1. Kapitel .
Ursulas Stoßseufzer " Ursel - Ur-su-la ! " rief eine helle Stimme durchs Haus .
" Wo sie nur wieder stecken mag !
Weißt du es nicht , Axel ? "
" Wahrscheinlich hat sie wieder ihre Tarnkappe auf ! "
" Tarnkappe ?
Was willst du damit sagen ? "
" Na ja , sie versteht doch die Kunst , sich unsichtbar zu machen . "
" Ja , wirklich , du hast recht , und gerade immer dann , wenn sie einem Mal nützen könnte . "
" Was nicht oft der Fall ist , meinst du .
Mitunter ist die Tarnkappe auch bloß geistiger Art , wir sehen Ursel , aber sie sieht uns nicht .
Ihr Persönchen ist vorhanden , aber ihr Geist schwebt wieder wo anders . "
" Ja , sie ist wirklich noch recht wenig zu gebrauchen ! "
" Und hat doch so ein glänzendes Beispiel an ihrer Schwester ! "
" Alexander ! "
" Ingeborg ? "
" Nicht respektlos sein gegen deine Älteste . "
" Sind Komplimente respektlos ? "
" Du neckst ja doch nur . "
" Ich denke nicht daran !
Niemand kann von deinen Vorzügen mehr überzeugt sein als dein Bruder . "
" Du scheinst dich wirklich zum Kavalier auszubilden , aber es steht dir gut .
Nun sage nur , wo finden wir Ursula ? "
" Was soll die Kleine ? "
" Ach , ich dachte , die Kleine wäre einmal groß genug , um die ganz Kleinen eine halbe Stunde beaufsichtigen zu können .
Die Eltern sind zum Diener , weißt du , und ich - "
" Du möchtest gern in den Schloßgarten ? "
" Fehlgeschossen !
Ich möchte Mamas Abwesenheit benutzen und die Truhe zu ihrem Geburtstag fertig machen , und nun fehlen mir Farben . "
" Ich war der Meinung , die Truhe wird gebrannt ? "
" Ja , die Brennarbeit ist schon fertig , aber die Flächen werden ausgemalt , ich muß durchaus zu Neumann und mir Chromgelb und Kobaltblau holen . "
" Ist denn die Muschebergen nicht da , daß sie auf die Kleinen aufpassen kann ? "
" Nein , Musching kommt heute nicht , sie hat es » ins Kreuz « , wie sie sagt . "
" Da wird dein galanter Bruder gehen und die Farben holen ! "
" Axel , du bist wirklich nett ! "
" Wie immer !
Also Stromblau und Koboldgelb ? "
Ingeborg lachte und verbesserte , darüber ließen sich neue Stimmen vernehmen :
" Inge , kommst du noch nicht ? "
" Ja , Kinderchen , eigentlich sollte Ursu - "
" Ach , nicht Ursel , die ist gar nicht lustig !
Die guckt immer bloß in ihre dummen Bücher und sagt :
Ja , ja - geht nur - ich komme - aber sie kommt nicht . "
" Nun , ich komme .
Aber recht artig müßt ihr sein , nicht toben und zanken , Inge hat zu arbeiten . "
Die Stimmen verloren sich im Kinderzimmer .
Inzwischen saß die Vermißte oben im zweiten Stock des Hauses , hatte sich im Fremdenzimmer eingeschlossen und schrieb .
Ahnungslos , daß man sie suchte und daß die Geschwister so über sie urteilten , saß sie in ihrem sicheren Versteck und schrieb in ein blaues Heft :
" Ich bin wirklich sehr unglücklich !
" Und weil ich das niemand sagen kann , darum will ich ein Tagebuch führen , um mich doch einmal aussprechen zu können .
Eigentlich müßte ich dazu ein fein in Leder gebundenes Buch haben , das sich verschließen läßt , aber so weit reicht mein Taschengeld nicht , und wenn ich bäte , etwas aus der Sparbüchse nehmen zu dürfen , die Papa in Verwahrung hat , müßte ich ja sagen , wozu ich das Geld haben will .
Das aber geht nicht , niemand soll es wissen , daß ich schreibe , sonst necken sie mich , wollen es lesen , es mir wegnehmen - o , ich kann mir schon alles denken !
Und darum muß es mein Geheimnis bleiben und ein blaues Schreibheft muß genügen .
Das ist auch unauffällig , das werden sie wohl nicht entdecken .
" Eigentlich schreiben ja nur berühmte Leute ein Tagebuch , während ich gar keine Aussicht habe , das jemals zu werden .
Ich habe keine Talente und bin überhaupt ein recht gewöhnliches Menschenkind , nicht Mal ein bißchen hübsch !
Nie werde ich so aussehen und sein , wie meine Schwester Inge , nie den Menschen gefallen .
Ich finde sie wirklich auch reizend , sie ist so blond und so hell , und immer freundlich gegen alle Leute - nur nicht gerade immer gegen mich !
Aber das kommt davon , weil ich so garstig bin , - nun und davon kommt wiederum mein Unglück !
" Inge ist zwanzig Jahre alt .
Wie sie als Backfisch gewesen ist , darauf kann ich mich nicht mehr besinnen , denn ich bin fünf Jahre jünger , aber sie war gewiß immer nett .
Sie hat wohl stets alles mögliche im Hause tun dürfen , was man mir nicht anvertraut ; Mama nennt sie gegen Fremde ihre » rechte Hand « und Papa lächelt , sowie er sie nur sieht .
Meine kleinste Schwester Elfi hängt auch sehr an ihr , und die beiden zusammen sehen oft aus wie ein Bild , so hübsch , denn Elfi ist auch solch süßes blondes Ding .
" Alle meine Geschwister sind blond , ich bin die einzige Schwarze .
Meine dicken Zöpfe sind auch nur Kummer für mich , denn sie sind so schwer zu regieren .
Ich zerbreche so viel Kämme und mag es nicht , wenn mein Haar nicht glatt sitzt .
Früher , als Mama mir noch das Haar machte , ach ja !
Aber seit wir kein Kindermädchen mehr halten , ist die süße Mama eigentlich nur für die Babies da .
" Wir haben nämlich noch zwei entzückende kleine Jungen , die noch nicht fünf Jahre alt sind , Zwillinge .
Sie sollten zuerst Max und Moritz heißen , schlug Papa vor , aber das verbat sich Mama , und es wäre auch wirklich schade gewesen , sie so richtig als böse Buben bezeichnet zu sehen .
Nun heißen sie Robert und Bertram , das hat Papa durchgesetzt , und er sagt oft : » Na , meine kleinen lustigen Vagabunden ? «
Was das bedeutet , weiß ich eigentlich nicht , und Mama mag es auch nicht , aber Papa ist nun einmal sehr für das Necken .
" Von ihm ließe ich es mir ja auch , ach wie gerne ! gefallen , denn ich finde meinen Vater einfach herrlich !
Aber mir gegenüber hat er niemals Lust zum Necken , ich bin viel zu langweilig .
" Aber desto mehr Grund dazu sucht sich Axel , unser Primaner , aber der ist wirklich mein Feind !
Das ist kein Necken mehr ; ich denke immer , er will mir weh tun , und das muß mich doch unglücklich machen !
" Das sind also meine Geschwister .
Eigentlich sind wir drei große und drei kleine Kinder , zwischen mir und Elfi sind zwei Geschwister gestorben .
Ach , die eine Schwester , die nur ein Jahr jünger war , als ich , wäre gewiß meine Freundin geworden , die » Intima « , wie sie in der Schule sagen , und wie eigentlich jede in der Klasse eine hat , nur ich nicht !
" Ja , wir sind drei Große und drei Kleine , und ich , ich weiß nicht , wo ich hingehöre .
Zu den Großen - das ist so eine Sache !
Es heißt doch alle Augenblicke :
» Das ist noch nichts für dich , Ursula ! «
» Gehe ein wenig hinaus , Urselchen , wir haben etwas zu reden « ( Inge mit ihren Freundinnen ) .
» Das versteht so 'n Backfisch nicht ! « ( Axel ) .
" Und zu den Kleinen ?
Soll ich denn in der Kinderstube meine Arbeiten für die erste Klasse machen ?
Das ist manchmal kaum möglich .
Axel hat eine » Bude « , wie die Primaner sagen , wo er » büffeln « kann , so ungestört und so spät , wie er will .
Inge hat ein kleines Boudoir , in dem sie allerlei hübsche Dinge treibt und ihre Freundinnen empfängt , aber ich ?
" Wir haben ein so schönes Haus , aber mir kommt es noch immer wie ein fremdes vor .
Ich habe keine Stelle , die mir gehört !
Früher war es anders .
Zu Hause - ich sage noch immer so , wenn ich an Steinberg denke , wo wir früher wohnten -
da war_es viel anders !
Vielleicht nicht so hübsch für fremde Leute , ich glaube , ein bißchen altmodisch , nicht elegant , aber viel Platz !
O , was für Ecken und Winkel , was für Kämmerchen und Verschläge !
Meine kleine , liebe Stube auf dem obersten Boden - o , ich bekomme so schreckliches Heimweh , wenn ich nur daran denke !
Es war wirklich nur ein Kämmerchen mit einem winzig kleinen Fenster , ausgeklebt mit zusammengesuchten Bildern statt der Tapete , aber alles , was drin war , gehörte mir .
Meine Puppensachen und meine Bücher , mein Kinderstuhl und der kleine Glasschrank , und meine ersten Topfblumen .
Es war da im Sommer freilich oft sehr heiß , aber ich machte mir nichts draus , der Winter war schlimmer , dann durfte ich die Stube gar nicht benutzen .
Ich konnte immer den Frühling nicht erwarten , wo ich oben reinmachte und einzog .
" Nun sind wir fort von Steinberg , wo Papa Amtsrichter war ; er ist ans Landgericht nach der Residenz versetzt , und hier wohnen wir nun in dem schönen , neuen Hause am Fürstenplatz .
" Ich gehe in eine große Schule , wo wir viel , viel lernen müssen , mehr noch als in Steinberg , obgleich unser lieber Rektor auch was verlangte .
Aber das schadet nicht , ich lerne gern .
Lernen ist noch das beste .
Was soll ich auch anders ?
Als Schulkind weiß man immer , was man zu tun hat , - bei allem anderen fühle ich mich unsicher , kann nichts und bin nichts .
" Ich beneide Inge oft so sehr , und Neid ist doch etwas so Schlechtes !
Nicht , daß alle sie lieber haben als mich , das begreif ich ja - aber daß sie so sein kann , wie sie ist , immer vergnügt und gewiß immer mit sich zufrieden .
Wie das sein mag !
Und dann , daß sie so vieles im Hause tun darf und kann , was man mir nicht erlaubt .
" Ach , älteste Töchter haben es immer besser !
Oder auch einzige Töchter .
Wie oft hört und liest man , wie eine einzige Tochter » des Hauses Segen « genannt wird .
Wenn die Mutter krank ist , nimmt sie ihr alle Arbeit ab , wenn der Vater Unglück hat , vielleicht sein Vermögen verliert , ist sie sein Trost , hilft ihm verdienen , und alle so was .
Was kann ich jemals sein oder tun ?
" Ich glaube , wenn ich heute oder morgen tot bliebe , mich vermißte kein Mensch !
Und ist das nicht traurig ? "
Erst am folgenden Tage konnte sie fortsetzen :
" Ich glaube , gestern habe ich etwas sehr Unrechtes geschrieben .
O lieber Gott , verzeih mir !
Ich wollte doch gewiß nicht , daß mein Papa sein Geld verlöre oder meine Mama krank würde , nur damit ich etwas für sie tun könnte .
Und meine lieben Geschwister , die wollte ich doch nicht hingeben , nur um die » Einzige « zu sein ?
O , es ist schrecklich !
Aber so was mache ich immer , wenn ich so ganz , ganz allein mich fühle , wenn niemand sieht und fühlt , wie mir ist !
" Aber dies ist ja mein Geheimbuch , niemand wird es finden und lesen , hier kann ich aufrichtig sein .
Aufrichtig ?
Das ist auch nicht das rechte Wort .
Was ich gestern zuletzt geschrieben , war dumm und häßlich .
Aber es kommt alles davon , weil ich so unglücklich bin .
" Hätte ' ich nur eine Freundin !
" Ob ich wohl eigentlich dumm bin ?
Manchmal muß ich es glauben .
In den Schulstunden zwar , da kann ich nicht sagen , daß ich die Lehrer nicht verstände , nicht mitkommen könnte .
Im Gegenteil , ich möchte manchmal noch mehr wissen , als sie uns sagen , oder als in den Büchern steht ; ich muß über alles noch so viel nachdenken !
Aber wenn ich mit meinen Klassennachbarinnen über etwas sprechen , sie etwas fragen will , was mir noch nicht völlig klar ist , dann kommt es , daß die anderen mich dumm finden .
» Laß doch bloß dies verrückte Fragen , « sagen sie dann , » da kann einem so bang davor werden . «
Oder : » Das weißt du nicht ?
Na , höre Mal , du bist aber etwas - ! «
» Etwas zurück ! « sagt eine andere , mit einer milden Geringschätzung , und dann werde ich innerlich wütend .
" Ich bin gar nicht zurück !
Wir hatten in Steinberg eine sehr gute Privatschule , und ich hatte nach dem ersten Halbjahr hier eines der besten Zeugnisse in der Klasse und wurde gleich versetzt .
Das ist es also nicht , lernen kann ich ebensogut wie die anderen , und die Lehrer tadeln mich nicht .
" Es muß etwas anderes sein , was mir fehlt und warum sie mich dumm finden , ich weiß es nicht ; aber die anderen wissen es vielleicht , und darum kann ich zu keiner Vertrauen fassen .
" Inge hat so viele Freundinnen , immer wieder neue !
So war es in Steinberg , und so ist es hier .
» Die schöne Schwedin « wird sie genannt , weil sie so aussieht , wie man sich die herrlichen , blonden Nordländerinnen denkt , und weil wir auch eigentlich aus Schweden stammen .
Das heißt zu der Zeit , als die Küste unseres Landes schwedisch war , ist Papas Familie hier ansässig geworden .
" Ich interessiere mich nun sehr für schwedische Geschichte und für Beschreibungen des Landes , und die Frithjofsage , nach deren Heldin meine Schwester ja Ingeborg heißt , weiß ich beinahe auswendig .
Die lernte ich noch in Steinberg , in meiner geliebten Bodenstube .
Da habe ich manchmal laut deklamiert ; o , wenn das jemand gehört hätte !
Aber niemand hat_es , ich bin ganz sicher , und hier - ach , hier ist nicht an so was zu denken .
" In diesem schönen , neuen Hause gibt es keine versteckten Winkel , keine übrigen Kämmerchen ; hier heißt es oft noch , es ist nicht genug Platz da .
Also ziehe ich mit meinen Schularbeiten von der Kinderstube in die Eßstube , und wenn da aufgedeckt wird , versuch ich es in Inges Stube , und wenn sie Besuch bekommt , gehe ich wieder in die Kinderstube zurück .
Und wenn die kleinen , lustigen Vagabunden toben , und Elfchen ihre Puppen laut in den Schlaf singt , mache ich meinen Aufsatz .
Das ist mein Bestes und Liebstes in der Schule , schriftlich geht überhaupt alles besser als mündlich .
Und wenn wir ein Thema aus der Geschichte oder Sage haben , dann vertiefe ich mich manchmal so , daß ich wirklich das Geschrei und das Spielen überhöre .
" Ach , Helden , Helden schildern !
Menschen , die etwas Gutes und Großes gewollt und - es auch getan haben ! "
2. Kapitel .
Mamas Fund Das hübsche weiße Haus am Fürstenplatz von Wendenburg , das dem Landgerichtsrat Dahland gehörte , lag in der hellen Nachmittagsonne eines warmen Junitages einladend da , mit vielen offenen Fenstern , zu denen der Duft von den blühenden Büschen des Vorgartens hereinströmte .
Aber es war still drinnen , das schöne Wetter schien alle Bewohner ins Freie gelockt zu haben .
Nur die Rätin war zu Hause .
Sie kam eben aus den im Kellergeschoß gelegenen Wirtschaftsräumen herauf , wo sie mit Wäscheordnen beschäftigt gewesen schien , denn sie trug ein Paket frisch geplätteter Kindersachen und ging damit in das große luftige Zimmer , wo ihr kleines Volk sonst sein Wesen trieb .
Heute waren aber weder die kleinen , lustigen Vagabunden darin , noch ihr blondes Elfchen ; der große Tummelplatz im Schloßgarten hatte sie heute zu sehr angelockt , und als die Muschebergen , die alte Kinderfrau vom Papa , die in einem Altenstift ihr Stübchen hatte und sich_es zur Ehre rechnete , die Kinder ihres " jungen Herrn " noch manchmal zu betreuen , gerade heute gekommen war , hatte Mama die Kleinen unter diesem sicheren Schutz hinausgelassen .
Verlassen lagen Tiere und Bauklötze , Puppen und Bilderbücher .
Die Rätin fing unwillkürlich an , ein wenig aufzuräumen , nicht ohne einen kleinen Seufzer , denn eine musterhafte Ordnung herrschte nun einmal nie in ihrer Kinderstube .
War das überhaupt möglich ?
Gab es Kinderstuben , die noch am Nachmittag aufgeräumt aussahen ?
Vielleicht .
Früher , als Ursula das eigentliche Spielkind gewesen war , die hielt ihre Sachen und Sächelchen von jeher so gut und nett , wie heute ihre Schulbücher .
Die machte überhaupt eigentlich nie Mühe , nie Lärm , nie Ansprüche .
Noch heute war die Ecke , wo Ursulas Kommode stand , mit dem Bücherbrett darüber und dem alten Kinderstühlchen , auf dem sie immer noch saß , der einzige feste Punkt im Zimmer , wo sonst alle Gegenstände auf Rollen zu gehen schienen , so leicht gerieten sie durcheinander .
Die Rätin trat an die Kommode .
Es steckte ausnahmsweise der Schlüssel , was sonst nie vorkam ; da konnte sie gleich Ursulas Taschentücher verwahren , die sie eben mit heraufgebracht hatte .
Sie zog die oberste Schieblade auf - wie nett und sauber geordnet alles lag !
Die Taschentücher , Kragen , Schürzen , Handschuhe , jede Kleinigkeit an ihrem Platz .
Im anderen Schubfach die Leibwäsche - wirklich tadellos .
Nur da , was war da ?
Guckte da nicht zwischen den Hemden ein blaues Papiereckchen hervor ?
Richtig , das war ein Schreibheft .
Sehr erstaunt zog die Rätin es hervor , wie kam Ursel nur dazu ?
Das sah ihr ja gar nicht ähnlich .
Unwillkürlich schlug sie es auf und las die ersten Worte :
" Ich bin wirklich sehr unglücklich ! "
Unglücklich ?!
Die Rätin las weiter , hielt erschrocken inne und las unwiderstehlich getrieben doch weiter .
Sie setzte sich sogar in den Kinderstuhl und war schnell ebenso vertieft , wie sonst Ursula hier in eines ihrer Lieblingsbücher .
Auf dem hübschen , ansprechenden Gesicht der Rätin malten sich die verschiedensten Empfindungen , bis sie plötzlich erschrocken innehielt und vor sich hinflüsterte :
" Was , dies Mädchen verschwört sich hier ja wohl gegen Eltern und Geschwister ?
So sieht es in dem stillen Kinde aus ? " bis sie dann weiter las und nun wirklich Tränen in die Augen treten fühlte .
Hier sah das Kind , das sie eben für völlig überspannt gehalten , schon seinen Irrtum ein und klagte sich an - ach , und wie beweglich !
Und noch einmal dachte die Mutter , so sieht es in Ursula aus ?
Eines meiner Kinder ist unglücklich ?
In unserem schönen , wohlgeordneten , friedlichen Hause ist ein junges Herz , das klagt ?
Und um was eigentlich ?
Sind das nicht eingebildete Schmerzen ?
Oder geschieht dem stillen Mädchen , das nicht die Gabe hat , sich einzuschmeicheln , sich leicht und harmlos alle Welt zu Freunden zu machen , das nicht oberflächlich , sondern eigentlich voll tiefer Anlagen ist , geschieht ihm doch wohl Unrecht ?
Unwillkürlich schlug sie das Heft auf und las die ersten Worte .
Jetzt hörte sie die Haustür gehen und gleich darauf im Korridor einen leisen , etwas müden Schritt .
So ging Ursula !
Der Mutter fiel es plötzlich auf , daß der Schritt müde und traurig klang .
Sie barg das blaue Heft schnell wieder an der Stelle , wo sie es gefunden , so schnell , als hätte sie selbst ein unerlaubtes Geheimnis , und trat dann an das Schränkchen der kleinen Brüder .
Da kam Ursula herein .
Groß und mager , mit den schweren braunen Zöpfen , die ihr solchen Kummer machten , mit dunklen Augen in einem blassen , feinen Gesicht , das großen Ernst , ja fast einen Zug von Verdrossenheit zeigte .
Ein schneller Blick ging nach der Kommode , und als sie den Schlüssel stecken sah , flog eine brennende Röte über ihr Gesicht .
Aber da rief die eifrig beschäftigte Mutter schon :
" Bist du da , Urselchen ?
Ich habe deine Wäsche hergelegt , du verwahrst sie dir ja am liebsten selbst , nicht wahr ? "
Das klang beruhigend , Ursula atmete auf :
Mama war noch nicht an der Kommode gewesen !
Freundlich sprach diese weiter : " Bist du denn für heute fertig mit Studieren , mein Kind , ja ?
Ich gönnte dir_es , daß du diesen wunderschönen Tag auch einmal recht genössest .
Mich dünkt , ihr werdet jetzt reichlich angestrengt in der Schule , du kommst mir recht blaß vor . "
" Es ist mir nicht zuviel , Mama , " sagte Ursula ruhig , " aber für heute bin ich fertig . "
" Das ist gut , da benutze es recht und tummle dich draußen . "
" Wie soll ich das machen ? " fragte Ursula mit einem kurzen , trockenen Lachen , " in diesem kleinen Garten ? "
" Mache doch einen Spaziergang mit Inge ! "
" Inge spielt Tennis im Schloßgarten , sie begegnete mir eben . "
" Ach ja , freilich , und so ein Backfischlein wird noch nicht aufgenommen in den Klub .
Und die Brüder sind um diese Zeit auch nicht allzu galant , " fuhr Mama halb scherzend , halb bedauernd fort , " Axel - "
" Axel hat sich mit einem Freund zum Segeln verabredet . "
" Und du ?
Magst du dich denn gar nicht einer von deinen Mitschülerinnen anschließen ? "
" Die radeln alle . "
Da hielt Mama sie plötzlich umfaßt .
" Mein armes Mädelchen , " sagte sie zärtlich , " da muß Mama sich wohl mit dir zusammentun . "
" Du ?
Du gehst doch gewiß mit Papa spazieren . "
Mama lachte beinahe verlegen : dies Kind ließ sich nichts vormachen zum Trost !
" Allerdings , " sagte sie dann , " gehe ich ja gewöhnlich mit Papa , du hast wohl recht ; das ist nun einmal sein Wunsch , sein Vergnügen nach den langen Gerichtssitzungen .
Und heute erwartet er allerdings noch besonders , daß ich mitkomme - "
" Siehst du wohl , " sagte Ursula ruhig , immer mit dem gleichen Gesicht .
" Ja , Herzchen , ich soll mit Papa nach Heckendorf gehen ; du weißt , sein Freund Leuthold mit Familie ist dort zur Sommerfrische eingetroffen .
Sie haben uns schon Besuch gemacht , den müssen wir erwidern . "
" Ja , Mama .
Ich ginge auch sehr gern allein ; zu Hause - ich meine in Steinberg - bin ich so oft allein ins Feld gelaufen , aber hier darf ich das nicht . "
" Nein , mein Kind , so wie du zuerst hier anfingst , um den ganzen » stillen See « zu laufen oder ins Nußholz , das geht allerdings nicht .
Aber in der Nähe - "
" Im Schloßgarten sollen wir auch nicht allein gesehen werden ; Fräulein Röder hat es verboten . "
Mama überlegte einen Augenblick , dann meinte sie lächelnd :
" Wenn ich aber einen Auftrag für dich hätte , der dich quer durch den Schloßgarten führt ?
Wenn du mit einem Körbchen am Arm gesehen würdest und Fräulein Röder selbst begegnete dir , so wärest du entschuldigt .
Du kannst mir nämlich wirklich einen Gefallen tun , ich möchte gern vom Schloßgärtner recht schöne Spargel haben für morgen ; wir bekommen doch Besuch , weißt du . "
" Nein , ich weiß es nicht .
Wer kommt denn ? "
" Ach , hast du es nicht gehört ?
Eben diese Freunde von Papa , Rechtsanwalt Leuthold mit Frau und Tochter . "
" Eine Tochter auch ? " fragte Ursel mit schwachem Aufleuchten in dem stillen Gesicht .
" Ja , eine Tochter von neunzehn Jahren , Inge freut sich schon auf sie . "
Wieder eine Freundin für Inge !
Ursels Miene trübte sich , und die Mutter verstand jetzt plötzlich diese neue Enttäuschung ihres stillen Kindes , dessen sehnlichen Wunsch :
" Hätte ich doch eine Freundin ! " sie ja eben gelesen hatte , und sie konnte ein wehes Gefühl nicht unterdrücken .
Könnte sie ihr es doch schaffen , was sie brauchte !
Diese Einsamkeit ging wirklich nicht länger an .
Herzlich sagte sie nun :
" Aber in den nächsten Tagen gehen wir gewiß einmal zusammen , wir beide allein , oder wir fahren nach dem Rohrwerder ; nächste Woche habe ich viel Zeit .
Und heute holst du mir die Spargel , nicht wahr ?
Line plättet noch und kommt nicht mehr dazu .
Drei Pfund hätte ich gern .
Hier ist Geld , ich weiß nicht , was sie heute kosten .
Laß dir die besten geben , hörst du ? "
" Ja , Mama .
Soll ich gleich gehen ? "
" Wie du willst , Kind ; es ist ja nicht mehr zu warm . "
" Nein , wunderschön . "
" Dann will ich dir das nette Spankörbchen geben , das mit der Brandmalerei , damit kannst du dich immer sehen lassen . "
" Ach , Mama , das weißt du doch , daß ich mir daraus gar nichts mache , Körbe und Pakete zu tragen .
Die anderen in meiner Klasse schämen sich immer sehr damit , aber ich finde das lächerlich . "
" Noch gar nicht ein bißchen residenzmäßig angehaucht ? " scherzte Mama .
" Nun , mir bist du jedenfalls umso lieber als meine kleine Steinbergerin . "
Sie küßte Ursula herzlich und strich ihr über das Haar .
" Wollen wir deine Zöpfe noch Mal flechten ?
Der eine ist etwas rauh ; komme , es ist gleich geschehen . "
In Ursels Gesicht stieg langsam eine feine Röte und sie lächelte scheu .
Sollte Mama doch - - ?
Der unglückliche Kommodenschlüssel !
Könnte Mama das Tagebuch gefunden haben ?
Aber nein , dann hätte sie jetzt betrübt oder böse sein müssen , und sie war gerade so engelsgut !
Nein , sie durfte doch nicht wieder so klagen im Tagebuch , auch wenn es niemand sah .
Still und reuevoll saß sie , und Mama sprach auch nicht mehr , während sie die schweren Zöpfe bürstete und flocht , bis sie glänzten .
Dann ging sie hinaus , denn sie hörte ihren Mann kommen , der sicher gleich etwas von ihr wünschen würde .
Einmal kam sie noch zurück , händigte Ursula den kleinen Korb ein und machte sich dann fertig zum Spaziergang nach Heckendorf .
Als sie bald darauf mit ihrem Mann das Haus verließ , bildeten die beiden ein Paar , von dem man wohl begreifen konnte , daß das Töchterchen von einem " einfach herrlichen Vater " und einer " süßen Mama " sprach .
Landgerichtsrat Dahland war groß und kräftig , frisch und blondbärtig , kaum erst eine Spur ergraut .
Die Rätin , eine zierliche Frau , dunkelblond , mit einem Gesicht , in das jeder mit Freude blicken mußte , so lieb und sonnig war es meistens , und so jugendlich noch .
Ursula blickte ihren Eltern nach , seufzte ein wenig und lief dann an ihre Kommode .
Da lag das blaue Heft noch , tief in der Wäsche verborgen !
Es war niemand dabei gewesen .
Mit unbeschreiblicher Herzenserleichterung zog sie den Schlüssel ab. 3. Kapitel .
Die verhängnisvollen Spargel Ursula setzte ihren Schulhut wieder auf und nahm das Körbchen .
Sie dachte nicht daran , sich für den Gang durch den Schloßgarten , der um diese Zeit gewöhnlich voll von eleganten Menschen war , irgendwie " fein " zu machen , wie das bei ihren Schulkameradinnen sehr Sitte war .
Gleichmütig ging sie dahin in ihrem dunkelblauen Kattunkleid , das aber heute am Sonnabend eigentlich noch ebenso sauber und nett aussah , wie am ersten Tage der Woche .
Ohne es zu wissen oder sich große Mühe zu geben , hielt Ursula auf ihre Kleidung ; so ordentlich wie ihre Kommode war auch ihr Anzug .
Aber immer sah sie sehr anspruchslos aus und ihre Haltung war fast zu bescheiden , mit dem meist etwas gesenkten Kopf .
Heute aber hob sie ihn wirklich ; die Luft war gar zu wonnig , und der Weg , den sie nehmen mußte , zu wunderhübsch .
Links vom Fürstenplatz lagen noch die alten gelben Torhäuschen , zwischen denen hindurch man in früherer Zeit mit der Post in die Welt gefahren war , ehe die Eisenbahn kam .
Früher war hier die Stadt zu Ende , nur die alte Kaserne mit den viereckigen , beinahe mittelalterlich drohenden Türmen lag noch da , aber jetzt erhoben sich an der sanft ansteigenden Straße überall reizende Vielen , die zwischen der Hauptstadt und dem nächsten Dorfe vermittelnd eine hübsche Kolonie , das Westeck , bildeten , sich um einen kleinen See gruppierten und bis in das tiefe Waldgrün des Schloßgartens sich drängten .
Ursula schlug den ersten kleinen Weg abseits von den Vielen ein , an den Wiesen vorbei , und hatte in zwei Minuten die herrliche Allee erreicht , welche von hier bis an die Stadt führte .
Aber dahin wollte sie nicht , sie durfte ja heute quer durch dies köstliche Parkgebiet wandern !
Bis zur Schloßgärtnerei war kein kurzer Weg , sie wollte ihn gründlich genießen .
Alles prangte im frischen Grün der ersten Junitage , die mächtigen Kastanien hatten eben ihre Blütenkerzen angesteckt , Birken mit den lichten Hängezweigen schimmerten dazwischen .
Auf dem klaren Wasser der Kanäle , die den Park durchschnitten , lagen schon die dunkelglänzenden , großen Blätter der Wasserrosen , die späterhin wie goldene Sterne unter dem Schatten der tief herabgehenden Baumzweige glänzten .
An den kleinen Brücken mit dem zierlichen Eisengitter ging Ursula vorüber , immer ihren geraden Weg verfolgend , aber sie sah alles und horchte auf die Vögel , deren vielstimmiger Chor ihr schöner dünkte als die Konzerte , die es hier manchmal gab , dort drüben bei dem alten weißen Pavillon mit dem gemütlichen , spitzen Dach , mit den zahllosen Stühlen und Tischen im Baumschatten , wo man sitzen und Eis essen konnte .
Ursula lächelte , als sie dahin sah , sie hatte es einmal mitgemacht , aber kein sonderliches Vergnügen davon gehabt .
Das viele Sprechen und Lachen um sie her störte die Musik , die klang von fern an einem stillen Platz viel schöner , und - ja , die Vögel hörte sie noch lieber !
Sie sah aber doch hinüber nach dem Pavillon , denn dort lagen auch die Tennisplätze .
Sie sah die hellen Gestalten im raschen Lauf sich biegen und schmiegen - die dort mit den weißen Schuhen war jedenfalls ihre Schwester Inge , hier so gut Königin wie überall .
Noch hörte Ursula das eintönige Rufen und Zählen der Tennisspieler , als schon wieder andere Laute an ihr Ohr drangen .
Das war helles Kinderjauchzen von dem großen Spielplatz her , wo die Schaukeln sich befanden und die großen Sandberge , das Entzücken von klein Elfchen und Robert und Bertram , die dort heute unter treuer Obhut spielten .
Ursel sah den großen schwarzen Strohhut und die eifrig strickenden Hände der alten Muschebergen , aber sie ging auch hier unbemerkt vorüber .
Nun kam aber der Platz , an dem sie immer still stand und sich unbewußt mit der schönen Hauptstadt aussöhnte , für die sie ihr liebes Steinberg lange nicht hatte hingeben wollen .
Es war aber auch zu schön , das Bild !
Die mächtigen Baumgruppen mit den verwitterten Sandsteinfiguren dazwischen , traten hier auseinander und ließen den Blick frei auf das Fürstenschloß , diesen wundervoll phantastischen Bau , mit der vergoldeten Kuppel , den Steinfiguren und hellen Balustraden , den Türmen und Türmchen , deren grüne Kupferbedachung im Glanze des goldenen Sonnenlichtes hell leuchtete .
Da lag es , fast umspült von den Fluten des blauen Sees , traumhaft wie ein Märchenschloß .
Ursula hatte Zeit und sie beeilte sich nicht weiterzukommen .
Sie nahm das schöne Bild in jeder Einzelheit in sich auf und wünschte , es zeichnen zu können .
Aber sie hatte kein Talent !
Inge konnte es , aber die meinte lachend :
" Photographieren ist bequemer . "
Sie und Axel besaßen zusammen einen Apparat und hatten es sehr wichtig mit ihrer Dunkelkammer , für die sich merkwürdigerweise doch ein übriges Eckchen in dem neuen Hause gefunden hatte .
Sie knipsten immer umschichtig , wenn sie unterwegs waren , und es gab schon Bilder mit Inge als Tennisspielerin und Axel als Seemann , an das Segel eines Boots gelehnt ; und es gab die kleine Schwester als richtiges " Elfchen " zwischen Blumen auf der Wiese , und die Zwillinge als schelmische Vagabunden , denen man es ansah , daß sie eben etwas verübt hatten .
Aber es gab auch ein Bild von einem mageren Backfischlein , das saß mit einem Buch in der Gartenecke und wußte nicht , daß man die Aufnahme heimlich gemacht hatte .
Das blickte so ernsthaft von seinem Buch auf und war gar nicht so übel mit den sinnigen Augen , aber Ursel mußte so viel hören von " schwärmerisch " oder gar " unglücklich " , daß sie flehentlich bat , man möge sie nicht wieder heimlich photographieren .
Es geschah auch nicht mehr , es war den Geschwistern wirklich nicht interessant genug .
Hieran dachte Ursel auf ihrem schönen Wege und fühlte sich plötzlich wieder sehr einsam .
Sie beschleunigte jetzt ihre Schritte ; es kamen immer mehr Spaziergänger auf allen Wegen daher , da durfte sie nicht so stehen und schlendern , das schickte sich nicht .
Jetzt hörte sie auch schon das Wehr rauschen an der alten kleinen Weidenmühle und dann kam die Schloßgärtnerei in Sicht .
Das war nun wieder eine recht trauliche Ansiedlung !
Rechts vom breiten Fahrweg lag das altmodische herrschaftliche Wohnhaus des Hofgartendirektors , da hatte Ursel nichts zu tun ; aber links , etwas zurück , die kleinen Häuschen mit den grünen Fensterläden , mit all dem blühenden Gebüsch umher , mit den grünen Bänken im Lindenschatten , die hatten sie schon immer angeheimelt , und sie freute sich , daß sie dort einmal hineingehen durfte .
Aus einem Zimmer , dessen kleinscheibige Fensterflügel offen standen , tönte Klavierspiel , und zwar sehr gutes , wie Ursula mit Überraschung feststellte .
Es war zwar ein sehr altes Instrument mit dünnen , klapperigen Tönen , aber die Spielerin oder wer es war , konnte etwas .
In diesem Augenblick trat der Obergärtner Bauer aus einem der Nebenhäuschen und fragte nach den Wünschen des jungen Mädchens .
Sie bestellte die Spargel , und er meinte bedenklich : " Drei Pfund ?
Wenn ich die nur noch habe .
Es sind sehr viele aufs Schloß zu liefern .
Für wen ist es ? "
" Für Landgerichtsrat Dahland . "
" Ah so !
Nun , ich will sehen , wenn Fräulein sich ein wenig gedulden wollen - jedenfalls müssen die Spargel erst gestochen werden . "
Er trat in das Haupthaus der kleinen Kolonie , und sogleich brach das Klavierspiel ab , mitten im Takt .
Einen Augenblick später erschien in der niedrigen , grünen Haustür ein junges Mädchen .
Sie trug ein sehr einfaches schwarzes Kleid , das etwas zu kurz geworden war , und band eilig eine große blaue Schürze darüber , die ihr nicht zu gehören schien .
In der Hand hielt sie Messer und Korb .
" Ich will die Spargel stechen , " sagte sie , Ursula freundlich grüßend , " wollen Sie ein wenig hier verweilen - sich vielleicht dort unter die Linde setzen ? "
Damit ging sie eilig den Gartensteig entlang , und bald sah Ursel sie zwischen den Beeten beständig hin und her huschen .
Wie flink sie war , und wie kräftig in jeder Bewegung !
So groß wie Ursel , aber frischer , und das Gesicht leicht gebräunt .
Aber - schwarzes Haar hatte sie auch und dunkle Augen .
Wirklich !
Sonst war alles , was Ursel bewunderte , blond und hell und blauäugig , natürlich ganz das Gegenteil von Ursel selbst !
Aber diese - war ja gerade so eine Schwarzbraune wie sie selbst , und doch so reizend !
Ja , wirklich , trotz des alten , ausgewachsenen Kleides und der groben Schürze , sie war reizend .
Denn jetzt sah sie auf , grüßte einmal schnell mit den freundlichen dunklen Augen und rief irgend etwas .
Ursel war schon von ihrer Bank aufgesprungen und den Gartensteig entlang gelaufen .
" Soll ich helfen ? " fragte sie mit schüchternem Eifer .
" Das meinte ich freilich nicht , " entgegnete die andere , " ich rief nur , Sie möchten sich die Zeit nicht lang werden lassen .
Mit den Spargeln hat es keine Not. "
" Aber ich helfe gern , " sagte Ursel und bückte sich .
" Wenn Sie wollen - "
" Ich habe es noch nie getan , es muß aber recht nett sein - da , da ist einer ! "
" Aber der hat einen blauen Kopf , den gebe ich Ihnen nicht , da Sie nur sehr gute Spargel haben sollen .
Das ist ein Suppenspargel für uns . "
" Aber hier - Oh , ein richtiges Nest , drei , vier , fünf - "
" Ja , die sind schön .
Wollen Sie selbst stechen ?
Soll ich noch ein Messer holen ? "
" Nein , ich will sie nur aufsuchen und von der Erde freimachen - da , - ach , das ist keiner ; es sah gerade so aus . "
" Ja , das täuscht oft ; von den Jasminbüschen kommen die weißen Blättchen herüber geweht , aber ich kenne das nun schon .
Da haben Sie aber einen prachtvollen stehen lassen ! "
" Wo ?
Ach schade ! "
Ursel richtete sich auf , denn der Rücken begann wehzutun , aber ihre Wangen waren jetzt fast ebenso rot wie die des kleinen Gartenfräuleins .
" Sie machen sich zu müde , " sagte diese jetzt , " wir haben auch gleich genug , nur diese Reihe noch entlang , dann reicht .
Ich kenne meine Beete schon und weiß , wie viel sie ungefähr hergeben . "
" Stechen Sie alle ? " fragte Ursel verwundert .
" Diese sieben Beete , ja , die sind mir überwiesen .
Drüben im großen Garten sind natürlich noch viel , viel mehr , die besorgen die Gärtnerburschen .
So , jetzt will ich die Spargel wiegen .
O , haben Sie ein hübsches Körbchen , ist es nicht zu schade ?
Ich gebe Ihnen ein sauberes Papier hinein . "
So plaudernd trat sie in eines der Gewächshäuser , wo im Vorraum ein Tisch mit einer Waage , Papier , Draht , Bindfaden , Bast , Blumentöpfe und Körbe zu finden waren .
Magnetisch angezogen trat Ursula mit ein und sah zu , wie das junge Mädchen schnell und geschickt die Spargel wog und einpackte , sich freuend , daß sie fast auf ein Haar das bestellte Gewicht getroffen hatte .
Ursel empfand es förmlich schmerzlich , daß sie nun gehen sollte , denn das mußte sie doch .
Unter welchem Vorwand wollte sie sich hier wohl noch aufhalten ?
Plötzlich aber , ganz ohne Besinnen , fragte sie :
" Haben Sie vorhin Klavier gespielt ? "
" Ja . "
" Sie können es gut . "
" Ach nein , aber ich möchte es !
Ich darf nicht so viel üben , der Obergärtner sieht es nicht gern . "
" Der Obergärtner ? " fragte Ursel zögernd , " sind Sie nicht die Tochter aus der Gärtnerei ? "
" Ach nein !
Ich bin erst seit einigen Wochen hier und bin eigentlich noch recht heimwehkrank ! "
" Sie auch ? " rief Ursel unwillkürlich , während sie in dem eben noch so heiteren Gesicht ihr gegenüber zwei große Tränen glänzen sah .
Aber das frische Mädchen bezwang sich und wiederholte nur :
" Auch ?
Sind Sie denn nicht hier daheim ?
Vielleicht in einer von den Pensionen , die ich hier oft vorbeiziehen sehe ? "
" Nein , ich bin bei meinen Eltern , " gestand Ursel , " aber ich sage noch immer » zu Hause « , wenn ich von dem Ort spreche , wo wir früher wohnten . "
Die andere nickte .
" Ja , so geht_es ! "
Recht ernsthaft standen sie beide in dem kleinen Gewächshaus , bis Ursel endlich sagte :
" Nun muß ich wohl gehen - leider - aber ich möchte noch fragen :
Welche Schule besuchen Sie hier ? "
" Keine !
Leider keine mehr ! "
" O dann , " sagte Ursel bedauernd und unbeholfen , " dann kann ich ja nicht hoffen , daß wir uns da wiedersehen könnten . "
" Nein , da nicht !
Mit der Schule ist es nichts mehr , aber - " das reizende Gesicht lächelte schon wieder schelmisch - " vielleicht braucht Ihre Mama bald einmal wieder Spargel .
Das wäre nett .
Und die besten gibt es ja doch hier . "
" Ja , " rief Ursel , nun auch fröhlich , " darauf wollen wir hoffen ! " und schnell hielt sie ihrer neuen Bekannten die Hand hin .
Diese reinigte geschwind die erdigen Finger an der blauen Schürze und schlug herzhaft ein .
" Auf Wiedersehen ! " sagte Ursel noch in einem eigentümlich herzlichen Ton und dann lief sie plötzlich wie gejagt davon .
Bei der Mühle drehte sie sich um , ob sie die junge Gärtnerin noch sehen könnte , aber diese war schon ins Haus gegangen .
Jetzt verlangsamte sie ihren Schritt und an dem kleinen Weiher im Schloßgarten blieb sie gedankenvoll stehen .
Sie hatte etwas erlebt !
Auf eigene Hand eine Bekanntschaft gemacht !
Und was für eine !
Gab es irgendwo ein nur annähernd so reizendes und liebes Mädchen wie diese kleine Gärtnerin ?
Ja - war sie denn eine ?
Des Obergärtners Tochter nicht , auch keine Verwandte , wie es schien .
Was tat sie also hier ?
Sie stach Spargel und ihre Hände sahen so aus , als ob sie wohl noch viel mehr tat - , aber diese Hände spielten auch so gut Klavier , und als sie davon sprach , leuchteten ihre Augen .
Diese süßen , schwarzen Augen !
Und ihre Stimme klang so hübsch , und ihre Aussprache , ihre Bewegungen , alles an ihr war viel feiner als ihr Kleid .
Wer mochte sie sein ?
Ursel sann und sann und ging sehr langsam durch den Schloßgarten , ohne auf irgend jemand von den Vorübergehenden zu achten .
Plötzlich schrak sie zusammen , denn eine etwas strenge Stimme sagte :
" Man muß hübsch grüßen , Ursula ! " und vor ihr stand die Schulvorsteherin .
Ursula wurde rot und fing an zu stottern , als Fräulein Röder schon freundlicher fragte :
" Wo warst du denn mit deinen Gedanken , Kind ? "
" Ich - ich habe Spargel geholt , entschuldigen Sie , Mama wünschte es . "
" Ich sehe es , Urselchen , und zu entschuldigen brauchst du dich nicht .
Daß du nicht auf unerlaubten Wegen gehst , davon bin ich überzeugt .
Aber nicht zu weit wegträumen !
Adieu , Kleine . "
Damit nickte sie freundlich und ging weiter .
Ursula war etwas beschämt , aber doch auch wieder gehoben durch das letzte freundliche Wort der Lehrerin .
Aus ihren Träumereien aber war sie nun richtig herausgerissen , und schneller ging sie das letzte Stück Wegs nach Hause .
Mama war noch nicht da , aber als sie später die Spargel fand , sagte sie sehr befriedigt :
" So ausgezeichnete hatten wir noch nicht .
Wieviel kosten sie ? "
" Wieviel sie kosten - ? " stotterte Ursula , " das - weiß ich nicht . "
" Aber Herzchen , ich gab dir doch Geld ! " Richtig ; Ursula zog ihr Portemonnaie , da steckte der Taler noch .
" Schulden gemacht ? -
Kind , Kind , hat man denn gefragt , für wen du bestelltest ? "
" Ja , das habe ich gesagt . "
" Nun , dann hilft es nicht , dann muß Line das Geld hinbringen ; das wird ihr heute schlecht passen nach dem Plätten . "
" O nein , Mama , " rief Ursel glühend vor Eifer , " das tue ich natürlich !
Bitte laß mich gleich gehen . "
" Wo denkst du hin , Kind , es wird ja bereits dunkel , da kann ich dich nicht den etwas abgelegenen Weg gehen lassen . "
" Aber morgen , Mama , bitte , laß mich morgen gehen , es ist ja Sonntag !
Bitte , gleich nach dem Kirchgang ! "
" Nun ja , da der Gärtner weiß , für wen die Spargeln bestimmt waren , mag es so lange anstehen : aber laß Papa nicht hören , daß du auf seinen Namen Schulden gemacht hast ! " schloß Mama scherzend , und als sie Ursulas warm belebtes Gesicht sah , fügte sie noch hinzu :
" Ich bin weiter nicht böse , Herzchen , ich sehe , der Gang hat dir gut getan . "
" Ach ja , " sagte Ursula mit Nachdruck , aber von dem , was sie erlebt hatte , verriet sie nichts !
4. Kapitel .
Ein Sonntag bei der Familie Dahland Am nächsten Sonntag herrschte im Dahlandschen Hause schon früh eine ziemliche Geschäftigkeit .
Inge , die anmutige Älteste , war früh aufgestanden , um noch vor dem Kirchgang allerlei für die Gäste und den Mittagstisch vorzubereiten , und hantierte schon in der Speisekammer , ehe sonst jemand von der Familie erschienen war .
Als dann Papas Klingelzeichen ertönte , ergriff sie eilig das Tablett , auf dem schon alles zurechtgestellt war , und trug es nach oben , denn der Landgerichtsrat mochte von niemand lieber bedient sein als von Inge .
Hell und strahlend trat sie ins Zimmer , mit den sicheren Bewegungen , welche die Übung gibt , ordnete sie das Frühstück und mit fröhlicher Unbefangenheit eröffnete sie die Unterhaltung .
Der Vater , der sonst gern viel Leben und Bewegung um sich hatte , war des Morgens zumeist recht schweigsam , führte aber Inge das Wort , konnte er auch nicht widerstehen .
Erst lächelte er , dann tat er wohl eine Frage , schließlich hatte sie ganz das Feld .
Besonders am Sonntagmorgen .
Ursel begriff nie , wie Inge so selbstverständlich annehmen konnte , daß all dies Geplauder den Vater interessiere .
Die Mutter , die keine gute Nacht gehabt hatte und etwas später kam , fand bei ihrem Erscheinen Vater und Tochter schon in voller , munterer Unterhaltung .
Axel war noch nicht da , Ursel saß schweigend auf ihrem Platz .
Sie hatte nicht schlafen können nach ihrem gestrigen Erlebnis , und sah jetzt wieder besonders blaß und in sich gekehrt aus .
" Ich sollte mich schämen , heute so spät zu kommen , " sagte die Rätin lächelnd , " aber meine rechte Hand scheint schon bestens vorgesorgt zu haben :
es kommen bereits allerlei Düfte aus den unteren Regionen . "
" Alles im besten Gang , Mama , " sagte Inge , " ich würde getrost das ganze Diener heute auf mich nehmen .
Ich gehe auch gleich wieder hinunter , wenn ihr alle versorgt seid .
Noch ein Täßchen - beste Rätin ? " sang sie schelmisch , " Papa noch einen Toast ?
Wer macht ihn dir wohl besser als deine Älteste , sage ?
Hast du auch deinen Aschenbecher - Zeitung ?
Ja , der Kneifer , der Kneifer !
Der ist natürlich wieder nicht da !
Ich begreife eigentlich nicht , Papa , der müßte zur Toilette gehören , so gut wie dein Schlips ! "
" Richtig , meine weise Tochter , du hast deinen Papa eben immer noch nicht gut genug erzogen .
Ursel , sei so gut , hole das Guckglas von meinem Schreibtisch . "
Es war das erste Wort , das an die Kleine gerichtet wurde .
Sie sprang so schnell auf , als führe sie wirklich aus tiefem Traum empor , stieß ihre Tasse um , die Inge noch rettete , lief dann in höchster eiliger Beflissenheit durch das große Zimmer , polterte auf dem Schreibtisch mit ein paar Büchern und kam dann mit dem Gewünschten .
" Warum so hitzig , Kind , Papa hat Warten gelernt ! " sagte der Landgerichtsrat mit Humor ; die Mutter schüttelte ein wenig den Kopf und Inge sagte unbekümmert :
" Die Kleine ist eben mit ihren Gedanken nie da , wo sie sein sollte , daher dann das erschreckte Umherfahren . "
Ursel wurde rot und schluckte hastig ihren Kaffee .
" Jetzt gehe ich , Mama , " fuhr Inge fort , " sieh dir nachher Mal die Creme an , sie steht prachtvoll .
Jetzt rühr ich die Mayonnaise , das ist ja erst meine » Forsch « , wie Muschebergen sagt , wenn sie mich recht bewundern will . "
" Laß dir von Ursel ein wenig helfen , " sagte Mama .
" Ach nein !
Wozu ?
Ich kann das besser allein .
Addio so lange . "
In der Tür stieß sie mit Axel zusammen .
Daß diese beiden Geschwister waren , sah man auf den ersten Blick .
Groß , blond und frisch , mit den gleichen gewinnenden Manieren , welche bei Inge die einer fertigen jungen Dame waren , während sie bei Axel zuweilen noch durch eine knabenhafte Unbeholfenheit gehindert wurden , zuzeiten aber auch schon völlig kavaliermäßig sein konnten .
Inge rief ihm einen " Langschläfer ! " zu und ging hinaus .
Axel küßte Mama die Hand , überzeugte sich durch einen Blick in ihre Tasse , daß sie noch keinen allzu großen Vorsprung hatte , und fand sich glänzend gerechtfertigt .
Er schenkte sich selbst Kaffee ein , und mit einem Seitenblick und in nicht kavaliermäßigem Ton meinte er :
" Könntest einen auch wohl 'n bißchen bedienen , Fräulein Ursche ; Backfische wissen doch nie , wozu sie da sind . "
Oh , Oh - das ist zu viel , das treibt ja gleich über !
" Axel ! " mahnte die Mutter , und sagte dann zu Ursel gewandt : " Gehe in die Speisekammer und hilf Inge ein wenig ; du hast noch eine Stunde Zeit bis zum Kirchgang . "
" Inge mag es ja nicht , " sagte Ursula mit leisem Widerstreben .
" Aber ich wünsche es , " erwiderte Mama , und Ursula stand Gehorsam auf .
Aber nur zögernd langte sie unten an .
" Hat Mama dich geschickt ? " fragte Inge nicht gerade freudig überrascht , " na , dann hilf ein wenig .
Es ist zwar nicht nötig , aber - "
" Dann kann ich es ja auch lassen , " sagte Ursula verdrossen .
" Sei doch nicht gleich so empfindlich !
Ich meine nur , wenn man alles erst zeigen muß , tut man es ja schneller allein . "
Ursula stand stumm und wartete .
" Sieh - binde diese Gläser auf , nimm die Rumläppchen ab - so - und lege mit dem Löffel sorgfältig die Früchte in die Glasschalen .
Aber geschickt , Kleine , nicht die Ränder Vollklecksen - nicht zu voll - auch genug Saft , Oh , Oh , das ist zu viel , das treibt ja gleich über !
Ich sage ja , ich mache es schneller allein . "
Mutlos stand Ursula , nahe daran , zu weinen .
So war es immer !
Inge konnte alles , aber sie glaubte auch so sicher daran , daß sie es am besten verstand , und Geduld für beigegebene Lehrlinge hatte sie gar nicht .
" Was machen wir jetzt mit dir ?
Kannst du die guten Dessertteller aus dem Schrank nehmen und mit einem Tuch abputzen ?
Keinen zerbrechen ?
Ach , das ist wohl schon wieder eine Beleidigung ! "
" Aber Inge , laß mich doch !
Ich bin doch gar nicht so , daß ich immer gleich alles kaputt mache . "
" Schön , schön , weine nur nicht gleich ! "
" Wer weint ?! " Inge lachte .
" Du bist ja heute recht kratzbürstig , Kleine ; komme , wir wollen uns wieder vertragen . -
Sage Mal - freust du dich auf den Besuch heute ? "
" Ich wüßte nicht , warum ! "
" Ursula !
Was für eine Antwort ! "
" Na ja , für mich ist doch kein besonderes Vergnügen dabei ; es sind ja nur große Leute . "
" Das ist wahr , aber Anna Leuthold ist sehr liebenswürdig ; wenn du nicht so scheu und steif sein willst , kannst du immer ein bißchen mit uns beiden zusammen sein . "
" Danke . "
" Auch nicht getroffen ?
Na höre Mal , mich wundert_es nicht , daß du noch keine Freundin in der Schule hast . "
" Vielleicht will ich gar keine haben . "
" Das ist es ja eben !
Das finde ich sehr unnatürlich und unliebenswürdig . "
" Ich könnte nicht immer gleich ein Dutzend Freundinnen haben wie du ! "
" Nein , so weit wirst du es wohl nicht bringen im Leben .
Wie die wohl beschaffen sein müßte , die dir gefiele !
Sage Mal ! "
" Das kann dir ja egal sein . "
" Höre Mal , nun habe ich aber genug !
Nun , bitte , spare mir deine Hilfe ! "
Inge , die so lange mehr lustig und unbekümmert gesprochen hatte , wurde nun böse , und Ursula , die sich ursprünglich nur ein wenig hatte wehren wollen gegen allzu große Bevormundung , fühlte sich allmählich so gereizt , daß sie die häßlichen Antworten nicht zurückhalten konnte .
Aber jedesmal tat es ihr hinterher leid , und in dem ihr geläufigen Gefühl " O , wie bin ich unglücklich ! " verließ sie endlich die Speisekammer .
So endeten öfter die Versuche der Schwestern , etwas Gemeinsames vorzunehmen .
" Natürlich habe ich die Schuld , " dachte Ursel , " denn Inge ist doch reizend , sagen alle Leute ! "
Zusammen zur Kirche gingen sie nun diesmal auch nicht , denn Inge hatte sich vorgenommen , in den Dom zu gehen , Ursula aber wollte gern in die Schloßkirche , in der heute ihr verehrter Religionslehrer predigte .
Etwas trübselig machte sie sich fertig , als es läutete , aber wie sie draußen in der Allee war , unter den blühenden Kastanien , auf diesem fast ländlich stillen Kirchwege , immer begleitet von den lieben Glocken , da verflog ihre verärgerte Stimmung wieder .
Ursula liebte die kleine Schloßkirche unendlich .
Das gedämpfte Licht , das durch die herrlichen gemalten Fenster fiel , und das Gedämpfte überhaupt , das hier in der Luft lag .
Das Kommen und Gehen vollzog sich nirgends so geräuschlos wie hier , und der kleine , aber sehr akustische Raum machte es möglich , daß der Prediger ohne Anstrengung , ohne gesteigerten Ton sprach und doch in jedem Winkel verstanden wurde .
Sie hörte immer so aufmerksam zu und hatte zu Hause schon manches nachgeschrieben von den Predigten , aber heute - heute war sie ein klein wenig zerstreut !
Aber wirklich nur ein wenig .
Sie ertappte sich einmal auf dem Gedanken : Lieber Gott , ich danke dir , daß ich gestern etwas so Schönes erlebt habe ! -
Und dann erschrak sie wieder und bat ab .
Ja , es half nichts , das reizende , fremde Mädchen lag ihr im Sinn !
Gleich nach der Kirche würde sie es wiedersehen - wenn_es glückte !
Jetzt war sie aber wieder völlig bei der Sache , denn der Prediger hatte seine Stimme etwas erhoben , was er selten tat , und sie bildete sich ein , er wollte sie aufrütteln .
Als die Predigt zu Ende war und das letzte Lied gesungen , gehörte Ursel zu den ersten , die draußen waren .
Dem wundervoll romantischen Schloßhof schenkte sie keinen Blick .
Schnell durchs Tor - über die große Brücke - durch die Allee - vorbei an der kleinen fürstlichen Cottage - da lag die kleine Kolonie mit all den grünen Fensterläden !
Wenn jetzt nur nicht der Obergärtner kam , daß sie ihm einfach das Geld einhändigen und ohne weiteres wieder abziehen mußte !
Aber nein , sie hatte Glück .
Vor der Tür , am grünen Holztisch unter der Linde stand die Gestalt , auf die sie hoffte : wieder in dem schwarzen Kleide , aber rings von Blumen umgeben .
Eine Fülle von weißen Narzissen , dunklem Goldlack und tiefblauen Stiefmütterchen lag auf dem Tisch , und das junge Mädchen war beschäftigt , einen schlank geschweiften Korb mit hohem Bügel mit den Blumen zu füllen .
Ursula stand unwillkürlich einen Augenblick still und sah ihr zu , dann schien die eifrig Beschäftigte den Blick zu fühlen , obgleich sie keinen Tritt gehört hatte , und sah sich um .
" Oh , da sind Sie wieder ! " rief sie und lächelte Ursula fröhlich an .
" Haben die Spargel nicht gereicht ? "
" O ja , " entgegnete Ursula , " aber wir haben ja völlig vergessen - ich habe sie nicht bezahlt . "
" Oh , wir sind aber gut ! "
Der kleinen Gärtnerin entfielen vor Schreck die Blumen .
" Ich bin eine nette Verkäuferin ! "
" Hat denn der Obergärtner noch nicht gefragt ? "
" Nein , denken Sie !
Ich führe ja selber Buch darüber und jeden Sonntagnachmittag lege ich Rechnung ab - jetzt in einer halben Stunde wäre es so weit gewesen und ich hätte schlecht bestanden . "
" Nun , ich war Ihnen doch sicher ! " sagte Ursel tröstend .
" Ja , wenn auch , es wäre mir doch sehr unangenehm gewesen !
Das erste Mal , daß mir so etwas widerfährt . -
Aber ich - ich will_es nur gestehen , " - sie lächelte mit schalkhaftem Freimut - " ich habe gar nicht an unseren Handel und daran , daß ich nun eine Verkäuferin bin , gedacht , ich habe immer nur Sie im Sinn gehabt ! "
" Und ich , " fiel Ursel glücklich ein , " ich habe die halbe Nacht nicht schlafen können - und ich war so froh , daß ich das Geld vergessen hatte und so noch einmal herkommen konnte , denn - alle Tage gibt es bei uns doch nicht Spargel ! "
Dabei hatten sie sich wieder die Hände gereicht und sahen sich froh in die Augen .
" Aber nach den Spargeln kommen die Erdbeeren , " jubelte die kleine Gärtnerin .
" Ja , und von denen ißt mein Papa am liebsten täglich ein Pfund ! "
" Die pflück ich alle !
Herrliche Aussichten ! -
Aber nun - erst das Geschäft , bitte .
Der Obergärtner kann gleich kommen ; er ist drüben beim Herrn Gartenbaudirektor , dort legt er Rechnung , nachher verlangt er das gleiche von mir . "
Sie holte geschwind ihr Anschreibebuch und ihre kleine Kasse und schrieb , während Ursel das Geld hervorzog :
" Also drei Pfund Spargel à 65 Pfennig für - ja , nun weiß ich nicht einmal für wen ! " unterbrach sie sich lachend .
" Für Landgerichtsrat Dahland , und ich bin Ursula Dahland . "
" Und ich heiße Franziska Trautmann , genannt Franzi . "
" Ich werde ' Ursel genannt , manchmal auch Ursche . "
" Ursel !
Das klingt hübsch ! "
" Wollen Sie mich so nennen ?
Und wollen wir du sagen ?
Ich gehe ja noch in die Schule und dort sagen doch alle du - bitte ! "
Ursel vergaß ihre Schüchternheit , Franzi aber legte beide Hände auf die Schultern der anderen und sagte mit tiefem Atemzug :
" Sie - du - bist sehr lieb !
Ich will es gern sagen , wenn ich darf . "
" Also Ursel und Franzi ! "
Einen Kuß gaben sie sich nicht , aber jede steckte der anderen eine Narzisse an , das war das erste Zeichen des Bündnisses .
Dann wurden sie einen Augenblick verlegen und wußten nicht weiter .
Rasch griff Franzi wieder zu den Blumen und sagte :
" Aber ich darf nicht säumen , der Korb wird um ein Uhr abgeholt , der kommt zu einer vornehmen Tafel in Westeck .
Komme , hilf mir , dies ist hübscher als Spargelstechen . "
" Oh , das war prachtvoll ! "
" Ja , aber dies macht keine Rückenschmerzen . -
Das dunkle Stiefmütterchen , bitte , jetzt nur Narzissen - nun den Lack - ist der nicht schön ?
Ach , wie der duftet !
Solchen hatte ich zu Hause immer am Fenster . "
" Wo ist deine Heimat ? "
" Auf dem Lande - weit fort .
Hast du Mal von Schloß Wehrburg gehört ? "
" Nein . "
" Es gehört einem Grafen .
Dort war mein Vater angestellt . "
" Ist er tot ? " fragte Ursel leise und sanft , mit einem Blick auf Franzis schwarzes Kleid .
" Tot , ja ! " nickte sie , " und der Graf auch tot - alles aus !
Ach , das ist trüb und schwer , " unterbrach sie sich und fuhr mit der Hand übers Gesicht , " komme , gib mir noch drei Narzissen , dann ist der Bügel auch umwunden und ich bin fertig . "
" Aber ich möchte alles wissen von deiner Heimat und deinen Eltern ! "
" Ich erzähle dir es schon einmal , aber nicht heute , " sagte Franzi ernsthaft .
" Habe ich zu viel verlangt ? " fragte Ursel erschrocken .
" O nein , du fragst sehr lieb !
Aber - ich habe nicht viel Zeit mehr , entschuldige - ich muß der Mutter in der Küche helfen - "
" Also deine Mutter ist doch hier ! " rief Ursel erleichtert .
" Freilich , die ist hier ; sagt ' ich das noch nicht ?
Sie führt dem Obergärtner die Wirtschaft , und ich - ich helfe im Garten und bin eine so geschickte Verkäuferin , wie du weißt ! "
Sie lachten wieder beide und freuten sich über ihre gestrige Vergeßlichkeit .
" Nächstes Mal muß meine Mutter dich sehen , " sagte Franzi , " aber wann wird das sein ?
Wirst du denn wiederkommen ?
Würdest du auch kommen , wenn du nichts zu holen hättest ? "
" Ich komme gewiß ! " beteuerte Ursel feurig , " und für heute - muß es vorbei sein ? "
" Ich fürchte , ja !
Es ist unhöflich , Ursel , aber weißt du - wenn man Pflichten hat - und im fremden Haus ist - "
" Ich gehe schon , ich will dich gewiß nicht stören .
Auf Wiedersehen , Franzi ! "
" Auf Wiedersehen , Ursel ! "
Ebenso plötzlich wie gestern lief Ursel nun den kleinen Abhang vor der Gärtnerei hinunter , drehte sich bei der Mühle um und sah diesmal Franzi noch stehen und winken .
Als sie zu Hause ankam , waren die Gäste aus Heckendorf schon da .
Von der Veranda her klang lebhaftes Sprechen , auch die Kleinen schienen dort zu sein , denn es ging sehr munter zu , und Ursel dachte mit Schrecken , daß sie nun gewiß auch gleich erscheinen und vorgestellt werden sollte .
Um zwei Uhr würde gegessen werden , jetzt war es etwas nach ein Uhr .
Konnte sie noch so lange verschwinden ?
Nein , es war nicht möglich , Inge hatte sie bemerkt und kam auf sie zu .
" Wo bleibst du denn wieder so lange , Ursel ?
Mama hat sich schon beunruhigt . "
" Mama weiß ja , wo ich war , " antwortete Ursel , wieder mit dem leichten Trotz .
" Nun , komme nur nicht mit solchem Gesicht zu den Gästen ; das wird ihnen schwerlich gefallen . "
" Ich kann nichts für mein Gesicht , und ich mache mir nichts daraus , ob ich ihnen gefalle , " rief Ursel heftig .
Inge sah sie erstaunt an , zuckte die Achseln und ging fort .
Nun war es Ursula leid , sie fand , daß sie ungezogen gewesen war .
Wenn Franzi sie eben gesehen hätte !
Sie stand trübselig herum und wußte nicht , wohin sie sich wenden sollte .
Ach , dieses unglückselige Gefühl !
Nicht zu den Großen zu gehören und nicht unbefangen wie die kleinen Geschwister als Spielzeug von Hand zu Hand zu gehen !
Da kamen sie gesprungen , Elfriede im weißen Kleide , die kleinen Jungen in ihren Matrosenanzügen .
Jeder hatte ein neues Spielzeug in der Hand , das die fremde Tante mitgebracht hatte ; jubelnd wurde es Ursula gezeigt und sie beugte sich voll Zärtlichkeit zu ihnen herab , erlöst von ihrer Einsamkeit und ihren trüben Gedanken .
Dann hörte sie im Eßzimmer sagen , daß sofort angerichtet sein würde , und sie flog noch einmal ins Schlafzimmer , um sich " glatt " zu machen .
Zur rechten Zeit kam sie zurück , um gerade noch zu sehen , wie Papa die fremde Dame zu Tisch führte und Axel das junge Mädchen .
Wie hübsch ihm das anstand !
Heute war er Kavalier .
Schüchtern knickste Ursel , da nahm Mama sich ihrer an und sagte mit sanftem Ernst :
" Du hast dich etwas verspätet , mein Kind - hier , liebe Frau Leuthold , unsere Ursula , die fehlte noch in der Reihe . "
Eine flüchtige freundliche Begrüßung von Seiten der Fremden , dann setzte man sich , und Ursula dachte nur : " Hätte ' ich doch mit den Kleinen im Kinderzimmer essen können ! "
Aber das ging nun nicht mehr , und als sie einmal Mamas Blick so fragend und fast traurig auf ihr verdrossenes Gesicht gerichtet fühlte , nahm sie sich so weit zusammen , daß sie Fragen von Fräulein Anna Leuthold in Bezug auf ihre Schule nicht nur mit " Ja " und " Nein " beantwortete , im übrigen aber aufmerksam dem Gespräch am oberen Ende des Tisches folgte , um wenigstens nicht erschrecken zu müssen , wenn sie einmal plötzlich angeredet wurde .
Es ging lebhaft her und es gab viele gute Sachen , aber als die Spargel kamen , vergaß Ursel plötzlich wieder die ganze Tischgesellschaft und saß in Gedanken in der Schloßgärtnerei .
Auch diese Mahlzeit ging vorüber , und als nach Tisch die Herren rauchten , die jungen Damen auf Inges Zimmer gingen und die Mütter ein vertrauliches Wort zusammen redeten , sagte Frau Leuthold :
" Ihre älteste Tochter ist entzückend , liebe Frau Dahland , wie ein Sonnenstrahl , aber die kleine Schwarze steckt noch recht in der Puppe .
Das ist ein unglücklicher Zustand für die jungen Mädchen selbst . "
Die Rätin nickte .
" Ja , ich leide mit ihr darunter . "
" Kränklich ist sie doch nicht ?
Sie scheint mir recht blaß .
Dann lassen Sie sie nur beizeiten Stahl nehmen . "
" Nein , sie ist vollkommen gesund , nur schnell gewachsen . "
Die Rätin sah etwas ernst dazu aus , denn sie dachte an Ursulas Geheimnis , an das Tagebuch .
Sie hatte fast die ganze Nacht daran gedacht und wußte , daß ihrem Kinde mit " Stahl " nicht beizukommen war .
Sie mochte aber nicht darüber sprechen , sie wollte im stillen versuchen , Ursulas Gemütszustand zu verstehen , sie schonend von diesem Hang zur Schwermut zu heilen , der bei diesem guten und bis dahin auch gesunden Kinde unnatürlich war .
Vor allen Dingen durfte Ursula nicht so viel allein sein !
Wo mochte sie heute wieder den ganzen Mittag nach der Kirche gesteckt haben ?
5. Kapitel .
In der Schloßgärtnerei Ja , wo steckte Ursula auch in den nächsten Tagen ?
Am Montag bat sie Mama , ob sie sich einen Goldlack aus der Schloßgärtnerei holen dürfe , es seien dort so wunderschöne , dunkelgoldene , mit einem Duft - wie tausend Veilchen !
Geld habe sie noch .
Da sie mit einer gewissen Begeisterung , wenn auch etwas beklommen sprach , erlaubte Mama es gern , in dem stillen Vorsatz , Ursula jetzt jede anspruchslose Freude zu gewähren .
Sie dachte auch , daß es dem Kinde außer den Blumen auch um den Gang durch den Schloßgarten zu tun sei , und sie gönnte ihm auch diesen .
" Ich würde gern mit dir gehen , " sagte sie , " aber heute ist es leider wieder unmöglich , da ich eine Geburtstagsvisite bei der Präsidentin zu machen habe .
Aber bald einmal ! "
Ursel wurde rot , denn heute wünschte sie ja gar nicht die Begleitung der lieben Mama , und das war eigentlich ein sonderbares , fast beschämendes Gefühl .
Am Dienstag sprach Papa von den ausgezeichneten Spargeln , die es am Sonntag gegeben hatte , und äußerte den Wunsch , solange die günstige Zeit währte , zweimal in der Woche solche zu essen .
Ursel blickte mit still frohlockender Miene auf und begegnete einem lächelnden Blick der Mutter , die denn auch gleich sagte :
" Also meine kleine Kommissionärin - wieder ein erwünschter Auftrag für dich .
Und dann bestelle mir gleich für morgen oder übermorgen zehn Pfund zum Einmachen , die müssen aber hergeschickt werden , die kannst du natürlich nicht tragen . "
Ursula lachte wirklich ganz laut und meinte :
" Ich kann ja zweimal gehen . "
So kam es , daß sie fast jeden Tag einen Grund hatte , nach der Schloßgärtnerei zu gehen , und wenn sie auch nicht lange bleiben konnte , weil entweder Franzi zu tun oder sie selbst noch Schularbeiten zu machen hatte , so war es doch wenigstens immer ein Viertelstündchen , das sie mit der neuen Freundin verplauderte , die ihr von Tag zu Tag lieber wurde .
An dem Tage , wo nun die größere Menge des kostbaren Gemüses zu beschaffen war , für das Ursel von jetzt an eine Leidenschaft faßte , hatte sie sich wohlweislich so eingerichtet , daß sie länger bleiben konnte .
Die Eltern waren schon zu Mittag nach Heckendorf gefahren - niemand konnte sie vermissen .
Heute bekam Ursel sogar auch eine blaue Schürze von Franzi und ein Messer , und mit ungeheurem Jagdeifer gingen sie an die Arbeit .
Heute kam auch Franzis Mutter mehrere Male zu ihnen , und Ursel war wieder überrascht von dieser feinen sanften Frau mit dem edlen Gesicht und den arbeitsharten Händen .
Heute hoffte sie nun endlich etwas mehr von Franzis Geschichte zu erfahren .
Sie hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt , daß es eine " Geschichte " sein müsse .
Aber vorläufig waren sie fleißig und Ursel beobachtete nebenbei das Leben und Treiben in der Gärtnerei .
Sie waren heute bei den Beeten im großen Garten , in den man von dem höhegelegenen Heckendorfe Weg hineinsehen konnte , und Ursel dachte , flüchtig , daß die Ihrigen , wenn sie da oben vielleicht gingen , sicher nicht darauf verfallen würden , daß das Mädchen mit der großen blauen Schürze , das sich da so emsig zwischen den Beeten bückte , ihre Ursula sei , die seelenvergnügte Ursula , bei neuer Arbeit und in neuer Umgebung .
Wie wurde da rings um sie her emsig geschafft !
Hier trugen zwei Gärtnerburschen große schwere Gießkannen und begossen die Himbeerpflanzungen , während ein anderer die zu üppig wuchernden Ranken sorgsam aufband .
Hier deckte einer irdene Töpfe ab von kleinen Blumenpflänzchen , die damit vor der Mittagsonne geschützt waren .
Bei den Mistbeeten regulierten zwei Gehilfen die großen Glasfenster ; zwischen den Beeten knieten alte Frauen und jäteten Unkraut , zwei Kinder gingen auf Raupenjagd zwischen den Kohlköpfen , zwei andere pflückten die ersten zarten Schoten von den Erbsen .
Ursula frohlockte , daß bald wieder ein neues Gemüse hier zu holen sein würde .
Endlich waren sie mit ihrer heutigen Arbeit fertig .
Sie liefen zu einem der vielen Behälter für Regenwasser und wuschen ihre Hände , aber Franzi meinte , sie wollten es nur recht gründlich machen , denn sie wenigstens müßte gleich eine Handarbeit nehmen , die große Eile habe .
So ging Ursel zum ersten Male mit ins Haus und sah Franzis kleines Reich .
Es war nur ein Kämmerlein , nicht größer als Ursels geliebte Bodenstube " zu Hause " .
Sie enthielt nur das Bett , Waschgerät , eine kleine Kommode und einen sehr altmodischen Nähtisch , aber das Fensterchen , an dem es stand , hatte die Aussicht auf den " stillen See " .
Da lag die blaue , sanfte Fläche im Kranz der Wälder , und andächtig blickten die Mädchen zum ersten Male zusammen da hinaus .
" Wir müssen einmal um den ganzen See gehen , " sagte Ursel , " das ist der schönste Weg hier bei Wendenburg .
Allein darf ich ihn nicht machen , aber mit dir - "
" Wenn ich Mal Zeit habe , gern ! "
Jetzt sah Ursel sich in dem Stübchen um .
Oh , was stand da alles auf der Kommode !
Da war die Photographie eines Schlosses , schon mehr einer alten Burg - darüber hing ein Hirschgeweih - da war das Bild eines sehr anziehend , aber kränklich aussehenden Mannes , und noch ein Porträt , das kühn und aristokratisch ausschaute ; dann ein kleines einstöckiges Haus , weinumrankt und blau umblüht , das war gezeichnet und auf kindliche Art bunt ausgetuscht ; endlich noch die Photographie eines kleinen Mädchens , und auf diese stürzte sich Ursel zunächst mit einer gewissen Eifersucht .
" Wer ist das ? " fragte Ursula mit ängstlichem Eifer , denn sie wünschte , ohne es zu wissen , daß ihre neue - ach , ihre einzige Freundin , keine andere Gefährtin hätte als sie , Ursel , der sie doch gestern zugestanden , daß sie sie schon sehr lieb habe !
" Das ist Komteßchen Léontine , " sagte Franzi , " und das ist der gute schöne Graf - und hier mein Vater !
Dies ist unser Häuschen , das lag am Park von Wehrburg - siehst du das Schloß ? "
" Wie eine Ritterburg , " sagte Ursel bewundernd , " und da , in der Burg - da spieltest du mit dem Komteßchen ? "
" Ja , da hatte ich vor allem meine Schulstunden bei dem lieben Fräulein Elsner .
Komme , heute will ich dir alles erzählen .
Nur muß ich dabei meine Arbeit nehmen , und wir wollen dann unter die Linde gehen . "
" Ach , können wir nicht hier bleiben ? "
bat Ursel , " hier ist es so nett , so recht ungestört . "
" Ja , das ist wahr , aber ich habe nur einen Stuhl ! " sagte Franzi lachend .
" Den nimmst du natürlich , weil du sticken mußt , " sagte Ursel und schwang sich auf das Fensterbrett , " so - nun ist es wundervoll , jetzt fange nur gleich an !
Ich bin schon so sehr gespannt ! "
6. Kapitel .
Franzis Geschichte Franzi lächelte ernsthaft und meinte :
" Es kommt aber gleich ' was Trauriges , denn der Grund , weshalb meine Eltern nach dem schönen Wehrburg kamen , war bereits ein Unglück .
" Mein Vater war Forstmann und hatte sich schon früh mit einem Mädchen aus seiner Heimat verlobt .
Um nun nicht gar zu lange mit dem Heiraten warten zu müssen , war er aus dem Staatsdienst getreten - da die Beförderung damals sehr langsam ging und er noch wenig Aussicht aufs Vorrücken hatte .
Er bewarb sich um eine Gutsförsterstelle auf einer sehr großen preußischen Besitzung .
Als er diese soeben angetreten hatte , geschah ein großes Unglück : auf der ersten Jagd , die er dort mitmachte , traf ihn ein Schuß . "
" O Franzi ! " schrie Ursel leise auf .
" Ja , und so unglücklich , so viel schlimmer , als man zuerst glaubte , daß nach langem Leiden und erfolglosen Versuchen zur Heilung das eine Bein - bis zum Knie abgenommen werden mußte . "
" Wie entsetzlich ! "
" Nicht wahr ? -
Mutter hat mir es oft erzählt , wie das gewesen , als sie ihren jungen stattlichen Verlobten zum Krüppel hat werden sehen .
Vater hat ihr damals ihr Wort zurückgeben und nicht annehmen wollen , daß sie ihn heiratete , aber meinst du , daß sie darauf hörte ? "
" Natürlich nicht ! " erwiderte Ursel voll Überzeugung .
" Nein , natürlich nicht !
Sie hat ebensogut das Leid mit ihm tragen wollen , als das Glück .
Nur - wie sie ihr Leben jetzt einrichten sollten , das war die große schwere Frage .
Forstmann konnte Vater nicht mehr bleiben - aus dem Staatsdienst aber war er heraus !
Da haben sie sonst für solche Fälle allerlei Ämter , die mit Invaliden besetzt werden , aber Vater soll sich unbeschreiblich vor einem solchen Posten gefürchtet haben .
In der Stadt !
Mit nichts als Schreibarbeit ! "
" Das kann ich mir denken , " sagte Ursel , " aber Franzi - der , der das ganze Unheil angerichtet hatte - "
" Das war Graf Wehrburg ! " sagte Franzi wehmütig .
" Der weilte zum Besuch auf jenem Gut , wo mein Vater erst seit einer Woche angestellt war . "
" Nun , der mußte doch - der konnte ja - "
" Ja , nun kommt das von dem Grafen , wart nur !
Ach , der arme gute Graf hatte sich die Sache so zu Herzen genommen , daß er krank und schwermütig wurde und man eine Zeitlang sehr für ihn fürchtete .
Aber dann , als er sich wieder erholt hatte , kam er mit einem großen fertigen Plan .
" Mein Vater sollte nach Wehrburg kommen , dort die Oberaufsicht über die Gärtnereien übernehmen , wie über den weiten ausgedehnten Park , dann etwas Korrespondenz führen für den Grafen , überhaupt eine Art Vertrauensstellung einnehmen ; denn die Zeugnisse meines Vaters waren die besten , die man verlangen konnte , und der Graf hatte in den Tagen seines Besuches so viel Gefallen an dem jungen tüchtigen Jäger gefunden , daß ihm das Unglück umso tiefer zu Herzen ging . "
" Oh , " unterbrach Ursel , " dann war ja nun alles gut ! "
" Gut wohl nicht gleich ; es ist meinem Vater doch sehr schwer geworden , statt des schönen vielseitigen Berufs eines Forstmannes , nun - sozusagen zur Gärtnerei überzugehen .
Einen Park statt eines Waldreviers , Blumen- und Gemüsezucht statt Forstkulturen , und nie mehr die fröhlichen Herbstjagden !
" Aber er hat sich doch mutig drein ergeben , sich getröstet , daß er nicht in die Stadt , in den Bureaudienst zu gehen brauchte .
Und besonders hat er sich gesagt , daß der arme gute Graf nie wieder ruhig und getröstet würde , wenn nicht ihm selbst vergönnt wurde , das zerstörte Leben meines Vaters so gut wie möglich wieder aufzubauen .
So hat er denn das Anerbieten angenommen und es niemals bereut , wie er später meiner lieben Mutter und mir oft genug gesagt hat .
" Vater hat dann gleich heiraten können , und Mutter ist sehr glücklich mit ihm in das kleine Haus gezogen .
Aber gekränkelt hat Vater doch , und sehr bald haben sie eingesehen , daß keine Tätigkeit , kein Platz auf der Welt jetzt noch für Vater besser gepaßt hätte , als diese von dem lieben Grafen eigens für ihn eingerichtete Stellung .
" Zuerst ist dann in dem kleinen Hause mein Bruder Wilhelm geboren worden - "
" Von einem Bruder hast du noch nie gesprochen ! "
" Wirklich nicht ?
Ja , siehst du , wir haben auch noch nie so viel Zeit gehabt wie heute . "
" Ach , und die Sonne steht schon so tief , ich muß gewiß bald fort ; erzähle nur geschwind weiter . "
" Ja , also zuerst kam Wilhelm , dann ich .
Und ziemlich zu gleicher Zeit kam auch im Schloß ein Mädchen an . "
" Und da spieltet ihr immer zusammen ! "
" Ja , der Graf wünschte es so ; er konnte nie genug tun , um meinem Vater zu zeigen , wie viel er auf ihn hielt und wie gern er ihm etwas zu gute tat , anders als mit Geld , weißt du .
Ich bekam also auch meinen Unterricht im Schloß , während Wilhelm vom Vater unterrichtet wurde . "
" Und Komtesse Léontine ?
