- Des Friedens Wunde ist Sicherheit , Sorglose Sicherheit ; doch weiser Zweifel Wird Leuchte der Vernunft , des Arztes Sonde , Der Wunde Grund zu prüfen .
Shakespeare Erstes Buch 1 1 Auf weißem Zelter sprengte im sonnengolddurchwirkten Walde Wally , ein Bild , das die Schönheit Aphrodites übertraf , da sich bei ihm zu jedem klassischen Reize , der nur aus dem zyprischen Meerschaume geflossen sein konnte , noch alle romantischen Zauber gesellten : ja selbst die Draperie der modernsten Zeit fehlte nicht , ein Vorzug , der sich weniger in der Schönheit selbst als in ihrer Atmosphäre kundzugeben pflegt .
Welche natürliche und ihr doch so vollkommen gegenwärtige Koketterie auf einem Tiere , von dem sie wahrscheinlich selbst nicht wußte , daß es blind war !
Wally gab sich das Ansehen , als wäre sie mit ihrer Situation verschwistert ; aber nichts ist so reizend , als wenn durch irgendeine fast gelungene Affektation , durch die ganze Haltung eines innerlich mehr reflektierten wie angeborenen Wesens einige kleine Lichtritzen schimmern und für den Mann , welcher sie sehen kann , die versteckten Erleichterungen einer sich einbohrenden Neigung werden .
Aber von den zahlreichen Kavalieren , welche Wally umgaben , sah diese kleinen Lücken der Furcht edler Weiblichkeit niemand .
Jene , die Lücken der Furcht , kannte vielleicht der Jockei , der auch wußte , daß die weiße Stute blind war .
Aber die übrigen hingen nur wie der Eisenfeilstaub am Magnet , wie die Nachahmung am Genie , wie das Ordinäre am Wunderbaren .
Am Wege schritt , wie es beim Temperamente sich von selbst versteht , im Zweivierteltakte Cäsar , ein Mann , der imstande war , eine solche Gruppe wie die vorbeisprengende im Nun zu übersehen und jede darin waltende Figur so zu isolieren , daß er sie alle verarbeitete und an seiner eigenen Individualität zerrieb .
Kennt ihr diese genialen Charaktere , welche durch ihr Schweigen immer mehr ausdrücken , als wenn sie reden , die nur ihr rollendes , siegendes Auge in die Gesellschaft bringen dürfen und jede Persönlichkeit darin absorbieren in eine Huldigung , die ihnen wird ohne ihr Verlangen ?
Cäsar stand im zweiten Drittel der zwanziger Jahre .
Um Nase und Mund schlängelten Furchen , in welche die frühe Saat der Erkenntnis gefallen war , jene Linien , die sich von dem lieblichsten Eindrucke bis zu dämonischer Unheimlichkeit steigern können .
Cäsars Bildung war fertig .
Was er noch in sich aufnahm , konnte nur dazu dienen , das schon Vorhandene zu befestigen , nicht zu verändern .
Cäsar hatte die erste Stufenleiter idealischer Schwärmerei , welche unsere Zeit auf junge Gemüter eindringen läßt , erstiegen .
Er hatte einen ganzen Friedhof toter Gedanken , herrlicher Ideen , an die er einst glaubte , hinter sich :
er fiel nicht mehr vor sich selbst nieder und ließ seine Vergangenheit die Knie seiner Zukunft umschlingen und sie beten : Heilige Zukunft , glühender Moloch , wann höre ich auf , mich mir selbst zu opfern ?
Cäsar begrub keine Toten mehr : die stillen Ideen lagen so weit von ihm , daß seine Bewegungen sie nicht mehr erdrücken konnten .
Er war reif , nur noch formell , nur noch Skeptiker :
er rechnete mit Begriffsschatten , mit gewesenem Enthusiasmus .
Er war durch die Schule hindurch und hätte nur noch handeln können ; denn wozu ihn seine toten Ideen machten , er war ein starker Charakter .
Unglückliche Jugend !
Das Feld der Tätigkeit ist dir verschlossen , im Strome der Begebenheiten kann deine wissensmatte Seele nicht wieder neu geboren werden ; du kannst nur lächeln , seufzen , spotten und die Frauen , wenn du liebst , unglücklich machen !
Cäsar , wie er einsam wandelte , fühlte , daß er weinen sollte , und lachte , um die Tränen zu vertreiben .
Da flog Wally mit ihren Begleitern an ihm vorüber .
Sie schlug mit ihrer Gerte in die Seiten des schönen , aber blinden Gaules ( sie wußte es wahrhaftig nicht ! ) - ein sonderbarer Glanz klang durch die Luft , und zu Cäsars Füßen lagen fünf kostbare Ringe .
Sie mußten an der Reitgerte gesteckt haben .
Wally sah , was der Unbekannte am Wege aufnahm ; sie machte Miene anzuhalten ; aber als der Fremde mit der Zurückgabe zögerte , blickte sie bös und trieb ihren Schimmel weiter .
Die Kavaliere hatten nichts gesehen .
Cäsar aber , da er die Reiterin sogleich aus den Augen verlor , mußte sich auf alles besinnen .
Er gefiel sich darin , an eine alte Sage zu glauben , an die Prinzessin im Walde , und sich selbst mit irgendeinem Zauber in Verbindung zu bringen .
Er steckte die Ringe zu sich und hatte sie wieder vergessen , wie er innerhalb der Stadt war. 2 2 Ein gewisser Regierungspräsident gab einen beinahe ländlichen Ball .
Wally und Cäsar sahen sich hier .
Cäsar hatte in einem Anfalle guter Laune die fünf Ringe über seine Handschuhe gezogen .
Wally fragte ihn , wie er darauf käme ?
" Weil meine rechte Hand " , antwortete er , " beim Tanzen immer ungeschickt ist .
Die Ringe verhindern sie , von dem glatten Rücken der Tänzerinnen abzugleiten . "
Wally ließ ihn stehen : dieser junge Mann mißfiel ihr .
Aber sie fühlte , daß sie sich zerstreuen müsse , und tanzte mit Vorliebe .
Sie wurde erhitzt , verfolgte Cäsar und sah , daß er die Ringe wieder fortgenommen hatte .
Sie wollte sie wiederhaben und rief einem ihrer Employés , einem blondhaarigen Referendar , der eine kleine Schrift über das Unzeitgemäße politischer Garantien geschrieben hatte .
Sie setzte ihm die Lage der Dinge auseinander .
" Ich bin gewohnt " , sagte sie , " für jeden Monat im Jahre einen anderen Anbeter zu haben , und ich nehme niemanden an , der sich nicht durch einen Ring in meine Gunst einkauft .
An meinem Finger will ich die Ringe nicht :
ich trage sie an meiner Reitgerte und mache mir ein Vergnügen daraus , wenn ich von Juli zu Juli ins Bad reise und armen presshaften Leuten sie alle zwölf nacheinander in die heißen Sprudelbecher werfe . "
Darauf erklärte sie ihm , wie sie fünf davon verloren hätte , und verlangte , daß sie ihr wieder zuhanden , das heißt zur Reitgerte , kämen .
Der junge Mann , welcher über das Unzeitgemäße politischer Garantien geschrieben haue , versprach sein möglichstes und redete Cäsar an .
Cäsar betrachtete ihn und besann sich auf den Verfasser der kleinen Broschüre .
" Sie verstehen sich darauf " , sagte er dann , " als St. Georg gegen die Ungetüme der Zeit zu kämpfen .
Die Ringe der Dame passen zu meinem Schuppenleibe :
ich stehe als Lindwurm zu Ihren Diensten ! "
" Wie verstehe ich das ? " fragte der junge Mann , welcher über das Unzeitgemäße politischer Garantien geschrieben hatte .
Cäsar ließ ihn stehen .
Der Bote wagte nicht , unverrichteter Sache zu Wally zurückzugehen ; eben tanzte sie , sie hatte seine Abweisung glücklicherweise nicht bemerkt .
Der junge Mann half sich :
er wußte , von wem die fünf Ringe kamen : vier von seinen Freunden , die mit ihm teils auf dem Stadtamte fungierten , teils auf das nächste militärische Avancement warteten ; einer gehörte ihm , denn Wallys Sonne stand zufällig während dieses Monats in seinem Zeichen .
Die Sache wurde unvermeidlich ein Ehrenhandel ; aber er war perfid genug , dem Gegner das Spiel fünffach zu erschweren .
Cäsar bekam noch an demselben Abend fünf Ausforderungen ins Ohr geflüstert .
Er nickte lächelnd zu jeder ; für den folgenden Morgen war alles anberaumt , aber er entfernte sich früh .
Wally tanzte bis in die Nacht .
O welch ein Glück , sich mit dem faden Mittelgut in ewig gleichen Kreisen herumzudrehen !
3 3 Es war schon um die elfte Vormittagsstunde des folgenden Tages , als Wally unter den Händen ihres Kammermädchens saß und ihr Haar flechten ließ .
Sie hatte einen kleinen Tisch vor sich gerückt , worauf die Erzeugnisse der neuesten Literatur lagen .
Natürlich kamen sie frisch aus dem Buchladen ; anständige Leute lesen nicht aus Leihbibliotheken .
Sie blätterte in dem jüngsten Musenalmanach von Schwab und Chamisso .
" Diese guten Waldsänger " , sprach sie vor sich hin , " nehmen sich die Freiheit , sehr ennuyant zu sein .
Wenn uns die Reime nicht in einer Art von melodischer Spannung hielten , die Monotonie der Gefühle und Anschauungen wäre tödlich .
Ich ziehe Prosa vor .
Heines Prosa ist mir lieber als Uhland und sein ganzer Bardenhain . "
Sie griff nach Heines " Salon " , zweiter Band .
" Willst du Philosophie studieren , Aurora ? " fragte sie ihr Kammermädchen :
" Hier sind all die gelehrten , bemoosten Karpfen der deutschen Philosophie mit Frühlingspetersilie und Vanille zubereitet .
Man sollte die Bonbons in Aphorismen aus Heines » Salon « einschlagen .
Welch gesunkenes Volk müssen die Franzosen sein , daß sie gerade auf der Stufe in den Wissenschaften stehen , wo in Deutschland die Mädchen . "
Einige Schriften vom jungen Deutschland lagen zur Hand , von Wienbarg , Laube , Mund .
" Wienbarg ist zu demokratisch :
ich habe nie gewußt , daß ich vom Adel bin " , sagte sie ; " aber mit Schrecken denke ' ich daran , seit ich diesen Autor lese .
Laube scheint den Adel nicht abschaffen , sondern überflügeln zu wollen .
Doch bleibt es arg : er ist zudringlich .
Er gibt sich in seinen Schriften das Ansehen , als kenne er jede seiner Leserinnen und verlange von ihr eine Hingebung , um die er nicht einmal bittet .
Mund goutier ich nur halb :
denn er wird , je mehr er sich selbst klarzuwerden scheint , für andere immer unverständlicher .
Verstehst du , Aurora ? "
Aurora hatte etwas in den Mund bekommen und mußte abscheulich husten .
Wally lachte .
Unter den Büchern lag zuletzt die neueste Lieferung der " Karlsruher Bilderbibel " , auf welche Wally abonniert hatte .
" Wie sonderbar doch das Christentum auf Velinpapier aussieht ! " sagte sie zu sich selbst .
" Dienen diese Kupfer zu etwas anderem , als die Aufmerksamkeit noch mehr von dem heiligen Buche abzulenken !
Siehe , da steht ein Druckfehler !
Ein umgekehrter Buchstabe !
Es ist hübsch , in der Bibel Irrtümer zu entdecken . "
Wally sah nur auf das Äußre , auf den Einband , dann las sie etwas .
Sie las einige Verse , ein halbes Kapitel und fragte ihr Mädchen , wann sie zuletzt in der Kirche gewesen wäre ?
Aurora war nicht frivol :
sie war vor vier Wochen dagewesen .
Wally las , ohne zu hören .
Dann fragte sie : " Warum bist du so still ? "
Aurora war nicht mehr im Zimmer :
Wally blickte sich scheu um und las weiter .
Ihr Auge haftete stier auf den Buchstaben :
sie schlug eine Seite nach der anderen um :
dann lehnte sie sich zurück , eine Träne stand in ihrem Auge .
Sie sah mit einem flehenden , verzweifelnden Blick auf den kleinen Tisch , der so viel Widersprechendes friedlich umschloß .
Sie stützte den Kopf auf die Lehne ihres Sessels ; es war Sonntag .
Die Glocken läuteten , aus der nahen Kirche brausten die Töne der Orgel herüber .
Wally war in Tränen aufgelöst .
Kann man dem Himmel ein schöneres Opfer bringen ?
Diese Tränen flossen aus dem Weihebecken einer unsichtbaren Kirche .
Die Gottheit ist nirgends näher , als wo ein Herz an ihr verzweifelt .
Aurora kam zurück .
Es war Besuch im Gesellschaftszimmer .
Wally hätte absagen müssen ; aber sie war willenlos .
Sie fand die Ritter von den fünf Ringen , einige von ihnen leicht verwundet .
Wally erschrak , als sie von dem Vorfalle hörte .
Cäsar war am Arme blessiert .
Aber schon die Nachricht , daß keine Gefahr vorhanden sei , richtete sie auf ; und wie in der menschlichen Seele Schmerz und Freude sich ergänzen und das Linderungsmittel des einen Übels auch alle übrigen Sorgen heilt , die mit ihm in keiner Verbindung standen , so wandte sie sich teilnehmend dem Gespräche zu .
Es war fade , wie immer ; aber verzeihlich der Tageszeit wegen .
Man soll vor Tische von keinem Menschen verlangen , daß er geistreich sei .
Wally konnte lachen und lachte übermäßig .
4 4 Beide sahen sich eine Woche später .
Wally hatte nicht das Herz , von dem Vorfalle zu sprechen .
Aber es währte nicht lange , so sprachen sie über den Mut .
Sie wollte wissen , ob der Mutige die Gefahr absichtlich verkleinere oder geringer achte , ob der Mut noch während der Gefahr daure oder nur das Vorspiel der Gefahr sei .
Cäsar sagte , er habe nie über den Mut nachgedacht , besäße ihn auch nicht hinreichend dafür .
Wally brannte der Vorfall auf den Lippen ; aber sie hielt an sich und lächelte bloß .
" Ich glaube " , sagte Cäsar , " daß es Menschen gibt , deren Mut darin besteht , daß sie die Gefahr gar nicht sehen .
Das sind diejenigen , welche als die vorzugsweise Mutigen überall gefürchtet werden : auf den Universitäten jene unverschämten Knaben , die gegen jedermann die Hand in die Seite stemmen und von Verachtung und Malice übersprudeln ; unterm Militär diejenigen , welche ihren Säbel gern so hängen , daß sie ihn hinter sich klirren hören .
Man kann aber sagen , daß wenn diese Menschen Einbildungskraft genug hätten , die Gefahr zu sehen , sie die verzagtesten sein würden .
Der Besonnene ist von Natur niemals mutig .
Er folgt nur den Rücksichten und ist unerschrocken , weil die Sache einmal nicht zu ändern ist . "
Wally fand diese Äußerungen durchaus nicht so liebenswürdig , wie sie gewohnt war , dergleichen von ihren männlichen Umgebungen zu hören .
Es war in ihrem innerlichen Urteile etwas , was einen guten Schein hatte .
Sie vermißte an Cäsar den Reiz der Natürlichkeit .
Seine Reflexion zog an , befriedigte aber das Temperament nicht .
Nichtsdestoweniger traf sie sehr gut die Gedankenreihe Cäsars , indem sie fortfuhr :
" Ich glaube fast .
Sie halten die Tugend für eine Berechnung ? "
" Die Tugend nicht " , entgegnete Cäsar ; " aber alles , was man gern für Instinkt anzusehen gewohnt ist .
Unsere Handlungen sollen berechnet sein , unsere Empfindungen sind es .
Ich erinnere Sie nur an das Unbequeme mancher Empfindung , mit der wir gern kokettieren , die uns aber in gewissen Zeiten recht zur Unzeit kommt . "
" Sie sind ohne Natur " , sagte Wally .
" Ich bin ohne Verstellung " , fiel Cäsar ein .
" Ohne Verstellung ?
Jeder Satz in Ihren Theorien scheint von Ihren zufälligen Zwecken abhängig zu sein . "
Cäsar mußte lächeln ; er hatte etwas gesagt , was er nicht meinte .
" Glauben Sie " , fragte er , " daß es in der Liebe eine Höflichkeit gibt ? "
" Das verstehe ich nicht . "
Cäsar blickte finster und wollte abbrechen .
" Was ist Ihnen ? " fragte Wally .
" Ich denke , Sie vermeiden , über einen Zustand zu sprechen , den Sie vielleicht nicht zu kennen vorgeben . "
" Halten Sie mich für eine Närrin ? " fragte Wally , erst bös , dann aber hellte sich ihr Antlitz zu einer Liebenswürdigkeit auf , die Cäsar fast einen Augenblick zu verwirren schien .
" Nehmen Sie nur an " , sagte er , " wie unzeitig und unbequem man werden kann , wenn man seinen Leidenschaften immer den natürlichen Raum läßt .
Ich verspreche zum Beispiel einer Dame , sie einen Tag um den anderen zu besuchen .
Was heißt das ?
Sie ist einen Tag um den anderen in der Spannung , wo sie glaubt , beglücken zu können .
Ihre Gedankenreihen werden immer einen Tag überschlagen , einen Tag , wo sie nicht untreu , aber ohne Rapport und Illusion ist .
Man kann nicht unhöflicher sein als an diesem Tage , der überschlagen werden sollte , der für die Liebe gar nicht da ist , seine Braut zu überraschen . "
Wally lachte laut auf .
Jetzt hielt sie Cäsar für einen Narren und fragte ihn , welche Frau ihm diese Geständnisse gemacht habe .
Cäsar war kein Pedant , er lachte mit , fuhr aber fort :
" Ich versichre Sie , es ist nichts abscheulicher als das Ungeschickte und Unbequeme .
Der Instinkt mag hier manche üble Empfindung hintertreiben ; aber sicher geht allein die Kombination der Psychologie .
Ich möchte um alles in der Welt zu einer gewissen Zeit , unter gewissen Umständen von der Freundschaft kein Opfer , von der Liebe keine Zärtlichkeit verlangen .
Mit unserer rohen Natürlichkeit sind wir immer gewohnt zu übertreiben ; in nichts sind wir aber übertriebener als in unseren Forderungen .
Ist es erhört , was der Enthusiasmus nicht alles in den gefühlvollen Beziehungen der Geschlechter oder in der Freundschaft zu entdecken glaubte !
Wer kann das alles leisten !
Wer kann so unhöflich sein , alle diese Leistungen in Anspruch nehmen ?
Sagen Sie ! "
" Ich habe vergessen , Rumohr zu lesen " , antwortete Wally .
" Rumohr ! " sprach Cäsar ; " Rumohr hatte vielleicht Anstand , aber nicht Geist und Mut genug , eine » Schule der Höflichkeit « zu schreiben .
Rumohr glaubt an seine Vorschriften und scheut sich doch , die meisten davon anders als in einem gewissen Helldunkel zu geben .
Rumohr glaubte , er müsse sich immer noch eine Hintertür offenlassen , um nicht für einen Fant zu gelten .
Auch ist dieser Mann so sehr in die Klassizität verrannt , daß er alle Tugenden und Untugenden des Altertums aufzählt , aber ein wichtiges , modernes Laster ganz mit Stillschweigen übergeht , ein Laster , wofür die Alten gar keinen Ausdruck hatten .
Rumohr konnte davon nicht sprechen , weil er selbst darin ganz verstrickt ist .
Dies ist die Langeweile .
Aber was Rumohr ?
Es gibt eine weit tiefere Höflichkeitstheorie , welche auf ästhetischen und moralischen Prinzipien zu gleicher Zeit beruht .
Soll ich ihren Grundsatz nennen ?
Lassen Sie aus einem christlichen Gebote nur einen Buchstaben weg .
Raten Sie ! "
Wally wurde rot : nicht des Rätsels wegen , sondern des Christentums .
Cäsar ergänzte sich selbst und sagte : " Lebe deinen Nächsten wie dich selbst !
Sei Egoist , ohne deinen Nachbar zu verwunden !
Wenn ich mich in die innersten Falten Ihrer Seele ( Falten !
Ihre junge Seele !
Aber die Seele ist immer alt , der Teil der jahrtausendjährigen Urseele und Weltseele , der in uns wohnt ) , wenn ich mich in sie versetze , so bin ich gewiß , immer die Wirkungen zu veranlassen , die ich eine Minute vorher schon bestimmen kann .
Sie hören mich nicht mehr .
Es ist wahr , ich habe zu laut gesprochen . "
Der gute Cäsar mit seinen langweiligen Theorien !
Er mochte Wunder glauben , wie zart er die Fibern des menschlichen Herzens anatomiere ; und hatte schon längst seine Widersacherin innerlichst verletzt .
Er wußte dies nicht und schämte sich , so theoretisch debattiert zu haben .
Um die Sache war es ihm gar nicht zu tun .
Er hatte überhaupt nur zwei Steckenpferde , auf denen er sich Heißreiten konnte , die Verachtung der Musik und die Strenge der Erziehung .
Diese beiden Fragen interessierten ihn , weil sie das Nächste berührten , das Zimmer des Nachbars gleichsam , weil die Musik sich gern in der Gesellschaft breitmacht und über Erziehung so viel Empfindsames gefaselt wird .
Er pointierte die Verachtung der Musik , um die jungen Damen ( welche , wenn man von ihnen Gedanken verlangt , mit Musik antworten ) ihre Leere fühlen zu machen : in der Erziehung aber den Stock , um sich das Geschwätz über Kinder , das Präsentieren der lieben Kleinen , die Koketterie mit seiner Einzigen oder seinem jüngsten Balge vom Leibe zu halten .
Auf alles übrige ließ es Cäsar ankommen .
Für Himmel , Hölle , Erde und was drin , drauf und drunter ist , nahm er nur Interesse , um sich zu unterhalten oder eine hübsche Wendung darüber zu haben .
Warum ist Cäsar kein Schriftsteller geworden ?
Er würde ein vortrefflicher Dialektiker sein , immer gute Gedanken haben und jedenfalls einen glänzenden Stil schreiben .
5 5 Wir sind noch in derselben Gesellschaft , wo über Herrn von Rumohr so abfällig geurteilt wurde .
Wally ist nur hingebender und Cäsar erschöpfter geworden .
Er war im Zuge , links und rechts seine zusammenhanglosen Einfälle auszustreuen und gerade im Gegensatz zu seiner Höflichkeitstheorie alle Welt zu verwunden .
Die Hauptunterhaltung hatte der lange blonde Mann an sich gerissen , welcher über das Unzeitgemäße politischer Garantien geschrieben hatte .
Mit ihm korrespondierte ein Justizrat , welcher anonymer Verfechter von verschiedenen Lehrbüchern zur Kenntnis des Allgemeinen Landrechts war oder doch sein sollte .
Beide zitierten sich wechselseitig als Autoritäten , der Junge den Alten der Karriere wegen : der Alte den Jungen , weil er wußte , daß der Nachruhm in den Händen derer liegt , die nach uns leben .
Cäsar war auf der Folter : er ahnte , daß sie ausschweifen wollten , daß sie auf dem Wege waren , zur schönen Literatur überzugehen .
" Wirklich ? " zitterte er für sich hinein .
" Wahrlich !
Ja , sie müssen - Oh - . "
Cäsar war aufgesprungen .
Er wollte fort .
Wally fragte ihn , was er hätte ?
Der Justizrat , Mitglied einer Liedertafel , das heißt eines Vereins , wo man über Tafel die schlechten Kompositionen eines Zelter und anderer zu singen pflegte , rief : " Ist es nicht auffallend , daß auch nicht ein einziger aus der neuen Schule in Deutschland sich auf Musik versteht .
Wie schön hat Tieck die italienische Musik in seinen Sonetten charakterisiert !
Wie treffend drückt er in seinem Vorspiel zum » Gestiefelten Kater « oder zur » Verkehrten Welt « , ich weiß nicht , das Wesen der verschiedenen Instrumente aus !
Wie hat die ganze romantische Schule in der Musik gelebt ! "
" Und Hoffmann " , rief eine ältliche Dame , die ihrem Teint nach mit Napoleon verwandt sein konnte .
" Und Hoffmann ! " , fielen alle ein .
" Ja " , rief der Justizrat , " Hoffmann , der mein Kollege war ! "
Cäsar sagte ruhig :
" Ich weiß nicht , worin der Zusammenhäng der Literatur und der Instrumentation liegen sollte .
Goethe scheint mir auch ohne den Kontrapunkt verständlich zu sein . "
Aber der Justizrat hatte das Wort : " Man hat noch immer gefunden , daß irgendeine Beschäftigung , welche dem Dichter sonst noch teuer und lieb war , recht hübsch das Wesen seiner eigenen Poesie ausdrückte .
Ich rede von Homer und Ossian nicht , Männern , die mehr Musiker als Dichter waren ; aber Goethe arbeitete in Pappe , wenn ich nicht irre .
Schiller war Kompanie-Chirurg .
Nun sehen Sie , das ist prosaisch genug ; sagen Sie mir von allen neuen Autoren einen , der ein gutes Urteil über Musik hätte ?
Es ist Mangel einer gewissen Saite in der Seele , daß es ganz unmöglich ist , die Namen Menzel , Börne , Heine usw . mit irgendeiner musikalischen Verrichtung zusammenzubringen . "
" Die Lärmtrommel ! " hieß es irgendwo .
Man beklatschte den Einfall und nannte ihn witzig .
Aber recht hatte der Justizrat ; auch Cäsar , wenn er sagte : " Was kann empfehlenswerter für die Richtung sein , welche unsere ersten Geister nehmen ?
Alle frühere Literatur bildete sich im Interesse irgendeiner vereinzelten Kunst oder Tendenz : die Lessing-Goethische Zeit im Interesse der Antike : die Romantik im Interesse der Malerei : die Phantastik im Interesse der Musik .
Erst in unseren Tagen sammelt die Literatur ihre Vorposten , die sich in die fremden Feldlager ganz verloren hatten , und zieht sie in den Kern ihrer Kräfte zurück , um aufs neue zu bestimmen , welches ihr Zweck ist .
Ich glaube , daß sich die Literatur ausdehnen wird auf andere Felder , um sie zu befruchten ; aber wahrlich , mein Herr , auf die Musik nicht ! "
Bis hierher sprach Cäsar so richtig , daß es unnütz gewesen wäre , Unterschriften darauf zu sammeln .
Das Folgende schien zweifelhafter :
" Was soll überhaupt die Musik ?
Diese klingende Mathematik ?
In der Erziehung sind die geometrischen Köpfe meist die dicksten und härtesten , und in den großen Musikern habe ich immer Leute gefunden , die , obschon sie immer mit Schlüsseln umgehen , doch über nichts Aufschluß geben können .
Die Musik ist eine ganz sinnliche Kunst .
Wenn Sie dem Otaheiter einen Trauermarsch von Spontini vorspielen , mein Herr , glauben Sie , daß er weinen wird ?
Er wird springen und seine Kokosschale vor Lebenslust bis auf die Hefe leeren .
Musik ist absolut nichts : die Bildung legt erst das hinein , was wir darin zu finden glauben .
Wenn ich bei irgendeinem Musikstück ein solcher Narr bin , an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben , so verbinden zu gleicher Zeit Sie damit einen Begriff , welcher vielleicht der entgegengesetzte ist .
Wenn Sie bei einer Symphonie von Beethoven an einen gotischen Dom denken , so dachte der Komponist an das Giebeldach einer Bauerhütte .
Nein , mein Herr , die Musik wird aufhören , zu den Künsten gerechnet zu werden .
Nähert sich die Musik in der Oper nicht schon immer mehr der rhetorischen Deklamation ?
Ist die Sprache , das volle , tönende , menschliche Wort nicht unendlich höher als der unnatürliche Gebrauch einer ganz im tiefsten Schlunde versteckten zufälligen Fertigkeit ?
Ich bitte Sie , überlegen Sie das , mein Herr ! "
Hier war keine Verständigung mehr möglich .
Was sind Hunderttausende in der Welt ohne das bißchen Fortepiano , was sie spielen können !
Es war , als hätte einer gesagt , die Frauen sollten keine Gigotärmel mehr tragen .
Was wären diese schmalen Brüste , diese gedankenlosen Köpfe ohne Gigots , ohne Pianoforte !
Und doch strafte man Cäsar nicht durch Stillschweigen , ging nicht wie wegen eines Tollen zur Tagesordnung über , sondern schrie auf und rief das Gefühl , den Himmel , die Moralität zu Hilfe , um einen Ketzer zu bekehren .
Der blonde Unzeitgemäße war so glücklich , die Frage in das Gebiet der Politik hinüberzuspielen und aus der Musik eine Sache des Staates zu machen .
Hierüber schwieg Cäsar .
Ihn verdroß nichts mehr als das Warmwerden .
Er wußte zu gut , daß die Adler niemals in der Fläche horsten .
Warum Niagaradonner , wo Knallerbsen genügen ?
Er gab sich willig dem Spotte Wallys hin , die viel zu leichtsinnig war , auf dergleichen Debatten etwas zu geben , zu eitel , um eine allgemeine Unterhaltung interessant zu finden , und die überdies weder sang noch spielte .
Wally hatte Ideen , aber nur momentan ; sie verschmähte es , die Geistreiche zu scheinen , weil sie wußte , daß sie schön war .
Flüchtig waren ihre Bewegungen , liebenswürdig , ohne Pedanterie ihre Capricen .
Cäsar fühlte das und badete sich in dem oberflächlichen Schaume , den Wally von den Ideen nur gelten ließ .
Cäsar hatte recht , sie für unfähig zur Spekulation zu halten .
Er nahm sie wie ein humoristisches Capriccio der animalischen Natur .
Beide spotteten im Vertrauen über sich , über alle .
Was sie sprachen als Sprechenswertes , waren Raketen , die sie sich einander zuwarfen .
" Warum brechen Sie über Politik ab ? "
" In Athen durfte kein Volksredner auftreten , der nicht verheiratet war . "
" Was Sie gelehrt sind !
Ich bin es auch :
in Kreta durfte niemand Gesetze geben , der nicht einen Strick um den Hals hatte . "
" Das ist dasselbe Gesetz :
Die Athener wollten eigentlich auch sagen , der keinen solchen Strick am Halse habe . "
" Wie unanständig ! "
" Wally ! "
Wally lachte :
es war ein hübscher , vertraulicher Ton , in dem ihr Cäsar drohte .
" Was machen Sie mit Leuten , die Ihnen gefallen ? " fragte sie ihn , ohne zu wissen , was sie fragte .
" Alles , nur nicht ihre Bekanntschaft . "
" Das ist auffallend !
Doch können Sie recht haben . "
" Wonach beurteilen Sie die Menschen , Wally ? "
" Nach ihren Werken ! -
O Gott , nein ; dies wäre ja albern geantwortet , wie im Katechismus .
Sagen Sie ? "
" Nach dem , was sie sind ? "
" Nein , nach dem , was sie imstande wären . "
" O Wally , Sie sind liebenswürdig !
Woran würden Sie denken , wenn Sie jemanden prüfen wollten , der zu lieben wäre ? "
" An die außerordentlichen Fälle . "
Cäsar schwieg .
Diese Antwort war zu ernst .
Er betrachtete die fünf Ringe , die er über seinen Handschuhen trug , und fragte dann :
" Sie reisen ins Bad ? "
" In acht Tagen . "
" Sie werden den Rhein sehen ? "
" Von Mainz bis Köln . "
" Von Mainz bis Düsseldorf .
Sie dürfen einen Besuch bei den Malern und bei Immermann nicht unterlassen .
Läge Düsseldorf in Thüringen , es würde ein zweites Weimar werden . "
" Sind die Ufer in der Tat so reizend ? "
" Gefällig sind sie und da schön , wo Sie etwas von Rührung einfließen lassen in Ihre Betrachtung . "
" Das verstehe ich nicht . "
" Das Schöne , Wally , ist immer das Überraschende .
Ich bin ursprünglich kalt gegen alles , was in Deutschland für schön ausgegeben wird .
Am Loreleifelsen , wo der Rhein sich wie ein See verengt , wo Flinten abgeschossen und Waldhörner geblasen werden , um die Echos , von denen die Handbücher sprechen , zu beweisen :
da werden Sie durch diese Zurüstungen zur Wehmut übermannt werden .
