich gewöhnt .
Wie lange denn schon ?
Du , weißt Du noch , meine gelbe Mütze ?
Oh , Jugendzeit !
Oh , Porterbier !
Lästig , wie sie kribbeln , die Gedanken ; laufen mir über die Brust wie Ameisen .
Und die Springprozession der Flöhe :
Meine Ideale .
In -- der --
Tat !
I -- de -- ale !
Mit Deiner gütigen Erlaubnis :
Ich habe wirklich welche .
Sie lassen sich nicht wegsaufen , die höheren Viertes Buch , Schlußkapitel .
Ziele .
Wie lange schon bemüh ich mich , durchaus ein Lump zu werden , -- und es ist mir immer noch nicht gelungen .
Wenn ich doch nur klar denken könnte !
Ich möchte Dir_es so gerne auseinandersetzen , Jurist , der Du bist .
Aber :
Diese Blasen im Gehirn .
Verschlammter Grund .
Gurgelgase , Fuselgase .
Ich weiß schon nicht mehr , was ich Dir auseinandersetzen wollte .
Es wird wohl eine Lüge gewesen sein .
Daran darf nicht gezweifelt werden !
Immer habe ich gelogen !
Immer !
Sieh nur meine Tagebücher durch .
Die Verse !
Die Verse !
Am liebsten habe ich mich selber belogen , und rhythmisch .
Wenn ich nur die Kraft gehabt hätte , das immer so zu fühlen , wie jetzt .
Wenn ich mir nur über mein Talent nicht erst jetzt klar würde , wo es zu spät ist , wo ich nicht mehr die Kraft habe , es systematisch auszunutzen !
Ich hätte nie was wollen sollen .
Das Wollen war für mich eine ungesunde Lüge .
Dichter wollte ich werden , weil ich Verse machen konnte .
Das war die Heckeratte , die infame .
Wenn ich " Kritiker " geblieben wäre , -- Du , was wäre ich da für ein ganzer Kerl geblieben , in Samt und in Seide , rund und aus einem Stücke , gar wohlgetan .
Ein Lump von einem Kritiker meinst Du und beschwörst jenen Gotthold Ephraim .
Was tut es ?
Das sind Nuancen .
Sage Feuilletonist statt Kritiker , sage Pickelhering , Clown , Hanswurst der öffentlichen Meinung .
Meinethalben .
Aber das war mein Feld .
Da hätte ich weiter ackern müssen .
Aber das behagte mir nicht .
Wollte oben hinaus .
Die Hure , die Gouvernante sein möchte .
Hole dich der Teufel !
Huren ist auch ein Talent .
Bleibe im Bette und nähre dich redlich !
Jetzt ist_es wieder so .
Ich habe Dich letzthin belogen .
Mich dichterts immer noch .
Immer noch möchte ich auf den Poetenberg .
Immer noch hebt sich_es da drin und klingt und will .
Verse überfallen mich und tönen mir gut .
Oh , sie sind gut !
Höre !
Und hinter mir , dem schwarzen Adler gleich , Dem seine Schwingen feucht sind , weil er in Wolken war , Schwebt schwer die Nacht . . . Fühlst Du , fühlst Du , daß das Poesie ist ?
Von mir !
Von mir !
Viertes Buch , Schlußkapitel .
Bin ich ein Hund ?!
Nein :
Diese Verse sind von mir !
Ah !
Höre !
Lau , ein Bad von Rosenblättern , Legt sich Sehnsucht um mich , Sehnsucht ; Sinke , Haupt , ertrinke , Seele , Stirb in diesen lauen Düften Und genieße die Erfüllung . . . Wie ?
Hat das nicht was ?
Der Teufel auch :
Das ist ausgezeichnet , sage ich Dir , mi fili !
Dann : Um mein Haus herum Schwirren die Fledermäuse des Grams .
Zwei , sieh , hängen am Drachenbalken , Grau am Grau , Und blinzeln in den roten Lichtdunst meiner Lampe .