Hattest du sie sehr gern ? "
Franzi sah nachdenklich auf und ließ ihre mühsame Arbeit , an der sie immer wieder zu sticheln versuchte , aber ohne Erfolg , nun sinken .
" Wir waren so sehr aneinander gewöhnt , ich kann mir die ganze Wehrburger Kinderzeit ja nicht anders denken , als mit Léontine .
Aber - "
" Nun - aber ? " forschte Ursel begierig .
" Aber sie war nicht immer nett .
Ich soll es eigentlich nicht sagen - "
" Warum nicht ?
Weil du ihrem Vater so dankbar bist ?
Deshalb braucht die kleine Gräfin doch nicht die Allerbeste zu sein . "
" Die Allerbeste - hm , Ursel , sie war nämlich die Einzige .
Wehrburg liegt einsam , wir kamen nicht oft mit anderen Menschen zusammen , und die anderen Beamten hatten nur Knaben .
Aber ich will dir sagen - Leontinchen war kein sehr begabtes Kind , sie lernte schwer und war oft schrecklich unglücklich bei den Büchern .
Ich mußte viel mit ihr lernen , mußte auch meistens tun , was sie wollte - "
" Das ist gerade nicht angenehm ! "
" Nein , aber es schadete mir wohl nicht : ich war im Grunde sehr unbändig , sagt Mutter , da war es wohl gut , daß ich mich im Schloß zusammennehmen und unterordnen mußte .
Und Fräulein Elsner sagte später öfter , sie wüßte nicht , wie sie mit Léontine allein hätte fertig werden sollen . "
" Fräulein Elsner - war die nett ? "
" Oh , reizend .
Und sie spielte Klavier , Ursel - du glaubst nicht , wie schön ! "
" Von der hast du das also gelernt ? "
" Ja , und sie sagte immer , sie spielte so gern auf unserem alten gelben Spinett mit den dünnen Beinen und den noch dünneren Tönen , weil meine Eltern es so gern mochten und ich immer so selig war !
Im Schloß spielte sie auf einem schönen Flügel , und wenn manchmal Gesellschaft war , wurde dann sehr geklatscht ! "
" Du hast noch nichts von der Gräfin gesagt . "
" Ja - auf die kann ich mich kaum mehr besinnen .
Sie starb , als wir noch sehr klein waren .
Es war nachher eine alte Tante im Schloß .
Aber die Hauptperson für uns Kinder war immer Fräulein Elsner . "
" Ist sie noch in Wehrburg ? "
" Ach nein , nein , niemand ist mehr da !
Es brach der Typhus im Dorfe aus , - daran erkrankte der Graf und starb , - mein Vater , der noch um ihn gewesen war - zwei Tage nach ihm ! "
Franzi bedeckte das Gesicht mit den Händen , Ursel glitt von der Fensterbank herab und umarmte die Freundin .
" Arme Franzi , süße Franzi !
Wie traurig , wie furchtbar schwer ! "
Franzi sah mit tränenvollen Augen auf und schmiegte sich an die sie zärtlich haltende Ursula .
" Ja , siehst du , Ursel , du meintest neulich , du erlebtest nichts , es sei alles so einförmig .
Mit mir und meinen Erlebnissen möchtest du wohl nicht tauschen ? "
" Nein ! " sagte Ursula erschüttert .
" Denn , " fuhr Franzi fort , " nun kamen ja erst all die Folgen !
Da Graf Wehrburg keinen Sohn hatte , fiel das Gut , das Majorat ist , an eine Seitenlinie .
Leontinchen wurde von Verwandten in Berlin aufgenommen , - ins Schloß aber zog der neue Herr . "
Sie machte eine Pause , und Ursel fragte :
" Nun , und der ? "
" Der - ja , der war viel anders , als unser guter Graf .
Mutter sagt zwar immer wieder , wenn ich auf ihn böse bin , wir dürften nicht ungerecht sein .
Es sei nicht zu verlangen , daß der fremde Herr Interesse für uns hätte .
Und der gute Graf hätte so viel mehr für uns getan , als wir erwarten durften , und daß wir ja nicht denken dürften , ein anderer übernehme uns mit als Erbschaft .
" Also kurz und gut , der neue Graf erklärte , einen so kostspieligen Sekretär oder was mein Vater gewesen , würde er sich nie gestattet haben , und die fernere Erhaltung der Witwe und der Kinder könnte er nicht übernehmen .
Das einzige , was er tun wolle , wäre , daß er uns das Haus ließe und mir einen Platz in der gräflichen Küche als Wirtschaftslehrling gäbe .
" Von einer weiteren Ausbildung , wie Mutter und Fräulein Elsner immer für mich geplant hatten , könnte keine Rede sein , und einen Sohn auf dem Gymnasium oder später gar auf der Universität würde er auch nicht erhalten .
Wilhelm könnte ja in die große Gärtnerei eintreten und ich in die Wirtschaft - dann wäre hinreichend für uns gesorgt .
" Ach , Ursel , er war gewiß im Recht , Mutter hat es immer wieder gesagt , wir hatten gar nichts zu verlangen .
Nur - wenn der liebe gute Graf nicht so plötzlich gestorben wäre , wenn er irgend etwas schriftlich bestimmt hätte , wäre es doch ganz anders für uns geworden . "
" Ja , ja , das verstehe ' ich .
O , ihr Armen ! "
" Ja , Ursel , nun waren wir wirklich arm !
Und weißt du , Ursel , mitten in all dem Kummer fingen Mutter und ich an , uns zu trösten , daß der geliebte Vater dies nicht mehr erlebte , daß Gott ihn zu sich nahm , ehe er wußte , daß sein bester Freund und Schützer auf Erden ihn verlassen hatte .
" Und wie Mutter sich das recht klar legte - da wurde sie ruhig und fest .
Und da hat sie sich alle Mühe gegeben , etwas zu finden , womit sie verdienen könnte , denn die freie Wohnung annehmen vom jungen Grafen und dafür unsere Zukunft opfern - das wollte sie nicht .
" Und nun siehst du , was nach ihren Bemühungen gekommen ist .
Sie hat hier die Stellung einer Haushälterin angenommen .
Vater hat früher manchmal mit dem Obergärtner Bauer geschäftlich zu tun gehabt ; daher empfand dieser noch ein Interesse für uns und nahm Mutter sehr gern , obwohl sie die Bedingung machte , mich mitzubringen und hier zu behalten , bis ich so weit wäre - so - oder so - selbst verdienen zu können .
Er hat dafür verlangt , daß ich mich auch im Hause nützlich mache , und dazu habe ich mich gern verpflichtet ; sind wir doch sehr froh , Mütterchen und ich , daß wir einstweilen zusammen bleiben können .
" Zu tun gibt es hier viel - , denke dir den großen Mittagstisch , für all die Gehilfen und Lehrlinge muß Mutter kochen .
Dann hat der Obergärtner drei Kinder , deren Zeug wir in Ordnung halten und für die überhaupt gesorgt werden muß .
Mit den Kleinen arbeite ich manchmal , und dann - na , du weißt ja , dann bin ich Verkäuferin .
Und dies Amt hat mir das Beste und Schönste eingebracht , was ich seit dem letzten traurigen Jahr erlebt habe . "
Still saßen sie nun Hand in Hand , die beiden schwarzbraunen Köpfe aneinander gelehnt .
Purpurrot erstrahlte der Abendhimmel und warf sein Licht in das kleine Kammerfenster , bis dann schnell die Dämmerung sank und Ursel aufschrak .
Ihr junges Herz war so voll von all dem Gehörten , daß sie kein Wort mehr sprechen konnte .
Das waren ja wirklich Schicksale , die da eben vor ihr ausgerollt wurden !
Und die das alles erlebte und so schlicht und verständig erzählte , war nur ein Jahr älter als sie .
Mit einem Male schien sie vor Ursels Augen zu wachsen , und ihr altes , zaghaftes Gefühl , " was bin ich , wer mag mich leiden , wem kann ich etwas sein ? " wollte sie wieder beschleichen ; da dachte sie an Franzis letztes Wort , " das Beste , was ich seit diesem traurigen Jahr erlebt habe " - , und sie glaubte wieder daran , was sie diese letzten Tage mit so stillem Glück erfüllt hatte : daß sie Franzi lieb sei , daß sie eine Freundin gefunden habe .
Für heute hieß es nun wieder scheiden .
Ursel sah Franzi so innig an , daß diese fühlte , welch ein treues Herz heute an ihrem Erleben teilgenommen , wenn der Mund auch nichts mehr sagen konnte .
Einen Teil der Spargel nahm Ursel mit , die übrigen sollte ein Gärtnerbursche bringen , so wollte es Herr Bauer .
Er ließ es nicht zu , daß die Herrschaft sich zweimal bemühte , wie Ursel gern wollte .
Aber diese fand doch bald wieder einen Grund , den nun schon so vertrauten Weg durch den Schloßgarten zu nehmen , denn nun kamen die Erdbeeren - die Erbsen - es waren auch wohl Blumen zu bestellen - es kam Johannis heran , und noch wußte niemand bei Dahlands von Ursulas Freundschaft , die sie so ganz erfüllte .
7. Kapitel .
Axel als Kundschafter Mit Freude sah die Rätin , daß Ursel , wenn auch noch immer stiller als all ihre übrigen Kinder , doch nicht mehr so kopfhängerisch war , daß sie einiges Interesse an häuslichen Angelegenheiten zeigte , mutiger und auch geschickter manchmal selbst zugriff .
Und die Rätin dachte darüber nach , ob sie recht getan , Ursel bisher von allem Derartigen zurückzuhalten .
Sie hatte das Kind ja schonen wollen , hatte gemeint , es habe reichlich mit den Schulaufgaben zu tun - und außerdem war ja Inge da .
Inge , die außer ihren hübschen geselligen Talenten auch für alles Praktische eine natürliche Anlage besaß , Inge , auf die Ursel , ach , so eifersüchtig war !
Jene Seufzer im Tagebuch gingen Mama nicht aus dem Sinn , und sie hätte gern einmal nachgesehen , ob die Aufzeichnungen noch weiter geführt waren , aber niemals steckte mehr der Schlüssel an Ursels Kommode .
Also behielt sie das Gefühl , daß eines ihrer Kinder verschlossen gegen sie war , ja , daß es etwas gegen sie auf dem Herzen hatte .
Das war ihr ein völlig neues Gefühl , das sie tief bekümmerte , aber mit Gewalt war nichts dagegen zu machen .
Sie wollte abwarten , und da sie eben jetzt eine leise Veränderung in Ursels Wesen bemerkte , hoffte sie , das Kind bald zugänglicher zu finden und dann mehr an sich heranzuziehen .
Hätte sie nur mehr Zeit gehabt !
Aber es war merkwürdig , es schien immer mehr zu werden , was von allen Seiten an sie herantrat .
Die große Stadt , die vermehrte Geselligkeit , manches , was die Stellung ihres Mannes unabweisbar mit sich brachte , und dann - die kleinen Kinder .
Sie war immer so gewesen , daß sie den Kleinsten die meiste Zeit und Sorgfalt gewidmet hatte , sie niemand überlassen mochte ; jetzt zum ersten Male dachte sie , ob das immer ganz richtig war , ob sie den Größeren nicht etwas entzöge , etwas Unersetzliches .
Sie fühlte sich von Ursel angeklagt .
Als die Rätin so weit in ihren Gedanken und Betrachtungen gekommen war , eines Abends ausnahmsweise allein in der Veranda sitzend , stand sie plötzlich auf , von dem unabweisbaren Gefühl getrieben , Ursula zu suchen .
Diese war nicht im Hause , niemand hatte sie seit Stunden gesehen .
Inge , die eben vom Tennisplatz zurückgekommen war , meinte Ursel am Nachmittag von fern erkannt zu haben , und knüpfte die Bemerkung daran :
" Mich wundert , Mama , daß du sie so viel allein gehen läßt , das ist hier doch eigentlich gar nicht Sitte . "
Als seltene Ausnahme ließ Mama ihre Älteste ziemlich strenge an :
" Und mich wundert , daß du dich ihrer so wenig annimmst , Inge , du müßtest doch ihre natürlichste Freundin sein . "
" Ich ?
Aber Muttchen ! " rief Inge sehr erstaunt , " glaubst du , daß ihr damit gedient wäre ?
Sie ist ja ein so scheues Ding - "
" Darum eben , " unterbrach Mama schmerzlich , " sie kann sich nicht an Fremde anschließen . "
" Ja , Mama , sie ist aber auch gar nicht liebenswürdig !
Von selbst fallen einem doch die Herzen nicht zu , man muß sich auch ein wenig darum bemühen . "
Das klang fast pathetisch , und Mama dachte halb lächelnd , daß Inge sich wohl Zeit ihres Lebens nicht " bemüht " hatte .
Sie war eben eine andere Natur , heiter und unbekümmert , mit sich und der Welt stets zufrieden .
" Und du mußt nicht denken , " fuhr sie jetzt fort , " daß es für mich leicht wäre , selbst wenn ich meine Freundinnen , mein Tennis und sonstige Partien um Ursel aufgäbe , ihr etwas recht zu machen .
Sie ist ja bodenlos empfindlich ; nach nichts darf man fragen , dann bekommt man Antworten wie :
» Das interessiert dich ja doch nicht ! « oder wenn man ihr etwas rät :
» Das weiß ich allein . «
Und wie sonderbar benimmt sie sich , wenn meine Freundinnen kommen !
Entweder sie läuft weg , oder gibt auch ihnen ungehörige Antworten . "
Immer trauriger wurde Mama , während Inge mit solcher Entrüstung und Selbstverwahrung sprach , und als sie damit schloß :
" Augenblicklich glaube ich überhaupt , daß sie irgend etwas Heimliches vorhat ! " da sagte Mama erregt :
" Ich kann mir zwar nicht denken , daß Ursel irgend etwas Unerlaubtes tut , denn sie ist wohl ein eigentümliches , doch ein sehr gutes Kind .
Aber - unangenehm ist es mir doch auch , daß sie wieder nicht da ist ! -
Da kommt Axel - mein lieber Junge , hast du Ursula vielleicht gesehen ? "
" Ja , Mama , wenigstens vor einer halben Stunde , sie war bei der Weidenmühle . "
" Allein ? "
" Ja .
Ich radelte mit Heinrich vorbei , rief sie noch an , aber sie hörte natürlich nicht , wie immer .
Wo die ihre Ohren und Gedanken hat , ist mir oftmals schleierhaft . "
" Ging sie denn der Stadt zu ? "
" Nein , hinaus gegen die Schloßgärtnerei .
Ich nahm an , sie hole vielleicht wieder Erdbeeren , und freute mich auf heute abend .
Ist es nichts damit ? "
" Nein , heute nicht .
Aber höre , tu mir die Liebe und sieh dich nach Ursel um ; so lang darf sie nicht ausbleiben . "
" Finde ' ich auch , teuerste Mutter , aber wo soll ich sie denn aufgabeln ? "
" Gehe nur den geraden Weg bis zur Gärtnerei , es ist ihr Lieblingsweg - ich beunruhige mich wirklich , daß ihr einmal etwas zustoßen könnte . "
" Ja , Mama , dann würde ich es ihr doch einfach verbieten ! " riet Axel .
Mama fand plötzlich ihre beiden geliebten Ältesten ziemlich herzlos , und sie sagte nur noch einmal ernsthaft : " Gehe , Axel . "
" Gewiß , Mama , ich fliege sogar , ich nehme mein Rad mit . "
Im nächsten Augenblick sauste er um die Ecke , in den schon etwas dämmrigen Schloßgarten hinein .
Mit Betrachtungen über die herrliche Abendstimmung hielt er sich nicht auf , müde und hungrig war er nach Hause gekommen und nun rechtschaffen ärgerlich über den " Backfisch " , um dessen Grillen er noch einmal aufs Rad mußte .
Er würde es ihr aber auch sagen !
Sie tat seit kurzem überhaupt so erhaben .
Guten Abend !
Bitte um Entschuldigung , wenn ich störe .
Und dabei nirgends eine Spur von ihr !
Er konnte doch nicht alle Wege und Bänke im Schloßgarten absuchen !
Wahrhaftig , es wäre recht unpassend , wenn sie sich hier noch aufhielte !
Mit gefurchter Stirn sauste er jetzt an der Weidenmühle vorbei ; da hörte er Mädchenstimmen , und ohne sich zu besinnen , sprang er vom Rad und pirschte sich leise bis an die dichten Gebüsche bei der Schloßgärtnerei .
Richtig , da sah er seine Schwester , die Stimme hatte ihn nicht getäuscht .
Ihr Gesicht sah er nicht , aber die braunen Zöpfe , die über den Rücken fielen , erkannte er deutlich , und den Hut auch .
Freilich , dicht daneben glänzten noch ein paar solcher Zöpfe auf einem Kopfe ohne Hut , und hierzu sah er auch ein reizendes Gesicht , das dem Weg zugewandt war , und er sah zwei Hände , die sich nicht zum Loslassen entschließen konnten .
Ei Wetter , was hatte die Ursche da aufgegabelt ?
Das war ein netter Käfer !
Krabbelte der wirklich in Fräulein Röters höherer Töchterschar herum ?
Merkwürdig , die war ihm noch nie zu Gesicht gekommen !
Axel lüftete seine Mütze und sagte : " Guten Abend , bitte um Entschuldigung , wenn ich störe . "
Mit einem kleinen Schrei fuhr Ursel herum und wurde sehr rot .
Axel weidete sich innerlich an ihrer Verlegenheit , fuhr aber aus Respekt vor dem hübschen fremden Mädchen sehr höflich fort : " Mama ist in Sorge wegen deines langen Ausbleibens , Ursula ; du bist wohl so gut , gleich mit mir zu kommen .
Mein Fräulein - " er verbeugte sich vor Franzi , " gestatten Sie : Axel Dahland ! "
Franzi nickte etwas verlegen zu dieser kavaliermäßigen Vorstellung und sagte dann : " O Ursel , das tut mir aber leid , daß wir deiner Mama Unruhe gemacht haben .
Bitte , sage , ich lasse um Verzeihung bitten , denn heute war ich allein schuld , daß es so spät geworden ist ; du dachtest immer pünktlich ans Weggehen . "
" Ja , ja , " murmelte Ursula , " adieu ; ob ich morgen kommen kann , weiß ich noch nicht - adieu ! "
Franzi machte ein betroffenes Gesicht und sah den Geschwistern nach .
Ursula ging mit besonders tiefgesenktem Kopfe , stumm , in grenzenloser Beschämung , oder wie sollte sie dies Gefühl nennen ?
Axel führte sein Rad und sah sie pfiffig von der Seite an .
" Na ? " brach er endlich das Schweigen , " kein Wort ?
Gar keine Anerkennung , daß ich dich hier aus dem nächtlichen Walde errette und voll edler Absicht bin , dich vor dem Zorn der Eltern zu schützen ? "
" Ach , Axel , " seufzte Ursel weinerlich , und " Ja , ach , Axel ! " wiederholte er spöttisch .
" Nun rede doch Mal 'nen Ton !
Wer ist denn dies famose schwarzbraune Mädel , mit dem du da solch zärtliches Stelldichein hattest ? "
" Ach , Axel , " fing sie wieder an , aber nun verlor er die ritterliche Geduld :
" Mädchen , was bist du langweilig !
Komme doch Mal ' raus mit der Sprache !
Du tust ja , als steckte ein schreckliches Geheimnis dahinter . "
Nun faßte sich Ursula und sagte : " Nein , es ist gewiß nichts Schreckliches , es ist nur - ich habe hier eine Freundin gefunden - "
" Ja , das sehe ich !
Wer ist sie denn ? "
" Ein prachtvolles , reizendes Mädchen - "
" Na ja , so viel Augen habe ich auch im Kopf !
Mal weiter ! "
" Sie heißt Franziska . "
" Brrr ! "
" Aber sie wird Franzi genannt . "
" Läßt sich schon eher hören ! "
" Franzi Trautmann , und sie ist hier beim Schloßgärtner mit ihrer Mutter , die da die Wirtschaft führt - und Franzi muß helfen und Gemüse verkaufen - ich hatte hier oft was zu holen in letzter Zeit , da haben wir uns kennen gelernt . "
Axel tat einen munteren Pfiff .
" Also eine kleine Gärtnerin !
Sieh einer an , ich hatte sie etwas höher geschätzt . "
" O Axel , du kannst sie gar nicht hoch genug schätzen ; Franzi ist überhaupt einzig ! "
Der Bruder lachte und schob kameradschaftlich seinen Arm unter den ihren .
" So bleibe nur , Ursche , so gefällst du mir !
Und sei nicht bange , ich stehe dir bei gegen die anderen , wenn sich etwa ein Veto erheben sollte gegen diese Freundschaft ! "
Ursula wurde wieder ängstlich und meinte : " Ach , Mama wird doch nicht ? "
" Keine Angst ! "
Der junge Kavalier warf sich in die Brust , und da das Elternhaus jetzt erreicht war , brachte er nur schnell sein Rad in Sicherheit und trat dann noch immer Arm in Arm mit Ursel zu den Eltern , die sich eben in der Veranda zum Abendessen gesetzt hatten .
" Melde mich zur Stelle ! " sagte Axel und stand militärisch stramm , " und hier ist auch der Deserteur !
Nun los , Kleine ! "
Aber Ursel senkte den Kopf und sagte nichts , und da auch Mama schwieg und Papa offenbar noch nichts von dieser Sache wußte , fuhr Axel fort : " So bitte ich denn ums Wort .
Das ganze Geheimnis von Ursulas häufiger Abwesenheit - sowohl geistiger wie körperlicher - ist - ja , erschreckt nicht , geliebte Eltern , aber ich habe sie bei einem Stelldichein ertappt ! "
" Axel , sieh dich vor mit deinen Scherzen ! " sagte Mama streng , während Papa ein halb erstauntes , halb belustigtes Gesicht machte .
" Wirklich , Mama , ich habe soeben die Bekanntschaft der Auserwählten gemacht , die Ursel einer Freundschaft würdigt , und muß gestehen , sie hat keinen schlechten Geschmack !
Da standen zwei Mägdlein im Lindenschatten bei der Schloßgärtnerei - Ursel und die Franzi Trautmann oder Traute Franzmann - ich weiß nicht genau - und die eine war von Augen und Zöpfen so schwarzbraun wie die andere , wirklich ein nettes Gespann !
Aber die andere hat mehr Temperament als Ursula !
Na , diese habe ich denn sanft abgehalftert und im Schritt durch den Schloßgarten geführt - links mein Stahlroß , rechts die Schwarzbraune ; und hier sind wir !
Demütig , aber - nicht eigentlich reumütig , denn - die andere Schwarze ist einfach zu nett ! "
Nach dieser langen , mit viel drolligem Pathos vorgetragenen Rede fiel der tapfere Primaner auf einen Stuhl und schien das weitere Ursel überlassen zu wollen ; aber als auf Mamas Frage : " Von wem sprecht ihr denn eigentlich ? " nur ein undeutliches Gestotter von Ursel anhob , fuhr Axel fort in seiner Rolle als Erklärer und Verteidiger :
" Von derjenigen , Die die Spargel stach - Und die Schoten brach - Sich nach Erdbeeren bückte - Und die Rosen pflückte - Ursels Herz gestohlen -
Sie sei euch empfohlen ! "
Hier lachte Inge laut auf .
Sie hatte sich schon lange Zeit amüsiert , nun rief sie :
" Du bist ja kostbar heute , Axel , der reine Improvisator ! "
Auch Papa schmunzelte und meinte :
" Willst du doch in meine Fußstapfen treten ?
Du meinst ja sonst immer , zum Juristen verdorben zu sein , aber Sachverhalt und Plädoyer waren nicht übel gegeben . "
Indessen hatte Mama die Ursel zu sich herangezogen und unbeachtet von den anderen leise gefragt :
" Ich hoffe , ich erfahre von dir alles genau , mein Kind ; esse aber erst , nachher gehen wir zusammen in den Garten . "
Ursel setzte sich schweigend und aß Gehorsam ; Mamas gütiger Ton hatte sie beruhigt , und da Papa und Axel ein scherzhaftes Wortgefecht führten über die Juristerei , woran auch Inge sich beteiligte , kam sie in den nächsten Minuten darüber weg , ihr liebes Geheimnis als lächerliche Geschichte behandelt zu sehen .
Freilich - böse sein konnte sie Axel eigentlich nicht .
Er hatte es auf seine Art sehr gut gemeint .
Auch empfand sie mit tiefster Genugtuung , daß er unverkennbar entzückt war von ihrer Franzi !
Es war zwar nach ihrem Gefühl ja nicht anders möglich , aber doch , wer konnte sich auf Primanergeschmack verlassen !
Ursel aß kaum , auch Mama schob bald ihre Teetasse zurück und winkte ihr .
" Aha , der Delinquent soll vernommen werden , " sagte Axel feierlich und sah Mutter und Schwester nach , die in den Garten hinabstiegen .
Und nun fing Mama an zu fragen , nicht wie ein Richter , sondern sanft und freundschaftlich , und Ursel erzählte ohne Rückhalt alles .
Mama hörte still und voll Teilnahme zu .
Als Ursel die erste Pause machte , sagte sie nur traurig :
" Und warum erfahre ich dies alles erst heute , mein Kind ?
Wie hast du es übers Herz bringen können , vierzehn Tage lang dies alles für dich zu behalten , es geflissentlich zu verheimlichen , ja Vorwände zu ersinnen , um nur nach der Gärtnerei zu kommen ?
War das wohl recht , Ursula ? "
Ursel kämpfte mit Tränen .
" Ach , Mama , ich wollte es ja auch gar nicht so - es war gewiß nicht meine Absicht , dich zu täuschen - ich sah kein Unrecht - und zuerst kam die Bekanntschaft doch nur zufällig !
Und dann - ach , es war so was Schönes , etwas , was mir ganz allein gehörte , und - und - ich bin es ja nicht gewohnt , immer so viel von mir zu sprechen - und ich dachte , du interessiertest dich wohl nicht dafür - "
" Höre auf , Kind , höre auf !
Du tust mir furchtbar weh ! "
" Mama , o Mama , verzeih mir , das wollte ich ja nicht !
O , ich verstehe mich ja selbst oft nicht , und darum Bild ich mir ein , daß niemand mich versteht - und daß niemand mich lieb hat , weil ich mich selbst nicht leiden mag ! "
Jetzt lächelte Mama schon wieder und nahm die aufgeregte Ursel zärtlich in die Arme .
" Kleine Törin , was für Phantasien und unnütze Quälereien !
Davon wird dich nun wohl die neue Freundin heilen !
Was wir alle nicht konnten : dich zu einem frischen , natürlich glücklichen Mädchen machen , wie meine anderen Kinder es waren und sind , das blieb dieser Fremden vorbehalten ! "
Das letzte klang wieder ernst , ja Ursel hörte einen Ton heraus , der ihr aufs neue Tränen in die Augen trieb .
" Ach , Mama , du bist mir doch wohl böse und wirst mir die Freundschaft mit Franzi nicht gern erlauben wollen ? "
Aber die Mutter sagte sanft :
" Da irrst du , Kind , wie könnte ich dir etwas nicht gönnen wollen , was dich augenscheinlich so beglückt ?
Wie könnte ich das fremde junge Mädchen so kränken , ohne es zu prüfen , nur weil der geheimnisvolle Anfang eurer Freundschaft mir nicht gefallen konnte ?
Nein , Ursel , solch eine hartherzige Mutter hast du wirklich nicht !
Sie versteht sehr gut noch die Empfindungen der Jugend !
Und nichts habe ich dir je mehr gewünscht , als eine liebe , passende Freundin . "
" Ach , liebe Mutter ! "
" Also bringe sie nur recht bald , deine Franzi , wir müssen sie alle kennen lernen . "
Wer war seliger als Ursel !
Sie konnte gar nichts mehr sagen vor Glück , sondern sich nur stumm und innig an Mama schmiegen .
Ach , es war wohl schön und interessant gewesen bisher , dies verstohlene Zusammensein mit Franzi , aber wie viel herrlicher mußte es werden , wenn sie sich nun frei und offen täglich sehen konnten .
Es war ihr wie ein feierlicher Abschnitt in ihrem Leben und sie schrieb Abends in ihr Tagebuch :
" Der Mensch hat nichts so eigen , So wohl steht ihm nichts an , Als wenn er Treue erzeigen Und Freundschaft halten kann .
Wenn er mit seinesgleichen Soll treten in ein Band , Verspricht sich , nicht zu weichen , Mit Herzen , Mund und Hand .
Lieber Gott , ich bin so glücklich ! "
8. Kapitel .
Kein Geheimnis mehr Eilig wie noch nie , fast glühend vom raschen Gang , kam Ursel am nächsten Tage in der Gärtnerei an .
Sie hatte ja die Einladung ihrer Mutter an Franzi zu überbringen für den nächsten Sonntag !
Vor der Tür saß sie und stickte wieder an der mühsamen Decke .
Langsamer als sonst stand sie auf und sagte ernsthaft :
" Bist du dennoch da , Ursel ?
Ich erhoffte es nicht . "
Ursel in ihrem Eifer rief , ohne etwas an der Freundin zu merken :
" Natürlich bin ich da , und zwar - "
" Natürlich ? " wiederholte Franzi , " gestern schien es dir nicht natürlich , und ich muß dir sagen , Ursel , daß ich seit gestern über etwas nachgedacht habe , worüber ich sehr erschrocken bin . "
" Franzi - was denn ? "
" Ja - sage Mal , du bist wohl heimlich zu mir gekommen ?
Deine Eltern wußten es nicht , und du bist bange , daß sie es nicht erlauben - oder warum erschrakst du gestern abend so , als dein Bruder kam ? "
Ursel stand entgeistert und konnte nur noch einmal " Franzi ! " hervorbringen .
" Ist es , weil du dich schämst , mit mir so schnell bekannt geworden zu sein , weil ich nicht vornehm bin , - weil ich hier arbeite und verkaufe ? "
Franzi sagte das mit einem so schmerzlichen Ernst , daß Ursula voll Schrecken die Hände vors Gesicht schlug und in Tränen ausbrach .
" Das kommt von der Heimlichkeit , " schluchzte sie , " das habe ich nun davon , daß du so schlecht von mir denkst !
O Franzi , so schlecht kennst du mich noch ? "
Nun war Franzi ebenso erschrocken und sagte betreten :
" Wenn ich dich gekränkt habe , verzeih mir , aber - ich war auch gekränkt ! "
" Das sehe ich , und ich bin außer mir ! "
" Und Mutter meinte auch , als ich ihr das von gestern abend erzählte , sie dürfe es nicht erlauben , daß du so oft zu mir kämst und hier bliebest , wenn deine Eltern es nicht wüßten .
Wir hätten gar keine Ansprüche zu machen und täten am besten , für uns allein zu bleiben ; eindrängen in vornehme Häuser sollte ich mich gewiß nicht . "
Ursula hörte plötzlich auf zu weinen , faßte Franzi um die Schulter und sagte :
" Dies ist eine schreckliche Geschichte , - aber was du eben sagst , ist alles dummes Zeug !
Wir sind nicht vornehmer als ihr , und ich würde mich in die Erde schämen , wenn ich je dächte , ich könnte mich mit dir überhaupt vergleichen , die du besser und klüger und fleißiger bist als alle Mädchen , die ich kenne ! "
Franzi lachte unter Tränen und sagte : " Nun übertreibst du furchtbar , Ursel ! "
" Nicht im geringsten !
Und nun höre doch nur , was ich dir heute sagen wollte :
Meine Mama läßt dich grüßen und einladen , nächsten Sonntag , also übermorgen , bei uns zu Mittag zu essen und den ganzen Tag bei uns zu bleiben .
Ist das nicht fein ?
Und wirst du nun nicht wieder so häßlich von uns denken , du liebe Böse ? "
Franzi war rot geworden und sagte : " Das - mußt du selbst meiner Mutter sagen , Ursel . "
" Natürlich , gleich !
Wo ist sie ? "
" Vorn im Zimmer . "
Ursel sprang ungestüm auf , sie hatten völlig die Rollen getauscht .
Ursel von einer beinahe leidenschaftlichen Lebendigkeit und Franzi verlegen .
Frau Trautmann , die emsig bei einer Näharbeit saß , sah die beiden kommen und tat einen leisen Seufzer .
Die sanfte , bescheidene Ursula Dahland hatte es ihr auch angetan ; mußte sie nun diesem Verkehr , der ihre Tochter so glücklich machte , selbst ein Ende bereiten , lediglich aus Taktgefühl ?
Die beiden Mädchen kamen ins Zimmer und Ursel trug gleich ihre Bitte vor , herzlich und natürlich , gar nicht so töricht scheu und befangen , wie sonst .
Frau Trautmann nahm ihre Brille ab , hinter der die schönen , aber angestrengten Augen hervorkamen , und sagte : " Das ist ja fast zu viel Freundlichkeit von Ihrer Mutter , liebes Fräulein Ursel ; gleich auf einen ganzen Tag ? "
" Ja , " entgegnete Ursel lebhaft , " Mama sagt , wir wollen es gleich gründlich nachholen , weil ich es so lange versäumte , ihr Franzi vorzustellen . "
" Und warum haben Sie es versäumt , mein Kind ? " fragte Frau Trautmann und richtete einen forschenden Blick auf Ursula , aber Franzi fiel ein :
" Quäl sie nicht , Mutterchen , wir haben uns eben schon das Leben schwer gemacht !
Nun ist alles gut , und nicht wahr , du erlaubst es ? "
Mama sagt , wir wollen es gleich gründlich nachholen , weil ich es so lange versäumte , ihr Franzi vorzustellen .
Frau Trautmann überlegte einen Augenblick , aber da rief Ursel , förmlich mit einem Anflug von Schelmerei :
" Ich habe gar nicht zu bitten brauchen , meine Mutter war_es , die zuerst sagte :
» Dann sollt ihr den nächsten Sonntag zusammen verleben , wir alle wollen deine Franzi kennen lernen « . "
Nun lächelte Frau Trautmann und war gewonnen , und die Mädchen gaben sich rückhaltlos ihrer Freude hin , machten Pläne für den Sonntag , wo sie sich schon in der Schloßkirche treffen und dann zusammen in Ursels Elternhaus gehen wollten .
Aber Franzi mahnte bald :
" Urselchen , nimm es mir nicht übel - ich muß sticken !
Laß uns wieder unter die Linde gehen , ja ?
Draußen ist_es heller als hier . "
" Was hast du denn immer zu sticheln , " wunderte sich Ursel , " wer bekommt diese furchtbar mühsame Decke ? "
" Wer ? Ja , das ist mir auch noch ein Geheimnis . "
" Wieso ? "
" Ja , Ursel , das weißt du auch noch nicht : deine Freundin ist nicht bloß Gemüseverkäuferin und Hausstütze - sie stickt auch für Geld . "
" Ach , wirklich ? "
" Ja , Mutter und ich , beide .
Oder glaubst du , die wunderfeinen Hemden mit der gestickten Passe , die Mutter da eben hatte , die wären etwa für mich ? "
" Ich habe nicht darüber nachgedacht , " gestand Ursel .
" Die sind für ein Geschäft .
Die Stickerei habe ich größtenteils schon in Wehrburg fertig gestellt , die Maschinennäherei macht Mutter .
Sie müssen bald abgeliefert werden - ich habe noch die Namen zu sticken , aber solange Mutter sie unter den Händen hat , arbeite ich an der Decke . "
" Und wohin kommt die ? " fragte Ursula mit großen Augen .
" Das ist es eben , ich weiß es noch nicht .
Ich habe sie schon in Wehrburg angefangen , Fräulein Elsner hat mir die feine Spitzenarbeit gezeigt .
Den Filetgrund , den man sonst fertig kauft , hat Mutter so schön gemacht ; so ist diese ganze Arbeit von uns , und ich möchte sie gern irgendwo ausstellen zum Verkaufe . "
Sie hielt die sehr akkurat und sauber gearbeitete Gipüredecke in die Höhe , und Ursel sagte bewundernd :
" Sie ist wunderschön ! " und plötzlich kam ihr ein Gedanke .
" Ich weiß , wo du sie ausstellen mußt !
Der Frauenverein hat hier eine Verkaufsstelle für so etwas , mit einem Schaufenster ; dahin bringen wir die Decke !
Da kaufen viele reiche Leute , manchmal auch die Fürstin .
Ja , die gute Vorestin-Mutter muß dein Kunstwerk kaufen !
Wäre das nicht prachtvoll ? "
" Ja , " rief Franzi lebhaft , " das ist ein guter Gedanke !
Ich meine nicht das mit der Fürstin , so hoch versteigen sich meine Wünsche nicht gleich , aber das mit dem Frauenverein . "
" Ja , und Mama kann dir das leicht besorgen , sie gehört zu den Vereinsdamen , und weißt du , dann bringt man es leichter an . "
" Freilich , ein bißchen Schutz ist immer gut , " meinte Franzi ernsthaft .
Ursel war noch allzu vertieft in diese Angelegenheit und sagte : " Aber müßt ihr euch so sehr anstrengen , habt ihr nicht genug hier im Hause zu tun ? "
" O ja , wir hätten wohl , aber Mutter versteht die Kunst , die Zeit doppelt zu nehmen .
Sie kann unglaublich viel leisten ! "
" Und sieht doch so zart aus . "
" Ja , aber ihr Wille !
Sie will alles daransetzen , unseren Wilhelm auf der Universität zu erhalten . "
" Das kostet gewiß sehr viel ? "
" Kannst dir wohl denken !
Ein Stipendium hat er ja glücklicherweise , aber das Leben kostet doch immer was , wenn man auch so bescheiden ist wie Wilhelm . "
" Und du ?
Das Geld , was du verdienst , gibst du das auch für deinen Bruder ? "
" Nein , damit - bezahle ich meine Klavierstunden ! " rief Franzi mit glücklich triumphierendem Ton .
Ursel verstummte .
Klavierstunden , die ihr selbst ein notwendiges Übel dünkten , die sie lieber heute als morgen aufgegeben hätte , die verdiente sich diese Franzi durch mühselige Stickereien !
Auf einem jämmerlichen , verstimmten Klavier übte sie mit dem größten Eifer , wenn alles andere getan war , wenn die Hände beinahe hart und steif von vielerlei Arbeiten waren , und der Obergärtner - der Hausherr - der sah das gar noch scheel an !
" Nun , du sagst ja gar nichts mehr ? " rief Franzi lachend , " diese Handarbeitsangelegenheit gefällt dir wohl nicht ? "
" Ach , Franzi , ich wünschte nur eben in Gedanken , du könntest meine Klavierstunden bekommen !
Ich lerne beim besten Lehrer und die Stunde kostet drei Mark .
Ich wollte lieber , Papa bezahlte sie für dich , und du brauchtest dich nicht so zu quälen . "
" O , so was fange nur nicht an , Ursel ; diese Qual läßt sich noch ertragen .
Aber sage , magst du denn keine Musik ? "
" O ja , eigentlich sehr gern , aber lieber hören , als selber spielen .
Ich habe auch kein Talent und meine Finger sind nicht geschaffen dazu , mein Lehrer sagt es selbst .
Inge , meine Schwester , spielt und singt . "
" So ?
Spielt sie schön ?
Spielt sie Beethoven ? "
" Ich glaube nicht sehr viel , sie mag lieber andere Musik .
Alle lieben ihre Tänze so sehr und die kleinen Lieder , in denen zum Schluß immer irgendwas Drolliges vorkommt ; da wird dann immer geklatscht und gelacht . "
Franzi sah nachdenklich auf .
" So sehe ich die Musik nun nicht an , zum Lachen und Amüsieren .
Musik ist heilig und groß , ernst , oft traurig sogar , aber immer groß ! "
Sie schwieg und sah in die Ferne , Ursel fand einen völlig neuen Ausdruck in den sonst so heiteren schwarzen Augen .
" Bei wem hast du denn Stunden ? " fragte sie endlich beinahe schüchtern .
" Beim Schloßorganisten .
Ob er der beste Lehrer ist , wie deiner , weiß ich nicht , aber sehr gut und gründlich nimmt er es mit mir , das ist gewiß .
Einen Taler nimmt er auch nicht für die Stunde , wenigstens von mir nicht ; Fräulein Elsner hat an ihn geschrieben , nun tut er es für eine Mark .
Aber du kannst doch glauben , daß ich tüchtig sticheln muß , um so viel zusammen zu bekommen !
Ich möchte so gern das Klavier stimmen lassen , das beim Umzug sehr gelitten hat , aber noch geht es nicht ! "
" Also wollen wir schnell die Decke verkaufen ! " rief Ursel stürmisch , " wie viel fehlt noch dran ? "
" In fünf Tagen kann sie fertig sein , wenn ich täglich zwei Stunden zum Arbeiten komme ; das ist aber auch das Äußerste , was ich an Zeit erübrigen kann . "
" Könnte ich dir doch helfen !
Nächste Woche gehen ja meine Ferien an , aber ich verstehe diese Arbeit nicht . "
Franzi ließ die Decke sinken und umarmte Ursel .
" Du bist ein Engel , und ich habe heute bös von dir gedacht !
Verzeih mir_es nur . "
In diesem Augenblick flog ein Rad vorbei , oder vielmehr , es verlangsamte seinen Gang vor der Gärtnerei , und eine Primanermütze wurde geschwenkt .
Diesmal erschrak Ursel nicht , sondern lachte fröhlich .
" Das ist Axel ! "
" Dein Bruder sieht dir gar nicht ähnlich , " meinte Franzi , und Ursel sagte : " Ach nein !
Meine Geschwister sind alle blond und sehr hübsch , du sollst Mal Inge sehen ! "
" Na und du ?
Bist du etwa nicht hübsch ? "
" Ach nein , gewiß nicht ! " beteuerte Ursel so überzeugungsvoll , daß ihre Freundin lachte .
" Früher fand ich mich schon deshalb garstig , weil ich nicht blond bin , wie meine Geschwister , aber jetzt - " sie wurde rot - " jetzt sehe ich , daß auch schwarzes Haar hübsch sein kann ! "
" Hier dieses meines Hauptschmucks wegen ? " rief Franzi schelmisch .
" Ich will dir was sagen , ob schwarz oder blond , darauf kommt es nicht an .
Du bist ein süßes Seelchen , und das sehe ich an deinen Augen ! "
Als Ursula endlich gegangen war , sprang Franzi zu ihrer Mutter und rief frohlockend :
" Nun , Mutter , was sagst du ? "
" Ich freue mich , mein Kind , und gönne dir diese Aussicht auf Sonntag von Herzen .
Nur - sonderbar bleibt es doch , daß Ursula nicht früher zu Hause von dir gesprochen hat ; denn daß sie es nicht getan , ist mir klar .
Kannst du dir denken , Franzi , daß du es mir so lange verheimlicht hättest ? "
" Nein , Mutter , ich nicht !
Du sagst ja aber öfter , ich habe das Herz auf der Zunge ! "
" Der Mutter gegenüber schadet das auch nicht .
Ich möchte es wenigstens nicht anders . "
" Alle Mütter sind aber auch nicht wie du !
Und Ursel ist sehr schüchtern - vielleicht muß ich mich auch ein wenig vor Sonntag fürchten - vielleicht ist Frau Dahland eine sehr strenge Frau ? "
9. Kapitel .
Franzi kommt Nein , Franzi wußte gleich , daß sie sich nicht zu fürchten brauchte , als sie Ursels Mama einmal in das freundliche Gesicht gesehen und ihre herzlich klingende Stimme gehört hatte .
Mit natürlichem Anstand küßte sie der Rätin die Hand und sah dann vertrauend zu ihr auf , während diese gleich im stillen dachte :
" Das scheint allerdings ein liebes Mädchen zu sein , das gönne ich meiner Ursel ! "
Auch der Landgerichtsrat , der inzwischen allerlei von der geheimnisvollen Freundschaft gehört und Ursel sogar geneckt hatte ( zu ihrem Entzücken ! ) , war aufs angenehmste berührt von dem so bescheiden und doch ohne Scheu sich gebenden jungen Mädchen , daß er sich gleich in eine Unterhaltung mit ihr einließ .
Und o Wunder - Ursel machte immer größere Augen - , als Papa nach Franzis Heimat fragte , stellte sich es heraus , daß er Wehrburg kannte !
Als junger Assessor hatte er dort einmal geschäftlich zu tun gehabt , und er erinnerte sich deutlich der alten Burg mit dem weiten Park , in dem ihn ein Mann mit einem steifen Bein , der wunderbar beschlagen gewesen in allem , was zur Forstkultur gehört , herumgeführt hatte .
" Das war mein Vater ! " rief Franzi mit plötzlichen Tränen in den strahlenden Augen , und fühlte sich auf einmal wie zu Hause in dem eben noch fremden Kreise .
Mitten in das Gespräch hinein kam das Zeichen , daß angerichtet sei , und ohne weiteres , bot der Hausherr dem jungen Gast den Arm und führte zu Ursulas unsäglichem Entzücken ihre Freundin zu Tisch .
Axel kam zu spät dazu .
Mit recht verdutzter Miene zog er seinen schon gekrümmten Arm zurück , um ihn dann entschlossen seiner Schwester zu reichen .
Einen kleinen Puff bekam sie freilich hinzu , aber der war Ursel nur tröstlich ; ihr Bruder wäre ihr sonst gar zu unbekannt vorgekommen .
Im Eßzimmer saßen " die Kleinen " schon auf ihren hohen Stühlen und Inge band ihnen eben die Servietten um .
Auch diese begrüßte Franzi freundlich mit einem zugleich erstaunten Blick auf Ursel , die feuerrot und überhaupt wie ausgetauscht erschien .
Das wurde heute ein anderes Mittagessen für sie , wie das vor vierzehn Tagen !
Auf einmal kam sie sich vor , wie zu den Großen gehörig , hatte zwar noch nicht die geringste Lust , sich an der Unterhaltung zu beteiligen , sondern hörte nur immer glückselig zu , lächelte manchmal Mama an , die dann einen stillgerührten Ausdruck bekam , und war entschlossen , sich alles von Axel gefallen zu lassen , wenn er nachher mit seinen Neckereien antreten würde .
Sie hatte aber fürs erste noch nichts zu ertragen , denn nach Tisch verlangten die Kleinen , die während des Essens still sein mußten , auch ihr Recht an der " neuen Freundin " , wie Elfchen sagte , und die beiden Backfische wurden in die Kinderstube gezogen , wo Franzi sich aufs herzigste mit den Kleinen abgab .
" So kleine süße Geschwister ! " rief sie , " Ursel , wie reich bist du doch ! "
" Und ich konnte mir einmal einbilden , es wäre schön , die Einzige zu sein ! " dachte Ursula in tiefster Beschämung und sah zu , wie die Geschwisterchen sich an Franzi hängten .
Die wußte aber auch mit jedem gleich was anzufangen ; sie ließ es sogar zu , daß der kleine Robert sie an beiden Zöpfen faßte , wozu Bertram verständnisvoll " Hü - hott " schrie , während Elfchen sagte :
" Mit Ursel wollen sie auch manchmal Pferd spielen , aber sie leidet es nicht . "
" O , sie wird schon , wenn ihr nicht zu sehr zaust - recht manierlich , so - wenn ich das Handpferd bin , wird sie schon Sattelpferd sein wollen .
Prrr , prrr ! "
In diesem Augenblick kam Axel herein , ein seltener Gast in der Kinderstube !
" Was habe ich gesagt ? " meinte er lachend , " Sie beide wären ein nettes schwarzbraunes Gespann !
Na , Ursel , du siehst auch schon aus , als wenn dich der Hafer kitzelte !
Aber , Jungen , Vagabunden , ihr macht es zu toll !
Laßt Mal gleich das Fräulein los ! "
" Sie ist kein Fräulein , sie ist unsere Freundin ! " rief Elfi .
" Vagabunden ? " wiederholte Franzi lachend , " wie kommen die kleinen entzückenden Buben zu dem schrecklichen Titel ? "
" So nennt mein Vater sie , " erklärte Axel , " in Erinnerung an ein urkomisches altes Theaterstück aus Papas Jugend : » Robert und Bertram oder die lustigen Vagabunden « . "
Inzwischen griffen die Kleinen die Bezeichnung " schwarzbraunes Gespann " jubelnd auf .
" Schwarzbraune , hüh , Schwarzbraune , Galopp ! " rief Robert , und Bertram meinte : " Bloß kein schwarzes Kleid mußt du anhaben .
Hast kein rotes oder blaues ?
Dies ist häßlich ! "
" Scht , scht , " machte Ursel verlegen , " wer sagt wohl so was ! "
" Laß sie doch , " sagte Franzi sanft , " was wissen die kleinen Schelme von Trauer ? "
Sie beugte sich zu Elfis Puppenwiege nieder , und Axel fragte heimlich :
" Um wen trauert sie ? "
" Um ihren Vater , " entgegnete Ursel ebenso leise , und von nun an benahm sich Axel noch respektvoller und zeigte gar keine Anwandlung zum Necken .
Er konstatierte nur sehr bestimmt , er fände Franzi Trautmann - oder Traute Franzmann , das könne er noch nicht behalten - hübscher als Fräulein Anna Leuthold , die ihm damals so gut gefallen , und " solche Schneide ' mußt du dir auch anschaffen ! " raunte er Ursel zu , mit einem abermaligen brüderlichen Puff .
Ursel wußte schon , " Schneide " war jetzt immer das höchste , sowohl in der Backfisch- wie in der Primanersprache ; verständlich war ihr aber nicht , was man darunter verstand .
Als sie danach gefragt hatte , war das auch so eine Gelegenheit gewesen , wo man sie " etwas zurück " fand .
" Du weißt nicht , was Schneide ist ?
Na aber !
Ja , wie soll man das erklären ?
Es ist eben - na eben Schneide ! "
Nun war sie noch ebenso klug , aber sie dachte sich , daß es wohl etwas wäre , was sie selbst nicht besaß .
Hatte Franzi Schneide ?
Ursel dachte darüber nach .
Franzi war ehrerbietig , aber nicht blöde den Eltern gegenüber ; sie verstand sich in einem fremden Hause zu benehmen , war unbefangen mit Axel und lustig mit den Kleinen .
Sie war eben ein Ideal , dachte Ursel .
Nun kam es noch drauf an , wie sie mit Inge fertig wurde , was Ursel ja fast am schwierigsten fand .
Hierzu kam die Gelegenheit beim Kaffee , und Ursel dachte nun wieder :
so ist_es auch kein Kunststück , Inge sehr liebenswürdig zu finden !
Sie sprach sehr freundlich , fragte Franzi nach ihrer Musik , von der sie schon gehört hatte , und zog sie dann bald ins Nebenzimmer , wo das Klavier stand .
Darauf hatte sich nun Ursel auch gerade gefreut , Franzi den schönen Flügel zu zeigen ; aber solange Inge da war , hatte sie das Zusehen , das wußte sie schon , auch wenn_es wie heute ihre eigene Freundin galt !
Sie war aber nicht eifersüchtig heute , sie war nur glücklich , daß ihre Erwählte so augenscheinlich allen in der Familie gefiel .
Franzi hatte den Flügel mit entzückten Augen geprüft , " ein Bächstein ! " gerufen und dann die Hände wie liebkosend auf die Tasten gelegt .
" Spielen Sie doch einmal , " sagte Inge , " soll ich Ihnen Noten geben ? "
Aber Franzi brauchte keine .
Sie saß etwas befangen , aber doch froh , nur halb auf dem Sessel und begann eine Sonate , nicht merkend , daß die ganze Familie sich leise versammelte .
" Den dritten Satz kann ich nicht ! " rief sie dann lebhaft , nur zu Inge gewandt , die ihr gegenübersaß , " aber ach , der schöne Flügel !
Gerade wie der Wehrburger . "
Und nun war sie schon in einem Notturno von Chopin , das noch sicherer und schöner zum Ausdruck kam .
Dann sprang sie auf , und als sie den lächelnden Zuhörerkreis gewahrte , meinte sie : " O , ich war recht unbescheiden , so viel zu spielen ! "
Dann bat sie Inge , doch auch etwas vorzutragen ; aber diese lachte und sagte , mit Franzi könne sie sich nicht messen .
Auch hatte es eben fünf Uhr geschlagen , und das war die Zeit , wo Inge unweigerlich ihre weißen Schuhe anzog und in den Schloßgarten ging zum Tennis .
Axel stand noch unschlüssig bald hier , bald da herum , bis er endlich mit dem Vorschlag herausrückte , die Freundinnen ein wenig auf dem See zu rudern .
Aber hiermit war Mama nicht zufrieden , jetzt beanspruchte sie die Mädchen ein wenig zu ihrer Gesellschaft ; auch könne man nicht wissen , ob Franzis Mutter einverstanden sein würde mit dem fremden jungen Seefahrer .
" Oder möchtest du sehr gern ? " fragte sie Franzi direkt .
" Nein , ich möchte das , was Frau Rätin wünschen , " antwortete Franzi schnell .
" Ich war freilich noch nie auf dem See ! " fügte sie unwillkürlich hinzu , und Axel griff es auf .
" O , da müssen wir es aber bald einmal machen , nach Rohrwerder und Herrenhausen - in Heckendorf waren Sie natürlich schon ? "
" Nein , ich war nirgends , ich habe sehr wenig Zeit . "
" Ach , " fragte Axel erstaunt , " ich war der Meinung , Sie gehen in keine Schule mehr ? "
" Mit der Schule hört doch die Arbeit nicht auf , " mischte sich Mama ein , " das denkt ihr euch nur immer , ihr Schwerbelasteten . "
" Ach , gewiß nicht , " seufzte Axel , " ich weiß genau , daß das Büffeln nachher noch in Ewigkeit so weitergeht . "
" Also genieße deinen Sonntag , " mahnte Mama lachend , der es darum zu tun war , die Mädchen nun wirklich ein wenig allein zu haben und Franzi noch näher kennen zu lernen , als so im allgemeinen großen Kreise .
" Habt ihr Handarbeit ? " fragte sie , und Franzi holte erfreut ihren großen Beutel mit der mühsamen Spitzenarbeit , an der nur noch wenig fehlte .
Die Decke gab ja nun gleich den besten Anknüpfungspunkt , über Franzis Beschäftigungen , ihre Kenntnisse und Pläne für die Zukunft zu sprechen .
Und da Franzi völlig offen und zutraulich war , wie man es Frau Dahlands freundlichen Augen gegenüber wohl sein konnte , und da Ursula mit kleinen näheren Ausführungen und bewundernden Ausrufen ihr noch zu Hilfe kam , wußte die Rätin sehr bald Bescheid in den Verhältnissen der Familie Trautmann und nahm sich vor , die Freundschaft nach Kräften zu fördern und auch dem mutigen , tatkräftigen und augenscheinlich sehr begabten Mädchen gelegentlich die Wege zu ebnen .
Der Nachmittag verging wie im Fluge , und Ursel , die ihre Franzi heute noch keine fünf Minuten allein gehabt hatte , war doch nicht böse darüber , sondern immer nur stolz , ihre Freundin zu präsentieren .
Und sie wußte , die stillen Stunden zu zwei würden bald genug wiederkommen , denn es war ja natürlich , daß Franzi weniger zur Familie Dahland kommen konnte , als daß Ursel in die Gärtnerei ging .
Am Abend stellte sich Axel sehr zeitig wieder ein und meinte , er müsse doch Fräulein Trautmann nach Hause bringen ; Sonntag abend allein durch den Schloßgarten zu gehen , sei doch unmöglich für eine junge Dame .
Und nun war es Ursel , die ihn heimlich puffte , wegen der großartigen Bezeichnung eines Backfisches !
Aber die Begleitung wurde angenommen , und Ursel ging natürlich auch mit .
Im Schloßgarten schlug die letzte Nachtigall .
Es war ja nun Sommer geworden , alle Vögel bald verstummt , dafür Rosen überall aufgeblüht .
Und die großen Ferien in Sicht !
Voller Pläne waren die drei jungen Menschenkinder , und als sie sich endlich bei der Gärtnerei getrennt hatten , sagte Axel : " Wirklich ein famoses Mädel , diese Traute !
Solche kenne ich noch gar nicht .
Die nimm dir nur zum Muster , du ! "
Solche Ermahnungen in gnädigem Tone waren früher gar nicht nach Ursels Geschmack , heute aber lachte sie hellauf , hängte sich an Axels Arm und fragte recht übermütig :
" Meinst du ? " 10. Kapitel .
Die Spitzendecke In den nächsten Tagen machte Ursula immer einen kleinen Umweg , wenn sie aus der Schule kam .
Königs- und Schloßstraße schienen es ihr jetzt auch angetan zu haben , wie den meisten ihrer Mitschülerinnen .
" Du willst wohl auch zu Kranz ? " fragte Olga Rettich , als sie Ursula in der Nähe der berühmten Konditorei traf .
" Die Erdbeertörtchen sind auch geradezu ideal augenblicklich .
Oder langt es bei dir gar zu Eis ? "
" Zu beiden nicht , " sagte Ursel und ging eilig weiter .
Olga traf auf Vicky von Sontheim und fand bei dieser mehr Verständnis .
" Die Ursel Dahland ist doch zu komisch , " meinten beide , " mit der ist gar nichts anzufangen . "
Und dann schmausten sie um die Wette am Eckfenster der Konditorei , nahmen Grüße entgegen und machten sich wichtig .
Ursel aber suchte inzwischen ein gewisses Schaufenster , sicher nicht das großartigste in der Residenz ; es war eigentlich recht bescheiden , Handarbeiten lagen dort aus , und zwar oft recht einfache : gestrickte und gehäkelte Röcke , von kränklichen alten Damen gefertigt , die zu nichts anderem mehr recht sehen konnten , feine Weißstickereien von jungen Mädchen , die wohl Zeit und gute Augen hatten , aber kein Geld zu teurem Handarbeitsmaterial .
Es war die Verkaufsstelle des Frauenvereins , von dem Ursel ihrer Freundin erzählt hatte , und in diesen Tagen prangte Franzis schöne Filetgipüredecke im Fenster .
Ursula hätte viertelstundenlang davor auf und ab gehen mögen , um zu beobachten , welchen Eindruck die schöne Arbeit auf die Vorübergehenden machte ; aber das ging doch nicht gut an .
So begnügte sie sich damit , sich täglich zu überzeugen , ob sie noch da sei .
Leider ja , eine ganze Woche lang leuchtete sie Ursel schon von fern entgegen und sie konnte umkehren .
Am achten Tage aber war die Decke verschwunden !
Beinahe erschrak Ursel nun , dann ging sie schnell entschlossen in den Laden und sagte zu dem alten Fräulein , das dort den Verkaufe besorgte :
" Ich möchte mich nach der schönen Gipüredecke erkundigen , die hier im Fenster hing . "
" Ja , da kommen Sie zu spät , " sagte die alte Dame wichtig , " die Decke ist heute verkauft und schon abgeholt worden .
Die Verfertigerin kann sich freuen , denn der Arbeit wurde hohe Anerkennung zu Teil . "
" Von der Frau Fürstin ? " platzte Ursula heraus .
" Das nun gerade nicht , aber von der Frau Hofmarschallin .
Es kann also immerhin sein , daß Ihre Hoheit auch die Arbeit zu sehen bekommt - wenn Sie das interessiert , mein kleines Fräulein . "
" O danke , ja , sehr , " stotterte Ursula erfreut .
" Dann wurde die Decke auch wohl gut bezahlt ? "
" O ja , ich habe lange keinen so guten Preis bekommen .
Aber da Frau Rätin Dahland selbst hier war , um mich für die Stickerei zu interessieren , habe ich recht hoch gefordert und es ist mir geglückt , " schloß sie stolz .
Ursula war überglücklich .
Also Mama war selbst hier gewesen .
" Hat die - die Stickerin schon das Geld ? "
" Nein , ich war eben schon daran , ihr zu schreiben , daß sie es in Empfang nehmen kann . "
" Könnte ich es ihr wohl bringen ?
Ich bin Ursula Dahland . "
Das alte Fräulein knickste .
" Bedaure sehr , aber das ist gegen die Regel ; Fräulein Trautmann muß selbst quittieren . "
Das sah Ursel ein , das war geschäftsmäßig .
Aber die Nachricht konnte sie Franzi doch bringen - welch Entzücken !
Ob Franzi sich wohl noch mehr freuen konnte als sie selbst ?
Ja , Franzi geriet ordentlich ein bißchen außer sich .
" Das hätte ich nicht gedacht , " rief sie einmal übers andere , " die Hofmarschallin , sagst du ?
Das freut mich !
Die kenne ich schon ! "
" Sie wohnt drüben in der hübschen Villa am See , in Westeck ; eine Tochter ist in unserer Schule , die andere ist schon verlobt . "
" Vielleicht bekommt die Braut die Decke !
Vielleicht bestellt sie noch mehr Sachen !
O Ursel , wie wundervoll hast du mir geraten , wie danke ich dir ! "
Ursel glühte vor Stolz :
sie hatte jemand raten können !
" Komme , ich will es Mutter erzählen , und dann will ich sehen , daß ich gleich zur Stadt gehen kann .
Aber ach - es ist noch ein großer Korb Strümpfe zu stopfen , dabei kann ich Mutter nicht allein lassen . "
" O weh !
Um sieben Uhr schließt das alte Fräulein den Laden ; wenn du jetzt nicht gehst , wird es für heute zu spät .
Und wir sind doch so neugierig ! "
Ursula saß auf einem lauschigen Platze und beschäftigte sich mit Strümpfestopfen .
" Ja , neugierig wie ein paar Elstern , und nun bis morgen warten ?
Und dann ist es noch ebenso schlimm - morgen wird geplättet . "
" Also , " entschied Ursel , " du gehst heute und ich stopfe die Strümpfe ! "
" Aber Ursel ! "
" Meinst du , ich kann es nicht ?
Besser als manches andere , sage ich dir .
Ich habe es von Muschebergen gelernt , die sagt immer : Ursching , ich segg ' di , lehr du Strümp ' stoppen , das is beter as Engelsch un Französch parlieren ! "
Sie lachten , aber Franzi blieb dabei : " Denke Mal , die groben Strümpfe !
Es sind nicht nur Kinderstrümpfe , sondern auch welche von den Gärtnerburschen dabei . "
" Schad nicht ; für die werde ich es wohl erst recht gut genug machen . "
" Ursel , du Engel , du willst wirklich ? "
" Gib mir Mal schnell deine Stopfnadel und mache , daß du fortkommst ! "
Wirklich war zehn Minuten später Franzi auf dem Wege zur Stadt und Ursula saß seitwärts vom Hause auf dem lauschig versteckten Platz und stopfte Strümpfe für die Gärtnerburschen !
Das waren aber Löcher !
Da kamen die ihrer kleinen Vagabunden daheim nicht dagegen auf .
Sie wußte gar nicht , wie sie die klaffenden Strumpfsocken auf der Hand Strafe ziehen sollte .
Aber da lag ja in Franzis nettem Körbchen ein riesiger Stopfpilz , Franzi wußte schon mit dergleichen umzugehen ; nun ging es anders .
Ursel geriet in großen Eifer , belustigte sich über die manchmal in allen Farben spielenden Strümpfe und hatte ein großes Gefühl der Befriedigung .
Manchmal sah sie auf und wunderte sich über die vielen Spaziergänger .
Ihr war in dieser Stunde , als könne es wahrlich kein großes Vergnügen sein , dort auf den schattigen Wegen am Seeufer zu wandern , mehr befriedigt war sie , hier mit grober Wolle gegen die Riesenlöcher zu Felde zu ziehen .
Sie saß ziemlich verborgen und brauchte nicht zu fürchten , gesehen zu werden .
Aber wenn auch !
Was hätte sie sich daraus gemacht , wenn Olga und Vicky sie wieder » komisch « gefunden hätten ?
Sie nützte jemand !
Und sie wollte das mehr und mehr lernen .
Große Heldentaten zu verrichten , ach , dazu war wohl selten Gelegenheit in solchem kleinen Mädchenleben .
Aber auf das Kleine konnte sie achten , auch im Hause .
Sicher konnte sie da viel mehr kleine Gefälligkeiten und Dienste erweisen , ohne daß man es ihr erst sagte , ihr nahelegte .
Es kam ihr wirklich so vor , als traute Mama ihr schon etwas mehr zu , und - Papa hatte sich entschieden ein paarmal gefreut über kleine Aufmerksamkeiten , wie sie sonst nur Inge für ihn hatte .
So grübelte Ursel , und stopfte und grübelte , bis ihre Wangen glühten .
Da fühlte sie sich von hinten umschlungen und Franzis Stimme jubelte ihr zu : " Fünfzehn Mark , Ursel , fünfzehn Mark !
Ein ganzes Vierteljahr Klavierstunden - und der Klapperkasten kann obendrein gestimmt werden ! -
Und wen traf ich dort ?
Die Hofmarschallin selbst .
Ist das eine entzückende Frau !
Gleich bestellte sie noch eine ebensolche Decke - fragte mich allerlei - hatte gehört , daß wir auch Weißnäherei machen - sagte , daß sie bei der Aussteuer ihrer verlobten Tochter an uns denken wolle ! "
Erschöpft von Hitze und glücklicher Erregung sank sie neben Ursel auf die Bank ; da geriet sie auf ein weiches Polster von fertig gestopften Strümpfen , und des Freuens und der Dankbarkeit war kein Ende .
Dann ging es mit der großen Nachricht zur Mutter , und der wurde keine Ruhe gelassen , sie mußte gleich ihre Filetnadel und das Garn hervorholen und unter den Augen der Mädchen das feine Gitter zu der neuen Decke beginnen .
" Du kannst_es unbesorgt , Mutter , " rief Franzi , " denn unsere Strümpfe haben inzwischen die Heinzelmännchen gestopft ! " 11. Kapitel .
Ferienpläne Hundstagsferien !
Wer kennt nicht den zauberhaften Klang dieses Worts !
Was für Schätze scheint es zu entfalten , welch eine ungemessene Spanne Zeit zu umschließen !
Was für Pläne werden gemacht :
Welche Bücher man lesen , was für Spaziergänge und weite Touren man unternehmen will , zu denen im Alltags- oder Schulleben die Zeit nicht reicht .
Und wie man auch oft planlos in den Tag hineinschwelgen , ja , unter uns gesagt , hineinschlafen will !
Natürlich soll meist schön Wetter sein , aber hin und wieder einen Regentag nimmt man auch gnädig mit in den Kauf , weil dann einmal Notwendiges , wie es auch in dem echtesten Ferienleben vorkommt , erledigt wird .
Wer reist , ist natürlich von einem einzigen großen Plan erfüllt , wer aber zu Hause bleibt , kann sich täglich in neuen , schönen Programmen üben .
Bei Dahlands wurde in diesen Ferien nicht gereist .
Der Landgerichtsrat bekam seinen Urlaub erst später , wo er nicht mit der Freizeit der Kinder zusammenfiel ; auch war er außerdem der Meinung , daß man diesen ersten Sommer in der Hauptstadt , die berühmt ist wegen ihrer schönen Lage , benutzen solle , die neue Heimat nach allen Richtungen hin kennen zu lernen .
Ja , er zeigte am ersten Tage der Ferien seiner Frau einen Hundertmarkschein und meinte heiter :
" Was wäre dieser blaue Zettel , wenn wir in eine Sommerfrische gehen müßten .
Er reichte ja keine einzige Woche für uns alle .
Dagegen aber hier , wo wir unser behagliches , helles und kühles Haus haben , wo wir in nächster Nähe immer von einem See zum anderen ziehen und in Waldesgründe tauchen können - wir wollen doch einmal sehen , wie viel vergnügte Extrastunden wir uns mit diesem Gelde machen können .
Ich sage nicht einmal , daß es reichen soll , " schloß er scherzend , " aber es macht mir Spaß , ein bestimmtes Ferienkonto anzulegen und nachher die Schlußrechnung zu ziehen . "
Die Rätin war einverstanden hiermit , meinte aber :
" Der Jugend wollen wir nur nichts davon sagen , sonst gehen ihre Wünsche wie gewöhnlich ins Ungemessene . "
" Wirklich ?
Nun , Ursels gewiß nicht , und sie gerade soll ein bißchen was haben .
Die beiden Großen finden leicht schon ihre Rechnung ohne uns , aber unser schüchternes Backfischlein , dem muß man helfen .
Mich dünkt , das hat Schule und nichts als Schule , von einem Vergnügen höre ich nie . "
" Und doch ist ihr schon geholfen , lieber Mann , " sagte die Rätin mit gerührter Stimme , " wenn wir ihr es auch nicht verschafft haben - ihre neue Freundschaft macht sie sehr glücklich . "
" Ach , mit der kleinen Schwarzbraunen , die neulich hier war ?
Geht das Ding seinen Gang fort ?
Na , das ist mir lieb ; das Kind gefiel mir , das soll also jedenfalls mit einbegriffen sein , wenn bei uns ein Extravergnügen los ist . "
" Willst du ihr das selbst sagen , lieber Mann ? Urselchen wird strahlen . -
Da kommt sie , sieh , ihr Gang ist ordentlich leichter geworden in der letzten Zeit - ich bin so froh , denn ich hatte mir schon Sorge und - Vorwürfe gemacht . "
" Vorwürfe - du ?
Die beste Mutter ? "
Die Rätin tat einen kleinen Seufzer , den ihr Mann aber nicht verstand .
Der rief Ursel gerade an :
" Na , mein Kind - » ledig aller Pflicht - hört der Bursch die Vesper schlagen « - wie heißt es noch bei Schiller ?
Oder lernt ihr keinen Schiller mehr - gibt_es jetzt andere Größen ? "
" Schiller ist immer noch für mich der Beste , " antwortete Ursel .
" Habt aber doch nicht allzuviel von ihm zu lernen in den Ferien ?
Ich wollte , du könntest deine Bücher Mal ganz in die Ecke werfen - oho , so was tut wohl mein ordentliches Töchterchen nicht ! -
aber doch beiseite packen , und ein frisches Mädel werden , ordentlich ein bißchen braun , so wie deine neue Freundin - wie heißt sie doch ? "
" Franzi ! " sagte Ursel mit seligem Ton und zeigte , daß auch ihre stillen Augen strahlen konnten .
" Franzi , richtig , und aus Wehrburg stammt sie , und ein kleines Gärtnermädel soll sie nun sein ?
Hm , da hat sie wohl keine Ferien wie du ? "
" Eigentlich nicht , aber - " Ursel stockte , sie wußte gar nicht , wo dies hinaus wollte .
" Aber man könnte vielleicht etwas dazu tun , daß sie welche bekommt ? "
" Papa ! "
" Du kannst ihr ja Mal arbeiten helfen , damit sie dir nachher spielen hilft !
Rackere du nur 'n bißchen mit im Garten , was sagst du dazu ? "
" Papa ! "
Ursel hob wahrhaftig die Arme und - Papa tat desgleichen .
" Na , komme doch , Mädel , was hältst du dich noch zurück ?
Spring deinem Papa Mal ordentlich an den Hals ! "
Ursula tat es , aber ihr Gesicht blieb versteckt und Papas Rockaufschlag war gleich darauf naß .
Er hob sie sanft in die Höhe und schüttelte den Kopf .
" Siehst du , Kind , " sagte er dann mit liebevollem Ernst , " das ist es gerade , was du dir abgewöhnen sollst .
Dieses Scheue , Wortkarge , immer gleich zu Tränen Geneigte .
Es ist immer , als geschähe dir Unrecht ; meinst du , ich sehe das nicht ?
Du bist ja unser gutes Kind , machst uns keinen Kummer , nur - man kann dich nicht anfassen , gleich denkt man , es zerbricht was .
Und du solltest wissen , Papa packt gern ein bißchen fest zu ! "
Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küßte sie herzlich .
" So , nun Lauf , und bei der ersten Fahrt , die wir machen , lädst du die Franzi ein .
Denke dir nur was Hübsches aus . "
Dahin lief Ursel , und um in dieser Stimmung niemand Rede stehen zu müssen , stieg sie bis auf den obersten Hausboden hinauf , setzte sich in eine Ecke und - ja , sie tat gerade das , was sie nicht sollte : sie weinte .
Aber es war anders als sonst , ganz anders , und als sie ihre Augen trocknete , hatte sie das Gefühl , als kämen fürs erste keine Tränen wieder hinein .
Und dann faßte sie einen Entschluß :
sie wollte ihr Tagebuch verbrennen !
Dies häßliche Buch , in dem sie sich benommen hatte wie ein zurückgesetztes Kind .
Aber als sie es in der Hand hielt , besann sie sich doch anders .
Sie wollte noch heute was hineinschreiben , zur Warnung !
Und wenn je wieder undankbare Stimmungen sie befielen , wollte sie darin lesen !
So saß sie mit glühenden Wangen im Kinderstühlchen und schrieb einen neuen Stoßseufzer in das blaue Heft , aber der klang anders als vor vier Wochen .
Axel , der sie sitzen sah , rief entsetzt :
" Na , wer büffelt denn am ersten Ferientag ? "
Da schlug sie ihr Heft zu , verbarg es an seiner alten Stelle und lief hinaus .
" Du , Axel , wenn die Eltern bald eine Fahrt mit uns machen wollen , was würdest du wählen ?
Welcher Ausflug ist wohl der schönste ? "
" Die Ursche wird vergnügungssüchtig ! " wunderte sich der Primaner .
" Es ist nur wegen Franzi , " rief sie , " die kennt noch nichts !
Sie soll nämlich mit ! "
Axel nahm eine kritische Miene an .
" Hm - fein wäre es ja , zum Jagdschloß Georgental zu fahren , oder nach dem Rautener See - "
" Aber das ist alles so weit ; so unbescheiden wollen wir doch nicht gleich sein . "
" Na , höre Mal , Ferien sind Ferien , bescheiden sein können wir alle Tage ! " sagte Axel lachend .
" Aber wenn du meinst - Rohrwerder wäre ja auch nicht übel zum Anfang . "
" Da muß es jetzt entzückend sein , es ist ja gerade die Zeit der wilden Rosen .
Ich Stimme für Rohrwerder . "
" Und das wird wohl durchgehen , " meinte Axel wieder lachend .
" Du bist ja gar nicht zu kennen mit deiner Energie !
Ordentlich anspruchsvoll ! "
" Ach , Axel , warum neckst du mich schon wieder ! "
" Ich neck dich gar nicht , oder wenn , so verstehe doch , daß man es gut meint . "
" Wirklich ? "
" I natürlich .
Sieh Mal , du warst bis jetzt eine solche alte Tränenweide , ein Kräutchen Rührmichnichtan , das macht einem keinen Spaß .
Solche Mädel guckt man nicht an , oder - man ärgert sie ! "
Ursel seufzte und sagte ergeben :
" Ich habe es ja immer gewußt , daß ich nicht nett bin ; darum war ich ja gerade so unglücklich . "
Axel machte ein recht verdutztes Gesicht , dann lachte er gutmütig und rief : " Nun wird es Tag !
Nicht nett !
Unglücklich !
Was das für Grillen sind .
Warum solltest du nicht nett sein ?
Und unglücklich ?
Das gibt es ja gar nicht bei Dahlands .
Weißt du was ? " fuhr er plötzlich wie erleuchtet fort , " du mußt Tanzstunden nehmen !
Diese alte krumme Haltung gefällt mir gar nicht ! "
Er puffte sie wieder ein wenig in den Rücken und fuhr fort : " Sieh dir doch die andere Schwarzbraune an , wie die sich hält , wie eine junge Tanne ! "
Ursel meinte , indem sie beglückt lachte :
" Aber Franzi hat erst recht keine Tanzstunde gehabt . "
" Nicht ?
Na , da könnt ihr ja zusammen welche nehmen , ich wäre auch nicht abgeneigt . "
" Ach Axel , wo denkst du hin ! " sagte Ursel ernst , " Frau Trautmann ist arm , Franzi arbeitet sogar für Geld , um Klavierstunden nehmen zu können , weil sie hofft , mit der Musik später gut zu verdienen . "
Axel sah betroffen aus .
" So ist das ?
Arme kleine Dirn !
Und dabei sieht sie so munter aus ? "
" Ja du , sie kann aber auch sehr ernsthaft sein , und was sie mir aus ihrem Leben erzählt hat , ist traurig genug . "
" Erzähle mir auch Mal etwas davon ! "
Axel hatte seinen Arm um Ursels Schulter gelegt , und einträchtig gingen die Geschwister den Gartensteig auf und nieder in eifrigem Gespräch , für die am Fenster sitzende Mutter ein mit Freude beobachtetes , selten gesehenes Bild .
Inzwischen saß Frau Trautmann wie immer , wenn sie mit der Hauswirtschaft fertig war , bei einer Näharbeit , heute in dem kühlen Hinterzimmer , denn es war drückend warm in dem auf der Sonnenseite gelegenen Wohnzimmer .
Franzi ließ sich aber nicht davon anfechten , sie übte !
Gerade heute hatte sie der Mutter erzählt , daß Herr Fritze , der Schloßorganist , ihr auch während der Ferien Stunden geben wolle , da er nicht verreise ; sie könne sogar zweimal die Woche kommen , unter denselben Bedingungen wie sonst .
Also glühte sie heute vor Eifer !
Der Obergärtner kam aus dem großen Garten herüber , hörte das Klavierspiel im Wohnzimmer und kehrte verdrießlich auf der Schwelle wieder um .
Herr Bauer war ein wortkarger Mann , durch den frühen Tod seiner Frau und die daraus entstandenen häuslichen Sorgen grämlicher und barscher geworden , als in seiner sonst gutmütigen Natur lag .
Nur gegen Frau Trautmann war er immer höflich und rücksichtsvoll , denn er mußte zugestehen , daß sein Hauswesen seit langem nicht in so guten Händen gewesen .
Auch schmeichelte es ihm gewissermaßen , daß die Frau seines Wehrburger Kollegen , dessen höhere Bildung er immer anerkannt hatte , und die selbst eine so feine , fast damenhafte Persönlichkeit war , für ihn und seine Hausgenossen so treulich und anspruchslos sorgte .
Er bezahlte sie ja auch gut , meinte er freilich im stillen , besser als je eine Haushälterin , und er hatte ja auch die Tochter mit aufgenommen .
Nun , in dem großen Haushalt aß sich so ein junges Ding am Ende mit durch , auch machte sie sich recht nützlich , aber - dennoch war die Franzi ein Punkt in seinen Gedanken , bei dem er oft den Kopf schüttelte .
Was dachte sich Frau Trautmann eigentlich von der Zukunft des Mädchens ?
Es war groß und kräftig für die sechzehn Jahre , warum ließ die Frau ihre Tochter nicht in eine Stellung gehen ?
Auch heute grübelte der Obergärtner über Franzis Zukunft , und als er Frau Trautmann allein sitzen sah , beschloß er , einmal mit ihr zu reden .
" Warm heute , Frau Trautmann , " sagte er im Nähertreten und lüftete seine Mütze .
" Ja , es ist eine rechte Hundstagstemperatur , " entgegnete die Angeredete freundlich , " man kann sich für alle freuen , die aus den Schulstuben heute entlassen sind . "
" Hm , ja , meine drei sind auch ziemlich aus Rand und Band . Habe sie auch gleich im Garten angestellt .
Übrigens - was ich sagen wollte - dann erhält ja die Franzi nun auch Ferien beim Organisten ? "
" Nein , im Gegenteil , " und Frau Trautmann erzählte den gütigen Vorschlag des alten Lehrers .
" So !
Und ich hoffte , man bekäme nun ein Weilchen Ruhe vor dem Üben . "
" Ist es Ihnen so unangenehm ? " fragte Frau Trautmann erschrocken .
Herr Bauer fuhr sich durchs Haar , und halb verlegen , halb entschlossen meinte er dann : " Na , mir ja eben nicht , bin ja nicht gerade viel im Zimmer , aber - "
" Sie finden doch nicht , daß das Mädchen darüber etwas im Hause versäumt ? "
" I , nein , auch das nicht , aber sagen Sie Mal - was denken Sie sich eigentlich bei diesem vielen Klavierspiel , hat es wirklich einen vernünftigen Zweck ? "
Frau Trautmann lächelte wehmütig .
" Gewiß , Herr Bauer , ich erhoffe sehr viel davon .
Es kann dereinst die beste Erwerbsquelle für meine Tochter werden .
Sie hat die große Liebe und die gute Anlage zur Musik , und Klavierstunden werden besser bezahlt als manches andere . "
" Wirklich ?
Meinen Sie ? "
" Ja , Herr Bauer !
Franzi und ich könnten den ganzen Tag sticken und nähen , bis wir so viel haben , was sie später in ein bis zwei Stunden am Klavier verdienen kann .
Dafür ist es eben eine Kunst . "
" Na ja , das gebe ich zu , daß dies ewige Sticheln und Rasseln auf der Maschine ein schlechtes Geschäft ist ; und besonders , daß Sie sich noch so anstrengen , Frau Trautmann !
Gebe ich Ihnen nicht genug Gehalt ? "
" Durchaus , Herr Bauer , ich bin völlig zufrieden . "
" Aber warum gönnen Sie sich niemals Ruhe ? "
" Mein Sohn , " sagte sie einfach , " Sie vergessen meinen Wilhelm ; das Studium kostet viel Geld . "
Auch damit war der Obergärtner nicht recht einverstanden .
" Freilich , warum müssen alle Söhne studieren ?
Ich werde mich hüten , meinem das zu erlauben . "
" Und Sie werden es auch nicht schwer haben .
Ihr Ältester zeigt so ausgesprochene Neigung für Ihren eigenen Beruf - "
" Soll er auch , kann es deshalb doch weiter bringen als ich .
Gebe ihn nachher in die Landschaftsgärtnerei . "
" Sehen Sie , " lächelte Frau Trautmann , " Sie wollen auch höher mit ihm hinaus , wie Sie das jedenfalls von mir glauben !
Das ist aber nicht der Grund , bester Herr Bauer , ich denke nicht an hoch oder niedrig - unsere Stellung war wirklich bescheiden genug , aber wir waren sehr glücklich .
Daß mein Mann jedoch nicht gelitten hätte bei der erzwungenen Aufgabe seines eigentlichen Berufs , wer wollte das leugnen ?
Nun fürchte ich aber nichts mehr , als meinen Sohn in einen Beruf zu drängen , der seinen Fähigkeiten und Neigungen nicht entspricht , ihn von dem abzuhalten , wozu alles in ihm liegt .
Unter den glücklichsten Verhältnissen wäre Wilhelm nie Forstmann geworden , wie sein Vater ; in ihm ist der Zug meiner Familie , er hat von kleinauf lehren und Schule halten wollen !
Und meinen Sie nicht , daß es sehr schwer ist , gerade bei einer solchen ausgesprochenen Neigung in einen praktischen Beruf treten zu sollen ? "
Herr Bauer schwieg und dachte , daß in dieser Frau auch die Neigung ihrer Familie läge , lehrend zu überzeugen ; er kam nicht gegen sie auf !