Ihr blondes , bescheidenes Deutschland , dem Sie nichts zutrauten , nicht einmal das Echo des Lurley , wird Sie rühren , und bei einer fließenden Träne werden Sie sich gestehen müssen , daß der Rhein in der Tat ein schöner Strom ist . "
" Sie wollen sagen , die Natur spräche nur zu uns , je nachdem unser Auge und Herz sie ansieht . "
" Ich stand in dem Kölner Dome .
Sie kennen das zerrissene Prinzip unserer Zeit , nichts anzunehmen , was vielleicht richtig ist , aber von Leuten proklamiert wurde , die uns widerstehen .
Der Enthusiasmus der einen erkältet immer die anderen .
Ich wollte den Kölner Dom ironisch betrachten und mußte weinen , da ich ihn sah , über das Unvollendete der Idee , über die dünnen Hammerschläge der Ausbauer , welche durch die mächtigen Räume picken , über mich selbst , der sein Herz künstlich verhärtet und zu einer gemachten Empfindungslosigkeit herabgestimmt hatte . "
" Die Dampfschiffe fahren zu schnell . "
" Sie fahren zu langsam und sind für das Auge ermüdend .
Der Gedanke einer feurigen , über das Wasser kriechenden Schildkröte steht vor unserer Einbildungskraft , und wir sind einmal daran gewöhnt , das Kriechen für langsam zu halten . "
" Ein sonderbares Bild ! Worüber nur meine Tante so lacht ? "
" Ihre Tante ist eine Spinne , die über den Ozean kriecht . "
" Wieso ? "
" Sie spekuliert in Papieren . "
" Sie spricht über Politik :
ich verstehe nichts davon . "
" Verstünden Sie davon , so glichen Sie einem Schmetterling , der sich in die gaserleuchtete Verwirrung eines Salons verflogen hat . "
" Schmetterlinge sind zu Gleichnissen verbraucht . "
" Wie die Unsterblichkeit selbst . "
Wally errötete .
Sie blickte auf Cäsars frivoles Lächeln und nahm dies Lächeln für eine Gewißheit , die sie erschrecken machte .
" Wir sähen uns nicht wieder ? " fragte sie beklommen .
" Gesetzt , nur die Guten sähen sich " , antwortete Cäsar , " so läßt die Tugend so viel Nuancen übrig , daß nichtsdestoweniger im Jenseits eine Mannigfaltigkeit entstünde , die in seiner nächsten Nähe zu haben Gott kein Vergnügen machen würde .
Ja , wir selbst würden uns weigern , alle die zu lieben , welche im Leben ehrliche , aber oft die langweiligsten Menschen waren .
Ich weiß aber nicht , wie aus einem langweiligen Menschen plötzlich ein interessanter Engel werden könnte . "
" Sie sind kein Christ ? "
" Glauben Sie , daß Christus von den Toten auferstanden ist ? "
" O Gott , lassen Sie , ich kann darüber nicht nachdenken .
Ich- "
Sie stockte .
In ihrem Auge sprach sich ein zerreißender Schmerz aus .
So hatte sie Cäsar noch nicht gesehen .
Sie erhob sich unruhig und war für diesen Abend verschwunden .
Cäsar begriff hiervon nichts .
Er war so leichtsinnig , an alles zu denken , nur nicht an die Religion .
Aber Wally hatte ihn entzückt .
Soweit Menschen dieser Art noch lieben können , war Cäsar außer sich .
Er folgte Wally ohne Aufenthalt. 6 6 Wallys Tante litt an nervösen Reizungen und Abspannungen , an Herzklopfen , Üblen , für welche die Ärzte unter den nassauischen Bädern das tristeste , Schwalbach , empfehlen .
Wally konnte in Wiesbaden und Ems tanzen , aber in Schwalbach mußte sie der alten Dame die Zeitungen und Kurszettel vorlesen ( die Frau spekulierte wahrhaftig in Papieren ! ) ; in Schwalbach mußte sie so manchen häuslichen Dienst übernehmen , den man bald von sich abwälzen würde , wenn man nicht das Vergnügen hätte , in einem Bade zu leben .
Sie hatte dies wunderbare Nassau erreicht , diese unterirdische Küche Hygieas , mit ihren Gebirgskesseln , in denen die heilsamen Quellen sieden und dampfen .
Von üppiger Natur kann bei einem Lande nicht die Rede sein , das von Alaun und Schwefel unterminiert ist und in der Ernte immer einen Monat zu spät kommt .
Zwerghaft sind die Bäume auf den Hügeln : aber reizende Perspektiven öffnen sich zahlreich in die weiten Täler .
Nichts ist hier schöner als die mannigfachen Schattierungen des grünen Kleides der Natur .
Man steht an der morsch zerbröckelnden Mauer einer hohen Straße und sieht kleines Gesträuch zunächst zu seinen Füßen ; dann tiefer einen Wald , der sich mit den schwärzesten Tinten in die tiefste Spalte des Tales verliert und in einem dumpfen Murmeln , in dem Rieseln eines Waldbaches zu enden scheint ; dort aber erhebt sich wieder der Blick die grüne Alpenmatte entlang , welche am anderen Ende des Tales Aufwärtssteig .
Auf dem frischen , üppigen Teppich weidet das Auge , bis sich die Sehkraft in jenen dunklen Kranz von Fichten verliert , welcher den äußersten Horizont umsäumt .
Ist das nicht viel für ein Land , wo die Natur sich an gekochtem Wasser erfrischen muß ?
Das Land ähnelt der Schwäbischen Alb .
Auch sprechen die Leute mit schwäbischem Akzent .
Wally hat für solche Bemerkungen keinen Sinn :
ich führe sie auch nur an , um durch Wallys Mängel ihre Besitztümer anzudeuten .
Sie ist ohne Schwärmerei für die Natur , ohne Sinn für Blumen , welche sie zerkaut , wenn sie ihr in die Hand kommen .
Sonne , Mond und Sterne gehen ihre Bahnen , ohne von Wally bemerkt zu werden .
Jedermann wird bereit sein , sie gefühllos zu nennen , und ihr dennoch Unrecht tun .
Wallys unaussprechlicher Reiz ist ihre Natürlichkeit .
Sie gibt sich , wie sie ist , und hat die Tugend , alles beim rechten Namen zu nennen .
Sie war sehr unglücklich , in Schwalbach leben zu müssen .
Doch traf sich alles besser , als man erwartet hatte .
Das allmähliche Herunterkommen der Romantik erschlafft die bisher angespannten Nerven der Nationen .
Es waren Deutsche genug da , die an Hoffmanns Tode litten , Franzosen genug , welche die üblen Folgen von Victor Hugos ruhendem Federkiel spürten .
Sie alle wollten Reiz .
Die spanische Krisis war vielen in den Unterleib geschlagen und hatte Hypochondrie erzeugt .
Stahlbäder sind sehr anzuraten .
Es war gedrängt in all den Höfen , Goldenen Ketten , Gasthöfen zu den beiden Indien .
Wally wohnte im Kaisersaal .
Eines Tages stand sie an einem Orte , den sie vorzüglich liebte , am grünen Tische .
Sie hazardierte im Pharo .
Sie gewann ; sie gewann immer ; vielleicht weil Dreistigkeit auch das einzige Geheimnis im Spiele ist .
Noch ist es mir unerklärlich , wie die schüchternsten Weiber sich an Dinge wagen , an welche die mutigsten Männer immer mit einer Art von Zaghaftigkeit herangehen .
Sie sind die ersten , wo es gilt , einen Turm zu besteigen , auf einem schwindelnden Wege zu gehen , Pistolen abzuschießen , mit einem Eskamoteur in Korrespondenz zu treten , auf Vexierstühle und an die Elektrisiermaschine sich zu stellen .
Namentlich wird sich auf diese letzten Dinge oft der mutigste Mann nicht einlassen .
Warum die Frauen ?
Weil sie gewohnt sind zu herrschen ?
Weil man ihnen genug sagt , daß ihrer Schönheit nichts widerstehen könne ?
Wally spielte in der Tat , weil es ihr schon zur anderen Natur geworden war , in jeder Lage zu gewinnen .
Plötzlich wird sie unruhig .
Sie verliert .
Ihr Glück stürzt zusammen .
Sie fühlt , daß ihr ein Dämon entgegentritt und ratet auf Cäsar .
Sie wußte , daß ihr alles Widerwärtige nur von einem Manne kommen konnte , der sie beunruhigte und der sie vielleicht zu lieben anfing .
Wally blickte um sich ; Cäsar stand in einer Ecke , grüßte stumm , bot ihr den Arm und führte sie in die Zimmer ihrer Tante zurück , einer Dame , welche er einst mit einer Spinne verglichen hatte , die über das Weltmeer kreucht .
7 7 Ein Gewitter in Schwalbach ist immer eine Katastrophe ; aber sie geht vorüber .
Noch gefährlicher ist es , wenn der Himmel jene weinerliche Laune hat , daß er von der grauen Wolkendecke unaufhörlich einen nassen Staub tröpfeln läßt .
Dann kann man in Schwalbach am besten alle jene Übel bekommen , für welche sein Stahlwasser so gut sein soll .
Ist man nicht melancholisch , so wird man es erst .
Wally weinte den ganzen Tag vor Ungeduld .
Sie wollte nach Wiesbaden ; aber ihre Tante bestand darauf , daß ihr die spanische Krisis im Unterleibe säße .
Der Geheimerat Fenner von Fenneberg , der Arzt der Saison , warf sich gegen jede Unbesonnenheit ins Mittel .
Wally wollte Sterben vor Langeweile .
Ihr werdet sagen , sie muß schlecht erzogen worden sein .
Gewiß , das war sie .
Cäsar bot alles auf , ihr die trübe Zeit zu verkürzen .
Er erzählte ihr Beobachtungen aus Schwalbach , die gar nicht verdienen , übergangen zu werden , z.B. folgende :
" Haben Sie noch nichts vom tollen Bärbel gehört ?
Das tolle Bärbel steht den ganzen Tag vom frühen Morgen bis in die späte Nacht an der Hinterpforte des Gasthofes zu den beiden Indien , die auf die Landstraße nach Ems hinausführt , und späht in die Extraposten , welche den Berg herunterkommen .
Sie ist von einem etwas gedrückten Wuchs und hat matte Augen ; aber ihre Gesichtsbildung ist im höchsten Grade einnehmend , die Haut von der ganzen Feine und Weiße , welche zu blondem Haare gehört , um blonde Mädchen erträglich zu machen .
Der Reiz Bärbels würde noch weit mehr hervortreten , wenn die fixe Idee , welche sie beherrschen soll , ihr nicht den an Wahnwitzigen so unheimlichen Ausdruck und die eigentümliche Verrückung aller Bewegungen gäbe .
Und woran leidet sie ?
An zwei verunglückten Saisons .
In der ersten soll sie der Gegenstand irgendeiner eleganten Herablassung gewesen sein , die glücklicherweise ohne Folgen blieb .
Sie fiel einem jungen Manne in die Augen , der sie dann drei Monate lang nicht aus seinen Händen ließ und vielleicht gar mit ihr über Vorurteile der privilegierten Stände , über die allgemeine Stimmberechtigung der Liebe und morganatische Ehen philosophiert hat .
Er versprach , im nächsten Jahre wiederzukommen .
Einen langen Herbst und Winter , einen ganzen Frühling hindurch war Bärbel glücklich und das frommste Mädchen in Schwalbach .
Sie war die erste und letzte in der Kirche , die freundlichste zu aller Welt .
Die Mäßigung in einem Glücke , das ihre Kräfte überstieg ( nämlich das Wiedersehen war für sie schon ein grenzenloses Glück : wie leicht wird es Gott , seine Geschöpfe selig zu machen ! ) .
Diese Mäßigung stand ihr ungemein schön , wie die Leute sagen , die aus ihrer jetzigen Verwirrung das Vorangegangene herausgelockt haben .
Da kam die zweite Saison .
Bärbel stand an der Gartentür der beiden Indien .
Ein großer Reisewagen , turmhoch bepackt , mit sechs Pferden bespannt , glitt am Hemmschuh bedächtig die Höhe herab .
Vorn und rückwärts Bediente , Kammerzofen , Bologneser Hunde , ein Papagei , ein Geschwätz und Gekrächz , das eine ganz neue Welt in das alte Schwalbach zu bringen schien .
Bärbel stand auf den Zehn , blickte in den offenen Schlag und stieß einen entsetzlichen Schrei aus .
Sie hatte die untreue Herablassung gesehen , wie sie die Hand eines jungen reizenden Weibes küßte .
Es war des jungen Paares erste Badereise , gleich nach der Hochzeit .
Das sah auch Bärbel sogleich ein , nachdem sie wieder zur Besinnung gekommen war , denn noch war sie nicht närrisch ; aber sie wurde es ; schon durch die Ungewißheit , das Herumlaufen , Fragen , Erkundigen , Abgewiesenwerden durch impertinente Bedienten , durch die Scham , den Mann am Brunnen und auf der Promenade zu sehen und ihm nicht zu Füßen fallen zu dürfen .
Sie war den Winter über ganz still .
Mit dem Frühjahr wurde sie unruhig , holte immer tiefere Seufzer , schüttelte viel den Kopf , und nun steht sie seit dem ersten Mai zu jeder Stunde des Tages hinter den beiden Indien und muß immer mehr erkranken , schon am Sonnenstich .
Sie sieht in jede Kutsche und schämt sich , wenn man ihr Geld zuwirft .
Sie ist für alle Schwalbacher Bettler der Lockvogel oder der mit Honig ausgefüllte Stock , um die wilden Almosenbienen zu fangen .
Sie ist die unschuldige Heilige , die stumm für sie alle bittet und nichts davon hat als immer tieferen Wahnsinn . "
" Oh , ich bitte Sie , erzählen Sie Geschichten , die sich runden und einen Schluß haben ! " fiel Wally ein mit der ganzen Fühllosigkeit , die sie allein schon charakterisieren würde , wenn sie dieselbe nicht mit allen Frauen gemein hätte , wo es sich um die Herzensleiden irgendeiner ihrer Schwestern handelt .
Sie sind dabei alle kalt , eine gegen die andere .
" Den Schluß müssen wir abwarten " , sagte Cäsar , erschrocken über Wallys Phlegma .
Er hätte sie aufgegeben , wenn sie als Phänomen nicht seine Neugier reizte .
Auch würde er sich Vorwürfe gemacht haben , Wally nachgereist zu sein , wäre diese Mühe vergebens gewesen .
Er dachte in der Tat daran , bei ihr zu irgendeinem Ziele zu gelangen .
8 8 Nach einiger Zeit teilten sich die Wolken über dem Tale .
Es war möglich , ins Freie zu treten .
Cäsar und Wally stiegen die Straße nach Ems hinauf .
An der Türe der beiden Indien stand das stille Bärbel und betrachtete sie beide mit einem wehmütig-rührenden Blicke .
Wally blieb kalt dabei ; er konnte das nicht begreifen .
" Ich will Ihnen , Wally " , sagte er , " eine andere Geschichte erzählen , die sich in unserer Nähe begibt und in der Tat schon eine Art Schluß hat .
Glauben Sie nicht , daß ich die Demokratie so weit treibe und auf Entdeckungen in den Hütten ausgehe .
Die Schwalbacher bilden sich ein , ihre Gäste unterhalten zu müssen , und so erfuhr ich etwas , was würdig gewesen wäre , von Hoffmann bearbeitet zu werden .
Sie kennen die nassauischen Soldaten , Wally !
Sie haben über Brust und Schulter gelbe Bandeliere , was für ein preußisches Auge kurios läßt .
Die Artillerie ist schöner , aber hören Sie von einem Tambour bei jener Infanterie .
Der junge Mensch stand in Wiesbaden und soll ein Meister auf seinem Instrumente gewesen sein .
Niemand in der nassauischen Armee schlug wie er die Reveille mit solcher Fertigkeit .
Seine Wirbel sollen den Turbillons geglichen haben , welche bei Feuerwerken aufsteigen , nur daß er imstande war , eine Viertelstunde lang die Schlägel in dieser tremulanten Bewegung zu erhalten .
Namentlich aber gelang ihm jenes hübsche Stakkato auf der Trommel , das mit Wirbeln untermischt die Erschütterung des Kalbfells plötzlich hemmt und einen ganz abbrechenden Ton , einen Ton ohne alles Echo hervorbringen muß .
Sie sehen , welch einen Schatz das Haus Nassau an diesem Tambour hatte .
Unglücklicherweise verliebte sich aber der militärische Künstler , und in ein Mädchen , das zwar den Wert der Armee zu schätzen wußte , auch den der Musik , aber einem Trompeter von der Artillerie schon den Vorzug gegeben hatte .
Hier mußte eine Rivalität eintreten , welche der Liebe ebensosehr galt wie der Kunst .
Der Tambour verzweifelte nicht ; indessen war er zu bescheiden .
Er fühlte , wie sein Instrument , diese monotone Rhythmik , hinter der Trompete zurückstand .
Sein Gegenstand war die Tochter eines Wiesbader Bürgers , eines Mannes , den man durch Auszeichnungen ehren konnte .
Und wie zeichnete ihn der Trompeter aus !
Wenn er des Abends in des gehofften Schwiegervaters Gärtchen saß , siehe , dann setzte er das silberne Mundstück an die glänzende Trompete und blies den Parademarsch » Frisch auf , Kameraden ! « , alle Walzer , von denen des Kursaals an bis zu dem Zweitritt der Kirchweih .
Das erfreute die Herzen dieser Menschen .
Die Nachbarn sammelten sich :
sie lauschten , sie klopften an die Gartentür , sie kamen herein und tanzten auf dem grünen Rasen .
Der Schwiegervater hatte den ganzen Abend die Nachtkappe zu lüften und war unbeschreiblich geehrt .
Und wenn der Trompeter mit seinen lustigen Stücken Feierabend machte und sie alle aus dem Gärtchen mußten , um in der Finsternis die Beete nicht zu verderben , dann blieb er mit der Tochter noch allein und blies ihr Arien der Schwärmerei vor , » Schöne Minka « , » Mich fliehen alle Freuden « , mit sterbenden , gedämpften und wie durch Zugwind gehauchten Tönen , bis alles still wurde .
Der Tambour hörte diese Szenen täglich und verging vor Wehmut .
Er war eine sanfte , echt deutsche Heimwehnatur , voller Empfindung und Ehrgefühl .
Jede Nacht badete er sich in Tränen und schlug die Morgenreveille mit matten Händen .
Das Feuer seiner Augen erlosch .
Er fluchte seinem Instrumente , fluchte der Artillerie und ihren Trompeten .
Was hatte er an seiner Trommel ! diesem dummen Lärmkasten , bei dessen Tönen sich die Gebildeten der Nation das Ohr zuhalten , dieser Klangmaschine , die , wie man mich in meiner Kindheit überredete , nur dazu da ist , auf dem Schlachtfelde das Geschrei der Verwundeten zu übertäuben !
Zum Unglück gab es Augenblicke , wo der Tambour nichtsdestoweniger auf sein Instrument eifersüchtig wurde .
Ist es nicht das wohltätigste Instrument , schlußfolgerte er , wenn es den Menschen anzeigt , wo Feuer ausgebrochen ist , um welche Zeit das Tor geschlossen wird ; kann es rührendere Töne geben als die dumpfen Wirbel beim Begräbnisse eines meiner Kameraden !
Bei der Erinnerung an den Tod stürzten ihm die Tränen aus den Augen , von jenseits drang die Trompete seines glücklichen Nebenbuhlers herüber , ach !
diese freudigen Töne durchschnitten grausam seine zitternde Seele .
So schwand er hin und wurde immer mehr das blasse Bild der Resignation .
Er dachte nur an den Tod und sagte oft , wenn er nicht käme , so müsse er selbst sich ihn geben .
Damit ging er lange um und weinte viel , sooft er beim Abendmahl und in der Kirche war .
Aber es half nichts : die Liebe zermalmte sein Herz , die Eifersucht vernichtete seinen Stolz , statt ihn zu erheben .
Noch einmal richtete er sich eines Abends auf , wo alles still war , am Tage vor der Hochzeit der Trompeterbraut , und setzte sich dicht unter ihr Fenster auf einen Stein .
Zwischen den Füßen hielt er die Trommel eingespannt und begann sie in der Stille der Nacht , wo alles schlief , so schwermutsvoll und sanft zu rühren , daß es lange währte , bis mehr darauf achteten , wie das Mädchen oben in der Kammer .
Sie hörte diese Serenade , sie wußte alles , denn sie hatte den Tambour gekannt , ihn bevorzugt , ehe die Trompete kam .
Sie zitterte unter der Bettdecke , denn es klang wie zum Grab so hohl unterm Fenster .
Aber die Töne hoben sich , die Schlägel wurden dringender , die abgestoßenen Punkte folgten Schlag auf Schlag :
sie mußte aufspringen vor Entsetzen ; die ganze Straße schien zu grollen und die Steine dumpf aneinanderzuschlagen .
Man rief : " Feuer ! "
Sie riß das Fenster auf .
Draußen war alles still ; der Tambour war nirgends zu sehen ; auch beim Appell nicht .
Man schiffte seine Trommel bei Mainz an der Rheinbrücke auf : ihn selber einen Tag später auf der nämlichen Stelle . "
Wally hatte von dieser Erzählung erwartet , daß sie in einer Beziehung mit Schwalbach stünde , und allem , was auf diese Erwartung keine Rücksicht nahm , nur eine oberflächliche Aufmerksamkeit geschenkt .
Sie blickte Cäsar mit ruhigem Auge an und fragte kalt , was in dieser Geschichte mit Schwalbach zusammenhinge ?
Cäsar fand diese Frage natürlich und legte sie sich nicht so empörend aus , als sie ursprünglich war .
" Diese Historie " , fuhr er fort , " ist mehrere Jahre alt .
Der Trompeter heiratete die Tochter des Wiesbader Bürgers , nahm seinen Abschied und zog nach Schwalbach , wo er die Direktion der Musiken für die Saison zu übernehmen pflegt .
Aber seine Frau leidet seit jener traurigen Katastrophe ihres verschmähten Liebhabers an einem unheilbaren Übel .
Hätten die Ärzte nicht schon zuweilen ähnliche Beobachtungen gemacht , so würde man versucht sein , hier an einen Spuk , an eine Rache des gespenstischen Tambours zu glauben .
Die Frau des Trompeters hört Tag und Nacht ein dumpfes Murmeln an ihrem Ohr , das sich zu verschiedenen Zeiten steigert und ihr wie der Ton einer Trommel vorkommen muß .
Nachts schreckt sie aus dem Schlaf auf , zeigt mit stierem Blick auf die Tür , wo sie den blassen , kleinen Mann mit seinem Instrumente zu erblicken glaubt ; sie hat nicht Ruhe , wie tief sie sich auch in die Kissen des Bettes hineinwühlt .
Die Ärzte nennen dies eine unnatürlich präponderierende Kraft des Gehörsinnes und können sich auf die gleichzeitige Tatsache berufen , daß alle übrigen Sinne der Frau allmählich schwinden und der übermäßig hervorbrechenden Gehörskraft zu weichen scheinen .
Dabei ist sie abgefallen und bleich , ihr äußerer Körper verringert sich immer mehr :
ich sah sie , es ist eine ganz absorbierte Erscheinung , die Grausen erregt .
Sie selbst hat den festen Glauben an die Rache des Tambours , oder wie es diese Leute nennen , daß er im Grabe keine Ruhe habe .
Sie versicherte mich , daß das Gespenst ihr überallhin folge , in Küche , Boden und Keller ; ja auf dem Wege , selbst im Walde sah sie ihn oft , den Toten , wie er leibhaftig vor ihr stehe , die kleine , bleiche Figur , mit der Trommel auf dem weißen Schurzfell und dieselben gelbledernen Bandeliere um die Schultern gehängt , welche uns Preußen so fatal sind .
Die Ärzte wissen , daß die Frau bald sterben muß an totaler Nervenentkräftung .
Ich glaube es .
Gott , da steht sie ! "
" Wo ? " schrie Wally auf .
Cäsar lachte .
Es war ein Scherz ; aber sie hatte ihn übel aufgenommen und ließ sich mit der bittersten Laune über seine Späße und abenteuerlichen Erzählungen aus .
" Gehen Sie mit Ihren Trommeln und Trompeten !
Womit Sie sich doch alles abgeben ! " sagte sie mürrisch , empfahl sich und wandte sich allein dem Kaisersaal zu , wo sie wohnte .
9 9 Diese Szene war bald vergessen .
Auf die regnerischen Tage folgten mit dem Sonnenscheine tausend Aufforderungen der Natur , ihre Reize zu genießen .
Bis in die entfernteste Umgegend trugen Esel und kleine Gefährte den weiblichen Teil der Gesellschaft , welche als die Creme der Saison sich zusammengefunden hatten .
Wally war eine sprühende Girandole von Freude und Ausgelassenheit .
Sie bildete den wahren Mittelpunkt der Gesellschaft , so aber , wie es Wasserkünste gibt , wo man nur hier zu drücken braucht , um auf der entgegengesetzten Seite überall lustige Fontänen springen zu lassen .
Cäsar war verschlossen und reflektierte viel .
Dem Beobachter konnte es nicht entgehen , wie tief sich Wally in seine Neigungen eindrückte .
Wenn es nicht Liebe war , die ihn trieb , so war es die Aufgabe , die sich seine Eitelkeit gestellt hatte , Wally , diese Ungezähmte und Unbändige , überwunden zu haben .
Hütet euch , ihr Frauen !
Die Liebe der meisten Männer ist nichts als eine Huldigung , welche sie sich selbst bringen .
Der Rhein sollte das Ziel einer Spazierfahrt sein , der sich eine große Anzahl von Badgästen angeschlossen hatte .
Wally war noch vor diesem Ziele zu sehr ermüdet , als daß sie weiterkonnte .
Sie blieb bei einem der Bedienten zurück , um die nachkommenden Wagen abzuwarten .
So trennte sie sich unbemerkt von der Gesellschaft , so daß Cäsar , der auf Abwegen dem Zuge nachgeritten war , erstaunte , sie allein zu finden .
Er sprang vom Pferde und gab es dem Bedienten .
Wally und Cäsar gingen voran .
Der Verführung eines grünen Rasenplatzes mitten im Walde widerstanden sie nicht .
Während der Wagen und Cäsars Pferd auf der Straße hielten , gingen sie dem einladenden Ruheorte entgegen und setzten sich auf abgesägte Baumrümpfe nieder .
Es lag etwas Mechanisches in diesen Bewegungen , als wenn eine Verabredung stattgefunden hätte , und doch schwiegen beide .
Sie sprachen noch immer nichts , auch als sie beide mit gestütztem Haupte sich gegenübersaßen .
" Seit einiger Zeit sind Sie auf mich erzürnt , Cäsar ! " sagte dann Wally .
Ein Lächeln , das man kennen muß , um zu wissen , daß es nur die Maske eines tieferen Schmerzes ist , flog über ihre Mienen .
Das Lächeln Cäsars konnte Beistimmung oder Verwunderung sein .
Er war klug genug , sie darüber im unklaren zu lassen .
" Ihre Geschichten haben mich kaltgelassen " , fuhr sie fort .
Daran dachte Cäsar nicht mehr ; aber er sagte : " Hab ' ich sie denn verfaßt ? "
Nach einer Pause seufzte Wally tief auf , schlug ihren Blick zu Boden und begann eine Perspektive in ihr Inneres zu geben , die Cäsar neu war , an ihr zumal , und die ihn entzückte .
" Ich muß mich , ich muß die Frauen hassen " , sagte sie still ; " von Natur sind wir grausam , und zu den Gefühlen , welche wir zu äußeren wohl unter Umständen fähig wären , haben wir ursprünglich nur die bloßen Anlagen .
Glauben Sie es , Cäsar , die Frauen gedeihen nur durch die Männer .
Sie selber wären imstande , sich untereinander zu zerfleischen .
Niemand kann bei dem Elende der Menschen , bei Krieg , Erdbeben , öffentlichem und Privatunglück empfindungsloser sein als die Frauen .
Verstehen Sie mich recht , solange wir alleinstehen .
Was wir von Gefühl ursprünglich haben , das ist mehr Schauer als Bewußtsein , mehr tierische Furcht als Reflexion einer edlen Seele .
Ach , ich zittre oft vor einer Empfindungslosigkeit , die ich nicht zu heilen weiß ! "
" Aber woher die spätere Metamorphose der Frauen ? " fragte Cäsar , erstaunt über die Wahrheit , welche sich in Wallys Antlitze ausdrückte .
Sie stockte : sie blickte ihn an .
Er erriet und sank zu ihren Füßen .
Solange diese Situation stumm war , konnte sie zwischen beiden wohl empfunden sein ; als aber Wally nach einem Worte suchte , wies sie ihn zurück .
Ihm war es recht ; denn die Reflexion schlug ihn in den Nacken und hatte ihn unwillkürlich aufgerissen , da er auf nichts in seinem Herzen Vorbereitetes stieß und ihm jede Situation fatal war , in der er sich selbst nicht hätte beobachten können .
Sie saßen beide wieder auf ihren Baumstämmen .
Doch war es eine warme Stimmung , die sich ihrer bemächtigt hatte , in der sie wenn auch über nichts entscheiden , dennoch über alles unterhandeln konnten .
Wally verhehlte nicht , daß die Zauberrute , welche die im Herzen des Weibes schlummernden Gefühle erst wecke , die Liebe sei .
Cäsar ergriff ihre Hand und sagte : " Wir sind für die Illusion beide nicht gemacht .
Eine Mücke würde uns stören , wollten wir zu den Sternen beten .
Jede Aufwallung , bei der wir nur einen Augenblick unsere Manieren nicht in der Hand hätten , würde uns lächerlich scheinen .
Helfen wir uns beide !
Eine kurze Übereinkunft kann uns auf die Stufe versetzen , welche uns alle jene Glückseligkeit gewährt , die wir durch Zurückhaltung , Scham , natürliches oder kokettes Wesen niemals erreichen .
Wally !
Wally ! "
Jetzt lag Cäsar zu Wallys Füßen , wahrhaftig , ohne Bewußtsein , von einem ungeheuchelten Gefühle übermannt .
Aber was warf ihn nieder ?
Nicht die Liebe , sondern der Gedanke an eine Humanitätsfrage , die niemanden von euch fremd ist : der Gedanke an jene Augenblicke , wo wir , überdrüssig der konventionellen Formen des Lebens , zu aller Welt herantreten möchten und ihr zurufen : " O warum dies Gehäuse von Manieren , in welches du Spröde dich zurückziehst ?
Warum diese Verhüllung des Menschen in und an dir ?
Warum Zurückhaltung , du , mein Bruder , du , meine Schwester , da du doch gleichen Wesens mit mir bist , eine Hand wie ich zum Drucke , einen Mund wie ich zum Kusse hast ?
Ach , wie sehe ich rings um mich her eine so reife Ernte von Liebe und Schönheit !
Warum zögern bis auf Jahre , daß ich sie breche ?
Warum nicht das Entzücken , daß wir alle Menschen sind , schwach und stark , sterblich und unsterblich !
Diese unsichtbaren Barrieren , welche die Menschen trennen , welche auch den Jüngling vom Mädchen trennen , müssen fallen ; denn ich kenne dich , dein alles , dein Gehen und Stehen , deine Schwächen und Tugenden : siehe ! hier ist meine offene Brust , hier schlägt mein Herz , ich bin nichts , was noch etwas anderes wäre , als es ist , nichts , was du für etwas anderes halten dürftest .
Weib , in deinen Augen , in den Formen deines Körpers bist du überreif zur Liebe ; und wenn ich dich heute zum ersten Male sah , so pflückt ich dich , denn wir sind die Kinder eines und desselben Planeten , ich Mensch wie du , beide alternd , beide den Tod fürchtend , beide elend .
Was weichst du mir aus ? "
Wally zerfloß in Tränen .
So fast hatte Cäsar zu ihr gesprochen , und sie fühlte das Entzücken , statt eines Weibes Mensch zu sein .
Sie zitterte bei dieser echt philanthropischen Vorstellung , welche , wenn sie allgemein würde , die Welt durchaus umgestalten und ihre schwierigen Fragen im Nun lösen müßte .
Sie ließ die Umarmung Cäsars zu : nicht , weil sie ihn liebte , oder aus Egoismus , aus Stolz , einen Mann überwunden zu haben , sondern weil sie sich als das schwache Glied der großen Wesenkette fühlte , die Gott erschaffen hat , weil sie wußte , daß sie ja vor der Wahrheit und Natur ganz nackt und bloß und mitleidswürdig war , weil sie zuletzt glaubte , daß diese heißen Küsse , welche Cäsar auf ihre Lippen drückte , allen Millionen gälten unterm Sternenzelt .