Öde heißt die eine , Gier heißt die andere ; Die Schwirrenden pfeifen . . . Ich lese mir das vor , mit leiser Stimme spreche ich_es den Buchstaben nach ; mir ist es , als hörte ich_es von tief unten wo her aus Glockenmunde mit meiner Stimme , und ich fühle :
Das ist gut .
Nein , ich bin keiner von den Schweren , Klebenden , in mir sind Stimmen aus der Tiefe , es ist ein Reichtum in mir .
Ich habe mehr als ihr Almosenempfänger .
Ich bin einer von den grands aumoniers des Herrgotts .
Ich kann mich auftun , und es fließt Leben in die Welt .
In meiner Seele umschließen sich Zeugung und Empfängnis .
Wie jene Blume bin ich , die Phallus und Vulva ist ; so stehe ich da im Garten des Herrn und begatte mich :
Liebe dich und löse Dich , Löse dich auf und gebier dich der Welt Aus der bebenden Lotosblume deiner Fülle !
Ich höre Dich lachen , Staatsanwalt !
Lache !
Lache !
Spei mir Dein Lachen ins Gesicht !
Ich will mich nicht einmal abwischen .
Ich weiß es ja , jede Zelle meines Wesens fühlt es ja : Das Alles ist krüppelhaft .
Ich , die erstaunliche Lilie im Garten des Herrn , stoße nichts als Halbgeburten aus , ich wälze mich in Zeugungswollust und kann nichts austragen .
Und die fragmentarischen Bankerte verrecken unter dem Hohn Viertes Buch , Schlußkapitel . Gelächter meiner Erkenntnis , daß ich fürs Ganze impotent bin .
" Es fehlt dem Schüler an der rechten Ausdauer , seiner Begabung alles das abzugewinnen , was sie zu leisten vermöchte , wenn sie von Fleiß , Beharrlichkeit , Mäßigung unterstützt würde " . . . Diese Worte , nebst einigen anderen , habe ich einmal von einem Schulzeugnis weggewischt , aber , als wenn ich sie auswendig gelernt hätte , stehen sie in mir fest und knarren sich heute mir vor .
Sehr gut , Herr Doktor !
Sie sind ein guter Psychologe gewesen .
Aber , weiß Gott , ein schlechter Pädagoge .
Warum haben Sie mir alle die guten Dinge nicht beigebracht , Magister Sie ? Warum haben Sie mich schon auf der Schule verlumpen lassen ?
War ich ein Talent , Oh , Sie Halunke , warum haben Sie mich nicht gehütet ?
Warum haben Sie mich verhöhnt , von sich weggetrieben , meinem Zorn und Trotz in die Arme , daß ich nun erst recht auf mir bestand ?
Warum habt ihr mich überhaupt gequält mit eurer Rohheit , eurem Dünkel , eurer Gleichgültigkeit ?
Warum habt ihr meine Seele , da sie jung war , wundgescheuert , daß sie ewig schmerzende Narben davontrug und immer zuckender , unstäter wurde ?
Freilich , die meisten unter euch waren nicht einmal Psychologen , höchstens , daß sie instinktmäßig ahnten , daß in mir mehr war , als in ihnen , und dafür mußte ich geduckt werden .
Geduckt , ich !
In mich hinein fraß ich einen Haß gegen Alles , das nicht ich war , meine ganze Jugend wurde ein Eitergeschwür , all mein Blut verdarb , weil ihr mich drücktet !
Wie das Alles auf einmal vor mir steht .
Wie ein schwefelgelber , brunstrot geäderter Sonnenuntergang .
Nie , seit Jahren nicht , sah ich so klar .
Nie , seit Jahren nicht , war ich so bewegt .
Nie , seit Jahren nicht , fühlte ich mich so frei wie in diesem jetzigen Augenblicke .
Wird man hellseherisch durch einen großen Entschluß ?
Oder -- -- -- bin ich endlich , endlich wieder einmal betrunken ?
Dann -- -- könnte ich ja den großen Entschluß wieder aufgeben ?
Denn , -- Ruhe !
Ruhe ! nur noch einen Augenblick Ruhe ! --
warum hat sich_es in mir eingenistet , eingegraben wie mit tausend feuchten Klauen , daß ich ein Ende machen muß ?