" Also die Franzi übt weiter , und die Mutter stichelt weiter und der Sohn studiert ! " sagte er endlich mürrisch .
" Wie weit ist er denn eigentlich ? "
" Im zweiten Semester .
Es war unser Glück , daß er schon auf der Universität war , als die Schicksalsschläge über Wehrburg kamen .
Das Gehalt meines Mannes wurde noch ein Jahr weiter bezahlt , so war doch für das Erste gesorgt . "
" Hm , und wo bleibt er denn in den Ferien ? "
Frau Trautmann zögerte einen Augenblick .
" Eine Einladung in ein befreundetes Pfarrhaus auf dem Lande hat er , aber - kurze Zeit möchte ich ihn doch auch gern sehen .
Ich wollte Sie schon fragen , Herr Bauer , ob er etwa acht Tage hier wohnen dürfte - natürlich gegen Kostgeld . "
" Ich habe Ihren Mann sehr hochgeschätzt , " sagte der Obergärtner .
" Davon kann nun keine Rede sein , " sagte der Obergärtner barsch , " das heißt von dem Kostgeld ; aber sonst kann er ja gern die kleine Kammer oben beziehen , wenn es dem Herrn Studenten gut genug ist . "
Frau Trautmann nahm ihre Brille ab , weil sie feucht geworden , und sagte dankbar :
" Sie tun viel für uns , Herr Bauer ; ich wollte , die Kinder könnten es Ihnen einmal lohnen . "
Der Obergärtner rückte an seiner Mütze und sprach ernst :
" Ich habe Ihren Mann sehr hochgeschätzt , Frau Trautmann , und - mit Ihnen meine ich es nicht anders , wenn - na , wenn - "
" Wenn Sie auch nicht immer mit mir einverstanden sind ! " sagte Frau Trautmann lächelnd .
Er schloß ebenfalls mit Humor :
" So ist_es ! " stand auf und ging .
Nun hatte Frau Trautmann auch ihren Ferienplan .
Ihr Ältester sollte kommen !
Jetzt noch nicht , die Universitätsferien begannen etwas später ; aber schon die Aussicht erfüllte ihr sorgengewohntes Herz mit Freude und tiefer Dankbarkeit .
12. Kapitel .
Die Fahrt nach dem Rohrwerder Gibt es einen schöneren Landungsplatz als in Wendenburg am großen See , in unmittelbarer Nähe des herrlichen Fürstenschlosses ?
Kommt man aus den engeren Straßen der Innenstadt auf den großen freien Platz , von den stolzen Gebäuden des Museums , des Theaters und der Regierung umgeben , und sieht zwischen dem Grün der Marstallhalbinsel und den herrlichen Baumgruppen des Burggartens die weite Fläche des blauen Sees , mit den weißen Segeln und den wimpelgeschmückten kleinen Dampfern , da tut nicht nur der Fremde einen Ruf der Bewunderung , auch der Einheimische kann dieses Bild selten sehen ohne den frohen Stolz :
" Schön ist die Heimat , und schön und gut wohnt sich es im sicheren Schatten dieses Fürstenhauses ! "
Auch Ursula Dahland empfand solche fast andächtige Bewunderung , und jetzt - mischte sich auch kein Heimweh mehr hinein .
Steinberg war , wenn auch nicht vergessen , so doch verschmerzt , Wendenburg war zur Heimat geworden !
War das heute ein Vergnügen , mit der ganzen Familie so aufs Schiff zu steigen , und immer dicht neben sich ihre Franzi !
Da man früh gekommen war , konnte man sich noch die Plätze aussuchen ; die Jugend nahm das ganze tiefer gelegene Halbrund am Hinterteil des Schiffes ein , und Axel und Ursula wetteiferten darin , Franzi , die zum ersten Male auf dem See war , alles zu zeigen und zu nennen , was man von der Landseite nie sah .
Wie ein Märchen erhoben sich Grotten , Terrassen und Figuren scheinbar unmittelbar aus der Flut , Schwäne zogen dicht am Ufer des Burggartens langsam ihre Kreise , Möwen mit den weißen Schwingen schossen schimmernd darüber hin .
Immer weiter öffnete sich der See , fern schienen die waldigen Ufer ; aber da mitten drin tauchte ein grünes Eiland auf , aus dessen dichtem Baumwerk ein grauer Wartturm mit Zinnen hervorlugte .
" Ist dort auch eine Burg ? " fragte Franzi lebhaft , " solch einen Turm hat Wehrburg . "
" Nein , es ist nur ein Aussichtsturm , " belehrte Axel , " da steigen wir hinauf . "
" Und was liegt da rechts ?
O die hübschen Häuschen - der liebliche Strand ! "
" Nicht wahr , " sagte Ursula , " als ich Heckendorf so zum ersten Male auftauchen sah , war mir es auch , als könnten dort nur glückliche Menschen wohnen . "
" Häuschen sagen Sie , " mischte sich Axel wieder ein , " lassen Sie das nicht die Besitzer hören !
Wenn wir näher kommen , werden Sie schon sehen , daß es Vielen sind , oder » Fillas « , wie die Leute sagen . "
Das Schiff hielt auf Heckendorf zu , und man erkannte nun deutlich die stattlichen Häuser mit Balkonen und Loggien , auch ein stolzes " Logierhaus " .
" Wir halten heute zuerst in Heckendorf , " sagte Inge , " schade , daß wir nicht daran gedacht haben , wir hätten die Familie Leuthold mobil machen sollen !
Ist denn niemand zu sehen , daß man ein Zeichen geben könnte ? "
" Du kannst ja aussteigen , " schlug der Vater vor , " und sehen , wen du mitbekommst ; es fährt jetzt fast alle Viertelstunde ein Schiff zur Insel hinüber .
Ist es dir recht , Mama ?
Du hast ja wohl Kuchenberge eingepackt ? "
" Sehr recht ; tu das , Inge , an Kuchen fehlt es sicher nicht . "
Inge war schon auf dem Steg und lief eilig den Strand entlang , auf eines der weißen Häuser zu .
Die Weiterfahrenden sahen sie dann gleich darauf mit Anna Leuthold in der Tür erscheinen und winken , was sie für eine Bejahung ihrer Aufforderung hielten .
In zehn Minuten hatte man die Insel erreicht ; Schwäne schwammen auch hier , wie zum Empfang , in der von dichtem Rohr umsäumten Einfahrt , und fröhlich stieg man an Land .
Axel hatte schnell den besten Platz vor der Wirtschaft ausgesucht , Mama sprach mit dem Kellner , und die Mädchen packten Kuchen aus , während die Kleinen sofort jauchzend der großen Schaukel zustürzten .
Der Landgerichtsrat blieb in der Nähe des Landungssteges und schaute nach dem nächsten Schiff aus .
Sehr bald sah man den " Greife " vom gegenüberliegenden Ufer sich nähern , und die winkenden Tüchlein an Bord kündeten die Freunde an .
Es war aber nur Anna mit ihrem Vater .
Frau Leuthold hatte sich den Fuß verstaucht und wollte es nicht wagen , eine Partie zu unternehmen , ließ aber dringend bitten , Familie Dahland möchte doch auf der Rückfahrt in Heckendorf aussteigen und den Abend dort mit den Freunden verbringen ; die Patientin habe schon rechte Ungeduld und Sehnsucht nach lieben Menschen .
" Das ließe sich vielleicht machen , " meinte die Rätin , " wir dürfen dann nur hier nicht zu spät wegfahren , damit wir in Heckendorf nachher noch Anschluß ans letzte Schiff finden . "
" Oder wir gehen zu Fuß nach Hause , " schlug Axel vor .
" Aber die Kleinen , " unterbrach Mama , " Papa wollte ja , es sollte heute ein richtiger Familienausflug werden . "
" Nun , das muß sich finden , " meinte Inge , " vorläufig bitte zum Kaffee , meine Herrschaften ; ich sehe , wir Nachzügler sind noch zur rechten Zeit gekommen . "
Riesige Kannen mit Kaffee und Milch erschienen jetzt , Zuckertürmchen und Kuchenberge der schönsten Art .
Mama hatte nicht gespart , in Gedanken an Papas blauen Schein !
Selbst die Kleinsten wurden einmal wirklich satt , wie sie versicherten , und sie stöhnten etwas , als es dann hieß :
" Zum Aussichtsturm ! "
Einige Stimmen wurden auch laut : man kennt ja die Aussicht schon ; aber Papa entschied :
" Wer nach Rohrwerder fährt , steigt auch auf den Turm - "
" Und geht nachher um die ganze Insel , nicht wahr , Papa ? " fiel Ursula ein .
" Gewöhnlich ja ; du willst natürlich mit deiner Freundin auf Entdeckungsreisen gehen ? "
" Aber heute wird die Zeit kaum reichen , " meinte Mama , " man braucht eine Stunde zu dem Gang , und wenn wir zur rechten Zeit in Heckendorf sein wollen , müssen wir mit dem Sechsuhrschiff fort . "
" Nun , das findet sich ; jetzt Mal erst hinauf .
Sehen Sie , Fräulein Franzi , ist das nicht der Mühe wert ? "
Sie kamen auf den hochgelegenen freien Platz , wo das Häuschen mit dem Turm lag , und machten sich sofort an die Besteigung .
Nur Mama blieb mit den Kleinen unten , denn für schmale Wendeltreppen fand sie die kleinen Vagabunden noch nicht bedächtig genug .
Sie standen unten und schwenkten ihre Hüte , und wunderten sich , daß die Gestalten oben auf der Plattform so klein erschienen .
Elfchen , die schon Mal vom " Riesenspielzeug " gehört hatte , klatschte in die Hände und meinte , nun könnte sie es glauben , daß das Riesenfräulein sich den Bauer und die Pferde mit nach Hause genommen hätte .
Oben sah man indessen durchs Fernrohr , durch bunte Gläser , kaufte Ansichtskarten beim Turmwärter und sprach mit den Fremden über die einzelnen Punkte .
Da lag die Stadt mit ihren Türmen , der liebliche Strand von Heckendorf , dann ein stattliches Bauerndorf mit hübschen neuen Häusern , umgeben von schon gelb schimmernden Kornfeldern ; weiterhin sah man einen kunstvoll durch den See gebauten Damm , der ein paar abgelegene Ortschaften mit der Stadt verband , und endlich schimmerte aus dichtem Park der helle Giebel eines Schlösschens .
" Das ist Herrnhofen , der Sommersitz unserer Vorestin-Mutter , " erklärte Ursel , " dort ist ein herrlicher Park mit dem Kinderhäuschen und den kleinen Gärten der Prinzen und Prinzessinnen , die jetzt alle nicht mehr spielen .
Und dann ist außerhalb des Parks ein Platz am See , da steht die » Abendbank « ; von dort hat die gute Fürstin immer nach dem Schiff ausgesehen , das den Fürsten zurückbrachte , wenn er in Regierungsgeschäften zur Stadt gewesen war .
Dort soll sie Abends sehr oft noch sitzen , aber man darf leider dorthin nicht gehen ; es steht eine Tafel da , mit » Verbotener Weg « bezeichnet . "
" Das verdenk ich ihr nicht , " meinte Franzi , " Fürsten müssen sich so viel angucken lassen , daß sie sich gewiß manchmal nach Einsamkeit sehnen .
Unser guter Graf ist ja früher auch oft an den Hof gegangen ; der wußte viel davon zu erzählen , wie die Höchsten im Lande , von denen wir immer denken , sie haben es so gut und brauchen sich keinen Wunsch zu versagen - wie die gerade so viel arbeiten und ihre Zeit einteilen , weil sie so viel wissen müssen und für so unendlich vieles und großes verantwortlich sind . "
" Ja , " sagte Ursula , " und Leid bleibt ihnen auch so wenig erspart wie uns !
Die Fürstin hat viel erlebt , die weiß , wie_es betrübten Menschen zu Mut ist ; darum ist sie auch so gut und hilft , wo sie kann . "
" Das denke ich mir das größte Glück der Fürsten ! " sagte Franzi bestimmt .
" Nun , ihr seht ja so ernst aus , " redete der Landgerichtsrat sie jetzt an , " nun möchtet ihr wohl gern weiter ?
Kommt nur , ich sehe unten neue Gäste nahen , die wahrscheinlich herauf wollen ; laßt uns Platz machen . "
Der Wärter gab ein Zeichen , daß niemand von unten aus die schmale Wendeltreppe bestieg , bis die Familie des Landgerichtsrats unten war ; denn ein Ausweichen war unmöglich .
" Papa , Papa , " rief Elfchen , " ihr wart ja so klein - wie das Riesenspielzeug ! "
" Der Tausend , da will mein Kind ihren Papa am Ende in die Schürze sammeln !
Na - mache Mal auf dein Kittelchen , Papa springt hinein ! "
Elfchen sah ihren Vater sehr verdutzt an , dann sprang sie aber doch lieber in seine Arme und ließ sich ein wenig tragen , während die kleinen Jungen mit Geschrei den Abhang hinuntertummelten .
" Und nun will ich euch was sagen , " meinte Papa , " jetzt teilen wir uns in zwei Lager .
Uns Alten und uns Kleinsten ist es , glaube ich , zu heiß zu dem Marsch um die Insel ; wir setzen uns hübsch in den Schatten und fahren zur rechten Zeit hinüber nach Heckendorf .
Ihr Jungen aber dürft ausschwärmen .
Doch nehme jeder seine Fahrkarte - hier - und wer nicht um sechs Uhr bei uns am Schiff ist , der kommt mit dem nächsten .
Einverstanden ? "
Alle waren es und grüßend und winkend ging die Gesellschaft auseinander .
" Axel , ich rate Ihnen , bleiben Sie bei uns , " sagte Anna Leuthold scherzend , " die beiden Backfische sehen mir so aus , als verzichteten sie auf jede Gesellschaft . "
" Ja , Axel , " sagte auch Inge , " bleibe bei uns , du kannst so nett unsere Jacken tragen . "
" Sehr schmeichelhaft , " erwiderte Axel lachend , " die eine will mich als Packträger , die andere gibt mir zu verstehen , daß meine Gesellschaft lästig sein könnte ! "
" Uns doch nicht , " verteidigte sich Anna , " aber sehen Sie nur die beiden an , die sind gar nicht zu halten . "
Es war so .
Ursula und Franzi waren auch nach Kindermanier den Abhang hinabgelaufen , hielten sich nun an den Händen und verschwanden in dem tiefen Baumschatten .
Sie sprachen zuerst gar nicht , sahen sich nur seelenvergnügt an und dann meinte Franzi :
" Hier ist es wie verzaubert , so still ! "
Niemand begegnete ihnen ; die meisten Menschen saßen noch beim Kaffee oder blieben beim Turm , denn es war ungewöhnlich warm zum Gehen .
So kam es den beiden Mädchen vor , als gehörte ihnen die Insel allein .
" Verirren können wir uns doch nicht ? " fragte Franzi .
" Wenn wir diesen Weg verfolgen , gewiß nicht ; wir sehen ja immer den See durch die Bäume schimmern , und allmählich kommen wir dann herum um unser kleines Erdenrund und beim Landungsplatz wieder an . "
Aber sie blieben nicht auf dem Wege .
Links taten sich jetzt die Bäume auseinander und da schimmerte eine Wiese , so rotblühend , wie sie nie eine gesehen zu haben glaubten .
Da mußte ein Strauß gepflückt werden , das hielt nicht lange auf - in wenigen Minuten hatten sie die Hände voller Blumen .
" Wir sind wie Rotkäppchen , " sagte Franzi lachend , " das vom Wege abbiegt , um Blumen zu pflücken !
Aber böse Wölfe gibt es hier nicht , und böse Menschen hoffentlich auch nicht .
O , wie ist es hier einsam . "
" Schön , wunderschön !
Wollen wir nun auf den Weg zurück ? "
" Können wir nicht quer über die Insel gehen ?
Eine Entdeckungsreise durch das Innere Afrikas ? "
" Das können wir , vielleicht kommen wir so schneller ans Ziel zurück . "
Aber der Weg hörte auf , sie kamen an ein Brachfeld , fingen an darüber zu stapfen , fanden das beschwerlich , weil hier außerdem die Sonne so brannte , und meinten , der erste Weg sei der schönste .
Sie kehrten also um , bis sie wieder das Wasser blinken sahen , und nun sicher gingen .
" Man sollte nicht denken , daß die Insel so groß ist , " sagte Franzi sehr verwundert , " Wiesen und große Kornfelder hätte ich nicht darauf vermutet .
Sogar Kühe - hörst du die Glocken ? "
Ursula fürchtete sich ein wenig ; aber als Franzi lustig auf eine rotbunte zusprang , mit lautem " Buhköking von Halberstadt " - ließ sie sich nichts merken und stand still , nur dunkelrot da , bis eine schwarzweiße Kuh herantrottete und zutraulich ihren Strauß beschnupperte .
Aber " komme jetzt , Franzi , " rief sie doch , " wir kommen sonst wieder vom Weg ! "
Die Freundin kehrte zurück und sie gingen ein Weilchen still vorwärts .
Da kamen endlich die wilden Rosengebüsche , an die Ursula schon immer gedacht hatte , und mit lautem Entzücken machten sie sich abermals ans Pflücken .
" Es ist die höchste Zeit , daß wir herkamen , " sagte Ursel , " sieh , wie sie schon abfallen . "
" Ja in Rosen steht die Welt , Aber ahnungsbang Zittert durch das Ährenfeld Schon ein fremder Klang .
Bald ertönt der Erntereigen , Und die Rose muß sich neigen , Und die Vögel werden schweigen .
O wie liegst du dann so weit , O du schöne Rosenzeit ! " sang Franzi .
Ursel hatte sich ins Gras geworfen und still zugehört .
" O du schöne , du schöne Rosenzeit ! " jubelte Franzi noch einmal und kauerte sich dann auch auf den grünen Boden ; sie fingen an , die Blumen zu ordnen und mit langen Halmen zu binden .
" Sieh da durch , zwischen den Bäumen , Franzi ; siehst du das Schloß ? "
" Herrlich , auf dem goldigen Himmelsgrund !
Aber die Sonne steht schon ziemlich tief , sollte es nicht schon Zeit für uns sein ? "
Sie sprangen auf und ließen sich nun wirklich durch nichts mehr aufhalten , sondern strebten der Landungsstelle wieder zu .
" Der Weg ist doch länger und unsere Zauberinsel größer , als wir annahmen . "
" Gut , daß wir unsere Schiffskarten haben ; ich vermute , die Eltern sind schon in Heckendorf . "
" Ja , sicher , es muß viel mehr als sechs Uhr sein . "
" Nun , Papa hat es uns ja erlaubt ; wir nehmen das nächste Schiff . "
Sie gingen aber doch unwillkürlich schneller , denn sie hörten ein Tuten , jetzt das Anschlagen der Schiffsglocke - eins , zwei - sie fingen an zu laufen - drei !
Die Mädchen sahen sich an und machten etwas zweifelhafte Gesichter .
Jetzt kam gerade die Landungsstelle in Sicht und - dahin fuhr das Schiff !
Besetzt bis auf den letzten Platz , wie es schien .
" Nun , es kann noch nicht das letzte sein , " ermutigte Ursel , " und dies sieht beängstigend voll aus ; da hätten wir kaum Platz gefunden .
Nun setzen wir uns hier gemütlich hin und warten das nächste Schiff ab . "
Als sie aber auf den Platz vor dem Wirtshaus kamen , war es dort merkwürdig menschenleer .
Der abgehetzte Kellner schlenkerte langsam von einem Platz zum anderen und nahm schon die Decken ab .
Es sah aus , als rechnete man unter keinen Umständen mehr auf Gäste .
Als er die jungen Mädchen so atemlos daherkommen sah , sagte er lakonisch :
" Das Schiff ist fort . "
" Ja , das sehen wir .
Wann kommt das nächste ? "
" Heute nicht mehr . "
" Was !!
Wie spät ist es denn ? "
Er zog seine Uhr .
" Ein Viertel nach sieben Uhr . "
Die beiden Mädchen sahen einander mit unbeschreiblichem Erstaunen an .
Über zwei Stunden hatten sie zu ihrem Gang um die Insel gebraucht !
Und kein Schiff kam mehr ?
" Aber , " begann Ursel unsicher , " es fahren doch sonst später noch Schiffe ; das letzte ist erst nach acht Uhr in Wendenburg . "
" Ja , sonst wohl ; aber der » Greife « hat Havarie gehabt , daher fällt die letzte Fahrt aus .
Die » Möwe « brachte den Bescheid mit , daß alle Herrschaften mitfahren sollten , weil es heute sonst keine Fahrgelegenheit mehr gibt . "
Ein Klingeln vom Hause rief den Kellner ab , und die beiden Mädchen standen ratlos allein .
" Daß der » Greife « nicht mehr fährt , dafür können wir nicht , " sagte Ursel , " wer konnte das ahnen ?
Deswegen werden uns die Eltern auch nicht böse sein . "
" Ja , aber - wie wollen wir denn fortkommen ? " fragte Franzi kleinlaut , " wollen wir etwa hinüberschwimmen ?
Wir sind ja doch auf einer Insel ! "
Jetzt trat der Wirt aus dem Hause und meinte tröstend :
" Vielleicht kommt noch ein Ruder- oder Segelboot vorbei , das die jungen Damen aufnimmt . "
" Ja , das kann sein , " rief Ursel erleichtert , " Axel ist ja auch öfters noch Abends unterwegs . "
" Dann müssen wir uns aber ans Ufer stellen , damit man uns sieht ! " schlug Franzi vor .
" Ist den Damen vielleicht noch eine Erfrischung gefällig ? " fragte der Wirt , und Ursel antwortete mit Haltung :
" Nein , wir danken . "
" Ich habe nämlich kein Geld , " flüsterte sie der Freundin zu , " du etwa ? "
" Nein , ich auch nicht , " klang es leise zurück .
" Also gänzlich ohne Mittel - ausgesetzt auf einer wüssten Insel - der Nacht und Einsamkeit preisgegeben ! " sagte Franzi pathetisch , " die reine Robinsonade ! "
" Nun , so gar wüst ist es ja nicht , " meinte Ursel , " und der Wirt behielte uns vielleicht menschenfreundlich genug hier , auch ohne Geld , wenn wir uns auf meinen Vater berufen .
Aber schrecklich wäre es doch !
Komme , laß uns unseren Wachtposten beziehen ! "
Sie stellten sich auf den Steg , der in den See hineinging , und sahen nun erst , wie wunderherrlich das abendliche Bild geworden war .
Der ganze westliche Himmel in rote Glut getaucht , schwarz und scharf davor sich abhebend Türme und Kuppel des Schlosses .
" Wie eine Fata Morgana schwebt es zwischen Luft und Wasser , " sagte Ursel , " und ebenso unerreichbar für uns ! "
Da riß Franzi ihr Tuch aus der Tasche und rief : " Ein Schiff , ein Schiff !
Oder vielmehr ein Boot , ein herrlicher Segler !
Siehst du , wie es vor dem Winde daherkommt ? "
Hierher !
Hilfe !
Hoiho !
" Und wie ist es bemannt ? " fragte Ursel , auch eifrig winkend , " ist Platz für uns ? "
" Platz genug , " rief Franzi , welche die schärferen Augen hatte , " ich sehe nur zwei Herren - nein drei . "
" Wie unangenehm , " seufzte Ursel , " das ist gewiß nicht sehr passend , wenn wir die anrufen . "
" Was sollen wir aber machen ? "
Und sie setzten beide die Hände an den Mund und riefen laut .
" Hierher !
Hilfe !
Hoiho ! "
Hell und melodisch schallten die jungen Stimmen über das Wasser , und wirklich , die Insassen des Segelboots schienen schon darauf zu achten .
Es veränderte seine Richtung etwas und kam schnell und stolz dem Ufer zu .
Nun sahen sie , daß der Bug des großen schlanken Bootes wie ein Schwan gebildet und die ganze Ausstattung schöner und reicher war , als bei den sonst hier üblichen Fahrzeugen .
" Sicher sind wir in dem Boot , " sagte Franzi rasch , " wenn die Herren nur nett sind - vornehm sehen sie aus - einer trägt Marineuniform - aber der in der Mitte sitzt , ist der Vornehmste .
- So , da sind sie ; nun mußt du sprechen , Ursel ! "
" Nein , bitte , du , " flehte diese .
Aber sie hatten es beide nicht nötig .
Der Seeoffizier legte schon die Hand an die Mütze und fragte höflich :
" Sind die jungen Damen in Verlegenheit ? "
" Ja , in der allergrößten ! " rief Franzi beherrscht .
" Wir haben die » Möwe « versäumt und wußten nicht , daß der » Greife « nicht mehr fährt , weil er Unglück gehabt hat . "
Das Boot war jetzt nahe herangekommen , und der andere Herr sagte : " Das ist recht bedauerlich ; wollen die jungen Damen sich dem » Schwan « anvertrauen und zu uns einsteigen ?
Wir bringen Sie sicher nach Wendenburg . "
" Wenn Sie so gütig sein wollen , " ließ sich nun auch Ursel vernehmen , " wir wären sehr dankbar , wenn Sie uns nur in Heckendorf absetzen wollten ; dort sind nämlich meine Eltern , mit denen wir zusammen nach der Stadt gehen wollten . "
Der Herr , der zuletzt gesprochen , wandte sich zu dem , der am Steuer saß , und dieser meinte höflich , aber bestimmt :
" Das wird nicht gut gehen .
Wir haben konträren Wind nach Heckendorf zu , wir kommen heute doppelt so schnell nach Wendenburg , als drüben ans Ufer , obwohl die Entfernung so viel geringer ist .
Wir müßten kreuzen . "
" Und ich muß um acht Uhr in der Stadt sein , " sagte der vorige Sprecher , " also fügen Sie sich , meine Damen ; wir bringen Sie in zwanzig Minuten heim , und Sie sind gewiß noch früher da als die Eltern .
Bitte ! "
Er streckte seine Hand aus und half Franzi hinein , während Ursel von dem Seeoffizier gestützt wurde .
Nun saßen sie auf der kleinen Bank , die sogar ein blau und weißes Polster hatte , dicht zusammen , erlöst und doch in einer seltsamen Verschüchterung .
Da die Herren sie aber zunächst nicht beachteten , sondern ihre Aufmerksamkeit dem Segel zuwandten und dann halblaut miteinander sprachen , fingen auch sie an zu flüstern .
" Märchen , Märchen , " sagte Franzi mit schon zurückkehrender Schelmerei ; " habe ich es nicht gesagt , auf der Insel geht es nicht mit rechten Dingen zu ? "
" Und dieses Boot , " flüsterte Ursel , " siehst du den Schwan ?
Kennst du Lohengrin ? "
" Die Sage wohl , aber im Theater war ich noch nie . "
" Ich auch erst zweimal , im Freischütz und im Lohengrin .
Oh , was wirst du zu Lohengrin sagen !
Es ist das schönste , was ich mir denken kann !
Da kommt der Held auch auf einem Schwanenschiff . "
Plötzlich schrie Franzi leise auf : " O sieh doch , sieh doch ! "
" Ah ! "
Die Fenster des Schlosses , das vor kurzem noch so dunkel auf dem hellen Hintergrund lag , wurden plötzlich von einem Strahl der untergehenden Sonne getroffen und leuchteten hell auf .
" Wie eine Illumination ! " rief Franzi in der entzückten Überraschung etwas lauter .
Da drehte sich der eine Herr , den sie in Gedanken den Vornehmsten nannten , ihnen zu und sprach :
" Vielleicht ist es eine wirkliche Illumination zu Ehren des Erbprinzen . "
" Ist der hier ? " fragten die Mädchen wie aus einem Munde .
Die Herren lächelten alle drei und der erste sagte wieder :
" Er soll angekommen sein , gestern abend spät . "
" Oh - wir haben ihn noch nie gesehen ! "
" Sind die jungen Damen keine Wendenbürgerinnen ? "
" Nein - doch eigentlich ja , wir sind aber erst seit kurzer Zeit hier . "
" Aha , vielleicht in Pension ? "
" Nein , " sagte Ursel , die sich über ihren eigenen Mut wunderte , " mein Vater ist hierher versetzt . "
" So , so . "
Die Sonnenglut erlosch jetzt , und Franzi sagte : " Oh - die prinzliche Illumination ist schon verschwunden ! "
" Aber der Prinz ist noch da , " sagte der Herr und lächelte in eigentümlicher Weise .
Plötzlich wurden die Mädchen sehr still und bekamen sehr große Augen und sehr rote Wangen .
Das Boot war mit großer Geschwindigkeit dahingeglitten - in unmittelbarer Nähe lag jetzt das Schloß !
Man konnte deutlich in die Grotte hineinsehen , wo der bemooste Neptun geheimnisvoll hauste - man erkannte die Blumen auf den Terrassen - und niemand machte Miene , an all dieser Herrlichkeit vorbeizufahren , im Gegenteil : stolz und sicher schoß der Schwan auf den Anlegeplatz am - Burggarten zu !
Lakaien in der fürstlichen Livree sprangen herbei , und die beinahe zu Tod erschrockenen Mädchen wurden von ihren vornehmen Bootsgefährten an Land gehoben .
Dann sagte der Große mit dem edlen Gesicht :
" Als Fährgeld erbitte ich mir zwei von Ihren Rosen . "
Stumm hielten sie ihre Sträuße empor , er pflückte sich aus jedem eine Rose , grüßte freundlich und ging mit dem Seeoffizier davon geradewegs ins Schloß hinein !
Nun wandte sich der Steuermann zu den Mädchen und sagte lachend :
" Sie wußten also gar nicht , daß Sie mit dem künftigen Landesherrn gefahren sind ? "
Sie schrien beide leise auf , um sich dann gleich erschrocken die Hand vor den Mund zu halten .
" Nun , erschrecken Sie nur nicht hinterher !
Sie sehen ja , Ihnen ist nichts geschehen und Sie sind sicher und schnell hergekommen . "
" Und wir haben nicht einmal gedankt ! " rief Franzi entsetzt .
Aber der Herr meinte wieder :
" Seine Hoheit hat ja Ihre Rosen als Dank angenommen .
Nun kommen Sie nur , ich führe Sie hinaus .
Wäre es nicht so spät und hätte ich nicht Dienst - würde ich Sie noch ein wenig herumführen ; aber so ist es Ihnen wohl am liebsten , ich zeige Ihnen den kürzesten Weg .
Meinert , können Sie die Kette aufschließen ? " redete er den einen der Bediensteten an , " das wäre das bequemste . "
Und wirklich , die schwere Eisenkette , die quer vor den gitterlosen Eingang gezogen war und den Burggarten von der Außenwelt schied , senkte sich vor den beiden Mädchen , und nach einem gestammelten Dank und einem letzten freundlichen Gruß des " Steuermanns " standen sie draußen .
Wie geblendet blickten sie um sich : über die Schloßbrücke flutete gerade ein Strom heimkehrender Spaziergänger , und den beiden war_es , als müsse jeder einzelne ihnen das große Ereignis vom Gesicht ablesen .
" Mit dem künftigen Landesherrn ! " sagte Ursel endlich ergriffen , als sie ihre Allee erreicht hatten .
Franzi blieb stehen und sagte :
" Alles war wie im Märchen , nur der Schluß nicht !
Sonst geben die Mächtigen den armen Sterblichen drei Wünsche frei - das ist uns nicht geboten worden , Ursel ! "
" Hättest du gleich was gewußt ? " fragte diese bedenklich .
" Ich nicht , mir wäre_es gewiß so ergangen wie manchem im Märchen , der einen törichten oder verderblichen Wunsch getan ! "
Während die Mädchen solche Dinge erlebten , die man schon mehr Abenteuer nennen konnte , waren die Eltern mit der übrigen Gesellschaft gemütlich in der Leutholdschen Villa in Heckendorf eingetroffen .
Als man um sechs Uhr pünktlich von der Insel Rohrwerder abfuhr und die Backfische nicht da waren , litt Papa nicht , daß irgend jemand schalt .
" Ich habe es ihnen erlaubt - sie sind große , verständige Mädchen -
sie werden zur Zeit nachkommen . "
Aber - zwei der kleinen Dampfer waren schon vorübergefahren , Mama sah heimlich nach der Uhr und wollte ihren Fensterplatz , von dem sie auf den See blicken konnte , nicht aufgeben .
Als es sieben Uhr war , konnte sie ihre Unruhe nicht mehr verschweigen und schickte Axel nach dem Anlegeplatz .
" Natürlich , ich bin ja immer der Kundschafter , " meinte er , ging aber doch gutwillig .
Ziemlich bald kam er zurück und verkündete mit bestürzter Miene :
" Das letzte Schiff ist da und über und über besetzt , aber von unseren beiden Schwarzbraunen keine Spur .
Ich habe aufgepaßt wie ein Zollwächter ! "
" Aber Junge , es kann nicht das letzte sein , " rief Papa und zog erregt seine Uhr , " der » Greife « kommt um dreiviertel acht . "
" Ja leider - Papa , der » Greife « fährt nicht , ist kaputt .
Der ganze Schwarm ist mit der » Möwe « gekommen .
Die Mädel müssen sich furchtbar verspätet , vielleicht auf dem Werder verlaufen haben . "
" Aber das ist ja - "
" Nein , wie schrecklich ! "
" Ist das möglich ? "
" Was soll nun werden ? "
So tönten die erschreckten Ausrufe durcheinander .
" Es kann nicht anders werden , " sagte Axel , " als ich nehme ein Boot und segle hinüber und hole die Ausreißer . "
" Ja , das ist das einzige , " entschied Papa , " aber es müssen sichere Leute mit , der Wind scheint mir nicht unbedenklich .
Hinüber kommt ihr wohl , aber zurück ? "
" Wir müssen es doch versuchen , " sagte Axel und ging zu seinem alten Freund , dem Bootbauer Helms .
Die Kleinen , die das Ganze nicht recht verstanden und auch schon übermüde waren , fingen an zu weinen und wunderliche Fragen zu tun , bei denen Mama Angst und bange wurde , und Frau Leuthold schlug vor , die Kinder zu Bett zu bringen und einfach über Nacht dazubehalten .
" Nein , nein , beste Freundin , " sagte der Landgerichtsrat , " solche Einquartierung wollen wir Ihnen denn doch nicht zumuten .
Ich gehe zum Hotel und sehe zu , ob ich noch einen Wagen auftreiben kann , und sowie wir die Mädel haben , packen wir alles - schlafend oder wachend - auf und fahren heim .
Ist das eine Geschichte ! "
Kopfschüttelnd und erregt ging er hinaus , begleitet von Herrn Leuthold , und die Damen blieben in Unruhe zurück .
Die Kinder wurden mit den letzten Kuchenresten einstweilen getröstet , und dann wurde weiter gewartet .
Schneller aber als man gedacht , kehrte Axel zurück .
Auf dem See war ihm ein Boot begegnet , in dem er den Wirt von Rohrwerder erkannt hatte .
Den hatte er angerufen und nach den beiden Vermißten gefragt , und der Wirt hatte mit Sicherheit berichtet :
Zwei junge Mädchen mit schwarzbraunen Zöpfen , eines im weißen , das andere im schwarzen Kleid , seien von Vorüberfahrenden in einem Boot mitgenommen worden , sie müßten schon in der Stadt sein .
" Welch ein Glück ! " rief Mama , " hoffentlich war_es ein sicheres Boot . "
" Es soll ein besonders großes und schönes gewesen sein , " berichtete Axel und setzte hinzu :
" Es war übrigens sehr gut , daß es so kam - der Wirt schien nur einen Fischer unterwegs sprechen zu wollen - , denn wenn ich die Insel noch ganz erreicht hätte , würde ich wahrscheinlich mitsamt den Ausreißern drüben haben kampieren müssen ; das Zurückkommen ging sehr schwer ! "
" Das sage ich ja , " rief Papa , " wir haben starken Gegenwind .
Na , nun wollen wir froh sein , wenn die Geschichte gut abläuft .
Eine Droschke ist glücklich aufgetrieben , es kann sofort losgehen ; macht euch fertig . "
Auch der längste , hellste Sommertag nimmt ein Ende , und es war denn auch richtig stark dämmerig geworden , als die Familie zu Hause anlangte und - zu allgemeiner großer Erleichterung - die beiden Mädchen gesund und wohlbehalten schon vor der Haustür stehen sah , mit den Mienen größter , freudiger Erregung .
Die festschlafenden Kleinen wurden ins Haus getragen , und dann ging es an ein Fragen und Erzählen , an dem auch Franzi noch ihr Teil haben mußte , ehe sie nach Hause gebracht wurde .
" Welch ein Abenteuer ! " rief Inge beinahe mit Neid , " ich hätte euch wohl sehen mögen !
Habt ihr euch denn auch ordentlich benommen ?
Und Rosen hat der Erbprinz sich von euch ausgebeten ?
Habt ihr auch eure Namen gesagt ? "
" Nein , danach sind wir nicht gefragt worden . "
" Schade , man hätte nicht wissen können !
Denkt Mal , wenn ihr euch später beim jungen Landesfürsten einmal auf diese Begegnung hättet berufen können ! "
" Inge , was du dir denkst , " sagte Ursel kopfschüttelnd , " wie kann den hohen Herrn unser Name interessieren ! "
" Und wer war denn der andere Herr ?
Ein Seeoffizier , sagt ihr ? " fragte Axel , " das hätte mir nur passieren sollen !
Ich hätte die Gelegenheit gleich benutzt , mich etwas über die Karriere zu informieren ! "
" Mein lieber Junge , steckt dir die Marine noch immer im Kopf ? " fragte die Mutter besorgt , einen Augenblick das Abenteuer der Mädchen vergessend .
" Mehr denn je , beste Mutter , " erwiderte Axel feurig .
" Denke du nur auch schon recht viel daran und söhne dich in Gedanken damit aus ; bald kommt der Zeitpunkt der Entscheidung .
Du weißt , wenn mein Abitur Michaelis glückt . "
Mama seufzte und dachte , wie oft im Leben sie dann noch so in Gedanken am Strande auf den Sohn zu warten haben würde ! 13. Kapitel .
Was der Schloßorganist sagte Am Tage nach dieser ersten Ferienpartie , die so ganz anders ausgefallen war , als man gedacht hatte , gab es noch immer viel zu reden , zu erklären und zu staunen .
Als die Kleinen von Ursulas Abenteuer hörten , machten sie große Augen .
Elfchen beschloß heimlich , sich künftig auch zu verirren , und Robert versicherte :
" Ich komme nun auch immer zu spät ! "
- " Weil man dann mit_dem Prinzen fährt ! " fügte Bertram hinzu .
Nachdem die Kleinen sich noch angelegentlich erkundigt hatten , ob er eine Krone aufgehabt habe , und Ursel bereitwillig noch immer mehr erzählt hatte , spielten sie den ganzen Tag : " Verlassen auf der Insel . "
Sie standen am Strand mit weit ausgestreckten Armen und schrien um Hilfe , so jammervoll , daß mehr als einmal jemand erschrocken in die Kinderstube gestürzt kam , wo ihm dann bedeutet wurde :
" st , st , wir warten auf das Prinzenschiff ! "
Ursula ging natürlich Nachmittags zur Schloßgärtnerei .
Sie ahnte , daß Franzi nach dem gestrigen Vergnügen sich heute vielleicht besonders anstrengen müsse , um etwaige Versäumnis einzuholen ; vielleicht konnte sie ihr etwas helfen .
Wie erstaunt war sie daher , Franzi mit einem Buch anzutreffen !
Kaum konnte sie ihre Begrüßung mit der Frage einleiten :
" Nun , wie ist_es bekommen , das große Erlebnis ! " da rief Ursel schon : " Was hast du - eine verbundene Hand !? "
" Ja , denke dir , " sagte Franzi kleinlaut , " ich habe mich geschnitten , und so furchtbar , daß ich nicht arbeiten kann . "
" Aber Franzi !
Wie kam das ? "
" Ach , beim Kartoffelschälen .
Weißt du , es gibt jetzt so besonders viel Arbeit - das Mädchen muß auch mit im Garten helfen - da nahm ich mir vor , nach dem gestrigen himmlischen Tage heute wie toll zu schaffen , damit Herr Bauer nur nicht ärgerlich wird über meine Vergnügungen , wie ihm schon mein Klavierspiel immer nicht ganz recht ist !
Also stehe ich heute recht früh auf und mache mich ans Kartoffelschälen , damit Mine , die gestern bis spät Abends anderes zu tun gehabt hatte , sich heute nicht dabei aufhalten sollte .
Und die Kartoffeln - kannst dir wohl denken , daß es nicht wenige sind für unseren Tisch ! -
also , ich mache mir mein Messer recht schön scharf und schäle und schäle - immer flinker , so wie die Gedanken tanzten , und ich stellte mir vor , wenn der Prinz sähe , was für ein Aschenbrödel er gestern in seinem stolzen Schwanenboot gehabt hatte - da fuhr mir das Messer in die Hand , und so , daß ich ganz kalt wurde vor Schreck ! "
" O Franzi , Franzi ! "
" Natürlich war_es nachher nicht so schlimm ; wenn es nur erst zu bluten aufgehört hat , beruhigt man sich schon .
Aber die Verletzung ist gerade auf der bösesten Stelle , zwischen Zeigefinger und Daumen , das heilt nicht , wenn ich die Finger nicht ganz fest zusammengebunden lasse .
Anfassen kann ich also nichts ! "
" Welche Geduldsprobe , meine arme fleißige Franzi ! "
" Ja , und heute war Klavierstunde ; ich bin natürlich gleich hingegangen , um mich abzumelden , sicherlich für eine volle Woche . "
" Das tat Herrn Fritze gewiß leid . "
" Sehr ; ich sage dir , er wurde ordentlich ein bißchen zornig !
» Da hat man sich nun ausgedacht , Sie in den sogenannten Ferien gehörig vorwärts zu bringen - nun machen Sie so was !
Klavierspielerinnen müssen ihre Hände eben schonen . «
Ich sagte : » Aber Herr Fritze , das kann ich leider nicht « , und erzählte ihm das von den Kartoffeln ; da wurde er ganz wild .
» Ist es erhört ?
Sie müssen die Kartoffeln schälen für die ganze Gärtnergesellschaft ?
Das ist ja wohl beinahe 'n Scheffel ! «
Ich lachte und sagte , so viele wären_es gerade nicht , und ich müßte es auch nicht tun ; ich hätte es nur gern gewollt , weil so sehr viel Arbeit sei augenblicklich , und Herr Bauer mir doch so manche freie Stunde gönnte .
» Manche freie Stunde , « brummte Herr Fritze , » damit ist es , glaube ich , nicht weit her .
Ihre Hände reden doch deutlich davon ! « " Franzi unterbrach sich , ein wenig seufzend .
" Es ist ja wahr , meine Hände sehen jetzt greulich aus , und sind nicht immer so gelenkig , wie sie sein sollten . "
Sie schlug mit der linken Hand einen kleinen Kreis und fuhr dann fort :
" Daß Herr Fritze es aber sehr gut mit mir meint , das habe ich heute recht gesehen .
Er hörte nämlich nun auf zu brummen und sagte :
» Wenn ich über Sie zu bestimmen hätte , mein liebes Kind , so unterbliebe alles Kartoffelschälen und alle Gartenarbeit , auch das viele Nähen - ich sehe ja Ihren zerstochenen Zeigefinger - und Sie bekämen Zeit und Gelegenheit zu ernstlicher Ausbildung . «
» O Herr Fritze , « sagte ich da , » ich lerne ja so viel bei Ihnen , und wenn diese dumme Fingergeschichte nicht gekommen wäre , hätte ich auch genug Zeit zum Üben .
Sie sagten doch selbst zuerst , mit zwei Stunden täglich wären Sie zufrieden . «
» Ich sagte das ? - vielleicht anfänglich .
Ja , Kind , jetzt denke ich aber anders .
Haben Sie denn niemand , der etwas für Sie tun könnte ?
Ich möchte Sie so gern aufs Konservatorium bringen ! «
Du kannst dir denken , Ursel , ich war starr !
Mein kühnster Wunsch hier ausgesprochen !
Also hält er es doch für der Mühe wert , daß ich mich ernstlich diesem Berufsstudium hingebe - aber ach , es ist ja nicht daran zu denken ! "
Franzi , die allzeit Mutige und Frische , sah ganz trübselig drein , und Ursula , ganz benommen von all dem Gehörten , sagte : " O du , da hätten wir ja den schönsten Wunsch bereit gehabt , wenn der Prinz uns gefragt hätte !! "
Franzi lächelte .
" Meinst du , daß ich daran nicht dachte , als ich das gestern von den drei Wünschen sagte ?! -
Aber nein , mit so was darf ich mich gar nicht aufhalten .
Das hätte einen Prinzen wohl nicht gerührt !
Und überhaupt - ach , still davon !
Ich kann bei Herrn Fritze noch sehr viel lernen , Künstlerin brauche ich ja nicht zu werden - wenn ich nur unterrichten kann ! "
" Möchtest du aber Künstlerin werden ? "
Franzis Augen blitzten .
" Ja !
Ja !
O wie gerne !
Es ist ein Traum , den schon Fräulein Elsner für mich hatte .
Sie selbst hat es nicht werden können , weil sie kein Geld zum Studieren gehabt hat , schon früh verdienen mußte .
Wie aber sollte ich dazu kommen ? -
Herr Fritze möchte aber doch gern , daß ich vom ganzen Wesen der Musik so viel wie möglich lerne , und da ich heute nicht spielen konnte , hat er mir eine Theoriestunde gegeben - und hier , diese Bücher .
Ist das nicht fein ? "
Ursel sah ehrfürchtig in das aufgeschlagene Buch und meinte :
" Ich verstehe kein Wort davon . "
" O , das lernt man aber , es ist furchtbar interessant , höre Mal ! " und sie las eine Regel vor .
Aber Ursel machte ein unglückliches Gesicht und bat : " Laß , Franzi , ich verstehe das wirklich nicht . " O , Herr Fritze , wenn diese dumme Fingergeschichte nicht gekommen wäre , hätte ich ja auch Zeit genug zum Üben .
Franzi lachte .
" Na , dann sieh dir dieses Buch hier an , das Leben Johann Sebastian Bachs . "
" Ja , von berühmten Männern lese ich zu gern . "
" Ach , und dies ist wunderschön , oft rührend .
Und von all den musikalischen Söhnen - dies Leben und Weben in Musik !
Der Friedemann Bach interessiert mich am meisten - und dann hier das reizende Lied - Fräulein Elsner sang es - paßt es nicht so recht auf uns beide ?
Willst du dein Herz mir schenken , So fange ' es heimlich an , Daß unser beider Denken , Niemand erraten kann ! "
Ursel sah die Freundin wieder voll Entzücken an , bejahte , daß es auf sie beide passe und bat : " Singe doch weiter , es klingt so hübsch !
Ach , Franzi , Sängerin könntest du gewiß auch werden . "
" Ach gehe , bewahre !
Singen kann jeder ! "
" Nicht jeder , ich zum Beispiel nicht . "
" Du !
Was könntest du wohl , nach deiner Meinung , du Bescheidenste von allen ! " rief Franzi zärtlich , und Ursel , halb beglückt , halb von ihrem Ehrlichkeitsdrang getrieben , beharrte :
" Aber singen kann ich wirklich nicht .
- Und nun erzähle weiter von Herrn Fritze . "
" Viel ist nicht mehr zu sagen ; wir haben ausgemacht , daß ich so lange Theorie treiben soll , bis ich wieder spielen kann .
Also in der Musik lerne ich doch etwas in dieser Zeit ; es ist nur so schlimm mit meinen anderen Pflichten . "
" Laß mich dir helfen ! "
" O Urselchen , wo denkst du hin , was würden deine Eltern sagen , wenn ich dich hier anstellte ! "
" Freuen würden sie sich .
Ganz gewiß .
Mein Papa will gern , daß ich frisch und braun werde , wie du . "
Und sie erzählte die Äußerung des Landgerichtsrats .
Franzi hörte still zu .
" Deine Eltern sind prächtige Menschen ! " sagte sie dann sinnend , " du mußt sehr glücklich sein , Ursula . "
Wieder dachte diese an ihr unglückliches Tagebuch und schämte sich .
Sie begriff auch jene Stimmung gar nicht mehr , so sehr hatte die letzte Zeit sie verändert .
" Also gib mir was zu tun ! " nahm sie nach einer Pause ihre Bitte wieder auf , und Franzi sagte : " Willst du denn im Garten pflücken helfen ?
Es sind Unmengen von reifen Himbeeren da , die keinen Tag mehr hängen dürfen .
Mutter ist schon dabei , weil die Leute es nicht bewältigen können . "
" Ich gehe also zu deiner Mutter und helfe , und du - was tust du ? "
" Ich werde die kleinen Bauers lesen lassen , damit ich mich nicht den ganzen Tag zu schön bei meiner Musik amüsiere . "
" Also müssen wir uns trennen , aber ich denke an dich , Franzi , und an unser Märchen von gestern .
Ach , hätten wir doch einen Wunsch frei gehabt ! "
Nicht aus dem Sinn kam ihr der Gedanke , und während sie so emsig pflückte , daß ihr Gesicht glühte , gingen ihr alle möglichen Erwägungen im Kopfe um .
Frau Trautmann wunderte sich über ihre Schweigsamkeit und fürchtete , daß das anders gewöhnte Mädchen doch diese Arbeit sehr ungern täte , wenn sie auch Franzi zuliebe sich dazu erboten hätte .
Sie suchte also Ursel zu überzeugen , daß ihre Hilfe nicht länger nötig sei ; aber sie erreichte damit nur , daß Ursel desto eifriger arbeitete und dagegen Frau Trautmann beschwor , sich zu schonen bei der Hitze .
Das Ergebnis der beiderseitigen Rücksichtnahme aber war , daß sie immer einträchtig am selben Strauch pflückten und auch in lebhafte Unterhaltung gerieten .
Auch Frau Trautmann hatte , wie vorhin Franzi , Worte des Dankes und der Wertschätzung für Ursulas Eltern .
Dadurch kam sie auf ihr eigenes Elternhaus zu sprechen , auf ihres Vaters Vorzüge und endlich auf die Ähnlichkeit ihres Sohnes mit dem kaum noch gekannten Großvater .
In der Freude ihres Herzens erzählte sie dann auch von Wilhelms in Aussicht stehendem Besuch und der Freundlichkeit des Obergärtners .
Ursula hörte alles voll Interesse , aber als sie endlich mit den Himbeeren für heute fertig war , kehrten ihre Gedanken gleich wieder zu Franzi zurück , über deren Schicksal sich ja heute durch den alten Schloßorganisten ganz neue Möglichkeiten aufgetan hatten .
Wenn - sich nur jemand fände , der seine Hand dazu bot , aus diesen Möglichkeiten Wahrheit zu machen !
Wer konnte es sein ?
Wer konnte helfen ?
An ihre eigenen Eltern dachte Ursel nicht .
Sie war schon verständig genug , um zu wissen , daß ein Beamter mit sechs Kindern nicht ohne weiteres noch die Ausbildung eines fremden siebenten Kindes mit übernehmen konnte , auch wenn er in auskömmlichen Verhältnissen lebte .
Sie hatte öfter sagen hören :
Reich sind wir nicht , wenn wir auch gerade keine Sorgen haben , wir müssen an die Zukunft unserer Kinder denken .
Also hier mußten ganz andere Mächte eingreifen , sagte sich Ursel .
Von Stipendien für Studierende hatte sie wohl gehört .
Gab es etwas Ähnliches für Mädchen , die eine Kunst erlernen wollten ?
Gab es - konnte man nicht - war eine Möglichkeit - Plötzlich kam es wie ein Blitz über Ursel :
Ein Gedanke !
Der ließ sie nicht wieder los , sondern nahm völlig Besitz von ihr .
14. Kapitel .
Ursulas Tat Von nun an nahm Ursulas Wesen wieder das Insichgekehrte , oftmals Abwesende an , was niemand so recht gefallen , was sie zu aller Freude in letzter Zeit abgelegt hatte .
Freilich , mürrisch und verdrossen wurde sie nicht ; unfreundliche oder empfindliche Antworten hörte man nicht , aber sie schwieg wieder viel und zog sich zurück ; ja sie schien plötzlich von ganz unzeitgemäßem Lerneifer beseelt , denn man sah sie mit Büchern und Heften beschäftigt .
Und doch machte Ursel keine Schularbeiten , schrieb auch nicht Tagebuch , wie Mama im stillen dachte , sondern sie übte sich im Briefschreiben .
In ganz merkwürdigen schwierigen Briefen , wie sie in einem kleinen Mädchenleben sonst nicht vorkommen .
Niemand konnte ihr helfen dabei , denn die Sache war ein Geheimnis !
Selbst Franzi ahnte nichts .
Und an wen waren diese Briefe , die da mit glühenden Wangen aufgesetzt , dann mit kritisch gefalteter Stirn durchgelesen und immer wieder verworfen wurden ?
An niemand anders als die Vorestin-Mutter !
Die hohe Frau , von deren Güte und edler Hilfsbereitschaft jedes Kind wußte , hatte sich Ursel zur Protektorin ihrer Franzi ausersehen .
Es schien ihr auf einmal so ganz natürlich !
Die Fürstin , die Landesmutter , die mußte verstehen , was ein armes , gutes und begabtes Kind zum Leben und zum Glück nötig hatte - !
Ein junger Prinz - nein , dem konnte man noch keinen Sinn dafür zutrauen .
So schadete es weiter nicht , daß bei ihrem Märchenerlebnis die Geschichte mit den drei Wünschen gefehlt hatte .
Sie wollte nicht mehr auf solchen wunderbaren Zufall hoffen , sie wollte mutig selbst einen Schritt tun , und wenn der liebe Gott ihn gut hieß und ihrer Freundin das gönnte , was sie sich so heiß wünschte , dann würde er auch Ursel als Werkzeug gelten lassen .
Ursel , die Schüchterne , empfand auf einmal eine fast heldenhafte Verwegenheit ! - Aufsätze machen war ja in der Schule ihr Bestes .
Mit der mündlichen Rede war es nicht glänzend bestellt ; sie hatte nicht immer die Geistesgegenwart , schnell zu sagen , was sie wußte ; es kam oft langsam und stockend über die Lippen .
Aber wer sie kannte , traute doch ihrem gründlichen , sicheren Erfassen .
Und schriftlich ging ja alles sehr gut , selbst Klassenaufsätze machten ihr niemals Schwierigkeiten .
Die Briefform interessierte sie immer sehr , nur hatte sie gar keine Übung im Korrespondieren .
Aber was hätte es auch genützt , wenn sie sich auf die , die sie geschrieben und gelesen , besann - Briefe an Fürstlichkeiten waren nicht darunter .
Auch in ihren Büchern fand sie nichts , was paßte .
Wie war die Anrede und wie die Adresse ?
Ursel schien die Vorstellung höchst sonderbar , daß Briefe an hohe Herrschaften ganz einfach wie alle anderen durch die Post befördert wurden .
Natürlich wurden sie das !
Aber dennoch , der Gedanke störte sie .
Und wenn etwas an der Adresse falsch war , und er wurde nicht angenommen auf der Post - oder er ginge verloren - oder käme zurück ?
Heimlich sagte ihr eine kleine Verstandesstimme in ihrem Inneren , daß dies alles nicht wahrscheinlich sei ; aber eine andere , eine kleine phantastische Stimme blieb dabei :
Es muß anders gemacht werden , als auf diesem gewöhnlichen Wege !
Und allmählich , greifbar deutlich , tauchte die " Abendbank " in Herrenhausen vor ihr auf .
Dorthin wollte sie selbst den Brief bringen und sich im Gebüsch verborgen halten , bis sie gesehen , daß er sein Ziel erreichte .
- Vicky von Sontheim , die Tochter des Hofmarschalls , hatte erzählt , jeden schönen Abend kurz vor Sonnenuntergang säße die Fürstin auf der Bank : daran ändere sich selten etwas ; auch wenn Besuch im Schloß sei , würde es so gehalten .
Also wenn der Brief nur erst fertig war , galt es , einmal allein nach Herrenhausen zu fahren und den Brief der Fürstin in die Hände zu spielen .
Sprechen wollte sie ja nicht zu der hohen Frau .
Sie hatte wohl schon gehört , daß sich Bittende auf die Parkwege geschlichen und die Wandelnde angesprochen hatten , aber nein , das wollte und konnte sie nicht ; sie wollte nur ihr eigener Bote sein .
Und der Brief wurde fertig !
Ehe sie das zweite Dutzend ihrer Entwürfe begann , schien es ihr , als sagte der letzte wohl ungefähr das , was ihr Herz erfüllte .
Er lautete :
" Allergnädigste , vielgeliebte Frau Fürstin !
Zunächst bitte ich um Verzeihung , wenn etwas in der Form dieses Briefes , vielleicht schon in der Anrede , nicht richtig ist .
Ich habe es nicht gelernt , an so hohe Personen zu schreiben , und kann niemand um Hilfe bitten , denn es handelt sich um ein Geheimnis .
Ich weiß nur , Frau Fürstin sind » gnädig « über alles Maß , und » vielgeliebt « im ganzen Lande !
Darum wage ich es auch , mich zu nahen mit einem großen Wunsch , einer innigen und untertänigen Bitte !
Ich habe eine Freundin , ein liebes , hochbegabtes Mädchen , wie alle Menschen sagen , aber ganz arm .
Ihre Eltern haben viel Unglück gehabt , der Vater ist früh gestorben , die Mutter arbeitet und schafft von früh bis spät , auch meine Freundin selbst tut tausendmal mehr , als andere Mädchen von sechzehn Jahren ahnen , daß man_es überhaupt tun kann .
Sie heißt Franzi Trautmann und wohnt in der Schloßgärtnerei mit ihrer Mutter , die dem Gärtner den Haushalt führt .
Franzi arbeitet in Haus und Garten , macht Handarbeit für Geld , und sonst noch vieles , aber - eigentlich möchte sie ganz etwas anderes !
Sie ist so sehr musikalisch , ihre Erzieherin und ihr jetziger Lehrer , der Herr Schloßorganist Fritze , sagen , sie habe ein großes Talent , sie müsse Künstlerin werden .
Franzis Seele ist voll von diesem Wunsch , aber sie sagt immer :
Es kann nichts daraus werden , ich habe ja kein Geld zum Studium .
Wenn ich mir erst selbst alles dazu verdienen soll - dann wird es zu spät .
Ich darf nicht daran denken .
Sie denkt aber doch daran , ich weiß es , und ich kann auch nicht davon lassen .
Ich habe Franzi lieb wie eine Schwester und meine Eltern sind ihr auch von Herzen gut , aber tun können sie sicherlich nicht viel für sie , weil sie selbst sechs Kinder haben .
Und nun komme ich mit der untertänigen Bitte :
Würden Frau Fürstin wohl die Gnade haben und für Franzi Trautmanns Ausbildung sorgen ?
Sie würden viele Menschen damit glücklich machen und gewiß auch selber Freude daran haben .
Alle sagen ja : Die Frau Vorestin-Mutter fördert alles Gute und Schöne im Lande !
Jeder , der es wirklich ernst meint mit einer Sache , darf zu ihr kommen und um Hilfe bitten .
Darum habe ich mir auch ein Herz gefaßt !
Ich hatte den lieben Gott schon so viel gebeten , daß er mich erleuchten möchte , was ich für meine Freundin tun könnte .
Da kam mir dieser Gedanke !
Und nun flehe ich zur Frau Fürstin : Lassen Sie mich nicht vergebens bitten .
Erkundigen Sie sich wenigstens nach meiner Franzi , ob alles stimmt , was ich gesagt habe , und ob sie es wert ist , daß Frau Fürstin ihr helfen .
Ich glaube es !
In tiefster Verehrung der Frau Fürstin dankbare Untertanin Ursula Dahland . "
Sauber abgeschrieben lag er da , und Ursel saß mit gefalteten Händen davor .
Wenn der liebe Gott es doch geben wollte , daß es gelang !
Wenn er doch nicht böse sein wollte , daß sie noch einmal zu Heimlichkeiten zurückkehrte !
Sie meinte es ja so gut , aber sprechen davon , das konnte sie nicht .
Die Umstände waren Ursel in diesen Tagen günstig .
Die Eltern hatten sich zum letzten Male mit Leutholds verabredet , deren Aufenthalt in Heckendorf zu Ende ging .
Man wollte zum Jagdschloß Georgental fahren , diesmal aber ohne die Kleinen , da es voraussichtlich spät würde .
Sie sollten unter Muschebergens Obhut zurückbleiben , und Ursel wurde freigestellt , ob sie mitfahren oder zurückbleiben wolle ; Franzi Trautmann könne man diesmal leider nicht auffordern , da die Partie zu Wagen gemacht würde , und der Platz beschränkt sei .
Sofort entschied Ursel sich für Zurückbleiben , und zwar mit so zufriedener Miene , daß Papa neckend sagte :
" Wer weiß , was ihr beiden vorhabt !
Schlagt mir nicht zu arg hinten aus , ihr Schwarzbraunen ! "
Ursel machte ein so eigentümlich flehendes Gesicht dazu und küßte Papas Hand , daß dieser ihr gerührt übers Haar strich und meinte :
" Nun , mir ist nicht bange , ihr wißt auch schon , daß nicht jedes Abenteuer mit einem Prinzen endet ! "
" Nein , " dachte Ursel , " aber will es Gott - mit einer Fürstin ! "
Nun war der stille Nachmittag da , das Haus unter Muschebergens Obhut , die Kleinen im besten Spiel - Ursel glaubte , von niemand vermißt zu werden .
In einem Gefühl von feierlicher Verantwortlichkeit zog sie ihr weißes Kleid an , packte ihren Brief in einen Schutzumschlag und ging .
Sie mußte mit dem Dampfschiff fahren , da eine Fußtour nach Herrenhausen zwei Stunden beanspruchte .
Wenn sie jetzt nur nicht Bekannte traf , die sie fragten , wohin sie so allein gehe ?
Aber nein , es glückte .
Bald saß sie ganz für sich am Ende des Schiffs und überdachte zum hundertsten Male ihren Plan , sich selbst mit allen Mitteln in einen künstlichen Mut hineinsteigernd .
Es konnte ja gar nicht schlimm sein , selbst wenn ihr jemand begegnete auf dem " Verbotenen Weg " - diese Warnung galt gewiß nur für Wanderburschen oder laute , lärmende Gesellschaften .
Sollte man ein kleines unscheinbares Mädchen nicht ruhig den kurzen Weg passieren lassen , vielleicht auch denken , es habe etwas im Schloß zu tun ?
Nur recht sicher sein , so tun , als sei man im Recht , redete sie sich selber vor ; sie wollte ja nichts Böses .
Wie lang ihr die Fahrt doch vorkam so allein .
Da war erst Heckendorf , ein paar Minuten Aufenthalt , dann ging es auf Rohrwerder zu .
Auch hier kurze Station - dann wieder hinaus in den See , immer gerade auf das dichtbewaldete Ufer von Herrenhausen zu .
Da hielt das Schiff .
Durch den freundlichen Wirtsgarten ging Ursel recht schüchtern , aber sie sah wirklich nur fremde Gesichter .
Dann schlug sie den Weg zum Walde ein .
Sie war erst einmal hier gewesen , aber sie fand sich gleich wieder zurecht .
Die breite Straße stieg sanft aufwärts und mit jedem Schritt wurde der Blick auf den See schöner .
Wie fern lag nun die Stadt am Horizont , und wie allein war sie hier !
Neulich auf dem Rohrwerder war es eine reizende Einsamkeit zu zwei gewesen , heute wurde ihr fast bange .
" Franzi , wenn du wüßtest ! " flüsterte sie vor sich hin , und dann ging sie tapfer weiter .
Da stand der Weiser mit der Tafel " Verbotener Weg " , dort war der wunderhübsche schmale Fußsteig auf der Höhe am See entlang , - nur zehn Minuten weiter sollte die " Abendbank " stehen , so hatte Vicky es beschrieben .
Aber noch war es zu früh , allzu lange durfte sie sich dort nicht aufhalten .
So blieb sie vorläufig auf dem Hauptweg , fing an Blumen zu pflücken , faßte alle Augenblicke nach dem Brief in ihrer Tasche und setzte sich schließlich an einem hübschen Plätzchen am See ruhig hin und beobachtete die Sonne , wie sie tiefer und tiefer sank .
Wenn der rotglühende Ball die Flut erreicht hatte , dann war Franzis Schicksal vielleicht schon entschieden ! -
Doch nein , das war nicht möglich , aber der entscheidende Schritt , der ihrem Leben die Wendung geben konnte , der mußte dann getan sein ! -
Manche Spaziergänger kamen vorüber , aber alle verloren sich in den Wald oder gingen der Landungsstelle zu ; auf den " Verbotenen Weg " begab sich niemand .
" Ich allein wag ! " dachte Ursel und stand entschlossen auf .
Mit festen , schnellen Schritten ging sie den Weg entlang und dann sah sie wirklich die Bank !
Es war eine ganz einfache , von weißrindigen Birkenstämmen gezimmerte Naturbank ohne irgend welch fürstliches Abzeichen .
Probeweise legte Ursel den Brief auf den Sitz und ging ein Stückchen zurück , um zu beobachten , aus wie weiter Entfernung man ihn wohl schon bemerken würde .
Er hob sich nicht sehr deutlich ab von den weißen Stämmen ; sie beschloß daher , einige grüne Zweige zu pflücken und darunter zu legen , auch ihren Strauß konnte sie dazu tun .
Schnell nahm Ursula den Brief noch einmal an sich und wollte ihre Vorbereitungen treffen - sie sah ein paar Schritte zurück gerade ein paar schöne breite Farnkräuter - da hörte sie auf einmal leise Schritte und das Rauschen eines Frauenkleides .
Sie sah sich um - von einer anderen Seite , als Ursel vermutet , trat eine Dame aus dem Walde und - Ursulas Herz schlug zum Zerspringen - es war die Fürstin !
Sie trug ein hellgraues Kleid und einen schwarzen Spitzenmantel darüber , den Hut hatte sie abgenommen und hielt ihn in der Hand .
Ursel erkannte deutlich den leicht ergrauten Kopf und das unendlich gütige Gesicht , das dem roten Abendhimmel über dem See zugewandt war .
Die hohe Frau sah das junge Mädchen noch nicht , Ursula hätte also noch verschwinden können .
Aber nein , jetzt galt es !
Die Bank konnte sie nicht mehr erreichen , also trat sie leicht und schnell auf die Fürstin zu , verbeugte sich , so tief sie konnte , geriet ein wenig ins Straucheln und dadurch in eine buchstäblich kniende Stellung .
Mit einem unendlich beredten Blick der sonst so schüchternen dunklen Augen hielt sie Brief und Strauß empor , ohne aber einen Laut hervorzubringen .
Die Fürstin , im ersten Augenblick betroffen , schien dann gerührt von der Sprache dieses jungen Gesichts ; sie streckte die Hand aus und - Ursel fühlte ihren Brief nicht mehr !
Nun stand sie schnell wieder auf den Füßen , knickste kurz und flüchtig wie ein Kind und lief davon !
In ihrer Verwirrung aber nach der entgegengesetzten Seite , was sie nicht merkte , bis ihr eine zweite Dame entgegenkam , wahrscheinlich eine Begleitung der Fürstin , und mißbilligend sagte :
" Es ist nicht erlaubt , hier zu gehen - auch haben Sie wohl die Richtung verfehlt ; wenn Sie zum Schiff wollen , müssen Sie umkehren . "
Ursel stotterte Entschuldigung und Dank und wandte sich zurück .
Da stand die Fürstin noch , knapp neben der Bank , dem See zugewandt , den noch unerbrochenen Brief in der Hand .
Leise und unbemerkt schlich Ursel hinter ihrem Rücken vorbei und atmete erst auf , als sie die Warnungstafel schon winken sah .
Da wagte sie es , sich noch einmal umzusehen .
Die Fürstin stand noch da ; deutlich hob sich die hohe Gestalt vom Horizont ab , und jetzt - der rote Sonnenball berührte gerade die Flut - las sie den Brief !
" Lieber Gott , ich danke dir !
Nun hilf du weiter ! " betete Ursel inbrünstig .
Dann ging sie , so schnell sie konnte , zum Landungsplatz zurück , und diesmal erreichte sie das Schiff rechtzeitig - es ging in zehn Minuten .
Als sie sich einen Platz gesichert hatte und nun in Ruhe kam , schauerte sie leicht zusammen .
War es das Nachzittern der großen Bewegung , oder war es kühl ?
Auch letzteres vielleicht .
Ursel sah sich nach ihrer Jacke um - ah , die hatte sie heute völlig vergessen .
Es war ja auch so heiß gewesen am Nachmittag , wer konnte da an Abkühlung glauben .
Mama hielt freilich darauf , daß etwas Warmes mitgenommen wurde , aber heute war es doch vergessen worden .
Nun , es schadete wohl nichts ; es war im Augenblick sogar sehr wohltuend .
Die Fürstin stand da und las den Brief .
Noch immer sah Ursel das Schlösschen von Herrenhausen durch die Bäume schimmern , dachte sich genau die Stelle , wo die hohe Frau saß und Franzis Schicksal erwog . -
Aber nun war alles Abendrot erloschen , und es wurde empfindlich kühl auf dem Wasser .
Ein paar Schauer ließ Ursel sich noch über den Rücken laufen , dann meinte sie doch , es wäre wohl vernünftiger , in die Kajüte zu gehen .
Sie wurde auch plötzlich so sonderbar müde und saß schließlich recht wohlig auf der roten Polsterbank und träumte vor sich hin .
Zu Hause setzte sich gerade Muschebergen ihren großen schwarzen Kiephut auf und empfing sie :
" Gott biwohre , Ursching , du kümmst jo gor nicht ahnt Hause !
Ich will all Wegahn , denn ich heww keinen Slätel , un will auch doch gieren weiten , das du wieder in wirst . "
" O Musching , " sagte Ursula , " du brauchtest dich nicht meinetwegen aufzuhalten , ich finde schon allein zu Bett !
Du brauchst ja bloß die Kleinen zu hüten . "
" Ja ja , ji ja , das seggst du wohl .
Hest du denn auch was essen ? "
" Ach so - nein , eigentlich bin ich hungrig . "
" Das segg ich jo .
Un was kolle Hänn !
Büste wohl up't Water Weste ?
Man swinn tau Bett , ich bringe ' di 'n schlug Warm's un 'n Bodding , nicht so ? "
Ach ja , Ursel fühlte , daß der Rat gut war .
Sie zog sich schnell aus , freute sich auf ihr Bett und wollte dann immer noch Mal nachdenken über alles .
Aber daraus wurde nicht mehr viel .
Als Musching sie noch ein wenig " gerockt " hatte , wie die Alte das Pflegen nannte , aber nicht mit ihrem Appetit zufrieden gewesen war , schlief die junge Heldin sehr schnell ein .
Freilich war es kein fester ruhiger Schlaf , mehr wie ein Träumen und halbes Wachen - einmal beugte sich jemand über ihr Bett , und sie dachte sich , es würde wohl Mama sein , aber ganz zur Besinnung kam sie nicht , es war nur wie eine Phantasie .
15. Kapitel .
Die glückliche Franzi Am nächsten Morgen hatte Ursula heftige Halsschmerzen und etwas Fieber .
Auch der Kopf tat sehr weh , Ursula war recht übel zu Mut .
Wenn Mama nur nicht fragte , wo sie sich diese Erkältung geholt hatte !
Aber Mama war nur liebevoll um sie bemüht , scheuchte ihre kleinen anspruchsvollen Trabanten hinaus und meinte :
" Das kommt so leicht in diesen heißen Tagen , da sieht man sich nicht vor und kühlt sich unvorsichtig ab . "
Ursel streichelte dankbar Mamas Hand und dachte :
" Wie lieb , daß du nicht fragst ! "
Als der Arzt kam , erklärte er es für Mandelentzündung ohne bedenkliche Nebenerscheinungen , doch sollte Ursel natürlich liegen bleiben und für ein paar Tage möglichst abgesperrt sein .
Auch Franzi durfte nicht herein , als sie am Nachmittag kam , da ihr noch nicht völlig geheilter Finger ihr etwas mehr freie Zeit zum Ausgehen ließ .
Nun schrieben sie sich Briefe !
Ursel nur sehr kurze Zettelchen mit Bleistift , aber Franzi wußte merkwürdig viel zu erzählen .
Sie kritzelte es mit der linken Hand , aber dennoch war es so lebendig , daß man sie sprechen zu hören meinte .
Da stand , daß Herr Fritze doch wieder auf seine unausführbaren Pläne zurückgekommen sei , und Ursels Herz schlug hörbar .
" Du weißt ja nicht , Franzi , ob sie noch unausführbar sind ! "
Dann von Franzis Arbeiten , die sie mit der linken Hand zu verrichten trachtete , von ihrem komischen Ungeschick dabei , und endlich stand da auch einmal : " Heute ist Wilhelm angekommen .
Mutter ist zu glücklich ! "
An diesem Tage war Ursel aufgestanden , aber sie konnte sich noch nicht recht lange aufrecht halten , und Mama fand sie gegen Abend wieder fiebernd .
Sie wunderte sich eigentlich darüber , denn so heftig war die Halsentzündung nicht gewesen ; sie hatte schon viel schlimmere mit ihren Kindern durchgemacht .
Und Ursel neigte auch sonst nicht zu Fieber .
Diesmal fühlte sie aber selbst ihre Erregung .
Sie war eigentlich in einem beständigen Horchen und Nachdertürschauen .
Mußte nicht irgend eine Botschaft kommen ?
Oder ging das nicht so schnell ?
Ach , die Ungewißheit , die Erwartung , das Geheimnis !!
Da kam eines Tages Franzi angestürzt , und sie war nicht zu halten , sie mußte zu Ursel hinein .
Die Rätin erlaubte es zögernd und ging gleich hinterdrein .
Da sah sie schon in der Tür , wie die beiden Mädchen , die man acht Tage lang ängstlich auseinander gehalten hatte , sich fest umschlungen hielten und weinten und lachten .
Und dann kam von der sonst so verständigen Franzi ein Bericht , so kunterbunt , so glückberauscht !
Von einem Brief , einem fürstlichen Wagen mit einer Hofdame , und von einer in Aussicht gestellten Audienz bei der Vorestin-Mutter .
Und der alte Schloßorganist sollte zeugen für Franzis musikalische Begabung - vielleicht gar der Hofkapellmeister - und dann , dann - würde Franzi aufs Konservatorium kommen !
" Und alles , alles hat Ursel angestiftet , die gute ängstliche und doch so tapfere Ursel , die immer für Heldentaten geschwärmt und nun selbst eine Heldin geworden ist .
Denn wie muß wohl der Brief gewesen sein , wie gut und klug und lieb geschrieben , daß die edle Fürstin gleich darauf einging ! "
Dies alles sprudelte die überglückliche Franzi heraus , während Ursula still weinte und die Arme nach Mama ausstreckte .
Auch diese war tief bewegt , und als Franzi einmal aufatmend eine Pause machte , mußte Ursula erzählen .
Dieser Bericht kam ein wenig stockender , aber doch war er so anschaulich , so warm belebt , daß Mama und Franzi den roten Sonnenball zu sehen glaubten , der in dem Augenblick das Wasser berührt hatte , als die Fürstin den Brief erbrach .
" Also daher die Halsentzündung , " sagte Mama liebevoll , " du bist erhitzt aufs Wasser gekommen und in der kühlen Abendluft heimgefahren . "
" Ich saß aber in der Kajüte , " verteidigte sich Ursel leise , und Franzi rief wieder erregt :
" Und nicht Mal anstecken lassen durfte ich mich von ihr , die alles das für mich getan hat ! "
Da lachte Ursel hellauf und meinte :
" Das hätte auch noch gefehlt , dein Finger ist schon schlimm genug .
Und nun darfst du erst recht nicht mehr krank werden ; denke nur , wenn die Fürstin dich nun befiehlt ! "
" Du mußt mit ! " rief Franzi energisch , " allein gehe ich nicht ! "
" Auf keinen Fall komme ich mit .
Was würde die Fürstin sagen ?
Ich habe nichts mehr dabei zu tun , » der Mohr kann gehen ! « "
" O du süßer Mohr , färbst du auch ab ? " rief Franzi , die Freundin wieder zärtlich umhalsend , " Frau Rätin , kann sie wirklich nicht mitgehen ? "
" Ich glaube nicht , mein Kind ; du wirst wohl eine genaue Vorschrift bekommen . "
" Aber sprechen werde ich von Ursel , nur von Ursel ! "
" Sprechen wirst du , was du gefragst wirst ! " rief Ursel übermütig , und Mama schloß lachend :
" So wird_es wohl kommen ! "
Als Ursula zum ersten Male wieder nach der Schloßgärtnerei ging , hatte die Audienz in Herrenhausen schon stattgefunden .
Franzi war eben zurückgekommen , hatte zur Feier des Tages zum ersten Male eine weiße Bluse zu ihrem schwarzen Rock an und befand sich in hochgradiger Erregung .
Sie stand mit ihrem Bruder vor der Tür und sah nach Ursel aus , darauf brennend , ihr alles zu erzählen .
Sie hatte der Fürstin vorgespielt im Beisein des Hofkapellmeisters .
Dieser hatte noch eine förmliche kleine Prüfung mit ihr vorgenommen und dann war es entschieden !
Die Fürstin übernahm die Sorge für die Ausbildung des jungen Mädchens , vorläufig auf drei Jahre .
Ein Berliner Konservatorium war ausgewählt worden und der erste Oktober zum Eintritt bestimmt .
Franzis sonnigster Traum war erfüllt !
Die Fürstin hatte sich dann noch allein mit Franzi unterhalten , sich von ihrer Kindheit und ihren Eltern genau erzählen lassen , und dann war auch Franzis Wunsch erfüllt worden :
sie hatte von der geliebten Freundin sprechen dürfen , " was die hohe Frau wirklich , aber wirklich furchtbar zu interessieren schien , " schloß Franzi überzeugt .
" Sie erinnerte sich deiner überhaupt genau , sprach von deinem lieben ernsthaften Gesichtchen und meinte :
» Schwarzbraun sind Sie ja beide , aber sonst , glaube ich , ein paar recht verschiedene Köpfchen ! «
Denke , ist es nicht reizend ?
Auch die Fürstin nennt uns die beiden Schwarzbraunen ! "
" Und wer hat diese Bezeichnung zuerst aufgebracht ? " rief triumphierend Axel , der zur Feier des Tages auch mitgekommen war .
" Ich ! "
Franzi lachte .
" Wenn Sie darauf stolz sein wollen - ich kann es nicht leugnen , daß ich diesen unseren Titel sehr gern höre !
Wilhelm , könntest du auch wohl auf so was Nettes verfallen ?
Ich glaube nicht .
Du guckst zu viel in die Bücher und nicht genug ins Leben ! " schloß sie pathetisch .
" Soll das etwa heißen , daß ich nicht genug studiere ? " fragte Axel .
" O Fräulein Franzi , wenn Sie wüßten !
Geben Sie acht , Michaelis kommt alles an den Tag ! "
" Aber ich zweifle ja gar nicht an Ihnen , ich sagte das ohne Vergleich ! "
" Du kannst dich auch meiner zu heftigen Studienwut wegen beruhigen , " sagte jetzt Wilhelm Trautmann mit hübschem Lachen .
" Ich habe heute drüben im großen Garten entschieden mehr Stachelbeeren gegessen , als studiert . "
" Bravo ! " rief Franzi , " Herr Bauer hat dir auch wohl erlaubt , dich durchzuessen , wie_es die Konditoren und die Bäcker mit den kleinen Lehrbuben machen , damit sie bald der Semmeln und Kuchen überdrüssig werden . "
" Aber dein Bruder ist doch kein Gärtnerlehrling , " sagte Ursula lächelnd , denn der Gedanke kam ihr wirklich spaßhaft vor gegenüber Wilhelm Trautmann , der schon völlig das Aussehen eines jungen Gelehrten hatte , und bei allem bescheidenen Auftreten ihr doch heimlich imponierte .
Jetzt griff er ihre Bemerkung lebhaft auf .
" Gottlob , nein , Fräulein Dahland ; Sie wissen aber vielleicht , daß ich nahe daran war , es werden zu sollen ?
Hätte ich meine Mutter nicht , eine solche Mutter ! "
Sein Gesicht verklärte sich wunderbar , und als Frau Trautmann in diesem Augenblick aus dem Hause trat , ließ er die junge Gesellschaft stehen und ging zu der Frau im schlichten schwarzen Kleide mit der groben Arbeitsschürze , mit dem Leiddurchfurchen , doch heute so glücklichen Gesicht .
" Noch immer in Arbeit , Mutterchen , oder kann ich ein wenig mit dir gehen ? "
" Begleite mich einen Augenblick nach dem Trockenplatz , wenn du magst .
Es ist nicht mehr viel zu tun . "
" Mutter , es ist zu viel !
Ich sehe dich unausgesetzt beschäftigt - "
" Es geht nicht immer wie gestern und heute zu , lieber Sohn ; die große Wäsche macht natürlich mehr Arbeit , als ich an anderen Tagen habe . "
" Aber doch !
Ich sehe dich zum ersten Male in dieser Stellung , dieser Tätigkeit für Fremde , und es macht mir das Herz schwer . "
" Warum nicht gar !
Arbeit ist ein Glück . "
" Aber - das » Zuviel « geschieht meinetwegen !
Ich las heute Verse über eine Mutter , die mich sehr ergriffen ; laß mich sie dir sagen ! "
Der zwanzigjährige schlanke Sohn mit dem dunkelblonden Kopf und den tiefliegenden blauen Augen legte zärtlich seinen Arm um die gebeugten Schultern der Mutter und sprach :
" Ihr Sohn studiert .
- Und bei der Arbeit ringt Sie unermüdlich und gibt tropfenweise Ihr Leben hin bei Mühe und Schweiß , Indem sie selbst sich stumm zum Opfer bringt .
Und gibt ihr Alter jetzt so freudig hin Wie einstmals ihre schöne Jugendzeit , Gesundheit und die Süßigkeit Der Ruhe auch , die heilige Dulderin !
Allein ihr Sohn studiert ! "
Still hörte die Mutter zu , dann sagte sie einfach :
" Keine Verherrlichung des Natürlichen , mein Sohn ; ich mag es nicht .
Was soll ich anders tun , als für meine Kinder sorgen ?
Und denke doch , das eine ist mir mit heute beinahe abgenommen !
Welch eine Güte von Gott ! "
" Bleibt immer noch der Sohn ! "
" Der alles lohnen wird .
Laß mich bei meiner Überzeugung , Kind .
- Und nun gehe zur Jugend zurück , euch gehört heute der Tag .