Sehet da eine Szene , wie sie in alten Zeiten nicht vorkam !
Hier ist Raffiniertes , Gemachtes , aus der Zerrissenheit unserer Zeit Geborenes : und was ist die Wahrheit Romeos und Juliettes gegen diese Lüge !
Was ist die egoistische Geschlechtsliebe gegen diesen Enthusiasmus der Ideen , der zwei Seelen in die unglücklichsten Verwechselungen werfen kann !
Ich zittre vor einem Jahrhundert , das in seinen Irrtümern so tragisch , in seinem Fluche so anbetungswürdig ist .
1010 Die Übereinkunft der Liebe zwischen Wally und Cäsar mußte ihren Verhältnissen ein neues Kolorit geben .
Wir fürchten , daß die Farben allmählich erbleichen werden .
Aber noch sind sie hell und frisch ; noch liegt auf Wallys Antlitz der melancholische Schatten jener entzückenden Verirrung , in Cäsars Mienen die Resignation und Selbstzufriedenheit , welche selbst blasierte Charaktere und verwitternde Natürlichkeiten ergreifen kann , wenn der immer durstige Becher ihrer Wünsche einmal voll ist bis an den Rand der Erfüllung .
Das Wiederfinden eines Jugendfreundes unterstützte Cäsars reflektierende Persönlichkeit , sich in einer Welt zu halten , in welcher er sich seit einiger Zeit gefiel .
Waldemar hieß der neue Ankömmling , ein Mann , der einst blühend und schön war , in der Residenz zu Wallys Anbetern gehörte , dann heiratete und trotz der glänzendsten Verhältnisse zu keiner Freude kam , da seine Gattin an unheilbaren Üblen siechte .
Die Stimmung dieses Mannes teilte sich seinen Umgebungen mit , erst auch Cäsar , verlor sich aber an diesem in dem Augenblick , als sie für ihn durch folgende gemischte Anekdote einen Grund bekam .
Seit Waldemars Ankunft im Bade hatte sich nämlich das stille Bärbel von den beiden Indien zurückgezogen .
Ihr Betragen gegen ihn ließ keinen Zweifel , daß dieser Mann die Ursache ihrer Geistesverwirrung gewesen war .
Sie verfolgte Waldemar , wo er sich nur blicken ließ , und weinte oft auf dem Wege , wenn er in zahlreicher Gesellschaft vorüberging .
Jedermann kannte den Zusammenhäng dieser tragischen Komödie , doch wollten nicht alle glauben , was Waldemar versicherte , daß er sich dieses Mädchens durchaus nicht entsinne , nie mit ihr ein Wort gewechselt und auch im vorigen Jahre zum ersten Male Schwalbach besucht habe .
Cäsar aber glaubte diesen Versicherungen ; denn Waldemar war eine treue Seele , die niemanden betrüben konnte , noch weniger aber wäre eine Unwahrheit über seine Zunge gekommen .
Er nahm den Wahnsinn Bärbels von der lächerlichen Seite und suchte Waldemar zu trösten .
Ja , diesem melancholischen Manne fehlte nur noch eine neue Ursache seiner Schwermut !
Wally befand sich in einer Stimmung , die ihr den Verkehr mit beiden Männern , der immer gewisse Grenzen und Nuancen hatte , recht zum Genuß machte .
Einst wollte sie in einem Garten zu ihnen unbemerkt herantreten , während beide Freunde unter einem Boskett von verwelkenden Rosen sich unterhielten ; da sie aber hörte , daß ihr Gespräch religiöse Saiten aufgezogen hatte , so fürchtete sie , etwas zu verstimmen , und blieb unwillkürlich in einer Weite stehen , daß ihr von dem Gesprochenen nichts entging und sie dabei doch ungesehen blieb .
Sie fühlte das Mißliche dieser Situation in einem Augenblicke nicht , wo alle ihre Seelenfäden Gespinste zu schießen begannen , in die sie sich immer tiefer verstrickte , wo es einer Untersuchung über die Religion galt .
" Hätte ' ich einen größeren Wirkungskreis " , sagte Waldemar , " vielleicht gelänge es mir dann , den Unmut meiner Seele zu zerstreuen , wie auf jenen Bergen , auf welchen viel Waldleben herrscht , Tannen rauschen und die Natur in einer steten Bewegung ist , die Nebel sich leichter zerstreuen .
Ich bin ein kahler Hügel , jedem Windzuge offen und von jeder Wolke gleich bis tief unter die Augen bedeckt .
Nach ideellen Schutzwehren such ich ebenso vergebens .
Die Politik ist nur imstande , meine Schwermut zu vermehren , und die Religion hat man mir durch meine Erziehung verleidet . "
" Wer wird auch " , entgegnete Cäsar , " bei üblen Stimmungen Hilfe von der Religion erwarten !
Religion ist das Produkt der Verzweiflung :
wie kann sie die Verzweiflung heilen ? "
" Sie sollte es wohl ; jede Religion soll es , welche die Miene der Offenbarung annimmt " , sagte Waldemar .
" Echte Religion ist positive Heilkraft ; aber gleicht das Christentum nicht einer Latwerge , die aus hundert Ingredienzien zusammengekocht ist ?
Meine Vernunft sagt mir , auch ohne Hahnemanns » Organon « , daß die Krankheiten immer einfache und nur die Symptome zusammengesetzt sind , daß die Natur für jede ihrer Abnormitäten eine medizinische Rektifikation im simpeln Zustande hat und daß in einer Mixtur von Heilkräften eine Kraft die andere aufhebt .
Die unerhörte Überladenheit des Christentums aus traditionellen , historischen und biblischen Ursachen macht aber , daß es für den Schmerz der Seele ganz ohne Wirkung ist .
Eines seiner Dogmen stört das andere . "
Ein Krampf schnürte Wallys Brust zusammen .
Sie wankte ohnmächtig fort , bis jener Referendar , der über das Unzeitgemäße der politischen Garantien geschrieben hatte , ihren Arm ergriff und sie zu Waldemar und Cäsar führte , von denen er den ersten gesucht hatte .
" Waldemar ! " rief er : " was Sie glücklich sind !
Ein Ehegatte , und noch bringen sich Ihretwegen die Frauen um . "
" Was wollen Sie damit ? " fragte Waldemar .
" Sie müssen nicht erschrecken " , sagte jener ; " aber Ihr verlassenes Bärbel ist tot .
Sie ging gestern den ganzen Tag um Schwalbach herum , sich ein Grab zu suchen , blieb dann noch lange bei den beiden Indien , wankte darauf mechanisch fort bis an das Schloß Nassau , wo sie sich von der eisernen Hängebrücke hinab gestürzt hat .
An der linken Seite von hier , da , wo der Brunnen auf der Brücke steht , soll sie noch mehrere Stunden gesessen haben , wie die Leute versichern , die sie dort sahen .
Die Gerichte von dort schicken diesen Ring mit , der an dem Finger des Mädchens sich befand .
Ich habe ihn hier . "
Waldemar erblaßte .
" Mein Gott ! " schrie er .
" Dieser Ring- " Cäsar sprühte auf :
" Wie ? " rief er ; " Waldemar , du hättest dennoch - "
" Ja " , bemerkte der dritte : " ich kenne ' ihn .
Sie trugen diesen Ring vor mehren Jahren , Waldemar . "
Wally trat hinzu und nahm den Ring .
Sie betrachtete ihn und gab mit unpassender Heiterkeit die Erklärung :
" Waldemar , Sie gaben mir vor drei Sommern diesen Ring .
Ist eine Verheiratung dem Gedächtnisse so schädlich ? "
" Aber wie kam die Unglückliche zu dem Ringe , den alle Welt als ein Pfand meiner treulosen Versicherungen auslegen wird ? " fragte Waldemar mit bleichen Lippen , die doch wieder sprechen konnten , nachdem er sich auf die Huldigungen besann , die er einst Wally gebracht hatte .
" Ich hatte die Gewohnheit " , sagte Wally , " die Ringe meiner Verehrer jährlich im Bade zurückzulassen , indem ich sie in die Becher , die am Sprudel stehen , warf und diese dann armen Leuten oder Kindern zu trinken gab .
So ist die Närrin wohl zu dem Geschenke gekommen . "
" Gut erfunden ! " flüsterte der Referendar , dem im Augenblick auch sein Ehrenhandel mit Cäsar einfiel .
Wally blickte etwas stolz :
man kann durchaus nicht sagen , warum , und reichte dem Menschen ihren Arm .
Waldemar saß in tiefes Nachsinnen versunken .
Wie wunderbar war der Zusammenhäng dieses unglücklichen Ereignisses !
Man konnte versucht werden , an eine magnetische Einwirkung zu glauben .
Wer erklärte ihm , wie ein Ring eine Neigung veranlassen konnte zu einem Manne , den man nie gesehen !
Wie kam es , daß die Arme , gleich als sie ihn zum ersten Male sah , ihn als den Eigentümer des Ringes erkannte , den sie liebte und mit einer wirklichen Person verwechselte !
Er ging tief bekümmert in seine Wohnung und überredete seine kranke Gattin , mit ihm sogleich den Schauplatz so unheimlicher Begebenheiten zu verlassen .
Was aber empfand Cäsar bei dem Ereignisse ?
Nicht das Ereignis selbst , nicht den Schmerz seines Freundes , sondern nur eines , was ihn schon oft bei Vergleichung des Todes mit dem Leben interessiert hatte .
Das arme Bärbel war vor ihrem Ende unruhig in dem Flecken herumgewankt und hatte den Tod gesucht , der ihr notwendig schien .
Sie war bis nach der eisernen Brücke gelaufen , um den Tröster ihrer Leiden zu finden .
Ist es beim Selbstmorde eine unsichtbare Hand , die die Kehle zuschnürt ?
Geht man wahnsinnig , ohne Bewußtsein in den Tod , wie die Mücke in das brennende Licht stürzt ?
Oder ist man bei etwa vorhandener Kraft , sich noch als nachdenkend zu fühlen , schon so mit dem Tode verschwistert , daß jener weitere Akt des Selbstmordes nur die Publikation eines Befehles wird , der schon abgemacht und im stillen ausgeführt ist ?
Darüber sann Cäsar nach und konnte sich vor Schmerz nicht fassen , als er bei dem Verfolgen von Bärbels Benehmen nur darauf zurückkam , daß die Furcht vor dem Tode doch immer das Ursprüngliche und bis zum schwindenden Bewußtsein das Letzte sei .
Die Unzulänglichkeiten der Erhabenheit , sagte er , die Furcht vor dem Tode , der Schmerz , nicht wie Brutus , der alte und der junge , töten , nicht wie Cato sterben zu können , die Bitte des Prinzen von Homburg , ihn leben zu lassen : das ist das Tragische unserer Zeit und ein Gefühl , welches die Anschauungen unserer Welt von dem Zeitalter der Schicksalsidee so schmerzlich verschieden macht .
Sie wollte sterben und lief einen ganzen Tag , einen Weg von sechs Stunden , um den Tod zu finden , den sie herzlich suchte und den sie fürchtete !
So war Cäsar .
1111 Jenes feste und präzise Benehmen , das Wally bei der Aufklärung über den Ring gezeigt hatte , war nur durch die Situation hervorgerufen worden .
Auch wird sich niemals ein Weib bei der Leidenschaftlichkeit einer anderen enthalten können , sich aufzuschnellen und mißachtend auf die fremde Verirrung herabzusehen .
Diese Stimmung war aber nur eine vorübergehende .
Die Erklärung , welche Waldemar über das Christentum abgab , hatte auf ihre Seele wie die Berührung eines kranken Zahnes gewirkt .
Glaubt ihr , Wally habe nach einem Mittelpunkte ihres Lebens gesucht ?
Wahrlich nicht .
Nirgends lagen etwa zerstreute Bruchstücke von Gedanken , die sie gern verbunden hätte .
Unmittelbar und zufällig war ihr ganzes Leben : nur im Religiösen stand sie oft wie ein Wanderer auf der Landstraße , der den Weg verfehlt zu haben glaubt , sich in der Gegend umblickt und mit seinem Ortssinne sich zu orientieren sucht .
Es war ein ganz bewußtloses Sinnen , ein träumerisches Fühlen , dem sie sich tastend und anpochend hingab .
Von einer Reflexion , einer zusammenhängenden Untersuchung konnte bei Wally nicht die Rede sein .
Sie litt an einem religiösen Tick , an einer Krankheit , die sich mehr in hastiger Neugier als in langem Schmerze äußerte .
Sie war wie in einem Zimmer , das sich plötzlich mit Rauch füllt und wo man sich nicht anders helfen kann , als an das Fenster zu springen , es aufzureißen und mit einem unmäßigen Gestus nach frischer Luft zu haschen .
Wally wußte selbst nicht , was alles zusammentraf , sie nachdenklicher als je zu machen .
Sie hatte zum ersten Male einige Beobachtungen über ihren Zustand in eine zusammenhängende Kette aufgereiht .
Sie war vor ihren Gedanken nicht scheu zurückgeschreckt , sondern hatte sie diesmal scharf ins Auge gefaßt .
In einem Brief an eine Freundin suchte sie ihrer Angst Luft zu machen .
Der Brief war vielleicht vollendet .
Sie wagte nicht , was sie hatte , wieder durchzulesen .
Auch verzweifelte sie während des Schreibens , ihn abzusenden .
Sie zerriß ihn .
Einige Minuten blickte sie die Reste an ; dann ordnete sie mechanisch , was davon noch vor ihr lag .
Die Linien und Buchstaben paßten zusammen .
Jetzt erst las sie ihn , wo sie gleichsam wußte , daß er ihr nichts mehr schaden könne .
" Meine teure Antonie " , hatte sie geschrieben , " Deine geschmackvollen Muster , das sehr hübsche Diadem , was aber wohl zu meinem Haare nicht stehen wird , auch die englischen Nadeln und die neuen Touren zum Kotillon habe ich bekommen .
Ich danke Dir , Antonie !
Verzeih mir nur , daß ich nicht jetzt auch mit all dem Entzücken davon spreche , das ich wirklich über Deine Gefälligkeit und die Gegenstände derselben empfunden habe .
Du glaubst nicht , in welcher wunderlichen Stimmung ich heute bin .
Und heute mußte ich doch schreiben - morgen würde ' es schon besser sein .
Nur eins sage mir , Antonie , hast Du wohl in Deinem Leben einen frohen , recht frohen Augenblick gehabt ?
Ich besinne mich vergebens auf einen ; denn es ist doch immer eine peinliche Unruhe und Hast , von der wir getrieben werden , eine Ängstlichkeit , von welcher die Männer keine Vorstellung haben .
Zuweilen erschrecke ich vor dieser pflanzenartigen Bewußtlosigkeit , in welcher die Frauen vegetieren , vor dieser Zufälligkeit in allen ihren Begriffen , in ihrem Meinen und Fürwahrhalten .
Der Augenblick ist der Urheber unserer Handlungen und die Vergeßlichkeit die Richterin derselben .
Ach , Antonie , ich beschwöre Dich !
Nimm diese Klagen nicht als die Frucht eines regnerischen Tages ; Oh - ich leide an einem Schmerze , der unheilbar ist , da ich ihn gar nicht zu nennen weiß .
Das rennt , läuft , springt , lacht , singt , weint , zankt - nun sage mir um des Himmels Willen , was steckt dahinter ?
Was ist der Kern dieser spiralförmig fortkreiselnden Unruhe ?
Die Männer sind glücklich , weil man an sie Anforderungen macht .
Das Maß ihrer Handlungen ist der Beifall oder der Nutzen , den sie damit gewinnen .
Auch dies sage , warum wir den » Faust « nicht lesen sollen ?
Die Schilderung jener Zweifel , die eines Menschen Brust durchwühlen können , macht uns vertraut mit ihnen und die Wirkung derselben für uns weniger gefährlich .
Aber ich fühle es , daß sich in jedes Menschen Herzen innere Gedichte entwickeln , eine ganze Historie von Wundern , die wir zu erklären verzweifeln , Gedichte , in denen wir selbst der von den Göttern verfolgte , geneckte , scheiternde , irrende Ulysses sind .
Das ist alles halb , siehst Du .
Es ist noch immer nicht das , was ich sagen möchte und nicht sagen kann .
Liebe Antonie , das ist der Fluch :
man verlangt nichts von uns , man will gar nichts , es kommt gar nichts drauf an .
Auch dies noch :
wir haben einen Ideenkreis , in welchen uns die Erziehung hineinschleuderte .
Daraus dürfen wir nun nicht heraus und sollen uns nur mit Grazie wie ein gefangenes Tier an dem Eisengitter dieses Rondells herumwinden .
Diese Gefangenschaft unserer Meinungen - ach , war Spreu für den Wind !
Rechte will ich in Anspruch nehmen , für wen ?
für was ?
O Antonie , ich habe nichts , was wert wäre , gedacht :
ich will gar nicht sagen , gemeint oder gesprochen zu werden .
Ich drücke an den Begriffen , die mir zu Gebote stehen ; aber sie sind elastisch und geben immer nach und gehen immer wieder zurück .
So glaube ich , kommen auch die Revolutionen , wenn die Menschen so viel Mühe haben , an ihrer Stirn hin- und herfahren und ihre welke Begriffstyrannei gern stürzen möchten mit etwas , was sie suchen , aber nicht finden können .
Dann schaffen sie sogar Gott ab , nämlich , weil sie ihn wahrhaftig nicht verstehen .
Es ist auch schwer , Antonie !
Die Schöpfung - schon gut ; aber woher ? womit ? warum ?
Der Mensch , der Affe , der Polyp , die Sinnpflanze , das Moos , der Stein , der Kristall , das Wasser , die Luft , der Wind , nichts : wo ist Gott ?
Oder wollt ihr nicht den Weg des Wassers gehen : so geht den des Feuers !
Der Vulkan , das Licht , die Wärme , die Elektrizität , der Magnetismus : wie kann Gott in der Voltaschen Säule stecken ? "
Hier mußte Wally laut auflachen bei all ihrem Schmerz und Unglück .
Der komische Konflikt der Schulweisheit mit ihrer Melancholie , die Vergleichung Gottes und jenes kleinen Professors der Physik , der sie mit Papinianischen Töpfen , Herobrunnen und Luftpumpen so tief in die Natur hatte sehen lassen wollen , ob er gleich selbst nur ein Auge hatte , das waren zu drollige Erinnerungen .
Sie zuckte mitleidig mit sich selbst über sich selbst die Achsel und ging Cäsar entgegen , der viel ungereimtes Zeug mit ihr zu sprechen hatte .
1212 Ein Begegne , das Wally kurze Zeit darauf erlebte , machte den ersten Abschnitt in ihrem Leben .
Es schien , als könnte sie in ihrem jetzigen Aufenthalte die Heiterkeit nicht wiedergewinnen , welche ihrem Charakter entsprach .
Ein Umstand aber veranlaßte bald die Abreise von Schwalbach .
Wally war eines Abends spät und unmutig zu Bett gegangen .
Die Lampe brannte noch auf ihrem Tische ; aber sie konnte nicht schlafen .
Ihr Blut war in fieberhafter Aufregung .
Sie warf sich unruhig hin und her , aber ihre Sinne wollten sich nicht lösen .
Da sprang sie auf , setzte sich an den Tisch und fing all die Mittel zu prüfen an , welche die Leute anraten , um in gleichmäßige Bewegung des Bluts zu kommen .
Sie zählte die zwölf Glockenschläge an der Kirchturmuhr , sie zählte das Einmaleins her , von vorn und hinten , deklamierte das einzige Gedicht , welches sie bei ihrem schlechten Gedächtnis auswendig wußte :
" Eine kleine Biene flog emsig hin und her und sog . "
Nichts half .
Da erblickte sie auf dem Tisch die Anordnungen , welche sie neulich gemacht hatte , um an ihre Freundin zu schreiben .
Sie ergriff die Feder und schrieb :
" Meine teure Antonie , Deine geschmackvollen Muster , das sehr hübsche Diadem , was aber wohl zu meinem Haare nicht stehen wird , auch die englischen Nadeln und die neuen Touren zum Kotillon habe ich erhalten .
Ich danke Dir , liebe Antonie !
Verzeih mir nur - "
" Abscheulich ! " rief sie aus und trat an das Fenster .
Der Mond beleuchtete hier und dort einen Teil des engen Tales und seiner Umgebungen .
Er war mit Wolken bedeckt , die aber nicht eilten , sondern schwer auf ihm hafteten .
Es wehte kein Wind .
In sanfter , nächtlicher Stille ruhte die malerische Natur .
Ein tannenschwarzer Bergrücken begrenzte auf der einen Seite die ovale Rundung des schlummernden Tales .
Nirgends die Ahnung eines menschlichen Wesens .
Wally hüllte sich in einen leichten Nachtüberwurf .
Ihr Zimmer lag zur ebnen Erde .
Mit einem Tritte war sie draußen im Freien .
Ohne mehr zu wollen , als die Hitze ihres Blutes abkühlen , stieg sie zur linken Hand die Straße hinauf , dann wieder hinunter zum Alleesaal hin .
Sie wird nur einige Schritte unter den Bäumen auf und ab gehen .
Als sie ein weniges weitergekommen war , vernahm sie ein sonderbares Geräusch , welches man für das Seufzen einer schwankenden Pappel hätte halten können , wäre ein starker Wind gegangen .
Sie erschrak , wie diese Laute sich immer deutlicher als Gestöhn und schmerzliche Klage zu erkennen gaben .
Es war wie das Jammern eines Verwundeten , der sich fürchtet , durch übergroßen Schmerzausdruck des Mundes vielleicht die brennenden Leiden seines Schadens desto stärker zu machen .
Wally blieb betroffen stehen .
Ihr siedendes Blut gerann , und die Fieberhitze wich einer kalten Erstarrung , in die der Schreck ihre Glieder versetzte .
Sie sah , daß sich im Hintergrunde der Allee etwas bewegte , das auf sie heranzukommen schien .
Die Angst hatte sich ihrer Seele so sehr bemächtigt , daß sie nicht einmal wagte zu entfliehen .
Wie angewurzelt blieb sie stehen und wankte nur , als eine menschliche Figur immer näher trat , mechanisch hinter einen Baum , von dem sie glaubte , daß er ihr Schutz gewähren könne .
Ein Weib kam mit händeringenden Gebärden .
Sie wandte sich oft gespenstisch um und suchte etwas , was man nicht sehen konnte , von sich abzuwehren .
Dann fuhr sie mit einer grauenerregenden Vehemenz und sie begleitendem Geheul in die Gegend ihres Kopfes , als wolle sie etwas bedecken oder irgendeinen übergroßen Schmerz stillen .
Wally zitterte .
Jetzt stand die Unglückliche , welche nicht im Fieber zu sein , sondern das volle Bewußtsein zu haben schien , dicht vor ihr .
Wally sah , wie sie schwankte und zu Boden stürzte .
Mit einem fürchterlichen Geschrei wühlte das entsetzliche Weib ihren Kopf in den losen Sand und rang , ihre Hände gleichsam zu vervielfältigen , um den Kopf von allen Seiten bedecken zu können .
Dabei stöhnte sie wieder und sah sich , wie tief sie auch den Kopf in den Sand hineingewühlt hatte , um und fuhr mit einem gräßlichen Schrei auf , als hätte sie einen Geist erblickt , bis sie ohnmächtig und besinnungslos in dieser gräßlichen Lage verstummte .
Wally wagte nicht , einen Laut von sich zu geben .
Als das Wesen sich beruhigte , versuchte sie aufzutreten , ob man sie auch nicht hören könne , wagte dreistere Schritte und floh , als sie eine Strecke weit von der Szene entfernt war , der sie hatte beiwohnen müssen .
Sie fror an allen Gliedern , als sie auf ihrem Lager sich gebettet hatte , und schlief ein aus Furcht .
Am folgenden Morgen betrieb sie die Abreise .
Die Tante zögerte .
" Unter keiner Bedingung ! " rief Wally ; " ich bin eines Ortes müde , der mich umbringen muß . "
Das war ein fürchterlicher Ausdruck ; die Tante war diese Wendungen nicht gewohnt .
Sie entsetzte sich und reiste ab .
Als Cäsar sie beide an den Wagen begleitete , erzählte er ihnen noch , daß die Frau des Trompeters an der gespenstischen Trommelmusik ihres Ohres diese Nacht gestorben sei .
Sie sei vor Unruhe aus dem Hause gerannt , habe nachts die ganze Stadt durchirrt , um den grauenhaften Tönen zu entfliehen , und sei in der Allee gefunden worden , wie sie mit dem Kopf in den Sand gewühlt dagelegen .
Wally winkte mit der Hand , daß er schweigen solle .
Cäsar aber glaubte , daß sie ihn zum Abschied grüße ; die Pferde zogen an , und , den Spruch des großen Römers parodierend , sagte er zu dem Fahrzeuge :
" Du trägst Cäsar und sein Glück ! "
Zweites Buch 1 1 Der Sommer reifte zur Ernte .
Aus seinen letzten Fäden spann sich ein Herbst voll Kelterlust .
Die Astern sammelten noch einmal alle Farben der schönen Vergangenheit , dann starb die Natur , und was zurückblieb , legte den Frostreif und Nebelflor der Trauer an .
Die Ströme gerannen , die Wolken zerrieben sich zu Schneeflocken .
Der Winter kam in seinen Pelzschuhen angeschlichen und klopfte mit Weihnachtsfreuden an die Reifblumen der Fenster an .
Wally wirbelte sich in einer Lust , die sie so zauberhaft zu regeln verstand .
Was Religion !
Was Weltschöpfung !
Was Unsterblichkeit !
Rot oder blau zum Kleide , das ist die Frage .
Ob es besser ist , die Haare zu tragen à la Madeleine oder sie zusammenzukämmen zu chinesischem Schopfe ?
Tanzen - vielleicht auch Sprüchwörter aufführen - Oh , nur gering ist die Zahl der Vergnügungen , welche im Verhältnis zur zunehmenden Zivilisation nicht mehr lächerlich sind : so sehr gering ! falls man sich selbst so viel liebt , nicht Karten zu spielen , jene melancholischen Spiele Albions und der nordamerikanischen Yankees , wenn man noch wie Mendelssohn philosophisch und kantisch genug ist , für den Scherz keinen Ernst und für den Ernst keinen Scherz aufzuwenden !
Aber eine Unterhaltung ist unerschöpflich ; ein Spiel unermüdlich .
Das ist die Koketterie .
Wally hatte damit alle Hände und alle Mienen voll zu tun .
Künstliche und natürliche Launen waren die Zahlen , mit welchen sie ihre Umgangsexempel zusammensetzte .
Wally ließ die ganze Welt wie elastische Figuren auf dem Resonanzboden ihrer Einfälle springen .
Sie spielte die kapriziösen Melodien zu allen diesen Bewegungen , welche sie lachen machten .
Was wollte sie auch mehr ?
Sie wollte nicht einmal den Ruf davon , die Neigungen ihrer Umgebungen so unübertrefflich eskamotieren zu können .
Sie tat alles ohne Stolz , ohne Absicht , ohne Bewußtsein .
Sie war bezaubernd !
Cäsar war die Balancierstange dieser Equilibres .
Er rektifizierte wie irgendein chemisches Natron alle die barocken Konfusionen , welche Wally anrichtete .
Cäsar fiel dabei bald hier- , bald dorthin , in jenem ersten Bilde .
In diesem letzten nahm Wally bald größere , bald kleinere Portionen von ihm .
Er fehlte aber nie , und diese perspektivische Verschiebung bald zu einer Gunst von einer Linie , bald zu einer von zwei Zollen oder drei , hielt ihn in der Spannung , welche Männer allein zu fesseln imstande ist .
Es ist möglich , daß Cäsar Wally liebte , wenigstens war sie ihm eine Vertraute geworden .
Er hätte sie vielleicht einem anderen abtreten können ; aber von ihr sich trennen , das konnte er nicht .
Und doch !
Vielleicht !
Wir sind Scharlatane , wir können alles !
Es war auf einem glänzenden Balle , der am Hofe gegeben wurde .
Cäsar , der nicht tanzte , weil die Prinzessinnen zugegen waren und es ihn beleidigt haben würde , wenn sie ihm durch ihre Kammerherrn die herkömmlichen Aufforderungen geschickt hätten , zog sich zurück .
Wally beachtete ihn nicht .
Er nahm das leicht .
Er wußte , daß Wally weit entfernt war von der gewöhnlichen Ansicht deutscher Mädchen , dem Tanze eine sinnliche Bedeutung oder die Bedeutung irgendeiner Gunst unterzulegen ; er wußte , daß sie diejenigen liebte , mit denen sie nicht tanzte .
Und doch war sie heute aufgeregter als jemals .
Das nahm ihn Wunder und verstimmte ihn .
Als Wally zu ihm trat , sprach sie :
" Ich habe Sie suchen müssen .
Wo stecken Sie ?
Ich muß Ihnen etwas sagen . "
Sie standen in einem der entlegeneren Zimmer .
" Und was ? "
" Ich werde den sardinischen Gesandten heiraten ; aber wir sprechen uns noch ! "
Damit war sie verschwunden .
Cäsar eilte nach Hause .
Er hatte durchaus nichts , was ihn drückte , und doch entschloß er sich , eine kleine Reise zu machen .
Er war sehr unruhig den ganzen Tag , mehrere Tage .
Er machte die Reise .
Er notierte , zeichnete , schrieb viel Briefe .
Er würde sich vortrefflich zerstreut haben , wenn ihm nicht aus jedem Baum , aus jedem Echo zugeklungen wäre :
Aber wir sprechen uns noch !
Dies Aber ! machte ihn verwirrt ; denn es klang wie eine so schwärmerische , träumende Liebe , daß er geglaubt hatte , den letzten lechzenden Seufzer , das kaum gelispelte felicissima notte einer Italienerin zu hören .
" Sind das schon die Wirkungen der sardinischen Gesandtschaft ? " sagte er lächelnd und kehrte hübsch beruhigt in die Residenz zurück .
Er hatte bald darauf von Wally die Einladung zu einem vertrauten Gespräch. 2 2 Am Tage , wo die Unterredung mit Wally stattfand , hätte man bei Cäsar nicht ahnen können , mit welcher Katastrophe er schließen würde .
Cäsar schien die ganze Beruhigung zu besitzen , welche man von seinem Charakter erwarten durfte .
Höchstens ließen sich jene forcierten Scherze , mit welchen er um sich warf , vermuten , daß irgendein Gefühl wie ein Ereignis bei ihm im Anzuge war , dem er zu entgehen wünschte .
Diese Scherze sind immer die überm Meere kreisenden Möwen , welche den Sturm ankündigen .
Wenn er einem Freunde begegnete , der auf dem Stadtgericht arbeitete , so fragte ihn Cäsar :
" Was hast du jetzt unter Händen ? "
" Ehescheidungen " - hieß es .
" Also noch immer schlechte Ehen ? "
" Schlechte Wahlen vor der Hochzeit , Leichtsinn - "
" Ganz richtig " ; erklärte dann Cäsar .
" Es ist ein Unglück , wenn man sieht , mit welchem Leichtsinn die Ehen geschlossen werden .
Der Besitz einer kleinen Aussteuer lockt den Handwerker , ein Frauenzimmer zu heiraten , welches er gar nicht liebt .
Der Staat sollte niemals die Ehe bürgerlich vollziehen lassen , bis nicht ein Kind vorhanden ist , welches das Dasein der Liebe vorher ausweisen muß . "
Der junge Mann vom Stadtgerichte lächelte zu diesem Vorschlage .
Cäsar ging und begegnete einem anderen Freunde .
" Du bist verliebt " , sagte er ihm ; " aber Antonie ist arm . "
Es war dieselbe Antonie , an welche Wally einst schreiben wollte .
" Antonie ist arm ! " hieß die weinerliche Bestätigung .
" Siehe , was zu tun wäre ! " schlug Cäsar vor .
" Das Heiraten durch die Zeitungen greift um sich .
Aber man ist erst einen Schritt weit gekommen , wenn die Frauen durch Zeitungen nur Männer bekommen .
Der zweite Schritt wäre , daß sie durch die Zeitungen auch zu Vermögen kämen .
Die Mädchen sollten sich durch ein Lotto ausspielen .
Sie sollten die Männer auffordern , Aktien auf ihren Besitz zu nehmen , Aktien , meinetwegen eine jede zu fünfhundert Talern .
Hundert Lose dieser Art geben eine Summe von 50000 Talern .