Lauf mir nicht fort , Bewußtsein !
Bleibe , daß ich mir_es sage , klar , glatt , hell , daß ich es wenigstens einen Augenblick lang Viertes Buch , Schlußkapitel . weiß .
So !
So !
Ich habe_es !
Nur deshalb . . . Nein !
Nebel !
Kopfschütteln .
Müde .
Trinken !
Ich laufe den ganzen Tag im Zimmer herum wie ein Tier im Käfig .
Und ich merke , daß mich das hypnotisiert , wie einen Fakir das Kopfdrehen .
Jetzt bin ich wunderbar ruhig .
Das ist sehr schön .
Nun weiß ich auch , warum . . . Siehst Du , Robert ( habe ich Dich je Robert genannt , Du Schäker ? ) , so ist_es : Ich fühle , daß ich auch im Sumpf nicht ganz aufgehe .
Nein , nicht einmal im Sumpf .
Und doch ist Aufgehen Alles .
Worin , das bleibt sich gleich . . .
Eine Weile schien Alles gut .
Ich -- fühlte mich wohl und akklimatisierte mich .
Aber von dem Tage an , wo Du mit mir sprachst , begann das Ziehen wieder , das Hinaufwollen .
Ein Taumel erst .
Verse sprudelten auf , Fragment auf Fragment .
Hohes Entzücken !
Phönix aus der Asche !
Dann aus allen Höhen herunter .
Wirre Verzweiflung . . . Zuckende Erkenntnis . . . . Hin und her .
Ich will !
Ich kann !
. . . Nein !
Nein !
Hund !
Lump !
Mache ein Ende !
. . . Nein !
Ich habe ja die volle Seele !
Ich muß nur ein einziges Mal mit aller Kraft mich ganz fassen !
. . . Ach !
Ich bin mit dem Schädel gegen die Wand gerannt und habe mir , ganz biblisch , die Haare ausgerissen .
Geheult und gekreischt in Weinen und Lachen !
Unsinn !
Unsinn !
Noch mehr saufen !
Ecce medicamentum .
Vergeblich .
Ich reagiere nicht mehr .
Ich habe nur noch das Ekelgefühl und eine marode Sehnsucht .
Fertig , weißt Du , was man so fertig nennt . Hin und wieder angenehm verrückte Anstöße , aber ich fühle :
Die verdanke ich auch bloß dem . . . Entschluß .
Der macht mir überhaupt viele Freude .
Ja .
Ich finde doch , daß ich nicht übel abgehe .
Über den Geschmack der letzten Szene kann man ja streiten .
Natürlich .
Aber was geht das mich an ?
Ich finde , daß sie ausdrucksvoll ist .
Dem Leben die Zunge herausstrecken , eurem Leben , meine Lieben , das Plaisier müßt ihr mir schon gönnen .
Ich bin nun Mal auf die böse Seite hinübergerutscht , wo die Respektlosen , die Giftigen stehen .
Wie kann da mein Geschmack der eure sein , ihr Leute von der Harmonie ?
Wenn ich Bomben würfe , würde die Geschmacksdivergenz noch mehr klaffen .
Viertes Buch , Schlußkapitel .
Genug !
Kommen wir zu meinem Vermächtnis : Meinen werten Leichnam , bitte , der Anatomie .
Den Befund über das Gehirn mögt ihr dem Cenaclearchiv einverleiben .
Meinen werten Feinden von der Presse wende ich Stoff für mindestens zwei Notizen zu .
Wer sein Handwerk versteht , kann am Ende gar ein Feuilleton herausschlagen . Dir gehören meine sämtlichen Werke .
Wenn Du zu den Versen immer einen Anfang und ein Ende schmiedest , so kommt ein ganz netter Band Lyrik und Spruchweisheit heraus .
Sonst habe ich wohl nichts zu vermachen .
Qualis poeta pereo !

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TextGrid Repository (2025). Bierbaum, Otto Julius. Stilpe. Bildungsromankorpus. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0rc.0