Selbst Herr Bauer ist heute nicht grämlich , sondern beinahe zu Festen aufgelegt !
Fürstengunst zieht ihre Kreise weit ! " schloß sie scherzend .
Wilhelm kehrte langsam zu dem Platz unter der Linde zurück , gerade als die drei anderen vorschlugen , einen Gang um den " Stillen See " zu machen .
" Ich kann ja heute mitgehen , " rief Franzi mit einem kleinen Luftsprung , " ledig aller Pflicht ! "
So zogen sie , einträchtig , heiter , in lebhaftem Gespräch oder still nachdenklich , wie es kam , um die Ufer dieses lieblichsten der vielen Seen in der Umgebung von Wendenburg .
" Du , Franzi , " sagte Wilhelm am Abend , als die Dahlandschen Geschwister sich verabschiedet hatten , " von deiner Freundin hatte ich mir ein anderes Bild gemacht . "
" Wieso denn ?
Gefällt sie dir nicht ? "
Wilhelm lächelte .
" Das glaubst du ja selbst nicht .
Aber ich dachte ein energisches , selbstsicheres Mädchen zu finden nach deinen Beschreibungen von ihrer » Tat « , und nun ist es eine solche kleine Sanfte , Einfache ! "
Franzi sah ihren Bruder nachdenklich an .
" Aber du kannst glauben , Wilhelm : sie hat Kraft in ihrer schüchternen Seele ! "
Inzwischen sagte Axel zu Ursula :
" Ich habe Trautmann aufgefordert , bei uns Besuch zu machen .
Ich denke , den Eltern wird es recht sein .
Er ist ein netter Mensch . "
" Gewiß ! " erwiderte Ursel ; aber sie war zerstreut und horchte kaum auf ihres Bruders Pläne , was man nun alles unternehmen könnte zu Wasser und zu Land , da ja die Franzi nun nicht mehr so arg im " Frondienst " zu stehen brauche , sondern wahrscheinlich ihre Hände schonen müsse .
Da lächelte Ursel träumerisch glücklich und dachte dankbar , daß es ihr vergönnt gewesen war , diese lieben Hände einem anderen , so heiß ersehnten Ziele zuzuführen , dem Lande der Kunst .
16. Kapitel .
Wilhelm Im zweiten Giebelstübchen der Schloßgärtnerei , seiner Schwester gegenüber , hauste nun also Wilhelm , der junge Student .
An das kleine Fenster war ein alter , etwas wackeliger , aber großer und frischgescheuerter Tisch gestellt , und an diesem saß Wilhelm und studierte und schrieb .
Prächtig war die Aussicht von diesem bescheidenen Raum aus , über See und Wiese hinweg , bis zu dem stolzen Fürstenschloß .
Immer wieder schweiften die Augen des Studenten zu dem köstlichen Bauwerk hin , während er das Gelesene sinnend in sich erwog .
Er hatte sich gestern aus der Bibliothek ein großes Werk über die Geschichte des Landes geholt , in dem er jetzt zum ersten Male heimisch wurde , und vertiefte sich gerade in die Entstehung und die ferneren Schicksale des wundervollen Schlosses .
Wilhelm war eine sehr gründliche Natur .
Nicht so schnell erfassend , so hell begeistert wie Franzi , aber ebenso wie sie von einer großen Wahrhaftigkeit der Empfindung und dann treu bis zur Zähigkeit .
Jetzt hatte die alte Stadt Wendenburg mit ihrer herrlichen Lage zwischen Wäldern und Seen es ihm angetan ; nun ruhte er nicht , bis er sich genau über ihre Geschichte , ihre Grund- und Bodenverhältnisse und die Lebensbedingungen ihrer Bewohner unterrichtet hatte .
Da genügte ihm nicht das große Buch , da mußte auch Herr Bauer heran und seiner Wißbegierde zu Hilfe kommen .
Und dieser wußte auch nicht übel Bescheid , und manche angeregten Gespräche hatten sich schon zwischen den beiden entsponnen .
Heute nachmittag studierte Wilhelm den Dom , als es klopfte und Axel Dahland bei ihm eintrat .
" Herzlich willkommen , " rief er froh , " das ist nett von Ihnen , daß Sie mich so bald aufsuchen .
Darf ich Ihnen diesen ehrwürdigen Lehnstuhl anbieten ?
Über ein Sofa verfüge ich leider nicht . "
Sie machten es sich gemütlich , so gut es ging , und dann fragte Axel :
" Sie studieren schon wieder ?
Hören Sie Mal , Sie müssen doch auch Mal faulenzen ! "
" O dies ist auch nur Liebhaberei , kein Fachstudium .
Landesgeschichte . "
" Aha , dies Werk kenne ich auch zum Teil - aber sonst bin ich ja weniger für das » Land « als für das » Wasser « . "
" Ja , ich habe schon davon gehört , daß Sie zur Marine gehen wollen . "
" Wollen !
Ach , so weit sind wir noch nicht ; meine Eltern sind noch nicht einverstanden .
Aber woher wissen Sie - ? "
" Meine Schwester sagte es . "
" So !
Die kluge Franzi merkt alles !
Ich habe doch gar nicht direkt mit ihr darüber gesprochen ? "
" Ja , Sie haben recht ; meine Schwester merkt schnell manches den Menschen ab .
Sie sagte einfach :
Axel Dahland muß zur See !
Für den ist das Wasser geradeso ein Lebenselement , wie für mich die Musik . "
" Da hat sie recht , " rief Axel strahlend , " und Sie , Trautmann , was ist Ihr eigentliches Element ? "
" Deutschtum ! Deutsche Geschichte , deutsche Sprache und deutsche Kunst . "
" Alle Achtung ! "
" Natürlich muß ich als Philologe auch fremden Sprachen mich besonders widmen , aber mit dem Herzen wurzle ich ganz in dem , was » Vaterland « heißt . "
" Also » Germanist « im schönsten Sinne des Worts . "
" Wenn Sie es so nennen wollen - "
" Natürlich , jedes Ding muß einen Namen haben , " meinte Axel munter .
" Aber nun sagen Sie mir doch - sind Sie auch ebenso ehrlich begeistert für das , was Sie als Philologe später leisten müssen ? "
" Ja , ganz ehrlich ! "
" Ist_es möglich !
Denken Sie sich das nett , eine Horde von bösen Buben in allen » sieben freien Künsten « zu unterrichten ? "
" Mehr als nett , lieber Dahland , " sagte Wilhelm lächelnd , " ich wünsche mir nichts anderes . "
" Na , gut , daß der Geschmack verschieden ist !
Wenn_es von mir abhinge , würde das junge Deutschland in der nächsten Generation sehr ungelehrt ausfallen !
Pots Blitz !
Ich weiß noch zu gut , was wir die Lehrer geplagt haben , ehe wir allmählich zur Vernunft kamen .
Selbst in Prima ist es nicht ohne ! -
Sie lachen ?
Hören Sie , Trautmann , ich will nicht hoffen , daß Sie immer ein Musterknabe waren ? "
Wilhelm lächelte etwas ernst und sagte dann :
" Wenn Sie den » Duckmäuser « damit meinen , nein , das war und bin ich wohl nicht , aber - ernst habe ich die Schule immer nehmen müssen ; das können Sie mir glauben , lieber Axel . "
" O ich weiß , ich glaube es gern , " fiel dieser schnell ein , und sein hübsches , offenes Gesicht rötete sich leicht , " ich habe durch meine Schwester manches gehört aus Ihrer Familie , Ihrem Leben .
Wahrhaftig , Sie haben_es alle nicht leicht !
Und sind so tapfer ! "
" Dem Mutigen hilft Gott , " sagte Wilhelm freudig , " davon haben wir immer neue Beweise . "
Axel nickte und kam dann noch einmal auf Wilhelms Studien und Pläne zurück , und Wilhelm äußerte sich lebhaft über seine Neigungen und Interessen .
" Mit dem Lehren allein ist es ja nicht getan , " erwiderte Wilhelm , " der ganze Verkehr mit der Jugend zieht mich an , all der Einfluß , den man üben , all das schöne Werden und Wachsen , das man beobachten kann !
Ich hatte einen solchen prächtigen alten Lehrer , ehe ich aufs Gymnasium kam .
Der Lehrer in Wehrburg , der mich mit seinen jüngeren Söhnen unterrichtete , während die ältesten auf der Universität waren , der Verstands !
Der hatte Weisheit und Humor , und das , glauben Sie mir , gibt eine gute Methode ! "
Immer interessierter hörte Axel zu ; Wilhelm Trautmann , dessen ernstes , stilles Gesicht und angenehmes Wesen ihm wohl gleich anfangs gefallen , wurde ihm doch jetzt ein ganz anderer !
Die unscheinbaren Züge belebten sich , die tiefliegenden Augen bekamen hellen Glanz und der Mund , den schon ein dunkelblonder Bartflaum schmückte , lächelte so froh , wie die Erinnerungen an die Schulzeit im alten Schulhause droben in Wehrburg lebendig aufstiegen .
" Was haben wir geschwärmt und gewütet , für und wider unsere Helden , die unser Alter uns so leibhaftig vorführte !
Was haben wir geleistet an eigenen Darstellungen , von Homer bis auf Schiller , bei denen wieder unser alter Lehrer das Hauptpublikum bildete und uns durch echte Tränen auszeichnete , die er ebensowohl vor Rührung als vor Lachen vergießen konnte . "
" Es ist ein Jammer , " rief jetzt Axel aufspringend , " daß die Mädchen derlei nicht hören können !
Meine Schwester Ursel wäre Feuer und Flamme - -
Sie lächeln ?
Glauben Sie , daß sie das nicht sein kann ?
Oho , stille Wasser sind tief , und bei Ursel fängt mit » Schiller « die Begeisterung an . "
" Ich glaube es gern . "
" Nein , das können Sie sich doch nicht so denken !
- Früher habe ich mich fast krank gelacht , wenn ich sie manchmal in heimlichen Ecken deklamieren hörte , aber jetzt - na , man kommt ja allmählich zu Verstand und nimmt dann auch diese Backfische etwas ernster - "
" Wollte_es Ihnen raten , Dahland , " drohte Wilhelm scherzhaft .
" Na ja , Ihre Schwester Franzi ist überhaupt schon eine junge Dame !
Ich dachte dabei mehr an Ursel .
Das kleine , scheue Ding kam mir so possierlich vor , wenn sie deklamierte : Eilende Wolken , Segler der Lüfte !
Wer mit euch wanderte , wer mit euch schiffte !
Sie können sich das Pathos gar nicht vorstellen : als wäre sie selbst eine gefangene Königin ! "
" Aber Sie sollten sie nicht necken , Axel .
Solche Mädchen , wie Ihre Schwester , haben oft sehr zarte Seelen , die wirklich in einer Art von Gefangenschaft leben , weil sie zu scheu sind , sich zu äußeren , und daher leicht verkannt werden . "
Axel sah den ernsthaften jungen Freund erstaunt an .
" Da können Sie wohl recht haben , " sagte er dann , " ich habe dem kleinen Ding oft Unrecht getan , es geradezu gequält ; aber jetzt ist das alles anders , glauben Sie mir_es !
Und daran ist viel Ihre Schwester Franzi schuld !
Ja , ja , ganz gewiß !
Dies frische , offene Mädel hat solchen Einfluß auf unsere kleine Stille geübt , daß sie gar nicht wieder zu kennen ist . "
" So tun sie sich also gegenseitig ein Gutes ; denn auch meine Schwester ist hochbeglückt durch diese Freundschaft und hat alle Ursache dazu . "
" Um nun noch einmal auf die Literatur zu kommen , " fing Axel jetzt wieder an , " so war es Ursels sehnlicher Wunsch , bei mir Verständnis für ihre Neigungen zu finden , und ich war so grob , ihr darin jedes Entgegenkommen abzuschlagen . "
" O , aber warum , Sie Barbar ? "
" Ja , wirklich , Barbar !
Wenigstens äußerlich .
Ich unterschätze Schiller keineswegs , aber Goethe geht mir doch darüber . "
" Also so weit sind Sie schon .
Die Periode der » Räuber « überwunden ? "
" Ach , überwinden will ich sie gar nicht !
Wissen Sie , da steckt doch was drin , was einem immer noch durch Mark und Bein geht .
Sie sollten das Stück Mal hier in unserem Hoftheater aufgeführt sehen ! "
" Das glaube ' ich wohl , daß das ein Genuß ist .
Ich komme leider fast nie ins Theater .
Nun , Goethe kann man lesen und hat genug ! "
" Wilhelm - Wilhelm ! " tönte jetzt unter dem Giebelfenster Franzis helle Stimme , " wo steckst du denn den ganzen Nachmittag ?
Du studierst dich ja wohl stumm und dumm ? "
" Im Gegenteil , " entgegnete Wilhelm heiter , " ich studiere gar nicht ; ich habe Besuch , und mit dem zusammen wird man nicht stumm und dumm ! "
Jetzt tauchte auch Axels blonder Kopf hinter Wilhelm an dem kleinen Fenster auf , und fröhliche Begrüßungsworte flogen hin und her .
Ursel war auch da .
Die Mädchen hatten große Schürzen um und waren eifrig beim " Pflücken " beschäftigt gewesen ; nun sollten sie Erbsen ausschoten und Johannisbeeren abstreifen , da suchten sie sich Gesellschaft zu dieser " seßhaften Tätigkeit " , wie Franzi sagte .
Die beiden jungen Leute stiegen dann auch in den Garten hinab , und in einer lauschigen stillen Ecke , unter einem großen alten Nussbaum setzten sie sich um den grünen Gartentisch .
" Wenn du wüßtest , Ursel , " fing Axel darauf pfiffig an , " was wir eben alles geredet haben !
Du wärst paff vor Begeisterung ! "
" Was kann das sein ? " meinte Franzi neugierig , während Ursel mit großen Augen fragend aufblickte , bis Wilhelm einfiel :
" Sie interessieren sich so sehr für Literatur , Fräulein Ursula , nicht wahr ? "
" O - wer sagt das ? " stotterte sie errötend .
" Ich ! " rief Axel lachend und kniff sie brüderlich ins Ohr .
" Aber Axel !
Wie kommst du darauf , so was zu erzählen ! "
" Sehen Sie , Trautmann , " triumphierte Axel , " jetzt möchte sie es leugnen vor Verlegenheit ! "
" Aber Axel , Sie sind grausam , " entrüstete sich Franzi , " natürlich mag Ursel nicht damit geneckt werden , wenn sie für Schiller oder Goethe schwärmt . "
" Ich habe auch gar nicht die Absicht , sie zu necken . "
" Na , das ist Ihr Glück ! " drohte sie , " wirklich Wilhelm , du glaubst nicht , was Ursel alles auswendig weiß ! "
" Ach Franzi , nicht , laß doch ! " wehrte Ursel purpurrot .
Aber Franzi kehrte sich nicht daran und fuhr fort : " Sie hat mich auch schon angesteckt damit ; ich habe ja nicht Zeit zum Auswendiglernen , aber wir lesen jetzt » Iphigenie « .
Fein , nicht , Urselchen ? "
" Das könnten wir ja Mal mit verteilten Rollen machen , " schlug Wilhelm vor und fand Anklang .
Für heute ging es freilich nicht mehr , weil die Mädchen zu tun hatten , aber am nächsten freien Nachmittag sollte es stattfinden .
" Aber heute könnten wir etwas deklamieren ! " rief Franzi .
" Wilhelm , du kannst es so schön , und ich hörte es lange nicht . "
Wilhelm trat vor und begann zu deklamieren .
" Ja , ja , " rief auch Axel , " eine improvisierte Vorstellung !
Dort der Platz zwischen den Taxusbüschen sei die Bühne !
Die verschnittenen Hecken bilden die schönsten Kulissen ! "
" Genau wie in Weimar , " sagte Wilhelm , " ein grünes Naturtheater wie im Park zu Belvedere ! "
" O , erzählen Sie , " rief Ursel lebhaft , " waren Sie in Weimar ? "
" Ach nein , ich kenne sie ja nur aus Büchern und Bildern , jene schöne Welt . "
" Aber Sie werden sie noch kennen lernen , " sagte Ursel mit zuversichtlichem Kopfnicken , und dann wie von selbst , ohne bewußtes Wollen , sprach sie die Goetheschen Worte : " Wohl ist sie schön , die Welt , In ihrer Weite bewegt sich so viel Gutes hin und her - "
Da klatschte Franzi in die Hände und Ursel erschrak nachträglich über ihre Kühnheit .
Aber der Anfang zu den eben geplanten literarischen Vorführungen war damit gemacht ; nun wurde nicht nachgelassen - jeder sollte etwas Schönes sagen .
" Ich weiß aber nichts , so aus der Pistole geschossen , " wehrte sich Axel , " ich muß wenigstens erst maikäfern , soll heißen : mich vorbereiten ! " und er setzte sich gedankenvoll neben die beiden Freundinnen .
Wilhelm aber trat rasch entschlossen vor die grüne Wand , verbeugte sich vor seinen Zuhörerinnen und begann , hauptsächlich seine Schwester ansehend , das Goethesche Gedicht :
" An Lottchen .
Mitten im Getümmel mancher Freuden , Mancher Sorgen , mancher Herzensnot , Denke ich dein , o Lottchen , denken dein die Beiden , Wie beim stillen Abendrot Du die Hand uns freundlich reichtest , Da du uns auf reich bebauter Flur , In dem Schoße herrlicher Natur Manche leicht verhüllte Spur Einer lieben Seele zeigtest .
Wohl ist mir_es , daß ich dich nicht verkannt , Daß ich gleich dich in der ersten Stunde Ganz den Herzensausdruck in dem Munde Dich ein wahres gutes Kind genannt .
Still und eng und ruhig auferzogen , Wirft man uns auf einmal in die Welt ; Uns umspülen hunderttausend Wogen , Alles reizt uns , mancherlei gefällt .
Mancherlei verdrießt uns , und von Stunde zu Stunden Schwankt das leichtunruhige Gefühl ; Wir empfinden , und was wir empfunden , Spült hinweg das bunte Weltgewühl .
Wohl , ich weiß es , da durchschleicht uns innen Manche Hoffnung , mancher Schmerz .
Lottchen , wer kennt unsere Sinnen , Lottchen , wer kennt unser Herz ?
Ach , es möchte gern gekannt sein , überfließen In das Mitempfinden einer Kreatur , Und vertrauend zwiefach neu genießen Alles Leid und Freude der Natur . "
Hier mußte Wilhelm sich unterbrechen , denn die beiden Freundinnen konnten einen kleinen Jubellaut nicht unterdrücken .
Die fleißigen Hände ruhten längst .
Die Freundinnen hatten sich verstohlen angesehen und einander zugenickt ; jetzt saßen sie mit verschlungenen Armen , bis Wilhelm schloß : " So fand ich dich und ging dir frei entgegen .
» O sie ist wert , zu sein geliebt ! «
Rief ich , erflehte dir des Himmels reinsten Segen , Den er dir nun in deiner Freundin gibt . "
" Er meint dich , er meint dich ! " rief Franzi begeistert und drückte Ursels Hand ; diese aber fiel ein :
" Er kann ebensogut dich meinen ! ja , er muß es ! "
" Wir wollen nicht darüber streiten , " sagte Wilhelm , " ich glaube , jede von Ihnen fand in der anderen etwas Gutes , jede fand das andere Ich . "
" Ja , ja , " klang es wieder wie aus einem Munde , " und wie er uns kennt , " flüsterte Ursel bewundernd .
" Und welch herrliches Gedicht !
Ich kannte es nicht . "
" Nun ist es aber genug , " ließ sich Axel scheinbar unwirsch vernehmen , " nun sind andere Leute wohl gänzlich ausgestochen , gänzlich zu Schatten geworden !
Und ich , der ich Ihnen zu dieser Glanzrolle verholfen , Trautmann - "
Alle drei brachen in fröhliches Lachen aus , und dann rief Franzi :
" Rächen Sie sich !
Kriegen Sie ihn unter mit einer neuen Deklamation !
Auch möglichst etwas , das wir nicht kennen ! "
Axel murrte noch etwas Unverständliches , dann sprang er auf und begann :
" Seefahrt .
Lange Tage und Nächte stand mein Schiff befrachtet ; Günstiger Winde harrend , saß mit treuen Freunden , Mir Geduld und guten Mut erzechend , Ich im Hafen .
Und sie waren doppelt ungeduldig :
Gerne gönnen wir die schnellste Reise , Gern die hohe Fahrt dir ; Güterfülle Wartet drüben in den Welten deiner , Wird Rückkehrendem in unseren Armen Liebe ' und Preis dir .
Und am frühen Morgen wurde es Getümmel , Und dem Schlaf entjauchzt uns der Matrose .
Alles wimmelt , alles lebet , webet , Mit dem ersten Segenshauch zu schiffen .
Und die Segel blühen in dem Hause , Und die Sonne lockt mit Feuerliebe , Ziehen die Segel , ziehen die hohen Wolken , Jauchzen an dem Ufer alle Freunde Hoffnungslieder nach , im Freudtaumel Reisefreuden wähnend , wie des Einschiffmorgens , Wie der ersten hohen Sternennächte .
Aber gottgesandte Wechselwinde treiben Seitwärts ihn der vorgesteckten Fahrt ab , Und er scheint sich ihnen hinzugeben , Strebet leise sie zu überlisten , Treue dem Zweck auch auf dem schiefen Wege .
Aber aus der dumpfen grauen Ferne Kündet leisewandelnd sich der Sturm an , Drückt die Vögel nieder aufs Gewässer , Drückt der Menschen schwellend Herz danieder ; Und er kommt .
Vor seinem starren Wüten Streckt der Schiffer klug die Segel nieder ; Mit dem angsterfüllten Balle spielen Wind und Wellen .
Und an jenem Ufer drüben stehen Freund ' und Lieben , beben auf dem Festen : Ach , warum ist er nicht hier geblieben !
Ach , der Sturm !
Verschlagen weg vom Glücke !
Soll der Gute so zu Grunde gehen ?
Ach , er sollte , ach , er könnte !
Götter !
Doch er steht männlich an dem Steuer ; Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen , Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen :
Herrschend blickt er auf die grimme Tiefe Und vertrauet , scheiternd oder landend , Seinen Göttern . "
Axel sprang von seinem Baumstumpf herab und verbeugte sich .
Franzi , mit blitzenden Augen , rief : " Prachtvoll !
Man sieht Sie am Steuer stehen , Axel , und mit den Elementen ringen !
Ich - o , ich begreife Ihre Lust , zur See zu gehen ! "
" Man sieht aber auch den » angsterfüllten Ball « , mit dem » Wind und Wellen spielen « , " klagte Ursel , " und ich weiß , wie oft wir denken werden : » Ach , warum ist er nicht hier geblieben ? « "
Jetzt sah auch Franzi nachdenklich aus , aber dann meinte sie mit leisem Kopfschütteln :
" Es wird doch alles nicht helfen !
Axel ist ein Seefahrer , er kann nicht am friedlichen Strand bleiben . "
" Aber er wird heimkommen , " rief Axel froh , " und wohl ihm , wenn dann » auf dem Festen « » Freund und Lieben « ihn erwarten , nicht » bebend « , sondern vertrauend ! "
" Wir werden heroisch , " bemerkte Wilhelm , und Ursel fiel wieder bedenklich ein : " Ach , ich denke nur an Mama ; sie wird schrecklich leiden , wenn du es durchsetzest , zur See zu gehen , Axel . "
" Aber sie würde noch mehr leiden , wenn sie den Sohn in einem ungeliebten Beruf sähe , " meinte Wilhelm , " das ist doch die Art der Mütter ; das wissen wir von der unsrigen , nicht , Franzi ? "
" Ja , und etwas Sorge würde sie auf alle Fälle um diesen Sohn haben , " rief Franzi lebhaft , " ich kann mir nicht denken , daß Sie sich glatt und gefahrlos durch das Leben schlagen ! "
" Ich auch nicht ! " rief Axel feurig .
Ursel aber sagte hastig :
" Jetzt komme ich ans Deklamieren .
Auf die Bühne aber steige ich nicht ; es geht auch im Sitzen . "
" Aber die Erbsen müssen fort , " meinte Franzi und machte ihr die Hände frei , und als das eben mutig erglühende Gesichtchen schon wieder schüchtern wurde , raunte Axel ihr lachend zu :
" Jetzt schnell , ehe die Brandung wiederkehrt ! "
Da lächelte sie und begann :
" Denken die Himmlischen Einem der Erdgeborenen Viele Verwirrungen zu , Und bereiten sie ihm Von der Freude zu Schmerzen Und von Schmerzen zur Freude Tieferschütternden Übergang :
Dann erziehen sie ihm In der Nähe der Stadt , Oder am fernen Gestade , Daß in Stunden der Not Auch die Hilfe bereit sei , Einen ruhigen Freund .
O segnet , Götter , unseren Pylades , Und was er immer unternehmen mag !
Er ist der Arm des Jünglings in der Schlacht , Des Greises leuchtend Auge in der Versammlung :
Denn seine Seele ist stille .
Sie bewahrt Der Ruhe heiliges unerschöpftes Gut , Und den Umhergetriebenen reichet er Aus ihren Tiefen Rat und Hilfe . "
Diesmal war der Erfolg noch glänzender als bisher .
Alle drei Zuhörer klatschten laut in die Hände , denn niemand hatte der schüchternen Ursula diese hübsche , ausdrucksvolle Art zu sprechen zugetraut .
Axel verstieg sich sogar dazu , vor aller Augen seine Schwester in den Arm zu nehmen und zu rufen : " Du kleiner Angsthase , du kluges Küken !
Steht da wie ein kleines Heldenweib !
Na warte , du wirst auch mein Schiff dereinst tapfer absegeln sehen !
Und der » ruhige Freund « ? "
Er unterbrach sich und blickte auf Wilhelm .
" Ich will_es sein , wenn Sie mich annehmen , Axel !
Haben Sie es so gemeint , Fräulein Ursula ? "
Sie nickte , und die jungen Leute reichten sich die Hände .
" Auf Du und Du ! "
" Trinken müssen wir die Brüderschaft ein andermal , " meinte Axel lustig , " hier gibt es wohl Beeren um uns herum , aber keinen Beerenwein !
Nun aber fix , Fräulein Franzi , Sie allein fehlen noch mit einer poetischen Produktion ! "
" Ach , ich ! " rief Franzi , sprang auf und reckte die Arme .
" Edel sei der Mensch , Hilfreich und gut !
Denn das allein Unterscheidet ihn Von allen Wesen , Die wir kennen .
Weiter weiß ich es nicht , und es genügt auch , meine ich !
Ich wenigstens bin von nichts mehr erfüllt und durchdrungen augenblicklich , als von dem Dank gegen all meine » edlen « hilfreichen Menschen ! "
Damit zog sie Ursel von der Bank auf und meinte weiter :
" Komme , komme , wir dürfen hier nicht länger schwelgen .
In der Küche wartet Mutter auf die Johannisbeeren .
Aber es war eine herrliche Stunde !
Nie vergessen , Kinder , hört ihr ? "
Sie gingen dem Hause zu , die beiden Jünglinge auch beladen mit Körben und Schüsseln , alle angeregt und bewegt , wie selten .
Alles redete durcheinander , bis sich Franzis Stimme plötzlich jubelnd erhob in selbstgemachter Melodie :
" Edel - edel sei der Mensch - hilfreich und gut - ja , gut ! "
Und dann wieder ernsthaft : " O was werde ich abzutragen haben an Dank für alles , womit edle Menschen mir zu Hilfe kommen in meinem heißen Streben . " 17. Kapitel .
Vorbereitungen und Veränderungen Als die ungeheure Aufregung infolge der großen Entscheidung durch die Güte der Fürstin sich etwas gelegt hatte , geriet Franzi Trautmann in einen eigentümlichen Zustand .
Wie Ursel " nach der Gefahr erschrocken " und krank geworden war , nicht nur durch Erkältung , sondern von der hohen Anspannung und Erregung , so wandelte Franzi nach aller Begeisterung , allem sehnsüchtigen Streben eine Art Kleinmut an .
War es auch nicht vermessen , was sie vorhatte ?
War sie wirklich talentvoll genug ?
In Herrenhausen vor der Fürstin hatte sie gut gespielt , einzig in dem Gedanken :
ich muß Ursula Ehre machen , daß sie sich nicht zu schämen braucht , für mich gebeten zu haben .
Der Hofkapellmeister hatte direkt zu ihr ja nicht viel gesagt , aber sie hatte ihm seine Zufriedenheit doch angemerkt und sein Urteil der Fürstin gegenüber mußte wohl sehr entschieden und warm ausgefallen sein .
Ihr lieber alter Lehrer war glücklich , als sie ihm alles erzählte , aber froh , nicht dabei gewesen zu sein .
" Viel besser , viel besser , " wiederholte er mehrmals , " daß Sie unbeeinflußt von meiner Gegenwart waren , und das Zeugnis des Hofkapellmeisters , der Sie gar nicht gekannt hat , fällt auch mehr ins Gewicht .
Nur ruhig und mutig , die Sache geht jetzt von selbst ihren Gang . "
Der Lehreifer und die Vielseitigkeit des alten Herrn schienen nun täglich zuzunehmen , Franzi mußte sich in den Stunden anstrengen , ihm zu folgen .
Aber das war gut , sie wollte diese Anstrengung , denn sie hatte oft wunderliche Gefühle .
In Haus und Garten brauchte sie jetzt nur noch so viel zu arbeiten , als sie wollte .
Herr Bauer hatte feierlich erklärt , er beanspruche ihre Dienste nicht mehr , Frau Trautmann sollte die letzten paar Wochen ihre Tochter als Gast bei sich sehen .
Damit waren aber beide nicht einverstanden , und Franzi half nach wie vor überall .
Nur hatten Mutter und Tochter freilich mit der Ausstattung für letztere zu tun , die Arbeit für das Weißwarengeschäft mußte einstweilen abgesagt werden .
Nun saßen sie wirklich und nähten Wäsche für Franzi selbst , und die Stickerei und Häkelei zum Ausputze lieferte diesmal Ursula .
Auch Inge erbot sich zu einer Beisteuer und schenkte von ihren feinsten neuen Taschentüchern ein Dutzend .
Und Mama - ja , die tat natürlich das Beste .
In den Tagen , als die großen Entscheidungen fielen , hatte Frau Dahland einen Besuch in der Gärtnerei gemacht und mit Franzis Mutter eine herzlich teilnehmende Aussprache gehabt .
Die beiden Frauen in so verschiedener Lebensstellung , die zarte , aber willensstarke Frau Trautmann und die frische , warmherzige Rätin Dahland , hatten das gleiche Gefallen aneinander gefunden wie ihre Söhne und Töchter ; ja , es war für die alleinstehende Frau Trautmann etwas Großes , sich einmal mit einer feinfühlenden Frau aussprechen zu können , über alles , was ihr Leben im letzten Jahr so wechselvoll erfüllte .
Und als die Rätin dann in aller Zartheit bat , auch etwas für Franzis Ausstattung beitragen zu dürfen , nahm Frau Trautmann mit der ihr eigenen Einfachheit und Geradheit an .
Sie war sich ja bewußt , daß sie selbst tat , was sie konnte , - fand sie eine freundliche Menschenhilfe , so sah sie darin eine höhere Hand und nahm an mit Dankbarkeit und ohne falsche Scham .
Die Rätin sagte nun , daß sie Ursel , die so sehr gewachsen sei , zum Winter völlig neu ausstatten müsse , zum ersten Male auch mit längeren Kleidern ; da habe sie gedacht , alles doppelt und ganz gleich anzuschaffen , damit die Freundinnen , wenn künftig getrennt , auch durch ihre Kleider immer aneinander erinnert würden .
Die Mädchen jubelten über diese Idee und zum ersten Male interessierte sich Ursel lebhaft für Kleider , Mäntel und Hüte .
Es mußte alles ausgesucht werden , wie es Franzi am besten stand , und Axel neckte sie :
" In diesem Fall hast du es gut , Ursche , weil euch beiden dasselbe paßt , euch beiden Schwarzbraunen ! "
Ursel war verdutzt , diese Berechnung hatte ihr völlig fern gelegen .
Franzi aber meinte :
" Dein Bruder hat immer so nette Einfälle , Wilhelm würde gar nie darauf kommen ; der sieht überhaupt nicht , was wir tragen . " - O ja , Wilhelm sah es doch , daß seine Schwester immer noch das abgetragene und zu kurz gewordene Trauerkleidchen trug , während Ursula wenn auch einfach , doch immer als das sorgfältig und hübsch gekleidete Kind aus gutem Hause erschien .
Aber es machte ihm nicht viel aus !
Franzi in ihrer Frische war immer hübsch in den brüderlichen Augen , und die sanfte Ursula mit dem so verinnerlichten Ausdruck ihres nur etwas zu blassen Gesichts konnte für ihn nicht hübscher werden , ob sie ein Kattunkleidchen trug oder ein sogenanntes " modernes Kostüm " , wie Axel sich ausdrückte .
Dieser hatte mehr Sinn für dergleichen , aber im Grunde waren sie alle viel zu sehr für das Natürliche und Bequeme , um jemals der " Eleganz " wegen sich beengt zu fühlen .
Wenn man ruderte - die Mädchen lernten es auch - mußte man sich rühren und kräftig ausholen können und es durfte nicht darauf ankommen , daß die Kleider einmal Spritzwasser erhielten .
Bei Wanderungen mußte man ungehindert klettern können , denn es gab in der Umgebung von Wendenburg auch sogenannte Berge ; und wenn Regen drohte , durfte nicht immer ängstlich nach den Wolken geschielt werden !
O die schönen , schönen Sommertage !
Franzi sang noch oft das Lied von den wilden Rosen , wie damals auf dem Rohrwerder ; aber die waren verblüht , die Ernte längst im vollen Gange - hie und da sogar schon ein Stoppelfeld zu sehen .
Die weißen Sommerfäden flogen und fingen sich in den schwarzbraunen Zöpfen der Mädchen , die Beeren der Eberesche schimmerten purpurrot und die Gärten bekamen ein herbstliches Aussehen .
Auf den berühmten Spargelbeeten der Schloßgärtnerei , wo der Grund zu der großen Freundschaft gelegt worden war , wuchs ein Wald von grünem Kraut ; Erbsen und Bohnen wurden zum Trockenen gepflückt , mächtige Kürbisse geschleppt und die frühen Obstsorten schon abgenommen .
Blumen gab es immer noch , und je später im Jahr , desto bunter und prangender erschien der Flor .
Zwischen den hohen Malven und Sonnenblumen gingen die Mädchen gern hin und her , redeten vom nahen Herbst und freuten sich und - fürchteten sich .
Eine große Veränderung stand in beiden Häusern bevor .
Der erste , der aus dem so vertraut gewordenen Kreise schied , war Wilhelm , obwohl aus den acht Tagen , welche die Mutter sich erbeten hatte , gerade vier Wochen geworden waren .
Der Obergärtner hatte in letzter Zeit große Gutmütigkeit gezeigt .
Die Familie Trautmann in allen ihren Gliedern nötigte ihm Respekt ab ; er wollte nicht zurückstehen an guter , feiner Gesinnung .
Anfang September aber reiste Wilhelm doch ab ; die Mutter selbst bestand darauf .
Die nächste , die dann ging , war Inge .
Sie reiste nach Schweden !
Von den dortigen Verwandten schon lange eingeladen , sollte sie möglichst bis zum Frühling dort bleiben , und sie freute sich außerordentlich auf diesen nordischen Winter .
Ursula dachte mit gemischten Gefühlen an diese bevorstehende Trennung .
Vor einem Vierteljahr hätte sie sich nur gefreut , jetzt fand sie einen solchen Gedanken Unrecht , ja verwerflich .
Nur so viel gestand sie sich im stillen zu :
Wenn Inge wiederkommt , wird alles anders sein ; der so lange betonte Unterschied zwischen groß und klein , der in letzter Zeit schon ein wenig im Schwinden war , wird dann keine Bedeutung mehr besitzen .
Und was war aus ihrem Quälgeist , ihrem " Feind " geworden , wie sie Axel damals im Tagebuch bezeichnet ?
Der beste , vertrauteste Bruder !
Nicht immer Kavalier ihr gegenüber , das hätte sie auch nicht erwartet , aber er war ihr ein lieber guter Kamerad .
Die Spannung vor dem Examen machte ihn unwillkürlich ernster , und für alles , was dazu gehörte , traute er diesmal Ursel mehr Verständnis zu als Inge .
Große Vorträge hielt er ihr , die darüber beglückt und stolz war , und sich gern zum " Überhören " erboten hätte , wenn ihr das nicht zu kindlich erschienen wäre gegenüber dem künftigen - - ja , was wurde eigentlich aus Axel ?
Ging er auf die Universität oder zur Marine ?
Im Familienkreise war wenig davon die Rede , aber man fühlte es den Eltern an , daß sie unter sich mit wichtigen Erörterungen und Erwägungen beschäftigt waren .
So hatten sie alle ihre Gedanken , ihr reichbewegtes inneres Leben , und die sogenannten " Kleinen " , die sonst eine große Hauptrolle spielten , fühlten sich beinahe zurückgesetzt in dieser Zeit .
18. Kapitel .
Die kleinen Vagabunden Die kleine Elfi , die zur Schule kommen sollte , beklagte sich sehr , daß niemand sich für ihr Ränzel , ihre Fibel und Tafel interessierte , die sie doch jeden Tag probeweise packte und mit wichtiger Miene durch den Vorgarten bis an die Straße trug , wo sich , hierdurch angelockt , bereits ein Nachbarskind gefunden hatte , das versicherte , es ginge auch nächstens zur Schule , in dieselbe Schule !
Sie könnten ja dann immer zusammen hingehen .
Elfchen war also nahe daran , im Gegensatz zu Ursel , schon vor ihrem Eintritt in die Welt der Schule Freundschaften zu schließen !
Die kleinen Vagabunden faßten den Umstand , daß sie etwas weniger beachtet wurden , anders auf und vollführten manchmal Streiche , die den ihnen sozusagen angeborenen Ehrentitel berechtigt erscheinen ließen .
Eines Tages hatten sie einen Orgeldreher mehrere Straßen weit verfolgt und genau beobachtet , wie er sein Geschäft betrieb .
Darauf hatten sie sich ein wenig verirrt , aber ohne Unglück doch wieder den Weg nach Hause gefunden .
Nun wollten sie selber Orgeldreher sein !
Eine Spieldose befand sich im Kinderstubenschrank .
Sie stand zwar im obersten Fach , um nicht ohne weiteres erreichbar zu sein ; aber Robert kletterte auf einen Tisch , der erst mit Gepolter herbeigezogen wurde , dann noch auf eine Fußbank , die natürlich umfiel , und gelangte schließlich zu dem sorgfältig gehüteten Schatz .
Nun schnitten sie von Zeitungspapier sich " solche Zettel " zurecht , wie der Leiermann hatte , und dann kniffen sie heimlich aus .
Am gelben Tor vorbei , den Wiesenweg hinunter , bis zum Eingang des Schloßgartens .
Es waren in Wirklichkeit nur drei Minuten , aber so allein kam es ihnen doch wie eine Reise vor , obgleich sie spornstreichs rannten .
Vornan im Schloßgarten , wo mehrere Alleen sich kreuzen , hielten sie es dann für geeignet , sich aufzustellen .
Robert bearbeitete die Spieldose und wurde von Bertram ermahnt , er müsse auch die Augen dabei verdrehen !
Dieser selbst las und sang unmögliche Dinge von den Zeitungszetteln ab und hielt seine Mütze vor sich hin für etwaige milde Gaben !
Es kamen nur leider sehr wenig Spaziergänger vorbei , da es um die Zeit nach Tisch war , wo die meisten Leute Nachmittagsruhe halten .
Die Leiermänner beschlossen daher , den Schauplatz ihrer Tätigkeit zu verlegen .
Am besten würde es gewiß auf dem Markt sein !
Nur wußten sie nicht , wie man dahin kam .
Vielleicht , wenn man durch die nahegelegene Allee ging und dann am Schloß vorbei ?
Gerade wollte sich Robert die Spieldose an einem dicken Bindfaden über den Rücken hängen , wie sich_es gehört , da schrie Bertram :
" Da kommt einer !
Fix spielen ! "
Robert drehte , und : " Einst spielte ich mit Zepter und Kronen " erklang in rasendem Tempo , während Bertram sang :
" Wer will unter die Soldaten ! "
Der Herr , der daherkam , lachte schon von weitem ; als er aber die ausgestreckte Mütze sah , legte er recht ernsthaft ein paar Kupferstücke hinein .
Die kleinen Jungen in ihren weißblauen Matrosenanzügen , mit den blonden Lockenköpfen und der wichtigen Miene in den süßen Gesichtern , waren allerliebst !
Er mußte sich erkundigen , wer sie waren , und als der " Zettelmann " frischweg antwortete :
" Robert und Bertram Dahland ! " da lachte der Herr hellauf .
" Sieh da , ihr seid ja ein vielversprechendes Brüderpaar !
So jung schon seid ihr aufs Geldverdienen aus ?
Da werdet ihr einmal eine rechte Stütze für euren Papa sein . "
" Ja , er sagt sonst immer :
Jungen kosten so viel Geld !
Wir haben auch erst gestern wieder neue Stiefel bekommen ! "
" Ach so !
Na , findet ihr denn auch wieder nach Hause ? "
" Natürlich , " antwortete Robert stolz , " wir gehen bloß den kleinen Weg hier entlang , dann durchs Tor - und am Fürstenplatz wohnen wir . "
" Aber , " fiel Bertram ein , " wir gehen erst noch auf den Markt ; da sind mehr Leute , da kriegt man mehr Geld . "
" Aha ! Da hast du wohl recht ; aber vielleicht begnügst du dich heute mit der Einnahme von mir , wenn ich dir jetzt noch ein Lied abkaufe .
Kann ich einen Zettel haben ? "
" Ja , sehr gern , was wünschen Sie ?
» Wer will unter die Soldaten « oder » O Tannenbaum « ? "
" Ich bin für die Soldaten !
Du doch gewiß auch ? "
" Ja , ich will Husar werden , mit_dem Pferd ! "
" Und ich will bei die Kanonen !
Aber nicht auf_dem Wasser , wie Axel . "
So jung schon seid ihr aufs Geldverdienen aus ?
" Das sind ja schöne Aussichten für das deutsche Heer !
Da grüßt nur euren Papa und sagt ihm , der Onkel Oberst freute sich schon auf die Dahlandsöhne !
Und aufs Wasser will auch einer von euch ? "
" Ja , unser großer Bruder Axel . "
" Aber er soll nicht ! " fügte Robert hinzu .
" Nicht ?
Die Mama will es wohl nicht ? "
Robert nickte .
" Hm , er könnte ja Mal vertrinken ! "
" Aber er kann auch die ganze Welt zu sehen bekommen ! " meinte der Herr .
" Ja ? Sieht man die von's Wasser ? "
" Ja , auf dem Wasser kommt man allenthalben hin . -
Sagt Mal Mama , ich schicke ihr einen Gruß und einen Spruch , der wäre gut für eine Soldatenmutter :
Ich habe es gewagt !
- Könnt ihr das behalten ? "
" Natürlich ! " versicherten beide zugleich , und dann meinte der Oberst :
" Nun geht aber lieber gleich nach Hause ; ich werde aufpassen , bis ihr durchs gelbe Tor seid .
Den Markt gebt nur für heute auf .
Adieu , ihr kleinen lustigen Vagabunden ! "
" Ja , so heißen wir ! " schrien die kleinen Jungen seelenvergnügt und rannten davon .
" Du , Berti , " sagte der Orgeldreher unterwegs , " was sollen wir Mama ausrichten ? "
" Ich habe 'n Wagen ! " erwiderte der Zettelmann überzeugt .
" Ach bewahre !
Nun weiß ich schon :
Ich habe es gesagt ! "
" Ja , was hat er denn gesagt ? "
" Weiß ich auch nicht .
Mama wird es dann aber schon wissen . "
" Ja , die großen Leute wissen immer gleich alles , wenn sie sich was bestellen lassen .
Neulich schickte eine Frau und ließ bloß sagen :
Es wäre gut !
Da frag ich Mama :
Was ist gut ?
Da sagt sie :
Wenn du es auch nicht weißt , Berti , wenn Mama es nur weiß !
Also wird sie auch wohl verstehen , was der Herr gesagt hat . "
So plaudernd kamen sie bis ans Tor , drehten sich noch einmal um und sahen den freundlichen Herrn noch dastehen und winken .
Sie liefen nun geradewegs nach Hause , denn sie fanden , daß sie heute schon viel erlebt hatten , und daß der Markt für ein andermal bleiben könnte .
Durch die Begegnung mit dem lustigen Onkel Oberst hatten sie auch die Furcht verloren , es könnte Schelte geben für den Streiche .
Zu Hause hatte man gerade angefangen , sich zu beunruhigen , als die Kleinen weder in der Kinderstube noch im Garten zu finden waren .
Als sie nun so glückselig anspaziert kamen und ihre Taten furchtlos berichteten , mußte Mama sie ein wenig schelten , aber Papa konnte sich das Lachen nicht verbeißen .
Da die Familie sich gerade zum Kaffee versammelte , hörten alle die Begebenheit , und je nachdem wurden die kleinen Schlingel geneckt , bedroht oder geküßt , weil sie doch gar zu niedlich und schelmisch waren .
Als sie von dem Onkel Oberst erzählten , sagte Papa : " Aha , das ist Oberst von Prangken ; der wohnt in Westeck und nimmt immer den Weg durch die Allee . "
" Ist dessen Sohn nicht auch bei der Marine ? " erkundigte sich Axel .
" Zwei sogar , " antwortete Papa , schwieg aber sogleich wieder .
" Ja , und ich habe gesagt , " fing Robert wichtig wieder an , " unser großer Bruder wolle auch zu See , aber er sollte nicht - "
" Mama wäre ' bang , er vertrinkt ! " fiel Bertram ein .
" Kinder ! " entsetzte sich Mama , " ihr macht ja eine schöne Heldenmutter aus mir ! "
Den Jungen fiel nun der Auftrag ein , und sie verkündeten : " Der Onkel Oberst schickt dir auch einen Gruß - "
" Nein , einen Spruch ! "
" Der heißt :
Ich habe 'n Wagen . "
" Nein - ich habe_es gesagt ! "
Die Eltern sahen sich erstaunt und fragend an , Axel aber rief triumphierend :
" Ich weiß !
Es ist :
» Ich habe_es gewagt « !
Der Hütten-Spruch ! "
" Hütten-Spruch ?
Nee , Mutterspruch hat er gesagt , " rief Berti , " für 'ne Soldatenmutter ! "
Aber nun achtete niemand mehr recht auf sie , denn Axel war aufgesprungen und rief erregt :
" Liebe Eltern , ist euch dies nicht ein Wink ?
Kommen wir durch den Streiche der kleinen Vagabunden nicht vielleicht auf eine richtige Fährte ?
Du , lieber Papa , kennst ja den Obersten , sprichst ihn öfter - willst du nicht Mal bei ihm Erkundigungen einziehen ?
Wäre sein Wort und Rat nicht die sicherste Gewähr ? "
Axel hatte sich rot und in Feuer geredet , jetzt reichte ihm Papa die Hand über den Tisch und meinte ernsthaft :
" Wir wollen sehen . "
Mama aber sagte mit wehmütigem Lächeln :
" Und ich müßte mich ja wohl schämen , wenn ich mich dagegen wehrte , daß die Sache ernstlich ins Auge gefaßt wird - wenn meine Kleinen mich so in der Leute Mund bringen ! "
Diese Kleinen wurden gerade noch einmal von Axel in der Luft herumgeschwenkt und dann liefen sie fort , in sehr gehobener Stimmung , zu neuen Taten aufgelegt .
Nun wollte Elfi die Geschichte noch viel genauer hören und ihr wurde das Herz sehr schwer , daß sie nicht dabei gewesen war .
" Für Mädchen ist das nicht , " sagte Robert altklug , aber Bertram meinte : " Am Ende - warum nicht ?
Manchmal haben Orgeldreher auch eine Frau . "
" Ja , ja , " rief das Schwesterchen und klatschte in die Hände , " ich will die Frau sein - "
" Da mußt du eine große Mütze aufsetzen oder einen Hut . "
" Das kann ich auch , ich weiß schon einen !
Musching sitzt in der Küche und schält Äpfel , da braucht sie keinen Hut . "
" Aber sie gibt ihn uns nicht ! "
" O , den nehmen wir uns ! "
Richtig wurde heimlich der Hut stibitzt und nun in der Kinderstube die Toilette der Drehorgelfrau gemacht .
" Mein Kleid muß ich aber ausziehen , " bestimmte Elfi , " das ist ja gestickt !
Ich gehe im Unterrock . "
" Aber ein Tuch mußt du haben - die Decke von deinem Puppenwagen , die paßte dazu ! "
" Nun gib mir auch den Hut ! "
Den hatte sich Bertram inzwischen aufgesetzt ; er stand vor dem Spiegel und meinte ernsthaft :
" Ich könnt ' ebensogut Frau sein , wenn Elfi nicht wäre , der Hut paßt mir auch .
Drei sind überhaupt zu viel - was soll ich denn ? "
" Ich will aber mit ! " schrie Elfchen und hatte die Augen voll Tränen .
Da hatte Robert einen Einfall .
" Manchmal sind die Orgeldreher auch blind - ich mache die Augen zu , Elfi muß mich führen - und Berti verkauft Zettel ! "
" Das kannst du ja auch Mal tun , ich will auch Mal orgeln ! "
" Nein , du , Berti ; du kannst besser singen ! "
Hierauf war Bertram denn doch stolz , und sehr zufrieden mit der jetzigen Rollenverteilung begaben sie sich vors Haus .
Aber sie hatten nicht mit Muschebergen gerechnet !
Die erblickte vom Küchenfenster aus ihren Hut , ihren schönen schwarzen Hut , und so flink ihre alten Beine sie trugen , war sie draußen .
" Ji Takeltüg ! " schalt sie , " wer hat juch meinen Haut geben , meinen Sünndagshaut ?
Un , Elfing , wo süßt du ut ?
So in 'n Liwken und Unnerröckschen wußte du up de Straat ? "
Völlig angedonnert standen die Kinder ; mit Musching war nicht zu spaßen , und als sie nun kommandierte :
" Marsch , trüg ! " da traten sie einen kläglichen Rückzug an .
" Was wollte ji denn eigentlich maken in diesen Uptog ? "
" Orgeldreher spielen , " sagte Elfi kleinlaut , " ich bin die Frau . "
" I du biwohr , " eiferte Muschebergen , " un mein Haut is gaut naug für so 'n Rümdriversch ?
Nee , dor wurde nix ut !
Was füllen de Leute ' wohl denken ? De nennten mi jo wohl upstunns Örgeldreihersch ! "
Einen solchen Ausbruch hatten die Kinder nicht erwartet .
Das war ja viel schlimmer , als vorhin mit den Eltern ; die zankten gar nicht , und Axel hatte sie sogar noch gelobt und geschwenkt !
Sie machten untereinander aus , Musching wäre gar nicht mehr nett .
Sie wollten sie nie wieder in ihrer kleinen Stube besuchen ; dann würde sie schön traurig sein und ein andermal gewiß gern ihren Hut und alles erlauben !
Zum Glück hatte Ursula den Vorgang beobachtet und fühlte großes Mitleid mit der enttäuschten kleinen Gesellschaft .
Sie selbst war zwar niemals so unternehmend gewesen ; aber an den niedergeschlagenen Mienen erkannte sie , wie tief es gehen mußte .
Sie beschloß , sie zu trösten , und schlug ihnen in der Kinderstube das immer beliebte Spiel " Verkleiden " vor , was jubelnd angenommen wurde ; sie wurde an diesem Nachmittag noch so erfinderisch , daß sie die Genugtuung hatte , von den Kleinen als die allerbeste , liebste Ursel bezeichnet zu werden .
19. Kapitel .
Ersehnten Zielen entgegen In Heckendorf war Abschiedskneipe der glücklichen Gymnasiasten , die das Abiturientenexamen bestanden hatten .
Und unter den fröhlichsten war Axel Dahland .
Als seine schriftlichen Arbeiten so gut ausgefallen waren , daß man ihn vom mündlichen Examen entband , hatte der Landgerichtsrat noch einmal gründlich die schwere Frage der Berufswahl erörtert , und Axel unter anderem gesagt :
" Wenn ich Jurist werden sollte , statt zur Marine zu gehen , so wäre es für mich ebenso schlimm , wie für Wilhelm Trautmann , der einmal beinahe Gärtner werden sollte , statt Philologie zu studieren . "
" Oho , " meinte der Vater , " das ist doch noch ein Unterschied . "
" Ich weiß , wie du das meinst , Papa , " sagte Axel bescheiden , " aber - ganz Unrecht habe ich doch nicht .
Trautmann ist von klein auf ein Bücherwurm und der geborene Lehrer gewesen , wie Franzi sagt , obgleich er in Feld und Wald aufwuchs , von allen ländlichen Beschäftigungen umgeben .
Ich - obwohl dein Sohn , konnte mich nie für das juristische Studium begeistern .
Ich kann nicht mein Leben lang in Akten wühlen und Gerichtssitzungen halten , Papa ; ich muß mich rühren , ich muß mir die Welt ansehen , ich muß hinaus aus der Enge der Heimat in fremde Länder .
In mir steckt vielleicht noch etwas Wikingerblut ! "
" Fast scheint es so , " sagte Papa und sah lächelnd auf seinen blonden stattlichen Sohn , dem die Begeisterung aus den Augen strahlte , " Furcht hast du nicht !
Und mich - das kann ich nicht leugnen - freut jede Entschiedenheit !
Ich bin froh , daß du nicht zu den jungen Leuten gehörst , wie es heute so viele gibt , die mit zwanzig Jahren noch nicht wissen , was sie wollen .
So laß dir denn sagen , Axel :
Mama und ich sind darüber einig geworden , daß wir dir nichts mehr in den Weg legen wollen .
Erkundigungen habe ich auch schon genügsam einige - "
Weiter kam der Rat nicht , denn sein großer Sohn , sein junger Wiking , umarmte ihn stürmisch .
Und er umarmte heute alles !
Mama , die gute , zärtliche , mußte immer wieder bedankt und getröstet werden ; die Kleinen zappelten mehr in der Luft , als daß sie den Erdboden berührten , und Muschebergen mußte wieder einen Angriff auf ihren Hut erleiden , als sie wie gerufen daherkam , um einmal rundum gedreht zu werden .
Ursel aber schüttete Axel sein Herz aus , und sie strahlte mit ihm .
" Du und Franzi , ihr seid nun glücklich , " meinte sie , " ihr erreicht , was ihr euch so glühend gewünscht habt , und niemand gönnt es euch mehr als ich .
Nur kommt es mir vor , als kämet ihr mir jetzt plötzlich weit , weit voraus , und ich bliebe allein als Kind zurück . "
" Ach , Ursche , eines muß doch auch zu Hause bleiben und - sich nach uns sehnen ! " schloß er schlau , um sein eigenes Gerührtsein zu verbergen .
" Ach , das Sehnen , das wird Mama schon besorgen , auch Frau Trautmann ; ich werde genug zu trösten haben . "
" Na also , dann bleibst du zum Trost , auch eine schöne Aufgabe !
Und nun - mache mir das Herz nicht schwer - laß mich die Stunde genießen !
Die letzte Prüfungsnacht ist nun vorbei - Welt , ich umarme dich , nun bin ich frei ! " zitierte er aus dem " Liederbuch eines alten Herrn " , das zum Jubiläum des Gymnasiums kürzlich herausgekommen , und aus dem die humorvollsten Perlen jubelnd von den heutigen Primanern in ihr Repertoire aufgenommen waren .
" Mensch , bei der Abschiedskneipe nimm dich in acht , Kühl ist das Wasser und dunkel die Nacht , Ferne liegt Heckendorf , weit ist der Weg , Meide das Ufer und scheue den Steg ! " sang Axel und machte sich auf .
Da lief ihm noch Franzi in den Weg .
Sie hatte schon von allem gehört und wollte gratulieren .
" Also auf den künftigen Admiral ! " rief sie schelmisch , und " auf die große Künstlerin ! " erwiderte er ebenso und wagte zum ersten Male einen Handkuß !
Und nun war auch dieser große Entscheidungstag vorbei , näher und näher rückte die Trennung , und jede Stunde schien noch besonderen Inhalts voll .
Das war ein Korrespondieren , ein Besorgen , Packen und Abschiednehmen !
Für Franzi war in Berlin durch Fräulein Elsners Hilfe eine gute Pension ausfindig gemacht und auch Komtesse Léontine Wehrburg war von ihrem Kommen benachrichtigt .
Diese hatte einen so erfreuten Brief geschrieben in der Aussicht auf das Wiedersehen mit der Jugendfreundin , daß Ursula beinahe schon wieder eifersüchtig wurde .
Aber Franzi sagte bloß : " Und was wäre Treue und Dankbarkeit ?
Ein leerer Schall , wenn ich mich nicht auf Léontine freute !
Und wie viel Zeit werde ich denn auch haben , um Besuche zu machen !
Fräulein Elsner schreibt , daß das Konservatorium eigentlich den ganzen Menschen beansprucht .
Aber wenn ich Mal einen Abend bei Léontine sein und mit ihr von Wehrburg sprechen kann , vermagst du das dir nicht als Freude für mich zu denken ? "
" Ja , ja , " rief Ursel schon völlig beschämt , " gehe nur recht oft hin - und schreibe mir immer davon !
Zum Schreiben wirst du doch Zeit haben ? "
" O gewiß , den ganzen Tag kann man doch nicht Klavier spielen !
Und da ich nun gar nichts im Hause zu tun habe , vielmehr mich wie eine Prinzessin bedienen lassen muß , da auch an meiner Kleidung fürs erste nichts zu nähen und zu flicken ist - ach , Ursel , wie ist das doch hübsch mit all den neuen Sachen , und wie engelsgut von deiner Mama , uns beide völlig gleich einzukleiden !
Wie werde ich mir vorkommen !
Als ich neulich alles anpaßte , dachte ich immer : Ist das Franzi Trautmann ?
Was werden die kleinen Hündchen sagen ?
wie es bei Andersen in einer Geschichte heißt . "
" Nun , die Berliner Hündchen sind wohl an andere Pracht gewöhnt , " meinte Ursel lachend , " aber sage Mal - ist dir gar nicht bange vor dem großen Berlin ? "
" Ja und nein !
Ich kenne es ja nicht - ich weiß nicht , was ich zu fürchten habe .
Vor der Musik fürchte ' ich mich mehr ! "
" Aber Franzi , die kennst du doch ? "
" Darum eben .
Ich habe jetzt eine Ahnung , was sie bedeutet , was dazu gehört .
Herr Fritze hat mich noch gründlich eingeweiht in letzter Zeit , daß mir manchmal Hören und Sehen verging .
Wenn ich nun in Berlin nicht mitkommen kann ?
Wenn ich als nicht talentvoll genug entlassen werde ? "
" O Franzi , das wirst du uns doch nicht antun ! "
" Nein , du Engel , eigentlich darf ich das nicht ! "
Und die Freundinnen umarmten sich und lachten , aber die Tränen saßen gefährlich lose dabei .
Endlich war_es so weit .
Am 3. Oktober reiste Franzi , am 5. Axel .
Ursel blieb allein zurück , das Herz voll Betrübnis , aber auch voll guter , ernster Vorsätze .
Elfchen kam zur Schule , die kleinen Jungen in den Kindergarten - ja wirklich , das allgemeine große Streben erstreckte sich bis in die Kinderstube , schien alle aus dem Hause treiben zu wollen .
20. Kapitel .
Ankunft in Berlin Als Franzi in Berlin auf dem Lehrter Bahnhof eintraf , hielt sie ihre schöne rote Georgine , die als Erkennungszeichen verabredet war , recht preislich aus dem Fenster .
Aber vergebens !
In dem allgemeinen Gewühl , dem hastigen Kommen und Gehen , achtete niemand darauf und tief enttäuscht stieg die junge Reisende , die man zum ersten Male so allein in die Fremde geschickt hatte , als letzte endlich aus dem Wagenabteil .
Enttäuscht und - auch ein wenig ängstlich .
Aber nur ein wenig !
Sie war ja doch die tapfere Franzi , sie mußte auch in diesem Fall versuchen , sich durchzuschlagen .
Aber warum wohl Fräulein Zimmermann , die Pensionvorsteherin , nicht gekommen war oder jemand geschickt hatte , wie sie es doch in ihrem Brief so zuvorkommend versprochen hatte ?
Tag und Stunde der Ankunft stimmten genau wie verabredet - sollte die Dame sich nur verspätet haben ?
Aber nein , der allgemeine Schwarm hatte sich bereits verlaufen ; Franzi mußte sich endlich entschließen , den letzten nachzugehen und sich eine Droschke zu sicheren .
Dort stand mit Riesenbuchstaben das Wort " Ausgang " , dorthin wandte sie sich ; und hier redete der Schutzmann mit dem Helm über dem bärtigen Gesicht sie höflich an :
" Wenn Sie noch eine Droschkenmarke wünschen , Fräulein , hier ist meine letzte . "
Damit händigte er ihr ein Blechtäfelchen ein , worauf die Nummer 3344 stand .
Franzi blickte verständnislos darauf nieder .
" Was soll ich nun damit machen ? " fragte sie zaghaft .
Der Schutzmann begriff .
" Aha , zum ersten Male in Berlin , " sagte er gutmütig .
Dann wies er durch den Ausgang der Halle nach dem Droschkenstand und erklärte :
" Jetzt rufen Sie die Nummer , dann wird schon einer vorfahren . "
Franzi dankte und rief so mutig sie konnte :
" Dreitausenddreihundertundvierundvierzig ! "
Der erste weißlackierte Hut drehte sich nach ihr um und eine lustige Kutscherstimme sagte : " So macht man det nicht , Fräuleinchen !
- Dreiunddreißig vierundvierzig ! " trompetete er darauf , sein Nachbar gab es weiter und gleich darauf fuhr der bezeichnete Wagen vor .
Vergnügt wollte Franzi nun einsteigen und ihre Adresse nennen , als wieder der erste Kutscher menschenfreundlich fragte :
" Haben Se denn kein Jepäck nicht ? "
Richtig !
Franzi stand wie angedonnert , ihr Koffer !
Sie hatte ja einen Gepäckschein !
" Warten Sie , " bestimmte sie rasch , " ich muß meinen Koffer besorgen . "
Nun zurück in die Halle , die inzwischen völlig leer geworden war .
Auch der Schutzmann war nicht mehr da - nirgends ein Gepäckträger zu sehen - ja , sie hatte so viel Zeit vertrödelt mit dem Warten und Hoffen , daß doch noch jemand käme , sie zu holen .
Nun rannte sie hin und her in der riesigen Halle mit den vielen Türen - da endlich , die blaue Bluse eines Gepäckträgers !
Nun schnell den Schein abgeben , die Droschkennummer genannt - diesmal schon in der Kutschermanier - und dann zurück an den Wagen .
Ging es nun rechts oder links ?
Wie war sie gekommen ?
Sie flatterte unruhig hin und her , bis da ganz hinten wieder das erlösende Wort " Ausgang " auftauchte .
Gottlob , draußen hielt noch der Wagen , und der Nachbarkutscher meinte wieder schmunzelnd : " Na , det hätte schöne werden können , wenn wir det nette Körbchen so hier behalten hätten ! "
Franzi nickte ihm dankbar zu ; es war doch nett , daß es in Berlin auch menschenfreundliche Leute gab !
Nun würde sie wohl sicher hinkommen nach Wilhelmstraße 118 !
Wohlgeborgen saß sie dann im offenen Wagen , den hübschen neuen Koffer vor sich , und fuhr in den hellen Herbsttag hinein .
Welch ein Leben überall !
Was für hohe Häuser !
Und dort - Bäume !
Prachtvolles buntes Herbstlaub unter dem strahlenden Himmel , weiße Figuren schimmernd dazwischen - breite saubere Wege - ein Reiten und Fahren - Das war natürlich der Tiergarten .
Ach , so etwas Schönes gab es hier ?
Berlin war nicht nur ein steinernes Häusermeer ?
Franzi atmete wie befreit auf und schaute sich strahlend um .
Was würde Ursel sagen , Ursel , die immer eine Art Grauen vor Berlin gehabt und Franzi zuletzt fast damit angesteckt hatte ?
Aber schon bog der Wagen wieder ab und jetzt lag vor ihr ein herrliches Säulentor , so klassisch und groß im Stil , daß Franzi sich vor Ehrfurcht ganz klein in ihrem Wagen machte und mit großen Kinderaugen hindurchfuhr durch diese Perle von Berlin , das altberühmte und aus Bildern ihr wohlbekannte Brandenburger Tor !
Nun ging es über den großen " Pariser Platz " , wo die Wasser sprangen und das Leben sich drängte .
Dann eine nur kurze Strecke die " Linden " entlang , und nun bogen sie in die stillere Wilhelmstraße ein .
War es möglich - hier sollte die kleine Franzi wohnen ?
Hier , wo ein schweigsamer Palast neben dem anderen steht , der von Preußens , von Deutschlands Geschichte redet ?
Aber sie rollten weiter und weiter , leise auf dem schönen Damm , wie Franzi es gar nicht kannte , vorbei an des " eisernen Kanzlers " einstigem Palais , bis die Wilhelmstraße endlich auch ein bürgerlicheres Ansehen gewann und Läden und Mietshäuser zeigte .
Endlich hielten sie vor Nummer 118 .
Der Kutscher knallte auffordernd mit der Peitsche , Franzi sah an den Fenstern empor - aber auch hier schaute niemand ihr entgegen .
So zog sie in abermaliger Enttäuschung ihr Portemonnaie und bezahlte den Kutscher , der ihr mehr als drei Mark abforderte - eine Summe , die sie schrecklich hoch fand , die er aber lakonisch erklärte mit " von wegen det Warten ! "
Dann bequemte er sich wenigstens , ihr den Koffer in den Hausflur zu stellen , und hier mußte Franzi sich wohl oder übel entschließen , sich von ihrem Eigentum einstweilen zu trennen und die Treppen hinaufzusteigen .
Drei mußten es sein , das hatte sie sich gemerkt , und da war auch das Porzellanschild mit :
" Zimmermann , Damenpension . "
Auf ihr Klingeln kamen im inneren Korridor hastige , leise , schlürfende Schritte , Franzi sah sich einer kleinen , verwachsenen Dame mit feinen bleichen Zügen und entschieden ängstlichen Augen gegenüber .
" Fräulein Trautmann ? " klang es ihr fragend entgegen und dann erregt und überstürzt :
" Mein Himmel , nun sind Sie doch da !
Ist meine Karte nicht mehr angekommen ?
Ach , wie mir das leid tut !
Was machen wir nun ? -
Aber , bitte , kommen Sie herein - ich kann Sie doch nicht wieder fortlassen - ! "
Eine Dame mit feinen bleichen Zügen erschien im Eingang .
Nein , das hoffte Franzi aber auch sehr , daß das nicht geschah !
So ein ungastlicher Empfang !
Sie fühlte ein Frösteln und so sagte sie unbewußt etwas ernst und kurz :
" Mein Koffer steht im Hausflur ; ich darf wohl bitten , daß er heraufgeholt wird ? "
" Natürlich , ja gewiß , " sagte die kleine Dame wieder erregt , " die Guste geht sofort hinunter .
Und nun kommen Sie doch , bitte , und seien Sie nicht böse , daß alles so ungemütlich ist . "
" Ich verstehe nur gar nicht , " begann Franzi fragend , " ich war doch für heute angemeldet ? "
" Ja , ja , bestes Fräulein , das ist es eben ; ich habe nach dieser Anmeldung noch einmal an Sie geschrieben und Sie gebeten , zwei Tage später zu kommen , weil eine meiner Pensionärinnen das für Sie bestimmte Zimmer sehr gern noch bis dahin behalten und erst dann abreisen wollte . "
" Diese Nachricht habe ich nicht mehr bekommen , " sagte Franzi bestürzt , und die alte Dame fiel ein :
" Das ist eben das Unglück , es ist doch zu spät gewesen ; ich hätte auf Fräulein Kellers Bitte nicht eingehen sollen .
Nun , es hilft jetzt nicht , irgendwie muß Rat geschafft werden .
Freilich sind alle Zimmer besetzt !
Doch nun legen Sie hier einstweilen ab , bitte , und dann entschuldigen Sie mich , ich muß nach der Küche sehen ; in einer Viertelstunde essen wir . "
Sie klingelte jetzt , und ein Dienstmädchen mit hochrotem Gesicht und abgehetztem Ausdruck erschien in der Tür .
" Guste , holen Sie den Koffer des Fräuleins herauf , " sagte Fräulein Zimmermann , aber Guste versetzte unbefangen :
" Ich kann jetzt nicht aus de Küche , de Bouletten soll 'n doch wohl nicht verbrennen ? " und verschwand wieder .
Fräulein Zimmermann seufzte und folgte dem Mädchen , um es am Herdfeuer abzulösen , damit nur endlich der Koffer der neuen Pensionärin in Sicherheit kam .
Er wurde dann einfach im Eßzimmer hingestellt und Franzi damit allein gelassen .
Wie gern hätte diese Kamm und Bürste herausgenommen , sich gewaschen und ihr hübsches Reisekostüm vom Staub befreit .
Aber hier in diesem Zimmer mit den drei Türen ging das doch nicht !
So machte sie sich nach Möglichkeit mit dem Taschenkämmchen zurecht und setzte sich dann an das einzige breite Fenster des großen Zimmers und ergab sich in Geduld .
Bald erschien auch Guste wieder , noch etwas röter und unwirscher als vorhin , und deckte den Tisch für sechzehn Personen , wie Franzi schnell feststellte .
Auf einmal lief sie nach der Tür , die nach den Küchenregionen zu führen schien , und rief : " Fräulein Zimmermann , noch 'ne Serviette ! "
" Wie unmanierlich , " dachte Franzi entrüstet , und über all dem Neuen und Verwunderlichen , was sie hier sah und hörte , kam sie für den Augenblick von sich und ihren ersten kleinen Enttäuschungen ab .
Denn nun wurde eine Klingel mit andauernder Heftigkeit in Bewegung gesetzt , und aus allen Türen der großen Etage kamen die Pensionärinnen zu Tisch .
Franzi mußte sich ans untere Ende der Tafel neben Fräulein Zimmermann setzen .
Diese hatte aber so reichlich mit dem Ausgeben der Suppe , dem Schneiden und Vorlegen zu tun und daneben die unwirsche Guste anzuweisen , daß sie kaum ein Wort für ihren neuesten Gast fand .
" Fräulein Trautmann , " hatte sie mit einer flüchtig vorstellenden Handbewegung gesagt , dann ein paar fremde Namen genannt , und nun war das junge Mädchen wieder sich selbst überlassen .
Franzi fiel plötzlich ein , daß sie sich Fräulein Zimmermann unbewußt ähnlich wie Fräulein Charlotte Raumer vorgestellt hatte , die allgemein beliebte und verehrte Pensionatsvorsteherin in Wendenburg .
Wenn diese feine , anmutige Erscheinung mit dem klugen , gütigen Gesicht ihre junge Schar ausführte , folgten ihr nur wohlwollende und sehr interessierte Blicke , und manch kleines Mädchen dachte wohl :
" Zu denen da möchtest du auch gehören ! "
Nun , dies hier war ein völlig anderer Kreis , und Franzi sagte sich schnell , daß es ja keine Erziehungsanstalt für kleine Mädchen sei , sondern eine " Damenpension " !
Und sie selbst nun auch eine junge " Dame " , eine von den vielen , die sich in Berlin " ausbildeten " .
Taten sie das alle , diese viel Älteren , die ihr so fertig , so sicher erschienen , zum Teil so elegant und lebendig ? -
zum anderen Teil so ernst , angestrengt , ja schon grauhaarig ?
Die kleine Franzi machte in aller Stille mancherlei Beobachtungen , bis sie plötzlich von ihrer Nachbarin angeredet wurde :
" Sie sind erst angekommen , Fräulein ? "
" Ja , vor einer Stunde , " antwortete Franzi .
" Und was wollen Sie denn hier treiben , wenn ich fragen darf ? " Richtig , da war das Stichwort .
" Etwas treiben " , das mußte man hier .
" Ich will mich in Musik ausbilden . "
" O weh , " rief es da von gegenüber , " noch eine Musikbeflissene ?
Das wievielte Klavier bekommen wir dann in die Etage , Fräulein Zimmermann ?
Nummer sieben ? "
" Seien Sie froh , daß es keine Geige ist , " mischte sich lachend eine andere ein , " davor haben Sie ja doch am meisten Angst . "
" Allerdings , Fräulein Eschrich , Ihre Nachbarschaft sonst in Ehren , aber wenn Sie zu kratzen anfangen - "
" Dann möchten Sie wieder kratzen , und zwar am liebsten mir die Augen aus ! " fiel wieder das heitere Fräulein Eschrich ein , das die Bezeichnung " Kratzen " gar nicht übelzunehmen schien und sich jetzt an Franzi wandte , die mit erschreckten Augen zuhörte .
" Sie wundern sich , daß wir hier so über Musik reden , nicht wahr ?
Aber es ist nicht so schlimm gemeint !
Nur - so viel ist gewiß :
Die liebsten Hausgenossen sind wir Musikanten nicht , gelt , Zimmermännchen ? "
Die alte Dame lächelte schwach , und Fräulein Eschrich scherzte weiter :
" Da sind Malerinnen schon beliebter .
Sehen Sie Ihre und meine Nachbarin an - das bißchen Terpentingeruch verzeiht man , nicht wahr ?
Und nun gar unsere Gelehrten !
Sehen Sie da oben die drei Würdigen ?
Wenn sie Tintenfinger haben , was stört das uns ?
Ach , und solche , wie Fräulein Meyer , die den ganzen Tag in einem Büro arbeiten und hier nur schlafen und essen , das sind die Nettsten !
Nicht wahr , Meyerchen , Sie wissen sich von uns allen geliebt ? "
" Weil ich niemand störe ? " entgegnete die Angeredete , und über ihr abgespanntes Gesicht glitt ein freundliches Lächeln .
Auch sie schien nicht geärgert durch Fräulein Eschrichs übermütige Bemerkungen , und diese sah auch wirklich zu liebenswürdig aus ; man konnte ihr gewiß nicht böse sein .
So dachte Franzi , während sie voller Staunen diese Art von Unterhaltung anhörte , die ihr völlig fremd war , den anderen aber selbstverständlich zu sein schien .
Fräulein Zimmermann hob jetzt die Tafel auf , und nun schwirrte noch ein paar Augenblicke alles durcheinander .
Die Damen kamen mit allerlei Wünschen und Ansprüchen , und die Vorsteherin hielt geduldig allen stand .
" Nicht wahr , Fräulein Zimmermann , ich kann heute schon um halb sieben Uhr Abendbrot haben ?
Ich werde zur Philharmonie abgeholt . "
" Und ich möchte bitten :
Um zehn Uhr eine Flasche Bier und etwas kalte Küche auf meinem Zimmer , ja ? "
" Ach , bitte , darf Guste wohl ausnahmsweise heute nachmittag ein paar Schuhe für mich putzen ?
Ich habe keine trockenen mehr ! "
" Fräulein Zimmermann , meine Bettdecke ist mir nicht mehr warm genug ; darf ich für heute abend um ein Oberbett bitten ? "
" Ich muß um vier Uhr zur Bahn ; eine Droschke habe ich schon bestellt , wenn Guste nur den kleinen Koffer hinuntertragen dürfte , ich möchte den Portier nicht noch besonders bezahlen . "
So ging das durcheinander , und die alte Dame hatte für alle ein Ohr und bereitwillige Auskunft , während sie auf dem halb abgeräumten Tisch ein neues Kuvert zurechtrückte , augenscheinlich für eine Nachzüglerin .
Und jetzt kam diese auch schon herein , sehr eilig , den Hut noch auf dem Kopf , grüßte flüchtig und setzte sich zu ihrem verspäteten Mittagessen , während die anderen Damen sich wieder in ihre Zimmer zurückzogen .
" Fräulein Keller , " wandte sich die Vorsteherin an die Essende , " nun ist Fräulein Trautmann doch gekommen - "
" Wer ist Fräulein Trautmann ? " fragte die junge Dame gleichgültig .
" Aber ich bitte Sie , das ist doch die neue Pensionärin , die Ihr Zimmer haben soll ! "
" So , heißt die Trautmann ? " klang es wieder unbekümmert .
" Nun , da ängstigen Sie sich nur nicht !
Ich kann Ihnen mitteilen , daß ich mit meinen Angelegenheiten ziemlich fertig bin , schneller , als ich dachte ; ich kann , wenn es sein muß , noch heute abreisen . "
" Ach ja , " seufzte Fräulein Zimmermann , " das wäre gut !
Das heißt , Sie dürfen mich nicht falsch verstehen ; es tut mir ja sehr leid , Sie nicht länger behalten zu können , " fügte sie höflich hinzu .
Fräulein Keller lachte wieder unbekümmert und beachtete jetzt erst Franzi , die sich wieder still ans Fenster zurückgezogen hatte .
" Ah , da ist wohl meine Nachfolgerin ?
Ja , entschuldigen Sie , Fräulein , wenn ich Ihnen noch nicht das Feld geräumt habe !
Gedulden Sie sich nur ein paar Stunden , dann können Sie einziehen .
Ich werde gleich anfangen zu packen - kann Guste mir ein wenig helfen ? "
Wieder ein Auftrag für das abgehetzte Mädchen , dachte Franzi , als die beiden Damen nun das Zimmer verließen ; sie hätte gern den Tisch vollends abgeräumt und sich in der Küche nützlich gemacht - aber das ging doch wohl nicht gut .
Doch hier auf dem Tisch am Fenster lag so viel Wäsche , die augenscheinlich ausgebessert werden sollte , wenn nur erst jemand Zeit dazu hatte !
Mechanisch nahm Franzi ein Handtuch auf und begann , einen angefangenen Stopf fertig zu machen .
Ach , nur eine Beschäftigung !
Sie wußte ja nicht wohin mit sich !
Alle hatten zu tun , und sie , die sonst allzeit Tätige , wußte nicht , was sie sollte !
Hatte kein Zimmer , um sich auszuruhen , keine Gelegenheit , ihren Koffer auszupacken - - und niemand , der sich um sie kümmerte !
So nahm sie geschwind ein zweites Tuch und stopfte , als säße sie zu Hause - in der Gärtnerei , und wüßte nicht aus noch ein vor Arbeit .
So traf sie Fräulein Zimmermann , die vor Überraschung ihr Schlüsselbund fallen ließ .
" Ah , entschuldigen Sie , " stotterte Franzi , " ich wußte nicht , was ich anfangen sollte .
Darf ich Ihnen hierbei ein wenig helfen ? "
Die alte Dame sah fast gerührt aus ; dies war ihr noch nicht vorgekommen .
" Ich nehme es an , " sagte sie , " weil es wohl das erste und einzige Mal sein wird !
In Berlin hat niemand übrige Zeit , das werden Sie auch bald merken , liebes Fräulein , und niemand tut so leicht etwas für andere , wenn es nicht nötig ist !
Besonders in einer Pension wie hier nicht ! "
Franzi fand das traurig , ohne es recht zu verstehen , und meinte bescheiden :
" Aber wenn jeder einzelne es nicht leicht hat , sollte man sich doch desto mehr bemühen , einander behilflich zu sein . "
Fräulein Zimmermann nickte wieder mit dem gerührten Ausdruck , seufzte ein wenig und schwieg .
Sie hatte jetzt allerlei aufzuschreiben und zu rechnen , so blieb es eine Weile still im Zimmer , wie überhaupt in der Etage .
Dann aber begann wieder ein Türenklappen , Aus- und Eingehen , Klingeln und Laufen auf der Treppe - die kurze Mittagsrast war zu Ende .
Franzi stopfte noch immer und hatte so viel zu denken , daß ihr die Zeit wie im Fluge verging .
Da kam Fräulein Eschrich herein und hielt verwundert vor dem Fensterplatz an .
" Was für ein Tugendspiegel sitzt denn hier ? " rief sie lachend , " hat Fräulein Zimmermann Sie als Flickfrau aufgenommen ? "
Franzi erklärte errötend , wie sie dazu gekommen , und Fräulein Eschrich meinte gutmütig :
" Nun , der Fall wird ein einzelner bleiben ; denken Sie an mich , daß ich das heute gesagt habe !
Sie werden nie wieder um Beschäftigung verlegen sein , nie wieder übrige Zeit haben !
Wenigstens , wenn Sie es ernst meinen mit Ihrer Kunst .
Die Musik ist eine strenge Herrin und verlangt den ganzen Menschen . "
" Das sagte meine frühere Lehrerin auch schon ! " erwiderte Franzi freudig , " und auch mein alter Lehrer in Wendenburg ; ich bin völlig auf den Ernst gefaßt ! "
" Das ist recht .
Haben Sie sich schon entschlossen , bei wem Sie hier studieren wollen ? "
" Ja , an der Königlichen Hochschule . "
" O , das trifft sich ja nett ; dort geige ich auch . "
" Ach , da können Sie mir gewiß den Weg dahin zeigen , " bat Franzi erfreut , " ich bin für morgen vormittag zur Prüfung angemeldet . "
" Gern .
Ich habe zwar morgen keine Stunde , aber - wissen Sie was ? " unterbrach sie sich , " kommen Sie heute mit mir zu einem kleinen Spaziergang !
Ich habe in der Potsdamerstraße zu tun , da führe ich Sie gleich ein wenig in Berlin ein .
Wollen Sie ? "
" O , Sie sind sehr freundlich !
Gewiß will ich ! "
Auf sprang Franzi , daß Arbeit und Schere zu Boden fielen ; aber dann besann sie sich und packte fein säuberlich alles zusammen , wie sie es gewohnt war .
Darauf nahm sie wieder Hut und Jäckchen und betrat mit ihrer Begleiterin die Straße , ein gut Teil zuversichtlicher , als sie vor etwa drei Stunden hier abgestiegen war .
Beglückt und zutraulich sah sie in Fräulein Eschrichs hübsches Gesicht , und dieser machte es auch merklich Vergnügen , die junge Fremde mit den großen fragenden Augen zu führen und auf alles aufmerksam zu machen .
Solange sie in der stillen Wilhelmstraße gingen , ließ sie sich auch von Franzi ein wenig erzählen , von ihrer Reise , von der Heimat , von ihren Plänen und Aussichten für den Berliner Aufenthalt .
Als sie aber in die Leipzigerstraße einbogen , verbot sich das Plaudern von selbst , so viel gab es zu sehen und zu beachten , und als gar der Potsdamerplatz erreicht war , klammerte Franzi sich krampfhaft an den Arm ihrer Begleiterin und bat immer wieder : " O , einen Augenblick warten !