Die Wahrscheinlichkeit , daß unter hundert ich - du - er gewinnen , ist sehr groß : man gewinnt ein Weib , ein reiches Weib , ein schönes Weib .
Denn um eine Schöne muß es sich handeln , der Nebengewinne wegen , welche in Zugeständnissen mancher Art an diejenigen bestehen müssen , welche sich mit Aufopferung von fünfhundert Talern der seligen Chance aussetzten , Mann einer schönen Frau und Besitzer zufälliger 50000 Taler zu werden .
Mein Lieber , das heißt die Gesellschaft revolutionieren . "
Jener hatte nur an Antonie gedacht ; Cäsar an nichts , als sie scheiden .
Der Abend kam heran .
Die Tür zu Wallys Gemächern öffnete sich .
Beide saßen sich stumm gegenüber .
Cäsar , der von Wally nicht erwartet hatte , daß sie sich in ein schwärmerisches schwarzes Kleid werfen würde : Wally , welche nach einem Blicke in Cäsars Mienen geizte , der verzeihend , warm und siegend auf sie wirkte .
Liebenswürdig war es von diesem grenzenlosen Leichtsinn , daß er Tränen am Auge hängen hatte .
Cäsar schwamm in Entzücken .
Er war auf eine Komödie gefaßt und fand eine tragische Szene , die ihn erschütterte .
Alles , was sie sprachen , war nur , um den Erklärungen , die sie sich machen wollten , zu entgehen .
Cäsar mochte in seiner Eitelkeit übertreiben ; Wallys Bescheidenheit lag wohl nur darin , daß sie glaubte , Cäsar um Verzeihung bitten zu müssen .
Alles übrige aber dichtete seine Phantasie hinzu .
Sie hielten ihre Hände ineinander und sprachen recht eifrig über Dinge , auf welche gar nichts ankam in ihrer Lage .
Sie sprachen von der Erfindung des Schießpulvers , vom Gesetz der Schwere , vom Kompaß und der Magnetnadel , worüber sie schnell abbrachen , um nur immer wieder auf Neues zu kommen .
So verrann die Zeit , aber das Entzücken Cäsars stieg .
Wallys Hand nahm er und legte sie sanft auf die Lehne des Sofas , um sie als Kopfkissen zu brauchen .
Sie lächelte dazu und warf ihm das ganze Polster ihres elastischen Körpers , sich selbst in aller ihrer Anmut nach .
Sie hielt ihn umschlungen , während sie unwillig glaubte , daß er es täte .
Ihre nur leis aufgesteckten Locken nestelten sich los und küßten Cäsars brennende Wangen .
Die langen Augenwimpern senkten sich majestätisch sanft auf die bläulichen Ultramarinringel , welche unter dem Auge so viel Leidenschaft verraten .
Dieses Herablassen des Vorhangs , dieser Fensterladenschluß der Weiblichkeit , diese Verhüllung ist das reizende Gegenteil dessen , was sie scheint , weil sie nur allmähliche Entwaffnung ist .
Es ist das Sinken des Tages , der aufsteigende Stern , dessen feuchte Strahlen die Kronen der Blumen auflockern und die Kelche erschließen , während die Kelche zu schlafen scheinen .
Cäsar umarmte Wally mit glühendem Entzücken und rief aus : " O Wally , ich will nicht grausam sein !
Ich eile allem zuvorzukommen , was sich auf deiner Lippe zu Tode ängstigt und gern sprechen möchte .
Ich dringe nicht auf den Besitz dieses göttlichen Leibes , dessen Seele mich stets umhauchen wird .
Aber - o Gott ! "
- " Was ist ?
Cäsar !
Sprich !
Fordere !
Alles , alles ! "
Cäsar sann und war wie von einem unbekannten Gefühle ergriffen .
Er strich mit der Hand über seine Stirn und sagte dann leise mit sanften und zärtlichen Worten zu Wally :
" Sie werden reisen :
ich auch .
Wir werden uns in vielen Jahren nicht wiedersehen .
Da gibt es ein reizendes Gedicht des deutschen Mittelalters , der » Titurel « , in welchem eine bezaubernde Sage erzählt wird .
Schionatulander und Sigune beten sich an .
Sie sind fast noch Kinder : ihre Liebe besitzt die ganze Naivetät ihrer jugendlichen Torheit .
Ich spreche nicht von Tschionatulanders Tod , weder vom treuen Hunde , der aus der Schlacht die tragische Botschaft bringt , nicht von Sigunes Klage , wie sie den Leichnam des Geliebten im Arme haltend unterm Baume sitzt , wo Parzifal an ihr vorüberkommt im Walde , nicht von dem Edelstein unserer deutschen mittelalterlichen Dichtkunst .
Nur jener Zug ist so meisterhaft schön , wo Schionatulander , als er in die Welt hinausmuß und sein treues Windspiel klug zu den beiden Liebenden hinaufsieht , Sigune anfleht um eine Gunst- " Cäsar stockte und sprach dann leise , mit fast verhaltenem Atem : " daß Sigune , um durch ihre Schönheit ihn gleichsam fest zu machen , wie der magische Ausdruck der alten Zeit ist , um ihm einen Anblick zu hinterlassen , der Wunder wirkte in seiner Tapferkeit und Ausdauer - daß Sigune - in vollkommener Nacktheit zum vielleicht - ewigen Abschiede sich ihm zeigen möge . "
Wally betrachtete Cäsar einen Augenblick .
Dann erhob sie sich stolz und verließ , ohne ein Wort zu sprechen , das Zimmer .
An ihre Rückkehr war nicht zu denken .
Cäsars Antlitz zeigte einen schmerzhaften Ausdruck .
Er hatte das Höchste bewiesen , dessen seine Seele fähig war , die kindlichste Naivetät , eine rührende Unschuld in einer Forderung , die empörend war ; aber die Scham , die erst in ihm aufglühte , verschwand vor seinem Stolze , so edel und rein erschien er sich .
" Sie ist ohne Poesie , sie ist albern , ich hasse sie ! " stieß er heftig heraus , trat zornig mit dem Fuße auf , lauschte und verließ , da er nichts als den Schlag der Pendeluhr im Nebensaale vernahm , mit unwillkürlichem Geräusch das Zimmer und das Hotel .
Er schwor , es niemals wieder zu betreten .
" Sie hat nicht mich , sie hat die Poesie beleidigt .
Sie ekelt mich an ! " rief er und malte sich Wally mit den gräßlichsten Farben , daß es ihm keine Freude machen mußte , noch an sie zu denken .
Wenn sie ihm noch einfiel , so geschah es nicht , ohne daß er mit dem Fuße etwas von sich stieß .
3 3 Inzwischen rückte Wallys Vermählung heran .
Sie gestand sich oft und selbst ihren Umgebungen , daß es ihr wäre , als würde ein unsichtbares Netz , das sie aber fühle , immer enger angezogen , und daß es ihr bald zum Ersticken sein müßte .
Alles , was man nur brachte , um die Atmosphäre recht duftend und verführerisch zu machen , drückte ihren Atem noch mehr zusammen ; sie ging wie Gretchen im " Faust " und lüftete Fenster und Türen , da Mephistopheles im Zimmer es so schwül gemacht hatte .
Noch größer war aber die Unruhe in ihrem Inneren .
Sie brauchte gern physikalische Gleichnisse und verglich sich mit dem Gefühl eines lebenden Wesens , das man in die Glocke einer Luftpumpe setzt ; mit dem Vogel , dem es von innen und außen bei entzogener Luft weh wird .
Ach , sie konnte Cäsar nicht vergessen :
sie konnte jene begeisterte Miene des Freundes nicht vergessen , jene unschuldige Seligkeit , die sie an ihm noch nie gekannt hatte und die er damals zeigte , als sie einige aus seinen zuckenden Lippen schleichende Worte mit so pedantischer , altkluger Entrüstung aufnahm .
Schon im nächsten Augenblicke , als sie gegangen war , war sie sich mit ihrer Tugend recht abgeschmackt vorgekommen .
Wally fühlte bald , daß Cäsar an das Unsittliche seines Antrags im Momente nicht gedacht hatte .
Sie machte sich den Vorwurf , diese Überlegung an dem Manne nicht abgewartet zu haben .
Auch mußte sie sich gestehen , daß Cäsar ihr vielleicht nie das Prekäre der Situation eingeräumt haben würde .
Jetzt wußte sie , worin der ganze Zauber liegt .
Sie fühlte , daß das wahrhaft Poetische unwiderstehlich ist , daß das Poetische höher steht als alle Gesetze der Moral und des Herkommens .
Sie fühlte auch , wie klein man ist , wenn man der Poesie sich widersetzt .
Ach , das quälte sie , untergeordnet zu sein und weniger unschuldig im Grunde als die Poesie , die Menschen braucht und schildert !
Wally schlug die rührende Geschichte nach , die ihr Cäsar erzählt hatte .
Sie weinte mit Sigune , sie kostete die Unschuld , die in dem Verlöbnis der beiden Liebenden des Gedichtes lag , allmählich immer tiefer .
Es liegt in der Schönheit der Natur eine göttliche Gewalt , die bezaubert .
Wally beugte und wand sich mit all ihren schönen Grundsätzen und den Lehren , die sie ihrer Erziehung , ja selbst ihrer vernünftigen Überlegung verdankte , vor dem Ideale des Naturschönen .
Sie ging noch weiter .
Sie gab die Natur auf , sie hielt sich an die Kunst , an das Gebilde der Phantasie , das in sich abgerundet und hier so richtig gezeichnet war wie jeder logische Zirkel ihrer tugendhaften Entschlüsse .
Sie kam sich verächtlich vor , seitdem sie fühlte , daß sie für die höhere Poesie kein Gegenstand war .
So konnte es nicht mehr fehlen , daß sie sich bald selbst dazu machte .
Wie oft war sie Cäsar begegnet !
Er blickte stolz !
Er hatte eine Moral , die über der ihren war !
Er konnte das Auge erheben , das Ideale hob es in ihm !
Wally konnte nicht stolz sein , an ihr schien die Reihe der Scham zu sein .
Sie fürchtete sich vor Cäsar .
Ihre ganze Tugend war armselig , seitdem sie ihm gleichsam gesagt hatte , die Tugend könne nur in Verhüllungen bestehen , die Tugend könne nicht nackt sein .
Cäsar hatte an ihr den poetischen Reiz verloren .
Er übersah sie .
Ob es wohl Menschen gibt , dachte Cäsar eines Tages bei sich selbst , welche die Literatur und das , was dem Leben durch sie an schönen Elementen und Staffagen gegeben wird , für eine Tyrannei und eine despotische Willkür der Dichter und Künstler halten ?
Wäre ich selbst Autor , so würde mich dieser Gedanke erschrecken .
Ich würde die Gleichgültigkeit , die Dummheit der Maße immer mit einer Strafe verwechseln , welche ich als Autor für die Zudringlichkeit meiner Schöpfungen mit Recht einernte .
Ich würde zittern , wenn von Büchern die Rede kommt , und würde immer gewärtig sein , daß jemand aufträte und die Literatur in die Kategorie von Warenartikeln stellte , von Ellen- oder Kolonialwaren , die man nimmt oder stehenläßt , je nach Bedürfnis .
Ich brauche die Schönheit nicht !
Fürchterlich , wenn von Homer und Ossian die Rede wäre !
Ich brauche nicht einmal die Bestrebungen um das Schöne , wenn von einem Erstlingsversuche die Rede wäre !
Ja , es gibt Menschen dieser Art , welche die Poesie für eine Zumutung halten , Geldmenschen , Aristokraten , manche Könige , auch Frauen , besonders wenn sie schön sind und sie deshalb glauben , der Bildung überhoben zu sein !
Cäsar dachte dabei gewiß nicht an Wally ; denn welch ein Unterschied ist es , für das Außerordentliche sich interessieren und dem Außerordentlichen sich als Staffage unterlegen !
Er hatte aber in dem Augenblick einen Brief von Wally in der Hand .
" Ich habe Sie beleidigt " , schrieb sie ihm ; " Sie wissen es ja , Cäsar , daß der Mutlose immer der Ausfallendste ist .
Wissen Sie noch , wie wir über Mut stritten ?
Welch eine Zeit , wo Sie sich um fünf Ringe , die Sie mir noch immer nicht wiedergegeben haben , mit fünf Menschen schießen konnten !
Morgen um zehn Uhr abends besuchen Sie das Hotel des sardinischen Gesandten .
Sie werden von Auroren , die Sie dort erwartet , an einen Ort geführt werden , den Sie nicht verlassen dürfen .
Schwören Sie mir , hinter dem Vorhang , den Sie zehn Minuten nach zehn gütigst zurückziehen wollen , nicht hervorzutreten !
Cäsar , schwören Sie mir !
Ich schäme mich vor Ihnen , daß ich Scham hatte .
Verantworten Sie es einst !
Vor Gott !
Vor Gott !
Aber ich liebe heiß , ewig , unaussprechlich !
Wally " Und an Wallys Hochzeitstage zeichneten die Unsichtbaren ein reizendes Gemälde , ein Gemälde in altem Stil , zart , lieblich wie die sauberen Farbengruppen , welche sich auf dem samtweichen Pergamente goldener Gebetbücher des Mittelalters finden .
Rings , wie Rahmen und noch hineinrankend in die Szene , Efeu und Weinlaub .
Auf den Ästen sitzen Paradiesvögel in wunderbarem Farbenspiel , auf den breiten Blättern der Arabesken schlummern Schmetterlinge , in den Kelchen der Blumen saugen Bienen .
Oben schwebt der Vogel Phönix , der fußlose Erzeuger seiner selbst ; unten blicken die spitzschnäbligen Greifen und hüten das Gold der Fabel .
Bezaubernd und märchenhaft ist die Verschlingung aller dieser Figuren .
Es ist wie ein Traum in den tausend Nächten und der einen .
Zur Rechten des Bilds aber im Schatten steht Schionatulander im goldenen , an der Sonne funkelnden Harnisch , Helm , Schild und Bogen ruhen auf der Erde .
Der Mantel gleitet von des jungen Helden Schulter , seine Locken wallen üppig , wie von einem Westhauche gehoben .
Das Auge staunt ; ein Entzücken lähmt die Zunge .
Zur Linken aber schwillt aus den Sonnennebeln heraus ein Bild von bezaubernder Schönheit : Sigune , die schamhafter ihren nackten Leib enthüllt , als ihn die Venus der Medicis zu bedecken sucht .
Sie steht da , hülflos , geblendet von der Torheit der Liebe , die sie um dies Geschenk bat , nicht mehr Willen , sondern zerflossen in Scham , Unschuld und Hingebung .
Sie steht ganz nackt , die hehre Gestalt mit jungfräulich schwellenden Hüften , mit allen zarten Beugungen und Linien , welche von der Brust bis zur Zehe hinuntergleiten .
Und zum Zeichen , daß eine fromme Weihe die ganze Üppigkeit dieser Situation heilige , blühen nirgends Rosen , sondern eine hohe Lilie sproßt dicht an dem Leibe Sigunes hervor und deckt symbolisch , als Blume der Keuschheit , an ihr die noch verschlossene Knospe ihrer Weiblichkeit .
Alles ist ein Hauch an dem Auge , ein stummer Moment , selbst in dem klugen Auge des Hundes , der die Bewegungen verfolgt , welche der Blick seines Herrn macht .
Das Ganze ist ein Frevel ; aber ein Frevel der Unschuld .
So stand Sigune einen zitternden Augenblick ; da umschlang sie rücklings der sardinische Gesandte , der seine junge Frau suchte .
Es war ein Tropfen , der in den Dampf einer Phantasmagorie fällt und sie in Nichts auflöst .
Die Vorhänge fielen zurück , und Schionatulander wankte nach Hause .
Der Gesandte ahnte nichts .
Tiefes Geheimnis. 4 4 Als Wally mit ihrem Manne nach Paris gekommen war , atmete sie auf .
Sie war froh , sich von einer ganz verfehlten Stellung befreit zu sehen .
Sie wußte , daß sie in Paris noch immer den stürmischen Bewegungen irgendeiner Neigung ausgesetzt sein konnte , daß ihre eheliche Treue mit weit gefährlicheren Lockungen wie in der Heimat würde herausgefordert werden ; allein sicher war sie jetzt vor den Zumutungen der Genialität , vor dem verwirrenden Benehmen Cäsars , vor Männern , welche zu poetisch sind , um ganz nach der Mode , und zu modisch , um ganz nach der Poesie zu leben .
In Paris siegte sie , wenn sie wollte , noch immer durch die sehr einfachen Künste der Koketterie .
Nur die Situationen sind es , welche dem Leben der Pariser Frauen eine besondere Originalität geben .
Die Zeit , in welcher Wally mit ihrem Manne nach Paris kam , war bei Anfang des Aprilprozesses .
Wenn man glauben wollte , daß die Julirevolution in den Sitten der höheren Pariser Welt eine Änderung veranlaßt hätte , welche gleichsam dem Ernste der Zeit hätte entsprechen sollen , so verkennt man den Charakter der Franzosen .
Die alte Revolution , welche eine Strafe der Frivolität zu sein schien , rottete die Frivolität doch selbst nicht aus .
Die alte politische und gesellschaftliche Verfassung wurde gestürzt , aber die Manieren erhielten sich .
An dem Besitztum klebte etwas , was sich nicht von ihm trennen ließ ; in den Reichtümern , welche kaum den Tod der einen veranlaßt hatten , lag ein Zauber , der auch die wieder verwirrte , welche die neuen Herren derselben wurden .
Den Leichtsinn tilgte die Guillotine nicht .
Die neueste Revolution hatte zu den alten Elementen des Pariser Lebens neue , zu zwei Aristokratien , der bourbonischen und bonapartistischen , noch eine dritte gesellt , die Aristokratie der Banquiers .
Mehr als je wurde das Geld der Hebel des gesellschaftlichen Mechanismus , seitdem eine Klasse in den Vorgrund trat , mit der es in dieser Rücksicht schwer war zu wetteifern .
Weil die Pariser das Geld nicht anhäufen , sondern es als Mahlschatz immer wieder aufschütten und von dem Winde umtreiben lassen , so wird jede Lebensäußerung dort in den metallischen Strom mit hineingerissen .
Dieser Strom ist es , welcher die entsetzlichsten Verheerungen in der Moralität und Freundschaft anrichtet .
Sein Ebben und Fluten macht Leben und Tod .
Er ergießt sich frei , offen , vor allen Augen , nicht einmal unterirdisch .
Er wälzt seine goldschäumenden Wogen durch die Säle und kleinsten Gemächer .
Man ist in Paris immer in der Nähe des Geldes , weniger dessen , was man besitzt , als dessen , wovon man nicht genug haben kann und das man unter allen Umständen sich zu verschaffen sucht .
Daraus entstehen die meisten tragischen und komischen Konflikte der Pariser Gesellschaft .
Wally hatte keine Meditationen nötig , um über diese Dinge ins reine zu kommen .
Sie verstand sie bald , da die Begegnungen selbst zu deutlich sprachen und dichterische Erfindungen , Schriften wie die von Balzac , sie hinreichend bestätigten .
Wally philosophiert nicht , das wissen wir längst .
Sie wird Paris nicht wie ein Phänomen nehmen , sondern wie eine Erfahrung , über die man erst reflektiert , nachdem sie erlebt ist .
Sie wird sich in den dichtesten Strudel der Vergnügungen werfen .
Sie wird den Becher der Lust und der Gedankenlosigkeit bis tief auf die Neige leeren .
Sie wird jede Minute Leben benutzen , die sie nur verwenden kann , und käme sie einst zurück von Paris , wird sie von Paris nichts zu erzählen wissen .
Wally gehörte bald zu den glänzendsten Erscheinungen auf dem Theater des Tages und der Nachrede .
Wenn wir im folgenden mehr ein Verhältnis schildern wollen , das in Wallys Hause und in ihrer Verwandtschaft sich entwickelte , so ist es deshalb , um einesteils über ihren Mann eine Ansicht zu haben , andernteils , um nichts zu unterlassen , was zuletzt doch berichtet werden müßte , weil es eine entscheidende Folge hatte .
Wally beherrschte andere Kreise mit derselben siegreichen Gewandtheit .
Sie hatte ein großes Stück an dem Netz zu weben übernommen , welches über Paris ausgebreitet ist und so viel Ehrgeiz , Eifersucht , Tragödie und Idylle in seinen Maschen festhält .
Sie war eine fleißige Bundesgenossin des großen Feldzuges gegen Natur , Wahrheit , Tugend und Völkerfreiheit , welcher mit dem Leben der Großen fast immer zusammenfällt ; ein Feldzug , dessen Gefahr von den Freuden seiner kleinen Siege im Ernst doch überboten wird .
Je weniger diese Katastrophe zunächst mit der Seelenrichtung in Wally zusammenhängt , die uns veranlaßte , sie zum Gegenstand einer poetischen Darstellung zu machen , desto mehr trägt sie bei , die Draperien zu bestimmen , auf deren Grunde sich die wahrhafte Originalität Wallys sprechender zeichnete .
Indem Wally Szenen erlebt , welche mit ihrer Krankheit nicht in der entferntesten Berührung liegen , indem sie von einem Gedankenreiche losgetrennt ist , das sie selbst in sich aufgeregt hatte ; muß auch der Kontrast desselben später nur desto tiefer in ihr Herz schlagen .
Wally wandelt sorglos am Rande eines Abgrundes. 5 5 Eines Morgens hatte Wally soeben die Besuche einiger ihrer Verehrer entlassen und lachte noch über die Eitelkeit der jungen Männer , welche gestorben wären vor Ärger , wenn sie ihrer neuen Gilets , ihrer Reitpeitsche und Lorgnette keine Erwähnung getan hätte , als sie im Nebenzimmer ein lautes Sprechen hörte , das immer näher kam und dann plötzlich mit Gewalt unterdrückt wurde , gleichsam als würde jemand , der sich ihrem Zimmer nahen wollte , mit Heftigkeit zurückgehalten .
Nachdem die hierauf eintretende Stille anzudeuten schien , daß eine Verständigung dem Besuche hatte vorangehen müssen , öffnete sich stürmisch die Tür , und ein junger Mann trat an der Hand ihres Gatten herein , der ihr in dem Ankömmling seinen längst aus dem Piemontesischen erwarteten Bruder Jeronimo vorstellte .
" Wahrhaftig , ich habe mich nicht getäuscht " , rief der junge Italiener .
" Ihren Anblick , Madame , sog ich gestern in der Oper drei volle Stunden lang ein .
Ich war kaum in Paris angelangt , als mich der Zufall in die Vorstellung der » Cenerentola « führt und in die reizendste Perspektive , welche ich je gehabt habe .
Madame , Sie saßen in einer Loge , von der ich nicht wußte , daß sie die meines Bruders war .
Sie trugen blaue Seide , weiße Tüllstreifen , einen roten Schal und Marabouts in dem Haar ? "
" Ihr Gedächtnis muß weite Taschen haben , " sagte Wally , " wenn sie am Morgen noch die Toilette der Damen angeben können , die Sie am Abend vorher bei den Italienern bezaubert haben , wie der in dieser Rücksicht bei den jungen Enthusiasten übliche Ausdruck ist . "
" Madame , es sollen viele eine gute Toilette gemacht haben , sagt man .
Ich sah nur Sie .
Viele werden sie machen , ich werde nur Sie sehen .
Wenn ich die Sprache eines Dichters führen könnte , dann würde ich erst die Ausdrücke haben , welche Ihrer würdig sind .
Ja , ich muß dies elende Wort » bezaubern « adoptieren und meine Gefühle hinter der armseligen Wendung verstecken , daß ich Sie versichre , Ihre Schönheit kann niemals vom Künstler getroffen werden ; denn müßte er nicht erblinden in der Anschauung solcher Reize , Madame ? "
" Ich schäme mich , mein Herr " , sagte Wally , " Ihnen ein Wort empfohlen zu haben , das sie lernen sollten , um bald in die Gesellschaft der jungen Enthusiasten einzutreten ; denn ich sehe , daß Sie schon Meister sind in diesen allerliebsten Übertreibungen , die man um so lieber hört , je weniger Grund sie haben ! "
" Sie weichen mir aus , Madame ; Sie vergessen , wenn Sie glauben , meine Liebe käme Ihnen ungelegen , daß Widerstand die Liebe verdoppelt .
Sie haben die Wahl .
Es ist wie mit den Sibyllinischen Büchern ; aber umgekehrt : immer mehr Liebe , aber doch immer nur die gleiche Summe . "
Hier machte der Gesandte , der das Zimmer schon verlassen hatte , ein Geräusch nebenan und zwang beide jungen Leute , einen Moment darauf hinzuhören .
Wally mußte über die etwas steifen Anträge ihres Schwagers lachen .
Sein Feuer hatte mehr von dem russischen Spiritus .
Für einen Italiener schien er ihr zu viel Worte zu machen .
" Setzen wir uns aber " , sagte sie freundlich , " mein lieber Jeronimo .
Wir wollen versuchen , wie wir uns arrangieren .
Es gilt nur , daß man sich verständigt .
Wollen Sie meine Farbe tragen ?
Wollen Sie ins Wasser springen , wenn ich behaupte , es sei nicht tief ?
Wollen Sie sich mit halb Paris schlagen , wenn ich die Caprice habe , Ihnen Dinge in den Mund zu legen , die Sie über die Herzogin von Breteuil , die Gräfin Allan , die Vicomtesse von Hericourt geäußert hätten ?
Sie sehen , welche Arbeiten sich Ihnen auferlegen lassen , wenn Sie Herkules genug wären , sich in Dejanira zu verlieben . "
" Bezaubernd , Madame , entzückend !
Wie liebenswürdig ! "
" Und wenn wir auf dem Fuße hinken , womit der Liebhaber geht : so nehmen Sie den anderen , den Fuß der Verwandtschaft , auf dem wir stehen .
Ich glaube in der Art wohl , daß Sie ermüden können , Jeronimo , aber niemals , daß Sie fallen . "
Die Tür öffnete sich .
Die Vicomtesse von Hericourt trat ein .
Sie war eine jener niedlichen Schwätzerinnen , an denen nichts hübscher ist als eine perennierende Begleitung ihrer Stimme mit einer luftpumpenden Bewegung aus der Brust heraus .
Sie seufzte bei jeder Periode aus der innersten Tiefe her , und da sie es lächelnd tat und mit glänzendem Auge , bekam dadurch ihr Ausdruck eine hinreißende Gewalt , daß man sich die Triumphe dieser Frau erklären konnte .
Jeronimo blieb aber bei aller dieser Grazie kalt .
Er sprang nicht , wie junge Narren von fashionablem Tone mit Recht tun , wo es sich darum handelt , zwischen zwei schönen Frauen das Gleichgewicht zu erhalten , von einer zur anderen über , sondern bis in seine Handschuhe , verlegen und nur Wally fixierend , die sein Benehmen nur als Affektation eines übertriebenen Eindrucks auslegen konnte .
Die Vikomtessa hatte so viel mitzuteilen , zu klagen , zu weinen , zu lachen , daß Jeronimo sich mit ihr zu gleicher Zeit entfernte .
Er war stumm bis auf den letzten Augenblick geblieben .
Die ganze Geläufigkeit , mit der er begann , war gehemmt .
Sie wußte nicht , wie sie diesen Charakter nehmen sollte .
Er ist ein Russe , dachte sie unwillkürlich .
Aber sie besann sich auf die Russen ihrer Bekanntschaft , auf welche dennoch keines der Merkmale Jeronimos passen wollte ; denn die Russen , immer begierig , sich elegant und zivilisiert zu zeigen und den Juchtengeruch durch Bisam , eine Unanständigkeit also durch die andere zu verdecken , affektieren überall gegen Damen eine ekelhafte Liebenswürdigkeit , springen von einer zur anderen und üben sich in süßen Grimassen .
Jeronimo mußte also doch ein Italiener sein .
Am Abend kam Jeronimo in die Loge des sardinischen Gesandten .
Wally hörte ihm gern zu ; er hatte Ansichten über Musik und viel biographische Notizen über die italienischen Komponisten .
Doch alles war flüchtig ; denn eine Dame kommt im Theater nicht zur Ruhe .
Keine Meinung , die unter den Liebhabern verbreitet ist , ist so falsch als die von der Gunst , welche das Theater der Neigung gewähre .
Man wird sein Idol neben sich haben , man wird stundenlang mit ihm flüstern können ; das ist gewiß ; aber das Idol wird auch immer zerstreut sein und hinter jeder aufgehobenen Lorgnette einen Mann vermuten , der mit dem Seufzenden neben ihr die Vergleichung aushält oder ihn wohl übertrifft in der Huldigung , die er ihr schenkt .
Jener Satz gilt nur bei der Sentimentalität , welche nicht hört und nicht sieht , oder bei jenen kleinen Geschöpfen , die über ein geschenktes Freibillett glücklich sind und alles , was das Theater an Illusionen bietet , für die Schöpfung und die Bekanntschaft ihres Anbeters halten .
Als Wally nach Hause begleitet war von ihrem Schwager und ihn noch einige Zeit bei sich gesehen hatte , zog sie sich in ihre Gemächer zurück .
Es klopfte .
Der sardinische Gesandte trat mit einem Armleuchter in ihr Schlafkabinett .
Sie erstaunte ; denn solche Besuche waren ganz gegen die Verabredung .
" Was ist ? " fragte sie gedehnt .
" Liebes Kind " , sagte ihr Gatte ; " mein Bruder- "
" Ihr Bruder ist sehr langweilig . "
" Er liebt dich ; aber höre nicht auf ihn .
Was ich ihm auch vorstellen mag , es ist , wie wenn man Feuer plötzlich ins Wasser wirft ; aber höre nicht auf ihn .
Ich war in meinen Briefen unvorsichtig .
Er liebt dich wie eine Nebelgestalt , die man sich aus Täuschungen zusammensetzt und die man sonderbarerweise jede Nacht wieder vor sein Bett zaubern kann .
Er schwärmte mit der Luft , er - "
" Was will ich das ? "
" Höre nicht auf ihn !
Ehe er dich sah und Nizza nicht verlassen durfte , irrte er in den Wäldern und warf Blumen in die Flüsse .
Seine Neigung ist so stark , daß er jede Lebensfunktion seines Körpers mit dem deinigen verwechselt , daß er - "
" Lassen Sie ! "
" Höre nicht auf ihn !
Warum ist Cupido nur blind ?
Er ist auch taub , sage ich oft zu Jeronimo , weil er nicht hört .
Sollten seine Sinne verzaubert sein ? "
" Oh , Sie werden zum Schwätzer :
ich glaube gar , Sie machen Verse . "
" Wie ich dich liebe , Wally !
Kind , diese Schere auf dem Tisch nehme ich als eigene Parze meines eigenen Geschickes und schneide eine deiner himmlischen Locken , um sie mit verstohlenen Küssen zu bedecken , wenn ich dich selbst nicht habe .
Gute Nacht , Wally : vergiß ihn , höre nicht auf ihn ! "
Was sollte Wally denken ?
Der Gesandte hatte ihr eine Locke genommen .
Welche Zärtlichkeit !
Zu dieser Stunde , wo sie ihn nie sah .
Sie erbleichte , denn jetzt war ihr dieser Mann erst im Lichte eines Gatten erschienen .
Welch ein Bild !
Ein Narr !
Eine schwerfällige Gestalt !
Ein Ungetüm , das einen falschen Bart trug !
Ein Geizhals , der selbst an Worten sparte und nie umsonst redselig war !
Eine hülflose Phantasmagorie , die ein Licht in der Hand hielt und vor ihr stand , leibhaftig , als hätte sie einen Mann in den Vierzigen vor sich gesehen !
Sie wischte an ihrem Antlitz , das er berührt hatte .
Sie lüftete das Bett , um es von den unkeuschen Worten zu reinigen , die hineingefallen waren , denn es stand offen .
Sie begriff jetzt erst die Lage , in der sie sich befand , daß sie seit vier Monaten an einen Mann verheiratet war , den sie nicht kannte .
Sie müsse fliehen ! schrie es unhörbar in ihr auf , und erst als sie über die Mittel , diese Torheit zu begehen , nachdachte , schlief sie ein. 6 6 Am folgenden Morgen bot sich Wally sogleich eine Ursache zur Verstimmung an , als wenn sie die Erinnerung des gestrigen Abends nicht gehabt hätte .
Sie hörte im Nebenzimmer das zufällige Gespräch zweier Leute ihrer Bedienung , die sich über den Geiz und die Geldspekulationen der Herrschaft beklagten .