Ach bitte , nicht weiter - nicht da hinüber ! "
Fräulein Eschrich lachte .
" Da könnten wir lange warten !
Da ständen wir vielleicht heute abend noch hier , wenn wir warten wollten , bis die Menge sich verläuft .
Durch müssen wir , immer vorsichtig schlängeln !
Sehen Sie den Schutzmann dort ?
Wenn wir den erreicht haben , sind wir einen Augenblick in Sicherheit .
Nur vorwärts ! "
Und so ging es durch das Gewühl von Fußgängern und Droschken , zwischen den Wagen der elektrischen Bahn , den sausenden Fahrrädern und ratternden Automobilen hindurch , angeschrien von Zeitungsverkäufern und Blumenhändlern , bis sie glücklich die Potsdamerstraße erreicht hatten .
Franzi stand zitternd einen Augenblick still und sagte atemschöpfend :
" Das also ist das furchtbare Berlin , vor dem Ursel immer solche Angst hatte und nicht begreifen konnte , daß ich mich nicht auch fürchtete !
Das ist ja lebensgefährlich ! "
" Ja , armes Kind , und über diesen lebensgefährlichen Platz müssen Sie nun täglich , denn unsere Hochschule liegt in dieser Straße . "
" O wie schrecklich ! "
" Vielleicht werden Sie vorläufig immer fahren ? "
" Fahren ? "
" Ja , mit der Elektrischen , für zehn Pfennige . "
" Alle Tage ?
Das wird nicht angehen , " meinte Franzi bedenklich , denn es kam ihr natürlich wie ein unerhörter Luxus vor , wenn sie bedachte , wie mühsam sie sich bisher jedes Zehnpfennigstück verdient hatte .
Fräulein Eschrich lächelte über ihren ernsten , grüblerischen Ausdruck , sagte aber nichts weiter , und Franzi war auch schon wieder völlig in das Straßenbild vertieft .
Jetzt kamen sie an eine Musikalienhandlung , in welche die junge Geigerin eintrat , um Noten auszusuchen .
" Hier werden Sie wohl auch Ihre » musikalischen Lebensmittel « beziehen , " meinte sie dabei , " merken Sie sich nur gleich die Firma .
Und wie ist_es mit einem Klavier ?
Wollen Sie eines mieten ?
Auch das können Sie hier haben . "
" Ich weiß nicht , " sagte Franzi zögernd , " Fräulein Zimmermann hat geschrieben : Klavier im Hause . "
" Ach , das ist nichts , " entschied Fräulein Eschrich , " der verstimmte Klapperkasten im Eßzimmer ist gut , um einen Tanz drauf zu spielen , wenn wir Mal lustig sind , aber nicht für eine ernsthafte Musikstudentin ! "
Franzi wurde rot bei dieser Bezeichnung , und als Fräulein Eschrich noch sagte :
" Ich will Ihnen gern eines aussuchen helfen in den nächsten Tagen , " da rief Franzi dankbar :
" Sie sind aber wirklich sehr gut !
Und Fräulein Zimmermann meinte , in Berlin hätte niemand Zeit für den anderen , niemand wäre gefällig und hilfsbereit . "
" Sagte sie das , unser gutes altes Zimmermännchen ?
Nun , sie hat nicht ganz Unrecht .
Man wird schrecklich egoistisch , wenn man so in Pensionen lebt . "
" Wirklich ? Gerade da , wo man es so bequem hat , immer ein » Tischlein deck dich « und alles bereit ? "
" Gerade da .
Sehen Sie , wir arbeiten alle !
Wir lernen und üben , malen , schreiben - wir geben Stunden , sitzen in Redaktionen , in Arbeitsstuben - keine einzige von uns ist zu ihrem Vergnügen in Berlin .
Entweder wir bereiten uns auf eine Erwerbstätigkeit vor - was viel kostet - oder wir stehen schon drin in der Arbeit , die uns ernähren soll , und da heißt es erst recht : Immer unentwegt vorwärts !
Ach , und da verlernt man mitunter die Rücksichtnahme , die Selbstlosigkeit , auf die man in der Familie von jeher hingewiesen war !
Jede einzelne steht allein mit ihrer großen Aufgabe , an die sie ihr Leben setzt ; da kommt es wohl vor , daß wir in kleinen Äußerlichkeiten egoistisch erscheinen . "
" Aber Sie nicht , " sagte Franzi warm und blickte bewundernd in das hübsche und jetzt so ernste Gesicht .
Diese Mitpensionärin gefiel ihr ausnehmend .
" Sie helfen mir ja fortwährend ! "
" Nun , das ist nicht weit her ; dies Wenige tu ' ich gern , weil Sie so ein lieber , netter Kindskopf sind ! -
Und nun sehen Sie dahin , dort liegt unser Musentempel .
Mög's Ihnen recht gut darin ergehen ! "
Und Franzi blickte mit Ehrfurcht auf das Gebäude der Hochschule .
21. Kapitel .
Das neue Leben Von diesem ersten Ausgang wohl etwas müde , aber auch mächtig angeregt zurückgekehrt , fand Franzi ihr Zimmer bereits von Fräulein Keller geräumt .
Guste wirtschaftete freilich noch ziemlich wütend darin herum , meinte aber doch gnädig :
" Fräulein kann schon immer anfangen , einzukramen ; ich jähe gleich . "
" Ich kann Ihnen ja noch ein wenig helfen , " sagte Franzi freundlich , " geben Sie her , ich werde das Bett beziehen . "
" I wo , det wäre noch scheener ! " protestierte das Mädchen , " erst findet det Fräulein überhaupt kein Zimmer nicht - muß in de Eßstube sitzen un flicken - un denn soll sie sich noch det Bett alleine machen ?
Nee , daraus wird nichts . "
Und hastig nahm sie Franzi Decke und Laken wieder ab .
" Ich sage ja immer , das Fräulein Keller , die wußte nie , was sie wollte !
Hätte se nicht gestern abreisen können ?
Aber nee , da wurde Fräulein Zimmermann vom Himmel bis zur Erde gebeten , sie sollte ihr doch noch behalten .
Und die Olle sagt auch richtig » Ja ! « Nee , so was ! "
" Auguste , " sagte Franzi ernsthaft , " wir können doch nicht wissen , was die Dame hier noch zu tun hatte ; wir wollen nichts darüber sagen .
Nun ist ja auch alles gut . "
Dabei hatte sie schon wieder ein Tuch erfaßt und fing an , Staub zu wischen .
" Na ja , wenn Fräulein so sind , " meinte Guste , " denn man zu , mir kann es recht sind ! "
Sie lachte dabei zum ersten Male , und Franzi fand , daß sie eigentlich ein recht gutes Gesicht hatte .
Sie hatte sich wohl nur das Poltern so angewöhnt , weil ihr gar zu viel aufgepackt wurde und sie sich manchmal wehren mußte .
Franzi dachte an den " Egoismus " der Pensionsdamen und nahm sich vor , sich so viel wie möglich vor diesem Fehler zu hüten .
In diesem Augenblick fühlte sie sich ja so glücklich und reich !
Dies reizende kleine Zimmer sollte sie bewohnen , ganz allein , dies nette Schränkchen durfte sie einräumen mit all ihren neuen hübschen Sachen , und dort stand sogar ein kleiner Schreibtisch !
Wenn nun noch ein Klavier hereinkam , mußte es ja ein wahrer Salon werden !
Ach , das Klavier !
Franzi streckte plötzlich ihre Hände und bekam Sehnsucht , schnell ein paar Läufe zu üben .
Es war doch eigentlich unmöglich , morgen zur Prüfung zu gehen , ohne vorher noch einmal geübt zu haben ?
Aber auch hierfür wußte wieder Fräulein Eschrich Rat. Beim Tee Abends , als ungefähr nur die Hälfte der Damen anwesend war , machte sie die neue Pensionärin auch mit den anderen Damen , die Mittags am oberen Ende des Tisches gesessen hatten , bekannt und sagte dann :
" Bitten Sie doch Fräulein Salden , daß sie Ihnen ihr Klavier morgen früh ein halbes Stündchen freigibt ; ich weiß , sie ist dann nicht zu Hause .
Sie wollen doch jedenfalls die Finger noch einmal rühren , ehe Sie in die Hochschule gehen . "
" Sie denken doch an alles , " sagte Franzi glücklich , und Fräulein Salden , die das Gespräch und den Vorschlag gehört hatte , meinte lächelnd : " Ja , Fräulein Eschrich neckt alle ein bißchen , aber hilft auch allen , wo sie kann .
Natürlich darf ich da nicht zurückstehen .
Kommen Sie nur morgen in mein Zimmer ; von neun Uhr an bin ich fort . "
Und so saß Franzi am nächsten Morgen in dem größten und schönsten Zimmer der Pension vor einem guten Bächstein und spielte .
Gottlob , die Finger waren noch nicht steif , obwohl es ihr vorkam , als hätte sie seit Wochen nicht geübt ; so hatten sich die Eindrücke gejagt , daß ihr der gestrige Reise- und Ankunftstag mindestens so lang wie eine Woche erschien .
Also die Finger waren nicht steif , und ihr Mut war frisch !
Ihre Mozartische Sonate ging freudig , ihr Czerny perlte , und ihr Chopin machte ihr das Herz warm .
Als sie den Deckel des fremden Klaviers schloß , stand sie einen Augenblick mit gefalteten Händen , in stillem Gebet .
Und dann war sie mit ihren Noten auf der Straße und wußte schon genau den Weg , den sie zu nehmen hatte .
O , sie würde immer gut acht geben und sich zurechtfinden lernen in Berlin .
Wenn nur der entsetzliche Potsdamerplatz nicht wäre !
Aber es war genau solch Gewühl dort wie gestern , und zaghaft stand sie , wie am Rand eines Gewässers , das sie durchschwimmen sollte .
Sie konnte sich nicht entschließen !
Sie stand und stand , schon wurde sie angesehen - schon machte jemand eine Bemerkung - da stürzte sie vorwärts .
Ein paar Schritte - und es ging wieder nicht !
Todesangst in den Blicken , halb vornüber gebeugt , die Noten ängstlich an sich gedrückt , stand sie und glaubte jeden Augenblick überfahren oder umgestoßen zu werden .
Da erbarmte sich ein Schutzmann , faßte sie ohne weiteres am Arm und brachte sie über den Platz .
Nun erschien es ihr auf einmal sehr leicht und sie beschloß :
" Wenn ich zurückkomme , muß ich allein fertig werden ! "
Wenn ich zurückkomme !
Nun erst fiel ihr ein , daß das Schwerste ja noch vor ihr lag .
Die Prüfung !
" Ursel , meine Ursel , " flüsterte sie , " ich muß dir ja Ehre machen ! " und damit betrat sie das Portal der Hochschule .
Der Portier wies sie an , wohin sie sich wenden sollte , um in den Prüfungssaal zu gelangen .
Klavierspiel tönte ihr entgegen ; mehrere Damen und Herren saßen und standen in dem großen schönen Raum umher , als Franzi schüchtern eintrat .
Am Flügel saß gerade ein sehr junger Mann und spielte , so wurde sie nicht gleich beachtet .
Das Klavierstück war ihr unbekannt , aber das Spiel erschien ihr meisterhaft .
Das war doch wohl kein Schüler , sondern einer , der jetzt entlassen werden sollte ?
Aber nein , er mußte noch einiges spielen , kurze Sachen oder wenigstens solche , die nur halb zu Ende geführt wurden ; dann schien er Fragen beantworten zu müssen , darauf trat er mit einer Verbeugung zurück , und Franzi hörte , wie eine Dame neben ihr einem Herrn zuflüsterte :
" Er wird doch noch tüchtig studieren müssen .
Diese Wunderkinder und frühreifen Genies haben es eigentlich schwer , wenn die ernste Zucht über sie kommt .
Aber es geht doch nicht anders . "
" Ah , also das war ein Wunderkind ! " dachte Franzi .
Ja , das glaubte sie wohl ; so war ihr sein Spiel erschienen , das weit großartiger war , als sein knabenhaftes Äußeres vermuten ließ .
Und nun mußte er doch noch " ernsthaft studieren " , vielleicht sogar in manchem umlernen ?
Franzi seufzte , und die Dame , die eben gesprochen , sah sich nach ihr um .
" Sind Sie auch zur Prüfung gemeldet ? "
" Ja , " sagte Franzi und nannte ihren Namen .
Die Dame nickte .
" Gedulden Sie sich noch ein wenig ; zwei werden wohl noch vor Ihnen dran kommen . "
Jetzt trat eine Dame neben den Flügel , nicht sehr jung , wie es Franzi vorkam , aber sehr aufrecht und sicher .
Sie sang eine große Arie und zwei Lieder , und die Dame , die eben mit Franzi gesprochen , bemerkte wieder zu ihrem Nachbar :
" Das geht ja schon , das ließ sich aber auch erwarten ; sie will sich hier nur noch den letzten Schliff aneignen .
Wen haben wir jetzt ?
Aha , eine Anfängerin . "
Ja , das meinte Franzi auch .
Das junge Mädchen , das jetzt am Flügel Platz nahm , war sehr hübsch , sehr elegant und gar nicht ängstlich , aber - Franzi fand es beinahe anmaßend , daß sie sich in diesen hehren Raum wagte .
Ein völlig wertloses Salonstück , huschelig und unordentlich gespielt - und dabei diese sieghafte Haltung .
Sie wurde auch sehr schnell unterbrochen und eine Etüde verlangt .
Die ging noch schlechter .
Dann Tonleitern - o weh , o weh !
Franzi schämte sich in ihrer Seele für diese Leidensgefährtin ihrer Prüfungsnot .
Darauf eine sehr kurze Unterredung zwischen denen dort am Klavier - verstehen konnte man ja nichts - , aber das hübsche Fräulein wurde rot , machte einen schnippischen Knicks und verließ gleich darauf den Saal .
" Ist recht , " sagte wieder die urteilende Dame in Franzis Nähe , " für solche Grasaffen ist die Hochschule denn doch nicht da ! "
" Die nächste ! " hieß es jetzt , und dann fragend :
" Ist Fräulein Trautmann da ? "
Franzi erhob sich mutig und schritt auf das Podium zu .
Ein älterer Herr mit scharfen Augen hinter Brillengläsern tat einen Blick in ihre Noten und bat sie dann , zu beginnen .
Sie war sich nicht klar darüber , daß die eben abgewiesene Spielerin vielleicht eine gute Folie für sie sei ; aber jedenfalls hatte diese geringe Leistung ihr vorhin bei den prächtigen Darbietungen der beiden ersten sehr gesunkenes Selbstvertrauen wieder belebt .
Sie spielte gut .
Der alte Herr nickte , ließ sie etwas weiteres spielen , die lange Etüde mit einem Lächeln und freundlicher Handbewegung mitten drin abbrechen , ihr Notturno aber zu Ende spielen .
Dann kamen allerlei theoretische Fragen , bei denen sie auch gut bestand , und dann war_es abgetan !
" Die nächste ! " hieß es wieder , und Franzi wurde nur noch die Klasse genannt , in die sie von Montag an eintreten durfte , der Stunden- sowie der allgemeine Lehrplan der Anstalt wurden ihr vorgelegt und geschwind alles Äußere festgesetzt .
Als sie bei der Dame vorüberkam , beflügelten Schrittes und mit hochroten Wangen , nickte diese ihr freundlich zu und bemerkte dann wieder zu ihrem Nachbar :
" Die ist echt .
Die kann einem Freude machen . "
Franzi hörte dies nicht und achtete auch nicht mehr auf die weiteren Vorgänge im Prüfungssaal .
Sie sehnte sich jetzt hinaus !
Sie mußte sich rühren , sich tummeln , erzählen !
Tummeln ?
Die Berliner Straßen waren wohl kein Ort dafür !
Erzählen ?
Ach , wo war die Mutter !
Wo war Ursel !
Wo war der liebe Schloßorganist , der vielleicht das größte Interesse und Verständnis für die eben überstandene Stunde gehabt hätte !
Sie hätte am liebsten an alle zugleich geschrieben .
Ja , das wollte sie auch tun , das war sie ihren Lieben schuldig .
Sie konnte ja Gutes berichten !
Sie war in die Klasse gekommen , auf die ihr alter Lehrer , wenn auch mit leisem Zweifel , für sie gerechnet hatte und das war vorläufig die Hauptsache !
Seelenvergnügt lief sie die Potsdamerstraße entlang , und als sie an den Platz kam , begab sie sich mit Todesverachtung in das Gewirre hinein .
Da grüßte sie plötzlich ein freundliches Gesicht aus der Elektrischen , und als diese gleich darauf hielt , sprang Fräulein Eschrich heraus , verabschiedete sich von einem Herrn , der Franzi auch bekannt vorkam , ohne daß sie sich jedoch bestimmt seiner erinnern konnte , und erwartete dann ihre junge Mitpensionärin an der Leipzigerstraße .
" Der Tausend , Kleine , " rief sie , " zu Fuß unterwegs ? "
" Zu Fuß und heil und ganz ! " frohlockte Franzi .
" Großartig !
Dann danken Sie wohl für meine weitere Begleitung ? "
" O nein , ich freue mich sehr darüber .
Wo waren Sie ? "
Im Menschengewühl des Potsdamerplatzes in Berlin .
" Auch in der Hochschule .
Ich wollte Sie abholen aus dem Prüfungssaal , aber Sie waren schon fort .
Na , es ist ja gut gegangen ! "
" Das wissen Sie schon ? "
" Ja , ich fuhr eben mit einem von den Lehrern .
Sie haben sich tapfer benommen und sind unserem » Alten « ein Gaudium gewesen mit Ihrer netten Ernsthaftigkeit , nachdem er eben einen kleinen » Grasaffen « ausgewiesen hatte . "
" Die war aber auch schrecklich , " platzte Franzi los , " daß die den Mut hatte , dahin zu kommen ! "
" Ja , " meinte Fräulein Eschrich , " es gibt eben immer noch Leute , die da glauben , Musik , die Kunst überhaupt , sei ein Pläsier , statt eine große heilige Lebensaufgabe .
Nun , Sie kleiner Schwarzkopf werden sie wohl anders auffassen !
Aber nun kommen Sie , ich zeige Ihnen jetzt » Wertheim « , da wollen wir uns ein bißchen erfrischen .
Wir haben noch beinahe zwei Stunden bis zu Tisch , und ich bin entsetzlich hungrig .
Sie nicht auch ? "
" Ja , " gestand Franzi kleinlaut , " ich habe heute wohl etwas zu wenig gefrühstückt . "
" Das dürfen Sie nicht tun !
Sie waren heute natürlich aufgeregt , aber sonst : Immer essen , essen !
In Berlin braucht man Kräfte , und wir wollen doch auch Ihre schönen roten Backen hüten ! "
Jetzt war der großartige Verkaufspalast in der Leipzigerstraße erreicht , und Franzi staunte wieder , als wenn die Schätze einer Märchenhöhle sich vor ihr auftäten .
Aber Fräulein Eschrich mahnte bald :
" Kommen Sie , kommen Sie , sonst fangen Sie mir gleich an zu kaufen !
Und das darf nicht sein .
In Berlin muß man lernen :
Alles sehen und nichts begehren ! "
" Ich bin auch gar nicht so begehrlich , " meinte Franzi treuherzig , " aber Schönes sehen mag ich zu gern .
Aber wollen Sie denn auch nichts kaufen ?
Und doch gehen wir hierher ? "
" Nein , heute will ich nichts kaufen als ein belegtes Brötchen oder ein Stück Kuchen . "
" Das gibt es hier auch ? "
" Ja eben , das ist das Praktische .
Wenn man müde und hungrig ist von allen Einkäufen , dann kann man sich hier gleich erfrischen .
Letzteres kann man aber auch ohne vorherige Einkäufe , wenn man nur sonst ein Recht darauf hat .
Und wir haben_es , wir sind fleißig gewesen . "
So durfte Franzi sich nur an wenigen der verlockenden Verkaufsstände aufhalten , und als sie dann an einem Tischchen oben in der Restauration saßen , mußte sie ihre Erlebnisse berichten .
Da war ja schon ihre Sehnsucht erfüllt !
Sie hatte jemand , dem sie " erzählen " durfte , und Fräulein Eschrich war eine freundlich teilnehmende Seele .
Franzis lebendiges Wesen , ihr rasches und natürliches Urteil machte ihr entschieden sehr viel Spaß , denn so jung und urwüchsig war keine von ihren sonstigen Pensionsgefährtinnen .
" Und wie ging es denn auf der Straße ? " erkundigte sie sich jetzt , " hat Sie auch niemand angeredet , wenn Sie so talergroße verwunderte Augen machten ? "
" Ach ja , " gestand Franzi munter , " einer hat gesagt : » Na , Fräuleinchen , Berlin is doch wohl schöne , was ? « "
Nun lachte ihre Gefährtin herzlich , und es wurde bald ein geflügeltes Wort in der Pension ; wenn das junge Kind aus der Provinz sich über so vieles verwunderte oder freute , hieß es : " Berlin is doch schöne , was ? " O ja , es ist schön .
Für ein junges empfängliches Gemüt gibt es eine Fülle von ungeahnten Eindrücken , und eine gesunde , kräftige Natur gewöhnt sich auch an die Anstrengungen , die mit den Genüssen verknüpft sind .
Franzi besaß beides , und unter ihren Mitpensionärinnen bildete sich bald das Urteil über sie :
Ein tüchtiges Mädel !
Die wird es schon zu was bringen im Leben !
Natürlich war sie nicht immer froh und leichtherzig ; es gab Stunden , wo das Heimweh sie schmerzlich erfaßte , wo ihr kindliches Gemüt es doch plötzlich nicht begriff , daß sie so in der Fremde sein mußte , von den Ihrigen getrennt !
Wo sie es schwer fand , immer eine " Dame " zu sein , der es zwar an nichts fehlte , die sogar " Ansprüche " hätte machen können wie die anderen , die aber doch im Grunde - allein stand .
Man war im allgemeinen zwar recht freundlich zu ihr , aber alle Damen hatten so entsetzlich viel zu tun !
Die Prophezeiung war doch richtig gewesen , daß keiner für den anderen viel übrig hatte .
Fräulein Eschrich blieb zwar nach wie vor sehr freundlich und hatte manchen Rat für die kleine Anfängerin , aber sie war doch auch sehr beschäftigt und viel fort .
Als Franzi sie zum ersten Male hatte geigen hören , war ihr klar geworden , daß sie mit einer angehenden Künstlerin bisher so harmlos verkehrt hatte , und von tiefem Respekt erfaßt , hatte sie gemeint , nicht mehr so viel von der älteren Gefährtin annehmen zu dürfen .
Fräulein Eschrich nahm zwar noch Unterricht , aber sie erteilte auch schon Violinstunden , ja sie spielte zuweilen in Konzerten mit , verreiste öfter , wurde in musikalische Zirkel geladen - genug : Franzi begriff , daß sie selbst nur erst ein kleines " Schulkind " war gegen diese fertige Dame .
Aber sie wollte ein fleißiges Schulkind sein , ihr Studium sollte ihr ganzes Glück ausmachen !
So übte sie mit einer unendlichen Regelmäßigkeit und Treue und war auch sehr bald auf dem Standpunkt aller echten Studierenden : Sie hatte niemals Zeit übrig !
Nur an den Sonntagen freilich , da feierte auch Franzi .
Zuerst gewöhnlich im Dom , und später dann in den schönen Kunstsammlungen , wo ihr wieder eine neue Welt aufging .
Aber auch für das von Heimweh bewegte Herz fand sich an den Sonntagen öfter ein Trost : Komtesse Léontine Wehrburg !
22. Kapitel .
Alte Freundschaft Als sie zum ersten Male nach der Kurfürstenstraße kam , wo die Gräfinnen Steineck ihre Wohnung hatten , war auf ihr Klingeln ein kleiner Diener erschienen , der mit wichtiger Miene ihre Meldung entgegennahm , dann aber beinahe umgerannt wurde von einem großen mageren Backfisch , der mit dem Ruf : " Franzi , ach Franzi ! " auf die junge Besucherin zustürzte .
Als der kleine Bursch gleich darauf zurückkam und steif verkündete :
" Gnädige Gräfin lassen bitten , " fuhr ihn die junge Komtesse an :
" Ach , lassen Sie doch die Faxen , Peter !
Wir kommen schon , und diese junge Dame wird künftig zu jeder Tag- und Nachtstunde eingelassen ; verstanden ? "
" Aber Tini , " warnte Franzi sanft , " noch immer so - "
" Ja , noch immer so !
Und nun , wo du kommst , erst recht .
Himmel , Franzi , wie siehst du reizend aus , was muß ich für ein Scheusal sein neben dir !
Peter , was haben Sie zu lachen ? " fuhr sie den heimlich grinsenden Groom in Livree wieder an , so daß er schleunigst seinen Rückzug antrat .
Léontine wiegte die Freundin an den Armen hin und her und konnte ihre ausgelassene Freude gar nicht mäßigen .
" Aber jetzt bringe mich zu deinen Tanten , " sagte Franzi , gerührt über den stürmischen Empfang , " wir dürfen nicht so unhöflich sein und warten lassen . "
Léontine zog die Stirn kraus .
" Ach , kann ich dich nicht erst allein haben ?
Die Tanten werden dich so viel fragen , und du wirst so schrecklich artig und höflich sein , und ich werde gar nichts von dir haben , " schmollte sie .
Da klang auch schon eine etwas strenge Stimme von der Tür her : " Nun , Léontine , wo bleibt deine Freundin ? "
Da beeilten sie sich einzutreten , und Franzi sah sich in einem großen eleganten Salon zwei älteren Damen gegenüber , denen sie mit ihrer hübschen freien Anmut die Hand küßte .
" Also Sie sind die liebe Freundin unserer Tini , " sagte die ältere Schwester .
" Seien Sie uns willkommen , " fügte die jüngere hinzu .
" Dürfen wir in mein Zimmer gehen ? " platzte jetzt Tini , die wie auf Kohlen dabei stand , heraus , wurde aber durch einen ernsten Blick zur Ruhe gewiesen .
" Später , Kind ; zunächst möchten wir das junge Mädchen kennen lernen .
Setzen Sie sich , liebes Kind ! "
Die kleine Komtesse schnitt heimlich ein Gesicht und balancierte dann höchst unzufrieden auf einer Stuhlkante , während Franzi den Damen artig Rede stand .
Tini hatte recht !
Sie hatten sehr viel zu fragen , diese Tanten !
Aber war es nicht natürlich ?
Mußte es sie nicht interessieren , die Kindheits- und Heimatsgefährtin ihrer kleinen Nichte kennen zu lernen , von dem Schicksal und den Zukunftsaussichten dieses Mädchens zu hören , von dem Tini so oft und mit größter Sehnsucht gesprochen hatte ?
Aber Tini wollte das nicht einsehen !
Verzogen und eigenwillig , wie sie war , verzehrte sie sich in Ungeduld , ihre Freundin für sich zu haben , und zürnte beinahe dieser Freundin selbst wegen ihres liebenswürdigen , wohlerzogenen Benehmens .
Jetzt sprachen sie von dem Glück , das Franzi widerfahren durch die hohe Gunst der Landesfürstin , wofür die Damen sich besonders zu interessieren schienen .
Gräfin Diana , die einst sehr schön gewesen sein mußte und öfter an Höfen verkehrt hatte , sagte :
" Sie müssen sich glücklich schätzen , mein Kind , das Interesse und die Fürsorge einer so edlen Frau zu besitzen , und alles tun , sich dessen würdig zu zeigen . "
" Das wird sie schon , " fuhr Léontine ungebärdig dazwischen , " Franzi tat von jeher nur was Würdiges ! "
" Und du scheinst sehr wenig würdig zu sein , Léontine , eine solche Freundin zu haben , " sagte Gräfin Diana mit strenger Betonung , während die kleinere , sanft blickende Gräfin Ludowika begütigend einfiel :
" Das Kind ist ungeduldig , liebe Schwester ; sollten wir die Jugend nicht jetzt ein wenig allein lassen ? "
" Du verziehst Léontine , " beharrte Gräfin Diana unzufrieden , während Tini mit dem Ruf : " Du bist ein Engel , Tante Wike , " dieser um den Hals fiel .
Darauf wurden sie denn wirklich entlassen mit der Weisung , in einer Stunde zum Tee zu kommen , und selig zog Léontine mit ihrer Franzi ab .
" Peter , " befahl sie im Vorübergehen dem Groom mit der wichtigen Miene , " Sie können uns eine Lampe bringen , aber dann wünschen wir ungestört zu bleiben . "
" Sehr wohl , gnädiges Fräulein , " sagte Peter grinsend , als wollte er sagen :
Wer sollte Sie wohl stören ?
In Leontinens Stübchen angekommen , umarmte die kleine Komtesse ihre Franzi noch einmal stürmisch und rief : " So , nun wollen wir uns aber ordentlich was erzählen !
Aber , bitte , nichts mehr von Musik und Konservatorium , von deiner Fürstin und dieser schrecklichen Ursula Dahland - "
" Tini !
Schreckliche Ursula sagst du ? "
" Na ja , sie mag ein Engel sein , aber mir ist sie schrecklich ; das sage ich dir , weil du dir so viel aus ihr machst .
Ich bin doch deine alte Tini , deine Freundin von jeher - "
" Aber höre doch , Ursula - "
" Nein , nein , ich mag nichts mehr von ihr hören , ein ander Mal vielleicht !
Heute wollen wir von früher reden , von Wehrburg , von meinem Vater - von eurem kleinen Haus !
Ach , Franzi , unser herrliches Wehrburg !
Werde ich es jemals wiedersehen ?
Ich kann nicht wieder glücklich werden , fern von Wehrburg ! "
Sie hatte Tränen in den Augen und sah so erregt aus , daß Franzi sie tief gerührt in die Arme nahm und tröstend über ihr Gesicht strich .
Léontine Wehrburg war ein verzogenes und eigenwilliges Kind , wozu ihre frühzeitige Kränklichkeit wohl zum Teil die Veranlassung gegeben hatte ; sie war auch hochmütig und hatte sonst manche Eigenschaften , die ihre Erziehung schwer machten und unter denen auch die Kindheitsgespielin gelitten hatte .
Aber für alles , was mit der Heimat zusammenhing , hatte sie eine wahrhaft leidenschaftliche Anhänglichkeit .
Wenn sie davon sprach , war sie liebenswürdig , zärtlich und dankbar ; dann hatte sie völlig andere Töne in der Stimme und das kecke Gesichtchen wurde sanft .
So erlebte es jetzt Franzi , und auch ihr ging das Herz auf in der Erinnerung an alte Zeiten .
Schloß Wehrburg und das väterliche Häuschen am Park traten ihr auf einmal so nah , daß Wendenburg und die Schloßgärtnerei für den Augenblick fast etwas Schattenhaftes bekamen .
Als aber Léontine sich allzusehr erregte und anfing , über ihr jetziges Leben zu klagen , da suchte Franzi doch unvermerkt etwas abzulenken und begann , sich im Zimmer und unter den Sachen der Freundin umzusehen .
Sie bewunderte auch den schönen Salon und das prächtige Eßzimmer , durch das sie vorhin gegangen .
Tini aber meinte verächtlich : " Ach , das ist aber auch die ganze Herrlichkeit !
Außerdem hat nur Tante Diana ein Schlafzimmer , so klein wie meines hier , und für Tante Ludowika wird jeden Abend im Eßzimmer auf dem Sofa ein Lager zurechtgemacht .
Findest du das vornehm ?
Ich nicht ! "
" Aber Tini , " sagte Franzi vorwurfsvoll , " denke Mal ein bißchen nach !
Bist du nicht undankbar ?
Ich vermute , daß deine Tante Ludowika früher dies Zimmer hatte .
Als du dann kamst , war nicht gleich ein übriges Zimmer da ; da hat die Gute dir das ihre abgetreten und behilft sich nun auf die Weise , wie du sagst . "
Léontine sah sehr betreten aus und rief dann :
" Du weißt doch immer gleich alles , Franzi .
Natürlich ist es so , aber ich habe noch nie daran gedacht !
Muß ich Tante nun anbieten , daß ich auf dem Sofa schlafen will ?
Das wäre aber schade ! "
" Sie würde es wohl nicht annehmen , " meinte Franzi , " aber ein bißchen dankbarer könntest du immer sein , und Bemerkungen , daß dir etwas nicht » vornehm « genug scheint , dürftest du gar nicht machen ! "
" Hm - du hast wohl recht - auch mit dem Dankbarsein !
Aber weißt du , es ist so schrecklich langweilig und demütigend , immer dankbar zu erscheinen ! "
" Nicht scheinen , Tini ; dankbar sein ! "
" Ach , das ist dasselbe .
Zu Hause hatte man immer alles und brauchte sich eigentlich nie zu bedanken . "
Franzi sah sehr ernst aus .
Diese Bemerkungen der ungestümen kleinen Gräfin gefielen ihr wieder gar nicht , aber sie mochte nichts mehr sagen ; sie fürchtete , Tini sonst die ganze Freude des Wiedersehens zu verderben .
Wenn Franzi zu viel " predigte " , wie Tini es früher nannte , dann pflegte letztere sich die Ohren zuzuhalten .
Jetzt wurde das Plauderstündchen auch schon unterbrochen und die jungen Mädchen zum Tee gerufen .
Dabei ging es nun wieder höchst vornehm zu , der kleine Diener wartete gravitätisch auf , und deshalb wurde die Unterhaltung meist französisch geführt .
Léontine tat dies sonst oft recht widerwillig , nahm sich aber heute zusammen und plauderte recht niedlich , stolz darauf , einmal etwas besser zu können , als ihre vielbewunderte Franzi , die augenscheinlich außer Übung war und sich daher etwas befangener gab als in der ersten Stunde .
Sie hatte den beiden Gräfinnen aber doch sehr gefallen und diese meinten seufzend zueinander :
" Wenn doch Léontine an diesem Mädchen sich ein Beispiel nähme ! "
Peter mußte endlich den jungen Gast bis an die Haltestelle der Elektrischen begleiten , und bekam von dem Komteßchen noch viele Befehle , wie er für das Fräulein zu sorgen habe , während die Tanten freundlich die Einladung aussprachen , recht häufig die Sonntage bei ihnen zu verbringen .
Freundliche Aussicht !
23. Kapitel .
Der stille Winter Während Franzi Trautmann sich so in ein neues reiches Leben eingewöhnte , waren im Hause Dahland jetzt viele leere Plätzchen ; Mama ertappte sich manchmal darauf , daß sie gedankenverloren durch die Räume ging , als müßte sie ihre Kinder suchen .
Sah sie in Axels " Bude " hinein , wo all die Raritäten der glücklichen Schülerzeit an den Wänden hingen , dann dachte sie , was künftig wohl alles hinzukommen würde an Merkwürdigkeiten und Trophäen aus fernen Ländern .
Und dann wurde ihr so eigen ums Herz , daß sie sich manches Mal den ihr von den kleinen Buben überbrachten Spruch vorsagen mußte :
Ich habe es gewagt !
Und ich will eine tapfere Mutter sein !
Kam sie dagegen in Inges kleines Reich , so wurde sie fröhlicher gestimmt .
Vermißte sie auch ihre Älteste oft , so gönnte sie ihr doch von Herzen die Reise und all die neuen Eindrücke in dem fremden Lande , das Bekanntwerden mit den Verwandten von der schwedischen Linie .
Auch sagte sie sich , daß dies nur eine Trennung auf kurze Zeit sei .
Einen Sohn aber , wenn man den einmal von Hause gelassen hat , bekommt man nie zurück !
Er wird selbständig , ein Mann , auf den man gewiß mit Freude , vielleicht mit Stolz blickt , aber - er ist das Kind nie mehr !
Die stillen Stunden benutzte die Rätin zu vielen schönen Briefen an ihre Kinder , und da die Antworten nicht spärlich kamen , da zwischen Ursel und Franzi auch zahllose Briefchen hin und her flogen , war der Postbote nahezu die wichtigste Person für das Dahlandsche Haus .
Die kleinen Jungen fanden , daß Briefträger am Ende noch ein besseres Geschäft sei als Orgeldreher .
Denn der letztere wurde oft ärgerlich weggeschickt , wenn er zu lange vor einem Hause leierte ; dem Postboten aber lief alles entgegen , er bekam manchmal ein Trinkgeld , oder wenn es sehr kalt war , einen warmen Schluck .
Also spielten sie jetzt Postbote , knifften zierliche Briefchen und packten Pakete , und Elfchen , mit ihren neuerworbenen Schulkenntnissen prunkend , schrieb wunderschöne i und a darauf .
Oder auch Ursula mußte sich erbarmen und die vollständige Adresse schreiben , damit die Sendungen richtig abgegeben werden konnten .
Und wenn dann die Enttäuschung groß war , weil in dem vielversprechenden Briefe nichts drin stand , mußte Ursula das Spiel noch erweitern und wirkliche Briefe schreiben ; denn die Kleinen sagten :
" Du kannst das so schön ; du hast ja schon an die Fürstin geschrieben . "
Übrigens machten sie es ihr auch leicht und diktierten .
So bekam Papa eines Tages folgenden Brief :
" Lieber Papa , ich kann doch auch ganz gewiß Husar werden ?
Und Du mußt Dich wohl bald für mich erkundigen bei dem Onkel Oberst .
Dein Sohn Robert . "
Und Mama fand in ihrem Nähkorb folgendes : " Liebe Mama , wenn Du zu Markt gehst , bringe mir doch lieber keine Süßigkeiten mit , und ich will auch keinen Zucker in der Milch mehr haben , sondern lieber fünf Pfennige .
Ich muß einen neuen Griffel haben , und Papa sagt immer , es ist alles so teuer .
Dein lieber Bertram . "
Elfchen aber schrieb : " Liebe Mama , ich habe so furchtbar viele Freundinnen in der Schule ; darf ich wohl Mal eine Kindergesellschaft geben ?
Mehlspeise kann ich selbst machen , von Schnee und 'n bißchen was Rotes , was manchmal Mittags übrig bleibt ; das ist dann Eis. Deine kleine Elfi . "
Letzteren Brief schrieb Ursel beinahe mit Wehmut .
Also Elfchen fing jetzt schon an , " furchtbar viele Freundinnen " zu haben !
Sie würde gewiß immer ein beliebtes , glückliches Kind sein . -
Aber war Ursel jetzt nicht auch glücklich ?
Sie hatte es nun so , wie sie früher manchmal gedacht , daß es schön sein müsse :
sie war die Älteste zu Hause !
Und sie fühlte , daß auch Mama sie so ansah , ihr manche kleine Pflicht von Inge übertrug , manch eingehendes Gespräch mit ihr pflegte .
Es war wirklich , um eine gute aufmerksame Tochter sein zu können , wie sie sich es in kindlicher Phantasie ausgemalt hatte , nicht nötig , daß eine Mutter krank und hinfällig wurde , oder ein Vater verarmte .
Mama war frisch und gesund , Papa unermüdlich im Amt - aber dennoch !
Wie viel konnte man einander geben , an Fürsorge , Liebe und Zutraulichkeit .
Letzteres besonders war es ja , was Ursula früher gefehlt , was sie so wenig zugänglich auch für andere gemacht hatte .
Der Kampf der verschlossenen Naturen , die es so schwer haben im Leben , obgleich sie oft die wertvolleren sind im Vergleich zu den allzeit Fertigen und Mitteilsamen , bei denen alles Gute auf der Oberfläche liegt , was so oft auf noch mehr schließen läßt , als wirklich vorhanden ist !
Eine Veränderung gab es auch noch für Ursel , daß sie jetzt Inges Zimmer benutzen durfte , dort ungestört arbeiten , lesen und auch manchmal Besuch empfangen konnte .
Ja , auch Besuch !
Ursel war nicht mehr so völlig einsam .
Die Mitschülerinnen , denen sie in der ersten Zeit langweilig und unverständlich gewesen war , fingen zum Teil an , sich für sie zu interessieren .
Sie wurde zuweilen eingeladen und auf Mamas Wunsch mußte sie darauf eingehen .
" Deine Franzi kann und soll gern die Erste bleiben in deinem Herzen , Kind ; aber du mußt dich doch daran gewöhnen , sie künftig nur selten hier zu haben .
Du würdest allein stehen , wie es früher mein Kummer war und wie es dir auch nicht gefallen würde , wenn du erst die Schule verlassen hast .
Darum nimm das Entgegenkommen von einzelnen freundlich auf . "
Ursel sah das ein , und als Vicky von Sontheim sich immer deutlicher ihr näherte , wich Ursel nicht mehr aus ; aber sie unterließ nicht , in jedem Brief an Franzi zu erwähnen , wie sie sich jetzt ständen , und wie intim sie noch nicht wären und auch niemals werden würden .
Vicky , als die Tochter des Hofmarschalls , hatte natürlich die Geschichte von Ursels Brief an die Fürstin und allem , was danach kam , gehört und das hatte ihr die stille Ursula Dahland plötzlich interessant gemacht .
Sie dachte es sich der Mühe wert , diese näher kennen zu lernen .
Als Ursula zum ersten Male einen Abend bei Sontheims verlebt hatte , kam sie beinahe begeistert zurück , und zwar - von Vickys Mutter !
" Das ist eine Frau ! " schrieb sie an Franzi , " wenn die ins Zimmer kommt , wird alles hell .
Sie sieht aus wie eine Fürstin , so groß und schlank und aufrecht , und sie spricht und gibt sich so , aber man fürchtet sie gar nicht .
Man liebt sie gleich , und vor heller Bewunderung benimmt man sich auch selbst besser als sonst .
Ich war wenigstens beinahe mit mir zufrieden !
" Auf dem Tisch im Salon lag Deine Decke ; wie mich das anheimelte !
Und Frau von Sontheim meinte , ich vermißte gewiß meine Freundin Franzi Trautmann sehr ; Vicky aber würde sehr gern mit mir öfter verkehren .
Wir könnten uns ja ein Kränzchen einrichten !
" Denke Dir , ich Einsiedler , wie ich oft in der Schule genannt worden bin , mit einem Kränzchen !
Es ist nun wirklich was draus geworden .
Wir sind nur vier , Vicky , Olga Rettich und Magda Hänseler .
Es mag ja recht nett werden .
Gestern bei Hänselers hat es mir gut gefallen .
Magdas Mutter war auch eine Weile bei uns und empfahl uns Bücher zum Vorlesen . "
So hatte denn Ursel nun wirklich einen kleinen Verkehrskreis , und wenn es auch nicht gleich zu dem kam , was sie unter Freundschaft verstand , so war es doch eine freundliche Anregung , die ihrem äußeren Wesen und Sein nur zum Vorteil gereichte .
Sie quälte sich jetzt nicht mehr mit Gedanken , daß sie " dumm " sei oder " häßlich " oder " zurück " , und daß niemand sie leiden möge ; sie ging ruhig und einfach ihren Weg , ohne über Zurücksetzungen oder Bevorzugungen nachzudenken .
Mama nahm mit inniger Freude jede Gelegenheit wahr , ihre junge Tochter , in der jetzt so viel zur Entwicklung kam , immer näher an sich heranzuziehen .
Und Ursula , in der Sehnsucht nach völligem Vertrauen , in dem Drang , alle inneren Unklarheiten loszuwerden , faßte eines Tages plötzlich einen Entschluß und erzählte Mama von ihrem Tagebuch mit dem Zusatz : " Willst du es lesen , Mama , ehe ich es verbrenne ? "
Die Mutter zögerte einen Augenblick , dann nahm sie Ursulas Hand und sagte : " Und wenn ich es schon gelesen hätte ? "
Ursula wurde rot und blaß , und nachdem die Mutter erklärt hatte , wie sie dazu gekommen , rief sie :
" Du hast es gelesen ?
Und du bist mir nicht böse gewesen - hast nichts gesagt - mich nicht beschämt ?
O Mama ! "
Sie drückte den Kopf an der Mutter Schulter und mochte nicht wieder aufsehen .
Mama aber sagte : " Böse war ich nicht , meine Ursel , aber traurig natürlich .
Ich hatte nie so etwas mit einem meiner Kinder erlebt .
Aber es hat uns nicht geschadet . Dir nicht - , denn du hast , gerade wenn du deine Klagen niedergeschrieben hattest , immer gleich erkannt , wie viel Ungerechtfertigtes dazwischen war , und bist zu guten Vorsätzen gelangt .
Und mir - hat es die Augen öffnen helfen über mein stillstes Kind , das anders war als die anderen , aber mir gewiß nicht weniger lieb ! -
Sieh , Ursula , das Schwerste für eine Mutter ist es , wenn sie sieht , ein Kind wendet sich ab , will gar nicht die Liebe und Zärtlichkeit der Ihren !
So aber war es ja nicht bei dir !
Dein junges Herz glühte für uns , aber wußte es nicht zu zeigen .
Es glaubte nicht an seine eigene Kraft , und darum auch nicht an die Möglichkeit , von uns so wiedergeliebt zu werden . "
Ursula richtete sich mit großen verklärten Augen auf .
Mama hatte nicht nur im Tagebuch , sondern auch in ihrer Seele gelesen .
Und sie hatte sich seitdem - Ursel fühlte es jetzt ganz genau - nur liebevoller um alles gekümmert , was Ursel betraf , hatte ihr so viel gewährt und die große Freundschaft ihres Lebens mit solcher unendlichen Güte gefördert .
" Du hast es gelesen ?
Und bist mir nicht böse gewesen ? "
" Du warst zu viel allein , " fuhr Mama fort , " du standest zwischen den Großen und Kleinen , und da gerade , als ich dies erkannte , als ich dir von ganzer Seele eine Freundin wünschte , da gab der Himmel dir Franzi !
Denn so müssen wir es doch auffassen , wenn ich dich auch ihr auf den Weg geschickt habe - mit dem Spargelkörbchen ! " schloß sie mit leichterem Ton , um der Rührung Herr zu werden .
" Du mußtest mich schicken , weil dein lieber Wunsch für mich schon erhört war , " sagte Ursula bewegt und küßte Mamas Hand .
Diese nahm sie noch einmal in die Arme , und Ursula sagte nur noch leise :
" Wie schön ist jetzt alles !
Ich dachte , nach diesem Sommer würde mir der Winter recht traurig vorkommen , aber er ist wunderschön ! "
Schön fand auch Ingeborg ihren Winter , aber in anderer Weise .
Ihre Briefe waren voll Lust und Leben , ihr Aufenthalt in Schweden schien ein fortgesetztes Fest .
Zuerst war sie auf einem Gut gewesen , hatte die große Gastlichkeit dieser Gegenden kennen gelernt , sowie manche neue Haussitte .
Sie hatte sich gehörig draußen getummelt , und als der frühe Winter eintrat , war sie auf Schneeschuhen von einem Hof zum anderen gefahren , oder im Schlitten über den See !
Karin und Erik , ihre jungen Verwandten , schienen sich ihr mit Begeisterung angeschlossen zu haben , und jetzt in der Hauptstadt erweiterte sich ihr Kreis von Tag zu Tag .
In Stockholm schien die Geselligkeit im vollen Gange , und nach der Art , wie Inge sich darüber ausließ , bekam sie ein volles Maß von allem , was man sich im Gesellschaftsleben nur wünschen kann .
Fast war es den Eltern zu viel !
Der Vater meinte :
" Wenn es nur nicht ihrer Gesundheit schadet ! " und die Mutter fügte nachdenklich hinzu :
" Und ihrer Seele !
Sie wird uns zu eitel gemacht ; es spricht mir ein reichliches Maß von Selbstbewußtsein aus ihrem Ton . "
Aber Inge schlug auch andere Saiten an .
Sie schwärmte für das schwedische Land , und mitten aus dem Trubel der Hauptstadt schien sie sich manchmal hinauszusehnen nach Göstaborg mit seinen verschneiten Wäldern und seinem blitzenden See , nach den dortigen Verwandten , die ihr bis jetzt doch die Liebsten seien .
Leider kämen Karin und Erik nicht nach Stockholm , weil zu Hause unentbehrlich .
Erik zumal besorge eigentlich die ganze Verwaltung des großen Gutes , auch mache er sich nichts aus hauptstädtischem Leben .
Ehe Inge nach Deutschland zurückkehre , würde sie jedenfalls die letzte Zeit noch in Göstaborg zubringen ; so sei es ausgemacht .
Hier ließ die Rätin den Brief sinken und sah gedankenvoll vor sich nieder .
Die Möglichkeit , daß aus der kurzen Trennung eines Winters doch eine dauernde werden , daß ihre Älteste in dem fremden Lande eine neue Heimat finden könne , stieg in ihr auf .
Sie sann und sann , ohne mit jemand darüber zu sprechen , und dachte schließlich :
" Urselchen , wie bald kann es kommen , daß du die Älteste zu Hause bist !
Gottlob , nun bist du aber auch mein mir völlig vertrautes Kind . "
Ursula korrespondierte nicht viel mit der Schwester , desto mehr aber zu ihrem eigenen Erstaunen - mit Axel .
Und sie war stolz auf die genauen Schilderungen seines Lebens und merkte sich alle technischen Ausdrücke so gut , daß sie immer folgen konnte , wenn Papa aus der Zeitung über Marineangelegenheiten vorlas .
Sie fand jetzt , daß sie doch erstaunlich viel zu lernen habe , abgesehen von der Schule ; denn was mußte sie nicht auch um Franzis Willen alles in ihren Ideenkreis aufnehmen , was ihr sonst ferngelegen hatte ! 24. Kapitel .
Briefe " Nur wenige Minuten habe ich heute frei , meine liebe Ursel , " schrieb Franzi , " aber ich will gleich wenigstens den Anfang zu einem Brief machen , wenn er dann auch in Absätzen fortgesetzt werden muß .
" Fräulein Elsner hat recht : das Konservatorium nimmt den ganzen Menschen in Anspruch !
Jetzt bekomme ich eigentlich erst einen Begriff davon , was die Musik bedeutet , was für ernste Arbeit zum Dienst der Hohen , Holden gehört , wenn wir wirklich eingehen wollen in ihr Reich .
Da ist nicht bloß das Klavierüben - mehrere Stunden Technik täglich , bis man zu dem Schönen kommt - da sind unsere theoretischen Ausarbeitungen , Musikgeschichte , Italienisch - ja , Urselchen , ich bin ein rechtes Schulkind wieder geworden , aber so glücklich , so glücklich dabei !
Und wenn ich einmal sage , daß ich für nichts anderes Sinn habe als für meine Musik , dann sei Du doch nicht eifersüchtig , sondern denke nur , daß Du immer dazu gehörst .
Denn was hätte die edle Fürstin , die nun alles für mich gibt , von mir armem Wurm geahnt , wenn Du nicht so mutig vorgegangen wärst ?
Und darum schulde ich Dir so gut meine Zukunft wie der hohen Frau . "
* " Hier mußte ich gestern abbrechen , aber heute habe ich etwas mehr Zeit , da treibt es mich gleich wieder zu Dir .
Ich habe heute was Besonderes erlebt !
Frau Professor Gerstenberg , die erste Gesanglehrerin am Konservatorium , bat mich , in einer Stunde ihr zu Hilfe zu kommen , da ihr ständiger Begleiter krank sei .
Ich erschrak zuerst , ging aber doch mutig mit , weil Frau Professor sagte , ich sei unter den Schülerinnen , die mein Klavierlehrer als tauglich zum Begleiten vorgeschlagen habe .
» Und , « fügte sie hinzu , » ich bat Sie , weil ich Sie gern leiden mag ! « -
Denke , Ursel , von der großen Frau überhaupt beachtet zu sein !
Zuerst begleitete ich nun Übungen , die sehr leicht waren , dann kamen Lieder und Arien .
Vier Damen teilten sich in die Stunde , alle paar Minuten hörte ich eine andere .
Schöne Stimmen , nur sang eine greulich falsch !
Das heißt jetzt übertreib ich ; solche , wie Du nun denkst , werden wohl gar nicht angenommen , aber so unrein !
Mir zog es immer ordentlich im Ohr dabei .
Und eine konnte nicht zählen .
Dabei fing ich schon an , mit Kopf und Schultern zu zucken , als müßte ich dafür aufkommen , und ich durfte doch eigentlich gar keine Meinung haben .
Frau Professor war sehr geduldig und gab so klare Erläuterungen , daß ich immer dachte , danach müßte Singen ein Kinderspiel sein .
Als die Stunde aus war , sagte sie freundlich zu mir :
» Sie sollen mir noch öfter helfen , das geht gut .
Sie haben angeborenen Rhythmus .
Können Sie auch singen ? «
» Ach ja , ein bißchen , wie jeder Mensch , « sagte ich .
Da lachte sie :
» Wirklich , wie jeder ?
Na , singen Sie Mal ! «
Und sie schlug ein Heft auf und spielte eine Übung , die heute mehrmals durchgenommen worden war .
Und ich , ganz keck , singe !
Falsch ja nicht , wie die eine , und zählen muß ich immer , das habe ich von Fräulein Elsner so gelernt ; also ging es .
Nun nahm Frau Professor ein Lied und sagte : » Jetzt einmal dieses . «
Und ich - wieder losgesungen !
Es war » Der Lindenbaum « von Schubert , den kennt man ja .
Ich wunderte mich bloß darüber , daß es so laut klang ; es muß da eine besondere Akustik in der Klasse sein , oder auch , ich hatte die Stimme der anderen Damen noch so im Ohr , daß ich auch unwillkürlich ein wenig » loslegte « , wie man hier sagt .
Frau Professor drehte sich um und fragte :
» Und Sie wollen Pianistin werden ?
Wie alt sind Sie ? «
» Siebzehn . «
» Nun , da bleiben Sie nur noch bei Ihrem Instrument ; übers Jahr aber hoffe ich Sie in meiner Klasse zu sehen ! ' Ursel , was sagst Du ?
Würdest Du auch erlauben , daß ich - am Ende Sängerin werde ?
Du meine süße holde Protektorin ?
Na , Spaß !!
Frau Professor hat es auch wohl nur im Spaß gemeint ! "
* " Heute wieder in der Singstunde begleitet .
Meine Kehle machte alles lautlos mit , auch die ganze Atmung betreib ich mit .
Ich bin entzückt !
Beinahe mag ich nun nicht mehr Klavier üben - aber das darf nicht sein , sei nicht bange , Ursel !
Ich sagte das eben nur so !
Ich spiele jetzt Bach - und da sollte ich nicht fleißig sein ?
Aber das Singen - - - Höre Mal , ich habe neulich eine Sängerin gehört , die liegt mir Tag und Nacht im Sinn .
Stelle Dir vor :
In der Singakademie - das ist nicht unser größter , aber eigentlich unser vornehmster Konzertsaal - kommt zwischen den weißen Säulen des Hintergrundes auf den breiten flachen Stufen des Orchesterraums herunter eine Dame .
Sie schreitet nicht majestätisch , sie fliegt wie ein rosa Wölkchen herab !
Mit einem dunklen Kopf und dunklen Augen , die strahlend ins Publikum grüßen , das bei ihrem Erscheinen sofort in rasenden Applaus ausbricht .
Na , denke ich , sie hat ja noch nichts geleistet !
Aber dann , dann fängt sie an .
Sie singt nicht ein Programm ab , - nein , sie überschüttet uns mit einem wahren Liederfrühling !
Mit so viel Klang , Poesie und Seele , daß ich kleine dumme Dirn in Tränen ausbreche .
Die anderen Konservatoristinnen neben mir stoßen mich an , sie lächeln , - ich aber weine .
Das ist ein Gesang , ach , und das ist ein herrliches Menschenkind ! -
Man kann sich ja nicht vornehmen , solchen Sonntagskindern des lieben Gottes nachzueifern , denn das ist Gnade !
Aber man kann sich immer wieder vorsagen :
Solche Künstler gibt es , und du armer Stümper darfst nicht ruhen und rasten , bis du ihnen wenigstens die Schuhriemen lösen darfst ! "
* " Liebe Ursel , hast Du gestern nicht gedacht , Deine Franzi würde überspannt ?
Fürchte nichts , heute bin ich schon wieder sehr klein .
Professor Mühlenz ließ mich scharf an :
» Fräulein Trautmann , seien Sie Mal nicht so zerstreut ; was soll ich von Ihnen denken ?
Wo sind Sie mit Ihren Gedanken ? «
Ach Du , natürlich bei der Sängerin .
Aber ich nahm mich jetzt zusammen und beschloß , in nächster Zeit nur Klavier- und Orchestermusik zu hören .
Nur !
Wenn ich bedenke , daß ich bis vor kurzem nichts hörte , nichts kannte , als Fräulein Elsners liebes Spiel und meinen lieben Schloßorganisten !
Was habe ich in diesen Wochen nun schon alles gehört !
Du wunderst Dich vielleicht , daß ich das alles mitmachen kann ; aber das ist ja das Schöne am Konservatorium , man bekommt so viele Freibillett , die immer verschieden verteilt werden .
Heute sollte ich wieder eines haben zu einem Liederabend , aber ich bat : » Lieber zur nächsten Kammermusik . «
» Warum ? « fragte Frau Professor Gerstenberg .
» Ich will mir das Herz nicht groß machen . «
Und sie verstand .
Sie strich mir lächelnd übers Haar und sagte : » Nur Geduld , Sie Schwarzköpfchen ; übers Jahr , da singen wir ! «
Ach , bei dieser Anrede dachte ich an Dich , die andere Schwarzbraune , und ich bekam Heimweh und zählte die Wochen , wie lange wir schon getrennt sind .
Bald ist Weihnachten , und ich komme nicht .
Hier in der Pension soll auch immer nett gefeiert werden , sagen die anderen , und vielleicht kann ich auch - - "
" Heute weiter .
Ich wollte von Léontine erzählen , nach der Du neulich so angelegentlich fragtest .
Oft sehen wir uns nicht ; wir wohnen zu entfernt voneinander und haben beide zu wenig Zeit .
Auch Leontinchen muß tüchtig heran mit Studieren ; ihre Tanten , die Gräfinnen Steineck , geben sehr auf ihre Ausbildung , und Léontine klagt mir vor : » Ach , Franzi , könntest du doch noch mit mir lernen , wie früher :
das ging so schön ! «
Ja , denke ich , sehr gern , wenn ich nur nicht selbst so viel zu tun hätte .
Die beiden Gräfinnen sind sehr gütig gegen mich .
Zuerst fragten sie mich gründlich aus , da sie aus Leontinens Beschreibung der früheren Verhältnisse in Wehrburg wohl noch nicht völlig klug geworden waren .
Später sagte Gräfin Diana einmal : » Armes Kind , da sind Sie ja durch das fehlende Testament unseres seligen Vetters Wehrburg recht geschädigt . «
Das war mir nun doch nicht recht , denn es klang mir wie eine Kränkung des gütigen Grafen , und ich sagte mit Feuer : » Ach , gnädige Gräfin , der selige Herr hat so viel für uns getan , so lange er lebte !
Wer konnte ahnen , daß er so früh und plötzlich sterben müßte ? «
Da sagte Gräfin Ludowika : » Léontine hat schon oft gewünscht , Ihnen etwas recht Schönes zu schenken , oder für Sie zu sorgen , ehe Sie die hohe Gunst Ihrer Fürstin erfahren hatten ; aber - ich muß Ihnen sagen - das Kind ist selbst nicht reich , nicht einmal wohlhabend zu nennen ! « -
Wer hätte das gedacht , Ursel !
Wehrburg erschien mir immer wie ein Ort des Glanzes und der Herrlichkeit .
Aber es ist doch rührend von Tini , daß sie so gegen mich gesonnen ist !
Sie ist überhaupt viel netter , als früher .
Jetzt hat sie sich auch wieder was sehr Hübsches ausgedacht : Sie hat ihre Tanten gebeten , Fräulein Elsner zu Weihnachten einzuladen , und ich soll dann auch immer da sein .
Ist das nicht eine schöne Aussicht ? "
" Ich habe in Gedanken mit Euch eine wunderschöne Weihnachtsfeier gehalten . "
" Das Weihnachtsfest ist vorüber , liebste Ursel , " schrieb Franzi bald nachher , " und wenn ich auch manch heimliches Tränlein vergossen habe , so muß ich doch recht dankbar darauf zurücksehen ; denn ich gehörte in dem ungeheuren Berlin gewiß nicht zu den Verlassenen !
In der Pension hatten wir auch einen Baum geputzt , wozu wir alle etwas beisteuerten , und nachdem ich mit mehreren Pensionärinnen vom Dom zurück war ( wo der Chor wundervoll sang ! ) , wurde angezündet , und allerlei kleine scherzhafte Überraschungen kamen zu Tage .
Ich wollte auch fröhlich sein , aber - es gelang nicht recht .
Denn - alle Pensionärinnen hatten Pakete bekommen , nur ich nicht .
Ich sagte mir wohl , daß es sich nur um eine Verspätung handeln könne , und Fräulein Zimmermann , unsere Vorsteherin , tröstete mich , es käme um acht Uhr noch eine Post - aber so lange konnte ich nicht warten .
Halb acht wird bei den Gräfinnen Tee getrunken , und diese Damen , die viel auf Pünktlichkeit geben , warten zu lassen , das ging doch nicht an .
Also fuhr ich zur rechten Zeit mit der Elektrischen nach der Kurfürstenstraße , und nun verging mir das Heimweh .
Oder auch - es wurde erst recht lebendig !
Das klingt wie Widerspruch , und ist doch so .
Fräulein Elsner war angekommen , und als ich ihr liebes Gesicht sah , tauchte Schloß Wehrburg und die ganze frühere Zeit so deutlich vor mir auf - die Kindheit und -
mein Vater !
Wir weinten alle drei , und das war der Zoll , den wir der Heimat und der Vergangenheit brachten .
Dann aber waren wir froh zusammen , und ich fühlte mich in der fremden Stadt und fern von Euch doch nicht mehr unglücklich .
Als ich spät nach Hause kam , vom Diener der Gräfinnen begleitet , fand ich in meinem Zimmer die Kiste aus Wendenburg .
Ich überlegte , daß es vernünftiger wäre , ich ließe das Auspacken bis zum anderen Morgen ; aber nein , diesmal siegte die Unvernunft oder vielmehr die Sehnsucht !
Und als zu oberst die Tannenzweige lagen , da habe ich noch in der Nacht all Eure Bilder damit geschmückt , kleine Wachsstockenden dazwischen gesetzt und in Gedanken mit Euch eine wunderschöne Feier gehalten !
Der gute Herr Bauer hatte sogar Christrosen mit eingepackt ; wie mich das rührte !
Und Du , mein Urselchen !
Was soll ich nur sagen zu Deiner Bescherung ?
Die ist einfach großartig !
Wollt Ihr mich denn völlig erdrücken , mich Arme , die nicht weiß , wie sie das jemals vergelten soll ?
Der schöne Spitzenkragen !
Weißt du noch , wie Du damals bei der Decke sagtest :
» Ich verstehe diese Arbeit nicht . « - Nun hast Du mich bereits übertroffen !
Und das herrliche Beethoven-Buch !
Die kleinen süßen Arbeiten von Elfchen und den lustigen Vagabunden !
Küsse die Kinder in meinem Namen tausendmal dafür .
Was aber soll ich sagen , daß auch Dein Bruder Axel an mich gedacht hat ?
Der geschnitzte Kasten ist ja wundervoll !
Gib mir nur seine genaue Adresse ; denn hierfür muß ich mich doch direkt bedanken , das kann ich nicht mit einer Bestellung durch Dich abmachen .
In diesen Kasten werde ich all meine Heiligtümer legen , und wenn wir uns einmal wiedersehen , werde ich sagen - ja , ich weiß doch noch nicht , was ich sagen werde .
Nun muß ich Dir von den Festtagen weiter erzählen .
Nach der langen schönen Christnacht schlief ich tüchtig aus , fuhr Mittags wieder nach der Kurfürstenstraße , wo es ein sehr feines Diener gab , und ging nachher mit meinen Lieben zum Abendgottesdienst .
Nach dem Tee musizierten wir , und es war für mich eine Wonne , zu sehen , wie Fräulein Elsner teilnahm an meinen Studien , wie sie mich in allem verstand , als ich ihr Mal gründlich mein Herz ausschüttete .
Dann spielte sie auch wie in früherer Zeit , und obgleich ich nun inzwischen so manche Künstler gehört habe , bleibe ich dabei : Fräulein Elsner spielt wunderschön , und sie wäre eine große Künstlerin geworden , wenn jemand für sie getan hätte , was jetzt für mich geschieht !
Also , Ursel , welch eine Verantwortung hast Du auf meine Schultern gelegt , oder vielmehr in meine Hände !
Die Gräfinnen waren auch sehr erbaut von Fräulein Elsner und haben viel und eingehend mit ihr gesprochen , und das Resultat ist , daß ich wirklich wieder an Leontinens Stunden einigen Anteil nehmen soll !
Es wird sich wohl machen lassen ; die Gelegenheit ist doch zu günstig .
Besonders in Geschichte und Literatur wünsche ich mir leidenschaftlich Fortbildung ; Fräulein Elsner sagte selbst sehr betrübt , daß sie und ich ja leider zu früh auseinandergekommen wären .
Und ich will Dir sagen , Ursel : Klavierspiel , Notenlesen und geschickte Finger tun es nicht allein , wenn man eine Künstlerin werden will .
Ich habe einmal von einer Pianistin sagen hören :
» Sie ist eine Seiltänzerin auf ihrem Instrument , aber ein vernünftiges Wort kann man nicht mit ihr sprechen . «
Und von einem Sänger :
» Er hat einen wunderbaren Tenor , aber er ist dumm ! «
Beides hat mich sehr erschreckt , und ich habe seitdem noch viel mehr das Bestreben , zu lernen und mich zu bilden , wo ich kann .
Früher , weißt Du , da arbeitete ich um das bißchen Geld , damit ich die ersten Stunden nehmen konnte ; jetzt , wo das viele Geld immer für mich bereit liegt , muß ich mit allen Kräften arbeiten , daß ich dieser Schenkung mich auch würdig mache .
Dazu helfe mir Gott !
Deine Franzi . " 25. Kapitel .
Die Schwestern An einem schönen Frühlingstage ging auf dem Bahnsteig zu Wendenburg ein junges Mädchen auf und nieder , eifrig nach dem erwarteten Schnellzug ausspähend .
Sie war groß und schlank gewachsen , trug sich leicht und gerade , wenn auch bescheiden , in ihrem feinen blaugrauen Frühlingskleide .
Ein blauer Hut saß auf den schwarzen glänzenden Zöpfen , die um den Kopf gelegt waren , und beschattete ein zartgefärbtes , nicht mehr mageres Gesicht , in dem die Augen das Schönste waren , dunkle sanfte Sterne , in denen aber heute eine gewisse Erregung zu lesen war , die sich zugleich mit der Wangenfarbe noch erhöhte , als jetzt der Pfiff der Lokomotive ertönte .
Aus einem geöffneten Fenster des einfahrenden Zuges grüßte eine schöne blonde Erscheinung , und gleich darauf eilten Ingeborg und Ursula Dahland aufeinander zu .
" Ursel , bist du es denn wirklich ?
Täusche ich mich nicht ? " rief die Ankommende in unverhohlenem Staunen und umfaßte die junge Schwester , die sie jetzt an schlanker Höhe erreicht hatte .
" Ja , Inge , ich bin_es , und du mußt mit mir zum Empfang vorlieb nehmen .
Die Eltern - "
" Sind doch nicht krank ? "
" Nein , Papa hat nur eine sehr ausgedehnte Sitzung heute - "
" Ach , das kennt man ja noch ! "
" Mama war allerdings erkältet und ließ sich bewegen , zu Hause zu bleiben .
Aber alle schicken dir tausend Grüße entgegen und freuen sich unbeschreiblich auf deine Rückkehr ! "
" Wirklich ?
Wie hübsch du das sagst !
Überhaupt - "
Inge brach ab , da der Kofferträger herantrat und ihren Gepäckschein verlangte .
" Ich habe schon eine Droschke , " sagte Ursula , " der Träger weiß Bescheid .
So komme nur , Inge .
Welch schöner Reisetag !
Aber dir ist gewiß der Abschied von Schweden schwer geworden ? "
Inge drückte nur still ihren Arm , und dann stiegen sie ein .
Hatten die Schwestern die Rollen getauscht ?
Die schüchterne , vor kurzem noch für unpraktisch und unbrauchbar geltende Ursula war heute um alles besorgt .
Sie brachte das Handgepäck unter , zahlte den Kofferträger und gab dem Kutscher die Weisung , während die ältere Schwester still zurückgelehnt saß und träumerisch das Bild der Heimat in sich aufnahm .
Sie sprachen nicht viel während der kurzen Fahrt ; aber als das Haus am Fürstenplatz in Sicht kam , richtete sich Inge auf und grüßte froh zu den Fenstern empor , hinter denen Mamas liebes Gesicht erschien .
Zugleich eilte Papa , der eben nach Hause gekommen war , an den Wagen , hob mit stolzer Freude seine Älteste heraus und führte sie am Arm ins Haus , wo alsbald die Kleinen sich auf sie stürzten und sie vor allem auf den Blumenschmuck aufmerksam machten , den sie mit Ursels Hilfe um die Wohnstubentür gewunden hatten .
Froh bewegte Stunden folgten nun , in denen die verschiedensten Töne angeschlagen wurden , aber darin waren alle sich bald im stillen einig :
Inge war von ihrer Nordlandsfahrt verändert zurückgekommen .
Man hatte gedacht , daß sie hauptsächlich das Wort führen und von ihren Erlebnissen berichten würde ; statt dessen fragte sie viel mehr nach dem Ergehen in der Heimat , nach dem fernen Axel , ja nach Ursels Freundin .
Sie hätschelte die Kleinen mit großer Zärtlichkeit und schmiegte sich gelegentlich still an Mama .
Alle empfanden eine gewisse Spannung bei diesem veränderten Wesen , das gewiß nicht zum Nachteil war , aber doch an der sonst so strahlenden , siegesgewissen Inge fremd berührte .
Ursula besonders wußte gar nicht , was sie denken sollte , und sie wurde recht verlegen , als Inge mit eigentümlich sanftem Ton fragte :
" Bin ich denn auch nicht überflüssig geworden , da ihr inzwischen eine zweite gute Haustochter bekommen habt ? "
Und sie nahm Ursel beiseite und meinte :
" Ich muß dich immer wieder ansehen , was aus dir geworden ist , du schlankes Jungfräulein !
Wo ist der scheue Backfisch hin ?
Wie kann man sich in einem halben Jahr so verändern ? "
" O , Inge , " sagte Ursel errötend , " du hast dich auch verändert . "
" Wirklich ?
Wieso ? "
" Du bist noch schöner geworden . "
" Ach gehe , willst du es auch so machen , wie alle Leute ?
Bin ich nicht schon eitel genug ? "
Das klang förmlich bitter ; solche Äußerungen hatte man nie von Inge gehört , und Ursel schwieg verschüchtert .
Aber lange hielt das nicht an ; sie hatte ja doch zum Empfang der Schwester so manches vorbereitet , was sie zeigen und erklären mußte , und sie war von so lieblichem Eifer dabei , daß Inge ihr gerührt zusah .
Da war eine neue Tischdecke in Inges Zimmer , von Ursula gestickt , ein hübsch gebrannter Kasten für Karten und Bilder mit der Aufschrift " Erinnerungen an Schweden " , und am Fenster standen wohlgepflegte Blumen , darunter eine über und über mit Knospen bedeckte Myrte .
Aber von letzterer , die Ursels größter Stolz schien , wandte sich Inge schweigend ab , um gleich darauf lebhafter und beredter zu werden als zuvor .
In den nächsten Tagen herrschte noch eine Art Besuchsstimmung im Hause , die man besonders dem Landgerichtsrat sehr anmerkte .
Er ließ sich in jeder freien Stunde von dem eigentlichen Stammland der Familie und von den Verwandten erzählen .
Dann war Inge auch mitteilsam und lebendig wie sonst , aber in den Stunden mit der Mutter allein merkte diese immer die tiefgehende Veränderung .
Fragen wollte sie nicht , aber bei den verschiedenen Lücken in Ingeborgs Erzählungen dachte sie sich allmählich ihr Teil .
Inge hatte eine Enttäuschung erlebt !
Und Ursula war es , die zuerst davon erfuhr !
Die Schwestern saßen zusammen in dem kleinen traulichen Raum , der ihnen jetzt als gemeinsames Wohnzimmer dienen sollte ; sie besahen schöne , eigenartige Handarbeiten aus Schweden , Ansichtskarten und vor allem die Bilder der Verwandten .
Die Cousine Karin war wohl eine ähnliche Erscheinung wie Inge selbst ; man konnte nun die echte mit der " sogenannten " schönen Schwedin vergleichen .
Und der Vetter Erik - ja , der sah allerdings sehr anziehend aus !
Ursel wurde es auf einmal klar , daß sie unbewußt angenommen hatte , die Schwester würde als dessen Braut zurückkommen !
Stadt dessen sprach sie von diesem Verwandten weniger als von allen anderen .
Heute war sie besonders ernst und nachdenklich ; sie hatte schon den ersten Brief aus Schweden , und Ursel fragte teilnehmend :
" Du hast gewiß Heimweh nach Göstaborg ? "
Da sagte Inge plötzlich :
" Wenn ich wäre , wie du , dann wäre Göstaborg vielleicht jetzt meine Heimat . "
" Inge !
Du wie ich ?
Wie kommst du darauf , uns zu vergleichen ? "
" Ja , wie kommt man darauf ?
Früher hätte ich es auch nicht gedacht .
Wie hätte ich geglaubt , daß mir etwas fehlte , etwas anders an mir sein könnte ?!
Wie hätte ich gedacht , daß ich dich unscheinbares stilles Ding - verzeih , Urselchen , und laß mich offen sein ! - daß ich dich einmal auf etwas hin ansehen könnte , was mir fehlte ! "
" Aber Inge , liebe Inge ! "
" Laß mich , Ursel , es tut mir gut .
Sieh , wenn ich dich so beobachte , wie du hier im Hause herumgehst , wie du aufmerksam und hilfreich gegen groß und klein bist , aber nie ein Wort von dir sprichst , nie zu merken scheinst , wie du allen lieb und angenehm bist , mit einem Wort , völlig anders als ich - dann denke ich : Hätte so mich Vetter Erik gesehen , er hätte sich doch wohl entschlossen !
Ich meine , entschlossen , mich nicht wieder ziehen zu lassen !
Aber er hat , als ich von Stockholm zurückkam , sich recht deutlich von mir abgewandt , und Karin hat es mir auf mein bestürztes Drängen und Bitten auch gestanden , daß er gesagt habe :
» Ein so eitles , selbstbewußtes Mädchen , das sich derartig vom Gesellschaftsleben den Kopf verdrehen ließe , könne er doch nicht zur Frau nehmen ! «
" Siehst du , Ursel , dafür , daß sich alle beeifert haben , mich zu bewundern , mein natürliches Selbstbewußtsein zu nähren , dafür - hat sich der eine von mir abgewandt .
" Bescheidenheit , Weiblichkeit , selbstloses Sein , - das hat sich Erik gewünscht an seiner Frau , und wenn es noch nicht an mir ausgeprägt war , wie er mich kennen lernte , so hoffte er , zu meinen anderen Eigenschaften , die ihm gefallen haben , würde sich auch dies entwickeln , wenn - .
Aber Stockholm hätte mich vollends verdorben , sagte er . "
Ursel saß tief erschüttert .
Daß es Inge war , die so sprach , und zu ihr , der jüngeren Schwester - das konnte sie kaum fassen .
Sie kam aber nicht zu einem Gefühl von Stolz auf dies Vertrauen ; sie empfand nur die schmerzliche Demütigung ihrer schönen Schwester , und trotz aller Kindlichkeit ahnte sie ein tiefes Leid .
Sie hatte Inge mit beiden Armen umschlungen und barg das Gesicht an ihrer Schulter , sie mochte sie wirklich nicht ansehen in dem Augenblick solcher Geständnisse .
Inge aber sagte :
" Ursel , daß ich dir dies sage , dir zuerst , das mußt du nun als einen Beweis meiner schwesterlichen Liebe ansehen , als ein Pfand für unsere künftige gute Freundschaft ; willst du ? "
" O Inge , du machst mich ja glücklich !
Nur bin ich im selben Augenblick auch so traurig deinetwegen . "
" Wer weiß , warum es so kommen mußte !
Ich habe es zu gut gehabt im Leben .
Du kleine Stille standest immer zurück . "
" Aber Inge , ich war doch auch nichts neben dir !
Wie habe ich dich bewundert , und - beneidet ! "
" Du mich bewundert ?
Und ich war doch gar nicht nett zu dir !
Mir fällt es jetzt wie Schuppen von den Augen .
Ich war nur mit mir selbst beschäftigt ; ich verstand deine schüchterne , in sich gekehrte Natur nicht . "
" Und ich , ich war so empfindlich , so verdrossen , so voll törichter Einbildungen ; mich konnte wirklich niemand mögen ! "
" Aber jetzt mag dich jeder , das fühlst du doch wohl ?
Gestehe_es nur ! "
" Ach - ich weiß nicht - die Eltern - "
" Nun , die Eltern .
Glaubst du , daß die je einen Unterschied gemacht haben zwischen uns Kindern ?
Nein , ich meine andere Leute ; ich sehe es ja ! "
" Aber ich kann nicht im entferntesten dich im Hause ersetzen . "
" Vielleicht noch nicht , du bist in der Wirtschaft ja noch ein kleiner Lehrling .
Ich tat schon früher alles , weil ich Mamas erste Stütze sein konnte , und ich tat es gern , auch wohl recht gut , aber ich ließ mich auch fleißig dafür bewundern .
Ach , das ist nun vorbei , jetzt tut mir jedes Lob weh . "
" Aber , liebe Inge , das ist doch übertrieben !
Das bleibt nicht so , das überwindest du !
Und auch Vetter Erik - wird ohne Zweifel noch sein Urteil bereuen ! "
Damit schloß diese denkwürdige Unterredung der beiden Schwestern , die Ursel noch lange und nachhaltig beschäftigte .
26. Kapitel .
O Sommer , schöner Sommer !
Nun war es wieder Ferienzeit .
Ursel und ihre jungen Bekannten , die mit ihr die Schule verlassen hatten , klagten beinahe , daß ihnen dies unvergleichliche Feriengefühl , das sie so manches Jahr genossen hatten , nun verloren ging .
" Und wenn man nicht Mal verreist ! " sagte Olga Rettich .
" Vicky hat es gut , die geht mit ihren Eltern nach der Schweiz . "
" Aber ich bleibe hier , " sagte Ursel .
" Ach , du wirst dann keinen Sinn mehr für uns haben , " sagte Magda Hänseler , " wenn erst Franzi Trautmann hier ist .
Sie kommt doch ? "
" Ja , sie kommt , " antwortete Ursel und konnte es nicht hindern , daß ihr Gesicht sich verklärte .
" Siehst du wohl , " sagte Olga neckend , während Magda ein leises Bedauern empfand ; denn sie hätte sich gern so recht an Ursel angeschlossen .
" Aber das hindert euch doch nicht , " fuhr Ursel fort .
" Ihr müßt sie alle kennen lernen !
Vicky , du reist hoffentlich auch nicht so früh , daß wir wenigstens noch einmal alle zusammen sein können . "
" Ach , du denkst dann nicht mehr ans Kränzchen ! "
" Aber Vicky , bin ich denn so - so unliebenswürdig ? "
" Nein , Ursel , du bist sehr liebenswürdig ; wir necken dich ja nur !
Denn früher warst du doch sehr » ausschließlich « , um nicht » exklusiv « zu sagen ! "
Ursel lachte verlegen , was sollte sie sagen ?
Sie war ja sehr gern mit den Mädchen zusammen ; aber jetzt schlug doch ihr ganzes Herz Franzi entgegen , und sie hatte allerdings Lust , " exklusiv " zu sein .
Als endlich der große Tag kam und die beiden Schwarzbraunen sich wieder hatten , war_es abermals ein großes Staunen und Prüfen , wie letzthin beim Wiedersehen mit Ingeborg .
Jetzt sah Ursel wohl und gesund aus , Franzi aber hatte die bräunliche Frische etwas verloren , war schlanker geworden , sah aber nach Ursels Meinung " furchtbar interessant " aus .
Beinahe ängstlich forschte sie , ob auch andere Veränderungen zu spüren sein würden ; aber Franzi war das liebe herzige Naturkind geblieben , das zwar von allerlei wunderbaren Dingen klug reden konnte , aber doch einfach selig war , Berlin nun für eine Weile hinter sich zu haben und in der Schloßgärtnerei wieder heimisch zu werden .
Der Obergärtner sah mißtrauisch auf ihre wohlgepflegten Hände und ihre großstädtische Gesichtsfarbe ; als sie aber wieder zu den Himbeeren ging und mit wahrer Leidenschaft pflückte , als sie an einem Waschtag wieder in der Küchentür saß und singend Kartoffeln schälte , da wurde seine Miene sehr viel freundlicher , und bald war er es , der ernstlich dagegen redete , daß Fräulein Franzi sich die Hände verdürbe .
Es könne ja doch sein , daß sie wieder einmal vor der Fürstin spielen müsse , um zu zeigen , ob sie auch was lerne in Berlin und gute Fortschritte mache .
Und er triumphierte sehr bald über seine Schlauheit , als Franzi wirklich nach Herrenhausen befohlen wurde .
Diesmal war nicht nur der Hofkapellmeister , sondern auch der Schloßorganist zugegen , der mit größter Genugtuung die Entwicklung seiner Schülerin verfolgte .
Franzi benahm sich sehr anmutig während dieser Audienz ; aber die feinfühlende Fürstin ahnte aus manchen Anzeichen , daß das junge Mädchen noch etwas auf dem Herzen habe , und gönnte ihr noch eine Privatunterredung .
Da kam der große Wunsch zu Tage : Franzi wollte gern singen lernen !
Das entschiedene Zureden der Gesangsprofessorin am Konservatorium , die als unbestechliche Kritikerin galt , hatte ihr Mut gemacht zu dieser Bitte .
Die Fürstin hörte sie aufmerksam an , hielt aber mit ihrer Meinung zurück und versprach nur , sich die Sache zu überlegen .
Es schien der hohen Dame , die alles sehr gründlich und ernst nahm , vielleicht wie ein gewisses Zeichen von Wankelmut und Veränderungssucht , daß die kleine Trautmann , die erst so leidenschaftlich gewünscht hatte , Pianistin werden zu dürfen , nun auf einmal zum Gesang übergehen wollte .
Sie besprach sich noch einmal mit ihrem " künstlerischen Beirat " , wie sie Herrn Fritze scherzend nannte , und bekam dann eine andere Auffassung von der Sache , als der enthusiastische alte Herr auseinandersetzte :
" Das ist kein Wankelmut , Durchlaucht , wenn ich mir ergebenst erlauben darf , das zu sagen .
Es bleibt dieselbe Kunst , dieselbe hohe Göttin Musik , der die kleine Schwarzbraune mit Leib und Seele ergeben ist .
Nicht um das Klavierspielen ist_es ihr zu tun gewesen , sondern immer hauptsächlich um die Erkenntnis der Musik .
Wenn nun eine Stimme hinzukommt , wie sie bei dem sechzehnjährigen Kinde nur erst zu ahnen war , die aber in diesem einen Jahr sich schon in aller Stille merkwürdig entwickelt hat ; wenn diese Stimme einer Künstlerin wie Frau Gerstenberg der Ausbildung wert erscheint - dann , meine ich , wäre es ein Unrecht , dieses holdeste , von der Natur geschenkte Instrument brach liegen zu lassen , und ein anderes , von Menschenhand gebildetes zu bearbeiten ! "
Nach dieser langen Rede des alten Herrn hatte Franzis Sache gesiegt !
Sie wurde noch einmal nach Herrenhausen entboten und mit der Nachricht beglückt , daß sie von Oktober an Frau Professor Gerstenbergs Schülerin werden dürfe .
Nur die eine Bedingung machte die Fürstin , daß sie über die neuen Pläne nicht eher etwas verlauten lasse , als bis der Erfolg ihrer Hoffnung recht gäbe .
Nur Ursel erfuhr es natürlich .
Sie erwartete die Freundin an der " Abendbank " , bis zu welcher sie sich abermals gewagt hatte , ohne irgend jemand zu begegnen , und dann gingen beide den schönen Weg von Herrenhausen über Heckendorf zu Fuß nach Hause .
O , die Gespräche auf dieser Wanderung !
Die ganze Innigkeit ihrer Freundschaft , alle Dankbarkeit für schon Erreichtes , alle selige Hoffnung auf die Zukunft klang heute in den wärmsten Tönen aus beiden jungen Herzen .
Nach diesem Tage wurde Franzi erst recht froh ; ja manchmal legte sie eine ausgelassene Munterkeit an den Tag , zu der Frau Trautmann mitunter den Kopf schüttelte , Herr Bauer aber entschieden schmunzelte .
Nun war das Leben ein einziger goldener Ferientag !
Es fehlten nur noch die Brüder , die treuen Kameraden der vorigen Sommertage .
Bekam denn der Seekadett noch keinen Urlaub ?
Vorläufig schrieb er , daß eine Flottille von Torpedobooten die Küste des Heimatlandes befahren würde , und vielleicht auch das Schulschiff , auf dem er gegenwärtig stationiert sei .
Wahrscheinlich würde letzteres in der Nähe der alten Hafenstadt mit den zahlreichen schwedischen Erinnerungen vor Anker gehen .
Diese Nachricht zündete im Dahlandschen Hause .
Der Landgerichtsrat , der wieder einen " blauen Ferienzettel " beiseite gelegt hatte , beschloß eine Familienreise nach der alten Stadt , die mit der Bahn in einer Stunde zu erreichen war , die aber von den jüngeren Familiengliedern noch niemand kannte .
Die sogenannten Kleinen freilich wurden ausgeschlossen und es blieben also nur die beiden großen Töchter , " zu denen wir uns aber noch eine dritte holen , " wie der Rat hinzufügte .
Franzi war jetzt ein häufiger Gast im Dahlandschen Hause , im Gegensatz zu früher , wo Ursel mehr die Gärtnerei aufsuchen und die Freundin zwischen ihren verschiedenen Pflichten verstohlen genießen mußte .
Franzi kam aber nicht nur zum gemütlichen Zusammensein , sondern auch des Übens wegen .
Das alte gelbe Tafelklavier tat es nun wirklich nicht mehr .
Franzi fürchtete , auf ihm sich den Anschlag zu verderben , und nahm daher dankbar an , als ihr der schöne Bächstein zur Verfügung gestellt wurde , und zwar diesmal auf Inges Vorschlag .
" Bei uns wird ja doch nur wenig gespielt , " sagte diese , " es ist schade um den schönen Flügel . "
Ihre eigene Musik schien ihr gleichgültig geworden ; nur manchmal spielte und sang sie ein schwedisches Lied , und das war so schwermütig wie fast alle Musik dieses Volkes , so daß man die alte Inge nicht wieder erkannte .
Franzi sang niemals zum Klavier , spielte auch vor Zuhörern selten , sondern übte treu und ernst .
Der Landgerichtsrat aber ernannte sie doch zu seiner Kammervirtuosin und hörte oft zu , ohne daß sie es wußte .
Er hatte eine ausgesprochene Vorliebe für das frische sonnige Mädchen , und daß sie die Reise nach der Hafenstadt mitmachen mußte , schien ihm ganz selbstverständlich .
Auch Mama sah zärtlich auf die beiden Schwarzbraunen , als sie zur Reise in den von ihr selbst ausgewählten gleichen Kleidern antraten und lachend verglichen , wer das seine in besserem Zustande erhalten habe .
" Das meine erzählt natürlich von Berliner Strapazen , " meinte Franzi kläglich , " und du , Ursel , warst ja von jeher wie aus dem Ei geschält . "
" Und doch nicht eitel ! " dachte Ingeborg , die noch immer schwer daran trug , daß diese ihre eine Wesensseite so verhängnisvoll für sie geworden war .
Sie ging auch nicht gern auf die Reise .
Das Meer , meinte sie , würde sie wehmütig stimmen ; aber sie ließ sich nichts merken , und in scheinbar bester Stimmung langte die Gesellschaft am Ziel an .
Wie sie den ahnungslosen Axel wohl antreffen würden ?
Papa war nun ein prächtiger Reisemarschall !
Zuerst ging es zum Marktplatz , der weit und menschenleer dalag mit seinen zwei mächtigen Linden , seiner altertümlichen " Wasserkunst " und umgeben von ehrwürdigen Giebelhäusern .
Dann hieß es gleich :
Zum Hafen !
Dort wurden Erkundigungen eingezogen über die Schiffe .
Die Torpedoboote lagen nicht hier , sondern in einem anderen Hafen der Küste ; aber das Schulschiff , worauf es den Besuchern ankam , lag seit dem vorigen Tage draußen , etwa eine Stunde vom Land entfernt , verankert .
Ein gutes Boot mit sicherer Bemannung wurde besorgt , und dann ging es im leichten Morgenwind über die sanftbewegte Fläche der sonnigen Bucht .
" Na , wie wir unseren blauen Jungen wohl finden werden ! " sagte Papa in heiterer Spannung ; Mama aber konnte ihre Bewegung kaum verbergen .
Die Zeitberechnung war richtig gewesen .
Nach einstündiger Fahrt sahen sie das stolze Kriegschiff liegen , und den jungen Mädchen schlug das Herz bei dem Gedanken , es besteigen zu sollen .
Der Bootsführer schien aber sehr genau vertraut mit solchen Unternehmungen ; er behauptete , die Herren Offiziere sähen immer sehr gern Besuch an Bord .
" Noch zu so viel schmucke Damens , " schloß er schmunzelnd .
Als sie nahe an das Schiff gekommen waren , verständigte er sich auch sofort mit dem Wachhabenden , dem Kommandeur wurde Meldung gemacht und den Besuchern wurde nichts in den Weg gelegt , an Bord der " Vineta " zu gehen .
Der Landgerichtsrat trug dann die Bitte vor , den Seekadetten Dahland sprechen zu dürfen , und nun kam der große Augenblick , wo der ahnungslose Axel den Seinen plötzlich gegenüberstand .
Alle Kraft mußte er zusammennehmen , um militärische Straffheit zu bewahren und die stürmische Knabenfreude nicht mit sich durchgehen zu lassen !
Wie prächtig er aussah !
Zu dem lichtblonden Haar die tiefgebräunte Gesichtsfarbe , die Gesundheit und Lebenslust in den blauen Augen .
Mama konnte fast kein Auge von ihm wenden , und auch Papa sagte , mit einem kräftigen Schlag auf seine Schulter : " Na , Junge , man sieht_es , daß du am richtigen Fleck bist ; da muß man wohl die Flucht vor den Pandekten verzeihen ! "
Während Papa sich dann dem Admiral vorstellte , wandte sich Axel zu den jungen Mädchen .
" Dieser famose Gedanke , hierher zu kommen ! " rief er strahlend .
" Das hätte ich mir nicht träumen lassen !
Und Fräulein Franzi , daß Sie auch dabei sind ! "
" Sie ist immer dabei , " sagte Ursel zärtlich , " Papa tut es gar nicht mehr anders . "
" Glaube_es wohl , die Schwarzbraunen gehören doch auch zusammen .
Und Ursche , nein , hast du dich herausgemacht !
Das ist ja ein wahrer Staat mit dir !
Und du - schöne Svenske , Fröken Ingeborg , auch wieder da ? -
Aber , Franzi , strengen Sie sich nicht zu sehr an in Berlin ? "
" O nein , nein , " erwiderte diese frisch , " komme ich Ihnen etwa » abgetakelt « vor ?
So heißt_es doch in der Schiffsprache ? "
" So was schieben Sie mir in die Schuhe beim ersten Wiedersehen ? " fragte Axel vorwurfsvoll .
Da traten die Herren herzu , und der Admiral machte sich aufs liebenswürdigste mit den Damen bekannt .
Eine angenehme Persönlichkeit mit einem männlich offenen Gesicht und dem klaren Seemannsblick , jung für die hohe Würde und augenscheinlich sehr beliebt .
Nachdem er zunächst mit der Rätin gesprochen , wandte er sich zu Inge und meinte :
" Daß Sie eine Schwester unseres Kadetten sind , gnädiges Fräulein , das sieht man auf den ersten Blick .
Aber wie kommen Sie zu zwei solchen Schwarzbraunen , Dahland ? " fügte er lächelnd hinzu .
Die Freundinnen strahlten , auch hier mit ihrem Lieblingsnamen , der solche schöne Zusammengehörigkeit bezeichnete , angeredet zu werden , und erklärten dem Admiral munter den Zusammenhäng .
Darauf wandte dieser sich wieder an Axel :
" Jetzt , Dahland , sorgen Sie für eine Erfrischung der Ihrigen ; was mein schwimmendes Haus bietet , steht gern zu Diensten . "
Axel eilte davon , und bald stand ein einladender Imbiß bereit .
" Ein Frühstück mit allen Schikanen , " meinte Papa und ließ sich nicht nötigen , dem liebenswürdigen Gastgeber Bescheid zu tun .
Für die Damen gab es von Axel selbst gebrauten echten Schiffskaffee .
" Das ist nämlich unsere » Forsche « , wie Muschebergen sagen würde . "
Und wirklich , die Damen meinten nie einen besseren getrunken zu haben , und baten sich das Rezept aus .
Aber Axel behauptete lachend , das sei Geheimnis und es käme sehr auf die Art des Bittens an .
Nach dem Frühstück wurde dann das ganze Schiff besichtigt , und nun war es eine Freude , wie nicht nur der Kommandeur , sondern auch der Kadett seine Erklärungen gab und nur so um sich warf mit technischen Ausdrücken .
Ursel , als seine Korrespondentin , verstand ihn am besten .
Mama konnte bei all den Anstalten und Vorkehrungen gegen die tausend Gefahren ein unendlich banges Gefühl nicht unterdrücken , aber sie nahm sich gegenüber all der frischen militärischen Jugend sehr zusammen .
Unter den Offizieren war auch ein Herr von Prangken , der Sohn jenes Obersten aus Wendenburg , der damals mit den kleinen lustigen Vagabunden die Begegnung gehabt .
Als der junge Unterleutnant sich als Landsmann vorgestellt hatte , folgten alsbald auch die Kameraden - plötzlich ertönte vom Hinterdeck eine lustige Weise , und unter Vorantritt des Admirals , der sich vor Mama Dahland verbeugte mit dem Bemerken , so sei es Schiffsbrauch , schwangen sich plötzlich auf Deck vier Paare im Walzer !
Axel hatte natürlich Franzi erwischt und die beiden sahen so seelenvergnügt aus , daß Ursel völlig vergaß , sich in der Pause mit ihrem Herrn , der sogar schon Kapitänleutnant war , zu unterhalten und immer nur nach den beiden hinsah .
" Wie man für solche gastliche Aufnahme danken soll , weiß ich wirklich nicht , " sagte Papa Dahland endlich , " kommen Sie jemals nach unserer Landeshauptstadt , so verfügen Sie über mein Haus !
Ich werde Ihnen mit Freuden die Honneurs von Wendenburg machen , das mit seinen schönen Landseen auch nicht zu verachten ist . "
Leutnant von Prangken schien nicht übel Lust zu haben , Inge schon zu einem Tanz im Winter zu engagieren , da er jedenfalls dann seinen Urlaub in der Heimat verbringen würde ; aber sie ging nicht so fröhlich darauf ein , wie sonst wohl .
Axel stand bei all diesem Abschiednehmen wie auf Kohlen , bis der Admiral sagte :
" Sie sind beurlaubt , Dahland .
Seien Sie nur mit Sonnenuntergang wieder an Bord ! "
Nun war der glückliche Kadett der erste im Boot und half den Damen hinein .
Militärisches Grüßen - Nicken und Winken - und dahin fuhren die hochbefriedigten Gäste .
Zunächst aber beanspruchte Mama ihren Jungen für sich .
Es gab für sie noch so viel zu fragen , was nicht , wie bisher alles , in der Marinesprache zu behandeln war , so viel von der Mutter zum Sohn , und Hand in Hand saßen sie da , während das Boot schnell und sanft über die jetzt völlig glatte Bucht dahinglitt , der alten Stadt mit ihren mächtigen Türmen wieder zu .
Ein gründlicher Rundgang wurde nun unternommen , zwei der ehrwürdigen Kirchen wie auch ein alter Fürstenbau besichtigt , im Gasthof " Zum alten Schweden " gespeist und schließlich noch einmal am Hafen entlang geschlendert , wo ein schwedisches Holzschiff Inge wieder nachdenklich machte und Axel zu der heimlichen Bemerkung veranlaßte :
" Unsere schöne Schwedin hat sich verändert ! "
Als der Seekadett dann glücklich wieder " eingeschifft " war , begab sich die Familie zum Bahnhof , sehr befriedigt von diesem Tage und froh in der Aussicht , in kurzem Axel auf längeren Urlaub zu Hause zu sehen .
Mit ihm schien dann das schöne Sommerleben erst recht in Zug zu kommen , und als nun auch endlich Wilhelm Trautmanns Universitätsferien begannen , sah Inge oft mit Staunen auf diese vier in bester Freundschaft miteinander verbundenen Menschenkinder .
War sie denn nicht auch vor kurzem noch so harmlos froh gewesen ?
Mama war nun auch längst hinter ihr Geheimnis gekommen und - so weh es tat , sie konnte sich nicht vollständig der Ansicht verschließen :
" Wer weiß , wozu es der lieben jungen Tochter gut ist ! "
Zugleich aber dachte sie ähnlich wie Ursel : " Es ist noch nicht Eriks letztes Wort gewesen über Inge , die doch wahrlich sonst noch Eigenschaften hat , die man nicht vergißt ! "
Im stillen hoffte sie , die Verwandten aus Schweden würden sich schon in diesem Jahr zu einem Gegenbesuch in Deutschland entschließen , und als Karin wirklich schrieb , wenn es glückte , daß die Ernte früh beendet würde , denke sie sich auf ein paar Wochen freimachen zu können , da hofften zwei Herzen für Inge , die selbst mit sehr geteilten Gefühlen dem Besuch der Cousine entgegensah .
Und " Karin von Schweden " , wie sie in der Familie genannt wurde , kam !
Aber nicht allein .
In ihrem anmutigen gebrochenen Deutsch erklärte sie , sich doch zu sehr vor der weiten Reise gefürchtet zu haben ; sie sei zu sehr an des großen Bruders Schutz gewöhnt , und da sei nun der große Bruder Erik !
Der Empfang bei Dahlands gestaltete sich nun unwillkürlich noch festlicher , und nicht zwei Tage waren vergangen , da war es allen klar , daß Erik nicht nur als brüderlicher Schutz mitgekommen war , sondern daß es ihn trieb , ein hartes Urteil zurückzunehmen .
Mächtiger als die Verstimmung der letzten Zeit war nach der Trennung doch die erste Freundschaft aus dem Anfang des Winters wieder obenauf gekommen , und es bedurfte keines zu großen Kampfes , um Inge zu überzeugen , wie fest er im Grunde auf ihr nur zeitweise getrübtes besseres Ich vertraute .
So sah das liebe Haus am Fürstenplatz bald eine Braut , schöner in ihrem demütigen Glücksempfinden , als je in den Tagen ihres Gefeiertseins , und mit diesem Ereignis klang der Sommer aus .
27. Kapitel .
Ingeborgs Abschied Als alle Gäste wieder abgereist waren , wurde die plötzliche Stille im Dahlandschen Hause beinahe schmerzlich empfunden .
Nur die Kleinen frohlockten !
Wenn gar zu viel " große Leute " da waren , wurde das auf die Dauer doch langweilig .
Es gab zwar oft was Gutes zu essen , besonders an Kuchen und Mehlspeisen , man wurde auch öfter Mal zärtlich getätschelt und geküßt , aber so recht Zeit hatte eigentlich niemand !
Der einzige Trost war also , die Großen im Spiel nachzuahmen , und so wurde vor allem " Brautpaar " aufgeführt .
Einer von den kleinen Jungen wurde dann als Mädchen angekleidet , erstens , weil das ein Hauptspaß war , und zweitens , weil Elfchen als " zu groß " erklärt wurde ; das ginge nicht , denn Inge sei wohl groß , aber Erik noch viel größer !
Sie taten , als wenn der Schwager ein Riese wäre , und Robert reckte seine kleine Bräutigamsnase nach Kräften in die Luft .
Elfchen drückte die Würde der " Mama " gewöhnlich durch eine Morgenhaube aus und wurde bedeutet , daß sie auch eine sehr wichtige Person vorstelle , denn war das Brautpaar nicht immer mit Mama zusammen ?
Hatte Mama wohl jetzt jemals Zeit für ihre kleinen Kinder ?
Aber nun war ja diese Ausnahmezeit vorbei , und das Leben kehrte einigermaßen ins alte Geleise zurück .
Im stillen freilich dauerte die Bewegung noch fort , denn man rüstete ja schon zu Inges Aussteuer .
So schwer und unglaublich es den Eltern zuerst schien - die jungen Leute wollten im Winter Hochzeit machen !
Im Winter sollte Inge in das fremde kalte Land ziehen , von dem sie freilich lachend erklärte , ihr sei es schon warm und vertraut .
Inge war übrigens wundervoll abgehärtet ; das gerade hatte dem Vetter zuerst solchen Eindruck gemacht , daß sie so frisch und unverzagt auf alles losging , was auch mit Anstrengung verknüpft war .
Und als er erklärte , wie er gerade im Winter viel mehr Zeit habe , erstlich zum Reisen und dann sich zu Hause gemütlich einzurichten , als er ihr ausmalte , welche traulichen Tage und Abende sie gerade um Weihnachten in dem schönen alten Holzhause verleben könnten , war sie mit Freuden bereit , schon Ende November ihm zu folgen .
Es bedurfte auch keiner allzu großen Ausrüstung ; denn in dem alten reichen Gutshause , aus dem Eriks Eltern nur gerade so viel mitnehmen wollten , wie sie in ihrem künftigen kleinen Haushalt gebrauchten , waren solche Schätze von selbstgewebtem Leinen , daß Inge nur für ihre Person zu sorgen brauchte .
Die Kinder spielten jetzt eifrig " Brautpaar " .
Die Schwestern saßen nun noch so viel wie möglich zusammen , nähend und stickend , und dabei lasen sie sich vor .
Nur nordische Literatur !
Ursels von jeher so beliebte Frithjofsage kam noch einmal zur Geltung , und Inge hörte mit Staunen , wie die kleine Schwester ganze Gesänge daraus vortrug , ohne ins Buch zu sehen , und mit welch inniger Begeisterung sie " schön ' Ingeborg " sagte .
Aber sie lasen auch Björnsons anmutige und tiefe Erzählungen und begeisterten sich für Naturschilderungen und Szenen wie zum Beispiel die , wo der Wacholder und die Fichte sich eines Tages bereden :
Wollen wir nicht die Felswand bekleiden ?
Wie auch die Birke dazu hilft und das Heidekraut mitgenommen sein will , und wie die Felsenwand lächelt zu diesem liebevollen Bemühen der Pflanzenwelt .
Solche Schilderungen veranlaßten Inge , von dem zu erzählen , was sie selbst schon kannte von der nordischen Heimat , und sich auf das zu freuen , was Erik ihr für die Hochzeitsreise im Winter versprochen hatte .
Als dann das Scheiden wirklich heranrückte , wurde es dem Landgerichtsrat vielleicht am schwersten von allen in der Familie .
Für ihn war und blieb Inge immer der Inbegriff von Sonnenschein , er allein hatte vielleicht nie die Schattenseite ihres sonst durch so viele Gaben ausgezeichneten Wesens erkannt , und er ließ sich seinen Kummer bei so vielen kleinen Gelegenheiten merken , daß Ursula noch einmal von ihrer alten Zaghaftigkeit befallen wurde und dachte :
" Wie werde ich jemals Inge ersetzen können ?
Papa wird mich nie so ansehen , und ich werde mir vorkommen wie ein Eindringling in Inges Reich . "
Und Inge , wie dieses ahnend , sagte in der letzten Stunde , in der sie sich noch einmal aussprachen :
" Ihr sollt mich ja nicht vergessen , aber - ihr werdet mich auch nicht entbehren !
Du , liebe Ursel , wirst allmählich den Eltern mehr werden als ich .
Ich suchte noch so viel außerhalb des Hauses , so viel Vergnügen und Anerkennung in der Gesellschaft - du wirst mehr und mehr den Eltern leben und auch im Hause alles leisten , worauf es ankommt .
Nur ein wenig Selbstvertrauen , Urselchen , den Überschuß von mir , den Erik nicht haben will , den laß ich dir zum Erbe ! "
Sie küßten sich herzlich dabei , und wenn Ursel auch meinte , daß sie dies Vermächtnis wohl nie antreten würde , so dachte sie doch noch oft dieser Stunde und der letzten vertraulichen Worte ihrer Schwester .
Von oben bis unten in Pelz und warme Stoffe gekleidet , reiste Inge dann Ende November mit ihrem Mann gen Norden , und bald kamen Briefe mit Schilderungen der interessantesten Seereise im Winter , mehr aber noch von der Freude , nun im eigenen Hause sich gemütlich einzuleben .
Nun saß sie auch als echt schwedische Frau am Webstuhl , und Wandteppiche und allerlei Bildwerk entstanden unter ihren Händen , wie zu Zeiten der sagenhaften " schön ' Ingeborg " .
Franzis zweiter Winter in Berlin gestaltete sich noch viel reicher und mannigfaltiger als der vorige .
War ihr der Unterricht auf der Hochschule bisher schon Freude und Lebensaufgabe gewesen , so wurden ihr jetzt die Gesangstunden zur wahren Wonne .
Sie brachte außer der Stimme so viel natürliches Talent zum Singen mit , daß ihre Lehrmeisterin sich hüten mußte , zu sehr zu zeigen , wie viel sie von dieser Schülerin erwartete .
Aber dieses Semester wurde nicht nur reicher und schöner , sondern auch weit anstrengender !
Franzi wollte und durfte natürlich nicht ihr Klavierspiel vernachlässigen , behielt auch wöchentlich eine Stunde bei und übte treulich nach wie vor .
Dazu kam , daß sie sich in den Kopf gesetzt hatte , sie könne nicht immer nur annehmen , was sie für ihren Unterhalt in Berlin gebrauchte , sie müsse selbst etwas hinzu verdienen .
Kostete doch alles so schrecklich viel !
Und wenn die Fürstin zwar alles gab , was Unterricht , Noten und Pension betraf , so blieb doch noch so manche kleine nötige Ausgabe , zu der es ihr fehlte .
Und die Mutter mochte sie nicht um Geld bitten !
Sie wußte , daß dies Jahr Wilhelm noch den bescheidenen Zuschuß brauchte .
So hatte sich denn Franzi in aller Stille nach einer Beschäftigung umgesehen , die ihr ein kleines Taschengeld einbringen sollte .
Handarbeit wollte sie machen wie in Wendenburg ; es standen ja alle Tage Anzeigen in der Zeitung , die sich auf dergleichen bezogen .
Freilich , als sie anfing , nach solchen Ankündigungen auf Suche zu gehen , merkte sie bald , daß es doch nicht so leicht sei , etwas zu erreichen .
Es waren immer " viel mehr Störche als Frösche " , wie Herr Bauer zu sagen pflegte , das heißt es fanden sich wohl zwanzig und noch mehr Personen für jede einzelne ausgeschriebene Arbeit .
Oft kam Franzi zu spät , die weiten Wege ermüdeten sie und die Zeit , die sonst ihrer Musik zu gute kam , war unnütz verloren .
Sie sollte zwar täglich hinausgehen , gewissenhaft ihre Pausen im Studium innehalten ; aber dann sollte es eine wirkliche Erfrischung , ein ruhiges Spazierengehen sein , kein Hetzen und Stürzen nach entfernten Straßen in einem unbekannten Stadtteil , kein Warten in dumpfen Geschäftsräumen , um dann schließlich doch unverrichteter Sache zurückzukehren .
Endlich aber hatte sie etwas erreicht .
Eine Art leichter Stickerei wurde ihr übertragen , die zwar sehr schnell fertigzustellen war , aber auch dementsprechend gering bezahlt wurde .
Und so entsetzlich eintönig und langweilig in der Ausführung !
Aber das sollte nicht schaden ; Franzi hatte ja so viel Interessantes zu denken , daß die Zeit bei so mechanischer Beschäftigung ihr doch niemals lang werden konnte .
Aber woher die Zeit eigentlich nehmen ?
War nicht schon der ganze Tag besetzt ?
Es schien schwierig , sich diese Muße noch abzuzwacken ; aber sie machte es dennoch möglich , stand etwas früher auf , kürzte ihren Spaziergang ab , saß nie mehr nach Tisch ein Halbstündchen feiernd oder lesend , nahm auch zu ihren Besuchen bei Léontine ihre Handarbeit mit .
Daß immer alles zu bestimmter Zeit geliefert werden mußte , regte sie etwas auf ; aber wenn sie dann einen Karton voll Sachen fortgebracht hatte und mit einem bescheidenen Sümmchen zurückkehrte , empfand sie doch eine gewisse Befriedigung .
In der Pension waren manche Veränderungen eingetreten , neue Pensionärinnen , mitunter auch so weltfremde , wie Franzi damals selber gewesen , denen gegenüber sie sich nun schon als alte Berlinerin fühlte und sich gern behilflich zeigte , wo sie konnte .
Fräulein Zimmermanns Liebling war sie vom ersten Tage an gewesen ; ja die alte Dame hatte zu ihrer Allerjüngsten das größte Vertrauen und wagte es , sich auch zuweilen über ihre Sorgen und Schwierigkeiten auszusprechen .
Und Guste , die Vielgeplagte , ging durchs Feuer für Fräulein Trautmann !
Auch die Portierleute unten nannten sie einfach " unser Fräulein " oder " die kleine Schwarzbraune " , und die Kinder aus der Kellerwohnung grüßten sie vertraulich .
Portiers " Willem " , ein kleiner drolliger Stöpsel von sechs Jahren , war ihr besonderer Freund , und obwohl sie nie Bonbons oder dergleichen für ihn hatte , sah er doch immer mit einer gewissen Erwartung zu ihr auf .
Eines Tages gab Franzi Willem ihre Notenmappe einen Augenblick zu halten , während sie die Handschuhe zuknöpfte .
" Die schöne Mappe , " sagte der Kleine und streichelte das grüne Leder .
" Bilder sind leider nicht darin , " erwiderte Franzi ; er fiel ein : " Det weiß ich .
Da is Musik drin ! "
Franzi lachte , und er fuhr fort : " Was is das für 'n Kopp da drauf , Fräulein ? "
" Der Kopf von einem Mann , der wunderschöne Musik gemacht hat . "
" Junge ! " rief Franzi entzückt , " du mußt Musikant werden ! "
" Laß sie Mal sehen , die Musik ! "
Franzi nahm ein Notenheft heraus und hielt es dem kleinen Frager belustigt hin .
Er machte ein kritisches Gesicht und meinte wieder : " Ja , aber klingt se denn ooch ?
All die kleinen dicken schwarzen Köpfe un Striche - de klingen doch nicht ? "
" O ja , sie klingen , wenn man es nur recht versteht !
Höre Mal , dies klingt so ! "
Sie trommelte mit den Fingern und sang eine kleine heitere Stelle aus einem Mozartischen Andante .
Willem hörte mit offenem Munde und verständnisinniger Miene zu , und als seine große Freundin dann eilig fortging , trommelte er auf sein Lederschürzchen und pfiff die eben gehörte Melodie .
Am nächsten Tage erwartete er Franzi wieder und rief triumphierend : " Hab es wohl jehört , wie du oben Musik jemacht hast ! "
" Wirklich ? " fragte Franzi .
" Woher wußtest du denn , daß ich es war ?
Da spielen doch mehr Damen Klavier ! "
" Hab ' doch jehört , wie du so wie gestern machtest :
Bum , bum - drallere , la , bum ! " und er schmetterte ihr mit stolzer Miene die paar Takte Mozart vor .
" Junge ! " rief Franzi entzückt , " du bist ja ein Prachtkerlchen ; du mußt Musikant werden ! "
" Will ich ooch , " sagte Willem stolz , " kein Schuster un kein Schneider nicht , ich wer' Flötist oder Trommelschläger ! "
Nun war die Freundschaft zwischen den beiden erst recht besiegelt , und eines Tages sagte die Portiersfrau ein bißchen verlegen und doch zutraulich :
" Ach Fräulein , der Junge , der Willem , hat jetzt nichts im Kopp , als daß er möchte ' Fräulein Musik machen hören !
Mal dichte bei , Mutter , sagt er , Mal sehen , wie die schwarzen Köpfe tun , wenn se klingen wollen !
Wäre es wohl sehr unbescheiden , wenn ich Fräulein bäte , ihn einmal mit nach oben zu nehmen ? "
" O gern , Frau Lehmus , " antwortete Franzi freundlich , " schicken Sie ihn doch gleich !
Der kleine Bursch macht mir ja selbst so viel Spaß . "
- Eine Viertelstunde darauf läutete der frischgewaschene , strahlende Willem oben an der Tür , und auf Gustes erstaunte Frage : " Na , was willst du denn ? " antwortete er prompt :
" Fräulein besuchen . "
" Welches Fräulein denn ? "
Er zögerte einen Augenblick , und dann kam es lustig heraus : " De kleine Schwarzbraune ! "
Da lachte Guste , und auch Franzi steckte schon den Kopf aus der Tür , um ihren kleinen Gast in Empfang zu nehmen .
Dann spielte sie ihm in allem Ernst etwas vor , und der Junge hörte ernsthaft zu .
Schließlich untersuchte er das Klavier von unten und oben , schlug selbst ein paar Töne an und freute sich darüber , daß unter seinen kleinen Fingern wirklich welche kamen , besah immer wieder kopfschüttelnd die Noten und hörte dann mit so klugem Ausdruck zu , wenn Franzi ihm etwas erklärte , daß diese zum ersten Male dachte : " O hätte ich einen solchen kleinen Schüler ! "
Aber Willem war doch noch zu klein , eben erst in die Schule gekommen ; an dem konnte sie ihre Unterrichtslust nicht befriedigen , obwohl der Portier eines Tages sagte : " Ach Fräulein , was jäb' ich darum , wenn der Junge Musik lernen könnte !
Was habe ich immer für Musik jeschwärmt ! "
" Also daher hat er es , " meinte das junge Mädchen freundlich , " na , Meister Lehmus , was nicht ist , kann ja noch werden !
Lassen Sie ihn nur erst ein bißchen heranwachsen ; nächstes Jahr will ich es gern Mal mit ihm versuchen . "
Aber Franzi sollte schon jetzt dazu gelangen , ihre Unterrichtskunst zu probieren , und zwar durch Vermittlung der Portiersleute .
Es wohnte im Hinterhause in sehr bescheidenen , aber nicht unfreundlichen Räumen eine Witwe , die wohl bessere Tage gekannt hatte und nun ein stilles , arbeitsames Leben in großer Einschränkung führte .
Von dieser erzählte Frau Lehmus , da Franzi die Bewohner des Hinterhauses natürlich nicht kannte , lobte die fleißige Frau und die netten Töchter und sagte schließlich :
" Ach , Fräulein , ich weiß , die kleine Lieschen wünscht sich so brennend jene Klavierunterricht , die Mutter aber kann nicht viel bezahlen und traut sich darum bei keinem Lehrer anzufragen .
Fünf Groschen will se dran wenden - was meinen Sie , Fräulein , können Sie es dafür tun ? "
Voll Spannung hatte Franzi zugehört und rief nun ohne Besinnen : " Ja , ja , ich will es tun !
Lassen Sie Lieschen Braun nur zu mir kommen . "
Es kam aber nicht Lieschen , sondern die Mutter selbst , und nach manchen bescheidenen Einwendungen ihrerseits , ob sie es auch wirklich für so geringes Honorar von Fräulein Trautmann annehmen könne , nach freundlichen Versicherungen von Franzi , daß sie sich so etwas gerade gewünscht hätte , kam dann eine Verabredung zu stande , und das überglückliche Lieschen Braun erschien zweimal wöchentlich oben in der Pension , gewöhnlich von Willem Lehmus bis an die Gangtür begleitet .
Ja , es war ein reiches Leben voller Tätigkeit und Anregung in jeder Art , und Franzi merkte es lange nicht , daß es allmählich zu viel des Guten für sie wurde .
Aber Frau Professor Gerstenberg merkte es !
Ihre liebe Schülerin ließ zwar nicht an Fleiß und Aufmerksamkeit nach , aber die Fortschritte entsprachen doch nicht ihren Erwartungen .
Die junge , weiche Stimme wurde nicht kräftiger , sondern schwächer !
Ja , sie schien manchmal völlig ohne Schmelz , und es konnte vorkommen , daß Franzi unrein sang !
Dann wurde sie rot und ängstlich , und Frau Professor sagte schließlich :
" Wir müssen pausieren , Fräulein Trautmann .
Nicht bloß heute , sondern überhaupt eine Weile die Stunden aussetzen - vielleicht vier Wochen , möglich auch , daß vierzehn Tage genügen . "
Franzi erschrak aufs äußerste , so daß die Lehrerin begütigend fortfuhr :
" Nun , erschrecken Sie nicht zu sehr ; das kommt bei Anfängerinnen öfter vor .
Ich meine zwar , Sie nicht überanstrengt zu haben , aber eines tritt zum anderen ; vielleicht verlangt auch Ihre frische kräftige Natur , über die ich meine Freude hatte , einmal eine Ausspannung . "
" Muß ich auch zum Arzt gehen ? " fragte Franzi leise und unglücklich .
" Nein .
Hiervon verstehe ich noch genug , da brauchen wir keinen Arzt .
Es ist keine Halskrankheit im Spiel , nur allgemeine körperliche Abspannung .
Sie müssen Ruhe haben .
Üben Sie auch nicht viel Klavier in dieser Zeit , gehen Sie fleißig an die freie Luft , lesen Sie etwas Hübsches und so weiter .
Vor allen Dingen sprechen Sie nicht zu viel und laut . "
So hatte Franzi plötzlich Ferien und fühlte sich furchtbar unglücklich !
Sie mochte niemand von ihrem Kummer erzählen , und es vergingen auch mehrere Tage , bis man es in der Pension bemerkte , daß die kleine Lerche schwieg .
Nun setzte das gutmütige Fräulein Zimmermann gleich mit besonderer Pflege ein ; Franzi mußte schon zum Kaffee ein Ei oder Schinkenbrot essen , und bekam Mittags kräftiges Malzbier .
Guste aber kam heimlich mit " Hoppelpoppel " , Eigelb mit Zucker geschlagen , und verkündete : " Hab ' ich vom Eierkuchen abjespart ; merkt keiner , wenn eins weniger dran ist ! "
Oder sie brachte Backpflaumen und behauptete , die täten allen Sängerinnen gut .
Franzi war sehr gerührt , aber betrübt blieb sie doch !
All die schöne Zeit , die sie nun verlor !
Sie wußte gar nicht , was damit anfangen .
Ihre Stunden an Lieschen Braun gab sie weiter und bemühte sich , wenig und leise zu sprechen .
Auch stickte sie noch für das Geschäft , aber neue Arbeit wollte sie doch lieber nicht mehr holen ; sie sollte sich ja ausruhen .
In dieser Zeit sah Frau Professor Gerstenberg sich einmal nach ihrer Schülerin um .
" Nun , wie steht_es , Fräulein Franzi ; können wir bald wieder anfangen ?
O , noch immer etwas matt , das Stimmchen ?
Nun , nur Geduld , wenn die Märzsonne erst kräftig scheint , wird es schon wieder gut werden .
Nur nichts mit Gewalt erreichen wollen !
Sie wohnen hier ja sehr nett , und was machen Sie da ?
Leichte Handarbeit - das ist recht , nur nicht zu viel . "
Verlegen packte Franzi auf ihrem Tisch etwas zusammen ; da stieß sie einen Karton herab , und eine Menge fertiger Stickereien fiel heraus .
Die Professorin stutzte .
" Was ist denn das ?
Doch nicht alles selbst gearbeitet ?
Ja , Kind , haben Sie denn einen Laden hier ? "
Franzi erklärte errötend den Zusammenhäng , und Frau Gerstenberg wurde sehr ernst .
" Aber Fräulein Trautmann .
Das ist alles sehr gut gemeint , sehr lieb gedacht , aber Sie tun doch ein großes Unrecht damit ! "
Franzi erschrak , und die Lehrerin fuhr fort : " Nun ist es ja völlig klar , woher die Stimmlosigkeit und das elende Aussehen kommen .
Sie haben sich nicht bei uns überanstrengt , sondern hier auf eigene Hand !
Stunden gegeben und Stickereien für Geschäfte gemacht - was nicht noch ?!
Nein , nein , das muß alles aufhören , auf meine Verantwortung .
Sagen Sie - wie ist es doch - ich meine , Ihre Fürstin bezahlt für Ihre Ausbildung ? "
" Ja , " sagte Franzi leise , " ich bekomme alles dazu ; aber das Leben in Berlin ist doch so teuer , und es finden sich immer wieder kleine Ausgaben und nötige Anschaffungen , von denen ich nichts sagen mag ! "
" Und da setzen Sie lieber Ihre Gesundheit , Ihre Stimme , Ihre Zukunft aufs Spiel ?
Törichtes Mädchen , ich kann Ihnen freilich nicht böse sein , aber ich sollte es eigentlich . "
" Ich habe es nicht gewußt , daß ich mir schaden könnte ! "
" Gewiß , aber jetzt wissen Sie es , und nun folgen Sie mir .
Diesen Plunder hier , den sollen Sie zwar nicht gerade zum Fenster hinauswerfen , aber doch schleunigst im Geschäft abliefern , fertig oder unfertig , und dann - "
" Aber mein Lieschen darf ich doch behalten ? " forschte Franzi ängstlich .
" Sie macht gerade so nette Fortschritte . "
" Nun , wenn Ihr Herz so dran hängt - und wenn Sie leise und wenig sprechen wollen !
Was bekommen Sie denn für die Stunde ? "
" Fünfzig Pfennig . "
Die Professorin wandte sich ab , und ein eigentümlicher Ausdruck flog über ihr Gesicht .
Dann nahm sie Franzis Kopf in beide Hände und sagte liebevoll :
" Sie sind ein tapferes Mädchen !
Ich hoffe zum Himmel , die Kunst wird Sie einmal reich entschädigen und Sie frei und selbständig machen .
Aber für jetzt nehmen Sie ohne Scham an , daß man für Sie sorgt , und seien Sie nichts als dankbar .
Sie werden es Ihren Wohltätern gewiß noch heimzahlen !
Es klingt recht gut und heroisch , » aus eigener Kraft « etwas zu erreichen , aber es ist in diesem Fall nicht möglich .
Sich abarbeiten und dabei die Stimme pflegen und bilden , das paßt nicht zusammen .
Sie sehen , Sie haben bis jetzt mehr Schaden als Nutzen davon gehabt . "
" Ich sehe es ein , " gestand Franzi betrübt , und Frau Gerstenberg fuhr fort :
" Heute möchte ich eine kleine Zerstreuung für Sie .
Kommen Sie mit mir , Sie waren gewiß lange nicht im Opernhaus ? "
" Ach , noch gar nicht . "
" Was - !
Den zweiten Winter in Berlin und noch nicht in der Oper ? "
" Ich komme ja häufig in Konzerte durch die Freibillett von der Hochschule , aber Theater - "
" Nun , jetzt sollen Sie aber ins Theater !
Heute hören wir uns » Lohengrin « an . "
Franzis Dankbarkeit kannte keine Grenzen .
Strahlend und glühend saß sie am Abend neben ihrer verehrten Lehrmeisterin im Opernhaus , und für die erfahrene Frau war es ein seltener Genuß , den Eindruck zu beobachten , den diese Wunderwelt auf das empfängliche junge Gemüt ausübte .
Von diesem Tage an lebte Franzi sichtlich wieder auf , und als der März kam , zeigte es sich , daß Frau Professor recht gehabt :
Die Stimme war ausgeruht und wurde bald voller und schöner als je .
Bei der Osterprüfung an der Hochschule war Franzi Trautmann diejenige , auf die das gesamte Lehrerkollegium aufmerksam wurde und die auch dem geladenen Publikum am meisten Freude machte .
So klang dieser Winter , der eine Weile ein ernstes Gesicht gezeigt hatte , für Franzi doch noch schön und freudig aus .
28. Kapitel .
Komteßchen Léontine Als der Unterricht am Konservatorium für die Osterzeit geschlossen war , eilte Franzi am ersten freien Tage nach der Kurfürstenstraße , um ihrer Freundin Léontine von allen Erlebnissen der letzten Zeit zu erzählen .
Nach Wendenburg hatte sie natürlich ausführliche Berichte gesandt , sowohl an ihre Mutter wie an die liebe Ursula , bei denen sie für alles das feinste und herzlichste Verständnis voraussetzen durfte ; aber ihr lebhafter Sinn , ihre Neigung , sich mitzuteilen , trieb sie auch in besonderen Zeiten zu der Kindheitsgespielin , obwohl sie sich da auf manche Enttäuschung gefaßt machen mußte . Léontine v. Wehrburg konnte es nie begreifen , daß man ein Studium mit allem , was dazu gehörte , anders auffassen konnte , als eine lästige Quälerei .
Und gar diese Leidenschaft für die Musik bei ihrer Franzi begriff sie durchaus nicht .
Als diese im Februar die unfreiwilligen Ferien hatte , ihres angegriffenen Halses wegen , war sie von Léontine nur darum beneidet worden und hatte es ihr durchaus nicht klar machen können , wie sehr sie unter jedem Stillstand in ihrem Studiengang litt .
" Stillstand ist Rückschritt , " hatte sie gesagt ; aber Léontine hatte nur lachend versichert , ihr käme es gar nicht drauf an , Mal " zurückzuschreiten " .
Die Tanten hielten jedoch unerbittlich auf den regelmäßigen Fortgang ihrer Stunden , " und krank bin ich ja leider nie ! " hatte Léontine seufzend hinzugefügt .
Da war aber Franzi sehr böse geworden , hatte sie an die Kinderzeit erinnert , wo Tini ein zartes kränkliches Geschöpf gewesen war , und sie ermahnt , doch dankbar zu sein , daß sie so viel kräftiger und frischer , ordentlich vollwangig und hübsch geworden wäre .
Dazu hatte dann Léontine gelacht und war ein wenig besänftigt worden , denn es war ihr heimlicher Kummer , daß sie sich so häßlich fand .
Sie hätte ihrer schönen Franzi gleichen mögen ; die große Nase und das mattblonde Haar , das ihr Spiegelbild aufwies , gefielen ihr niemals , besonders zu der Zeit , als sie obendrein noch blaß und mager war .
Darum hatte sie sich besänftigt , als Franzi sie " verschönert " fand ; daß aber der Grund davon , ihre bessere Gesundheit , sie zu größerem Fleiß anfeuern sollte , das sah sie doch nicht ein .
" Ich werde niemals eine Gelehrte , " behauptete sie , " und das ist ja wohl auch nicht nötig für eine Gräfin Wehrburg ! "
Hierzu hatte Franzi geseufzt , aber nichts gesagt .
Diese Überhebung der kleinen Freundin schmerzte sie immer und doch fühlte sie sich nicht berufen , gerade darüber etwas zu sagen , weil ihr gegenüber nie ein Standesunterschied betont wurde und auch die Tanten , die Gräfinnen Steineck , sie mit immer gleicher Güte und wirklicher Teilnahme behandelten .
Als Franzi heute in der Kurfürstenstraße ankam , machte der kleine Diener Peter beim Türöffnen ein sehr vielsagendes , fast geheimnisvolles Gesicht , daß Franzi unwillkürlich munter fragte :
" Nun , Peter , was ist denn los ; Sie haben ja eine riesig wichtige Amtsmiene ? "
" Ach , gnä' Fräulein , es ist so gut , daß Sie kommen .
Unser Komteßchen ist gar nicht ordentlich - und Besuch haben wir auch - "
" Wie - ist Komteßchen krank ? " unterbrach Franzi erschrocken .
" Nun - krank nicht gerade , aber unglücklich , " sagte Peter mit Nachdruck .
" Komteßchen weinen immerzu - "
Aber da flog eine Tür auf und Leontines Stimme rief heftig :
" Was unterstehen Sie sich , Peter ?
Sie haben zu melden und weiter nichts ! "
Damit zog sie Franzi an der Hand ins Zimmer , immer fortscheltend :
" Und du stehst auch da und läßt dir von dem dummen Burschen was vorschwatzen , statt - "
" Aber Tini , sei doch nicht so heftig !
Komme , laß dich anschauen ; du hast ja rote Augen ! "
" Ach , ich weine auch immerfort ! "
" Na , da hat Peter doch recht ! "
Diesmal achtete die kleine Gräfin nicht mehr auf die Erwähnung des Dieners , den sie immer mit ihrem Zorn beehrte , sondern fiel ihrer Freundin um den Hals .
" Dieser schreckliche Graf , den ich Onkel nennen soll !
Dieser - dieser - der uns von Wehrburg verjagt hat - der in unserem Schloß wohnt - dem alles , alles gehört !
Und mir nichts ! "
Alles dies wurde schluchzend hervorgestoßen und Franzi konnte kaum zu einer Unterbrechung gelangen .
Sie hielt die Aufgeregte nur fest im Arm , streichelte ihr Haar und bat leise : " st , st , Tini , still doch ! "
Aber Tini war nicht still , sie sprudelte und schluchzte in einem fort , und endlich begriff die Freundin : der gegenwärtige Besitzer von Wehrburg , der neue Majoratsherr , war nach Berlin gekommen , hatte die Cousinen , die Gräfinnen Steineck , aufgesucht und sich , wie es schien , auch eingehend und teilnahmvoll um die Tochter seines Vetters , dessen glücklicher Erbe er ja geworden , bekümmert .
Das aber hatte das unverständige Kind nicht erfreut , sondern geradezu aufgebracht .
" Ich begreife dich nicht , " rief Franzi , als sie endlich zu Wort kam .
" Du müßtest dich doch freuen , einmal ausführlich von der lieben alten Heimat zu hören ! "
" Es ist meine Heimat nicht mehr !
Ich bin daraus vertrieben worden ! "
" Léontine , wie ungerecht !
Du tust gerade , als wäre dieser Graf ein Räuber - "
" Ist er denn etwas anderes ? "
" Während du doch weißt , daß alles in der Welt nach festen Gesetzen hergeht , " fuhr Franzi ernst fort .
" Aber diese Gesetze sind manchmal schrecklich , " rief Léontine wieder ungestüm .
" Wenn ich nicht unglücklicherweise ein Mädchen wäre , sondern meines Vaters Sohn , dann säße ich noch heute auf Wehrburg , statt in diesem öden Berlin .
Und du mit mir !
Nie , nie hätte ich dich fortgelassen - nie hättest du Geld verdienen brauchen , nie wärst du Sängerin geworden - "
" Das wäre aber schade , Tini ! "
" Nie hättest du diese Ursula gefunden , die dich mir wegnimmt .
Ach , warum bin ich ein Mädchen und nicht Majoratsherr von Wehrburg ! "
Franzi sah bekümmert auf die Erregte und sagte dann ernsthaft :
" Es wird deinem Vater gewiß auch ein betrübender Gedanke gewesen sein , dir die geliebte Heimat nicht erhalten zu können .
Darum hat er doch gewiß in anderer Weise gut für dich gesorgt . "
Da fuhr Léontine wieder auf :
" Das ist es eben !
Dieser schreckliche Graf behauptet , für mich sei gar nicht gut gesorgt worden .
Es klingt , als wollte er meinen Vater anklagen !
Aber das soll er nur noch einmal wagen , dann zeige ich ihm , wer ich bin ! "
Sie ballte die Hand und sah so zornig aus , daß Franzi lächeln mußte .
" Liebes Herz , " sagte sie sanft , " ich glaube , du hast das alles nicht richtig verstanden . "
Léontine wurde plötzlich etwas kleinlaut und meinte :
" Das kann auch sein ; aber - wenn sie immerfort von Zinsen und Dividende und Kapital und Amortisieren reden , wenn der Graf von » Industrie auf den Gütern « redet und von » landwirtschaftlichen Genossenschaften « - wer kann das verstehen ?
Ich nicht ! " beharrte sie trotzig .
" Ich habe das früher nie gehört ; mein Vater sprach von Jagd und Pferden , höchstens Mal von Kornpreisen , obgleich er auch immer seufzte , wenn der alte Inspektor mit saurer Miene ankam .
» Na , Dorn , « fragte er dann , » hat der Weizen nicht ordentlich gelohnt ? « -
Ja , wie ich sage , von so was sprach er wohl manchmal seufzend , aber sonst immer lieber von was anderem !
Auch von dem , was in der Zeitung stand , was in den fremden Ländern vorging und in den großen Städten , und an den Fürstenhöfen - Oh , mein Papa war sehr klug ; aber von so greulichen Dingen , wie dieser Graf Otto , sprach er nie !
Und ich weiß auch gar nicht , ob ich das vornehm finden kann ! "
Da war es wieder !
Franzi seufzte .
Aber Léontine fuhr unbeirrt fort :
" Und weißt du , was das schlimmste ist , was ich ihm gar nicht verzeihen kann ?
Denke dir , er hat den Tanten vorgeredet , ob sie mich nicht das Seminar besuchen und zum Examen vorbereiten lassen wollten ; es könnte doch nötig sein , daß ich einmal selbst für meinen Unterhalt zu sorgen hätte !
Denke dir , ich Gouvernante !
Gräfin Léontine Wehrburg ! "
Diesen Gedanken fand auch Franzi ziemlich ungeheuerlich , aber nicht darum , weil ihre Freundin eine Gräfin war , sondern weil sie gerade jetzt wieder sah , wie unfertig die doch kaum um ein Jahr jüngere Léontine noch immer war , wie unreif in ihrem Denken und ihren Vorstellungen , wie unbeherrscht in ihrem äußeren Wesen !
Ach nein , darüber konnte wohl noch manches Jahr vergehen , da mußten vielleicht noch weit schwerere Schickungen und tiefgreifende Einflüsse in das Leben des jungen Mädchens kommen , bis dieses im stande sein würde , Kindern zum Vorbild zu dienen !
Léontine verstand Franzis Schweigen , aber auf ihre eigene Weise .
" Nicht wahr , du findest doch auch das Ansinnen des Grafen unerhört ? " fragte Léontine .
Franzi wurde einer Antwort überhoben , denn Peter meldete respektvoll : " Der Herr Graf sind wieder da und die jungen Damen werden gebeten , in zehn Minuten zum Tee zu kommen . "
" Es ist gut , " sagte Léontine kurz ; doch als der Diener gegangen war , brach sie wieder los : " Da haben wir_es !
Nun kommt er noch einmal , und die Geschichte geht von vorn an !
Nun kannst du es miterleben und mir nachher sagen , ob du ihn nicht auch greulich findest , diesen - diesen - "
Sie suchte nach einem Ausdruck , der ihr bezeichnend genug schien , aber Franzi faßte sie ohne weiteres beim Kopf und sagte :
" Erst wollen wir dich ein wenig frisieren , das scheint mir nötiger !
Was für ein kleiner Pudelkopf bist du doch gleich , wenn du dich so aufregst !
Bei jedem einzelnen Wort steigt dir ja wohl ein Härchen zu Berge ?
Und diese Schleife - halte doch - alles sitzt schief und locker ! "
Léontine lachte , hielt still und ließ sich von Franzi bedienen .
Das liebte sie , und Franzi wußte es .
Dann wurde das quecksilberne Persönchen ruhig , und in leidlicher Haltung betrat sie einige Augenblicke später mit ihrer Freundin den Salon .
Dort erhob sich hinter dem Thetisch der Tanten ein sehr großer stattlicher Herr mit graublondem Bart und scharfgeschnittenen Gesichtszügen .
" Die große Nase hat er auch , aber sonst erinnert er gar nicht an unseren lieben verstorbenen Grafen , " dachte Franzi blitzgeschwind , während sie sich anmutig verbeugte .
Der Graf musterte bei der Vorstellung das fremde junge Mädchen mit raschen , scharfen Blicken , wandte sich im Gespräch aber vorläufig nur an Léontine .
" Ich hoffe , du hast dich besonnen , Leonie , und entschließt dich heute , mich Onkel zu nennen , " begann er in einem Ton , der scherzhaft klingen sollte , aber doch etwas Strenges hatte .
Léontine aber spielte noch weiter den Trotzkopf und antwortete kurz :
" Ich heiße gar nicht Leonie ! "
" Nicht ?
Gibt es hier bei euch gar keine Abkürzungen ?
Nun denn - Le-on-ti-ne , ich hoffe , du machst deinem Onkel Otto das Vergnügen , ihn ins Theater zu begleiten - mit deiner Freundin , " fügte er mit einer leichten , höflichen Wendung gegen Franzi hinzu .
" Ich bedaure sehr , aber wir danken , " entfuhr es Léontine kurz und keck .
" Léontine ! " rief Gräfin Diana entrüstet .
" Antwortet man so auf ein überaus freundliches Anerbieten ? "
" Und gleich im Namen der Freundin mit ! " bemerkte der Graf halb spottend , halb belustigt .
" Das ist immer etwas voreilig , Le-on-ti-ne ; denn du kannst nicht wissen ! -
Oder wie ist es , mein Fräulein , würden Sie mir auch ohne weiteres einen Korb geben ? " Franzi , in ihrem Schreck über Leontinens Benehmen , entgegnete lebhaft : " Herr Graf sind sehr gütig !
Tini hat sich übereilt und meint es sicherlich nicht so - "
" Doch ! " warf Léontine ein , Franzi aber nahm einfach ihre Hand mit sanftem Druck und fuhr fort :
" Ich weiß , daß Tini sich schon lange einen Theaterbesuch wünscht , seit ich ihr neulich von Lohengrin erzählte , und sie wird Ihnen sehr dankbar sein , wenn wir zusammen das Vergnügen haben dürfen . "
" Nein , " rief Tini trotz aller Warnungen , " ich mag kein Almosen !
Wenn ich immer hören muß , daß ich arm bin , daß mein lieber Vater nicht gut für mich gesorgt hat , daß ich lernen soll , mein Brot verdienen - als Gouvernante - als Kammerjungfer vielleicht - dann will ich auch nicht ins Theater gehen , nicht mitgenommen werden von solchen , die es besser haben , die - mein - Wehrburg haben ! "
Nach dieser , in haltloser Erregung hervorgesprudelten Rede stürzte Tini aus dem Zimmer , Franzi voll Schrecken hinterdrein .
Die Zurückbleibenden sahen einander bestürzt an .
Gräfin Ludowika rang still die Hände und bekam feuchte Augen , Gräfin Diana sagte mit hochrotem Gesicht :
" Ich fürchte , Vetter Otto , du beurteilst unser Erziehungstalent recht ungünstig .
Diese Léontine macht uns heute ja geradezu Schande ! "
" Und doch ist sie nicht immer so , " fiel Gräfin Ludowika sanft ein .
" Ihr Herz ist gut , sie hat nur ein unbegreiflich rasches Temperament ! "
" Ist sie etwa beschränkt ? " sagte der Graf betroffen .
" Es ist doch sonst kaum möglich , daß ein siebzehnjähriges Mädchen solche Vorurteile hegt .
Sie tut ja , als hätte ich sie um ihr gutes Recht gebracht ! "
" Beschränkt , " wiederholte Gräfin Diana , " ist wohl nicht das Richtige , obgleich ihr das Lernen in manchen Unterrichtsfächern Schwierigkeiten macht .
Es ist übrigens etwas besser geworden , seit Franzi Trautmann einige Stunden mit ihr teilt . "
" So , die habt ihr dazu herangezogen ?
Das ist recht !
Die scheint ein angenehmes , freundliches Mädchen zu sein . "
" Sie ist außerordentlich ! " sagte Gräfin Ludowika mit Begeisterung , und auch Gräfin Diana pflichtete bei :
" In der Tat , ein ungewöhnlich begabtes Mädchen , das es wohl verdient , daß ihre Fürstin ihr Schicksal in die Hand nahm . "
Der Graf horchte auf und ließ sich in Kürze den Lebensgang der kleinen Wehrburger Gärtnerstochter erzählen .
Er hatte wohl kaum wieder an sie gedacht , nachdem damals bei seinem Einzug in Wehrburg die Anerbietungen , die er der Familie Trautmann machte , abgelehnt worden waren , was er ärgerlich für ein " Hochhinauswollen dieser Leute " gehalten hatte .
Heute ließ er sich nun mit Interesse von Franzi erzählen , und wenn er auch im Grunde der Überzeugung blieb , daß er in seiner Lage damals nicht anders handeln konnte , so empfand er doch eine wohlwollende Teilnahme für das junge Mädchen , das jetzt wieder den Salon betrat , jedoch ohne die kleine Komtesse und selbst in deutlich sichtbarer Erregung .
" Ich bitte noch einmal für Tini um Verzeihung , " sagte sie mit ihrer warmen Stimme .
" Sie ist so unglücklich , daß ich Mühe genug hatte , sie zu beruhigen .
Jetzt macht sie sich nur ein wenig zurecht ; dann kommt sie , wenn gnädige Gräfin erlauben , und dankt auch dem Herrn Onkel für seine freundliche Absicht . "
Ludowika wollte aufstehen und der Nichte zu Hilfe eilen , doch Diana hielt sie zurück .
" Wir dürfen es ihr nicht zu leicht machen , liebe Schwester , " sagte sie streng .
" Laß das Kind nur von selbst kommen ! "
Der Graf wandte sich indessen an Franzi .
" Ich darf also noch auf zwei liebe junge Gäste für den Abend hoffen ?
Ihnen muß doch die Oper besonderen Genuß bereiten , da Sie sich im Gesang ausbilden , wie ich höre . "
" Außerordentlichen Genuß ! " bekannte Franzi lebhaft .
" Sie waren neulich im » Lohengrin « ? "
" Ja , durch die Güte meiner Gesangslehrerin , die mich mitnahm . "
" Ah , " sagte der Graf lächelnd , " und Sie waren nicht so hochmütig wie meine Nichte , die nichts annehmen will ?
Sie scheuen sich nicht , jemand zu danken , der Ihnen Freundliches erweisen will ? "
Franzi errötete unter seinem forschenden Blick , dann sagte sie mit ernster Offenheit :
" Ich darf nicht , Herr Graf !
Ich bin auf Güte und Hilfe angewiesen , wenn ich in die Laufbahn hineinkommen will , die ich mir ersehnt habe und in der ich vielleicht etwas leisten kann .
Allein kann ich es nicht .
Das alte Sprichwort : » Hilf dir selbst , so hilft dir Gott ! « hat meine Mutter uns immer so gedeutet :
» Wenn du alle deine Kräfte einsetzest , so darfst du die Hilfe von Menschen in Fällen , wo dein Können nicht mehr reicht , annehmen ohne falsche Empfindsamkeit , ohne Demütigung , denn der Himmel hat vielerlei Wege , zu geben und zu helfen ! « "
" Bravo ! " sagte der Graf .
" Alle Achtung vor Ihrer Mutter !
Und Ihnen alles Gute , liebes Kind !
Von Herzen wünsche ich das . "
Er reichte Franzi die Hand , und diese fühlte sich nachträglich beinahe eingeschüchtert .
Hatte sie nicht eben zu viel gesprochen ?
Hatte sie hier Meinungen und Ansichten auskramen dürfen ?
Ach , sie war wohl erregt durch die vorhergegangene Szene mit Léontine , durch die Erinnerung an Wehrburg und schließlich war sie wohl auch ein klein wenig empfindlich geworden bei der scherzhaften Frage des Grafen .
Er hatte da einen Punkt berührt , der trotz ihrer eben geäußerten Worte sie doch mitunter schmerzte .
Daß sie so viel annehmen mußte !
Es lag in ihrer frischen kräftigen Natur ein solcher Trieb zur Selbstbetätigung , daß sie früher in ihren Vorstellungen vom Leben immer bei sich gedacht hatte :
" Ich könnte Bäume ausreißen !
Ich möchte tausend Arme zu rühren haben , und mein Tag sollte vierundzwanzig Stunden zählen , ohne die Nacht , in der man nichts tun kann .
Ich möchte aus eigener Kraft recht viel , viel erreichen ! "
Jetzt kannte sie schon viel mehr vom Leben , von seinen Schwierigkeiten und Gefahren ; jetzt hatte sie es schon an sich selbst erfahren , daß aller gute Wille , alles heiße Streben nicht immer ausreicht , daß wir uns helfen lassen müssen .
Aber dennoch !
So oft hören zu müssen : " Ja , Sie , Fräulein Trautmann , Sie können wohl lachen !
Eine Fürstin zur Schutzpatronin zu haben ! "
Oder : " Sie haben schon wieder ein Billett von Frau Gerstenberg ?
Beneidenswerte ! "
Oder : " Sie sind schon wieder eingeladen bei den Gräfinnen Steineck - ja , sind Sie denn aller Welt Schützling ? "
Ja , solche Reden konnten Franzi zuweilen peinigen , und doch - der Gedanke an eine kindische Auflehnung , wie die kleine Gräfin eben gezeigt hatte , wäre ihr nie gekommen .
" Sie sind so still geworden , " sagte Gräfin Ludowika freundlich in ihre nachdenkliche Stimmung hinein , und der Graf meinte , nach der Uhr sehend :
" Wenn Léontine nicht bald kommt , wird es zu spät fürs Theater . "
" Sie traut sich gewiß nicht herein , " meinte Gräfin Ludowika bekümmert ; aber da gerade ging die Tür auf , und anfangs zögernd , dann mit festem Schritt kam Léontine heran , küßte zuerst ihrer Tante Diana die Hand mit einem leisen :
" Verzeih ! " und wandte sich hierauf an den Grafen :
" Seien Sie mir nicht böse , Onkel , ich habe Wehrburg so lieb gehabt und habe - oft solch Heimweh danach , - daß ich nicht wußte - was ich tat , als ich so unhöf- - so ungezogen gegen Sie war ! "
Es kam stockend und unter heißem Erröten heraus , aber Franzis frohes Zunicken machte ihr Mut , die schwere Abbitte zu vollenden .
Und sie hatte sich nicht umsonst bezwungen .
Der Graf legte einen Arm um ihre Schultern und sagte weicher , als man ihm bis dahin hätte zutrauen können :
" Um deiner Heimatliebe Willen sei dir alles verziehen , mein Kind .
Ich hoffe , du gewinnst noch so viel Zutrauen zu mir , daß du nicht nur heute abend , sondern auch einmal auf länger mein Gast sein magst .
Davon sprechen wir ein andermal !
Jetzt macht euch fertig - sieh , wie deine liebe Freundin sich schon freut ! -
und kommt in den » Freischütz « ! "
Gräfin Diana wollte protestieren , daß Léontine für ihre Ungezogenheit nicht nur Verzeihung , sondern auch schließlich noch ein Vergnügen haben sollte ; aber der Graf bat : " Liebe Cousine , heute lassen wir Gnade vor Recht gehen !
Um meinetwillen ! "
Léontine sah noch nicht gerade freudig aus , aber sie hatte kein Widerwort mehr , und als Tante Ludowika eifrig meinte :
" Aber Kinder , da müßt ihr noch etwas mehr essen vor dem Theater , es wird ja spät ! " , da gehorchte sie auch ohne weiteres und nahm von allem , was die sorgsame Tante ihr anbot .
Dann wurden die jungen Mädchen in Mäntel und Schale gehüllt , Peter mußte eine Droschke herbeiholen , und dann ging es im Saus durch die hellen belebten Straßen bis zum Opernhause .
Während hier der Onkel den Kutscher ablohnte und die jungen Mädchen einen Augenblick wartend in dem andrängenden Menschenstrom standen , sagte Léontine plötzlich mit großen Augen :
" Ich weiß nicht , ich fühle mich so benommen , Franzi ; ich kann dies alles gar nicht verstehen !
Gestern denke ich : Du bist ganz arm , du mußt dir dein Brot verdienen , und wenn du kein Examen machen kannst - wozu du wahrscheinlich zu dumm bist - dann mußt du Kammerjungfer werden oder so was - und nun auf einmal fahr ich wie in einer Märchenkutsche durch Berlin und hier in diese feenhafte Welt hinein - - "
" Denke , es wäre ein schöner Traum , " sagte Franzi , glücklich darüber , daß Tini wieder auftaute , und da reichte auch schon der Graf ihnen beiden den Arm und führte sie mit einem fröhlichen " Kommt , Kinder ! " in das Opernhaus hinein .
Es wurde nun ein wahrhaft herrlicher Abend !
Franzi , welche die wunderschöne Freischützmusik ja längst kannte , genoß jede einzelne Szene , jede Arie , jeden Chor mit dem besonderen Entzücken , welches das Verständnis gibt .
Ihr kamen diese Gestalten , obwohl sie sie zum ersten Male auf der Bühne sah , alle wie längst vertraut vor ; sie nahm der Agathe fast die Worte von den Lippen und mußte sich hüten , nicht hörbar mitzusummen !
Léontine aber genoß völlig naiv .
Sie behauptete ja immer , durchaus unmusikalisch zu sein , bettelte so lange , bis man ihr die Klavierstunden erließ , aber diese Melodienfülle umschmeichelte sie doch auch .
Und diese Gestalten , diese reizenden Bühnenbilder , das war wirklich zum Lachen und Weinen !
Das war ja der Wehrburger Wald - sie glaubte ihn rauschen zu hören und seine Wipfel im Mondlicht flimmern zu sehen !
In der ersten Pause war Léontine am lebhaftesten von den drei , und sie war so allerliebst in ihrer Freude und Bewunderung , daß der Graf dachte :
" Nein , beschränkt ist sie nicht !
Aber Ludowika hat recht mit dem » raschen Temperament « .
Sie hat sehr viel Temperament , und das muß gebändigt und in rechte Bahnen gelenkt werden . "
So beschäftigte er sich weniger mit der ihm seit seiner Jugend bekannten und vertrauten Webärschen Oper , als mit Betrachtungen über seine beiden jungen Gäste und mit freundlichen Plänen für sie .
Am nächsten Tage erhielt Franzi einen Brief mit der Stadtpost , der einem einzigen Jubelschrei glich .
Léontine schrieb :
" Franzi , wir fahren nach Wehrburg , Du und ich !
Onkel Otto nimmt uns mit - morgen schon !
Du mußt sofort Deinen Koffer packen und morgen um zehn Uhr am Stettiner Bahnhof sein .
Ist es nicht himmlisch ?
Ich bin beinahe schon aus der Haut gefahren vor Entzücken , habe die Tanten halbtot gedrückt und sogar Onkel Otto , der gestern noch mein Feind war , einen Kuß gegeben !
Nun alles weitere mündlich ; ich habe gar keine Zeit , noch so viel zu tun !
Der dumme Peter wird den ganzen Tag hin und her gehetzt , daß er noch rötere Ohren hat als sonst !
Mache Du nur auch , daß Du fertig wirst , und sei zur rechten Zeit an der Bahn .
Es umarmt Dich Deine glückliche Tini . "
Auch Franzi schwindelte es bei dem stürmischen Ton dieser Benachrichtigung und vor der Aussicht , die sich ihr eröffnete .
Nach Wehrburg kommen !
Die Heimat wiedersehen , worauf sie nie gehofft hatte !
Welch ein Glück , daß gerade Ferien waren , daß der Graf nicht zu einer anderen Zeit gekommen war , wo sie einer so verlockenden Einladung doch nicht hätte folgen dürfen .
Jetzt durfte sie , dem Himmel sei Dank !
Während sie noch einmal den Brief überlas , dachte sie vergnügt :
" Wieder ganz Léontine !
In ihrer Liebe und Freude wieder völlig gebieterisch .
Keine einzige Frage an die Freundin : » Kommst du , willst du mitkommen ?
Magst du die Einladung des Grafen annehmen ? «
Einfach : » Du mußt . « " Ja , sie lächelte über Leontinens Ungestüm , aber sie seufzte auch leise über diesen immer wieder hervortretenden herrischen Zug .
Wenn sie dagegen an ihre sanfte Ursel dachte !
Wie ging ihr das Herz auf !
Aber sie hatte auch Tini lieb , gewiß ; es war dankbare Anhänglichkeit und unauslöschliche Erinnerung an die Kindheit , was sie mit dieser verknüpfte , daneben eine Art von sorgender Liebe , fast ein gewisses mütterliches Gefühl mit der Verwaisten .
Mit solchen Gedanken und Empfindungen beschäftigt , packte Franzi ihre Sachen zusammen , von allen in der Pension Zurückbleibenden beneidet um diesen Ferienaufenthalt , diese Erfrischung nach dem so anstrengenden Winter für alle in Berlin ihrer Arbeit Lebenden .
Ostern fiel spät in diesem Jahr , man konnte schon auf ein paar Frühlingstage rechnen .
Zwar fiel ein leiser Regen , als sie am nächsten Morgen auf dem Stettiner Bahnhof anlangte , aber das war ein warmes Rieseln , bei dem Franzi nur dachte :
" Der klopft an die Knospen , danach wird es schöner ! "
Léontine und ihr Onkel waren schon da , Franzis Fahrkarte war auch bereits gelöst und die Besorgung ihrer Sachen wurde ihr freundlich abgenommen .
Sie wußte kaum , wie sie ihren Dank für alles ausdrücken sollte , aber der Graf fiel ihr gleich in die vor Bewegung stockende Rede und sagte liebenswürdig :
" Es ging gar nicht ohne Sie , Fräulein Trautmann ; die widerspenstige Léontine wäre nicht allein mit mir gefahren !
Sie brauchen aber deshalb nicht so erschrocken auszusehen , als wäre dies der einzige Grund meiner Einladung .
Nein , ich glaube , Sie sehnen sich ebensosehr nach einem Wiedersehen mit der alten Heimat , wenn Sie auch nicht mit Händen und Füßen um sich schlagen , wie meine Nichte . "
Franzi sah ihn dankbar an , freute sich aber doch , daß Léontine , die zum letzten Male an Peter , der ihr Handgepäck trug , herumkommandierte , diese letzte Bemerkung nicht gehört hatte ; ihre gute Laune hätte darunter leiden können .
Von quecksilbriger Lebhaftigkeit blieb sie fast während der ganzen Eisenbahnfahrt ; aber als sie die Station vor Wehrburg erreicht hatten , der Wagen und die altbekannte Livree des Kutschers auftauchten , da verstummte sie .
Wie im Traum stieg sie aus und faßte still Franzis Hand .
Auch diese schaute sich schweigend mit glänzenden Augen um , als die Gegend mit jedem Augenblick bekannter und heimischer wurde , und beide waren froh , daß der Onkel mit dem Kutscher allerlei wirtschaftliche Fragen erörterte und sich nicht um die Mädchen kümmerte .
Es war nicht mehr der alte Jobst , der sie früher so manches Mal gefahren hatte , es war nur noch ein ebensolcher Rock , der da vorn auf dem Kutschersitz thronte .
Und ebenso war es , je näher sie Schloß Wehrburg kamen , scheinbar die alte Heimat noch und - war es doch nicht mehr !
Wo mochte die Veränderung liegen ? 29. Kapitel .
Die alte Heimat An einem großen Holzschlag fuhr der Wagen vorbei , und Franzi erkannte mit Schrecken , daß ein herrlicher Buchenbestand , auf den sowohl ihr Vater wie der verstorbene Graf großen Wert gelegt hatten , bedeutend gelichtet war .
Dann wieder das kleine einsame Moor , über dem die Nebel immer so gespenstisch wogten , wo die Wasservögel schrien , war ein Schauplatz emsiger Tätigkeit geworden .
Entwässerungsgräben waren gezogen , Sand und Erde herbeigeschafft - das Moor sollte trocken gelegt und der Bebauung gewonnen werden , wie der Graf erklärte .
Nun kam das Dorf !
Gleich zu Anfang standen statt der alten Häuschen mit den bemoosten Strohdächern vier neue Tagelöhnerhäuser , stattlich , aber nüchtern anzusehen ; die Dorfstraße , die sonst um diese Jahreszeit meist unergründliche Pfützen aufwies , war überall ausgebessert , so daß man ohne hin und her zu fliegen und ohne hochaufspritzenden Schlamm in flottem Tempo hindurchfahren konnte .
Und da - was ragte denn dort rauchend in die Luft ?
In Wehrburg gab es sonst nichts Ragendes , als das abseits liegende Kirchlein und den altersgrauen Schloßturm ; dies aber sah wahrlich nach einem Fabrikschornstein aus !
" Das ist die neue Molkerei , " erklärte Graf Wehrburg den erstaunten Mädchen .
" Wir haben jetzt Dampfbetrieb und werden nächstens eine zweite Zentrifuge aufstellen müssen , denn die Beteiligung an unserer Genossenschaft ist immer noch im Wachsen begriffen .
Seht , dort hält noch der Wagen von Steinfeld , der die Milch gebracht hat ; dem Rutenaue sind wir ja schon begegnet .
In den nächsten Tagen müßt ihr euch das alles ansehen ; ihr werdet staunen über diesen großartigen Betrieb . "
Ach ja , sie staunten schon jetzt , und Léontine kämpfte wieder mit unangenehmen Empfindungen .
Wie war das alles so anders als früher , wie wurde ihr auch der kaum gewonnene Onkel auf einmal wieder fremd ! -
Aber jetzt !
Der Wagen verließ die Dorfstraße , bog um eine Ecke und lenkte in die Allee , die auf das Schloß zuführte .
Noch waren die mächtigen Kastanien unbelaubt , und deutlich sah man durch das nur mit braunen Knospen geschmückte Gezweig den alten Herrensitz vor sich .
Leontinens Herz klopfte laut .
Das alte graue Gemäuer mit dem efeuumsponnenen Turm , das war die Heimat .
Franzi aber bog sich , so weit sie konnte , aus dem Wagen , um durch die seitlich vom Schloß sich hinziehenden Parkanlagen einen Schimmer von dem weißen Häuschen zu erhaschen , in dem sie mit ihren Eltern gewohnt hatte .
Jetzt hielt der Wagen , ein Diener trat an den Schlag , und in dem altertümlichen Portal erschien die Gräfin .
Sie mußte es wohl sein , denn sie rief mit hell klingender Stimme " Willkommen ! " ; sonst hätte Léontine sie nicht für die Dame des Hauses gehalten .
Die große Schürze , die sie trug , störte Tini gewaltig !
Auch der Graf , der die steinerne Freitreppe vor den Mädchen hinaufgeeilt war , bemerkte nach der ersten Begrüßung scherzend :
" Noch so spät in der Wirtschaftsschürze , Adelheid ? " und seine Frau entgegnete :
" Es ist Sonnabend , lieber Mann ; ich komme eben aus dem Kuhstall , wir haben die Milch gemessen . "
Das war der erste Eindruck , den die zögernd herantretende Léontine von ihrer neuen Tante empfing , und sie dachte blitzschnell :
" Wie schrecklich !
Hier ist wohl alles Milchwirtschaft und dergleichen Greuliches !
Ist das mein Wehrburg ? "
Nun kam das Dorf !
Gleich zu Anfang standen statt der alten Häuschen vier neue Tagelöhnerhäuser .
Aber dann fühlte sie sich herzhaft bei der Hand gefaßt , und zwei sehr klare blaue Augen in einem schönen , noch jugendlichen Gesicht sahen sie mit lieblichem Forschen an .
" Sei willkommen , liebes Kind , und laß es dir gefallen in der alten Heimat ! -
Und auch Sie , Fräulein Trautmann , " fügte sie , Franzi die andere Hand reichend , hinzu .
" Kommen Sie herein .
Es war wohl eine kühle Fahrt ?
Ihre Stübchen oben sind geheizt . "
Sie traten in die Halle , in der es bereits dämmerte , doch die Türen zu dem dahinterliegenden Gartensaal standen weit offen ; da sah man die Wipfel der alten Bäume im scheidenden Sonnenlicht .
Einen Augenblick schaute Léontine sich wild um wie ein scheuer Vogel , dann schoß sie wie ein Pfeil durch die Halle , durch den Gartensaal , öffnete die Glastür und verschwand mit ein paar Sätzen im Garten .
Die Gräfin blickte ihr betroffen nach , und Franzi , die wieder über Leontinens Benehmen erschrak , sagte bittend :
" Wenn Frau Gräfin ein wenig Geduld mit Tini haben möchten !
Sie ist so aufgeregt von der Wiedersehensfreude ; Heimweh und allerlei Gespräche mit dem Herrn Grafen und den Tanten in Berlin , die sie nicht recht verstand , haben sie so außer Fassung gebracht . "
" Ich weiß schon ; mein Mann hat es mir in seinem Anmeldungsbrief kurz angedeutet , " sagte die Gräfin .
" Wie gut , daß Sie , die verständige Freundin , mitgekommen sind !
Ja , sollen wir denn das Kind seinem Schicksal überlassen ? "
" Ich werde nachgehen , wenn Sie erlauben , Frau Gräfin ; ich weiß ja auch die Wege noch .
Wir kommen dann gleich zurück . "
Aber es dauerte eine ziemliche Weile !
Und als sie kamen , sahen beide Mädchen tief bewegt , Léontine sogar verweint aus .
Franzi hatte in richtiger Ahnung den Weg nach der hinteren Gartenpforte eingeschlagen , von wo man auf einem kurzen Fußsteig zum Kirchhof kam .
Die Tür zur Wehrburgschen Familiengruft war zwar verschlossen , aber dort an den eisernen Gitterstäben des Vorraums lehnte das Kind und weinte .
In heißem Mitgefühl gesellte sich die Freundin zu ihr , leise tröstend auf sie einsprechend , und dann gingen sie zusammen zu dem anderen Grabe .
Franzis Vater ruhte in dem schattigsten , beinahe waldartigen Teil des Kirchhofs , unter einer alten Linde .
Veilchen blühten auf seinem Grabe , und erste schüchterne Vogelstimmen zwitscherten im kahlen Gezweig darüber .
Zu ihrer Freude bemerkte Franzi , daß der Hügel gut gepflegt war ; sie sammelte nur ein paar trockene Blätter aus dem üppig wuchernden Efeu und las still die Inschrift des Kreuzes .
" Ich will Euch nicht Waisen lassen . "
Sie faltete die Hände .
Sie war nicht verwaist , nicht verlassen in der Welt , obwohl der Vater von ihr gegangen .
Ihr himmlischer Vater hatte es gut mit ihr gemacht ; der Liebe , Gute unter dem grünen Hügel , der so wenig für die Sicherheit der Seinen hatte sorgen können , durfte ruhig schlafen !
Seine Kinder dachten nur mit Liebe und Ehrfurcht an ihn , seine Kinder wollten ihm Ehre machen und die teure Mutter einst für alles ausgestandene Leid , für Entbehrungen und Anstrengungen reich entschädigen .
Jetzt war es Léontine , die Franzi aus ihrer Versunkenheit riß .
" Komme , " sagte sie , " wir wollen gehen ; im Schloß könnten sie sonst böse werden . "
Jetzt war es Léontine , die Franzi aus ihrer Versunkenheit riß .
Aber niemand war böse ; es wurden gar keine Worte über das sofortige Verschwinden der jungen Mädchen verloren .
Man zeigte ihnen ihre Zimmer oben , und dann wartete in der Halle eine gemütliche Vespermahlzeit .
Und nun gab_es allerlei Überraschungen !
Tini hatte sich niemals genau nach den Kindern der jetzigen Wehrburger Linie erkundigt ; nun machte sie große Augen , als nacheinander die Söhne des Hauses hereinkamen , immer noch einer , fünf an der Zahl !
Das Geschlecht starb also noch nicht aus .
Der Älteste , der jetzige Majoratserbe , war schon beim Vater in der Wirtschaft , zwei trugen Kadettenuniform und waren nur auf Ferienbesuch zu Hause , zwei kamen noch mit dem Hofmeister herein .
" Es ist ein wahrer Männerstaat bei uns , " sagte die Gräfin scherzend , als alle Vorstellungen erledigt waren .
" Ich freue mich , einmal nicht die einzige Dame bei der Tafel zu sein . "
Die Gräfin führte zumeist die Unterhaltung , lebhaft , freundlich und gewandt in der Weise , daß sie alle ins Gespräch zu ziehen wußte , auch die sich noch fremd fühlenden jungen Mädchen , und Tini bat es ihr schon jetzt im stillen ab , daß sie sich zuerst ein ungünstiges Bild von ihr gemacht .
Diese Tante Adelheid war sicher eine sehr vornehme Frau , obwohl sie manchmal eine große Schürze trug und von wirtschaftlichen Dingen sprach .
Davon mußte man hier allerdings ziemlich viel hören , und Franzi , die immer Interesse für alles Ländliche hatte , fand sich bald in allem wieder zurecht , als sie durch die Wirtschaftsräume geführt wurden und sowohl der Graf wie die Gräfin ihnen mit Eifer alle neuen Einrichtungen und Verbesserungen zeigten .
Über Léontine kam es dabei allerdings doch manchmal wie Trotz .
" Alles soll jetzt besser sein , " sagte sie zu Franzi .