Sie staunte über das ökonomische Talent ihres Mannes , der mit Milch gehandelt und Bier gebraut haben würde , wenn er in Paris zufällig die Anstalten dazu gehabt hätte .
Nach jedem Diener ließ der Gesandte die Weinreste zusammengießen und führte seine Bedienten selbst an , wie sie von den Leuchtern die Kerzen nehmen und sie zum Lichtgießer tragen mußten , der sie gegen brauchbares Wachs eintauschte .
Wally verstand viel zu wenig von solchen Dingen , als daß sie ihnen eine rechte Würdigung hätte geben können .
Sie fühlte ein allgemeines Mißbehagen ihrer Seele , das sie verhinderte , diesmal das Lächerliche an dem Geize ihres Mannes zu entdecken .
Es war eine gefährliche Stimmung , in der sie an Cäsar schrieb .
Als sie den Brief beendet hatte und sah , wie nur Kleinigkeiten der Pariser Konversation , satirische Bagatellen und viel Albernheiten aus ihrer Feder geflossen waren , da hatte sie bessre Laune bekommen .
Sie freute sich , in Cäsar einen Mann gefunden zu haben , bei dem der Ernst sich hinter so vielem Scherz verstecken durfte , der nicht pedantisch war und vom Gefühl keine Überflutungen verlangte .
Das Gefühl war einmal da , nicht in Gestalt einer das Herz betreffenden Empfindung , sondern in Gestalt einer Tatsache , der sich keine andere Auslegung als die einer Neigung geben ließ .
Wally liebte jetzt Cäsar wahrhaftig , ohne sich darüber ein Geständnis zu machen .
Sie hatte sich ihm auf ewig durch jene mystische Szene verpflichtet .
Und doch war es weder Scham , was sie an ihn fesselte , noch der Gedanke , ihn besitzen zu wollen .
So viel Unschuld bei so vieler Freiheit !
Als Jeronimo zu ihr eintrat , konnte sie mit Lachen seinen heißen Liebesbewerbungen zuhören , so heiter war sie .
Jeronimo machte eine Miene , als wäre ihm ein großes Glück widerfahren , als hätte , er ein Unterpfand , das ihn gegen Wallys Scherze sicherte .
Sie sagte ihm :
" Wie tief sind wir doch schon in den Wahnsinn der Liebe versunken !
Bart , Kleidung , alles sehe ' ich heute an Ihnen vernachlässigt !
Sie gleichen jenen Shakespeareschen Liebenden in seinen Lustspielen , die so jämmerlich von dem Schmerz ihrer Brust verzehrt sind und , je verliebter sie werden , desto länger ihre schwarze Wäsche tragen .
Und vor acht Tagen sahen wir uns zum ersten Male . "
" Vor sechs Monaten " , entgegnete Jeronimo .
" Wie , Sie kennen mich länger ? "
" Länger , als Sie leben , Madame !
Ich kannte Sie schon , als Sie nur noch ein Gedanke waren , der im Schoße Gottes schlummerte .
Meine Liebe zu Ihnen ist nur die Erinnerung eines alten Glückes .
Diese schwellenden Lippen , diese jetzt so spröde Brust :
ich weiß es , ich habe sie schon einmal geküßt , ich habe sie schon einmal umarmt . "
" Fabelhafte Dinge muß ich hören , Jeronimo .
Was würde die Vicomtesse von Hericourt denken , wenn Alfred Jardinier , dieser bürgerliche , aber liebenswürdige Anbeter , ihr solche Dinge sagte . "
" Lasen Sie Plato , Madame ? "
" Nein ! "
" Die Seelen meiner Person und der Ihrigen , Wally , sollen einem Schoß entsprossen sein .
Die Bilder und Urtypen unserer Persönlichkeit kannte schon die Ewigkeit , und was wir Liebe nennen , ist nur ein Tribut , den wir unserer Vergangenheit , unserem Gedächtnisse und unseren früher eingegangenen Verpflichtungen schuldig sind . "
" Sie werden mich überreden wollen , daß Sie urweltliche Rechte auf mich haben ; daß Sie diese Hand , welche Sie mir für eine Zärtlichkeit viel zu heftig drücken , schon vor der Sündflut besessen haben .
Sie tun Unrecht , eine so kleine Frau , wie ich bin , in die großen Hallen der Philosophie einführen zu wollen . "
" Was Philosophie , Wally !
Im Schoße Gottes trugen Sie einst dieselben gelben Pantoffeln , mit welchen Ihr Fuß noch jetzt so reizend kokettiert . "
" Mit all Ihrer Philosophie sind Sie doch im Irrtum über die gelben Pantoffeln .
Es sind Schuhe , mein Herr ; ich erwarte nun von Ihnen , daß Sie sie zu binden versuchen .
Machen Sie es ordentlich , und vernachlässigen Sie mir künftig lieber den Plato als Ihre Toilette , die ganz geschmacklos ist . "
Während die Situation , die jetzt folgte , noch nicht beendigt war , trat ein Diener ein und zeigte an , das Cabriolet Jeronimos sei vorgefahren .
Sie nahm ihren Schal , klagte viel darüber , daß er mit nichts umzugehen wisse , und stieg , sich auf ihn stützend , die Treppe hinunter .
Jeronimo faßte selbst die Zügel des Pferdes und lenkte das gebrechliche Fahrzeug mit einer Ungeschicklichkeit , die Wally nicht erschreckte , da sie davon nichts verstand .
Sie fuhren durch die Boulevards .
Jeronimo wollte fahrend sprechen .
Er hörte nicht auf , den Schoß Gottes im Mund zu haben .
Wally hielt ihm diesen wahnsinnigen Mund zu ; er übersah sein Pferd und rannte bei der Porte St. Martin so heftig in die Kutschen der Schauspielerinnen hinein , die vor der Tür des Theaters , wo eben Probe war , hielten , daß seine Bemühungen , sich herauszuwickeln , vergeblich wurden .
Die Peitsche brauchte er nur zu seinem Mißgeschick .
Das Pferd bäumte sich und hob die Gabel des kleinen Wagens so hoch , daß die beiden darinnen rücklings überfielen und Gefahr liefen , aus ihrem Sitze herausgeschleudert zu werden .
Hier mußte ein Unglück geschehen .
Wally verlor einen Augenblick lang die Besinnung .
Als sie wieder im Zusammenhäng der schrecklichen Szene war , sah sie den Wagen aus jener Verwirrung herausgeführt und das Pferd von einem Manne beschwichtigt , in welchem sie zu neuem Schreck Cäsar erkannte .
Gott , jetzt fiel es ihr ein , sie hatte ihn schon zwei- , dreimal heute an dem Rande der Boulevards gesehen .
War er es gewesen , so konnte die Rettung kein Wunder sein .
Er mußte sie verfolgt und den Augenblick der nötigen Hilfe wahrgenommen haben .
Jeronimo staunte , wie er bei der weiten Fahrt statt Vorwürfe von Wally nur Scherz und Lachen vernahm .
Er stotterte Bitten heraus , die sie nicht verstand .
Sie war außer sich vor Entzücken .
Jeronimo wußte sich nichts zu erklären und eilte , ihrem Wünsche nachzukommen .
Sie wollte nach ihrer Wohnung zurück .
Wally stand den ganzen Vormittag wie auf Kohlen .
Sie kam nicht vom Fenster , weil sie jede Minute hoffte , Cäsar an dem Torwege zu sehen .
Sie nahm mechanisch an der Mittagstafel Teil , ging nicht ins Theater ; aber Cäsar kam nicht .
Jetzt erst fiel es ihr ein , daß sie sich getäuscht haben konnte , und rief einem ihrer Leute , den sie unverzüglich zu Herrn von Werther , dem preußischen Gesandten , schickte , um über ihren Anblick Gewißheit zu haben .
Der Bote brachte die vernichtende Nachricht , Cäsar hätte sich seit länger als vier Wochen in Paris aufgehalten und habe seinen Paß zur Abreise bereits zurückgenommen .
Wally blieb stumm vor Schmerz .
Sie hielt das erblaßte Haupt auf der krampfhaften Hand gestützt und gerann in Eis statt in Tränen .
Womit hatte sie diese Demütigung verdient !
Sie kannte Cäsar genug , um zu wissen , wie dieses Betragen mit seinem Wesen zusammenhing . Ach !
auch dies nicht ganz so wunderbare , wozu Cäsar es machen wird , Begegnen an der Porte St. Martin , sagte sie vor sich hin , wird er wie eine Romanenepisode nehmen , um sein ewiges Selbstennui , seine hypochondrische Quälerei damit zu würzen und aufzustutzen .
Wally seufzte tief auf und durchmaß mit Verzweiflungsschritten ihr Zimmer .
Es schien ihr der herbste Schlag , der sie treffen konnte .
Das Gehen machte sie ruhiger .
Sie setzte sich , und jetzt erst konnte sie weinen .
" Womit verdient ' ich das ? " war ein erstickter Ton ihrer Stimme .
Woran dachte sie jetzt !
Was hatte sie alles getan , um ihm eine Liebe zu zeigen , an die er , an die sie nicht glaubte und die sich doch so unvertilgbar in ihre Herzen eingenistet hatte !
" Womit verdient ' ich das ? "
Unglückliche Wally !
Was hattest du nicht dem Egoismus eines Mannes geopfert ?
Du gabst ihm deine Seele , deine Gedanken , deine Scham , alles , was du außer dem armseligen Stand der Verheiratung hattest ; und dies alles dem Egoismus , dem Lächeln , vielleicht dem Verrat ?
" Oh , das wäre entsetzlich " , schrie sie auf ; dem Verrat ?
Das nicht , Wally !
Aber sein Herz ist kalt , er lebt nur von Gefühlen , die er raffinieren und filtrieren kann , er trotzt gegen sich selbst ; du bist die Leiche , die er mit Füßen tritt .
Wally !
Wally !
Ihr Blick fiel auf den noch offenen Brief , den sie an ihn geschrieben hatte .
Welches Vertrauen , welche Harmlosigkeit !
Wie treue , kindische Worte !
Wie alles so selig , so unbewußt verbrecherisch , so süß in etwas , was zuletzt immer eine Übertretung ihrer Pflicht war !
Sie hatte ihm alles gegeben !
Sie weinte ; ihre Gedanken schwammen fort auf ihren nassen Augen , ihr Bewußtsein sank hin in eine allgemeine Erschöpfung , in eine Ohnmacht , die von einem hitzigen Fieber abgelöst wurde .
Sie sollte erst nach langer Zeit von diesem Schmerze erwachen .
7 7 Drei Wochen hindurch war der Wächter : Bewußtsein vom Tore der Vernunft verschwunden .
Die Gedanken Wallys waren freigegeben , das Dach stand offen , jedes Auge konnte in das glühende Hirn hineinsehen und die Verwirrung der Ideen mit seinen Blicken verfolgen .
Da lagen sie alle , die wie ein Kapital angelegten Eindrücke der Vergangenheit , ohne die lachenden , fröhlichen Zinsen des Umgangs und des Bewußtseins zu tragen ; nackte Leiber , die des bunten Gewandes der Rede ermangelten , Ideenembryonen , so gräulich anzusehen wie die Infusorien , die man durch Vergrößerungsgläser in einem Wasserglase unterscheidet .
Die Erinnerungen , Ideen und Ideenschatten jagten sich untereinander und gingen wahnwitzig lächerliche Bundsgenossenschaften ein und fraßen sich untereinander auf wie Ungetüme , denen die Gestalt , die Schönheit , die Freiheit des Willens und das Wort fehlt .
So lag Wally drei Wochen .
Als sie zum ersten Male die Augen mit Bewußtsein aufschlug , erblickte sie Auroren und fragte nach allem , was seither geschehen wäre .
Diese junge berlinische Schwätzerin schlug die Hände zusammen , setzte sich die Mütze der Verwunderung auf und hatte viel von Wallys fieberhaften Phantasiestücken zu er zählen .
Wally fühlte sich stark zu hören , auch stark , sich zu erinnern .
Sie wußte deutlich , wer die Schuld ihres Übels trug ; sie ging auch bald wieder bei diesem Gedanken in die Nebel zurück und sprach von einem Manne , der sie gerettet , aber nicht besucht hatte .
Aurora sprach von Jeronimo .
Sie schilderte seine Verzweiflung .
Er hielte sich für den Urheber von Wallys Leiden , er verließe das Haus nicht und würde durch nichts aufgehalten , Augenblicke , wo Wally schliefe , zu benutzen und in ihr Zimmer zu dringen .
" Wer ? " fragte Wally .
" Jeronimo ! "
Es gehörte noch Anstrengung dazu , daß Wally wieder wußte , warum sie nach Jeronimo gefragt hatte .
Sie vergaß es und räumte Aurores Schwatzhaftigkeit das Feld .
Diese tummelte sich weidlich darauf .
Sie kam immer wieder auf den Italiener zurück , bis er selbst kam und an Wallys Bett niederkniete .
Wally sah ihn , aber sie erkannte ihn nicht .
Jeronimo stand bleich und hager da .
Seine Wangen waren eingefallen und abgezehrt .
Die Augen blickten starr und mit einem unheimlichen Feuer .
Sein Äußeres war gänzlich vernachlässigt .
Hätte man nicht annehmen müssen , daß ihn die Trauer verhinderte , Sorgfalt auf sich zu verwenden , so würde man zu dem Glauben gezwungen gewesen sein , seine Erscheinung sei die Folge der Armut .
Er sprach italienisch ; Aurora verstand nichts davon , zu seinem Glücke ; denn hätte sie es verstanden , wie würde es ihr entgangen sein , daß Jeronimos Reden einen bedenklichen Geisteszustand verrieten ?
Wally verstand wohl die wahnwitzigen Worte an ihrem Bett , aber sie wußte nicht , von wem sie kamen .
Und hätte sie es gewußt , so würde sie sogleich auf den Zustand reflektiert haben , den sie soeben von sich selbst erfahren hatte .
In der Tat , sie verwechselte auch den Wahnsinn , den sie hörte , mit dem , welcher sie selbst beherrschte , und flehte unhörbar , ihr nichts zuzurechnen von der Verwirrung , die aus ihrem bewußtlosen Haupte entsprang .
Jeronimo küßte ihre Hand .
Sie erkannte ihn nicht , als er wie ein Gespenst von ihrem Lager fortschlich .
Benutzen wir den Augenblick , wo der Faden unserer Erzählung gehemmt ist durch das Schicksal ihrer Heldin , die sonderbare Erscheinung Jeronimos und das Verhältnis zu seinem Bruder näher zu erklären .
Jeronimo ist eine widerliche Störung dieses Berichts .
Wallys unübertreffliche Originalität , das bunte Farbenspiel ihrer Laune verdiente wahrlich nicht , von so fratzenhaften Verrückungen menschlicher Gefühle und Verhältnissen , wie wir sie kennenlernen werden , paralysiert zu werden .
Luigi und Jeronimo hießen die beiden Brüder , welche uns bis jetzt nur in so nebelhaften Umrissen er schienen sind .
Jener war der ältere , dieser der jüngere ; beide an Jahren so verschieden wie an Gestalt und Gemütsrichtung .
Luigi ein praktischer Egoist , Jeronimo ein exzentrischer Schwärmer , dort das drohende Extrem der Bosheit , hier des Wahnsinns .
Beide Brüder hatten zu gleichen Teilen ein großes Vermögen geerbt ; aber verschiedenartig war der Gebrauch , den sie davon machten ; Luigi geizte , Jeronimo verschwendete .
Luigi traf in Jeronimos sanfter Gemütsstimmung keinen Widerstand , als er ihm bei den Verschleuderungen seinen Rat anbot und sich für bereit erklärte , die Verwaltung seines Vermögens zu übernehmen .
Die Verantwortlichkeit machte Luigi schlecht .
Immer im Harnisch gegen Jeronimos Unbesonnenheiten , längst gewohnt , ihn wie ein Zuchtmeister seinen Gefangenen zu behandeln , immer in der Illusion , daß er das Gute , Noble und Ehrliche täte , während er doch nur das Kluge und Nützliche tat , nahm er seine eigene Verfahrungsweise wie etwas Notwendiges und gewöhnte sich daran , Dinge als sein Eigentum zu betrachten , für welche er zuletzt wirklich einstehen mußte .
Diese Verwechselung war leicht gemacht und artete in dezidierte Schlechtigkeit aus .
Es galt nicht mehr , daß Luigi für all die Torheiten , die Jeronimo beging und unschädlich machen mußte , sich schadlos halten wollte , daß er durch die Verwendungen , die er überall versuchte , als Jeronimo ins Gefängnis geworfen wurde wegen Karbonarismus , ein Recht über des jüngern Bruders Leib und Leben zu haben sich überredete , sondern bald wurde es Ziel und Plan bei ihm , einen Menschen , dem nicht zu helfen war , gänzlich zu unterdrücken und das Vermögen an sich zu ziehen , welches Jeronimo noch besaß und möglicherweise auf irgendeine seiner flüchtigen Neigungen vererben konnte .
Von einer neuen Torheit , die Jeronimo beging , wußte Luigi erst kaum , wie er sie behandeln sollte .
Er hatte ihm von Wally geschrieben , von ihrer Jugend und Schönheit .
Jeronimo bat ihn , nichts von ihren Reizen zu übergehen .
Luigi fährt in seinen Entzückungen fort , und Jeronimo schwört ihm in einem Briefe , daß Wally nur für ihn bestimmt wäre .
" Lächerlicher Einfall ! " sagte Luigi , als er am Tage seiner Hochzeit diesen Brief empfing .
Aber Jeronimo hörte in seinen Grillen nicht auf .
Er drohte , noch in Haft befindlich , die er sich durch eine unbesonnene Tötung zugezogen hatte , mit dem Äußersten .
Die Idee schien fix bei ihm geworden zu sein .
Es ist nicht unmöglich , daß man in ein Bild sich verlieben kann .
Arme Wally !
Mußte deine glatte , stille , liebliche Seele , dein nüchternes , von allem Exzentrischen abseites Leben in solche Strudel gerissen werden ?
Luigi wußte , daß sein Bruder nach Paris kommen würde .
Er hatte ein Mittel gegen ihn und scheute sich nicht , da er sah , welchen Eindruck Wally auf Jeronimo machte , es in Anwendung zu bringen .
Was war ihm Wally ?
Welche Genüsse gewährte sie ihm ?
Und doch war er nicht so niedrig , sie an seinen Bruder gleichsam verkaufen zu wollen ; er war mehr bös als gemein , mehr europäisch schlecht als italienisch ordinär .
Er wollte Jeronimos Neigung im Schach erhalten und davon Gewinste ziehen .
Sein Geiz sah mit Schrecken , wie des Bruders Vermögen in den durstigen Sand der Pariser Vergnügungen und Ausschweifungen verrinnen würde .
Er sah schon tausend Arme geöffnet , tausend Zärtlichkeiten als Falle gelegt , er zitterte vor dem weiten Meere , dessen Abgrund bald Jeronimos Erbe verschlingen mußte .
Er wollte es retten .
Er wollte es absorbieren , erst , wie er glaubte , um es zu bewahren , dann , um es nie wieder herauszugeben .
Wally mußte zu diesem Zwecke dienen .
Ihre Koketterie mußte Jeronimo fesseln und unglücklich machen .
Luigi arbeitete planmäßig , um das Hirn des Bruders zu verrücken .
Er brachte Grüße , Zärtlichkeiten , Locken und zwang den Glücklichen , von Wally sich immer wieder enttäuschen zu lassen .
Jeronimo war schwach , ein Kind , eine tote Hand seines Vermögens .
Luigi eignete sich alles zu .
Wer kann zweifeln , daß Wally imstande war , durch ihre unzähligen kleinen Charakterlosigkeiten einen Mann zu vernichten ?
Sie tat es , ohne darum zu wissen .
Sie wurde unbewußt das Werkzeug einer nichtswürdigen Intrigue. 8 8 Jeronimo hatte früher eine glänzende Wohnung besessen , jetzt mußte er sich einschränken .
Er trat in Paris mit all dem Glanze auf , der der Widerschein seines Vermögens war ; jetzt hatte ihn eine unglückliche Leidenschaft so gebeugt , daß er nicht einmal das Schmerzliche seiner gegenwärtigen Lage empfand .
Er dämmerte in seiner Idee hin .
Er gab alles seinem Bruder , seitdem er keine Bedürfnisse mehr kannte .
Sein ganzes Vermögen wurde Luigi verschrieben .
Zuweilen , am frühsten Morgen , wenn noch keine Seele auf der Straße war , besuchte ihn dieser und stieg die vier Treppen hinauf , über denen Jeronimo wohnte .
Denn er wollte nicht , daß sein Bruder irgendeinen Groll gegen ihn faßte .
Er gab sich immer das Ansehen , als sorgte er väterlich für den Verlassenen , als bewahre er ihm seine Glücksgüter , die in seiner trüben Seelenstimmung ihm doch eine Last sein würden .
So hatte er auch eines Morgens bedächtig an die Tür der kleinen Kammer gepocht , welche Jeronimo bewohnte .
Er trat hinein und fand seinen Bruder lang ausgestreckt auf einem schlechten Bett , dessen er sich als eines Sofa bediente .
An den kahlen Wänden hingen einige schlechtgemalte Heiligenbilder .
Auf den Kissen rings lagen die zerstreuten Bestandteile einer ganz mangelhaften Toilette ; auf dem Tische einige Bücher , die mit Staub bedeckt waren und deshalb ahnen ließen , daß Jeronimo noch aus sich selbst Trost und Unterhaltung schöpfen konnte .
Als Luigi eintrat , sprang sein verlassener Bruder auf , grüßte mit einer mechanischen Höflichkeit , für welche er selbst keinen Grund wußte , räumte schnell einen Stuhl ab und schob ihn zurück , um seinem Besuche Platz zu machen .
" Ist sie wohl ? " war seine erste Frage .
Luigi bejahte sie mit dem Lächeln eines Mannes , der hier gleichsam sagen wollte :
Es hängt alles von dir ab ! oder : Du kannst Vorteil davon ziehen !
Aber Jeronimo war nicht so starken Glaubens .
" Sie liebt mich nicht ! " rief er aus , " sie ist grausam und kalt !
Man sieht , daß ein solches Herz nur im Norden geboren werden konnte . "
" Was hängst du auch , mein Sohn ! " entgegnete Luigi , " dieser Grille nach ?
Warum sich einer Leidenschaft hingeben , welche ohne alle innere Begründung ist und die nur dazu dient , dein ganzes Leben zu verwirren ? "
" Sie läßt mich nicht mehr vor ! "
" Du zwingst sie dazu ; denn Sie liebt mich von Herzen .
Was richtest du an !
Du bist in der glänzendsten Lage , bist reich , jung , hast eine ausgesuchte Bildung ; warum entziehst du dich der Gesellschaft ?
Warum diese schlechte Wohnung , die dich um deine Annehmlichkeiten und mich um meinen Kredit bringt ?
Warum dieser vernachlässigte Aufzug , welcher eher dem eines Industrieritters und Bankeruttiers gleicht als dem Range und dem Geiste , den du besitzest ? "
" Du bist sehr boshaft , Bruder ! " sagte Jeronimo , den ein Vernunftfunke durchleuchtete .
" Wenn ich mich vernachlässige , so bist du schuld daran , meine Liebe wahrlich nicht , welche nur dazu dient , das Unglückliche meiner Lage mich weniger herb fühlen zu lassen .
Wer spiegelt mir die Ungeheuren Verluste vor , die mein Vermögen soll erlitten haben ? "
" Ungerechte Beschuldigung ! "
" O sieh , Luigi !
ich blicke tief in dein Inneres .
Dein Geiz ist die Triebfeder deiner Schlechtigkeit .
Du hast dir immer das Ansehen gegeben , mein Beschützer zu sein , und wahrlich , du machtest dich vortrefflich dafür bezahlt .
Ich würde wahrhaftig keine deiner ehrlosen Intrigen zugeben , Mann , wenn ich mir Besonnenheit und Festigkeit des Willens in meiner jetzigen Lage erhalten hätte . "
" So ungerecht sprichst du zu einem Bruder , der für dich sorgt , Jeronimo ?
Der niemals in dieses verfluchte Schmutznest tritt , ohne von den Geldrollen in seiner Tasche einen schweren Tritt zu haben .
Wann komme ich leer ?
Ich biete dir alles an :
ich beschwöre dich an zunehmen .
Auch jetzt : siehe ! nimm ! aber wache über deine Ausdrücke , die mein Herz verwunden und der Welt Veranlassung zu einem falschen Urteil geben können . "
" Oh , damit schläferst du dein Gewissen ein , mit diesen Geldrollen , welche hier liegen und von mir nicht geachtet werden , weil ich keine Bedürfnisse mehr habe !
Man hat gut von Reichtümern zu einem Manne reden , der das Gelübde der Armut ablegte .
Was fürchtest du wohl mehr , Prahler , als meine erwachende Lebenslust ?
Sie kann niemals kommen , Glücklicher !
Du siehst mich dem Tode entgegenreisen und hoffest , bald der Sorge um einen Menschen enthoben zu sein , von dem ich selbst gestehe , daß er für menschliche Berührungen und das im Dasein Gewöhnliche kein Kettenglied mehr ist .
Du aber warst es , der mich um Wally betrogen hat . "
" Lenk ' ich die Neigungen dieser schwer zu zügelnden Frau ? "
" O Mensch , Bruder , du warst auch als Gatte schlecht genug , mir Hoffnungen zu machen . "
" Verächtlicher ! " rief Luigi und sprang vom Sitze auf .
" Oh , setze sie vor dein kahlgewaschenes Antlitz , die Maske der Entrüstung !
Dein Weib mußte der Blitzableiter meiner gewitterdrohenden Neigungen und der Hagelwetter werden , welche mein Vermögen ruinieren konnten .
Dein Geiz sah alles vorher .
Ein teuflisches Spiel hast du mit mir getrieben .
Zu den Beleidigungen fügtest du noch meine Entnervung , meine Unfähigkeit , mich für sie zu rächen , hinzu ! "
Und das sagte Jeronimo mit Recht .
Denn wie richtig er auch das Benehmen seines Bruders , diese Manier , ihn zu beobachten und in der Hand zu haben , durchschaute , so war er doch in seiner Willenskraft wie gelähmt .
Eine unerwiderte Neigung hatte ihn zu Boden geworfen .
Er war keines Entschlusses fähig , wenn sein Bruder so schlecht handelte , ihm wieder eine neue Hoffnung zu machen .
So lächelte Luigi auch hier , nahm die Geldrollen und ließ , indem er sie einsteckte , wie zufällig die Schleife eines blauen Damenkleides aus ihr herausfallen .
Jeronimo fing sie auf und preßte sie an seine Lippen .
Sie war von Wally , ein Raub in derselben Art , wie ihn ihr Gatte oft mit verstellten Zärtlichkeiten beging .
Während Jeronimo im Entzücken dieses Besitzes schwelgte , fand Luigi Muße , sich ohne Geräusch zu entfernen .
Als er dicht bei seinem Hotel war , öffnete sich die Tür desselben , und einer seiner Bedienten trat heraus , ohne ihn zu bemerken .
Ein junger Mann sprang auf den flüchtigen Burschen zu , hielt ihn an und fragte ihn dringend , indem er etwas durch Geld belohnte , was noch kommen sollte :
" Ist die Gräfin zu Hause ? "
" Ich glaube nicht . "
" Sei aufrichtig :
ich muß es wissen ! "
" Sie ist bei der Vicomtesse von Hericourt . "
" Dort kann ich sie nicht sprechen .
Sie war krank ? "
" Wer ? Die Gräfin ? Freilich ; sie ist vor einer Woche vom hitzigen Fieber genesen . "
" Gerechter Gott !
Wie lebt sie denn im Hause ?
Hat sie viel Vergnügungen ? "
" Sie wissen wohl , hierin läßt sie sich nichts entgehen .
Sie glauben , Herr Baron , ich kenne Sie nicht ?
Wie oft waren Sie bei der Gräfin , als ich noch mit ihr Manege ritt . "
" Du kennst mich ?
Sage ihr nicht , daß du mich gesehen hast : morgen aber hilfst du mir , sie ohne Zeremoniell und weitläufige Anmeldung sprechen zu können ! "
Der Gesandte sah dem forteilenden Fremden nach .
Er erkannte ihn als einen Deutschen , dem er früher begegnet sein mußte .
Der Bediente gab ihm den Namen an ; doch hatte er nie gewußt , daß dieser mit Wally in einer Verbindung gestanden hätte .
Er trat in sein Hotel .
9 9 Am folgenden Morgen , als Wally sich noch in den ersten Umrissen ihrer Toilette befand und im neusten Hefte der " Revue de Paris " blätterte , wo sie durch die Schwärmereien eines französischen Gelehrten über deutsche Zustände , die er aber falsch verstanden hatte , sehr belustigt wurde , riß eine unangemeldete Hand die Tür ihres Zimmers auf und stürzte mit einem freudigen Gruße zu Wallys Füßen .
Sie war bleich vor Schrecken , als sie es dulden mußte , daß Cäsar sie stürmisch in seine Arme schloß und ihre Hand mit seinen Küssen bedeckte .
" Meine Wally ! " war der einzige Ausruf , der über seine bewegten Lippen dringen konnte .
Wally zitterte vor Schrecken und Freude .
Auch sie konnte keinen Ausdruck finden .
So saßen sie sich eine Weile stumm gegenüber ; aber ihre Blicke sprachen mit feurigen Zungen und hatten tausend Dinge zu gleicher Zeit zu fragen und mitzuteilen .
" Dein Schionatulander ! " sprach dann Cäsar mit holdseliger Ironie .
Wally errötete und barg ihr glühendes Antlitz vor Scham an seine Brust .
" Sie müssen mir diesen stürmischen Angriff verzeihen ! " fuhr dann Cäsar fort .
" Ich habe viel bei Ihnen gutzumachen und will es durch Dinge , welche für Sie von Wert sind . "
" Sie haben vor zwei Monaten mir das Leben nur gerettet , um es mir zu nehmen ! " sagte Wally .
" Ich wollte Sie nicht besuchen .
Ich vermied Sie .
Warum ? fragen Sie mich !
Ich weiß es nicht .
War ich stolz , beleidigt ?
Nein : es war lächerlich ; aber Sie kennen mich , Wally , wie schwierig ich zu behandeln bin .
Ich lasse immer auf eine Liebenswürdigkeit zehn unerträgliche Torheiten kommen . "
" Liebenswürdigkeiten !
Unerträglich !
Torheiten !
Oh , alles , wie sonst - mein Cäsar ! "
" Meine Wally !
Aber Sie schweben in einer unvermeidlichen Gefahr , aus der ich Sie retten muß .
Ihr guter Ruf ist bedroht .
Sie verdanken das Ihrem Manne .
Welche Leute kommen in Ihr Haus ? "
Wally hatte nicht viel Gehör für diese Worte , für den Inhalt nicht , nur für den Schall , den sie an Cäsars Munde verfolgte .
Wenn die Wörterbücher es erlauben , sich so auszudrücken , so wollte sie ihn nur sprechen , nicht reden hören .
" Nein , in der Tat , Wally !
Wer ist dieser Jeronimo ?
Alle Welt spricht davon .
Es ist unmöglich , daß Sie Anteil an dieser Intrige haben .
Sie kommt allein auf Rechnung Ihres Mannes . "
Wally lächelte nur und weidete sich an dem Anblick .
" Nein , bezaubernd sind Sie , Wally ! " grollte Cäsar mit komisch-weinerlicher Stimme ; " aber so hören Sie doch und gehen Sie auf etwas ein , das Sie interessiert . "
Cäsar mußte sie wecken , mit Küssen wecken aus ihrem Rausche .
Er mußte Auge an Auge , Stirn an Stirn legen , jeden Zug in Wallys Antlitz bannen , um sie in seiner Gewalt zu haben und seinen Worten Eingang zu verschaffen .
Wally tat noch immer nichts , als in einer gewissen gemachten Abwesenheit von unten herauf mit einer halben Wendung ihres Kopfes , mit klugen und verdächtigen Augen an ihn sich hinaufschmiegen und das küssen , was sie gerade traf , Auge , Mund , Nasenflügel .
Man muß lieben , um diesen malerischen Gestus der Zärtlichkeit zu verstehen .
" Wally ! "
" Cäsar ! "
" Wer ist Jeronimo ? "
" Ein Narr . "
" Der Bruder Ihres Mannes ? "
" Der Bruder meines Mannes . "
" Er liebt Sie . "
" Er liebt mich . "
" Er ist wahnwitzig . "
" Er ist wahnwitzig . "
" O , Wally !
Wally ! "
" Was soll ich nur ?