" Alles Frühere machen sie schlecht , als ob bei uns nichts getaugt hätte ! "
Franzi hatte es dann nicht leicht mit dem Erklären und Verteidigen , obwohl sie selbst nach Möglichkeit versuchte , all dem Neuen , das auch ihr oft wehmütige Gefühle weckte , gerecht zu werden .
" Schade , daß Sie Künstlerin werden wollen , Fräulein Franzi , " sagte einmal der Graf .
" Sie haben so gute praktische Fähigkeiten . "
" Die schaden aber keinem einzigen weiblichen Wesen , " fiel die Gräfin ein , " die wird Fräulein Franzi auch als Künstlerin brauchen können . "
" Begleiten Sie mich noch ein wenig ins Feld , " bat der Graf .
" Ich möchte noch allerlei mit Ihnen besprechen , wobei wir Tini nicht brauchen können . "
Franzi ging bereitwillig mit , und der Graf fuhr fort :
" Ich werde nämlich mit meiner kleinen Cousine nicht fertig !
Sie müssen mir helfen .
In ihrem Köpfchen herrscht ein so krauses Gewirr von halb verstandenen Begriffen und Gefühlen , daß ich mit meinen ersten praktischen Besprechungen damals in Berlin geradezu Unheil angerichtet habe !
Das Kind glaubte , mich hassen zu müssen , und nur Ihrem verständigen Zureden ist es zu danken , daß es sich für den Augenblick bekehrte .
Aber so wie ich wieder von dergleichen anfange , Anspielungen auf ihre Zukunft , auf eine nutzbringende Tätigkeit mache , sieht es mich feindselig an und will nichts hören .
Und dabei sind solche Erwägungen durchaus nötig .
Léontine ist nicht wohlhabend - ihre Tanten sind alt und haben auch nähere Erben - sie sollte den Gedanken nicht von der Hand weisen , sich auf irgend eine Weise die Möglichkeit späterer Unabhängigkeit zu sicheren , völlig abgesehen davon , daß doch in heutiger Zeit kein Mädchen mehr gern ihr Leben verspielt und vertändelt . "
" Gewiß , Herr Graf , " siel Franzi jetzt bescheiden ein .
" Es ist nur - wenn ich es sagen darf - zur Lehrerin oder Erzieherin eignet sich Tini gar nicht ! "
" Das habe ich auch schon gedacht .
Sie lernt also wirklich schwer ? "
" Ja .
Schon damals in Wehrburg hatte unsere vortreffliche Erzieherin , Fräulein Elsner , einen sehr schweren Stand .
Ich habe jegliches mit Tini lernen müssen .
Auch in Berlin habe ich es noch getan , so oft ich konnte , was mir selbst sehr zu gute kam , da ich so teure Privatstunden nicht hätte bezahlen können . "
Der Graf sah nachdenklich aus .
" Und Talente hat sie auch nicht ? "
" Nein - aber wenn sie auch gewisse Gegenstände schwer auffaßt , Verstand hat sie doch , Herr Graf , sogar Witz !
Sie kann sehr drollig und unterhaltend sein , wenn sie sich glücklich fühlt .
Sie werden es schon noch erleben . "
" Und wie ist_es mit dem Praktischen ?
Gewiß auch nicht weit her ? "
" Sie hat eigentlich geschickte Hände , nur - " Franzi zögerte .
" Nur ? " drängte der Graf .
" Sprechen Sie es aus . "
" Nur sah sie jede häusliche , wirtschaftliche Beschäftigung bisher für etwas Untergeordnetes an , für etwas , das einer Gräfin Wehrburg nicht zukäme . "
Der Graf lachte kurz auf .
" Dummes Mädel !
Da soll sie hier anderen Sinnes werden . "
" Ja , ich glaube auch , " fiel Franzi lebhaft ein .
" Besser als durch die Frau Gräfin kann sie nie davon überzeugt werden , daß einer wahrhaft vornehmen Dame auch häusliche Tätigkeit schön ansteht . "
" Will es meinen !
Und diese Frau , liebes Fräulein , habe ich von einem Hofball weggeheiratet !
Die Hoffestlichkeiten aber , die es jetzt für sie gibt , bestehen nicht in Spiel und Tanz ; das sind Schlacht- , Wasch- und Backfeste , wenn es hoch kommt : das Erntefest ! "
Der Graf lachte behaglich und fuhr fort : " Deshalb sind wir aber doch keine Bauern , wie meine Cousine zuerst glaubte .
Wir sind den schönen und verfeinerten Seiten des Lebens auch nicht abhold ; aber sie müssen für uns in zweiter Linie stehen .
Sie sehen mich fragend an ?
Sie denken , ich sei doch jetzt der glückliche Majoratsherr von Wehrburg !
Ja - jetzt !
Aber ich habe schwere Jahre hinter mir , auf einem dürftigen Gütchen .
Und - glauben Sie nicht , daß Wehrburg ein so herrlicher , schattenloser Besitz ist !
Sie sehen nur das Schöne , die unvergleichlich hübsche Lage , das Altehrwürdige des Schlosses , Wald und Wiesen ; ich aber sehe hinter dem allen viel alt und morsch Gewordenes , ja Vernachlässigtes und Entwertetes .
Ich sage nichts gegen meinen verstorbenen Vetter , Tinis Vater ; er war ein prachtvoller Charakter , aber - Landwirt niemals !
Mehr Jäger und Kavalier und , wie gesagt , ein trefflicher , liebenswerter Mensch .
Aber - "
" Darüber haben Sie gewiß mit den Tanten in Berlin gesprochen , " flocht Franzi bescheiden ein , " und das hat Tini so falsch verstanden und sich darüber erregt . "
" Allerdings ; aber es tut mir leid , und darum gerade habe ich diese Unterredung mit Ihnen gesucht , um Sie zu bitten , das ungestüme Kind einmal geduldig aufzuklären .
Sie hält mich ja wirklich für eine Art Räuber - "
" O nein , nein , Herr Graf ! "
" Dann doch so was ähnliches , und denkt im stillen :
Wenn der Onkel so herrlich auf der Wehrburg sitzt , soll ich mich plagen und mein Brot verdienen lernen ?
Vielleicht denken auch Sie , Fräulein Franzi , ich könnte mehr für das Kind tun ; aber , bitte , hören Sie mich an .
Ich bin als Majoratsherr verpflichtet , jährlich eine Summe an Léontine zu zahlen ; nur steht diese Summe nicht fest , sondern richtet sich nach den Einkünften , die das Gut abwirft .
Nun können Sie sich denken , daß , da ich das Gut in einem schlechten Zustand übernahm , fortwährend hineinstecken , bauen und verbessern muß , diese Einkünfte nicht groß sind , der Bruchteil , der auf Léontine fällt , aber so verschwindend klein ist , daß ich mich scheute , ihn auszuzahlen , und jedes Jahr aus meiner Tasche ein Beträchtliches zugelegt habe ! "
" O Herr Graf , und das ahnt Tini gar nicht ! "
" Natürlich nicht , wie sollte sie ?
Es ist auch gar nicht meine Absicht gewesen , daß sie es erfährt .
Nur - wo ich jetzt merke , was für verworrene Begriffe sie noch hat , was für hochmütige Standesvorurteile in dem Kindskopf sitzen , da möchte ich doch ein wenig Ordnung schaffen , ein wenig Klarheit und Einsicht in ihre Vorstellungen vom Leben bringen . "
Der Graf hatte jetzt wieder das strenge Gesicht , das Franzi zuerst an ihm gesehen und ein wenig gefürchtet hatte , aber nun ließ sie sich nicht mehr einschüchtern .
Sie empfand das Ehrenvolle , das für sie darin lag , daß der Graf so ernst und offen mit ihr redete , und sie nahm sich fest vor , nach Kräften auf Léontine einzuwirken .
Gelegenheit dazu fand sich noch am selben Tage .
Während Franzi mit dem Grafen über Feld gegangen war , hatte Léontine mit den beiden ältesten Vettern einen Ritt gemacht , in heller Freude erkennend , daß sie noch sicher im Sattel saß .
Nun war sie in bester , glücklichster Stimmung und schwärmte ihrer Freundin vor , ein Edelfräulein auf dem Lande zu sein , sei doch das beneidenswerteste Los .
Da nahm es Franzi wahr , auch ihrerseits allerlei Betrachtungen an diesen Stand zu knüpfen und all das vom Grafen heute Gehörte der Freundin so sanft und schonend wie möglich beizubringen .
Léontine wollte zuerst nicht recht zuhören ; sie witterte wieder " Geschäftliches " , das sie haßte , schalt Franzi eine Pedantin und trieb Possen .
Als sie aber allmählich begriff , wo es hinaus sollte , als ihr klar wurde , was sie ahnungslos seit drei Jahren von ihrem Onkel angenommen hatte , wurde sie flammendrot und geriet wieder in die größte Aufregung , so daß Franzi tiefstes Mitleid empfand mit dieser Haltlosigkeit ihrer Freundin und alle Beredsamkeit aufwandte , sie zu überzeugen , daß durch solche Aufklärungen niemand sie kränken und ihr wehtun wolle , daß ihre Verwandten es so herzlich mit ihr meinten und sie nie verlassen würden .
" Aber Almosen nehmen ?
Wie furchtbar ! " brauste Léontine noch einmal auf .
Doch Franzi sagte leise : " Ach , Tini , denke , wieviel ich von gütigen Menschen annehmen muß , ehe ich zur Selbständigkeit gelange ! "
" Du kannst das auch , du bist keine Gräfin Wehrburg ! "
Da wurde Franzi flammendrot und rief : " Nein , ich bin eine Gärtnerstochter , aber ich habe auch meine Selbstachtung !
Und das kann ich dir sagen :
Keinen Augenblick länger werde ich Unterstützungen annehmen , als dringend nötig ist , das nun einmal angefangene Werk meiner Ausbildung zu vollenden !
Ich sehne mich danach , auf eigenen Füßen zu stehen , aber - "
Sie brach vor Bewegung ab , Léontine ergriff erschrocken ihre leidenschaftlich erhobenen Hände und bat : " Franzi , Franzi , so bös habe ich es ja nicht gemeint , sei doch wieder gut ! "
Aber Franzi war wirklich zornig geworden und rief : " Du tust einem geradezu weh mit deinem kindischen Gerede , mit deinem Nichtverstehenwollen !
Da solltest du meine Ursel bei solchen Anlässen sehen !
Wie die klug und zart und taktvoll ist ! "
Das war das schlimmste , was sie sagen konnte , und es tat ihr gleich hinterher leid , wie sie sah , daß Léontine blaß wurde und mit zitternder Stimme sagte : " Ursel !
Immer wieder Ursel !
Und ich dachte , hier in der alten Heimat , in diesen schönen Tagen , da würdest du sie einmal vergessen und nur zu deiner Tini halten ! "
Das rührte nun wieder Franzi ; sie fühlte sofort ihren Zorn verfliegen , umfaßte Léontine und sagte fest und ruhig : " Vergessen werde ich Ursel nie und nirgends , und das kannst du auch gar nicht wünschen !
Vergäße ich sie , könnte ich ebensogut eines Tages auch dir nicht mehr treu bleiben .
Ich habe euch beide lieb !
Ihr seid beide meine Freundinnen und ich wollte , ihr wäret miteinander bekannt ; dann wäre gewiß Friede und keine Eifersucht mehr zwischen euch ! "
Sie sprachen noch lange ernst und innig miteinander , und das Ergebnis war , daß Léontine an diesem Abend sehr still und gedrückt war , am nächsten Tage aber ihr Gleichgewicht wiederfand und sich nun so liebenswürdig zeigte , wie die Verwandten sie noch gar nicht gesehen hatten .
" Zuerst bedauerte ich immer , " sagte die Gräfin zu ihrem Mann , " daß nicht die kleine Trautmann unsere Verwandte ist .
Die hätte ich mir mit Vergnügen als Haustöchterchen herangezogen , während ich deinen Wünschen in Bezug auf Léontine gar nicht recht zustimmen konnte . "
" Aber jetzt willst du es versuchen ? " fragte der Graf herzlich .
" Ja , jetzt reizt mich die Aufgabe , dies eigentümliche , widerspruchsvolle Wesen noch etwas zu beeinflussen .
Wir wollen sie hier behalten , Otto ! "
" Das wäre mir das Liebste !
Wir erfüllen damit eine Pflicht , die uns zwar kein Gesetz vorschreibt , die mir aber unabweisbar aus unserer ihr gegenüber bevorzugten Lage hervorzugehen scheint .
Was wir zu geben haben an Liebe und Familienanhalt , das wollen wir geben ; das macht uns nicht ärmer . "
" Ja , " stimmte die Gräfin bei , " aber Prinzeßchen darf sie nicht spielen , arbeiten muß sie lernen ! "
" Und sie wird es , verlaß dich drauf .
Wer könnte deinem Beispiel widerstehen ? "
Es gab für Franzi in der alten Heimat nicht nur ernste Stimmungen , wie sie durch diese Unterredungen hervorgerufen wurden , wie auch durch die Besuche auf dem Kirchhof und im weißen Parkhäuschen , das einst ihren Eltern gehörte , - sie hatte auch sehr frohe Eindrücke .
Wenn sie durchs Dorf ging und merkte , wie alle Leute sie kannten , sie freundlich grüßten oder auch anredeten , tat es ihr wohl , und die Interessen dieser Dorfleute , die so weitab lagen von ihrem jetzigen Lebens- und Ideenkreise , fanden schnell wieder Eingang in ihrem beweglichen Geist und warmen Herzen .
Und die Besuche im Schulhause !
Mit welch unbeschreiblichem Behagen saß sie in dem altmodischen Wohnzimmer bei dem nun recht alt gewordenen Paar , das , von allen eigenen Kindern schon verlassen , sich sonnte in dem Wesen dieses jungen Gastes .
" Also eine Künstlerin soll aus dir werden ! " sagte der alte Herr , dem unter dem schlohweißen Haar die Augen noch immer in reinem Feuer strahlten .
" Ei , ei !
Nun , unser Herr hat mancherlei Gaben zu verschenken , und die Musik ist wohl etwas Schönes und Liebliches .
Auch in der Bibel steht : Singet und spielet dem Herrn in Eurem Herzen !
So gib uns auch einmal ein Pröbchen , Kind , untersuche das alte Klavier , ob es noch stimmt , und laß uns ein Lied hören ! "
Franzi tat es , und andächtig hörten die Alten zu .
Die kleine Frau Lehrer sah still und verklärt drein , ihr Mann aber rief in seiner frohen Begeisterung :
" Der Tausend , das heiße ich gesungen !
Du bist ja fast eine der kleinen Sirenen , vor denen der göttliche Dulder Odysseus sich die Ohren verstopfen mußte , als er zufällig vorüberkam ! "
Franzi lachte , und der alte Herr fuhr fort :
" Nun denkst du gewiß , dein alter Lehrer brauchte auch nicht solche heidnischen Vergleiche zu ziehen !
Ich will also lieber sagen : Dein Lied tat wohl , wie Davids Gesang dem König Saul getan haben mag . "
" Auch das stimmt nicht völlig , mit Respekt zu sagen , " rief Franzi heiter .
" Denn Sie , lieber Herr Lehrer , sind kein finsterer König Saul , sondern haben noch immer so viel Licht in den Augen , wie mancher Junge nicht . "
Der alte Herr nickte bedächtig .
" Vor Finsternis hat mich der Herr bewahrt , ja , aber still , mein Kind , wird man doch mit der Zeit , wenn nichts Junges mehr um einen herum ist .
Nun singe nochmal , das erquickt ! "
- Als Franzi das zweite Lied beendet hatte , klopfte es bescheiden an der Tür , und auf das " Herein " des Lehrers trat sein junger Nachfolger , der zugleich Organist war , ein .
" Ah , da haben wir schon einen , der nicht vorüber konnte , wo die Sirenen sangen ! " rief der alte Herr munter .
" Nicht wahr , mein lieber Pelzer , Sie haben gehorcht ? "
" Ja , " gestand dieser freimütig und fügte dann zu Franzi gewandt hinzu :
" Solchen Gesang pflegt man in dem Dorf selten zu hören ! "
" Und noch dazu von einem Wehrburger Kind ! " rief der alte Herr und weihte den anderen , der erst seit kurzem hier angestellt war , mit wenigen Worten in die Verhältnisse ein .
" Haben Sie nicht Lust , einmal hier in der Kirche zu singen , mein Fräulein ? " fragte jetzt Herr Pelzer sehr interessiert .
" Ich würde es mir zur Ehre rechnen , Sie auf der Orgel zu begleiten . "
" Ei , das ist ein gescheiter Einfall ! " rief der alte Herr lebendig , und auch Franzi meinte : " Ja , das würde ich für mein Leben gern einmal versuchen ! "
" Top , Kinder , das muß gemacht werden !
Singe uns doch beim Osterfest nach der Predigt ein schönes Lied , Franzi . "
" Ich habe die » Erlöserarie « aus dem Messias geübt , " sagte Franzi eifrig .
" Vielleicht probieren wir die einmal , Herr Pelzer ?
Ich schicke Ihnen nachher gleich die Noten . "
Der junge Organist war voll Eifer dabei , und alles wurde verabredet .
Noch am selben Nachmittag fand die erste Probe in der Kirche statt , und Franzi empfand ein wunderbares Entzücken , musikalisch und seelisch gleichermaßen , wie in der lieben wohlvertrauten Kirche ihre eigenen Töne schwollen und wuchsen , bis die ganze Luft Musik zu sein schien !
Am Ostertag war die Kirche gedrängt voll wie immer zu Festzeiten .
Alle Herrschaftsstühle der eingepfarrten Nachbarn waren besetzt , und von den Dorfbewohnern so viele gekommen , wie die Bänke faßten .
Franzis erstes Publikum !
In frommer Ergriffenheit stand sie oben , nachdem die schlichte warme Rede des Predigers verklungen ; mit gefalteten Händen wartete sie auf das Vorspiel , dann setzte sie sicher ein .
" Ich weiß , daß mein Erlöser lebet ! " klang es vom Chor herab , voll von freudiger Gewißheit , und die ahnungslose , überraschte Gemeinde horchte - horchte , wie auf eine Himmelsstimme .
Als dann das Gotteshaus sich leerte , gab es ein Flüstern und Fragen , ein Zögern und Warten auf dem Kirchhof - alle wollten gern die junge Sängerin sehen und sprechen .
Franzi aber hatte sich heimlich davon gemacht , durch die kleine Tür , die von der Treppe des Orgelchors direkt ins Freie führte .
Sie scheute sich nun doch plötzlich vor den vielen Menschen ; still für sich wollte sie diese Stunde ausklingen lassen .
Wie wunderbar das alles war !
Gerade hier in der alten Heimat hatte sie zum ersten Male vor einer größeren Versammlung gesungen , gerade hier fühlte sie in Glück und Dank , daß sie das früh gehegte Ideal , einst eine Künstlerin zu werden , vielleicht erreichen würde .
Vielleicht ?
Nein , sie hoffte jetzt : Gewiß !
Léontine war außer sich über diese Leistung ihrer Freundin , aber auch stolz über alle urteilenden Bemerkungen , die sie von den bekannten Nachbarn gehört hatte , und unterhielt Franzi so lange damit , bis diese sich die Ohren zuhielt .
Ja , sie überwand sich sogar so weit , daß sie unter einen Brief Franzis an Ursel eine Nachschrift setzte :
" Unsere Franzi hat gesungen wie ein Engel ! "
Franzi hatte natürlich an ihre Lieben in Wendenburg ausführlich Briefe geschrieben über ihr Ergehen in der alten Heimat , und sie wunderte sich recht , daß sie so spärlich Antwort bekam .
Von Ursel nur eine herzliche Karte , von der Mutter kein Wort .
Sollte es dieser allzu wehmütig sein , ihre Tochter in Wehrburg zu wissen und nicht selbst dahin reisen zu können ?
Aber das sah dieser Mutter gar nicht ähnlich .
Als am Donnerstag nach Ostern noch immer keine Nachricht eintraf , wurde Franzi so unruhig , daß sie ihre gütigen Gastfreunde bat , sie jetzt schon reisen zu lassen , damit sie die letzten zwei Ferientage noch zu einem Besuch in Wendenburg benutzen könnte .
Hatte sie schon vorher sich gesehnt , der Mutter mündlich von allem zu erzählen , so meinte sie jetzt , als alles so still blieb , gar nicht anders nach Berlin zurückkehren zu können , als wenn sie vorher die Mutter gesehen hätte .
Graf Wehrburg und die Seinen fanden das begreiflich und legten ihr nichts in den Weg , Léontine erschrak zwar zuerst , war aber dann doch so erfüllt von dem Bewußtsein , daß sie in Wehrburg bleiben durfte , daß sie sich leichter von Franzi trennte , als sie es selbst für möglich gehalten hatte .
" Du kommst ja wieder ! " sagte sie in ihrer bestimmten Art .
" Du mußt mich oft besuchen . "
Die Gräfin sagte Franzi zum Abschied viel Liebes , und der Graf meinte als Letztes :
" Vergessen Sie nie , daß Leontinens Heimat auch Ihnen immer offen stehen wird . "
Dankbar und in tiefem Sinnen fuhr Franzi von dannen .
Wie schön , daß sie diese Zeit gehabt , daß sie alles einmal wiedergesehen hatte , woran sie oft in Sehnsucht dachte .
Wie gut auch , daß sie sich angesichts gerade dieser Eindrücke über so vieles klar geworden war !
Heimweh würde sie nie mehr haben !
Ihre Heimat war Wehrburg nicht mehr .
Léontine gehörte hierher - , sie nicht .
Immer würde sie die Erinnerungen an die Kindheit heilig halten , aber - ihre Liebe durfte nicht stehen bleiben bei einer Zeit , die unwiederbringlich dahin war !
Ihre Welt lag jetzt wo anders .
30. Kapitel .
Zwischen zwei Pflichten Als Franzi in Wendenburg ankam , beschlich sie wieder das bängliche Gefühl , das die letzten sinnenden Betrachtungen etwas unterdrückt hatten .
Wie würde sie es finden in der Schloßgärtnerei ?
Als sie leise die Haustür aufklinkte , fiel ihr auf , daß die Glocke nicht anschlug .
Trotzdem war Herr Bauer sofort auf der Flur und begrüßte sie halb verlegen , halb mit einem Ausdruck von Erleichterung .
" Na , das ist wirklich gut , Fräul'n Franzi , daß Sie da sind !
Mir war es schon immer nicht ganz recht , daß wir Ihnen das nicht eher schrieben ! "
" Was - schrieben ? " fragte Franzi angstvoll .
" Nun , jetzt müssen Sie es doch schon wissen ; Fräulein Dahland hat ja gestern einen Brief aufgegeben . "
" Den habe ich nicht mehr bekommen !
Ach , Herr Bauer , was ist denn geschehen ? "
" Nun , nur ruhig , das schlimmste ist schon vorbei , aber - Ihre Mutter war recht krank .
st , st , Fräulein , es geht ja jetzt viel besser . "
Aber Franzi lehnte sich an die Wand und weinte leise auf .
" Habe ich das nicht gefürchtet ?
O , wer ist bei ihr ? "
" Fräulein Dahland . "
Da trat Ursel heraus , vorsichtig - horchend - und in stummer Ergriffenheit lagen sich die Freundinnen in den Armen .
Dann faßte sich Ursel und bat : " Sei nicht böse , Herz , daß wir_es dir verschwiegen haben !
Deine Mutter wollte so ungern deine Ferien trüben . "
" Was ist es denn ? " fragte Franzi verstört .
" Starke Influenza , die sich leider auf die Lunge geworfen hatte . "
" Und wirklich keine Gefahr ? "
" Nein , keine unmittelbare , sagt der Arzt ; nur ist äußerste Vorsicht geboten , damit nichts nachbleibt . "
" Kann ich meine Mutter sehen ? "
" Ja , sie ist völlig fieberfrei und spricht seit gestern mit großer Sehnsucht von dir ; gestern durfte ich dir auch schreiben . "
" Und meine unruhige Ahnung hat mich schon vor dem Brief fortgetrieben !
Ursel , ich konnte euer Schweigen nicht verstehen ! "
" Armes Herz , ich glaube es wohl ; mir ist es auch schwer genug geworden . "
Sie traten jetzt in das Krankenzimmer .
Herr Bauer hatte Frau Trautmann in einer merkwürdig zarten Weise , die man ihm kaum zugetraut hätte , auf die Freude vorbereitet .
So lag sie matt , aber mit glücklichem Ausdruck in den Kissen , als Franzi sich über sie beugte und " Mutterchen , Mutterchen ! " schluchzte .
Sie konnte nichts weiter hervorbringen in dem Gefühl nachträglicher schrecklicher Angst , daß , während sie in Wehrburg das Grab des Vaters besuchte , sich hier ein zweites Grab hätte öffnen können !
Ursel zupfte die Freundin mahnend am Arm , und diese faßte sich gewaltsam .
" Es geht dir also wirklich besser , liebe Mutterchen ? " fragte sie zaghaft , und die Mutter versicherte :
" Gottlob , viel besser , mein Kind .
Ursel und der gute Herr Bauer haben liebevoll für mich gesorgt .
Es wird mir bei ihrer guten Pflege gar nicht schwer , noch ein wenig liegen zu bleiben , wie der Arzt es will . "
" Aber jetzt bleibe ich bei dir !
Nach Berlin reise ich selbstverständlich nicht ! " rief Franzi in einer Regung von Eifersucht .
Aber die Mutter meinte :
" Davon wollen wir heute noch nicht sprechen .
Heute sollst du mir von Wehrburg erzählen , ich habe mich ja so darauf gefreut .
Wie sieht Vaters Grab aus ?
Wie unser Häuschen ? "
Und Franzi erzählte .
Vorsichtig und nicht zu lebhaft , während die Mutter still zuhörte , bis Ursel mit der Uhr in der Hand herzutrat und bat : " Soll es für heute nicht genug sein , liebe Frau Trautmann ?
Es ist nach fünf Uhr .
Gegen sechs kommt nämlich manchmal das Fieber wieder , " erklärte sie Franzi , " und das müssen wir doch verhüten . "
" Du sprichst ja wie ein kleiner Doktor , " sagte Franzi wehmütig , sah zu , wie Ursel ihrer Mutter Medizin gab , und folgte ihr dann Gehorsam ins Nebenzimmer .
" Setzt euch so , daß ich euch sehen kann , " bat Frau Trautmann , " hören will ich auch gar nichts mehr . "
Sie lag nun völlig zufrieden da , und trotz der eben erfahrenen großen Anregung schlief sie schneller ein , als Ursel erwartet hatte .
Nun schlossen die beiden Mädchen leise die Tür und vertieften sich in die ernsthaftesten Gespräche .
Franzi wollte von der Rückreise nach Berlin vorläufig nichts wissen , sie behauptete , ihre Pflicht läge jetzt hier .
" Wie aber , wenn du zwischen zwei Pflichten gestellt wärest , liebste Franzi ? "
gab Ursel zu bedenken .
" Ach , meine Musik muß jetzt in zweiter Reihe stehen ! "
" Ich weiß das nicht gewiß , Franzi .
Deine liebe Mutter wird - erschrick nur nicht - noch mehrere Wochen ruhe- und pflegebedürftig bleiben ; wolltest du so lange deine Studien unterbrechen , würde dich das nicht zu sehr zurückbringen ? "
" Aber mein Platz ist doch bei meiner kranken Mutter ! "
" Wenn sie noch in Gefahr wäre , oder völlig verlassen , gewiß !
Aber sie ist nicht in Gefahr , und - daß ich sie nicht verlassen werde , das glaubst du doch ? "
" Ja , ja , Fräul'n Franzi , " mischte sich auch Herr Bauer ein , " da können Sie ganz ruhig sein .
Fräulein Dahland ist wie ' ne gelernte Krankenpflegerin , na , und ich , ich tu auch mein Teil mit Besorgen und Aufwarten , - und was meine Marie ist , die ist jetzt auch schon groß genug , die bleibt nun aus der Schule und kann tüchtig im Hause mit anfassen .
Frau Trautmann hat sie ja gut angehalten , nun soll sie in den nächsten Wochen bloß vom Bett aus ein wenig regieren . "
Das war eine lange Rede von Herrn Bauer , und Franzi sah auch alles ein , aber dennoch !
Es wollte ihr unerhört erscheinen , daß sie abreisen , ihren eigenen Interessen leben und die Pflege der Mutter anderen überlassen sollte .
Stand sie wirklich zwischen zwei Pflichten , wie Ursel meinte ?
Es schien so .
Besonders , wenn sie sich sagte , daß sie auf Kosten anderer ihren Studien oblag , dann war sie eben diesen anderen Rechenschaft schuldig , wie sie ihre Zeit anwandte .
Nun hatte sie schon im Februar eine unfreiwillige Pause machen müssen , durfte sie jetzt abermals eine Versäumnis eintreten lassen , zumal es sich hier noch um mehrere Wochen handelte ?
" Die Kunst ist eine strenge Herrin , " hatte schon Fräulein Elsner gesagt , und auch Frau Gerstenberg fügte dem hinzu : " sie fordert den ganzen Menschen . "
Das hatte Franzi nie so schwer empfunden wie jetzt .
Aber schließlich gab sie nach und suchte aus den wenigen Tagen , die ihr noch blieben , das Beste zu machen .
So viel die Mutter es vertragen konnte , ergingen sie sich in leisen Gesprächen über Vergangenheit und Zukunft , und als Franzi von ihrem Singen in der Wehrburger Kirche erzählte , bat die Mutter :
" Singe auch uns noch ein Lied , ehe du abreisest ; ich kann es wirklich vertragen . "
Franzi sang den Pilgerspruch von Mendelssohn :
Laß dich nur nichts nicht dauern Mit Trauern , Sei stille !
Wie Gott es fügt , So sei vergnügt , Mein Wille !
Was willst du viel dich sorgen Auf morgen ?
Der Eine , Der Allem für , Der gibt auch dir Das Deine .
Sei nur in allem Handel Ohne ' Wandel , Stehe feste !
Was Gott beschleust , Das ist und heißt Das Beste !
" Das ist schön , das ist wahr ! " sagte die Mutter , " das singe nicht nur , mein Kind , danach lebe ! "
Als Franzi sich dann zur Abreise entschließen mußte , sagte Herr Bauer recht treuherzig :
" Nun lassen Sie sich nichts nicht dauern , Fräulein Franzi - stehen Sie feste ! "
Da lächelte sie durch Tränen über diese Variation ihres Liedes und riß sich los .
Der Anfang in Berlin wurde ihr aber schwer wie nie !
Alle meinten , sie sähe zwar wohl aus , wie nach Landluft , aber gar zu ernst !
Ihr erster Besuch galt den Gräfinnen Steineck , denen sie ja ausführlich von Leontinens Ergehen , von der so außerordentlich erfreulichen Gestaltung ihres Lebens erzählen mußte , und dann - nahm die Musik sie wieder hin .
Ursel schrieb treulich fast jeden Tag eine Karte über Frau Trautmanns Befinden , so daß Franzis Herz allmählich wieder leichter wurde und Frau Professor Gerstenberg zufriedener dreinschaute bei ihren Leistungen .
Mit dem Herbst dieses Jahres ging Franzis drittes Studienjahr zu Ende .
Ehe es so weit war , schrieb sie an die edle Fürstin ihren Dank für alle gewährte reiche Güte und gelobte nochmals , sich immer dessen würdig zu erweisen .
Franzi wußte , daß ihr damals nur drei Jahre bewilligt worden waren , nun fühlte sie sich zwar durchaus noch nicht fertig , aber sie konnte doch nicht ohne weiteres annehmen , daß noch ferner für sie gesorgt würde .
So schrieb sie den Brief etwas schweren Herzens , nicht wissend , wie es nun weiter gehen sollte .
Aber geschrieben mußte er werden , das stand fest , und eine Art Rechenschaftsablage war sie der edlen Frau schuldig .
In kurzer Zeit schon kam ein Schreiben der Fürstin zurück , in dem sie mit Güte und regem Interesse auf alle Mitteilungen ihres Schützlings einging und - ihr noch für ein weiteres Jahr Unterstützung gewährte .
Allerdings nur bedingte !
Es waren inzwischen schon so viele neue Anforderungen an die Privatschatulle der hohen Frau gestellt worden , daß sie sich selber eine gewisse Beschränkung auferlegen mußte .
Nach wie vor aber wollte sie den noch notwendigen Unterricht bezahlen , wenn Franzi nur für ihr Leben in Berlin auf andere Weise sorgen könnte .
Das hieß nun schon viel gewonnen !
Franzi atmete beglückt auf und machte allerlei Pläne .
Frau Gerstenberg hatte versprochen , ihr zum Winter Klavierschülerinnen zu verschaffen , andere als Lieschen Braun oder Willem Lehmus !
Eine Mark fünfzig Pfennig bis zwei Mark sollte sie für die Stunde nehmen , und da sie selber einen gewissen Teil der Konservatoriumsstunden jetzt aufgeben durfte , wie Theorie , Musikgeschichte , Chorstunde , und nur der Pflege des Sologesangs leben sollte , konnte sie sich wohl einige Lektionen an Kinder auferlegen , ohne sich zu ermüden .
Also etwas Verdienst stand in Aussicht , aber die Kosten für ihre Pension , obwohl diese zu den einfachen gehörte , konnte sie jetzt nicht mehr erschwingen .
In diese Grübeleien hinein fiel eines Tages ein Brief von Fräulein Elsner , die noch immer als Erzieherin in vornehmen Häusern wirkte , nun aber sich danach sehnte , ein eigenes kleines Heim zu gründen .
Sie wollte nach Berlin ziehen , eine kleine Wohnung nehmen und versuchen , eine oder zwei Pensionärinnen zu erhalten , um sich ein wenig besser einrichten zu können .
Und nun kam der Vorschlag , ob Franzi ihre erste Pensionärin sein wolle ?
Es sollte kein bestimmter Pensionspreis vereinbart werden ; sie wollten alles recht praktisch einrichten und versuchen , wie weit sie kämen .
Franzi sei doch immer ihr Liebling gewesen und sie glaubte , daß sie sich gegenseitig mit solchem Zusammenleben etwas Gutes tun würden .
Wer war froher als Franzi !
" Was willst du viel dich sorgen ? " sang sie inbrünstig , und dann schrieb sie an Fräulein Elsner ihre Zustimmung .
In der Nähe des Botanischen Gartens wurde in einem vierten Stock eine kleine Wohnung gemietet , die zwar sehr bescheiden war , den beiden so verschiedenaltrigen Freundinnen aber , von denen die eine das Leben in der Fremde hinter sich hatte , die andere die Welt noch vor sich , ein kleines Heimatsparadies dünkte .
Fräulein Elsner hatte hübsche ererbte Sachen , die die Zimmer sehr gemütlich machten ; sie besaß auch ein kleines erspartes Kapital , mit dem sie klug umzugehen verstand ; Franzi verdiente durch Stundengeben im Monat dreißig bis vierzig Mark : so ging es vorläufig recht gut , und Franzis Briefe nach Hause handelten augenblicklich mehr von ihrem " Haushalt " als von ihrem Studium .
Frau Trautmann war diese neue Einrichtung sehr nach dem Herzen .
Sie hatte immer leise gefürchtet , Franzi möchte durch das beständige Pensionsleben gar zu verwöhnt werden und keine häusliche Beschäftigung mehr vornehmen wollen .
So antwortete sie immer sehr heiter und eingehend auf Franzis kleine " Haushaltsberichte " .
Sie hatte sich nun von der schweren Influenza völlig erholt und wirkte nach wie vor in Herrn Bauers Haushalt .
Auch von Léontine kamen frohe Briefe zu Franzi geflogen , mit mancher drolligen Schilderung von ihrem neuen Leben in Wehrburg .
" Ich arbeite wie eine Magd , " schrieb sie einmal , " meine Hände sehen danach aus !
Du glaubst nicht , was ich alles schon kann !
In Gesellschaft benehme ich mich aber desto königlicher , und Du würdest Respekt vor mir haben .
Ja , ja , das muß man alles verbinden können !
( Schüttest Du Dich nicht aus vor Lachen , Franzi ? ) Bald habe ich nun auch ausgelernt , dann kann ich eine Stelle als Stütze annehmen .
Was meinst Du dazu ? "
Ein andermal hieß es :
" Ich weiß jetzt auch schon , was » Zinsen « sind , und ich lerne ein Haushaltungsbuch führen .
Es ist zum Staunen !
Stimmt Deins immer ?
Aber weißt Du , am meisten interessiere ich mich doch für die Außenwirtschaft , und Onkel meint , ich habe einen recht guten Verstand dazu .
Er nennt mich manchmal im Spaß seinen kleinen Inspektor , das mag ich sehr gern !
Mit Vetter Harro vertrage ich mich auch sehr gut , am besten , wenn wir über Pferde sprechen !
Onkel hat mir ein junges Fohlen geschenkt , dem widme ich nun all meine Erziehungskünste .
" Ja , das wäre eine Freude für meine alten Tage .
Da könnte ich mich mit Wilhelm Trautmann nochmal am Homer begeistern . "
" Den kleinen Vettern gegenüber versagen diese aber völlig ; unter uns gesagt , es gibt manchmal eine kleine Prügelei .
Ich glaube aber , auch Herr Hansen ist kein großartiger Erzieher ; es wird Zeit , daß ein neuer kommt .
Was meinst Du zu Deinem Bruder Wilhelm ?
Wenn ich ihm meine hohe Protektion angedeihen ließe , könnte er die Stelle vielleicht erhalten .
Ich hoffe , er wird mir dann aber auch Ehre machen und mich mit ausgesuchtem Respekt behandeln .
Übrigens bin ich auf diesen glorreichen Gedanken nicht von selbst verfallen .
Unser alter Herr Lehrer war es , der neulich so sehnsüchtig sagte :
» Den Wilhelm , den guten , prächtigen Wilhelm Trautmann möchte ich doch gar zu gern noch einmal sehen , ehe ich die alten Augen schließe ! «
Dabei sieht er aber noch immer gerade so munter aus den Augen wie sonst ; alte Leute haben es ja aber so an sich , daß sie bei jeder Gelegenheit vom Sterben sprechen .
Jetzt schüttelst Du den Kopf über mich , weise Franzi !
Nun , die letzte Bemerkung war vielleicht nicht gerade sehr nett , aber glaube nicht , daß ich mich gegen den Herrn Lehrer so respektlos benahm .
Im Gegenteil , ich sagte sehr sanft und verständig :
» Es ist eigentlich recht schade , daß Wilhelm Trautmann so weit weg wohnt .
Aber vielleicht könnte er doch hier einen Wirkungskreis finden .
Ich höre , Herr Hansen , unser Hauslehrer , geht nächstens ab ; wie wäre es , wenn wir Wilhelm Trautmann engagierten ? «
" Das nahm der alte Herr mit Begeisterung auf .
» Ja , ja , Tini , das veranstalte doch !
Das wäre noch eine Freude für meine alten Tage .
Da könnten wir uns noch einmal zusammen am Homer begeistern und ich könnte sehen , ob die Flamme in dem Jungen so stetig fortgebrannt hat , wie ich hoffe . «
Nun , siehst Du , Franzi , ich eigene mich sogar noch zur Stellenvermittlerin !
Ja , ja , Léontine Wehrburg wird noch ein sehr nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft ! "
So ging das fort , immer Scherz und Ernst durcheinander , oft sich selbst verspottend , dann wieder deutlich die Freude am eigenen Vorwärtskommen verratend .
Diese Briefe waren für Franzi eine große Freude .
Sie hatte die krausköpfige , unberechenbare Freundin in Berlin zuerst doch sehr vermißt ; aber je mehr sie sich überzeugte , daß diese jetzt an ihrem richtigen Platz war und sich befriedigt fühlte , je ruhiger wurde sie über die Trennung .
Nun wurde gewiß aus dem Komteßchen doch noch ein tüchtiges und glückliches Menschenkind .
Über die letzte Stelle in Leontines Brief , in Bezug auf Wilhelm , war sie auch froh überrascht .
Das war ja wirklich ein guter Gedanke !
Wenn er zu Ostern mit seinen Studien fertig war , konnte er ja in Wehrburg zuerst sein Heil als Erzieher der kleinen Grafen versuchen ; eine Gymnasiallehrerstellung würde doch vielleicht nicht gleich frei sein für ihn .
Sie wollte es ihm gleich schreiben !
Dann konnte er sich zur rechten Zeit um den Platz bewerben .
So tauchten immer wieder neue Möglichkeiten auf , mit der alten Heimat in Verbindung zu bleiben , so viel Neues und Fremdes auch den Wehrburger Kindern in den Weg treten mochte .
31. Kapitel .
Das Hausgeistchen Während für alle Glieder des jugendlichen Kreises , der sich in glücklicher Zeit in Wendenburg zusammengefunden hatte , das Leben sich noch stetig veränderte , jedem einzelnen neue bedeutsame Aufgaben brachte , schien es für Ursula immer in den gleichen Bahnen sich zu bewegen .
Sie war eine Haustochter .
Nichts weiter !
Aber sie war es im schönsten Sinne des Worts .
Das Elternhaus war ihre Welt , der sie sich mit aller Liebe , allen Kräften widmete .
Durch Inges Heirat war ja ein Platz im Hause leer geworden ; deren Pflichten fielen Ursel von selber zu , aber sie erfand sich selbst noch tausenderlei dazu !
Wenn ihre Freundinnen sie fragten :
" Woher nimmst du nur die Zeit zu allem , was du leistest ? " wußte sie ihnen nicht recht zu antworten ; aber der Grund war , daß sie nicht jeden Tag mehrere Stunden auf Besuche und allerlei überflüssige Gänge verwandte , wie die anderen es so gern taten .
Gewiß machte sie auch Spaziergänge , lief auch Schlittschuh und besuchte Bekannte ; aber es war nicht ein beständiges Hin und Her , jetzt eine Plauderminute , nun wieder eine kleine Besorgung , dann noch etwas Vergessenes nachzuholen .
Ursel hatte etwas Stetiges in ihrem Wesen und das machte sie allen im Hause zur lieben , unentbehrlichen Vertrauensperson .
Elfi und ihre zahlreichen Freundinnen schwärmten für sie , die kleinen Brüder plagten sie tüchtig , konnten aber gar nicht ohne sie fertig werden ; Mama besprach jegliches mit ihr in einer beratenden Weise , und Papa konnte man unzähligemal am Tage rufen hören :
" Wo ist Ursel ? "
Und dann war sie immer gleich da !
Wie ein richtiges Hausgeistchen wußte sie jeden Augenblick , wann man sie brauchte .
Der Landgerichtsrat , der immer auf seine schöne Älteste so stolz gewesen war , sagte jetzt mitunter zu seiner Frau : " Ich glaube , unser bestes Kind haben wir doch behalten ! "
Und Mama dachte dann wohl nach Mutterart : " Ja , werden wir es denn behalten ? "
Es schien so .
Niemand schien es ihnen nehmen zu wollen und auch Ursels Sinnen gehörte noch ungeteilt den Ihren .
Wenn ihre Freundinnen von Bällen und Festen sprachen , bei denen sie sich " himmlisch " und " königlich " vergnügten , konnte Ursel nicht mittun .
Natürlich besuchte sie auch mit ihren Eltern Gesellschaften und hin und wieder einen Ball .
Sie " saß " dann auch nicht , sondern war mitten dazwischen , denn sie tanzte leicht und anmutig und galt für ein " liebes Mädchen " .
Aber sie hatte in Gesellschaft etwas Stilles , Zurückhaltendes , daß man nicht leicht mit ihr in Zug kam .
Jedermann war " nett " zu ihr , und das war ihr genug , nach Auszeichnung und Bewunderung sehnte sie sich nicht .
Zu Hause war es doch allemal am schönsten !
Wie konnte es Mädchen geben , die sich im Hause langweilten , die nicht zufrieden waren , wenn sie nicht wenigstens drei Abende in der Woche " aus " sein konnten ?
Gerade die Abende waren doch so schön !
Dann war der Vater so gemütlich zur Unterhaltung aufgelegt , oder er ließ sich von Ursel vorlesen , was sie besonders gern tat ; dann war es heimlich im Wohnzimmer und es sprach sich so gut von den fernen Lieben !
Zu Hause war Ursel nie mehr " still " zu nennen , da war sie unbefangen und beredt .
Dann hatte sie eine große Korrespondenz zu führen , die riß eigentlich nie ab .
Mama war in Wahrheit nie sehr fürs Schreiben gewesen ; jetzt übertrug sie allmählich alles an Ursel , wenn sie auch mit ihr besprach , was den Geschwistern mitgeteilt werden sollte .
Und Papa , der in letzter Zeit etwas über seine Augen klagte , diktierte ihr sogar öfter geschäftliche Sachen .
Ja , Ursel , obwohl sie keine Talente pflegte , nicht malte , noch Klavier spielte , war immer vollauf beschäftigt .
Die alte Muschebergen in ihrer Geradheit sagte einmal : " Nee , Ursching , was hest du di einmal rutmakt !
Dor möt ich mi doch alle Tag Ewer wunnern .
Du wirst immer so still un sinnig un nicht recht tau Brücken , Ewer nun hest du di hellschen rutmakt !
Du kriegst auch noch 'nen Mann , paß man up , was ich di segg !
Most bloß 'n beten tauen .
Ewer wurde mi nicht auch utländ'sch , as bin Schwester , das segg ich di !
Was hett'n denn dorvon ! "
Über diese lange Rede lachte Ursula herzlich und versicherte Musching , daß sie noch gar keine Lust zum " Frigen " hätte und vor allen Dingen nicht für das " Ausländische " !
Nein , Ursel war kaum zum Reisen zu bewegen .
Einmal hatte sie Inge in Göstaborg besucht und auch Freude daran gehabt ; aber die Eltern brauchten nicht zu fürchten , auch diese Tochter an das fremde Land zu verlieren .
Ursel lebte sich nach dieser Trennung nur umso fester zu Hause ein .
Ihre schönste Zeit des Jahres war und blieb immer die Mittsommerzeit , wenn all die geliebten Ferienkinder einrückten .
Axel kam dann gewöhnlich von einer großen Seereise zurück und hatte immer Neues und Wunderbares zu erzählen .
Wilhelm , jetzt wirklich Hauslehrer in Wehrburg , erschien als regelmäßiger Gast in der Schloßgärtnerei , und Franzi ?
Die kam wie das " Mädchen aus der Fremde " !
Man wußte nie genau , wann und auf wie lange ?
Aber " sie brachte Blumen mit und Früchte " !
Ja , auch Früchte !
Und glücklich sah Ursel ihrer ersten goldenen Ernte zu .
Seitdem Franzi mit Fräulein Elsner zusammengezogen , waren nun zwei Jahre vergangen .
Ihre Ausbildung wurde als abgeschlossen angesehen und alle Erwartungen , die man in Bezug auf sie gehegt , schienen sich glänzend zu erfüllen ; nun durfte sie sich mit ihrem Können in die Welt wagen !
Nun sollte sie auch in der Heimat sich zum ersten Male als Künstlerin zeigen :
Franzi Trautmann war zur Mitwirkung beim großen Landesmusikfest engagiert ! 32. Kapitel .
Musikfest In diesem Jahr begnügten sich die Wendenburger nicht mit dem natürlichen Frühlingsschmuck und dem Chor der Luftsänger !
Sie schmückten ihre Stadt mit Kränzen und grünen Pforten und forderten alles , was singen konnte , zum musikalischen Turnier .
" Zum Kampf der Wagen und Gesänge , Der auf Korinthus ' Landesenge Der Griechen Stämme froh vereint , Zog Ibikus , der Götterfreund . " deklamierte Elfchen Dahland , die inzwischen zum Schiller anschwärmenden Backfischlein herangewachsen war , und als man sie fragte , wen sie sich denn als Ibikus dächte , antwortete sie unverzagt :
" Franzi Trautmann !
Es kann ja auch Mal eine Götterfreundin sein ! "
Papa lachte herzlich hierüber und ließ sich das " zum Kampf der Wagen " insofern als Warnung dienen , daß er seinen bekannten Droschkenkutscher einfach für die ganze Dauer des Musikfestes verpflichtete ; denn Papa war in dem Festkomitee , und das will etwas sagen !
Fünfhundert Sänger sollten untergebracht , Stadt , Bahnhof und Festräume ausgeschmückt , Abendunterhaltungen und Frühkonzerte , Rundfahrten auf dem See und Gänge durch die Sehenswürdigkeiten der Stadt veranstaltet werden , - und dann die eigentliche Hauptsache : die Verhandlungen mit den Künstlern !
Kennt jemand den ergötzlichen Moserschen Schwank " Das Stiftungsfest " ?
So abgehetzt wie die Helden desselben , die verschiedenen Vorstände der Gesangvereine mitsamt ihren Vereinsdienern , war Papa Dahland auch um diese Zeit , und er sagte einmal :
" Dem Himmel sei Dank , Ursel , daß du nicht mitsingst und nicht jede Reunion oder Italienische Nacht mitmachst ; da ist doch ein fester Punkt im Hause , auf den man sich verlassen kann ! "
" Und ich ? " fragte Mama mit lächelndem Staunen , " was bin ich denn ? "
" Ja , du , meine liebe Frau , dir möchte ich alles aus dem Wege räumen , was dich anstrengen könnte ; du siehst ja schon so blaß und zart aus , daß ich es gar nicht mit ansehen kann .
Und ich weiß auch , was dich drückt !
Aber nur Mut , nur Mut ! "
Mama sorgte sich um Axel .
Seit mehreren Monaten befand er sich auf einer " Ausreise " mit der " Ariadne " .
Aus Hongkong waren noch gute Nachrichten gekommen und die Rückkehr für den Mai in Aussicht gestellt .
Dann noch zwei Briefe von der Heimreise aus , aber jetzt fehlte jedes Lebenszeichen .
Zur Zeit der Frühlingsstürme war Mama in einer beständigen Unruhe ; nun waren die freilich vorbei , ohne daß irgend böse Dinge geschehen waren , aber mußte das Schiff nicht jetzt schon zurück sein ?
Waren Briefe verloren gegangen ?
Diese Sorge war der einzige schwarze Punkt in diesen sonst so lichten festlichen Tagen , und Mama war wirklich etwas angegriffen von mangelndem Schlaf und allem tapferen Zusammennehmen , und sie freute sich doppelt über Ursels umsichtige Tätigkeit im Hause .
Sie hatten auch Gäste aufgenommen , zwei Logierzimmer für zwei Damen und einen Herrn waren in Stand gesetzt , und von früh bis spät war für diese zu sorgen .
Zuerst war der Kaffeetisch sehr rechtzeitig herzurichten , denn die Gäste pflegten früh zu erscheinen .
Beim Musikfest darf man sich nicht nur unterhalten , sondern muß sich tüchtig anstrengen und vor allen Dingen pünktlich sein !
Um neun Uhr mußte man schon immer zur Probe in der Festhalle auf der lieblichen grünen Halbinsel eintreffen , welche die Fremden , die aus allen Teilen des Landes zusammengeströmt waren , mit Entzücken betraten .
Auf dem großen Platz vor dem Festhause standen gerade die Kastanien in rotleuchtender Blüte , dazwischen schlangen sich Girlanden mit der prangenden Inschrift :
" Willkommen zum Musikfest ! "
Und hierher " wallten " all diese Tage lang Ströme festlich gestimmter Menschen .
Als Franzi zur ersten Probe kam , im Wagen und mit einem Vorstandsherrn zur Seite , fuhr sie an dem kleinen Schaufenster des Frauenvereins vorbei , wo die Handarbeiten auslagen , und wieder dachte sie beschwörend :
" Willegis , Willegis ! denke , woher du kommen bist ! "
Und bei dem Vergleich zwischen damals , als sie ihre Spitzendecke hier ausstellte , um das Geld für die Musikstunden zu verdienen , und heute - wurden ihr die Augen feucht .
Da fragte der junge Offizier neben ihr teilnehmend :
" Gnädiges Fräulein bekommen wohl Kanonenfieber ? "
Nun mußte Franzi doch lachen , und in leidlich gefaßter Haltung kam sie beim Festhause an .
Ursel war nicht da .
Man hatte ihr erzählt , das erste Durcheinander , die Schlacht um die Plätze und all die äußeren Angelegenheiten , wäre für den Unbeteiligten nicht erfreulich , und von den Sängern hätte man noch wenig .
Ursel war auch Vormittags zu Hause so nötig .
Mittags gab es immer ein richtiges Diener , die kleine Tafel sollte hübsch geschmückt sein , und selbst durfte man nicht müde und abgehetzt erscheinen , wenn die angestrengten Sänger von der Probe zurückkamen und gepflegt werden mußten .
Nach Tisch sorgte sie dann für möglichste Ruhe im Hause , damit die Sänger schlafen konnten , dann schickte sie ihnen Kaffee aufs Zimmer , bot Plätteisen an , um etwa im Koffer gedrückte Sachen aufzufrischen , und stellte die kleinen Brüder als Läufer zur Verfügung , wenn Besorgungen zu machen waren .
Genug , es war ein Musterquartier bei Dahlands , und Ursels freundliche Sorge wurde auch von den Fremden laut genug anerkannt .
Sie tat ja auch alles so gern , freilich mit dem heimlichen Zugeständnis , daß sie damit ihre Unruhe beschwichtigte !
Denn im Grunde teilte sie Mamas Sorge um Axel , und - Franzis Schicksal erregte sie doch auch aufs tiefste .
Diese trat hier mit großen Künstlern von Ruf in die Schranken , es konnte viel davon abhängen .
Frau Trautmann war auch , ihrer sonstigen festen einfachen Natur entgegen , in einer ängstlichen Erregung .
Es schien ihr schon zu viel Ehre und Verantwortung für ihre Tochter , auf diesem Fest zu singen .
Herr Bauer aber war außerordentlich heiter gestimmt , sehr stolz auf seinen schönen Konzertplatz , den natürlich Franzi gestiftet hatte , und höchst freigebig mit Blumen .
Die junge Sängerin konnte schon Morgens in der Probe mit den herrlichsten Rosen erscheinen , und der Festkavalier zerbrach sich den Kopf , wer ihm denn wohl immer zuvorkäme !
Wilhelm Trautmann war auch unter den Sängern , denn selbst das kleine Nest , in dem er jetzt an einer Privatschule angestellt war , hatte seinen Gesangverein , und die Handvoll Steinberger war nicht zu verachten , sondern gehörte zu den begeistertsten Chorsängern .
Endlich war_es so weit , daß nach all den vorbereitenden Tagen das Fest mit der Trompetenfanfare eröffnet wurde .
In der Hofloge waren die höchsten Herrschaften erschienen - und nun nahm eines der gewaltigen Händel-Werke seinen Anfang .
Die fünfhundert Sänger , von den verschiedensten Dirigenten vorbereitet , einigten sich mit dem Orchester unter dem Zauberstab des Festdirigenten , und in mächtigen Wogen kam der erste Chor dahergebraust .
Und der Heldentenor des " Josua " schmetterte in den Saal , machtvoll und ernst traten Alt und Bass hinzu , und dann hob eine junge goldene Sopranstimme an .
Die erste Befangenheit sah man ihr gerne nach , man fühlte doch gleich , daß sie Gutes leisten würde .
Und als sie bis zu der Arie gelangt war : " O hätte ich Jubals Harf ' - " da wartete man kaum des Orchesters letzten Ton ab , und es brach jener brausende Beifall los , wie man ihn wohl nur auf Musikfesten kennt .
Franzi Trautmann war in aller Mund und Herz !
Nach Schluß des Konzerts lagen sich in der Garderobe die beiden Schwarzbraunen in den Armen , dann stieg Ursel einfach mit in den Wagen der Sängerin , und der diensttuende Kavalier fühlte sich wieder einmal grausam überflüssig !
Am zweiten Tage gab_es den " Achilleus " von Max Bruch .
Heute hatte die Altistin das Feld , und Franzi war in einer kleineren Partie beschäftigt .
Diesen Tag genoß sie in anderer Weise ; sie liebte das Werk und bewunderte Frau Jagemanns hochvollendete Kunst .
Sie selbst trat gern zurück und ruhte sich etwas für den folgenden Tag aus , der noch genug Anforderungen stellte .
Ehe aber dieser Tag anbrach , kam im Dahlandschen Hause ein Augenblick allerhöchster Spannung .
Die Rätin saß nach dem Konzert allein und ziemlich erschöpft in ihrem Zimmer , während alle anderen beim Fest geblieben waren .
Da klingelte es , und ein Telegramm wurde gebracht .
Einen Augenblick hielt sie regungslos das ihr in der Hand fast brennende Blatt und wagte es nicht zu öffnen .
Dann riß sie es mutig auf und las : " Komme heute 9,30. Axel . "
- An der Erleichterung , die sie nun ganz und gar durchdrang , fühlte die Rätin erst , wie groß ihre Angst zuvor eigentlich gewesen war , und einen Augenblick schien es , als wollte sie noch hinterher schwach werden .
Aber dann raffte sie sich schnell auf ; für Axels Empfang mußte gesorgt werden , und sie war allein zu Hause , selbst Line war zum " Zusehen " beurlaubt .
Aber mit welcher Wonne stieg Mama jetzt die Treppe auf und ab , alle vorige Müdigkeit vergessend !
Sie konnte zwar Axel nicht seine eigene " Bude " zurechtmachen , denn die wurde als Herrenlogierzimmer mitbenutzt ; er mußte sich diese Nacht unten in Mamas kleinem Wohnzimmer mit dem breiten alten Sofa begnügen - schade , schade !
Er war gewiß so ruhebedürftig - - zwei Tage später hätte er mit aller Bequemlichkeit einziehen können , als Hauptperson des Hauses , und doch !
Welch ein Segen , daß er heute schon kam !
Nun wurde das Fest auch noch für Mama ein Fest !
Die Kissen und Decken waren nun bereit , das hergezauberte Schlafzimmerchen recht einladend geworden , nun noch schnell in die Speisekammer .
Für diesen Abend hatte sie auf niemand gerechnet , denn alle waren zur Italienischen Nacht in einem Konzertgarten , selbst Ursel hatte sich überreden lassen .
Es war also gar nicht gedeckt , denn Mama hatte sich selbst aus der Speisekammer versorgen wollen , war aber bis jetzt noch nicht dazu gekommen .
Nun rüstete sie noch mit Wonne ein Abendtischchen für zwei Personen , und kaum war alles zurechtgesetzt , da schlug die Hausglocke an , genau so , wie Axel immer klingelte .
Und er war es !
" Meine liebe Mutter , " sagte er endlich nach der ersten , von überwältigender Freude stummen Begrüßung , " finde ' ich dich wirklich daheim ?
Ich fürchtete schon , ins leere Nest zu kommen !
Die Stadt ist ja in einer festlichen Aufregung , überall wogt das Volk ; ich dachte , kein Mensch wäre zu Hause . "
" Ich bin auch ganz allein . "
" Und hast du meine Depesche bekommen ? "
" Ja , mein Junge , ich war gerade vom Konzert nach Hause zurückgekehrt , früher als wohl irgend jemand . "
" Aus Ahnungsvermögen , liebe Mutterherz ? "
" Vielleicht !
Wer kennt die geheimen Stimmen und ihre Macht ?
Seit wann bist du zurück , Axel ? "
" Gestern abend spät in Kiel angekommen .
Ich dachte kaum , heute schon reisen zu können .
Meinen Brief aus England hast du doch erhalten ? "
" Nein , seit fast drei Wochen nichts ! "
" Aber das ist ja schrecklich !
Arme Mama ! "
" Nun ist ja alles gut , Axel , nun komme herein und laß dich ordentlich ansehen .
Ein wenig mitgenommen kommst du mir vor . "
" Na , es geht , Mama ; es war nicht immer nur ein Spiel auf dieser Reise . "
" Und nicht Mal dein eigenes Zimmer , dein altes Bett kann ich dir geben ! " klagte Mama , " wir haben das Haus voll von Gästen . "
" Kann ich mir denken ; die Zeitungen sind ja voll vom Musikfest zu Wendenburg und von der Gastlichkeit seiner Bewohner .
Es war das erste , was ich auf heimischem Boden las .
Wen habt ihr denn ?
Logiert die große Sängerin Franzi Trautmann etwa auch bei euch ? "
" Logiert die große Sängerin Franzi Trautmann etwa auch bei euch ? "
" Nein , " sagte Mama lächelnd , " wir haben nur Chorsänger ; Franzi war nicht zu bewegen .
Sie wird täglich in Galaequipage von der Gärtnerei abgeholt , bei ihrer Mutter wollte sie bleiben ! "
" Braves Mädel !
Also noch nicht der Kopf verdreht ? "
" Keineswegs !
Aber Axel , du wirst morgen staunen , das heißt wenn du Lust hast , ins Konzert zu gehen . "
" Aber natürlich , Muttchen ; ich bin ja so froh , daß ich nicht alles verpaßt habe , sondern noch vor Torschluß eintreffen konnte . "
" Und ich erst , Axel !
Ich konnte bis jetzt zu keinem reinen Genuß kommen und mochte doch die Kinder nicht kränken .
Ursel ist selig , wie du dir denken kannst . "
" Natürlich !
Können denn die Schwarzbraunen noch Schritt halten miteinander ?
Ist die andere unserer Kleinen nicht weit voraus ? "
" Ich weiß nicht - - es ist so eigen mit den beiden .
Natürlich ist Franzi die Bedeutendere und Entwickeltere ; aber man denkt nicht daran , wenn man sie mit Ursel zusammensieht , so vollkommen ist die Einigkeit , so reizend zart ihr Umgehen miteinander . "
" Du , Mama , unsere Schwarzbraune ist auch von uns früher unterschätzt worden . "
" Vielleicht , Axel , aber jetzt nicht mehr ; du wirst sehen , was für eine Persönlichkeit Urselchen im Hause geworden ist . "
" Sie ist aber auch nicht bloß nett und gut , sie ist ein feines Köpfchen !
Ich sehe es aus ihren Briefen . "
Mama sah strahlend dazu aus ; wie groß war doch jetzt auch die geschwisterliche Einigkeit !
" Aber nun esse auch , mein Junge , und dann sieh dir deine Schlafstätte an , ob es wohl so geht für diese Nacht . "
" Ach , Mutter , wie sollt es nicht gehen !
Herrlich wird sich_es ausruhen im Elternhaus ! "
Als mitten in der Nacht der Landgerichtsrat mit Ursel und seinen Gästen nach Hause kam , waren alle erstaunt , die Rätin noch auf zu finden .
Gerade sollte sie zärtliche Schelte bekommen , da blieb dem Papa das Wort in der Kehle stecken vor Mamas glücklichem Ausdruck .
" Ist etwa - ja - ich sehe es dir an , du hast Nachricht von Axel ! "
Mama nickte nur , und als die Fremden mit ihren Lichtern verschwunden waren , zog sie ihn , den Finger an den Mund legend , an die Tür des kleinen Wohnzimmers .
Papa sah hinein - da lag er ja , der Sohn , der langvermißte , heimlich umsorgte , und schlief den gesunden festen Schlaf der Jugend .
In stummer Rührung standen Vater und Mutter am Lager , aber er merkte es nicht .
" Blaß , " sagte Mama endlich , " mager , nicht wahr ? "
" Aber sehnig , kräftig !
Beruhige dich nur !
Na , das wird ein Fest geben , Mama , das geht über alle Musik , was ? "
Dann erfuhr Ursel die große Neuigkeit , und auch sie meinte :
" Dies setzt unseren schönen Festtagen die Krone auf ! "
Wie freute sich Mama noch am anderen Tage , daß sie ihren Jungen die ersten Stunden so völlig für sich gehabt hatte .
Denn nun wurde man doch gleich wieder rettungslos in den Trubel des Festes gezogen .
Der dritte Tag war wie immer der Höhepunkt .
Alle Mitwirkenden fühlten sich in der Festhalle schon wie zu Hause und mochten gar nicht daran denken , ihren Platz auf dem Podium nun aufgeben zu müssen .
Alle Zuhörer aber hatten sich in die Musik eingelebt , unter den Künstlern ihre Lieblinge erkoren und wollten sich dankbar beweisen .
Große Körbe voll Blumensträußchen sah man in dem Gang vor dem Saale stehen , damit sollten die Gefeierten nach dem Singen überschüttet werden .
Aber eines war diesem Dank des großen Publikums vorausgegangen : die Auszeichnungen des Landesfürsten .
Morgens in der Probe war ein Hofbeamter mit verschiedenen geheimnisvoll versiegelten Päckchen erschienen .
Davon war eines zuerst dem Herrn Hofkapellmeister überreicht worden , dann jedem der Sänger auch eines .
Das Orchester hatte Tusch geblasen , und die Zuhörer hatten geklatscht .
Und nun erschienen zum Konzert die Dekorierten , die Herren mit dem roten Ordensband um den Hals , die Damen mit der goldenen Medaille .
Auch Franzi trug am Ausschnitt ihres duftig weißen Kleides das goldene Ehrenzeichen , das die Mutter ihr kaum hatte anlegen können , so sehr hatten ihre Hände gezittert .
Herr Bauer aber hatte gemeint , diesmal dürfe sie keine Blumen daneben stecken , sie könnten die Medaille verdecken !!
Ursel wußte nichts davon , denn sie hatte wieder nicht in die Probe gehen können , weil sie sich doch Axel widmen wollte .
Nun saß sie zwischen ihm und Wilhelm , der heute nichts mehr zu leisten hatte , in der zwölften Reihe des großen Saales .
Noch näher heran hatte sie nicht gewollt , aus Furcht , es könnte Franzi stören .
Die schien sie heute noch gar nicht entdeckt zu haben , sie sah so gedankenvoll und ernst aus , als drücke sie das Ehrenzeichen .
Elfchen , die mit all ihren zahlreichen Freundinnen für Franzi schwärmte , hatte schon heimlich deklamiert :
Die goldene Kette gib mir nicht .
Die Kette gib dem Kanzler !
Sie meinte : Franzi sieht aus , als wollte sie das sagen .
Das Orchester spielte nun zuerst eine schöne festliche Eingangsmusik , dann schmetterte der Tenor eine Heldenarie , Frau Jagemann trug eine hochdramatische Gesangsszene vor , und wie die majestätische Erscheinung der großen Altistin wieder abgetreten war , stand auf dem bekränzten Platz des Dirigenten , der jetzt nichts mehr zu tun hatte , hoch über der Menge , die schlanke junge Gestalt im weißen Kleide , der schon so manches Herz entgegenschlug .
Sie sang als Erstes :
" An die Musik " von Schubert .
Ursel weinte lautlos hinter dem vorgehaltenen Programm .
Franzi hatte gesagt :
" Wenn du die letzten Worte des ersten Liedes hörst , dann denke , meine Ursel , ich spreche mit dir . "
Und nun hörte sie diese letzten Worte , die in dem Liede der holden Kunst galten :
" Ich danke dir ! " , und sie wußte , was die Freundin damit sagen wollte .
Das Publikum schien nach dem innig ergreifenden Vortrag auch einen Augenblick den Atem anzuhalten , als möchte es die weihevolle Stimmung nicht stören ; aber dann mußte es doch klatschen , wie sollte es sonst seinen Beifall äußeren ?
Nun folgte Lied auf Lied .
Die Künstler wechselten ab , der Applaus steigerte sich , die Blumensträußchen flogen , und die Sänger konnten des Grüßens und Siechverneigens nicht genug tun .
Franzi hatte nun auch längst ihre Freunde entdeckt , und es schien , als sänge sie von Lied zu Lied schöner .
Sie hatte in richtiger Erkenntnis ihrer Stellung zu den anerkannten , großen Künstlern mehr schlichte als großartige Sachen gewählt ; aber sie sang mit einem Ausdruck , als dächte sie immer , wie sie schon als Kind zu Ursel gesagt hatte : " Musik ist - sie sei ernst oder traurig oder lieblich - immer groß !
Und Singen ist Glück ! " setzte sie wohl jetzt noch hinzu .
Sie schloß mit dem Liede :
" Wenn die wilden Rosen blühn , " und trotz allen Jubelns in den Worten : " O du schöne , du schöne Rosenzeit ! " wurden manchem Zuhörer die Augen feucht .
Axel Dahland saß merkwürdig blaß und in sich gekehrt da ; er war vielleicht der einzige , der keine Hand zum Applaus rührte .
Er konnte sich nicht so schnell in den Übergang finden .
War das noch die Jugendfreundin , die da oben stand , geschmückt und gefeiert , war das noch die kindlich frohe , reizende Schwarzbraune ?
Im Gedränge am Schluß des Konzertes verlor er sich sacht von den Seinigen .
Er wollte nicht zu denen gehören , die sich jetzt ums Podium scharten , um noch einen Blick von den Künstlern zu erhaschen oder sich ihnen gar vorzustellen .
Er war der erste zu Hause , und als Ursel kam , überfiel sie ihn förmlich mit Vorwürfen .
" Wo bist du hingeraten ?
Wir haben uns fast die Augen nach dir ausgeguckt , Franzi auch !
Sie kann es übelnehmen , daß du sie noch gar nicht begrüßt hast . "
" So ? " fragte Axel trocken , " ist sie so ? "
" Wie denn : so ? " wiederholte Ursel gereizt .
" Sie ist lieb und treu und anhänglich und denkt bei allem Ruhm doch am meisten an uns , ihre Freunde .
Nun kannst du sie vor Abend nicht sehen , denn jetzt ist sie mit allen Künstlern und Dirigenten bei Hofe zur Tafel befohlen .
Heute abend gehen wir aber alle zu Ball ! "
Axel lachte und umfaßte seine eifernde Schwester .
" Ihr seid alle wie ausgetauscht , gar nicht wieder zu kennen .
Ich muß mich wahrhaftig erst drein finden - das geht nicht so schnell .
Franzi wird mir wohl wieder gut . "
Nun war der Abend des letzten Festtages gekommen .
Das Hoftheater strahlte in hellstem Glanz , und Wagen auf Wagen fuhr vor das Portal .
Geschmückte Gestalten schlüpften heraus , nur in leichter Vermummung , denn an einem solchen Frühlingstag zu Ball zu gehen , war ja eine Ausnahme .
Der große Zuschauerraum mitsamt der Bühne war in einen einzigen Ballsaal verwandelt , in dem es sich wundervoll tanzen lassen mußte !
Auf der Bühne waren auch Lauben von grünem Gezweig errichtet , mit Ruhebänken darin , ein Springbrunnen verbreitete erfrischende Kühle , und das elektrische Licht lag beinahe wie Mondschein auf diesem anmutigsten Teil des Saales .
In den Logen saßen solche Festgäste , die mehr zusehen , als sich am Tanz beteiligen wollten ; vom ersten Rang führte die breite teppichbelegte Treppe herab , auf der die allerhöchsten Herrschaften jetzt erschienen und unter den Klängen der Musik ihren Rundgang im Saal hielten .
Damit war der Ball eröffnet , und der Raum , der eben noch für die Fürstlichkeiten frei gehalten war , schloß sich schnell mit den sich drehenden Paaren .
Es sah von eben aus , als hätten sie gar keinen Platz zum Tanzen ; aber sie mußten das doch nicht finden , denn alle sahen belebt und vergnügt aus .
Ursula saß auch noch oben und sah zu , später wollte sie hinunter gehen , erst mußte sie Franzi beobachten .
Leider saß auch Axel neben ihr , was sie wieder nicht begriff .
Er mußte doch sofort ein Haupttänzer sein und sich bei Franzi von niemand zuvorkommen lassen !
Aber - Franzi tanzte heute mit Hofherren !
Wirklich , einer nach dem anderen kam zu der jungen Sängerin .
Da war ein Prinz , ein Verwandter des regierenden Hauses , jetzt ein Kammerherr , ein Flügeladjutant , nun folgten die anderen Offiziere .
Ursel sah ihren Bruder an , der stand denn auch mit einem Ruck auf und sagte :
" Komme , Schwesterchen ; gibst du mir den ersten Tanz ? "
" Sehr gern , aber nur eine Tour . "
Jetzt waren sie unten , und das glänzende Gewühl schien Ursel beinahe beängstigend .
Aber Axel führte sie mit sicherer Hand hindurch , und sie tanzten .
" Sehr gut , " lobte Axel , wie sie pausierten , " weißt du wohl noch , Ursche , wie ich Tanzstunden so sehr nötig für dich fand ? "
" Ja , du nanntest mich immer » krumm wie ein Fiedelbogen « .
Aber jetzt gebe ich dir Urlaub , ich setze mich da zu Mama und Frau v. Sontheim ; nun engagiere andere Damen .
Erkennst du Vicky ? "
Axel verbeugte sich schon vor Ursulas Kränzchenfreundin und machte eine Runde mit ihr .
Dann stand er endlich vor Franzi .
" Endlich ! " sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen , " Axel , - Herr Kapitänleutnant ? "
" Sie erkennen sogar meinen Rang ? " fragte Axel .
" O natürlich , ich weiß genau , wie viel noch bis zum Admiral fehlt ! " sagte sie schelmisch ; er aber erwiderte etwas ernst :
" Ich hingegen weiß gar nicht , was Ihnen noch fehlt zu dem , was Sie erreichen wollten .
Auch weiß ich nicht , wie ich Sie nennen soll . "
" Franzi , denke ich , " sagte sie einfach und herzlich , und dann tanzten sie .
" Welche Freude , " fing sie in der Pause gleich wieder an , " daß Sie noch während des Festes hierher kamen .
Ihre arme liebe Mutter konnte ja zu gar keinem Genuß kommen . "
" Wirklich ? Ließ Mama sich die Sorge um mich so sehr merken ? "
" Nein , eigentlich war sie sehr tapfer , wollte niemandem das Vergnügen stören ; aber ich habe es doch gemerkt , und ich fand es begreiflich . "
Ein Herr kam jetzt und erbat eine Extratour von der Sängerin , Axel mußte sie ihm abtreten ; wie sie zurückkam , sagte sie munter :
" Wissen Sie , Axel , wer das war ? "
" Nein .
Was sehr Bedeutendes ? "
" Der » Steuermann « von damals , von Ursels und meiner märchenhaften Bootfahrt mit dem » Schwan « des Erbprinzen . "
" Ah !
Und der Erbprinz - ich meine , unser allergnädigster Landesfürst ? "
" O , der war auch sehr huldvoll beim Diener !
Als ich meinen Dank aussprach für - hier , haben Sie schon gesehen , Axel ? " unterbrach sie sich , verschämt auf ihren Orden zeigend , " da sagte seine Hoheit :
» Das ist meine Erwiderung für die wilden Rosen vom Rohrwerder ! «
War das nicht ein hübscher Scherz ? "
" Sehr hübsch , Franzi , mit solchen Aufmerksamkeiten kann nun ein armer Jugendfreund natürlich nicht wetteifern ! "
" Ach Unsinn , Axel !
Der Fürst kann mich ja unmöglich mehr gekannt haben ; man hat ihm wohl ein bißchen von mir erzählt , damit er etwas mit mir reden könnte , außer von Musik . "
Axel hielt es zwar nicht für unmöglich , daß man ein so reizendes Mädchen wie Franzi Trautmann im Gedächtnis behält , auch wenn man ein Prinz ist , aber er freute sich über ihre harmlose unverdorbene Art , die noch so weit entfernt war von dem Selbstbewußtsein einer " Berühmtheit " , wie er sie sich in Gedanken vorgestellt hatte .
Sie war nur glücklich über ihre Aufnahme auf diesem Fest in der Heimat , und das konnte und durfte sie sein , glücklich und dankbar !
Jetzt trafen sie auf Ursel und Wilhelm , die auch getanzt hatten , und die vier setzten sich auf eine der grün umbuschten Bänke auf der Bühne .
" Jetzt könnte meinetwegen dieser ganze Festtrubel wie ein Spuk verschwinden , " meinte Franzi , " und wir könnten unter wirklichen Bäumen , im wirklichen Mondschein sitzen .
Man hat sich doch noch so viel zu erzählen , wobei diese Umgebung nur stört . "
" Wie wäre es denn morgen mit einer Wasserfahrt , wie in alter Zeit ? " schlug Axel vor , und Franzi ging freudig darauf ein .
" Morgen darf ich wieder alles , diese Tage mußte ich mich ja so grenzenlos schonen .
Nicht Mal reden durfte ich , so viel ich wollte , nicht wahr , Ursel ?
Aber man gehört dann nicht sich selbst , man gehört dem Ganzen und muß seine Pflicht tun .
Denn Singen ist nicht nur ein Spaß , wie so viele Menschen im Zuhörerraum denken und von den leicht erworbenen Lorbeeren der Sänger sprechen ; Singen ist auch eine Arbeit - wenn auch eine schöne - und es gehört gerade so viel Ernst und Selbstzucht dazu , wie zu jedem anderen recht aufgefaßten Beruf !
Wollt ihr es glauben ? " 33. Kapitel .
Auf dem See Das Musikfest war zu Ende .
Alles verrauscht und verklungen .
Von dem geschmückten Bahnhof , dessen Girlanden allmählich welk geworden waren , entführte Zug auf Zug die fremden Gäste , aber sie nahmen einen Schatz von schönen Eindrücken und unvergeßlichen Erinnerungen mit .
Franzi blieb noch in Wendenburg , denn das Pfingstfest war vor der Tür , da hatte sie Zeit .
Auch Wilhelm hatte seine Rektorschule geschlossen und blieb noch , denn in den Tagen nach Pfingsten sollte in Wendenburg eine Versammlung von Philologen stattfinden ; er hatte wieder einen Vortrag zu halten und das war seiner Mutter insgeheim fast ebenso wichtig wie Franzis Mitwirkung beim Musikfest .
Frau Trautmann kam sich augenblicklich wie eine beneidenswerte Mutter vor , und als Frau Rätin Dahland am Tage nach dem Fest einen Besuch in der Gärtnerei machte , meinte sie :
" Wie hätte ich je gedacht , daß es mir noch einmal wieder so gut gehen würde !
Manchmal denke ich , es ist zu viel ! "
" Sie haben so viel Schweres hinter sich , liebe Frau Trautmann , " sagte die Rätin herzlich .
" Hoffentlich ist das nun alles , was das Schicksal Ihnen an Leid zugedacht hatte .
Jetzt freuen Sie sich ungestört an dem Glück , das Ihnen durch Ihre prächtigen Kinder wird , ohne Sorge , es könnte zu viel des Guten sein ! "
Diese Kinder waren eben aus dem Hause getreten , und die Dahlandschen Geschwister kamen dazu .
" Wir gehen aufs Wasser , " rief Franzi munter .
" Kann man anders , wenn man einen künftigen Admiral als Beschützer neben sich hat ? "
" Geht nur , " sagte Mama .
" Vor diesen heimischen Gewässern fürchte ich mich nicht . "
Sie nahmen ein Boot an der Halbinsel und fuhren hinaus .
Noch blühten die roten Kastanien auf dem Festplatz , aber Fahnen- und Girlandenschmuck wurde abgenommen , im Saal klang statt der wogenden Musik das Klopfen , Schieben und Stoßen der Arbeiter , die den ganzen Festzauber verschwinden ließen .
Vom See aus sah der Platz schon wieder leer und still aus , wie gewöhnlich .
" Ist_es nicht wie ein Spuk ? " sagte Franzi .
" Kann man glauben , daß dort noch gestern Menschen aus allen Teilen des Landes sich drängten , daß in dem Saal die größten musikalischen Geister zu Wort gekommen sind und - "
" Und daß unter den Künstlern eine gewisse liebe Schwarzbraune war , die heute wieder wie eine gewöhnliche Sterbliche unter uns sitzt ? " sagte Ursel .
" Du nimmst mir das Wort vom Munde weg , " sagte Axel , der sich ärgerte , daß er es immer noch nicht fertig gebracht hatte , Franzi etwas recht Schönes zu sagen ; aber Franzi unterbrach schalkhaft :
" So vorlaut war Ursel doch sonst nicht ! "
" Sonst ! " wiederholte Axel gedankenvoll , und einen Augenblick ruderten sie schweigend .
Aber lange litt Franzi das nicht .
Jeder sollte erzählen , erzählen !
Wilhelm von seiner Schule , seinen Aussichten für die Zukunft .
" Ich denke mir dein künftiges Heim sehr idyllisch , ganz dem Großstadtleben entgegengesetzt .
Dann komme ich im Sommer immer zu dir , " verhieß Franzi , " und lasse mich pflegen , hole dir alle Eier aus dem Stall ; denn darauf sind wir Sängerinnen sehr erpicht . "
" Wenn er nun keine Hühner hat ? " meinte Ursel bedenklich .
" Natürlich hat er die !
Ich denke mir Wilhelm immer in irgend einem kleinen Landstädtchen . "
" Das ist doch noch nicht ausgemacht !
Solche Lehrer und Redner " - Ursel wurde dabei rot , sprach aber tapfer weiter - " werden doch auch vielleicht hier am Ort gewünscht . "
Wilhelm sah sie freundlich an , und Franzi rief :
" Bist du so ein Redner , Wilhelm ?
Ich habe dich ja noch nicht wieder gehört , seit der Kindheit nicht , wo du uns allerdings manchen erbaulichen Vortrag hieltest .
Weißt du noch die sogenannte Baumkanzel im Wehrburger Park ? "
" Nach Pfingsten kannst du ihn in der Aula des Gymnasiums hören , " sagte Ursel eifrig , " wir freuen uns alle schon . "
Nun sollte Axel das Wort haben .
Sie fanden ihn alle zu schweigsam !
Sie wollten von seiner weiten Reise hören , von den fremden Ländern , von seiner Beförderung , von Vorgesetzten und Kameraden , und er war froh , wenn sie es ihm durch Fragen leicht machten .
" Ich bin so von Heimatszauber umfangen , " sagte er , " daß mich augenblicklich die ganze weite Welt nichts angeht . "
" O - " sagte Franzi , " aber Sie lieben doch Ihren Beruf noch ? "
" Sehr !
Verstehen Sie mich nicht falsch !
Ich möchte noch heute nichts anderes sein .
Nur - ist mir gerade jetzt alles andere interessanter als meine eigenen Erlebnisse .
Denken Sie sich Mal aus , Franzi , wie abgetrennt unsereins so halbe Jahre lang ist !
Wenn wir auch alle vier an verschiedenen Orten leben , so fremd kann doch keiner von euch den anderen inzwischen werden , wie ein Seemann dies manchmal empfindet . "
" Das ist wohl wahr , " sagte Franzi nachdenklich , " aber sind wir uns denn fremd ?
Ich fühle nichts davon . "
" Das ist sehr lieb von Ihnen , und ich muß nochmals bitten : Mißverstehen Sie mich nicht .
Ich denke unwillkürlich , all das , was Sie inzwischen geworden sind , all die Interessen , in denen Sie leben , sind mir fremd ; ich muß ein Barbar sein für eine Künstlerin ! "
" Ach Unsinn ! " rief Franzi hellauf lachend , " dann müssen wir ja dasselbe empfinden .