Warum inquirieren Sie mich ? "
" Man behauptet , Jeronimo würde mit Vorspiegelungen von Ihnen hingehalten , während Ihr Mann die Zeit benutzt , seinen eigenen Bruder auszuziehen . "
" Aus der Komödie !
Ein Roman von Eugene Sue , Balzac , Victor Hugo ; was soll ich lesen ?
Raten Sie mir :
ich verwildre ganz , Cäsar . "
" Keine Fabel , nein !
Im Hotel des sardinischen Gesandten plündert man die unglücklichen Liebhaber . "
" Und die glücklichen , Cäsar , sind langweilig . "
" Und die glücklichen Liebhaber , Wally , wollen nicht , daß ihr Idol ein Gegenstand der allgemeinen Beschimpfung ist . "
" Wer beschimpft mich ? "
" Ihr Mann ! "
" Nun , so müssen Sie mich wieder reinwaschen . "
" Das will ich ; aber - "
" Aber - "
" Geben Sie mir Aufschlüsse , Daten , Erklärungen .
Wer ist Jeronimo ?
Was will er ?
Was hat er ?
Ahnten Sie nichts ?
Teilen Sie die Schuld Ihres Mannes ? "
" Gott , so hören Sie auf , Cäsar .
An diesen Sachen nehme ich keinen Teil .
Ich habe ja an Ihnen genug , Cäsar ; ich lasse Sie nicht .
Reden Sie von der Vergangenheit , von Ihren Lebensschicksalen , von unseren Freunden .
Kein anderes Wort , oder ich verlasse Sie im Augenblick . "
Cäsar begriff diese Grillen nicht .
Verdiente er , so geliebt zu werden !
" Nun dann ! " sagte er lachend und ärgerlich zugleich und begann , auf die Themata einzugehen , welche Wally entzückten .
Bis zur Mittagszeit konnten sie über diese Dinge sprechen , ja noch in der Loge des Theaters , und nach dem Theater bis tief in die Nacht hinein .
1010 Endlich hatte Wally den Zusammenhäng ihrer häuslichen Verhältnisse erfahren .
Cäsar war unermüdlich , den Ruf seiner Freundin wiederherzustellen und die öffentliche Meinung über sie zu berichtigen .
Sie dankte ihm dafür nicht einmal ; denn sie lebte gar nicht in Bezug auf diese unwürdigen Dinge , weil sie weder von ihnen eine Vorstellung hatte noch sie für wert einer Aufmerksamkeit hielt , die größer gewesen wäre als die vollständige Erschöpfung ihres Verhältnisses zu Cäsar .
So verflossen einige für sie unersetzliche Tage .
Wally duldete nicht , daß irgend etwas sie im Genusse derselben störte .
Sie gab sich wenigen Besuchen preis .
Die meisten wies sie ab , vor allen die Anmeldungen Jeronimos , den sie in seinen Leiden mit einer entsetzlichen Grausamkeit behandelte .
Sie trat alles mit Füßen , was nicht in unmittelbarer Beziehung auf Cäsar stand .
" Sie müssen mich über diesen Unglücklichen anhören " , sprach Cäsar einst zu ihr .
" Er glaubt Rechte auf Sie zu haben und behauptet , daß Sie um den Preis seines Vermögens die seine wären . "
Wally lachte hierüber , dann aber sagte sie ärgerlich :
" Was soll ich aber tun ?
Ich bin dieser Verhandlungen müde , daß mir meine Lage unerträglich wird .
Es kommt so weit , daß ich jedes Mittel ergreife , Paris zu verlassen . "
" Was tut Ihr Mann ?
Was sagt er Ihnen ?
Will er denn alles geschehen lassen ? "
" Was geschieht denn ?
Gütiger Himmel , so schenken Sie den Narrheiten der Welt nicht fortwährend Ihr Ohr .
Ich bin für Sie ohne Tadel und bedarf nicht mehr , weil ich nur Ihnen gefallen will .
O Gott !
Ist je zu einem Manne so gesprochen worden ? "
" Sie verwirren meinen Kopf , Wally ! "
" Gewiß : denn der meinige ist unfähig , noch im Zusammenhänge zu denken .
Wollen Sie etwas Entscheidendes tun ? "
" Nun ? "
" Befreien Sie mich aus dieser Lage !
Ich gehe mit Ihnen aus Paris und kehre niemals zurück .
In der Einsamkeit will ich wohnen , selbst wenn Sie mich verbergen müßten .
Hier ist die Luft verpestet .
Sagen Sie alles meinem Manne .
Er ist ein Pinsel , der gar keine Rechte auf mich hat .
Fort !
Gehen Sie noch jetzt hinüber zu ihm . "
Als Cäsar mit dem Gesandten allein war , sagte er zu ihm :
" Mein Herr , Sie vernachlässigen den Ruf und die Ruhe Ihrer Frau . "
" In welcher Eigenschaft sagen Sie mir dies ? " fragte der Gesandte .
" Als Bevollmächtigter und Beauftragter Ihrer Frau , als Freund des Hauses , dem sie angehört , als Teilnehmer an Wallys Lebensschicksalen , die sie betreffen , als beträfen sie mich selbst , zuletzt - wenn auch nur - als Beschützer eines Wesens , das unschuldig ist und nicht die Kraft hat , sich von einer Intrige loszusagen , in welche sie wider ihren Willen verwickelt wurde . "
" Sie scheinen von den Verhältnissen meiner Frau mehr zu wissen als ich selbst .
Doch will ich ihre Mitteilungen abwarten , um mich zu irgend etwas bestimmen zu lassen . "
" Dann werden Sie freies Spiel haben , mein Herr !
Wally lebt nicht mit dem , was um sie vorgeht . "
" Dann scheint es , als bauten Sie ihr eine neue Welt . "
" Ja , Sie können so sagen , wenn Sie darunter verstehen , daß ich die alte einreißen werde .
Was können Sie tun , um Ihrem Bruder seinen Verstand wiederzugeben und die Reichtümer desselben , welche Sie sich das Ansehen geben , mit Ihrer Gattin zu teilen ?
Sie wagten es , eine himmlisch reine Seele zu beschmutzen .
Sie wagten es , das Leben eines Bruders methodisch zu untergraben .
Gegen das letzte werden die Gesetze auftreten , gegen das erste aber Gesinnungen , die sich weder widerlegen noch bestechen lassen . "
" Aber auch gegen diese tugendhaften Gesinnungen wird es Gesetze geben ; denn Sie wissen , daß diese Art Tugend nicht überall am Orte ist . "
" Die Gesetze werden zu spät kommen . "
" Wie sollten sie von Ihnen vereitelt werden ? "
" Durch die Entführung Ihrer Frau , die Brandmarkung Ihres Namens , durch die Aufhebung jeder ehrlichen Gemeinschaft mit Ihnen , durch tausend Vorsprünge , welche die Ehrlichkeit vor einem Manne voraus hat , der mit dem guten Namen seiner Frau das Vermögen eines Bruders kauft , der zur einen Seite die Menschen übel berüchtigt , zur anderen wahnsinnig macht .
Wahrhaftig , ich schwöre Ihnen - "
Der Gesandte trat scharf auf Cäsar zu und hintertrieb hierdurch das , was dieser sagen wollte , er stieß einige Drohungen aus und verließ dann mit einem gemachten Stolze das Zimmer .
Cäsar wollte ihm nach , aber die Tür war ins Schloß gefallen .
Als er in die Zimmer Wallys zurückkam und er hörte , daß sie im Bade sei , verließ er unmutig über die verlorene Mühe das Hotel .
Seine Ausdauer war erschöpft .
Er war nahe daran , jetzt alles so kommen und so gehen zu lassen , wie es ging .
Aber noch an demselben Abende sollte eine Schlußkatastrophe den Knoten durchhauen .
Jeronimos Seelenzustand war unheilbar zerrüttet .
Es war ihm nur noch eine Kraft geblieben , die gefährlichste für seinen unzurechnungsfähigen Zustand , die Kraft , Entschlüsse zu fassen und sie um so eher ins Werk zu setzen , weil ihn nichts in seinen Kombinationen störte .
Jeronimo war fast ein Bild des Todes .
Das dunkle Feuer seines Auges hatte sich selbst verzehrt , ein Büschel dünner Haare deckte den kahlen Scheitel .
In Regen und Frost stand er vor den Fenstern seiner unglücklichen Neigung , die ihn von sich wies und den ganzen Herbst und Winter mit ihm nicht gesprochen hatte .
Dabei versagte er sich das Notwendigste .
Er schien verhungern zu wollen .
Da ihn aber die Langsamkeit dieser Todesart peinigte , so wählte er eine schnellere .
Nur darum handelte es sich noch bei ihm , wie er vor den Augen Wallys sterben sollte .
Es war an demselben Tage , wo Cäsar mit dem Gesandten gesprochen hatte , als sich in der Nachtdämmerung eine blasse Gestalt von ihrem Lager erhob , nach einem Pistole griff und sich an den erleuchteten Häusern der Pariser Straßen dicht unter den ersten Stockwerken entlangschlich .
Es war ein wenig Schnee gefallen .
Die Straßen waren leer , oder doch hatte alles , was auf ihnen war , Eile , sie wieder zu verlassen .
Nirgends brannten Laternen .
Der Kalender hatte Mondschein .
Jeronimo stand endlich vor dem Hotel seines Bruders .
Man sah es , daß dieses Haus kein Sitz der Freude war .
Nur hie und da war ein Fenster erleuchtet .
Jeronimo spähte nach dem , welches zu Wallys Schlafkabinett gehörte .
Er sah es , doch war es noch finster .
Wally mußte aus dem Theater schon zurück sein .
Einige falsche Akkorde auf dem Klavier drangen zu dem Ohr des Unglücklichen .
Jeden anderen , dessen Geist nicht schon in wahnsinnige Erstarrung übergegangen war , hätten diese Töne dem Leben wiedergegeben .
Jeronimo hatte keine Empfindung als für das , welches mit seinem Tode und einer Art von Rache zusammenhing .
Er tat nichts , als den Hahn seines Pistole zurücklegen .
Jetzt schwiegen die Töne , welche nur in einem Anfalle von Zerstreuung und zufälliger Leere des Bewußtseins angeschlagen schienen .
Das Schlafkabinett Wallys erhellte sich .
Jeronimo zitterte , denn nah erkannte er zwei Gestalten , welche an den Gardinen des Fensters zuweilen wegrauschten .
Bald war es nur noch dieselbe , die zuweilen wiederkehrte .
Es mußte Wally sein .
Jeronimo wollte nicht anders , als sie im Auge haben .
Der Zufall war grausam genug , hier alles zu erleichtern .
Vom Vorsprung des Parterrefensters war er bald auf das eiserne Gerüst einer Laterne .
Die Einschnitte an der Wand des Hauses unterstützten ihn .
Er schwang sich auf , griff mit zuckender Hand an das Fenster und faßte so viel vom Holze , daß er bequem aufgerichtet einige Minuten lang stehen konnte ; er stand noch länger ; denn in so fürchterlichen Augenblicken ermüdet der Körper nicht und kann das Unglaubliche leisten .
Wally blieb drinnen an einen Pfeiler ihres Bettes gelehnt .
Sie war noch nicht ganz entkleidet ; nur was an Schnüren und Bändern ihre Kleider zusammenhielt , das war gelöst und machte , daß sie in einer malerischen , die Sinne verlockenden Situation dastand .
Sie war sehr indifferent in ihrem Gemüte , wie es schien , und griff nach einem Buche , nach einem deutschen Buche , um sich in Paris einzuschläfern .
Da störte sie ein Geräusch am Fenster .
Sie sieht auf und erblickte durch die angelaufenen Scheiben die ganz undeutlichen Umrisse einer menschlichen Gestalt .
Sie eilt hinzu , wischt so viel von dem Tau des Fensters ab , um ein gräßlich verzerrtes Antlitz wahrzunehmen , das im Nun beim Knall eines Pistole zerschmettert ist .
Sie stößt einen entsetzlichen Schrei aus : der Schuß machte das Haus lebendig .
Man eilt von allen Seiten herbei , dringt in Wallys Zimmer ; denn hier hatte man den Schuß gehört .
Man tritt in das Kabinett und findet Wally bewußtlos am Boden liegen .
Die Scheiben sind zerschmettert , und blutige Teile eines zersprungenen Schädels liegen auf dem Fußboden .
Wally hatte sich bald erholt .
Sie besann sich auf alles ; sie hatte Jeronimo in dem Augenblicke , als das Pistole blitzte , erkannt ; niemand zögerte , ihre Vermutung zu bestätigen , als man den hinuntergestürzten Leichnam besichtigte und dem Bruder des Gesandten in ein Antlitz leuchtete , das nicht mehr da war .
Aber welch ein tiefer Abgrund ist das weibliche Herz !
Wally tobte wie eine Bacchantin .
Sie lief , sie schrie , sie riß die Zimmer ihres Gatten auf , der nirgends zu finden war .
Sie verbot unter jeder Bedingung , den entsetzlichen Leichnam in das Haus zu tragen .
Wäre Jeronimo nicht tot gewesen , jetzt hätte sie ihn umbringen können .
Sie rief nach Cäsar .
Bedienten eilten fort ; man traf ihn nicht .
Sie schickte zwei- , dreimal .
Zuletzt ließ sie ihm sagen , daß er am folgenden Morgen um sechs Uhr reisefertig in ihrem Hotel eintreffen sollte .
Hier war kein Besinnen , kein Abraten mehr möglich .
Alles mußte Hand anlegen , um ihre Sachen zu ordnen und das Nötigste auf den Reisewagen zu packen , der unter den Torweg gezogen wurde .
Die Post wurde zur Minute bestellt .
Wally war wie verzaubert .
Sie befahl , majestätisch , kalt , nordisch , wie eine Alleinherrscherin Moskoviens .
Bis tief in die Nacht war sie mit diesen Zurüstungen beschäftigt .
Sie hatte in halbem Schlummer gelegen , als sie in der Frühe aufwachte .
Das blutige Ereignis hatte sie vergessen ; nur ihr Entschluß beschäftigte sie .
Cäsar erschien , ganz verstört .
Sie blickte ihn forschend an , sie befahl .
Er begriff nichts , er fragte nicht , er folgte willenlos .
Unten im Torweg war alles noch um den Wagen beschäftigt , sie zitterte vor Ärger , daß hier noch nicht alles beendigt war .
Sie dachte gar nicht daran , bei Menschen , welche sie nie wiedersehen wollte , einen angenehmen Eindruck zu hinterlassen .
Cäsars Blick fiel auf eine Blutspur , die von außen sich in den Torweg und wieder hinauszog .
Er wagte nicht zu fragen , so erschreckte ihn dies .
Wally schien alles zu wissen , und wie leichtsinnig trat sie über das kaum getrocknete Blut , das hie und da mit zersplitterten Knochen vermischt war !
Erst als sie beide im Wagen saßen und die Barrieren von Paris im Rücken hatten , teilte ihm Wally das Geschehene mit .
Cäsar schauderte .
Drittes Buch Wallys Tagebuch Wallys Tagebuch Es ist zu spät , das Leben ihres Bluts Ist tödlich angesteckt , und ihr Gehirn , Der Seele zartes Wohnhaus , wie sie lehren , Sagt uns durch seine eitlen Grübeleien Das Ende ihrer Sterblichkeit vorher .
Shakespeare Die Einsamkeit meiner jetzigen Lebensweise zwingt mich , den Kreis , in welchem ich mich bewege , nun doch auch in allen seinen Teilen auszufüllen .
Wie beglückt mich Cäsars Liebe !
Ich will aber nicht ungerecht sein gegen die Außenwelt und mich wenigstens schriftlich mit ihr beschäftigen , soweit sie ein Recht dazu hat .
Viele verdienen es , daß ich auf sie achte : nicht alle .
Cäsar sagt mir , ich wäre egoistisch gegen die Welt , er nennt mich sogar grausam .
Er meint es gewiß damit aufrichtig .
Ich will mich auch mit den anderen beschäftigen ; aber schriftlich : täglich will ich drei Vormittagsstunden darauf verwenden .
Täglich - Ob ich das Vorige ausstreiche ?
Fünfmal habe ich gegen meinen Vorsatz gesündigt , und multipliziere ich die drei vergessenen Stunden mit den fünf vergessenen Tagen , so tat ich es fünfzehnmal .
Ich schreibe ungern , denn ich denke viel schneller , als mein bleierner Stil folgen kann .
Cäsar sagte mir , man müsse die Menschen in ihrem ganzen Wesen anatomieren .
Dadurch lerne man und vergnüge sich .
Cäsar hat immer recht .
Ich will einige meiner alten Freundinnen zu schildern suchen .
Ich vernachlässige alle ; wenn ich sie sehe , zeige ich ihnen , was ich von ihnen schrieb und daß ich sie doch liebe .
Ich will Delphinen charakterisieren , sie ist so verschieden von mir .
Delphine gefällt , ohne schön zu sein .
Man kann ihr nicht einmal einen ausgezeichneten Wuchs zugestehen , nur ihre Haltung , ihr schwebender Gang kann den Mann veranlassen , auf sie zu achten .
Sie trägt sich mit erstaunenswerter Einfachheit .
Ihr Haar ist gescheitelt ; ein weißer Kantenstrich , wie man ihn unter Hüten trägt , hebt diese Einfachheit zu dem lieblichsten Eindruck .
Weiß und hellblau stehen ihr gut ; eine rote Schleife auf der Brust gibt dieser Monotonie der Toilette eine lachende Auffrischung .
Delphine hat einen kleinen Fuß .
Sie geht sehr schön .
Das will viel sagen !
Das Blaue in Delphines Auge ist nicht rein , es ist mit zu viel Weiß gemischt .
Für die Augenbrauen ist eine schöne Wölbung da ; aber sie ist nicht stark aufgetragen ; dieser Reiz verschwindet .
Sie hat einige hübsche Gewohnheiten .
So faßt sie z.B. oft mit der linken Hand in die Gegend der Stirn , öffnet sie , schließt mit dem Daumen und dem Zeigefinger einen Kreis und beginnt diesen Kreis allmählich zu öffnen , indem sie aus der Tränendrüse des linken Auges zurückfährt , das ganze Auge umkreist und die Öffnung der beiden Finger wieder schließt am Ende des Auges .
Diese sonderbare Bewegung erfolgt mit Blitzesschnelle und ist deshalb so hinreißend , weil sie immer mit einer Erregung ihrer Seele zusammenhängt .
Der größte Zauber in Delphines Erscheinung kommt aber von ihrer eigentümlichen Seelenstimmung her .
Diese muß man , um kurz zu sein , sentimental nennen ; obschon der Ausdruck sie nicht ganz erschöpft .
Besser würde man sagen , sie ist musikalisch gestimmt .
Denn Musik drückt ihr ganzes Wesen aus : und zwar nach jener einseitigen Richtung hin , wo die Musik nur Wollust der Empfindung ist .
Für plastische Gestaltenschöpfung in der Musik , soweit die Musik diese erreichen kann , für Opern im französischen Geschmack , kurz , für das Dramatische in der Musik ist sie nicht .
Die Richtung ihrer Seele ist lyrisch .
Alles , was sie mit einem wunderlieblichen Organe spricht , nimmt den Ausdruck des Zarten , Schonenden und Bittenden an .
Bittend sind die meisten Töne ihres Lautregisters .
Nichts kann hinreißender sein als dies flehende , mit einer gewissen lächelnden und doch schmerzlichen Selbstironie hervorgebrachte : " O Gott ! " , womit sie so vieles begleitet , was sie spricht .
" O Gott ! "
Dieser Ausdruck soll ihr ewiges Überwundensein , ihre Hingebung an die Menschheit , an die sie glaubt , ausdrücken .
Wer könnte widerstehen , wo solche Töne anschlagen !
Delphine ist so willenlos , daß sie die Beute jeder prononcierten Absicht wird .
Mit liebenswürdiger Naivetät gestand sie mir einst : Sie würde jeden lieben , der sie liebt .
Oh , wie nötig ist es , bei einer solchen Willensschwäche , daß sie in die Hut eines Mannes kommt , der so viel geistiges Leben besitzt , um sie ganz durchströmen zu können mit seiner eigenen Willenskraft !
Delphine liebte unglücklich , mehrmals ; aber sie ist so unentweiht , ihre früheren Zärtlichkeiten sind so wenig sichtbar in ihrem Benehmen , daß sie dem Manne immer noch als kaum erschlossene Knospe erscheinen muß .
Delphine besitzt äußerlich die Reize nicht , einen Mann auf die Länge zu fesseln , aber wer sie einmal , sei es aus Liebe oder Illusion , eroberte , der wird sie nie verlassen können , weil ihre Hilflosigkeit , ihre Hingebung entwaffnet .
Vielleicht arbeitet sie noch mehr an ihrem Geiste .
Sie hält einige Minuten lang die Dialektik eines bloß verständigen logischen Gesprächs aus ; aber dann kann sie es nur fortsetzen , wenn es entweder auf einen gemütlichen und Gefühlston übergeht oder auf einen bestimmten vorliegenden Fall , den sie erlebt hat .
Über einen Fall , den man ihr bloß erzählt , kann sie nicht urteilen , weil sie alle Menschen für gut hält und alle nach sich selbst richtet .
Delphine sollte viel lesen .
Sie liest , aber fragmentarisch .
Sie ist reich , sie sollte sich durch vielfache Lektüre darin zu bilden suchen , was über die Musik und das bloße Gefühl hinausliegt .
Ihr Organ macht , daß sie schön , ihre keusche Seele , daß sie fast alles richtig liest .
Ich hörte sie Gretchen im " Faust " lesen , so wahr und hold , wie es der Peche in Wien und Höffert in Braunschweig kaum gelingen möchte .
Cäsar muß ihr Bücher geben .
Was er wohl über sie urteilt !
Er ist ihr diametral entgegengesetzt und sagte mir doch einmal :
er müsse jede lieben , die ihn liebe , und würde auch jeder treu sein in seiner Art .
Bei ihm ist das Egoismus , bei Delphinen Schwäche .
Sie können sich aber nicht begegnen .
Delphine ist eine Jüdin .
Ich habe das gestern nur so hingeworfen , daß Delphine eine Jüdin ist .
Aber welche eigentümliche Richtung mußte dies ihrem Wesen geben !
Sie wurde unter sehr glänzenden Verhältnissen erzogen .
Das Judentum in seinem Schmutz , mit seinen Zeremonien und Priestern nahte sich ihr niemals .
Sie findet keine Reue darin , irgendeines der jüdischen Gebote zu übertreten , von welchen sie den größten Teil gar nicht kannte .
Wie originell ist doch ein Mädchen , das den ganzen Bildungsgang christlicher Ideen nicht durchmachte und doch auf einer Stufe steht , welche ganz Gefühl ist , und das so viel Liebenswürdigkeit entwickelt !
Delphine kann von der Religion nur wenige Nachrichten haben , einen weiblichen Gottesdienst gibt es in ihrem Glauben nicht , eine häusliche Verehrung kommt in Form von Zeremonien , Gesang oder sonst einer Weise nicht vor , die Konfirmation ist unter uns den Juden nicht erlaubt - wie auffallend ist dies alles , und doch hat man es dicht neben sich !
Glücklich ist Delphine zu nennen , denn niemals wird ihr die Religion irgendeine Ängstlichkeit verursachen .
Ein gewisses unbestimmtes Dämmern des Gefühls muß für sie schon hinreichend sein , die Nähe des Himmels zu spüren .
Sie braucht jene Stufenleiter von positiven Lehren und historischen Tatsachen nicht , die die Christin erst erklimmen muß , um eine Einsicht in das Wesen der Religion zu bekommen .
Wir sind weit schwieriger in diesem Betracht gestellt und sollten im Grunde , wenn die Religion die Tugend befördert , weit weniger tugendhaft als die Juden sein ; denn unsere Religion ist ein so hoher Münster , daß man ihn zwar ersteigen , aber nicht zu jedem Sims , zu jedem Vorsprunge , zu jedem Seitenturme gelangen kann .
Eins aber bemerke ich , was charakteristisch ist .
Niemals könnte ich als Christin über meine Religion zu Delphinen sprechen und sie eine Verzweiflung über meinen Glauben blicken lassen .
Es ist dies eine Scham und ein Stolz , welcher unvertilgbar in uns niedergelegt ist und die uns nicht verlassen würde , selbst wenn vom Christentum alles in uns morsch geworden ist .
Für christliche Männer , welche widerspenstig gegen den Katechismus sind , muß die Liebe einer Jüdin von besonderem Reize sein .
Sie nehmen hier weder Bigottismus noch eine Zerrissenheit wie die meinige in den Kauf , sondern weiden sich an der reinen , ungetrübten , natürlichen Weiblichkeit , an einem sinnlichen Schmelz der Liebe , welcher die der Christinnen bei weitem übertreffen soll .
Bei einer Jüdin reduziert sich alles einseitig auf ihre Liebe , Rücksichten tauchen nirgends auf : ihre Liebe ist ganz pflanzenartiger Natur , orientalisch , wie eingeschlossen in das Treibhaus eines Harems , der alles erlaubt , jedes Spiel , jede weibliche ( aber wollüstig-ergreifende ) Gedankenlosigkeit , alles , alles : darum schwillt Delphine von Liebe .
Das Segel ihres Herzens ist niemals schlaff , sondern immer aufgebläht , rund und voll , immer auf rauschender Fahrt .
Cäsar entdeckt , glaube ich , in der Liebe zu Jüdinnen noch einen anderen Reiz .
Er hat eine ganz heillose Ansicht von der Ehe und will die letztere durchaus nicht als ein Institut der Kirche gelten lassen .
Das Sakrament der Ehe ist nach seiner Theorie die Liebe , nicht des Priesters Segen .
Wie glücklich würde Cäsar sein , wenn er je heiratete , es ohne kirchliche Zeremonie tun zu dürfen !
Eine Ehe zwischen einer Jüdin und einem Christen kann zwar nicht bei uns , aber in anderen Ländern geschlossen werden ; natürlich ist dies eine Ehe ohne den christlichen oder jüdischen Priester ; es ist eine rein zivile Ehe vor den Gerichten , ein Akt der geselligen Übereinkunft .
Ich glaube fast , Cäsar könnte deshalb seine Neigung zu Delphinen ins Äußerste treiben .
Schon bemerke ich , wie eifrig er sie sucht .
Wie leichtsinnig bin ich gestern über die Abgründe meines Denkens hingewandelt !
Ohne weiteres konnte ich mich damit beruhigen , diese Zweifel an meinem Glauben hinzunehmen als etwas , das ich mir längst selbst gestanden habe , und doch weiß ich aus meinem früheren Leben , wie unglücklich ich war , daß ich über diese Dinge nichts zu denken wagte .
Oh , wie mächtig ist der Liebe Zauber !
Ein männliches Herz , das uns liebt , ist der Wächter aller unserer Gedanken und muß die stille Verantwortung dessen tragen , was in der Seele des Weibes Sünde und Empörung ist .
Wie sicher fühle ich mich , selbst im Entsetzlichsten , wenn ich nur die warme Hand meines Freundes drücken darf !
Er nimmt alles auf sich : er ist heiter und lächelt und fürchtet nichts .
Wenn ich jetzt schon nicht ohne Zagen sehe , wie Cäsar sich Delphinen immer mehr nähert , wenn ich mir die grausame Wirkung denke , die ein Verhältnis zwischen beiden in mir Unglückseligen hervorbrächte :
was muß dann kommen , wenn ich die Trümmer sehe , welche sich in meiner Seele aufgehäuft haben !
Die Unruhe , über die Religion eine Ansicht zu haben , peinigt mich mehr als sonst .
Sie hat eine solche , jetzt zur Not gedämmte Gewalt über mich , daß ich glauben muß , die Wegnahme dieses Dammes der Liebe bringt eine Überflutung in mir hervor , welche selbst den Schmerz über Cäsars Verlust mit fortschwemmt .
Ich lebe und sterbe mit Cäsar .
Leben kann ich nur mit Cäsars Liebe .
Sterben muß ich , nicht weil Cäsar imstande war , eine andere mir , ein Mädchen einer Frau ( ob er es wohl weiß , eine Unberührte einer Unberührten ) vorzuziehen , sondern weil dann alles in mir zusammensinkt .
Gott , ich glaube , fast brauche ich Cäsar nur , um mich zu beschäftigen und meinen Gedanken eine unschädliche Richtung zu geben .
Er kommt .
Nur die Erkenntnis ist das Schwere .
Das Dasein Gottes selbst bezweifeln hieße den gegenwärtigen Zustand meines Inneren Fortleugnen .
Würde ich diese Mühe haben , wenn es nicht in Wahrheit einen Gott gäbe !
Das Resultat des Atheismus war auch nie ein anderes , als daß er in ein System überging und zuletzt selbst eine Religion wurde .
Konnte es abergläubigere und bigottere Atheisten geben , als Chaumette , Anacharsis Cloots und Momoro waren !
Der Atheismus eine Religion !
Eine Ironie , die man satanisch nennen möchte !
In einer Reisebeschreibung las ich , daß einer der ersten Gottesleugner der Revolution , Billaud-Varennes , nachdem er auf seiner Flucht erst von der Dressur azorischer Papageien gelebt hatte , dann in Amerika Priester wurde , unter Indianer kam und zuletzt von ihnen als göttliches Wesen verehrt wurde , er , der Gott geleugnet hatte !
Diese satanischen Ironien reizen mich .
Sollte es möglich sein , daß es noch einst im Himmel einen Gottesdienst gibt !
Das Christentum ( man lese nur die Offenbarung Johannis ) gefällt sich in diesem lächerlichen Widerspruch , als wenn Gott vor sich selber Weihrauch streuen müsse .
Er etabliert im Himmel eine vollendete Kirche mit Chören der Seligen und Altären , auf welchen die Cherubim thronen .
Goethe benutzte diese Maschinerie für die Kanonisierung seines Faust .
Aber was jage ich nach solchen Bemerkungen !
Sie haben freilich lindernde Kraft , aber ich schäme mich , aus meinem Schmerze Tatsachen heraufzuwühlen und mich selbst als einen Gegenstand meiner Leiden zu betrachten .
Wir sollen Gott fürchten und lieben !
Dies eine Gebot untergräbt meine Ruhe ; denn ich kann es weder befolgen noch mich anklagen deshalb , weil ich es nicht tue .
Wir sollen Gott zürnen , heißt das Gebot meiner Weltansicht , welche eine unglückliche ist und freilich sich nicht damit zufriedengibt , daß jährlich vier Jahreszeiten kommen und man im Frühjahr Erdbeeren ißt , welche mit Zucker und Milch ein so vortreffliches Surrogat der Vanille sind .
Es ist im Grunde nicht viel , was wir besitzen auf Erden .
Wir werden geboren oft in den elendesten Verhältnissen .
Wir kriechen tierisch auf dem Boden und werden nur allmählich aufgerichtet , wie Schlinggewächs an das Spalier der Bildung .
Not , Mühsal verfolgt uns überall ; selten ein Genuß , der nicht durch eine Anstrengung erkauft ist .
Wir haben so viel mit der Materie zu kämpfen .
Wir wälzen einen Stein wie Sisyphus den Berg hinauf ; warum müssen wir es tun ?
Der Fluch , nicht der Segen der Götter begleitet uns .
Warum sind wir ?
Oh , könnte ich mir irgendeinen erweislichen Grund vorstellen , warum diese Planeten im Weltsysteme irren , warum wir auf unserem Planeten so armselig und hülflos kriechen müssen ?
Was bezweckte Gott damit ?
War dies eine Grille von ihm ?
Was kommt darauf an , ob das Gute oder Böse in der Weltordnung produziert wird ?
Ich bin so unglücklich .
Ich weiß hierauf keine Antwort .
Die Fähigkeit , Fragen aufzuwerfen , ließ Gott bei der Schöpfung oder bei der ewigen Schöpfung , bei unserer Geburt , ohne die entsprechende Fähigkeit , auch Antwort darauf zu geben .
Diese Halbheit einer Gabe ist so feindselig .
Gott duldete es , daß der Glaube an ihn die Tagesordnung der Geschichte wurde ; er duldete es , daß noch heute der Atheismus wie das größte Verbrechen von den Völkern behandelt wird .
Nun , ich denke an Gott ; aber warum gab er uns nicht die Fähigkeit , ihn begreifen zu können ?
Verlangt er die Folgen , warum ließ er mich ohne die Voraussetzungen ?
Alle Nationen kommen darin überein , daß man von Gott nichts wissen könne .
Dann weiß ich auch nicht , warum sie an ihn glauben .
Oder es darf mich niemand tadeln , wenn ich denke , die Existenz Gottes anzunehmen war eine ganz äußerliche , politische und polizeiliche Übereinkunft der Völker .
Denn warum haben wir halbe Vernunft , halbe Erkenntnis , halben Geist ?
Warum zu allem nur die Elemente ?
Und wir sind so vermessen und bauen auf diesen trüben Boden Systeme , welche den Schein der Vollendung tragen und uns mit Verpflichtungen willkürlich belasten !
Und zuletzt der Tod !
Dieser Schrecken des Tods !
Die Krankheit mit ihrer unsäglichen Hilflosigkeit !
Das allmähliche Verschwinden des Bewußtseins !
Und dies alles nicht einmal so entsetzlich als das Zunehmen an Jahren .
Jetzt bin ich zwanzig Jahre : welche Empfindungen werde ich haben , wenn ich vierzig , fünfzig bin und es nun heißt : noch zehn , noch fünf sind die Wahrscheinlichkeit !
Dies ist eine so folternde Grausamkeit des Schicksals , ein solcher Fluch der menschlichen Natur , daß ich mich nie entschließen kann , das Gebot der Gottesliebe zu befolgen .
Man gab uns einiges , und das meiste wurde uns versagt .
Das einzige , was wir in seiner ganzen Vollkommenheit zu besitzen scheinen , ist die Fähigkeit , unseren unglücklichen Zustand zu begreifen und alle die Dinge zu nennen , welche wir vermissen sollen .
Ich habe mir ein merkwürdiges Buch verschafft , von dem ich einmal durch Cäsar hörte : die " Fragmente des Wolfenbüttler Ungenannten " , welche Lessing herausgegeben hat .
Es liegt viel Puderstaub auf dem Buche , viel altfränkisches Wesen ; aber das habe ich abgewischt und mir von meiner Lektüre eine ganz moderne Vorstellung gemacht .
Der Verfasser soll ein ehemaliger Hamburger Arzt , Reimarus , gewesen sein .
Die vollständige Prüfung des Christentums steht in einem Glasschranke auf der Hamburger Bibliothek .
Sie wollen das Buch nicht herausgeben .
Sie fürchten , daß aus dem vergilbten Papiere jener Kritik Motten fliegen , die das Christentum selbst anfressen .
Warum Lessing nur sagt , daß der Verfasser jener Fragmente Schmidt heiße !
Die " Fragmente " nehmen meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch .
Ihr nüchterner , leidenschaftsloser Ton erschreckt das Gewissen nicht .
Ich lese in der besten Laune .
Wie der Autor die Bibel zerfleischt , wie er in den glattgescheitelten Mienen jener Fischer und Zöllner , welche das Christentum predigten , den Schalk entdeckt , denselben Schalk , den der gottselige Pietismus so oft im Nacken führt !
Und doch jammert mich es jener kindlichen , märchenhaften Sage , die der Autor mit so vieler Gelehrsamkeit vernichtet !
Nur eines bestimmt mich , ihm beizupflichten , der Hinblick auf das , was uns umgibt , auf unsere Priester , auf - ach ! wie hängt das alles zusammen !
Aus jenem kleinen christlichen Senfkorn ist ein ganzes Senfpflaster geworden , das der gesunden Vernunft die brennendsten Blasen zieht !
Ganz männlich werden meine Ausdrücke !
Und doch können die " Fragmente " nicht befriedigen .
Sie deuten auf eine Naturreligion , mit deren Voraussetzungen sich die heutige wissenschaftliche Bildung kaum noch begnügen würde .
Die Frage muß höher liegen .
Sie dringt dort nicht in das Innere der Christtuschlehre ein , sie hält sich nur an deren historische Offenbarung .
Ich suche Trost .
Wo ?
Wo ?
Ich war gefaßt auf diese Eiseskälte , mit der mir Cäsar seinen Entschluß anzeigt .
Was ich vermutete , ist eingetroffen .
Delphines Situation reizt ihn .
Er wird um ihre Hand bitten .
Die Eltern sind ohne Vorurteile , und ich werde ihn verloren haben .
Ich bin ruhig .
Ich habe keine Tränen für diesen Verlust .
Ich bin in einer fürchterlichen Seelenstimmung .
Ist dies nicht ein neuer Fluch des Himmels ?
Oh , jetzt sind mir die Blitze des Schicksals willkommen , denn die Donner , welche ihnen nachrollen , wecken mich immer mehr aus der dumpfen Betäubung meiner Gedanken .
Ich muß Licht haben , Aufschluß , Einsicht !
Ich denke an Cäsar nicht mehr .
Ich will wissen , erkennen .
Warum ?
Wozu ?
Oh , das sah ich alles voraus .
Ich bin krank , ich fühle es .
Sollte das auf ein Zunehmen deuten ?
Ist auch im Geistigen wie im Körper Wachstum eine Krankheit ?
Glückliche Naivetät der vergangenen Zeiten !
Ich komme von einer Ausstellung alter Gemälde .
Auf vielen , die Transfigurationen und Glorien der Heiligen vorstellen , sah ich Engel , welche die Geige spielten .
Dies würde mir weniger auffallend gewesen sein , wenn sie es nicht nach Noten getan hätten .
Und doch gleicht die Malerei selbst , die Kunst , diese Lächerlichkeit aus .
Die Poesie würde es nicht können .
Die Poesie hat diese Einfachheit nicht ; sie würde solche Anomalien immer nur als Travestie geben .
Und wie entwürdigt sie sich , wenn sie es tut !
Man sollte den Spott über das Heilige , das Wühlen der Mistkäfer in duftenden Blumen , bitter verfolgen , auch die Freigeister sollten es ; sie , die alle Sorge tragen müssen , nicht mit den Spöttern verwechselt zu werden .
Es würde mir viel leichter werden , den göttlichen Begriffen mit Sicherheit nachzuhängen , wenn ich vom Nichts eine Vorstellung festhalten könnte .
Aber dies ist unmöglich .
Ich habe schon früh an dieser Verzweiflung gelitten .
Ich wollte schon als Kind mir zuweilen alles wegdenken , was ich sah und denken konnte , Europa , Asien , Afrika , die ganze Erde , den Himmel , alle Schöpfung , und dann war es immer , als stürzte ich von einer unermeßlichen Höhe ins Leere hinunter und fiel ohne Aufenthalt .
Fast möchte ' ich sagen , ich bin seither mit Eindrücken beladener , und es würde mir schwieriger sein als ehemals , eine solche Vorstellung des Nichts zu fixieren .
Ach das hohle , weite Chaos , diese dumpfe Leere , worin das Nichts unsichtbar schlummert !
Und Gott , der dieses Nichts selbst ist , nämlich dasselbe Nichts , das später doch ein Etwas wurde !
Gott , der in dem Nichts ist und doch wiederum auch in dem Etwas nicht sein soll , weil dies die Welt selbst vergöttern heißen würde !
Der pantheistische Gedanke widerstrebt mir , und ich glaube , Frauen werden ihn niemals hegen können , weil sie durch sich selbst schon gewohnt sind , alle Dinge in aktive und passive einzuteilen .
Wir werden immer anthropomorphische Ideen haben ; das Christentum unterstützt uns darin .
Die Vorstellung eines über uns thronenden Werkmeisters ist ein Bedürfnis , das unsere Phantasie immer geltend machen wird .
Jedes andere , ach , alles , alles ist uns verschlossen .
Cäsar wird in Ländern wohnen , wo das französische Recht herrscht .
Er ist glücklich , sich ohne die Kirche verheiraten zu dürfen .
Eine bürgerliche Verbindung wird zwischen ihm und Delphinen stattfinden .
Wenn er nur meinen Zustand schonte !
Aber er kennt ihn nicht .
Wüßte er , wie mich seine leichte Manier über die Religion so tief verwundet !
Das Peinlichste ist dies , daß er sich öfter das Ansehen gibt , als ließen sich einige Wahrheiten sogar im christlichen Glauben unumstößlich beweisen .
Dann tut er es und beginnt über die schwierigsten Punkte Entwicklungen , welche er mit ernster Miene durchführt und , wenn er zu Ende ist , für phantastischen Witz erklärt .
So begann er neulich folgende Auseinandersetzung der christlichen Lehre von der Dreieinigkeit , eines Begriffes , den ich noch gar nicht anrührte , weil ich mit seinen Prämissen noch nicht im reinen bin .
Er sagte :
Die bloße Vaterschaft Gottes ist relativ , sie ist unerkennbar oder , wie Jakob Böhme gesagt hat , ein dunkles Tal .
Licht und Erkenntnis kommt erst durch den Sohn .
Beide dürfen nicht isoliert gedacht werden , ihre Ergänzung , ihre Wechselseitigkeit ist der Heilige Geist .
Gott als das bloße Alles oder das bloße Nichts ist unerkennbar .
Gott muß sich etwas gegenüberstellen , einen Schatten seiner selbst , er mußte sich negieren aus seiner Ruhe heraus und schuf die Natur .
Die Natur ist nicht Gott , denn dann müßte die Natur ein Zustand sein .
Nein , die Natur ist eine Tätigkeit Gottes , und alles in Gott Tätige , auf die Außenwelt Bezügliche , ist in ihm das Englische .
Die Engel sind die Herolde des göttlichen Willens , und ihre Zahl ist so unendlich , wie , fast möchte man sagen , die Atome der Welt .
Die Engel wohnten ursprünglich in Gott ; denn seine Tätigkeit ist seinem Sein immanent .
Darum mußten die Engel auch gut sein ursprünglich .
Luzifer aber empört sich , Luzifer , der Lichtbringer , der die Finsternis erhellt .
Dies Empören ist eine Tätigkeit Gottes , das heißt Gott wird das Gegenteil seiner selbst , Gott wird Satan .
Ja , die Natur ist Teufel , dieselbe Natur , welche für Gott durchaus nicht vorhanden ist , da sie nur sein Atem ist .
Die Natur vor Gott ist so , als wäre sie nicht .
Vor Gott gibt es auch einen Teufel , als gäbe es ihn nicht .
Je höher bei dem einen oder anderen das philosophische Bewußtsein ist , desto weniger existiert für ihn auch der Teufel .
Im Christentum ist der Teufel ideell gänzlich ausgetrieben , denn Gott sonderte die menschliche Individualität von der Natur ab und gab dieser in seinem Sohne eine eigene Offenbarung .
Gott wollte den Widerspruch seiner selbst durch sich selbst strafen und an sich seinen eigenen Prozeß büßen lassen .
Er wurde gekreuzigt , und es herrscht hinfort nicht mehr Gott , nicht mehr Satan , nicht mehr der Mensch , nicht mehr die Natur , sondern das Reich des Geistes , der Freiheit und der Wahrheit .
Was hatte ich nun von dieser Improvisation !
Mit einer Art von komischem Atheismus schloß Cäsar seine mystische Deduktion , welche Menschen von größerer Einbildungskraft , als ich besitze , viel Beruhigung gewähren mag .
Ich soll schon an den Sohn glauben und bin noch mit dem Vater unbekannt .
Ich habe mich drei Wochen lang täglich in Vergnügungen berauscht .
Ich mußte der Welt zeigen , daß ich Cäsars Entfernung ertragen kann , ich mußte es mir selbst zeigen .
Aber es erquickt mich nichts mehr .
Cäsars Liebe war die schönste Zerstreuung meiner unglücklichen Seelenstimmung .
Ich sinke immer tiefer in Nacht und Verzweiflung .
Man erkennt mich nicht wieder .
Oft bin ich so von Wehmut aufgelöst , daß ich in die Kammer stürze , wo die Erinnerungen meiner ersten Kindheit aufbewahrt liegen .
Ich räumte auf in der Verwirrung , um mich zu zerstreuen .
Ein Stilett fiel mir in die Hand .
Wie mag das hierhergekommen sein ?
Ich glaube , Cäsar müßte sich schämen , noch zu leben , wenn er keine Auskunft geben kann .
Seine Scherze verdecken nur eine Überzeugung , die vielleicht folgerichtig ist .
Ich habe ihm geschrieben , sie auch mir zu geben .
In Heidelberg muß ihn mein Brief treffen ; er wird sich sogleich hinsetzen , um mir , ich habe ihm die Hand aufs Herz gelegt und ihn feierlichst beschworen , seine ernsthafte Meinung über Religion und Christentum zu sagen .
Ich zittre , wenn seine Darstellung einläuft .
Das Stilett gehörte meinem Bruder , der in demselben Alter gestorben ist , in welchem ich mich jetzt befinde .
Cäsar sagte mir oft , als Kind habe er sich fortwährend damit geängstigt , daß er keines natürlichen Todes sterben würde .
Die Katastrophe des jungen Sand hätte zu seiner Zeit alle jungen Köpfe auf den Gedanken gebracht , daß sie ihnen auch einst abgeschlagen würden .
Keiner , sagte er , glaubte so würdig zu sein wie Sand , und keiner glaubte deshalb auch , auf einen milderen Tod rechnen zu dürfen als Sand .
Er gestand mir mit eisigem Grauen , daß er oft stundenlang heimlich mit entblößtem Halse gesessen und sich in die Illusion des Schafotts hineingedacht habe , daß ihm die Tränen geflossen seien aus Verzweiflung , so sterben zu müssen .
Es war immer ein wehmütiges , liebes Lächeln , das bei solchen Geständnissen auf seinen Lippen lag .
O Gott ! ich vergesse ihn nicht .
Für alles brauche ich ihn .
Er soll mir zu allem Beweise geben !
Ich lese das Buch " Rahel " , aber nur in Bruchstücken .
Viel davon auf einmal verwirrt den Kopf ; nicht deshalb , weil das Buch absolut schwer wäre , sondern relativ schwer ist es in Beziehung auf Rahel , die sich das Denken so schwer machte .
Ich glaube , daß diese Frau unter Denken verstanden hat , die Dinge immer von der verkehrten Seite anfassen oder doch von der entgegengesetzten gegenüber dem gewöhnlichen Wege .
Sie gräbt sich wie ein Maulwurf in die Ideen ein und bezeichnet dann und wann ihre Resultate durch kleine aufgeworfene Hügel , die nichts sagen , nämlich nichts Positives , die nur Wahrzeichen sind , daß hier etwas war , was wie ein Gedanke war und was so leicht wieder vergessen ist !
Wie reich ist diese Frau an Philosophie und objektiver Vergeßlichkeit !
Man hat so wenig in ihrem Buche , und doch glaubt man , wenn man es zuschlägt , alles zu haben .
Darin sehe ich recht , wie nur die Männer imstande sind , zu produzieren , auch Gedanken .
Bettina ! -
Spielerei - alte Gedanken ; nur klassische , neue Formen .
So sprechen , gehen , laufen , essen , trinken , schlafen , handeln - wie es einem gerade einfällt ?
Ich konnte es einmal ; jetzt nicht mehr .
Bettina hatte so lange freien Willen , sich ein Gesetz zu schaffen ; und nun so alt und noch immer kein Gesetz !
Ihr Buch ist ungereimte Poesie .
Ein freies Weib ist nur erträglich mit Spekulation .
Wieder wie Jakob einen Zug aus dem Rahelbrunnen getan .
Aber es ist immer nur Lea , die man erhält , niemals Rahel .
Rahel sitzt hinter den zweimal sieben Jahren und flicht ihren Freiern Körbe .
Man glaubt eine Priesterin mit Weissagung in ihr zu finden und wird doch von ihr nur angeregt oder vielmehr nur herausgerissen aus dem alten Kreise seiner Vorstellungen .
Es ist furchterregend , eine Frau die Gegenstände so dämonisch-linkisch anfassen zu sehen .
Will sie es nur anders machen als die anderen ?
Oder wurde ihr diese Originalität angeboren ?
Sie gibt nirgends nach , sie ist rastlos in ihren Bestrebungen , die verschiedenen Seiten der Wahrheit zu entdecken , und konnte nicht anders enden als entweder in einem Wahnsinn , der sich mit der Bewegung im Tretrade vergleichen läßt , oder als Anhängerin des Pietismus .
Man ist in keiner Situation übertäubter als beim Untertauchen .
Pietismus aber ist die Fähigkeit , leben zu können , selbst wenn man Wasser im Ohr hat .
Dieser ruhige , verständige Ton , in welchem ich mich oft tagelang erhalten kann , wird mir oft so unheimlich , daß ich vor mir selbst erschrecke .
Sollte es Menschen geben können , die wie Vernünftige sprechen und doch wahnsinnig sind ?
Cäsar erzählte mir einst eine Geschichte , die er wahrscheinlich wie vieles dergleichen nur seiner Einbildungskraft verdankt .
Sie paßt auf meinen Zustand .
Kann ich sie noch ?
Es war um die zwölfte Stunde , als Alfred von seinem Lager auffuhr und über das matte Flackern der Lampe erschrak , die er zu löschen vergessen hatte .
Eine Zeitlang saß er mit halbaufgerichtetem Körper - - Wörtlich seine Worte wiederzugeben ist schwer .
Ich suche in meinen Papieren , vielleicht finde ich die Geschichte , die er mir einst , von seiner eigenen Hand geschrieben , schenkte .
Hier ist sie :
Es war um die zwölfte Stunde , als Alfred von seinem Lager auffuhr .
Noch flackerte die Lampe , welche er zu löschen vergessen hatte , und zog , wie sie größer oder schwächer wurde , wolkige Kreise an den Wänden seines Zimmers .
Eine Zeitlang saß er mit halbaufgerichtetem Körper im Bette und verfolgte dies gespenstische Spiel an den stummen Wänden .
Er suchte nach einem Gegenstand für dies Bild : er mußte an die Welt denken , welche draußen schlummerte , und dachte zuerst an Julien .
" Meine Julie ! " sprach er still vor sich hin und erhob sich dann etwas feierlich und mechanisch von seinem Bette .
Er hörte die Uhr picken , die auf dem Tische vor dem Spiegel stand .
Er sah sich selbst im Spiegel mit bleichen , geisterhaften Zügen und mit Augen , welche wie geschlossen schienen .
Dann saß er auf dem Sessel vorm Bett und hatte sich , ohne es zu wollen , angekleidet .
" Ich werde vor Juliens Fenster gehen und den Vorhang wegheben ! " flüsterte er vor sich hin , aber nur wie zum Scherz , denn Julie wohnte im dritten Stock .
Doch ging er .
Die Straßen waren still und öde .
Man sieht auf ihnen niemand , auch Alfreden nicht .
Wo geht er nur ?
Aber es ist dunkel , der Mond liegt hinter Wolken , man kann Alfred nicht sehen .
Alfred stand vor dem Hause Juliens , ja , er hätte schwören mögen , daß er vor ihrem Fenster stand , das im dritten Stocke lag .
" Es ist nicht möglich " , flüsterten seine Gedanken ; " sie wohnt im dritten Stock ; obschon ein kleines Vordach vor dem Fenster liegt , das Moos und Hauslauf anzusetzen pflegt .
Die arme Julie !
Ich werde fleißiger sein , sie muß künftig im zweiten Stock wohnen ! "
Jetzt war es Alfred , als drückte er an dem Fenster ; aber es widerstand .
Es war ihm , als klopfte er ; aber hinter dem weißen Rouleau brach sich der Schall .
Er mußte lächeln über seine lebhafte Einbildungskraft .
" Wie ! " dachte er , " wenn du ins Haus trittst , die zwei Stiegen hinaufschleichst und an ihre Kammertür pochtest . "
Aber dann mußte er durch des Nachbars Haus , das ihm offenzustehen schien , mußte über den Garten-und Hofzaun klettern und von dort einzudringen suchen .
Und das alles gelang vortrefflich .
Er stand jetzt gleichsam höher als Juliens Wohnung war , was er sich nicht erklären konnte .
Da blendete ihn ein Lichtstrahl ; ein schnurrender Laut ließ sich hören .
Julie hatte das Rouleau aufgezogen , sie stand im Nachthäubchen und mit bloßen Schultern am Fenster , das sie öffnete .
Alfred war nun dicht vor ihr .
" Was ist ihr nur ? " dachte er ; " sie erschrickt , sie öffnet den Mund , als wollte sie um Hilfe rufen ; was zitterst du , mich zu erkennen , Julie ? "
" Alfred ! " schrie es durch die stille Nachtluft .
Alfred aber lag unten mit zerschmettertem Körper auf dem Pflaster der Straße .
Alfred war ein Nachtwandler .
Julie glaubte nichts gesehen zu haben , als Alfred tot war .
Sie legte sich wieder in ihr weißes , weiches Bett und träumte von ihm .
Am Morgen erfuhr sie alles .
Sie lebt noch , aber kümmerlich ; die Tränen zehren sie auf .
Cäsar hat noch immer nicht geschrieben ; doch wird sein Brief desto ausführlicher sein .
Einstweilen habe ich etwas Beruhigung erhalten durch eine Maxime , die empfehlenswert ist .
Das luftige Traumbild des Somnambulismus hat mich gestern darauf gebracht .
Nämlich , man nehme einen recht hohen Standpunkt , einen kosmischen oder planetarischen , wie ich ihn nennen möchte .
Man tue und lasse nichts , ohne sich im Zusammenhäng der Weltordnung zu fühlen .
Ich denke , wo ich gehe und stehe , an die Beziehungen der übrigen Himmelskörper zur Erde und abstrahiere von allem , was über diesem kleinen Erdball geschieht , auf das Universum , das niemand leugnen kann .
Und nicht bloß im allgemeinen , sondern ganz im Detail , wie man ißt und schläft .
Bei jedem Spaziergange richte ich den Blick gen Himmel und forsche in dem blauen Meere nach den versunkenen Sternen , die die Nacht erst sichtbar macht .
Ich fühle , wie die Erde unter meinen Füßen kreist und ich gleichsam nur auf ihr stationiert bin , sonst aber dem Allgemeinen angehöre .
Wie vielen Stolz das gibt !
Ich habe jetzt einen Begriff von der Ruhe des Weisen .
Ihn kann nichts erschüttern , denn er hört die Planeten rauschen und fühlt sich als Glied einer großen Wesenkette .
Oh , vielleicht ist noch Hilfe für mich !
Ich fange an , mir die Möglichkeit einer zufriedenen Stimmung zu denken .
Jetzt weiß ich , wie in Indien die Bonzen ihre Büßungen möglich machen .
Die Abstraktion hebt ihren Stolz ; aber sie würden es nicht aushalten können , wenn nicht die Erde für sie gleichsam verschwände und sie nichts übrigbehielten als den gestirnten Himmel und das Gefühl der großen Wesenkette .
Ich müßte in die Einsamkeit ziehen .
Wenn mich nur eines nicht verfolgte !
Nämlich die Natur und das Grün .
Das Siderische und Tellurische im Menschen bekämpfen sich , und wer poetische Stimmungen hat , wird immer der Erde unterliegen .
Das Meer , Gebirge und Ströme wirken noch immer siderisch auf uns ; denn sie sind das Rückgrat und die großen Zellgewebe der Erde und veranschaulichen die Kugel .
Aber das Peinigende ist die stille Nachbarschaft der Blume , die Bescheidenheit der Idylle , die kleine Existenz mit ihren Kornährenkränzen und Abendglocken und alles , was so nahe zu unserem Herzen spricht , die Offenbarung Gottes , die wir flüstern zu hören glauben , diese große Tatsache , die entweder Täuschung oder Wahrheit und in beiden Fällen unenthüllbar ist .
Das Irdische faßt uns wie im Strudel und reißt uns hinunter in den bodenlosen Abgrund , von wo keine Wiederkunft .
Ich las nun alles , was ich schrieb , und zittre , daß ich kaum geschrieben habe , was ich wollte .
Eines ist auch ganz unmöglich , geschrieben zu werden : die Verzweiflung und das Gräßliche .
Nämlich jene grausamen , blutsaugenden Träume , die mich wachendes Auges überfallen und mich hinausstoßen in eine hohnlachende , von gräßlichen , unnennbaren Dingen drapierte Welt .
Wie kombinier ich !
Was für Dinge kommen mir vor die Augen !
Ich zittre , während mein Puls ganz richtig und medizinisch schlägt .
Muß ich sterben , was verbrach ich , daß mir Raben erscheinen müssen ?
Ich sehe eine schwarze Halle und einen weiten Sarg .
Ein Rumpf fällt von der Decke , wo eine Öffnung , hinunter in den Sarg , und den nachstürzenden Kopf greift unser Arzt auf .
Oben muß das Schafott sein .
Der Mann drückt das blutige Haupt stürmisch auf den rauchenden Körper , paßt Fuge auf Fuge , Ader auf Ader und legt einen Silberreifen um die gierig zusammenklaffenden Fleischränder beider Teile .
Er dreht sich um , und Leben , galvanisches Leben regt sich in dem Körper , und der Leichnam erhebt sich , ein blasser , schöner Jüngling , und schleicht zur Pforte hinaus .
Dort , dort - eine grüne Flur - ein Mädchen , das Rosen bricht und im Schatten der Allee ausruht .
Ein bleiches , gespenstisches Bild schleicht zu ihr heran , spricht nicht , sondern lächelt .
Sie umarmt ihn , sie scherzt , sie lacht ; er hat auf sich warten lassen , er sei untreu , er gehe zu Doris , er gehe zu Galathee , du Lieber !
Und sie küßt seinen blassen Mund .
- " Oh " , röchelt er , " drücke nicht ! "
Doch sie hört nicht , sie drückt , der Reifen springt - Herr Jesus , was geht mit mir vor ! -
Hier brach Wallys Tagebuch auf längere Zeit ab .
Sie bekam inzwischen das ihr von Cäsar versprochene Glaubensbekenntnis .
Es war in das Tagebuch eingeheftet und lautete folgendermaßen .
Geständnisse über Religion und Christentum Geständnisse über Religion und Christentum Ich will über den Glauben der Völker sprechen .
Aus dem melancholischen Schweigen des Heidelberger Schlosses hole ich mir abendlich die Geheimnisse jener frommen Naturreligion , für die ich glühe .
Alles Historische aber , was ich zu fixieren habe , knüpfe ich an jene kleine Herberge jenseits des Neckar an , wo Luther auf der Reise nach Worms sein Frühstück zu berichtigen vergessen haben soll , ein Frühstück , das der Protestantismus dem Katholizismus so teuer hat bezahlen müssen .
Religion ist Verzweiflung am Weltzweck .
Wüßte die Menschheit , wohin ihre Leiden und Freuden tendieren , wüßte sie ein sichtbares Ziel ihrer Anstrengungen , einen Erklärungsgrund für dies wirre Durcheinander der Interessen , für die Tapezierung des Firmaments , für die wechselnde Natur , für Frost , Hitze , Regen , Hagel , Blitz und Donner , sie würde an keinen Gott glauben .
In progressiver Entwicklung folgt hieraus dreierlei : der natürliche Ursprung der Religion , die Akkommodation der göttlichen Begriffe an den jedesmaligen Bildungsgrad und zuletzt die Unmöglichkeit historischer Religionen bei steigender Aufklärung .
Dem Begriffe Offenbarung läßt sich vielleicht eine philosophische Unterlage geben , pantheistischer Art ; aber im herkömmlichen theologischen Sinne ist die Offenbarung eine Verfälschung der Natur und der Geschichte .
Eine saubere Insinuation , sich Gott als Priester zu denken , der im schwarzen Talare zu dem ersten Menschenpaar hinzugetreten wäre und ihm Unterricht gegeben hätte in glaublichen und unglaublichen Dingen !
Sie machen aus Gott einen Souverän , einen Patriarchen , einen Geistlichen .
Sie lassen Gott in sehr unvollkommenen Sprachen reden , zu Zeiten , wo es an stilistischer Vollkommenheit noch überall fehlte .
Niemand war in diesen anthropomorphistischen Konsequenzen einer supernaturellen Offenbarung kecker als die Apostel Jesu ; denn : alle Schrift von Gott eingegeben heißt : in der Lehre von der Inspiration Gott zum Mitschuldigen aller der Solözismen und inkorrekten Konstruktionen machen , welche sich im griechischen Texte des Neuen Testamentes finden .
Gewisse Kapitel gibt es in den dogmatischen Systemen unserer Theologen , die sich besser für Grimms " Kindermärchen " oder " Tausend und eine Nacht " schicken würden .
Dazu gehören die Kriminalesche strafbaren Dogmen von der Offenbarung und Inspiration .
Je naiver die Völker sind , desto sinnlicher und äußerlicher ihre Begriffe vom Weltzwecke : je gebildeter jene , desto geheimnisreicher diese .
Die Verwechselung endlicher und unendlicher Ursachen der Weltregierung lag nahe , und so kam es , daß das Altertum so viel Historisches in Mystisches , Mystisches wieder in Himmlisches verwandelte .
Der Naturmensch versteht die Welt nur so weit , wie sein Auge reicht .
Alles , was über den Sehkreis seiner sinnlichen Vorstellungen hinausliegt , scheint ihm die erklärende Veranlassung der Unerklärlichkeiten zu sein , die ihn in nächster Nähe umgeben .
Daher die zahllosen Details im Glauben der alten Völker : daher die Übertreibungen der Phantasie , das Ungeheure in Zahlen und Formbildungen .
Die alten Religionen sind so ausschweifend wie alles , was man , ich sage nicht , nicht kennt , sondern wie alles , das man noch nicht gesehen hat .
In diesen Unförmlichkeiten Entstellungen alter Überlieferungen zu finden , einfache , aber tiefsinnige Keime einer urweltlichen Offenbarung oder auch nur eines heiligen , frommen und simpeln Zeitalters : das heißt , von einer kindischen Ansicht , die wir schon erwähnten , nur eine ernsthafte Anwendung machen .
Das klassische Altertum hatte den schönsten Ausdruck für das religiöse Prinzip der alten Welt : Religion ist alles , was man entweder selbst nicht ist oder nicht kennt .
Die Griechen , mit ihren östlichen Ahnen und deren architektonischen Vorstudien der vollendeten heidnischen Idee , die Griechen setzten die Religion in die Kunst , sie setzten sie in das , was im Ungewissen immer das Gewisse ist , in das Maß aller Dinge , in den Menschen .
Man konnte eine einseitige Idee nicht schöner ausdrücken und konnte doch zu gleicher Zeit nicht tiefer sinken .
Wenn die Menschheit nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen ist , so war sie jetzt da wieder angekommen , von wo sie ausging .
Wir werden uns , solange die Erde kreist , in Zirkeln bewegen .
Hier war ein Zirkel , dessen Anfang sich in sein Ende zurückbog .
Wäre das Heidentum ohne Kultus gewesen , warum hätte die Menschheit nicht an ihm Genüge finden sollen ?
Aber die Priester der Religionen pflegen immer diejenigen zu sein , welche ihre Religionen selbst untergraben .
Könnten sich die Religionen von Gebräuchen , Äußerlichkeiten , von der Zudringlichkeit ihrer berufenen und verordneten Diener frei erhalten , so würden sie eine längere Dauer in Anspruch nehmen dürfen .
Das Heidentum war Poesie und bildende Kunst , war Veredlung der Sinnlichkeit , war Gestaltung der rohen Materie ; Julian , der Apostat , fühlte es wohl , daß die Götter Griechenlands einen Mann von Geschmack befriedigen konnten .
Das Heidentum war tolerant .
Es war die friedfertigste Religion von der Welt , solange sie nicht nötig hatte , um ihre Existenz zu kämpfen .
Das Heidentum wurde blutig , verfolgungssüchtig , ich möchte sagen , christlich erst da , als ein sonderbarer Aberglauben zur Aufwiegelung der Völker gepredigt wurde , als sich gleisnerische Frömmler in die Gemächer der Fürstinnen schlichen und eine Gottesherrschaft , eine Religion , die nicht Friede , sondern das Schwert brachte , eine politische Revolution zu verbreiten suchten .
Der Ursprung dieses Ereignisses kam aber auf folgendes zurück .
In Judäa , einem sehr barocken Lande , trat ein junger Mann namens Jesus auf , der durch eine bedenkliche Verwirrung seiner Ideen auf den Glauben kam , er sei schon seinen Vorfahren als Befreier der Nation , der er Angehörte , verkündigt worden .
Jesus war aus Nazareth gebürtig , unehelichen Ursprungs , Stiefsohn eines braven Zimmermanns namens Joseph .
Jesus beschäftigte sich viel mit den Schriften der jüdischen Literatur , reiste , unterrichtete sich und strebte mit edler Selbstüberwindung nach einer stoischen Sittenreinheit .
Jesus fühlte , daß eine Mission an sein Herz pochte .
Es war ihm , als müßte er einen Auftrag erfüllen , über den er Zeit seines Lebens nicht im klaren war .