Um Ihren Beruf zu verstehen , so wie auch den Wilhelms , dazu gehört für uns Mädchen viel mehr Anstrengung .
Mir werden Sie schon folgen können , wenn wir erst ein paar Tage wieder zusammen sind . "
" Alle sprecht ihr von eurem Beruf , " meinte Ursel kleinlaut , " was soll ich denn sagen ? "
" Du Engel , " sagte Franzi stürmisch , " was willst du noch ?
Du hast den Beruf der allgemeinen Unentbehrlichkeit !
Ist das keiner ? "
Ursel sah gerührt aus , und Wilhelm meinte :
" Das hast du gut gesagt , Franzi ! "
" Wie immer , " erwiderte sie übermütig lachend , und dann wollte Axel wieder wissen :
" Aber Sie , Franzi , Sie sind doch auch wirklich befriedigt ?
Sie lieben Ihren Beruf ? "
" Über alles ! " sagte Franzi mit feierlicher Miene , und diese Antwort schien beinahe etwas Überwältigendes für den Frager zu haben , denn er schwieg darauf , bis Franzi lebhaft fortfuhr :
" Ich höre keinen Tag auf , zu staunen und Gott zu danken für die Wendung , die mein Leben genommen hat , und du , Ursel , kannst dich auch bis ans Ende deines Lebens freuen über deine Tat !
Die Fürstin war gestern himmlisch gut , ich habe ihr einmal fast mein Herz ausgeschüttet , als spräche ich gar nicht mit einem gekrönten Haupt !
Und sie schien sich darüber zu freuen - "
" Das kann ich mir denken ! "
" Und wünschte mir alles Gute .
» Erfolge ! « heißt es dann immer , und es ist ja wahr , wir Künstler sind auf Erfolge angewiesen .
Wenn sich niemand um uns kümmert , niemand uns mag - dann steht es schlimm mit unserer Kunst ! "
" Ja , weil es kein eigenes Schaffen ist , " meinte Wilhelm sinnend , " weil ihr die Kunstwerke , die schon ewige Gültigkeit haben , nur für den Augenblick belebt . "
" Das ist_es gerade , " rief Franzi , " und es ist das einzig Schmerzliche bei unserer Kunst :
sie ist vergänglich .
Wenn das Alter kommt - ach , schon eine ernste Krankheit - vorbei ist es mit uns Sängern ! "
" Ach , Franzi ! "
" Ja , Ursel , das hat etwas Trauriges , aber auch zugleich etwas Warnendes vor jeder Hoffart .
In Demut mit unserem schönen Pfund wuchern , solange es uns verliehen ist , das sollen wir ! -
Aber , " fuhr sie sich wieder zum Frohmut aufraffend fort , " wenn einst die Kehle ist ausgesungen - und wenn das letzte Lied verklungen , dann bau ich mir ein Haus zum Altenteil in Heckendorf !
Seht , da taucht er auf , der liebliche Strand ! "
" Und da Rohrwerder , unsere Zauberinsel , " sagte Ursel .
" O du schöne Rosenzeit ! " jauchzte Franzi .
" Und dort schimmert der Giebel von Herrenhausen - die Bank können wir leider nicht sehen .
Aber es ist ein Abend wie damals .
Seht , wie das Schloß sich wieder von dem goldhellen Hintergrund abhebt ! "
Die Brüder zogen die Ruder ein und ließen das Boot treiben .
Alle schwiegen .
Immer röter wurde der Abendhimmel , immer ruhiger wurde das Wasser , die dunklen Laubmassen der Wälder schienen fast die Flut zu berühren .
Da hob Franzi an zu singen :
" Mitten im Schimmer der spiegelnden Wellen Gleitet wie Schwäne der wankende Kahn , Ach , auf der Freude sanft schimmernden Wellen Gleitet die Seele dahin wie ein Schwan .
Denn von dem Himmel herab auf die Wellen Tanzet das Abendrot rund um den Kahn .
Über den Wipfeln des westlichen Haines Winket uns freundlich der rötliche Schein , Unter den Zweigen des östlichen Haines Säuselt der Kalmus im rötlichen Schein .
Freude des Himmels und Ruhe des Haines Atmet die Seele im errötenden Schein .
Ach , es entschwindet auf tauigem Flügel Mir auf den wiegenden Wellen die Zeit , Morgen entschwindet mit schimmerndem Flügel Wieder wie gestern und heute die Zeit .
Bis ich auf höherem strahlenden Flügel Selber entschwinde der wechselnden Zeit ! "
Feierlich und schön klang es über den See , hochaufgerichtet , mit großen Augen saß Franzi da , und die jungen Bootsgenossen dachten vielleicht alle : " Ach , entschwinde du uns nur nicht ! "
Später , wie Axel und Ursula durch den dämmernden Schloßgarten nach Hause gingen , wie früher so oft , sagte Axel ernsthaft :
" Mir allein hast du vielleicht keinen Dienst getan , Ursche , mit deinem Gang zur Fürstin damals ! "
" Axel ! " rief Ursel schmerzlich , in halber Ahnung , aber er fuhr fort : " Ja , ja , die Jugendfreundin läßt uns alle weiter hinter sich zurück .
Wir können sie nicht halten . "
Zu Ende der Pfingstwoche erhielt Franzi eines Tages einen schönen Strauß zugeschickt .
" Ei , " dachte sie lächelnd , " noch eine Musikfesterinnerung ?
Noch nicht vergessen von den lieben Wendenburgern ? "
Aber wie sie sich nach einem Begleitbrief umsah , erkannte sie Axels Schrift und las : " Geschmückt , umjubelt , glanzumflossen , Standst du als Künstlerin im Saal , Hast alle Herzen dir erschlossen Mit deiner Stimme goldenem Strahl .
Nun ziehst du wieder in die Weiten , Die kleine Heimat bleibt zurück , Nur freundlich im Vorüberschreiten Traf uns dein lieber warmer Blick .
Auch ich , ich schweif auf fernen Meeren , Verlaß des Vaterlandes Port ; Was es mir könnte zum Heim verklären , Das - nimmst du singend mit dir fort ! "
Franzis Augen wurden feucht , sie sagte leise :
" Mein Freund , wenn ich dir weh tue - ich kann es nicht ändern .
Ich muß singen !
So wie du zur See mußtest , muß ich singen .
Das Meer der Töne ist auch eine Flut , auf die wir immer wieder hinaus müssen !
Aber wir kehren auch wieder an den heimischen Strand mit alter Treue ! " 34. Kapitel .
Allerlei Entwicklungen Als nach der festlichen Zeit die lieben Gäste wieder abgereist waren , schien über Ursel eine große Leere zu kommen , die sie zum ersten Male nicht standhaft ertrug .
Nicht nur , daß diese Tage mit der Fülle von Musik , festlichem Gepränge und Frühlingswonne wirklich wunderschön gewesen waren , es blieb aus dem Zusammensein mit den Jugendgefährten so mancher Eindruck zurück , der sie tief nachdenklich machte , über den sie hätte sprechen mögen , ohne dies indes zu wagen .
Axel , der zuletzt abreiste , war ihr gar zu ernst , ja niedergeschlagen erschienen , und das Schwesterherz ahnte , was in ihm vorgegangen war , wenn auch Franzi über jene Verse von Axel geschwiegen hatte , die keine Frage , sondern gleich ein Verzichten enthielten .
Ursel sagte sich , daß ihr Bruder der einzige sei , der die allgemeine Freude über Franzis Erfolg , der sie nun auch in ihren Kreisen völlig zur Künstlerin stempelte , nicht von Herzen teilte , weil dadurch zwischen ihm und der Jugendfreundin eine Kluft zu entstehen schien , die tiefer und weiter war als alle Meere , die oft zwischen ihnen lagen .
Ihm wäre es , sagte sich Ursel mit Wehmut , wohl lieber gewesen , er hätte das einfache , frische Mädchen mit all seinen lieblichen Naturgaben wiedergefunden , anstatt dieser schönen , fertigen Künstlerin .
Vergebens , daß Ursel sich sagte :
Aber Franzi ist doch noch dieselbe !
Sie mußte hinzufügen :
Für Axel aber ist sie jetzt verloren .
Und darüber sann und grübelte sie nun sehr viel .
Ihr kam eine Ahnung , als wären sie zum letzten Male für lange Zeit so glücklich zusammen gewesen , als würde das Leben die treuen Genossen einander entführen .
Wilhelm freilich blieb ja im Lande .
Die kleine Stadt , in der er einstweilen als Lehrer angestellt war , lag nicht sehr entfernt von Wendenburg , er konnte wohl manchmal an einem Sonntag herüberkommen und sich nach der Mutter umsehen .
Aber - es war eigentümlich : wenn nicht Franzi und Axel dabei waren , konnte sich Ursel auch kein Zusammensein mit Wilhelm denken .
Ja , als sie ihn zum ersten Male in der Schloßgärtnerei allein bei der Mutter traf , war sie entschieden sehr befangen .
Er hatte kürzlich seinen Doktor gemacht , das gab ihm in Ursels Augen eine neue Würde , und überhaupt - er war doch gar zu klug .
Der Vortrag , den er jüngst in Wendenburg gehalten hatte , lag Ursel noch immer im Sinn .
Danach traute sie sich kaum , ihn anzureden und fühlte sich wirklich erleichtert , als sie ihn das nächste Mal völlig nach Jungenart in einen Stachelbeerbusch vertieft und zu den harmlosesten Plaudereien aufgelegt fand .
Da taute sie allmählich wieder auf ; aber ehe sie sich_es versah , waren sie doch mitten in ernsthaften Gesprächen , die ihr weit über das Plaudern gingen .
Sie mußte aber erst die Befangenheit überwunden haben und nicht denken :
Jetzt soll ich mich mit einem jungen Gelehrten unterhalten !
Daß sie es konnte , mochte sie doch wohl beweisen , denn Doktor Wilhelm sprach mit ihr nicht von seiner Schule , sondern besonders gern von seinen eigenen Arbeiten ; er schriftstellerte ja in aller Heimlichkeit .
Vaterländische Geschichte war sein Steckenpferd , und jedesmal , wenn er in die Residenz kam , pflegte er in die Regierungsbibliothek zu gehen , allerlei nachzuschlagen , oder auch Bücher zum " Quellenstudium " zu entleihen .
Nur Ursel durfte darum wissen , was er sonst allen verschwieg .
Sie war ja eben solch wunderbar sympathisches Geschöpf , immer zum Zuhören , zum Mitempfinden geneigt .
Jeder vertraute ihr seine wichtigsten Dinge an .
Von sich sprach sie eigentlich wenig , ihr eigenes Tun und Treiben erschien als das Naturgemäße , was sollte man davon groß reden ?
Die anderen - ja , die konnten natürlich von Examen , von Doktorarbeit , Konservatoriumsprüfung , Konzertkritik , von Beförderungen in der Marine und tausend wichtigen Dingen sprechen , die für sie immer einzelne Stufen in ihrem Lebensgang bedeuteten ; aber was konnte dagegen das Hausgeistchen Ursel aufbieten ?
In dieser stillen nachdenklichen Zeit kam Ursel immer wieder auf einen Wunsch zurück , den sie schon lange gehegt , aber nie recht auszusprechen gewagt hatte .
Es war jetzt überall von " Samariterkursen " die Rede , die sich als eine überaus segensreiche Einrichtung erwiesen .
Auch in Wendenburg waren nicht nur Vorträge für Frauen und Mädchen eingerichtet , sondern auch praktische Übungsstunden im städtischen Krankenhause unter Aufsicht des leitenden Arztes .
Man lernte dort vor allem die ersten notwendigen Vorkehrungen bei Unglücksfällen , das Verbinden von Wunden , Verfahren bei heftigen Blutungen , das Wickeln und Schienen von verrenkten Gliedmaßen , auch Massieren und orthopädisches Turnen .
Alles , was Ursel hierüber gehört hatte , interessierte sie aufs äußerste , und sie kam allmählich zu der Überzeugung , daß es geradezu Notwendigkeit für ein weibliches Wesen sei , sich in solchen Dingen Geschicklichkeit und Erfahrung anzueignen .
Wie viel kam doch in einem kinderreichen Hause vor an kleinen oder größeren Unfällen , bei denen man sich nicht gleich zu helfen wußte !
Wie oft kamen die kleinen lustigen Vagabunden nach Hause mit zerschundenem Knie oder verstauchtem Fuß oder merkwürdigen Rissen an den Händen , die sie sich bei Indianerspielen oder sonstigen Unternehmungen zuzogen , und waren dann sehr unglücklich und empfindlich , wenn man ihnen nicht ein bißchen geschickt half !
Wie hatte Ursel einmal Elfchens Jammern gequält , als die sich die Hand verbrannt hatte , und wie war sie in Todesangst gewesen , als Robert ein anderes Mal mit Nasenbluten nach Hause kam , das sich nicht stillen ließ , bis der Arzt kam !
Das war nun freilich alles schon lange her , und bei solchen Anlässen wußte Ursel sich jetzt schon zu helfen , aber es gab doch noch andere Fälle , für die man gerüstet sein mußte !
Und überhaupt - lebte man denn nur fürs Haus und die eigenen Lieben ?
Es war zwar Ursels größtes Glück , und sie wünschte sich nichts anderes , aber war es wohl völlig genug ?
Mußte man nicht allmählich etwas weiter um sich sehen lernen und sich auch einmal um fremde Notstände kümmern ?
Das konnte man aber nur , wenn man das Helfen verstand , sonst quälte man die Leidenden mehr , als daß man ihnen wohltat .
Als Ursel damals Frau Trautmann gepflegt hatte , war ihr doch manches nicht leicht von der Hand gegangen , und wenn auch die liebe Kranke immer dankbar und zufrieden war und Herr Bauer Ursel als " gelernte Krankenpflegerin " zu bewundern pflegte , so fühlte sie selbst nur zu gut , wie viel ihr noch fehlte , wie oft ihr guter Wille ausreichen mußte , wo ihr das Geschick , das die Übung gibt , mangelte .
Ja , Ursel wollte endlich auch ihr " Studium " haben .
Und sie stieß auch auf gar keinen Widerspruch bei den Eltern , als sie mit ihrem Wunsch , Krankenpflege zu lernen , herauskam .
Beide fanden es praktisch und gut .
Anfänglich hatte das Krankenhaus wohl etwas Beängstigendes für sie : die langen kahlen Gänge , in denen es in lautloser Geschäftigkeit hin und her huschte , die Wärter in ihren weißen Röcken , die Krankenkörbe und Tragbahren , denen man begegnete , die Geräusche von Maschinen und Gerätschaften , das Stöhnen der Leidenden .
Aber Ursel hielt sich tapfer .
Sie wurde nicht ohnmächtig , als sie bei einer leichten Operation zugegen sein und eine Handreichung tun durfte , während die andere Dame , die mit ihr zugelassen war , sofort die Augen schloß und schwindelnd das Zimmer verließ .
Der Oberarzt sah jener mit spöttischem Blick nach , und meinte , zu Ursel gewandt :
" Das machen Sie nur nicht gleich nach , Fräulein ! "
Ursel zeigte sich als Krankenschwester sehr gewissenhaft und geschickt .
Es ging hierbei auch wie oft im Leben :
Manche machten diese Kurse mit oder meldeten sich wenigstens zur Teilnahme , weil es etwas Neues , weil es Mode war .
Aber lange gelang es solchen Oberflächlichen , die es spielerisch auffaßten , nicht , die Ärzte zu täuschen ; unweigerlich wurden die Unbrauchbaren ausgeschieden .
Ursel Dahland aber war von den Unverheirateten diejenige , die am unerschrockensten stand hielt , auch natürliches Geschick zeigte , so daß ihr bald öfter ein Mehr erklärt , ein Übriges anvertraut wurde .
Wilhelm verursachte Ursulas Entschluß vieles Mißbehagen , denn insgeheim hatte er sich die Freundin dereinst mit einem ganz anderen als dem Krankenschwesternhäubchen geschmückt gedacht .
Ob es ihr mit diesem Beruf wirklich ernst war ?
Er hatte es noch immer nicht weiter gebracht als zu jener bescheidenen Lehrerstellung in dem kleinen Steinberg , wo er mit dem schmalen Gehalt nur für sich selber genug hatte .
Und wenn es auch das kleine Städtchen war , in dem Ursel ihre erste Kindheit verlebte und von der sie ihn so gern erzählen hörte , vorläufig durfte er die Frage nicht wagen , ob sie jene kleine Stadt noch einmal als ihre Heimat würde betrachten mögen .
Er hoffte aber sehnlichst auf Beförderung , wenngleich bis dahin mindestens ein Jahr vergehen würde .
So suchte er das Unbehagen , das er empfand , in immer vermehrter Arbeit zu ersticken .
Die beschriebenen Blätter , die Auszüge und Notizen , die abgeschlossenen " Kapitel " häuften sich allmählich in seinem Schreibtisch , aber sein ganzes Tun in dieser Art war immer noch " Saat " , und die Ernte schien fern und ungewiß .
Seine Schwester hatte es weiter gebracht - - und auch Axel Dahland machte überraschend schnell Karriere .
Er hatte aber dafür auch etwas Rastloses in seinem Wesen bekommen , und Papa meinte mitunter kopfschüttelnd , er habe nie gedacht , daß Axel so ehrgeizig sein würde .
Ach , es war weniger Ehrgeiz , es war die Sache selbst , die ihn so interessierte , und außerdem - die innere Unruhe .
Nach Hause kam er jetzt selten und nur auf kurze Zeit ; auch in Kiel und Wilhelmshaven hielt er es nie lange aus .
Die " Ausreise " war sein einziges Element , die " Heimkehr " befriedigte ihn nie ganz , trotz aller sorgenden Liebe , die ihn dann empfing .
Ja gerade die Sorge , das prüfende Anschauen und Fragen , das quälte ihn dann .
Denn er fühlte es wohl auch selbst : seine stahlkräftige Gesundheit war schon ins Wanken gekommen !
Die Rastlosigkeit , die schnellen Übergänge von einem Klima ins andere , verschiedene Tropenkrankheiten , - das zehrte mehr an ihm , als er eingestehen wollte .
Nur zu Ursel sagte er einmal trübe :
" Zum Admiral bringe ich es nicht mehr !
Unsere Freundin Franzi hat etwas hochgegriffen mit ihrer Prophezeiung . "
Als die Schwester dann erschrak , beruhigte er sie wieder und bat , nur ja der Mutter nichts zu sagen .
Aber die Mutter fühlte es doch , auch ohne Worte .
Und sie empfand :
Diese beständige Sorge um ihren Ältesten , dieses Sehnen und Fürchten , das war das Schwere ihres sonst so glücklichen Lebens .
Das zog feine Falten in ihr gütiges weiches Gesicht , das sonst immer noch jung geblieben war , und weiße Fäden in ihr schönes Haar .
Sie stand zu viel am Strand .
Am besten verstand sie sich hierin mit Frau Trautmann , denn auch diese mußte sich ja in eine beständige Trennung von der einzigen Tochter finden .
Franzi hatte schon mehrmals versucht , die Mutter zu einer Übersiedlung nach Berlin zu bewegen , aber die hatte stets erklärt :
" Dahin passe ich nicht !
Ich würde doch wie die Glucke am Ufer stehen und mich wundern und ängstigen , daß eines meiner Küchlein aufs große Wasser hinaus schwimmt , das ich nicht kenne . "
Franzi lachte zu diesem Vergleich und meinte , sie sei doch kein unechtes Küchlein , kein Entenkind ; die Mutter wolle sie doch nicht etwa als " aus der Art geschlagen " bezeichnen ?
Da meinte Frau Trautmann :
" Nein , nein , mein Kind !
Was mir fremd ist , wo ich nicht folgen kann , hat mit deinem Herzen , deinem Charakter nichts zu tun .
Und in diesen beiden läßt du mich immer heimisch bleiben , keine fremde Welt zwischen uns treten , nicht wahr ? "
Nein , das konnte sich auch Franzi nicht vorstellen , daß jemals darin etwas anders werden könnte .
Wenn sie nun auch gewissermaßen in der " großen Welt " lebte , mit hochgestellten und berühmten Leuten verkehrte , wenn ihre Leistungen in der Kunst sich von Jahr zu Jahr steigerten , wie auch ihre allgemeinen Kenntnisse , wozu sie im täglichen Zusammenleben mit Fräulein Elsner die beste Gelegenheit hatte , so war doch tief im Herzen ein Kämmerchen , in dem die Heimatsglocken klangen , unablässig , nie übertönt vom Weltgetriebe !
" Wenn du aber nicht zu mir ziehen willst , Mütterchen , " nahm Franzi gelegentlich den Faden wieder auf , " dann könntest du dich doch wenigstens hier zur Ruhe setzen , eine nette kleine Wohnung nehmen ! "
" Und nichts tun ?
Warum , mein Kind ?
Noch kann ich arbeiten , wenn ich mich auch nicht mehr anstrenge , da ich an Mariechen Bauer eine gute Stütze habe , und die Weißnäherei allerdings meiner Augen wegen aufgeben mußte .
Aber warum sollte ich den guten Herrn Bauer jetzt verlassen ?
Er hat in seiner Weise viel für uns getan ! "
So blieb vorläufig alles beim alten , denn auch Wilhelm richtete nichts mit seinem Vorschlag aus , daß die Mutter zu ihm nach Steinberg ziehen solle .
" Du wirst nicht ewig in dem Städtchen bleiben , du sehnst dich doch recht fort ; warum sollte ich alte Frau noch etliche Umzüge auf mich nehmen ? "
Sie sah dazu listig aus , und dieser scheinbare Egoismus paßte recht wenig zu ihr .
Und als sie fortfuhr :
" Auch sehen alte Haushälterinnen es nicht gern , wenn sie plötzlich eines Tages von jungen verdrängt werden .
Nein , dem setze ich mich lieber nicht aus ! "
Da wußte Wilhelm wohl , wohin diese scherzhafte Abwehr zielte , und schwieg von dem vorigen Plan .
Er befand sich auch gerade in großer Aufregung wegen einiger Arbeiten , die er einem in Wendenburg wohnenden Verlagsbuchhändler eingereicht und über welche dieser jetzt eine mündliche Besprechung anberaumt hatte .
Sagte sich Wilhelm auch zehnmal am Tage :
" Es wird nichts , es wird nichts ! " so kam im nächsten Augenblick doch eine hoffende Stimme wieder obenauf .
Und fiel die Unterredung auch nicht so aus , wie er heiß gewünscht hatte , fand sich für die vorliegenden Arbeiten auch noch nicht gleich Verwendung , so gaben sie doch den Anlaß , daß der Verleger auf Wilhelm aufmerksam wurde ; seine Schreibweise und sein unverkennbares tüchtiges Wissen schienen ihm weit über dem Durchschnitt junger Autoren zu stehen , wie solche ihm alljährlich ihre Erstlingsarbeiten anboten .
So machte er Wilhelm einen Vorschlag .
Es war ein großes vaterländisches Werk geplant , das in Bild und Wort die ganze Entwicklung des Landes und des Volkes , von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart , darstellen und in Lieferungen erscheinen sollte .
Dies Werk sollte unter dem Protektorat des Landesfürsten stehen und von der Regierung unterstützt werden .
Es war also ein durchaus sicheres Unternehmen , bei dem es für jeden Schriftsteller eine Freude und Ehre sein konnte , zur Mitwirkung zugelassen zu werden .
Mehrere namhafte ältere Persönlichkeiten waren schon herangezogen , nun bot der Verleger auch Wilhelm an , einen bestimmten Teil des Werks zu übernehmen , und zwar gerade einen Abschnitt in der Geschichte , in dem er , nach den eingereichten kürzeren Arbeiten zu urteilen , sich besonders heimisch fühlte .
Ja , er würde , wie der Verleger meinte , manches von dem Fertigen wieder benutzen können , wenn er sich entschließen möchte , " die Form zu zerbrechen " und sich mit den umgearbeiteten Sachen dem Rahmen des großen Werkes einzufügen .
In mächtig angeregter Stimmung , voll Mut und voller Pläne , kehrte Wilhelm von dieser Besprechung zurück , und nachdem die Mutter vorsichtig eingeweiht war , immer mit dem bittenden Zusatz :
" Aber nicht zu fest drauf hoffen , Mutterchen , nicht zu viel erwarten ! " litt es ihn nicht mehr in der Gärtnerei , er mußte zur Familie Dahland .
Eigentlich war das nicht richtig , sagte er sich zwar ; er sollte etwas , das noch in der Zukunft ruhte , eigentlich für sich behalten können , statt es auszuplaudern wie ein Kind .
Aber er konnte nicht anders :
Ursel mußte es wissen !
Und als sollte es so sein , kam sie ihm auf halbem Wege entgegen ; er brauchte also gar nicht in das Haus am Fürstenplatz zu gehen , sondern konnte , mit der Freundin in einer Allee des Schloßgartens hin und her gehend , von seinen Hoffnungen berichten .
Ursel nahm es auf , wie er gehofft hatte , und zwar nicht nur mit der sanften herzlichen Sympathie , der man so gern alles anvertraute , sondern mit einer Begeisterung , die der Jugendfreund ihr kaum zutraute .
" Nun sollen Sie sehen , Wilhelm , nun ist Ihr Glück gemacht ! " rief sie strahlend , " nun werden auch die armen Steinberger Sie die längste Zeit besessen haben und man wird Sie glänzend befördern ! "
Plötzlich aber ging sie in einen anderen Ton über und meinte mit leiser Niedergeschlagenheit :
" Ihr alle werdet berühmte Leute und laßt mich weit hinter euch zurück . "
Da war es für Wilhelm schwer , an sich zu halten und nicht zu sagen , wie viel weniger er an das " Berühmtwerden " dächte , als vielmehr an das , wozu diese guten Aussichten helfen sollten .
Er arbeitete nun die nächsten Wochen und Monate so ernst und vertieft , daß er sich selten Zeit nahm , Sonntags nach Wendenburg herüberzukommen .
Zum 1. Dezember sollte die erste Lieferung des Werkes erscheinen , und wenngleich darin Doktor Wilhelm Trautmann noch nicht zu Wort kam , so mußte doch seine Arbeit schon um die Zeit dem Verleger vorliegen .
Und es kam , wie Ursel prophezeite :
Man wurde auf ihn aufmerksam , und als zu Ostern eine Stelle am Wendenburger Gymnasium frei wurde , bekam sie ihr Jugendfreund !
Der aber hielt sich weder bei " Ruhm " noch " Beförderung " auf , womit es Ursel damals so wichtig genommen , sondern legte es in ihre Hand , ob das , was er erreicht hatte , die Stufe sein durfte zu seinem eigentlichen Lebensglück .
Nun war es für Papa Dahland an der Zeit , noch einmal gründlich zu erschrecken ; seine Ursel , sein unentbehrliches Hausgeistchen , das er nie hergeben wollte , wurde ihm doch abverlangt !
Aber da es Wilhelm Trautmann war , der diese Kühnheit besaß , der gute treue Wilhelm , der auch jetzt so schöne Beweise von Tüchtigkeit gab und in weiteren Kreisen zu Ansehen gelangte , daß er ferner die liebe Ursel nicht in die Fremde entführen , sondern mit ihr in der Heimat bleiben wollte , das söhnte den Vater doch schnell mit der Sache aus , und es gab eine sehr fröhliche Verlobungsfeier .
Im Sommer konnte dann schon die Hochzeit stattfinden .
In einem Häuschen am Heckendorfe Weg mietete sich das junge Paar ein , und so war für die Lieben am Fürstenplatz wie für die Bewohner der Schloßgärtnerei die traulichste Nachbarschaft gesichert .
Nun sollte Frau Trautmann wieder durchaus ihre Tätigkeit aufgeben , und sie fügte sich insoweit , daß sie die Stellung der bezahlten Haushälterin nicht länger bekleiden wollte , weil Mariechen nun wirklich die ganze Leitung allein übernehmen , Herr Bauer also das bare Geld sparen oder für seine Söhne , die von Hause fern waren , verwenden konnte .
Herr Bauer bat aber treuherzig :
" Bleiben Sie doch bei uns , Frau Trautmann !
Was wollen Sie sich erst ' ne andere Wohnung suchen ?
Ich habe Platz genug , und Sie sollen es bequem haben .
Behalten Sie doch immer Ihre beiden Stuben und richten Sie auch eine für die Kammersängerin ein !
Oder - " unterbrach er mißtrauisch , " sollte die nun immer bei Doktor Trautmann wohnen wollen ? "
Das konnte Frau Trautmann freilich nicht genau sagen , aber Herr Bauer tröstete sich schon selbst mit der Meinung : " Hochmütig ist sie noch nie gewesen und wird es wohl auch nicht ! "
Und Frau Trautmann meinte gleichfalls , daß die kleine grüne Kolonie , in die sie einst traurig eingezogen war , in der sie in Abhängigkeit und mühevoller Arbeit mutig ihr Leben von vorn angefangen , von der aus dann das Schicksal ihrer Kinder sich so glücklich entwickelt hatte , daß dieser grüne Winkel auch Franzis Heimat bleiben solle ! 35. Kapitel .
In Ursels Heim Es ist wieder einmal die Zeit der blühenden Kastanien und - der Spargel !
Da ist auch Franzi wieder in Wendenburg eingerückt , früher als man zu hoffen wagte , und hat ihr altes Giebelstübchen bezogen , das noch immer Platz genug haben muß für die vielen hübschen Sachen , welche die junge Künstlerin umgeben .
Diese werden aber immer rasch weniger , wenn Franzi erst einige Tage da ist , denn sie kennt nichts Schöneres als Schenken .
Man muß sich hüten , etwas in ihrem Besitz hübsch zu finden , gleich ist sie geneigt , es wegzugeben !
Ganz besonders sehnte sie sich diesmal nach den Ihrigen , denn sie hat die Hochzeit des Bruders nicht mitmachen können , weil eine sehr ausgedehnte Konzerttournee sie monatelang entführte .
Ja , Franzi ist eine große Künstlerin geworden !
Die Ihrigen Müssens wohl glauben , denn es steht in allen Blättern zu lesen .
Sie scheint jetzt recht auf der Höhe , und ihre frische Schönheit und Gesundheit lassen niemand an ihre eigenen ernsten Worte , damals auf dem See , über die Vergänglichkeit solchen Künstlertums denken .
" Der friedliche Strand von Heckendorf ist noch weit ! " sagt Ursel und blickt die Freundin voll Bewunderung an .
" Für mich - ja !
Aber hier bei euch ist Friede , ist Glück , Ursel - du meine Schwester ! "
Es ist wieder wie immer : die Schwarzbraunen haben keine Ruhe , als bis sie zusammen sind , und noch immer können sie Schritt halten .
Das Temperament bleibt verschieden , aber sie gleichen sich wundervoll aus ; es ist noch immer ein " zu nettes Gespann " , wie Axel damals bei der ersten Bekanntschaft sagte .
" Frische Spargel gefällig , Frau Doktor ? " ruft eines Morgens eine schalkhafte Stimme durchs offene Fenster von Ursels Wohnzimmer , und draußen steht die Kammersängerin mit einem Körbchen :
" Selbst gestochen , Frau Doktor , zwei Pfund - zu je sechzig Pfennig , nicht zu vergessen ! "
Ursel nickt , aber sie lächelt so eigen dabei und legt den Finger an den Mund .
" Nun ? " fragt Franzi verwundert , " wer schläft denn noch bei euch ? "
" Ein müder Mann , " sagt Ursel , " komme herein , Franzi . "
Da steht im Wohnzimmer noch der Frühstückstisch , an den man um diese Zeit sonst bei Doktor Trautmann nicht mehr denkt ; und zwar ist er besonders festlich hergerichtet , freilich nur mit einem Kuvert , denn Ursel und Wilhelm , die Frühaufsteher , haben mit dem Kaffee nicht so lange warten können .
" Ich hole dir auch noch eine Tasse , " sagt Ursel und läuft hinaus .
Da öffnet sich auf der anderen Seite die Tür , und : " Axel !
Ach , Sie sind doch nicht krank ? " ruft Franzi in Bestürzung und Freude zugleich .
" Jetzt nicht mehr , Franzi , jetzt ist alles wieder gut . "
" Aber es scheint Sie arg gefaßt zu haben ! "
" O ja , diesmal - gelbes Fieber ist kein Spaß .
Aber nun überwind ich es schon . "
" O Axel , unser Wiking !
Wann sind Sie gekommen ? "
" Gestern abend spät . "
" Und die Doktorleute haben nicht einmal illuminiert , daß wir in der Gärtnerei das große Ereignis merken konnten ? "
" Niemand hat es bis jetzt gemerkt , Franzi ; es war mir gestern zu spät für die Eltern .
Mein Schwager geht eben hin , um Mama vorzubereiten -
denn ich bin ja nun einmal ihr Schmerzenskind , so daß ich sie nicht überrumpeln darf . "
" Mein Schwager , " wiederholt Franzi ; " freilich , wir sind ja jetzt verwandt .
Schwippschwägerschaft nennt man das ja wohl ? "
" Da stehen sie noch , " eifert Ursel , die jetzt den Kaffee hereinbringt .
" Franzi , laß ihn doch sitzen ! "
" Wir machen eben den Grad unserer Verwandtschaft aus , " sagt Axel .
" Das könnt ihr auch im Sitzen tun , hier - ich schenke euch Kaffee ein - trinkt und stoßt an » auf Du und Du « !
Das wäre das Gescheiteste ! "
" Hat sie recht ? " fragt Axel lächelnd und hält seine Tasse hin .
" Sie wird wohl , " ruft Franzi , " denn sie ist eine sehr rechthaberische Person geworden , die junge Frau . "
Sie stoßen an , Versuchens mit der neuen Anrede , versprechen sich ein paarmal - aber dann geht es sehr gut .
Jetzt kommt Wilhelm zurück und meldet :
" Die Eltern erwarten dich , Axel ; Mama wollte sofort mit mir hereilen , aber Papa litt es nicht .
Aber - Beine hat mir Mama gemacht - - auf ! " und Wilhelm sinkt erschöpft auf einen Stuhl .
Axel dagegen springt auf und macht sich fertig .
" Welche Seligkeit wird das wieder werden ! " sagt Franzi ihm nachschauend .
" Ursel , gegen die Söhne kommen wir Mädchen doch niemals auf ! "
" Nein , " sagt Ursel ernsthaft , " und die Frauen haben es nachher so schwer mit diesen verzogenen Söhnen , das kannst du glauben . "
Die Geschwister lachen die kluge junge Frau aus , aber sie bleibt dabei , das könne wirklich nur sie wissen !
In den nächsten Tagen sind die Bewohner der drei Häuser an der schönsten Ecke von Wendenburg fast unzertrennlich .
Ursel gibt ein Festmahl über das andere und die berühmten Spargel spielen dabei eine große Rolle .
Sie hat sich es auch flehentlich erbeten , Axel noch einige Zeit behalten zu dürfen .
" Denkt doch , es ist mein erster Gast , " sagt sie .
" Ihr sollt ihn auch so viel haben , wie ihr wollt , nur laßt mir seine Pflege noch ein Weilchen ! "
Die Freunde sehen einander an und lachen .
" Das sind die verzogenen Brüder der guten Schwestern ! " heißt es , aber Ursel bekommt ihren Willen .
Sind das interessante Unterhaltungen , die jetzt den Kreis beleben !
Die beiden Weitgereisten können es wirklich an Weltkenntnis miteinander aufnehmen .
Wenn Axel so gelegentlich von dem Krönungsfest des Vizekönigs von Indien und all der märchenhaften Glanz- und Prachtentfaltung dabei erzählt , wenn Franzi vom Hof der Königin von Rumänien spricht , wo sie einmal gesungen hat , oder von der Petersburger vornehmen Welt , in der deutsche Künstler so gut aufgenommen werden , wenn Axel wieder die Zustände in China schildert , oder die stille Erhabenheit des Landes der Mitternachtssonne - dann sagt wohl Ursel heimlich lachend zu ihrem Mann :
" Die prahlen gut gegeneinander auf , nicht wahr , du ? "
Und Wilhelm entgegnet ebenso heiter :
" Aber wir beneiden sie nicht , oder meinst du etwa doch ? "
" Nein , " beteuert Ursel .
" Wer weiß , wie bald ein Tag kommt , wo sie uns beneiden ! "
Und es zeigt sich , daß die sanfte Ursel wirklich eine rechthaberische Person geworden ist , wie Franzi sagt , oder vielmehr eine Rechtabende .
Eines Tages sprechen die beiden Jugendgefährten sehr ernst über ihr Leben und ihre Zukunft .
" Ich bin noch immer mit Lust und Liebe bei der Kunst , " sagt Franzi , " nur - "
" Nur ? " forscht Axel begierig , irgend welchen Schatten zu erfahren .
" Das Unstete , " bekennt sie , " das wird mir manchmal zu viel und das Äußerliche !
Ich wünsche oft , mein Auftreten könne ohne Gepränge geschehen , ich könne mehr » dem Vogel gleich , der in den Zweigen wohnet « meine Lieder singen . "
Das ist ein Wort nach Axels Sinn ; aber er forscht weiter :
" Doch angreifend sind diese ewigen Reisen und Aufregungen nicht für dich ? "
" Nein - ich fühle mich sehr gesund . "
" Der Himmel erhalte dir das , Franzi , du stehst recht auf der Höhe !
Während ich - " er wird etwas schwermütig - " schon an den Abstieg denken muß . "
" O Axel ! "
" Ja - es ist so .
Mein Gesundheitszustand wird sehr bald ein Hindernis sein , ich werde mich entschließen müssen , den Dienst zu quittieren .
Mit dem Admiral wird es nichts mehr ! -
Und wenn es so weit ist - dann baue ich mich in Heckendorf an . "
" Am friedlichen Strand !
Das war ja immer mein und Ursels Traum ! " ruft Franzi .
" Wir sagten uns , dort können nur glückliche Menschen wohnen . "
" Auch Gescheiterte mögen dort Frieden finden , " sagt Axel ernst .
" Aber was willst du dort tun ? " ruft Franzi , der sein Ton ans Herz greift .
" So ohne jede Beschäftigung hältst du das ja nicht aus ! "
" Nein , vielleicht gehe ich bei Meister Helm in die Lehre ; ich habe mich immer für die Bootbauerei interessiert , mich auch in Kiel und Wilhelmshaven viel auf den Schiffswerften herumgetrieben .
Dann kann ich dir ja einmal eine Segeljacht bauen , Franzi , auf der du deine Konzertreisen vollführst . "
Franzi schweigt , und Axel fährt fort :
" Oder ich kaufe mir ein Stück Land und lege Obstplantagen an , Gemüsezucht im großen - "
" Du , die Spargelbeete will ich dir anlegen helfen , " ruft Franzi nun lebhaft , " und wilde Rosen vom Rohrwerder kann ich dir okulieren , überhaupt - von Gärtnerei verstehe ich doch eigentlich mehr als du ! -
Wenn ich dann schließlich - wenn die Stimme dahin ist - auch mein Altenteil in Heckendorf baue , können wir ja dann gute Nachbarschaft halten . "
Es wird aber doch noch anders beschlossen !
Gebaut soll sogar jetzt schon werden , aber nur ein Haus , am friedlichen Strand von Heckendorf , " und , " sagt Axel , " daß es auch ein glücklicher Strand wird - dafür will meine gute Franzi sorgen ! "
Und ihre strahlenden Augen bestätigen dies vollauf .
36. Kapitel .
Noch einmal am Strand Nun , da Axel weiß , daß auch ihn " ein ruhiger Hafen nach stürmischer Fahrt " erwartet , kehrt ihm rasch die alte Lebensfreudigkeit zurück .
Obwohl ihm schon der nächste Tag seine Braut wieder entführt , die ihre Mitwirkung an einem Berliner Wohltätigkeitsfest zugesagt hat , vergißt er alles Trübe , was hinter ihm liegt und streift mit " Schwester Ursche " wie ein übermütiger Kadett durch die Gärten um Heckendorf .
Und seine freudige Stimmung teilt sich allen Verwandten mit ; nur eine zeigt sich von dieser Verlobung enttäuscht , und diese ist Elfchen .
" Du willst auch heiraten ? " sagt sie bedenklich zu Franzi , wie diese nach drei Tagen wieder heimkehrt , " das finde ich nun gar nicht nett .
Dein freies Künstlerleben , das schien mir am allerschönsten . "
" Ja , Fräulein Schwägerin , " meint Franzi lachend , " es war auch schön !
Aber wenn ich nun dächte , daß Ursels Leben doch noch beglückender ist ? "
Elfi schüttelt den Kopf .
" Ganz gewiß nicht ! " beteuert sie .
" Wilhelm ist zwar riesig nett und klug , aber Ursel muß doch entsetzlich viel kochen und nähen und flicken ; willst du das denn auch tun ? "
" Natürlich , ich will mich tüchtig plagen , " erklärt Franzi lachend , und Elfi bleibt beinahe der Mund offen vor Erstaunen .
Wie ein übermütiger Kadett streifte Axel mit Schwester Ursel durch den Park .
" Vor allem aber will ich Axel pflegen , " fährt Franzi fort .
" Findest du das nicht nötig ? "
" Ach , das könnte ja Mama tun ; die mag doch nichts lieber ! "
" Da hast du wohl recht ; aber mir will scheinen , als habe Mama genug mit Papa und euch Jüngsten zu tun . "
" Mich wird sie nicht mehr lange haben , " meint Elfchen wichtig .
" Du weißt doch , daß ich nach Berlin komme , um die Gymnasialkurse zu besuchen - ich hoffe es wenigstens !
Ach , Franzi , ich hatte mich so darauf gefreut , bei dir zu wohnen ! "
" Du kannst zu Fräulein Elsner gehen , Herzchen , und mein Zimmer nehmen .
Sie wird sich sehr freuen . "
Das leuchtet Elfchen ein , und auch die Eltern finden diesen Gedanken sehr gut ; denn das junge krausköpfige Elfenkind in eine fremde Damenpension zu geben , wie es damals mit Franzi geschehen mußte , dazu hätten sie sich schwer entschlossen .
Allmählich söhnt sich denn auch Elfchen mit der Verlobung aus , wenn sie auch gegen Ursel noch hin und wieder ihre Bedenken äußert .
Franzi , die vor Fürsten und berühmten Leuten gesungen hat und selbst eine junge Berühmtheit geworden ist , die will sich hier in ein stilles Landhaus in Heckendorf vergraben ?
Wird sie sich nicht langweilen ?
Wird sie sich nicht nach ihrer Kunst sehnen ?
Ähnliche Fragen hat Ursel in vertraulicher Stunde auch von ihrem Bruder Axel gehört ; doch sie weiß aus Franzis frischem Munde und warmem Herzen , wie man darauf antworten soll !
Nein , sie wird sich nicht langweilen , und sie braucht ja auch nicht von der Kunst zu scheiden ; der bleibt sie treu bis ans Lebensende .
Aber muß man darum die Kunst hauptsächlich vor fremden Menschen üben und treiben ?
Ist der Ruhm der Konzertsäle ihr letztes und höchstes Ziel ?
Franzi gesteht ehrlich :
Es hat sie beglückt und erhoben , wenn man ihr zujubelte und wenn sie selber fühlte , daß sie künstlerisch etwas leiste und mit großen und tüchtigen Leuten in die Schranken treten könne .
Aber es ist nicht das Letzte und Äußerste .
Immer wieder hat sie Gott gebeten , sie vor Eitelkeit und Ruhmsucht zu bewahren .
Allen Schmeicheleien will sie künftig nur so viel Wert beilegen , als der flüchtige Augenblick erlaubt , und nur das Urteil ihrer Lehrer , die Anerkennung ihrer Kunstgenossen sollen ihr wirklich hochstehen .
Und für wenige singen - für wenige , die sie kennen und lieben , wird es nicht das allerschönste sein ?
So manches in dieser Art sucht Ursel der kleinen Schwester zu erklären ; ja , sie deutet sogar im " tiefsten Vertrauen " ( worauf Elfi immer besonders stolz ist ) an , daß Bruder Axel am liebsten schon vor Jahren , damals nach dem Musikfest , sich mit Franzi verlobt hätte , aber nicht wagte , sie aus ihrer eben begonnenen Künstlerlaufbahn zu reißen und an sein unruhiges Leben zu binden .
" Das war edel ! " ruft Elfchen feurig , und nun bekommt das Brautpaar einen neuen Charakter für sie , so ein wenig von Romantik .
Es ist richtig , wie Schwester Ursel behauptete , ohne Illusionen gehe es bei Elfchen nicht ab .
So sieht sie denn das Paar mit gnädigeren Augen an , und dieses behauptet scherzend , nur das habe noch zu seinem Glück gefehlt .
Jetzt gibt es natürlich ein eifriges Plänemachen hin und her .
Mama möchte am liebsten , daß sich am Heckendorfe Strand ein von unsichtbaren Mächten gebautes Haus erhöbe , in dem sie ihren Axel lieber heute als morgen bergen könnte .
Sie meint , ihn nun wirklich keinen Tag mehr missen zu können .
Sie ist ja eine " alte Frau " , wer weiß - -
Bei solchen Seufzern wird sie freilich weidlich ausgelacht , die liebe " alte Frau " , auch setzt ihr Axel dann liebevoll auseinander , daß alles nicht so schnell gehen könne .
Er muß jetzt nach Kiel zurück , und wenn er auch sein Abschiedsgesuch gleich einreicht , so wird doch noch einige Zeit vergehen , bis alles geklärt und erledigt ist .
Leicht wird ihm der Abschied von seinem Beruf nicht , und doch freut er sich seines Hafens !
Ein Grundstück in Heckendorf ist glücklicherweise gerade käuflich , der Vertrag wird in diesen Tagen abgeschlossen , dann werden Pläne gezeichnet , verworfen und wieder neu gemacht , endlich das Ganze einem Baumeister übergeben , damit baldigst angefangen werde und die schönen Sommermonate noch dem Bau zu gute kommen .
Dann reist Axel nach Kiel zurück , und auch Franzi denkt daran , daß sie noch einige Verpflichtungen in Berlin hat .
Mehrere Konzerte sind noch angesetzt , soll sie diese absagen ?
Sie könnte es wohl ; aber Axel hat es ihr völlig freigestellt , zu handeln , wie sie für gut findet .
Er hofft sogar , wenn er bis dahin in Kiel alles abgewickelt hat , nach Berlin kommen zu können und sie einmal noch im Konzertsaal zu hören .
Aber noch ist es nicht so weit .
Im Sommer schweigt ja mehr oder weniger die Konzertmusik .
Franzi sieht also ein paar ruhige Wochen in Wendenburg vor sich , die sie zu allen möglichen praktischen Vorbereitungen benutzen will .
Die Freundinnen - nein , die Schwestern kann man ja jetzt von den beiden Schwarzbraunen sagen - sitzen nun wieder viel zusammen , nähend und stickend , und Mama Dahland klagt , daß ihr die beiden in diesen Aussteuerangelegenheiten zu selbständig und geschickt sind , daß sie beinahe nichts zu " bemuttern " findet .
" Aber von wem haben wir_es gelernt ? " wird sie dann schelmisch gefragt , und man erinnert an die erste Ausstattung für Franzi , an der sie sich damals so liebevoll beteiligte .
Mutter Trautmanns Augen vertragen jetzt nicht mehr viel ; sie muß sich drein ergeben , nur noch für die Kinder zu stricken .
Herr Bauer aber reibt sich manches Mal die Hände und schmunzelt :
" Ist doch gut , Frau Trautmann , daß die Kammersängerin hier im Hause erst was Reelles gelernt und getan hat , ehe die Kunst an die Reihe kam .
Später lernt sich das andere verflixt schwer .
Und es muß doch sein für jede Frau , ob sie nun heiratet oder nicht ! "
Frau Trautmann gibt ihm lächelnd recht und schaut sinnend ins Grün .
Ihr ist so wohl und friedlich zu Mut , so recht nach sonnigem Lebensabend .
Mama Dahland ist nicht völlig so ruhig .
Papa hat es ihr schon öfter mit liebevollem Ernst vorgehalten , daß sie sich das " Sorgen angewöhnt " habe .
" So warst du früher nicht , " meint er , " bei Krankheiten , bei Trennungen warst du immer mutig .
Auch als unsere Älteste in das fremde Land ging , hat man dir es nicht angemerkt , ob es dir schwer wurde . "
" Wirklich nicht ? " fragt Mama leise und ein wenig bedrückt .
" Nun warte nur , ich werde wieder vollkommen ruhig , wenn das Haus in Heckendorf fertig und bewohnt ist . "
" Also dann erst ?
Ist dir auch Kiel gewissermaßen noch ein Ort mit schwankendem Boden ? " neckt Papa .
Mama schweigt .
Sie weiß , daß Axel noch eine Fahrt mitmachen will , die letzte als aktiver Offizier , nur bis England ; eine kleine einfache Spritztour , wie alle sagen , dazu in so günstiger Jahreszeit , noch vor den Herbststürmen .
Was ist da zu fürchten ?
Sie soll es eigentlich nicht wissen , auf welche Tage diese Reise fällt , - aber es ist wunderbar :
ihr ist nichts zu verbergen in dieser Beziehung !
Sie weiß doch immer alles , was Axel betrifft .
An einem Nachmittag in der Woche , wo das Schiff abgegangen sein muß , sitzt sie bei Ursel im Vorgärtchen .
Es ist warm und still , aber eine merkwürdig trübe Luft .
Frau Trautmann , die auch mit ihrem Strickzeug gekommen ist , klagt , daß sie heute gar zu schlecht sehen kann .
Franzi ist nicht da , sondern mit Papa Dahland unterwegs , um den Bau in Heckendorf zu besichtigen .
Auch sie , die beiden rüstigen Fußgänger , finden es ungewöhnlich drückend und still , und wie sie zwischen den Gärten heraus an den See kommen , wundern sie sich , daß vom " lieblichen Strand " drüben keine Spur zu sehen ist .
" Wie sonderbar , daß die Nebel schon steigen , " bemerkt Franzi .
" Es ist doch noch früh am Tage . "
Papa schaut sich forschend um .
" Das sind auch keine Abendnebel , " erwiderte er .
" Ich habe schon ein paarmal solche Erscheinung beobachtet .
Einmal drüben , am großen Wendenholz , da verdunkelte sich am hellen Tag die Luft , und wie Rauchstreifen zog es über den See .
Noch ärger sah ich es in der alten Schwedenstadt - die ja dem Meer so viel näher - "
Er hält inne , denn Franzis Hand zuckt auf seinem Arm .
" Du meinst - daß es - Seenebel ist , der sich bis hierher erstreckt ? "
" Ruhig , ruhig , Töchterchen , ich meine nichts !
Wir sind noch ziemlich weit von der See und gar vom Kanal , wo Axel schon schwimmen muß .
Dort kann der schönste blaue Himmel sein . "
" Es kann sein , " sagt Franzi und nimmt sich mächtig zusammen ; aber wie sie dann bald darauf die Baustelle in Heckendorf erreichen , will ihr das froh verständige Reden mit den Leuten nicht wie sonst gelingen .
Sie sprechen schon vom Richtfest , aber Franzi hört kaum hin , sondern ertappt sich plötzlich bei dem Stoßgebet :
" Lieber Gott , laß uns noch glücklich einziehen ! "
Wie sie zu Hause wieder anlangen , finden sie Mama sehr elend .
Ursel sucht sie zu bewegen , daß sie sich niederlege , aber vergebens .
Sie war vom Garten aus den schmalen Wiesenweg bis an den See gegangen und hatte den Nebel über dem Wasser gesehen ; nun kann sie ihre Angstvorstellungen nicht mehr bezähmen .
Zu oft hat sie Axel sagen hören , daß nicht Sturm der schlimmste Feind der Seeleute sei , sondern Nebel .
Und Nebel im Kanal - sie weiß wohl , was das bedeutet !
Ruhelos wandert sie hin und her , schweigend und tränenlos , aber von niemand zu beeinflussen .
Franzi wandert mit ihr und versucht alles , sie zu beruhigen , aber Mama antwortet nur :
" Sei du in Zukunft tapferer als ich , mein Kind , du wirst es brauchen . "
Da denkt auch Franzi an jene Verse , die Axel vor Jahren so kühn deklamierte , und von der ganzen schönen " Seefahrt " bleibt ihr nichts im Sinn als die Stelle : " Ach , warum ist er nicht hier geblieben ! "
Sie stehen wieder gerade am Fenster und suchen die Sonne , ob sie vor Untergang nicht noch einmal zum Vorschein kommen will , da kommen gerade die Brüder Robert und Bertram aufs Haus zu , eilig und mit ernsten Gesichtern .
" Die wissen etwas ! " sagt Mama bestimmt und sie hat recht .
In der Expedition der Zeitung ist ein Extrablatt ausgehängt , das ein schweres Schiffsunglück anzeigt .
Im dichten Nebel sind im Kanal zwei Schiffe aufeinander gestoßen , ein holländisches und ein deutsches .
Der Holländer ist dem Deutschen in die Flanke gerannt - es sinkt bereits .
Es ist die Korvette " Seeadler " .
Die deutsche Marine wird ein stolzes Schiff verlieren , wenn auch die Mannschaft mit Todesverachtung arbeitet , es zu retten .
Verluste an Menschenleben sind noch nicht zu melden .
Das Letzte hört Mama noch , dann sinkt sie in eine wohltätige Ohnmacht ; Franzi aber lernt nun mit einem Male , was es heißt , eine Seemannsbraut zu sein .
In heißer Angst lernt sie es .
Fünf Tage später ist Axel bei den Seinen , todmüde von der ungeheuren Anstrengung , aber unverletzt .
Das schöne Schiff ist verloren , und schwer lasten noch die Eindrücke des furchtbaren Kampfes auf ihm .
Ihn trifft zwar kein Vorwurf , keine Verantwortung ; er hat das Schiff nicht geführt , und wenn auch - es trifft niemand eine Schuld .
Es ist eine traurige Schickung .
Alle möchten recht viele Einzelheiten von Axel hören , Mama allein wehrt und bittet : " Laßt ihn doch erst zur Ruhe kommen ! "
Und auch Franzi meint , es habe Zeit genug , den Hergang zu erfahren :
Axel müsse vor allem tüchtig ausruhen .
Und sie haben beide recht , daß keinerlei Anforderungen an ihn gestellt werden dürfen ; das zeigt sich bald .
Eine ernste Krankheit streckt ihren lieben blonden Wiking auf das Lager .
Seine ohnehin so sehr geschwächte Gesundheit , die sich während der Sommerwochen in Ursels Heim kaum ein wenig erfrischt hatte , war den Strapazen dieser Katastrophe nicht gewachsen ; ein schweres Nervenfieber kommt jetzt zum Ausbruch .
Das wird eine bange , sorgenvolle Zeit , ein schmerzlicher Gegensatz zu jenen fröhlichen Tagen , die seiner vorigen Heimkehr gefolgt waren .
Wenn er dies nur überwindet , dann keine " Ausfahrt " und keine " Heimkehr " mehr !
Dann bleiben sie zusammen , alle , die so innig aneinander hängen , und das Leben wird noch einmal schön .
Wird es ?
Will der Himmel es zulassen ?
Lange schwankt es auf und nieder , das Schifflein der Hoffnung kämpft auch einen schweren Kampf , aber endlich glättet sich die Flut :
Axel ist genesen .
" Ich muß wohl leben , " sagt er mit dankbarem Lächeln , " wenn so viele liebe Hände mich halten . "
" Freilich mußt du ! " entgegnet Franzi und schluckt tapfer die Tränen hinunter .
" Unser Haus ist bereits unter Dach ; das wartet auf seinen Herrn !
Also darf der nicht fahnenflüchtig werden ! " 37. Kapitel .
Dem Hafen zu Eine lange Zeit vergeht aber doch , bis Axel wieder einigermaßen zu Kräften kommt .
Sie sehen es jetzt alle :
Er war noch viel mehr , als er je eingestand , erschöpft gewesen , ehe dies Letzte kam .
Ein Glück , daß sein Abschiedsgesuch nun schon bestätigt und er von dem anstrengenden Beruf ganz frei ist .
Sie sind alle so froh und möchten es ihm auf jede Weise zeigen , wie glücklich sie sind , ihn daheim zu haben und zu behalten .
Aber Axel bleibt doch etwas melancholisch , und schließlich kommt es heraus , was ihn bedrückt :
er macht sich Gewissensbisse , Franzi , die Gesunde , Blühende , mit allen Kräften im Leben Stehende , an sein - Invalidendasein , wie er es traurig nennt , zu binden .
Er wollte ihr sogar ihr Wort zurückgeben !
Was Franzi da antwortete , hat niemand genau erfahren ; aber es muß wohl so freudig gewesen sein , daß auch der letzte Schatten von Axel weicht und er wieder mutig anfängt , Pläne zu machen .
Alle fühlen es , daß diese letzte Aussprache in der Luft lag ; alle atmen auf , wie sie das Ergebnis sehen , wenn auch wohl niemand zweifelte , daß Franzi anders handeln könne , als wie sie tat .
Wer sie am besten in diesen Tagen versteht , und mit wem das Brautpaar die innigsten Auseinandersetzungen hat , das ist Mutter Trautmann .
Mit Rührung gedenkt diese ihrer eigenen schmerzvollen Erfahrungen , als sie ihr den jungen stattlichen Verlobten zum Krüppel schossen !
Und sie erzählt den Kindern von den Kämpfen , die sie damals durchgemacht , und von der Treue , die ihnen zum Sieg verhalf .
Es wird nun beschlossen , daß die Hochzeit des Paares schon jetzt in aller Stille gefeiert werden soll und daß die beiden dann einen Winteraufenthalt im Süden nehmen , um Axels Gesundheit so viel wie möglich zu kräftigen .
Die jungen Geschwister finden es zwar schrecklich , daß es nun eine Hochzeit ohne Sang und Klang werden soll - Robert und Bertram wollten sich noch einmal recht als lustige Vagabunden zeigen und Elfchen als Student - aber sie müssen sich alle drein ergeben und werden damit vertröstet , im Frühling zur Hauseinweihung ihre Künste zeigen zu dürfen .
Wegen der nicht fertigen Aussteuer tut Ursel eine Art Gelübde , daß sie im Lauf des Winters alles bis auf den " kleinsten Wischlappen " fertig stellen wird , und den Bau , nun , den nimmt Papa Dahland unter seinen besonderen Schutz .
Vierzehn Tage vor der Hochzeit trennt sich Franzi noch einmal aus dem lieben Familienkreise und kehrt in ihr kleines Künstlerheim in Berlin zurück .
Die drei Konzerte , die für September in Berlin und Hamburg angesetzt sind , sollen nicht ausfallen .
Sie weiß , daß der Ertrag derselben ihnen für den Aufenthalt im Süden gut zu statten kommt .
In ihrer Begleitung reist Elfchen , die sie ihrer alten Freundin Elsner zuführen will und damit zugleich dem neuen " wissenschaftlichen Leben " , wie Elfi sagt .
Zur Hochzeit soll sie auf ein paar Tage zurückkommen .
Elfi ist denn auch die Berichterstatterin für die Familie über Franzis Konzerte , und sie spart nicht mit begeisterten Ausdrücken .
" Franzi hat über alle Maßen schön gesungen , " schreibt sie .
" Die Menschen waren aber auch ganz toll !
Ich glaube nicht , daß ein Herz ungerührt geblieben ist .
Es steht auch in der Zeitung , daß man Fräulein Trautmann noch niemals so auf der Höhe ihrer Kunst sah , und daß es ein wahrer Jammer sei , daß diese begnadete Sängerin sich schon jetzt ins Privatleben zurückziehen wolle .
Ja , ja , Axel , niemand wird sie Dir gönnen , das schreibe Dir nur recht hinters Ohr und trage Herrn Bauers Kammersängerin hübsch auf Händen , daß sie Dir nicht davonläuft . "
Bei dieser Briefstelle wird Axel wieder etwas erregt , aber Ursel tröstet : " Elfi ist ein dummes Mädel , du mußt dich wirklich an Mama und mich , an uns alte Frauen halten !
Wir wissen es besser .
Und wir kennen doch unsere Franzi . "
Ja , sie kennen sie wohl .
Die jetzt von ihren neuen großen Erfolgen heimkehrt , ist immer dieselbe für die Ihrigen , und mehr als je fühlen alle , wie fest sie seit lange auch zur Dahlandschen Familie gehört .
Zwei Gäste sind aber doch zu der stillen Hochzeit gekommen :
Fräulein Elsner und Komteß Léontine Wehrburg .
Letztere hat sich einfach angemeldet , und man ist allgemein recht gespannt auf sie .
Franzi hat sie mit Axel vom Bahnhof geholt , und die Bekanntschaft der Kindheitsgefährtin mit Franzis Verlobten geschah in großer Lebhaftigkeit .
Nun aber stehen sich Ursula und Léontine zum ersten Male gegenüber , und die Neugier , das gespannte Forschen in beiden Gesichtern ist für die Zuschauer höchst ergötzlich .
Tausendmal haben sie voneinander gehört , manche Photographie gesehen , manchen Brief gelesen , und doch ist die Wirklichkeit nun so völlig anders !
Ursula ist nicht das schüchterne , kindliche Geschöpfchen mehr , sondern eine stattliche junge Frau mit einer unbewußten sanften Würde , und Léontine erinnert kaum noch an den eckigen Backfisch mit dem quecksilbrigen Wesen , den unberechenbaren Stimmungen .
Sie ist eine kräftige blühende Erscheinung , der man die Landdame ansieht , die Züge nicht gerade hübsch , aber interessant und lebensvoll .
Nach einem kurzen Augenblick des Anschauens streckt sie beide Hände aus und sagt : " Frau Ursula , wir waren geborene Feinde , aber schließlich - die gleiche Zuneigung überwindet alles . "
Damit küßt sie die junge Frau auf beide Wangen , und diese , die eigentlich eine kleine feierliche Begrüßungsrede im eigenen Hause halten wollte , weiß vor Überraschung nichts weiter zu tun als das Komteßchen wieder zu küssen ; damit ist alle Befangenheit geschwunden , und Léontine fügt sich schnell und leicht dem neuen großen Kreise ein .
Daß sie von anderer Art ist als alle Dahlands und Trautmanns , läßt sich freilich nicht verkennen ; aber diese Art ist auch eine tüchtige , wie Franzi und Fräulein Elsner , die ihre Tini noch ganz anders in Erinnerung haben , mit inniger Freude bemerken .
Die Luft des Wehrburger Hauses hat sie gesund gemacht , und sie hängt mit der größten Liebe an den dortigen Verwandten , die sie völlig wie eine Tochter halten .
" Du siehst , Franzi , " sagt sie lachend zu dieser , " ich habe nun weder Lehrerin , noch Stütze , noch Jungfer zu werden brauchen , und doch verdiene ich mir mein Brot .
Onkel sagt jedesmal , wenn er mir mein Taschengeld gibt :
» Nun , für welchen neuen Posten kannst du jetzt wieder Gehaltsaufbesserung verlangen ?
Denn du herrschsüchtiges Mädel mischst dich ja in alles ! «
Freilich bin ich ein bißchen herrschsüchtig , aber sie meinen doch , daß sie sich alle recht wohl dabei befinden . "
" Auch die Vettern ? "
" Auch die !
In unserem » Männerstaat « , wie Tante Adelheid immer sagt , tut etwas weibliches Regiment sehr gut . "
" Wer spricht von weiblichem Regiment ? " fragt Axel herzutretend .
" Ich , Herr Kapitänleutnant !
Sie finden das wohl ein gefährliches Thema am Tage vor der Hochzeit ? " neckte sie .
" Allerdings !
Aber was soll ich dagegen machen , ich armer Invalide ? "
So nennt er sich selbst jetzt oft in seiner Neigung zur Selbstquälerei , aber sie finden das alle sehr übertrieben .
Wie er mit Franzi an den Altar tritt , ist doch noch viel von dem blonden Wiking an ihm , wie Mama im stillen glücklich feststellt .
Franzi aber in ihrer frischen kraftvollen Schönheit , mit dem warmen Leuchten in den dunklen Augen , sieht aus wie das verkörperte Leben selbst , das auch für Leid und Ungemach gewappnet ist .
Nun zieht das Paar gen Süden , und viele glückliche Briefe fliegen von der Riviera nach Norden ; auch besteht zwischen den beiden Familienhäusern ein beständiger Austausch dieser Nachrichten .
Im folgenden Winter lebt nach langer Zeit wieder einmal Inge als Gast im Vaterhause , und ihre Gegenwart ist für Mama die beste Ablenkung von sorgenden Gedanken um Axel .
Inge ist noch immer sehr schön , stattlich und sicher , letzteres aber nur so viel , als gut und richtig ist für eine Frau , besonders für eine solche , die einem großen Hauswesen vorsteht .
Von dem Übermut aber und der persönlichen Eitelkeit ihrer früheren Mädchenjahre ist nichts mehr zu spüren .
" Ich habe einen gar strengen Gebieter , " sagt sie eines Tages scherzend zu Ursula .
" So verwöhnt und verzogen wie du werde ich niemals . "
" Werde ich verwöhnt ? " fragte Ursula erschrocken .
" Aber sehr , mein Klingen ! "
" Ach , wirklich , Inge ? "
" Ja , ja , aber es schadet nichts .
Du brauchst das , mein Herz ; dein schüchternes liebes Ich käme sonst nie ganz zum Vorschein .
Mich freut nur , daß Wilhelm , der ein so großer Pädagoge ist - "
" Nun , Frau Schwägerin , was hat der große Pädagoge verschuldet ? " unterbricht hier Doktor Wilhelm , der aus dem Nebenzimmer eintritt .
" Er hat seine Frau in Grund und Boden verdorben , " sagt Ursel mit so kläglicher , reumütiger Miene , daß alle in herzliches Gelächter ausbrechen , bis jeder einzelne seine Meinung sagen muß , ob es sich so verhalte , und Papa mit dem Gutachten schließt , daß man mit einiger Mühe und bei recht heller Laterne wohl noch ein gutes Haar an dem schwarzbraunen Schopf der kleinen Frau finden könne !
Und so ist es immer sehr heiter und gemütlich in Ursels Heim , besonders nach Weihnachten , wo der Kreis durch ein lebendiges Weihnachtspüppchen noch vergrößert wird , ein ebenso schwarzbraunes Mägdlein wie seine Mama , das gerade am Heiligabend seinen Einzug im Doktorhäuschen hielt .
Mit Rosen von der Riviera wird es am Tauftag geschmückt , und Franzi schreibt dazu :
" Alle Deine Feste feierst Du , geliebte Schwesterseele , wenn ich fern bin !
Wie schwer wird es mir heute , nicht dabei zu sein und das kleine Bündelchen über das Taufbecken zu halten !
Wäre ich noch der leichtbeschwingte Sing- und Wandervogel , ich breitete heute , glaube ich , meine Flügel aus und ließe den blühenden Süden zurück für ein winterliches Land und ein gemütliches Stübchen .
Aber eine gute Frau bleibt , wo sie hingehört , das weißt Du am besten .
Und meinem lieben Axel würde ein solches Davonfliegen um diese Jahreszeit schlecht bekommen .
Das ist es ja gerade , was seine Gesundheit früher so angriff , der allzu häufige und rasche Klimawechsel .
Jetzt tut diese stetige milde Temperatur Wunder .
Mama wird entzückt sein , wenn sie ihn sieht - er wird der alte stramme Wiking wieder !
Aber warten muß Mama noch ein wenig ; vor Mai dürfen wir nicht kommen .
Axel meint auch , jetzt sei er wohl endlich ersetzt und entthront ; wenn ein Enkelchen da sei , träten immer die Söhne zurück .
Ist es so , Mama ? "
Immer muß sie sich viel Neckerei gefallen lassen , die liebste Mama , wenn es ihren Ältesten betrifft ; aber sie erträgt es sehr liebenswürdig .
Ob sie aber die ist , die das Enkelchen am meisten verhätschelt , bleibt eine große Frage ; denn Papa Dahland hat noch nie so oft den Weg vom Fürstenplatz nach dem Heckendorfe Weg gemacht wie jetzt , und manches Mal treffen sich beide Großeltern unverhofft in Ursels Wohnstube .
Darüber vergeht der Winter , und allmählich sproßt wieder das erste Grün im Schloßgarten und auf allen lieben Wegen .
In Heckendorf steht das neue Haus fix und fertig , mit Sorgfalt und Bedacht gebaut , und nach Möglichkeit ausgetrocknet , so daß es jeden Tag bezogen werden kann .
Da schreiben endlich die Reisenden , daß sie auf dem Rückwege sind und sich langsam der Heimat nähern .
Nun erwacht in Ursel , der allzeit Bescheidenen , häuslich Zufriedenen , plötzlich ein nie empfundenes Reisegelüst , und sie legt Wilhelm einen Plan vor , der diesen hoch aufhorchen läßt .
Die beiden haben keine Hochzeitsreise gemacht ; es paßte damals nicht gut mit der Zeit und lag auch ihrem bescheidenen Sinn fern .
Wilhelm war zu glücklich , eine feste , einträgliche Anstellung zu haben , die ihm erlaubte , eine Häuslichkeit zu gründen , und Ursula wieder erschien dieses Heim so reizend und beglückend , daß sie meinte , nicht noch mehr verlangen zu dürfen .
Die schöne fremde Welt sparten sie sich gern noch auf .
Aber jetzt - wie wäre_es , wenn sie den Geschwistern entgegenreisten ?
Gerade um Pfingsten , wo Wilhelm doch Ferien hat ?
Wenn man sich in Heidelberg träfe ?
Heidelberg , das von jeher Wilhelms Sehnsucht war , das er nicht kennen lernte , weil er nur in norddeutschen Universitäten studieren durfte ?
Ja , das ist ein köstlicher Plan !
Und Wilhelm ist umso leichter dafür gewonnen , als er in diesem Winter eine gute Extraeinnahme hatte durch populärwissenschaftliche Vorträge , die sich eines regen Zuspruchs erfreuten .
Die hübsche Summe sollte zwar eigentlich der kleinen " Alexandra " gehören , wie sie anfangs beschlossen , aber - " braucht so ein zartes Wiegenkind jetzt schon ein Kapital ? " fragen sie sich zweifelnd , und : " Nä , näh ! " schallt es hinter der grünseidenen Gardine hervor .
Beide Eltern lachen fröhlich , aber dann kommt die bedenklichere Frage :
Was wird aus Baby Alexandra , wenn sie auf Reisen gehen wollen ?
Nun , die Großeltern sind ja da , die lieben guten , die nur zu gern das Wägenchen mit den grünseidenen Gardinen bei sich aufnehmen werden .
Aber da zeigt es sich einmal , daß man sich selbst in Großeltern verrechnen und täuschen kann !
Wie Ursel und Wilhelm fröhlich und vertraulich mit ihrem Plan herausrücken , den Geschwistern zu Pfingsten bis Heidelberg entgegenzureisen , und zugleich die Bitte daran knüpfen , daß Großmama sich klein Alexandras annehme , will diese auf einmal weder von Großmutterwürde noch von häuslichem Einhüten etwas wissen .
Sie will vielmehr auch mit nach Heidelberg , gewiß !
Sie und Papa !
Sind es nicht mehr als zwanzig Jahre her , daß sie zusammen eine größere Reise machten ?
Immer unterblieb es , der Kinder , des großen Haushalts und der Kosten wegen .
Jetzt aber geht es !
Mama fühlt das genau , und Papa , der ihr strahlendes verjüngtes Antlitz mit größter Freude sieht , sagt ohne weiteres :
" Natürlich reisen wir ! "
Um das Enkelchen braucht man trotzdem nicht bange zu sein ; es ist ja noch eine Großmutter da , die es mit tausend Freuden in ihre Obhut nimmt , die auch die " Vagabunden " , die nun schon recht gesetzten Obersekundaner gern ein wenig bemuttert , wenn es nottut .
Nun geht es an Reisevorbereitungen jeglicher Art. Koffer und Taschen werden nachgesehen , Papas Fernglas gereinigt , Schuhzeug und Garderobe geprüft und ergänzt , Touristenschirme gekauft , und endlich verschaut sich Ursel - zum ersten Male ! - in einen neuen Hut !
Einen Reisehut mit blauem Schleier , den Papa ihr auch sofort großmütig kauft und der ihr allerliebst steht .
Zum ersten Male auch lernt Ursel im Kursbuch , das sonst sieben Siegel für sie besaß , Bescheid und stellt die ganze Reiseroute zusammen .
Über Kassel und Frankfurt am Main wird es gehen , und Ursel , die Gründliche , prüft sich ernstlich , ob sie von diesen Städten , denen Papa auch einen Aufenthalt zugedacht hat , genügend weiß , um dort mit Genuß und Verständnis Umschau halten zu können .
Axel und Franzi haben geschrieben , daß sie am Donnerstag nach Pfingsten in Heidelberg eintreffen wollen und vier bis fünf Tage da zu bleiben gedenken .
Also fahren die Wendenburger am Tage nach Pfingsten früh ab , um ja zur rechten Zeit in der lieblichen Neckarstadt zu sein und die Heimkehrenden mit ihrem Empfang zu überraschen .
Denn diese ahnen nichts von dem Unternehmen ihrer Lieben .
Ein etwas bewölkter , aber frischer Frühlingsmorgen ist es , an dem das alte und das junge Paar sich aufmachen .
Für die Reise das angenehmste Wetter , und was die Stimmung anbetrifft , so gibt es da kein einziges Wölkchen .
Jeder der vier Reisenden hat seinen besonders freudigen Gesichtspunkt , von dem aus er die Fahrt betrachtet .
Papa wird sein altes , vielgeliebtes Heidelberg wiedersehen , in dem er studierte und die schönste Zeit seiner Jugend verlebte .
Mama wird ihre Kinder eine Woche früher in die Arme schließen und dann beruhigten Herzens auch die schöne Gegend genießen können , von der Papa zeitlebens schwärmte .
Ursel , die ja durch ihre Besuche bei Ingeborg schon einiges von der Welt kennt , reist doch zum ersten Male mit ihrem Mann zusammen , und Wilhelm - ja , der reist überhaupt zum ersten Male !
Seine Jugend ist voller Entbehrungen gewesen , seine Studien hat er mit Mühe und äußerster Einschränkung möglich gemacht - zu Reisen war nie etwas vorhanden .
Und dabei - es scheint Ursel wieder aufs höchste bewundernswert - weiß Wilhelm am allerbesten Bescheid !
Jede Gegend , die sie durchfliegen , weiß er genau zu bezeichnen , von jedem Fluß und Wasserlauf weiß er , woher und wohin .
In den Städten , wo sie kürzeren oder längeren Aufenthalt nehmen , findet sich Wilhelm am schnellsten zurecht , in den Schlössern und Kunstsammlungen zeigen sich wieder seine gründlichen historischen Kenntnisse und sein feiner Kunstgeschmack , womit er Ursel immer aufs neue imponiert .
Hochinteressant sind diese Reisetage , aber in Frankfurt am Main schläft Mama Dahland doch mit dem freudigen Gedanken ein , daß nun nichts Neues , nichts Interessantes , nichts Wichtiges in fremden Städten mehr vor ihr liegt , daß nur eine einzige Nacht sie noch trennt von dem Wiedersehen mit den teuren Heimkehrenden .
Am nächsten Tage , am Ziel angekommen , begeben sie sich sogleich zum " Alten Ritter " , dem ältesten Hause Heidelbergs , wo sie wissen , daß Axel und Franzi Quartier nehmen wollen , und die erste Frage an den herbeieilenden Oberkellner lautet :
" Ist Korvettenkapitän Dahland vielleicht schon angekommen ? "
" Jawohl , mein Herr !
Die Herrschaften sind Vormittag eingetroffen , haben gespeist und sind jetzt zum Schloß hinauf . "
" So gehen wir auch gleich hinauf , " drängt Mama , der es gar nicht recht ist , daß die Kinder doch vor ihr angekommen sind .
Papa sagt aber bestimmt :
" Erst wird gegessen und ein wenig geruht !
Die beiden treffen wir noch immer ; von da oben steigt man fürs erste nicht wieder zu Tal ! "
So geschieht es , und endlich gegen halb fünf Uhr sind sie auf dem Wege zum Schloß .
Zum ersten Male im Leben benutzt Ursel eine Drahtseilbahn , und ihr ist nicht ganz wohl , wie sie dieselbe wieder verläßt ; aber dann wird das Schwindelgefühl doch bald vergessen , wie sich die Ruine des Schlosses zeigt , rötlich leuchtend auf dem grünen Waldhintergrund .
Und nun nimmt der Schloßhof sie auf und in tiefem Schweigen lassen alle den unvergleichlichen Eindruck auf sich wirken .
Das ist schöner , als jeder von ihnen auch im Traum sich hat vorstellen können .
Selbst Papa , der doch ein ersehntes Wiedersehen feiert , kann sich nicht besinnen , daß ihm in den glückseligen Studententagen das Bild je so schön erschien wie heute .
Im Anblick der Heidelberger Schloßruine .
Dort der " Friedrichsbau " , dem man freilich die Erneuerung ansieht , der " gläserne Saalbau " mit der Loggia , hier der entzückende Erker am " Bibliothekbau " , von dichtem Grün umwuchert - überall der blühende Holunder , der fast betäubend duftet , und Vogelstimmen ringsum , so laut jubilierend , als sei das gefiederte Volk das einzig herrschende Geschlecht in dieser Burg .
Sonst ist alles so still , kein Schwarm von Reisenden stört die köstliche Einsamkeit .
Wunderbar , fast rosenfarben leuchtet gerade der " Otto-Heinrichsbau " gegen den blauen Himmel , der wie lichtes Glas auch in den edelgeformten leeren Fensterrahmen liegt , da - läßt ein Ton sie aufhorchen .
" Draußen ist es still und friedlich , Alle sind ins Tal gezogen , Waldesvögel einsam singen In den leeren Fensterbogen ... " singt eine schöne , ach , so bekannte Stimme , und in einem der " leeren Fensterbogen " flattert plötzlich ein blauer Schleier ; es ist etwas anderes als ein " Waldesvogel " , was da singt .
Ausgestreckte Arme fliegen in die Höhe , ein Rufen und Jauchzen - dann ein Poltern drinnen in den Ruinen .
Schneller , als dem Führer lieb ist , steigen die zuerst gekommenen Fremden in den Schloßhof , und hier , an einem der herrlichsten Orte Deutschlands , wird nun ein köstliches Wiedersehen gefeiert .
Dann sitzen sie zusammen auf dem breiten Schloßaltan und schauen in das liebliche Tal ; sie wissen nicht , wo anfangen mit Fragen und Erzählen , fallen immer wieder in ein glückliches Schweigen und Anschauen ; sie wandern endlich durch den wundervollen Park der " Terrasse " , besuchen Scheffel und Goethe , denen man hier Denkmal und Verstafel gewidmet , und kommen erst in eine alltäglich menschliche Stimmung zurück , wie sie in der " Schloßwirtschaft " einkehren und sich eingestehen , daß sie " doch ein klein wenig Hunger und Durst haben " .
Dabei lösen sich denn die Zungen auch anders , und ein lebhaftes Erzählen hebt an .
Axel sieht außerordentlich gekräftigt aus , Mama bestätigt es mit Wonne , und Franzi meint mit strahlendem Necken :
" Er kann am Ende noch wieder Dienst tun ! "
" Nein , nein , " wehrt die Mama , " jetzt ist er unser , kein Schiff bekommt ihn wieder ! "
Und sie fängt schnell an , von dem fertigen Hause in Heckendorf zu berichten , das so einladend dasteht , daß gewiß niemand sich aus ihm wieder fortsehnen wird .
Kein stolzer Bau , aber anmutend und zweckentsprechend , ein rechtes " Heim " .
Sie erzählt auch von dem hübschen großen Zimmer , wo Franzis Flügel stehen soll , wo sie singen wird .
" Und unterrichten ! " fällt Franzi lebhaft ein .
" Das habe ich mir fest vorgenommen , mir in Wendenburg wieder einen kleinen Wirkungskreis zu gründen , so viel meine Hausfrauenpflichten es zulassen . "
Das finden alle nur zu loben , und auch Axel ist damit einverstanden , denn er weiß selbst zu gut , wie schwer es ist , von einem geliebten Beruf zu scheiden .
Ihm erzählt dann Mama von dem Zimmer mit dem breiten dreiteiligen Fenster nach dem See zu , wo sie sich Axels Schreibtisch hindenkt , und den lieben vor Anker gegangenen Sohn davorsetzend , mit der Ausarbeitung seiner Reisetagebücher , all seiner reichen Erfahrungen und Erlebnisse beschäftigt !
Endlich mahnt ein kühles Abendlüftchen zum Aufbruch , und langsam steigt man auf den gewundenen Wegen den Schloßberg hinab .
Im Tal ist es schon dunkler , und auf der " alten Brücke " stehend , sehen sie überall die Lichter aufblinken und ein trauliches Abenddunkel die alte Stadt einhüllen .
Müde von aller Freude und allem Schönen suchen sie endlich ihre Zimmer im " Ritter " auf , und wenn auch hin und wieder ein fröhlicher Studentengesang ihren Schlaf unterbricht , so schadet das weiter nicht .
Papa murmelt noch im Traum :
" Alt-Heidelberg , du Feine - "
Der nächste Morgen steigt wieder ebenso sonnig und schön wie der vorige herauf .
Früh steht man schon auf der Gasse vorm " Alten Ritter " , die drei Frauen schlendern über den Gemüsemarkt und freuen sich an der bunten Herrlichkeit , kaufen erste Kirschen und Erdbeeren ein und werden gerührt beim Anblick der prächtigen Spargel .
Dann geht es wieder aufs Wandern , diesmal zum jenseitigen Ufer hinüber .
Die Jungen klettern auf steilen Stufen zwischen den Weinbergen herum , suchen von den über die Mauern wuchernden wilden Rosen zu haschen und schmücken ihre Hüte .
Die Alten wandeln ruhig den " Philosophenweg " , überschauen die Stadt und das malerische Tal und in sinnendem Gespräch - ihr Leben .
Am Abend aber trägt ein Schifflein die drei Paare wieder in schönster Harmonie über den Neckar .
Glückliche Menschen !
Auf den ersten Blick wohl nicht anders , nicht ausgezeichnet vor vielen .
Wer aber näher zusieht und sie wirklich kennt , dem wird es doch vorkommen , als sei ihre Lebensauffassung wahrer und echter , ihre Tüchtigkeit ernster , ihre Fröhlichkeit reiner , ihre Liebe tiefer gegründet .
Und darum ruht auf ihnen der Segen des Himmels .
- Rechtsinhaber*in
- Bildungsroman Projekt
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Korpus. Die beiden Schwarzbraunen. Die beiden Schwarzbraunen. Bildungsromankorpus. Bildungsroman Projekt. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0pj.0