Er adoptierte den Glauben an einen verheißenen König , der seine eitle Nation zur Herrscherin der Welt machen würde :
er erschrak aber selbst vor dieser übermütigen Verheißung , welche einer wahren Idee Gottes gänzlich unwürdig war .
Jesus wußte selbst da noch nicht , wohinaus , als er die ersten unbesonnenen Schritte getan , als er seinen Freund Johannes auf Kundschaft und Prüfung der Menge vorausgesandt hatte ; er wurde Rabbi , ein erlaubter Volkslehrer , er nahm Schüler zu sich , er predigte Buße und gottseligen Wandel , predigte das reine , das Urjudentum des Moses , er nannte sich Messias und stritt nirgends gegen die falsche Auslegung seiner Absicht , nirgends gegen die Begriffe , welche man in Judäa mit dem Messias verband .
Nicht einmal des römischen Joches erwähnte Jesus ; er scheint gefühlt zu haben , daß der Messias nur eine theologische Bedeutung haben könne , und richtete doch seine Invektiven gegen die politische Verfassung in Jerusalem , gegen den hohen Rat und gegen Priester , die er einer zu ihrem Frommen falschen Auslegung der alten Bücher bezichtigte .
Inzwischen mehrte sich die Unruhe , Jesus zog mit Tausenden durch das Land , hielt einen gewaltsamen Einzug in Jerusalem , vergriff sich tätlich an dem Tempel , dem Nationalheiligtume der Juden , und fiel als ein Opfer seiner falschen Berechnung und innerlichen Unklarheit .
Er hatte dem trägen Volke Energie zugetraut :
es verließ ihn wie Thomas Müntzer , als er keine Wunder tun konnte , wie zahllose Revolutionäre alter und neuer Zeit , da sie die Hilfe nicht brachten , die sie versprachen .
Jesus wurde gekreuzigt .
" Mein Gott , warum hast du mich verlassen ? " rief er und starb .
Jesus war nicht der größte , aber der edelste Mensch , dessen Namen die Geschichte aufbewahrt hat .
Dies ist der historische Kern eines Ereignisses , aus welchem spätere Zeiten ein episches Gedicht machten mit Wundern und einer ganz fabelhaften Göttermaschinerie .
Eine kleine Anekdote wurde welthistorisch .
Die französische Revolution hinterließ eine Menge von politischen Wahrheiten , welche im Ansehen geblieben sind , selbst wenn jene weniger glücklich vonstatten gegangen wäre .
So kam es auch , daß die verunglückte Revolution des Schwärmers Jesu etwas zurückließ , was zuletzt eine Religion wurde .
Sollte hier zum ersten Male ein kleines , Zufälliges Faktum den Anstoß zu einer großen Bewegung gegeben haben ?
Nein , die Folgen jener Historie mögen so umfassend gewesen sein , wie sie es waren , so kann davon nichts auf die Naivetät der Historie selbst zurückfallen .
Jesus war in Rücksicht auf den jüdischen Messiasglauben nicht der rechte Messias , sondern ein falscher , so gut wie Theudas , Judas Galiläus und Bar Kochba .
In Rücksicht auf die Weltgeschichte war er desgleichen nicht mehr ; nur daß seine Anhänger zufällig von der Zeit , von dem unsinnigen Heidenritus , von der Sucht des Geheimnisses profitierten .
Das Ereignis , das allen den folgenden Begebenheiten und Revolutionen zum Grunde lag , steht an und für sich betrachtet auf keiner höheren Stufe als die Lebensumstände des Pythagoras , Zoroaster oder Sokrates .
Jesus war Jude .
Er dachte nicht daran , eine neue Religion zu stiften .
Es war bei ihm weder von einer Aufhebung noch von einer Erläuterung des Judentums die Rede .
Er sagte selbst , daß er nicht gekommen sei , das Gesetz aufzulösen , sondern zu erfüllen ; ein Ausdruck , der freilich im griechischen Texte mehr sagt als das bloße : Befolgen , aber nicht über den Begriff eines vollkommenen , in allen seinen Bezügen verstandenen Judentums hinausgeht .
Da war auch nicht eine einzige neue Lehre , welche Jesus brachte .
Enthüllte er tiefer die Geheimnisse Gottes ?
Nein , er kennt nur jenen pädagogischen Gott des Judentums .
Waren seine Andeutungen über die Unsterblichkeit neu ?
Sie waren es , der dunklen und zweifelhaften Lehre des Alten Testaments gegenüber : aber seit dreihundert Jahren glaubten die Juden an die Fortdauer nach dem Tode aus eigenem Antriebe : die Pharisäer hatten daraus das Feldgeschrei ihrer Parteimeinung gemacht .
Was blieb demnach im Munde Jesu übrig ?
Eine Moral , welche allerdings veredelnde Kraft hat , aber nie mehr gibt und geben will als das lautere Judentum .
Die Moral Jesu hält sich immer dicht bei den Gebräuchen des Zeremoniellgesetzes und ist nur darin charakteristisch , daß sie für den äußeren Ritus innerlich entsprechende Gesinnungen forderte .
Jesus lehrte :
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst !
So lehrte schon Moses ; aber der Stifter einer neuen Religion mußte sagen :
Liebe deinen Nächsten mehr als dich selbst !
Daraus schließt man , daß Jesus eine Person war , die einzig und allein der Geschichte , keineswegs aber der Religion oder Philosophie Angehörte .
Törichter Glaube , das Neue Testament für die Grundlage einer Religion anzusehen , für ein Buch , das geschrieben worden wäre , um symbolischen Wert zu haben !
Der Kanon ist nichts als die erste Erscheinung des Christentums .
Das Christentum selbst liegt darüber hinaus :
das heißt , vage Begriffe über ein gescheitertes historisches Ereignis wurden von Männern herumgetragen , die dabei beteiligt gewesen waren .
Die Apostel hatten die Fähigkeit nicht gehabt , eine Begebenheit zu verstehen , welche mit sich selbst in Widersprüchen lag ; sie konnten sich nur der Wirksamkeit nicht entschlagen , welche eine so bedeutende Persönlichkeit wie die ihres Lehrers auf sie ausübte :
sie glaubten seinen dreisten Behauptungen , daß er der Messias wäre , und fanden bei der Verbreitung dieser Ansicht darin eine Unterstützung , daß Jesus seine baldige Wiederkunft versprochen hatte .
So entspann sich ein romantisches Truggewebe von Wundern , subjektiven , die Jesus verrichtet habe , objektiven , die an ihm selbst geschehen wären .
Die Apostel übersahen , wie sehr die Mehrzahl dieser Wunder , welche eher auf einen Eskamoteur als auf einen Propheten schließen lassen ( ich erinnere nur an die Fabel von dem Stater im Leibe eines Fisches ) , das göttliche Gepräge ihrer Erzählungen verwischte .
Ja , sie wußten nicht einmal , wieviel sie moralisch wagten , alle ihre Behauptungen wechselseitig ohne Prüfung anzunehmen .
Denn das Altertum war überall auf das Außerordentliche hin gerichtet und konnte sich keine große Begebenheit ohne Abweichungen von dem natürlichen Laufe der Dinge erklären .
Auffallend bleibt es indessen , daß die Apostel selbst im Neuen Testamente so wenig scharf und präzis als Verbreiter der Lehre Jesu auftraten , daß erst andere meist ein Amt übernahmen , was ihnen vor allen zukam .
Hätten sie wirklich den Leichnam Jesu gestohlen ?
Dann klänge dies Stillschweigen fast wie böses Gewissen .
Hierüber mag ich nichts entscheiden :
nur dies scheint fest , daß die Apostel Menschen von borniertem Verstande waren , daß sie überhaupt viel Ähnlichkeit mit unseren Theologen hatten und daß es zuletzt nicht ohne typische Vorbedeutung war , wenn neben der Krippe Jesu gleich ein Ochs und ein Esel standen .
Diejenigen unter den Anhängern Jesu , welche , ich sage nicht , logische Schlüsse machen , doch wenigstens begreifen konnten , wie z.B. der von den Theologen gern zu einem tiefsinnigen Philosophen gestempelte Paulus , befolgten in der Stiftung einer neuen Sekte den dreisten Gang , daß sie in Jesu nur die Neuerung anerkannten .
Sie rissen seine Erscheinung als etwas Isoliertes vom Gesetze los .
Sie machten aus polizeilichen Differenzen ihres Lehrers mit der Synagoge absichtliche , dogmatische , religionsstiftende .
Eine übermütige Exegese , welche die Stellen des Alten Testamentes in einem sträflich verkehrten Sinne auf Jesus bezog , mußte ihre Absichten unterstützen .
Jesus wurde ein Wundertäter , und er machte als solcher unter den Heiden ein Glück , das Apollonius von Tyana auch gehabt hätte , wäre ihm der Jude Jesus nicht in der Zeit zuvorgekommen .
Die geringe Philosophie , die hinzukam , alle diese Märchen zu erklären und in einen dogmatischen Zusammenhalt zu bringen , waren die Unterscheidungen zwischen physischer und psychischer Natur , zwischen Fleisch und Geist , zwischen dem Gesetz und der Freiheit .
Wahrlich , eine Religion mußte diese Einfachheit haben , um so um sich zu greifen , wie es das Christentum tat !
Das Christentum ist eine Religion der Persönlichkeit .
Moses war doch nur der Sendling Gottes , Muhamed Allahs Prophet , sie ließen sich keine göttliche Ehre erweisen !
Sehet hier eine Religion , deren unwillkürlicher Stifter von einigen verworrenen Köpfen mit Gott selbst verwechselt wurde , eine Religion , die nichts für ihren Gegenstand und alles für ihren ersten Priester tut !
Jede allgemeine , jede Weltreligion muß unabhängig von irgendeinem Namen sein , und im Christentum ist man heute noch nicht einig , welche Ehre Gott , welche Jesu gebührt .
Welch ein Glaube !
Wir sind nicht ohne Poesie , wir schwärmen gern , weil wir in jedem Hauche der Natur einen Kuß der Gottheit wähnen , und würden recht unglücklich sein , wenn wir nicht zuweilen auf unseren herben Lebenswein ein Rosenblatt der Illusion legen dürften , ein Rosenblatt , das uns in den Mund kommt und zu trinken hindert und das wir doch nicht missen möchten .
Aber hier überschreitet eine Zumutung die Linie des Erträglichen .
Das Christentum wurzele nicht in Jesu Lehre , sondern in seinem Leben : nicht die Liebe sei es , sagen sie , die er im Abendmahle eingesetzt habe , sondern sein Fleisch und Blut , seine eigene Persönlichkeit , die nun immerdar solle gegessen und getrunken werden .
Auf die individuellen Begegnungen eines unglücklichen Menschen wird eine Religion gebaut , eine Dogmatik , die sich nicht um die Worte seines Mundes kümmert , sondern seine Fußtapfen als Paragraphenzeichen nimmt , seine Nägelmale als Kapiteleinschnitte : kurz , das Christentum ist eine Religion , die auf eines Menschen körperlichen Verrichtungen und Leiden gegründet ist , eine Religion , die das objektive Evangelium eines Menschen Predigt .
Armer Rabbi von Nazareth !
Stadt daß sie weinen sollten über dein wehmütiges Schicksal , freuen sie sich deines Todes und haben ihn lachendes Mutes im Munde !
Die Kreuzigung Jesu wird gar nicht mehr historisch nachempfunden ; sondern da alles in des unglücklichen Mannes Leben typisch und als Notwendigkeit gedeutet wird , so geht die Teilnahme und das Mitleiden gleichgültig an dem Schmerze vorüber und sieht am Karfreitage immer nur Ostern , bei einem Sterbenden eine grausame Hand , die ihm das Kissen unterm Kopfe wegzieht , damit er schneller sterbe , damit er schneller auferstünde !
Das Kruzifix ist eine Zierat geworden , die man im Ohr hängen hat .
Die große , imponierende Gewalt des Christentums liegt in seiner welthistorischen Ausdehnung .
Nicht , daß ich dieser Lehre die Umgestaltung Europas zuschriebe , nicht , daß ich so ungerecht gegen Gott wäre und behauptete , er habe ohne die verworrenen Ideen einiger palästinensischer Fischer und Teppichfabrikanten die Welt nicht auf diesen Gipfel der Kultur bringen können : nein , schon dadurch wird die christliche Idee geschwächt , daß sich die germanischen Völker für sie interessierten und ihre eigene welthistorische Prädestination in jene Lehre legten und das Christuskind als Christoffel durch das Weltmeer trugen .
Das einzige , was mich an das Christentum kettet , ist ein magischer , mit Blut beschriebener Kreis ; jene schreckhaften Verfolgungen , denen der neue Glaube ausgesetzt war , jene Hekatomben , die das Christentum dem Heidentum opfern mußte , die Männer , Weiber , Kinder , die zu Tausenden hingemordet wurden - ah , das preßt an die Kammern des Gehirns : die Fibern des Nachdenkens ziehen sich zitternd in ihren Versteck :
das brennt und schmerzt , wenn man Sinn für Historie , Sinn für die Leiden der Menschheit hat .
Nur jener Blutströme wegen bin ich gewissermaßen Christ , weil meine Religion die des Schmerzes und mein Kultus der Mut ist .
Ich würde nicht raten , eher ein neues Bekenntnis abzulegen , ehe man nicht im Begriffe und in der Lage ist , dafür dasselbe auszustehen , was das alte Bekenntnis gekostet hat .
Bis hierher konnte noch von einem Christentum die Rede sein .
Als der Begriff Kirche erfunden war , als Konzilien und Würdenträger eingesetzt wurden , da hatte sich die Lehre Jesu in eine neue Art von Heidentum verwandelt , in Mythologie auf der einen , Aristotelismus auf der anderen Seite .
Zwischen beiden wucherte die Mystik , keine ursprünglich christliche Pflanze , sondern arabisch-jüdisch-kabbalistisches Gewächs , das in der Philosophie als Platonismus wieder zum Vorschein kam .
Das Christentum , insofern es von Priestern und Mönchen repräsentiert wurde , war auch nicht einmal eine Religion mehr , sondern nur noch Vorwand einer politischen Tendenz des Zeitalters .
Die Hierarchie umgürtete sich mit dem Schwerte und fluchte wie ein Landsknecht .
Das Christentum war nun doch ein Reich von dieser Welt geworden .
Der tote Rabbi Jesus drehte sich im Grab um :
er hatte sich gerächt .
Wann gab es eine Religion , die in tausend Jahren mit so disparaten Anomalien sich äußeren konnte ?
Der Islam ist zwölfhundert Jahre alt , und noch weht die grünseidene Fahne des Propheten wie damals , als er aus der Wüste zog .
Man hatte Jesus zum Stifter einer Religion machen wollen .
Jesus hatte sich gerächt .
Die falsche Auslegung seiner Mission war gescheitert .
Luther versuchte noch einmal , das lecke Schiff einer imaginären Möglichkeit zusammenzufügen .
Ein Bergmannssohn aus Thüringen stieg in das Bergwerk des Christentums hinab , durchhämmerte die oberen Flözschichten der Tradition und holte aus den tieferen Erzgängen hervor , was er für reines , silbernes und goldenes Christentum hielt .
Es war eine kühne Neuerung , die sich aus dem Wittenberger Flachlande , aus der Gegend von Kroppstädt und Treuenbrietzen , die ganz so aussieht wie der gesunde Menschenverstand , entwickelte .
Tausende sagten sich von dem römischen Heidentum los , das mit der Seelen Seligkeit einen Aktienhandel durch ganz Europa etabliert hatte .
Die Wittenberger Reformation war ein großer Fortschritt der Menschheit , wenn es groß ist , wie Herr Tholuck getan haben soll , in Rom von den antiken Götterstatuen zu sagen :
Es sind schöne Götzen !
Darum handelte es sich : die Menschheit von einem religiösen Mechanismus zu befreien , zu gleicher Zeit aber auch auf dreihundert Jahre die Kunst , die Literatur , die Schön heit aller vergangenen Zeiten und die Schönheit der Ewigkeit zu derogieren .
Das ist kein Unglück , wenn es von einem großen Glücke ersetzt worden wäre .
Für das Christentum geschah in der Reformation alles , für die Wahrheit und den gesunden Menschenverstand und die Naturreligion aber nichts .
An zwei Begriffen siechte gleich anfangs die Reformation : an einem , den sie nicht abschaffte , an der Kirche ; und an einem , den sie neu erfand , am Evangelium .
Biblisches Christentum !
Was heißt das ?
Ein Christentum erfinden , das sich gründete auf falscher Exegese , schlechten kritischen Hilfsmitteln , auf Interpolationen und frommen Betrügereien , auf einer ungestörten und sorglosen Verbindung des Alten und Neuen Testamentes , endlich aber auf jener heillosen Verwechselung zwischen dem Kanon als einer Richtschnur des Christentums , statt daß der Kanon , wie wir zeigten , nur erste Erscheinung , die ganz prekäre und subjektiv überall beanstandete Erscheinung des Christentums war .
Der Protestantismus bekam seine symbolischen Bücher , welche die Lehrer beschwören mußten , seine Katechismen , den großen und den kleinen , nach welchen die Unmündigen an einen Glauben geschmiedet wurden , dem sie schon als Säuglinge durch die Taufe willenlos sich hingeben mußten .
Was muß ich glauben ?
Ich muß glauben , daß Gott die Welt erschaffen hat - als wenn ein Gott , der sich in so endlichen Werken , wie die Erde ist , ausspricht , ein Gott , der zugibt , daß etwas außer ihm ist , ohne er selbst zu sein , als wenn ein Gott , der Raum und Zeit erschaffen hat , um aus Laune irgendeinen kleinlichen Weltzweck zu erfüllen , um durch die Dauer zu tun , was ihm ja im Nun gelingen könnte , um unglückliche , von Zweifeln zerfleischte , halb tierische , halb menschliche Menschen auf einem gewissen Erdballe , in einem gewissen Deutschland , hier in dieser ganzen Misere herumkriechen zu lassen , als wenn ein solcher Gott jemals meinem philosophischen Bewußtsein entsprechen könnte !
Aber was Philosophie ?
Wir reden nicht von Philosophie :
ich vergaß , daß wir über einige Ammenmärchen und poetische Grillen sprechen .
Ich muß glauben , daß Christus sei ein eingeborener Sohn Gottes , von einer Jungfrau geboren , niedergefahren zur Hölle und wieder auferstanden - Nein , auch dies ist nicht der Kern des Christentums .
Was soll ich glauben ?
Daß Christus ist unser Mittler , daß er im Abendmahl persönlich assistiert als Fleisch und Blut im Brot und Weine , daß er uns rechtfertigt durch die Gnade , daß die Erbsünde , an die ich als Psychologe und Menschenkenner faktisch glaube , theologisch zu erklären sei , zum großen Teile aber eine Dogmatik , welche auf jedes einzelne Glied im Körper des Rabbi Jesus gegründet ist .
Der Katholizismus war sinnlicher Götzendienst mit polytheistischer Färbung .
Der Protestantismus wurde mystischer Götzendienst mit einer Beschränkung auf einen Gott , der aber drei Hypostasen hatte .
Wittenberg und der Sand waren Schuld , daß diese Lehre immer flacher , äußerlicher und zänkischer sich ausbildete .
Aus dem Evangelium , der Bibelmanie und den symbolischen Büchern setzte sich zuletzt das knöcherne Skelett der Orthodoxie zusammen , eine Gestalt , die statt des Herzens einen ledernen Beutel , statt des Gehirns eine Anhäufung schwammartiger Stoffe zu tragen hat .
Das zweite Unglück des Protestantismus war die Beibehaltung des Begriffes der Kirche und die unterlassene Ausgleichung desselben mit dem Begriffe : Gemeine .
Hier trat früh ein Schwanken ein , das auf der einen Seite das Extrem der englischen Hochkirche und auf der anderen das quäkerische Extrem der allgemeinen Priesterschaft erzeugte .
Das Luthertum an und für sich selbst nahm früh eine servile Richtung .
Es stritt für das göttliche Recht der Fürsten ebensosehr , wie es seine eigenen Satzungen in ein legitimes , unantastbares Gewand zu kleiden suchte .
Thomas Müntzer schalt mit Recht auf Luther , den Papst von Wittenberg .
Das Territorialsystem war die Folge der Schmeichelei .
Die Kirche blieb etwas Ganzes , der Glaube wurde nicht an die stille Kammer des Herzens als seinen Tempel verwiesen , sondern die Kirche repräsentierte wie ehemals .
Die Geistlichen regieren untereinander .
Sie scheinen eine Monarchie für sich zu bilden und ducken sich außerdem unter der politischen Souveränität , so daß es noch heutiges Tages nicht entschieden ist , wie weit sich die kirchliche Autorität als Landeshoheit erstreckt , wie weit man wagen darf , Agenden zu verfassen und sie mit militärischer Gewalt , wie in den Schlesischen Dragonaden geschehen ist , in Wirksamkeit zu setzen .
Hier ist alles vag , hoffärtig , augendienerisch , despotisch und erfüllt das Herz des Biedermannes mit den schmerzlichsten Gefühlen .
Die deistische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts konnte deshalb dem Christentum keinen merklichen Abbruch tun , weil sie bald zu frivol , bald zu witzig war .
Der unsittliche Reformator macht nirgends Glück .
Der Witz ist einer so großartigen Institution wie das Christentum gänzlich unangemessen .
Die naive Einfachheit kindlicher und glaubensfreudiger Seelen pariert alle Nadelstiche Voltaires , eines Mannes , den man für einen Schneider halten möchte , so furchtsam und eitel war er .
Das Christentum fordert andere Waffen heraus , überhaupt keine Waffen , die nur für den Krieg taugen , sondern solche , welche sich an einen Stiel stecken lassen , positiv und schaffend werden und die Erde zur neuen Saat auflockern .
Das achtzehnte Jahrhundert , der mephistophelische Geist der abstrakten Verneinung hauchte mit dem ersten Seufzer aus , der auf der Revolutionsguillotine ausgestoßen wurde .
Die Negation der Revolution war schon eine schöpferische .
Die Flügel meiner Seele schlagen freudiger , weil ich die Morgenröte ( ach ! die blutige Morgenröte ) der neuen Schöpfung sich am Himmel malen sehe .
Aber noch halte mich zurück , du stürmischer Genius des Jahrhunderts ; noch einmal wurde in Deutschland der Versuch gemacht , zu einem trostreichen Resultate über die wunderbaren Begebenheiten in Palästina zu gelangen .
Die Welt seufzt in ihrer Achse ob der stürmischen Bewegung .
Wie glücklich wären wir alle , wenn wir in den Träumen unserer Jugend uns ewig wiegen dürften und uns keine Unruhe der Seele von den Spielen der Unschuld verscheuchte !
Die Kantische Philosophie schien unseren Vätern nach langem Schlafe ein wunderbares Erwachen .
Noch nie ist eine Entdeckung mit so reinem Enthusiasmus empfunden worden .
Die Kantische Philosophie war Kritizismus :
sie war ohne Geheimnisse ; aber sie schien den Schlüssel der Geheimnisse zu besitzen .
Früher wurde sie auf die Offenbarung und das Christentum angewandt : aber die Konsequenzen , welche sich hier durch sie ergaben , waren von der entgegengesetztesten Art .
Der Rationalismus hielt sich an die Unmöglichkeit , das Ding an sich zu erkennen ; der Supernaturalismus an die Vermutungen , welche hinter dem Dinge an sich liegen konnten .
Das Ding an sich war ebensosehr negativ wie mystisch positiv :
das weite Chaos der Zweifel lag in ihm ebensogut wie das Chaos der Gefühle .
Diese beiden Prinzipien über Christentum machten fünfzehn Jahre in Deutschland die Tagesordnung aus .
Es war ein Streit um den Anfang eines Zirkels .
Der Rationalismus , der von Gott behauptete , daß man vieles von seinem Wesen wisse , manches aber noch unerörtert zu lassen habe , begann mit dem Bestimmten und hörte mit dem Unbestimmten auf .
Der Supernaturalismus , der aus seinen Ahnungen ein System , aus seinen Ungewissheiten eine Dogmatik schuf , fing mit dem Unbestimmten an und hörte mit dem Gegenteile auf .
So war der Streit ohne des Endes Möglichkeit .
Niemand trat aus dem Zirkel heraus .
Sie walzten ihre Debatten herum und erschöpften sich in Konzessionen praktischer und theoretischer Art .
Mischgattungen drängten sich zwischen die Extreme : Damenprediger , welche das Christentum mit Gemälden verglichen , wo die Konturen dem Rationalismus , die Farben dem Supernaturalismus angehören müßten : Professoren der Theologie , die das Urchristentum wollten ; Generalsuperintendenten , welche die Perfektibilität des Christentums lehrten .
Andere , wie Schleiermacher , adoptierten die Dogmatik , wenn ihre Lehrsätze sich gemütlich als Seelenzustände betätigten .
Mit einem Worte , sie mochten so freidenkerisch verfahren wie immer ; so riß doch niemand den Vorhang der Lüge weg .
Auf der Kanzel gaben sie niemals jenen Glauben preis , den sie auf dem Katheder anatomisch zergliederten .
Überall trifft man auf Diakone und Konsistorialräte dieser Art , welche sich wie jesuitische Aale theoretisch winden und hin- und hersträuben , praktisch aber sich immer wieder in ihren homiletischen Schleim verstecken .
Schelling und Hegel , jener von katholischer , dieser von protestantischer Seite , stellten den letzten Versuch an , die Philosophie mit der Offenbarung in Einklang zu bringen .
Schelling übertrug allerhand Analogien des Naturprozesses auf die Geheimnislehren des Christentums :
er wußte Opfer , Menschwerdung usf. durch witzige Bilder von Seiten der Phantasie annehmlich zu machen .
Hegel stützte sich auf den Geschichtsprozeß , auf die innerlichen Ruhemomente seiner metaphysischen Logik , deren ganzes Schema allein schon den Begriff der Trinität ausdrückte .
Hegels Philosophie scheint mir auch wahrlich die einzige , die imstande ist , das Christentum zu beurteilen .
Ihr Standpunkt ist der historische .
Sie bringt einen Schematismus in die Begebenheiten , welcher den inneren und äußeren Sinnen wohltut .
Wodurch ist auch das Christentum eine so imposante Erscheinung ?
Durch seine historische Stellung .
Hegel hat die Verschiedenheit der Zeiten immer vortrefflich charakterisiert und das Eigentümliche des Christentums darin gefunden , daß sich logische und historische Begriffe daran akkommodieren lassen .
Aber mehr gelang ihm nicht .
Seine Philosophie des Christentums konnte nur da erst anfangen , als die Entwicklung der christlichen Lehre zu Ende war .
Hegels Maßstab ist überall die Vergangenheit .
Seine Erklärungen sind typischer Art , seine Philosophie ist eine Auslegung .
Schelling und Hegel stehen an der Spitze jenes christlichen Dilettantismus , der aus künstlerischen Interessen sich mit verstopftem Ohr in eine grundlose Flut versenkt .
Das Christentum selbst muß dabei seinen Kredit verlieren , wenn nur noch Dichter , Grübler , Künstler , verzweifelte und polizeilich beaufsichtigte Menschen sich für die Erklärung seiner Satzungen interessieren .
Der gesunde Teil der Menschheit wird in eine andere Strömung des stürmenden Weltgeistes gerissen werden .
Unser Zeitalter ist politisch , aber nicht gottlos .
Wie gern verbände es die Freiheit der Völker mit dem Glauben an die Ewigkeit !
Aber unchristlich ist unser Zeitalter , denn das Christentum scheint sich überall der politischen Emanzipation in den Weg zu stellen .
Daher jene merkwürdigen Erscheinungen , welche die neuere Zeit auf dem Gebiete , man weiß nicht , soll man sagen , der Politik oder der Religion hervorgebracht hat .
Überall Sektengeist , Religionsstifter , Religionen auf Aktien , Religionen auf Subskription , jede Religion , nur kein Christentum .
Man spricht von Priestern , von einer Theokratie , von Gottesdienst , nur nichts Christliches .
Es ist erstaunenswert , daß diese Dinge in Frankreich auftauchen , in einem Lande , das für Europa die Mission der Freiheit hat , in einem Lande , das in der neueren Geschichte für alle Fragen der Kultur die Initiative übernommen zu haben scheint .
Wir reden hier vom St. Simonismus und den " Worten eines Gläubigen " .
In diese beiden Bekenntnisse ist zuerst die Anerkennung der politischen Tendenz des Jahrhunderts niedergelegt .
Man hat hier die Unverschämtheit vermieden , welche die hungernden Arbeiter auf das himmlische Brot des ewigen Lebens anweist .
Die Religion der Entsagung mag für Jahre passen , wo die Ernte nicht geraten ist ; aber wo Fülle und Verschwendung rings ihre Feste feiern , da murrt die Menschheit über eine Religion , welche immerfort an das Sich-Schicken , an die Demut , an den Ratschluß Gottes appelliert .
Von dieser Seite des Christentums überhaupt , die sich dem Zeitgeiste entgegenstellt , kann nicht mehr die Rede sein .
Der Unterschied zwischen den beiden Bekenntnissen ist der , daß der St. Simonismus das Christentum antiquiert und durch einige materielle Philosopheme nebst kirchlichen , freilich dem alten Glauben entnommenen Institutionen zu ersetzen sucht , die " Worte eines Gläubigen " dagegen auf den demokratischen Ursprung des Christentums zurückgehen und unverhohlen eine republikanische Tendenz desselben aussprechen .
Der St. Simonismus will den Staat von der Kirche , die " Worte eines Gläubigen " wollen die Kirche vom Staate befreien .
Jener weist auf die Zukunft , diese auf die Vergangenheit .
Beide aber kränkeln an ähnlichen Gebrechen : der St. Simonismus an der Philosophasterei :
La Mennais am Katholizismus .
Wie soll man in der Kürze über beide Tendenzen urteilen ?
Beide sind keine Revolutionen , aber sie sind Symptome .
Der St. Simonismus verrät ein Bedürfnis der Menschheit : die " Worte eines Gläubigen " suchen es zu befriedigen , aber sie befriedigen es nur zur Hälfte .
Ich habe die Tatsachen der Vergangenheit verfolgt und breche da ab , wo alles , was nun kommen muß , nicht so von mir vorgezeichnet werden kann , sondern in die Hand der Zeitgenossen gegeben ist .
Lasst mich an einem Orte innehalten , den wir selber auszufüllen haben , bei jenen weißen Blättern der Geschichte , die hinfort von uns beschrieben werden sollen !
Ich höre draußen ein simultanes Glockengeläut : katholische und protestantische Töne .
Es ist Pfingsten , ein Fest , wo man zwar nicht mehr plötzlich wie einst in Jerusalem gut Englisch , Spanisch und Sanskrit lernt , was mir sehr lieb wäre : wo aber der Heilige Geist auf alle Welt ausgegossen wurde .
Wir leben in der Zeit des Heiligen Geistes , von dem Christus selber sagt , daß er uns in alle Wahrheit führen und freimachen würde .
So scheint es sogar jener Mann gewußt zu haben , daß die Geschichte immerdar ihre eigene Autorität bleibt , daß der Weltgeist rastlos wirkt und in uns schafft und die Wahrheit zuletzt nur der Gottesdienst im Tempel der Freiheit ist .
Wir werden keinen neuen Himmel und keine neue Erde haben ; aber die Brücke zwischen beiden , scheint es , muß von neuem gebaut werden .
Es schlug Mitternacht , als Wally das saubergeschriebene Heft durchlesen hatte .
Die Wachskerze war tief heruntergebrannt , ihre Augen glühten , sie hatte Tränen nötig , um den heißen Brand zu löschen .
Aber die Tränen kamen nicht .
Sie saß da , versteinert wie Niobe , der man das Liebste und Teuerste wegschießt .
Rings war alles grauenhaft still , nur der Uhrpendel schwang sich unterm Glase hin und her und zählte die Minuten , die den Geistern auf Erden zu wandeln vergönnt waren .
Wally lebte nur in den Worten , die sie gelesen hatte , und flüsterte sich zu :
" Ich sterbe ' auch mit ihnen . "
Dann ergriff sie mechanisch den kleinen Kerzenrest , der noch brannte , und schritt in ihr Schlafgemach , einen finsteren , dämonischen Schatten werfend .
Noch sechs Monate hielt Wally ein Leben aus , dessen Stütze weggenommen war .
Sie , die Zweiflerin , die Ungewisse , die Feindin Gottes , war sie nicht frommer als die , welche sich mit einem nicht verstandenen Glauben beruhigen ?
Sie hatte die tiefe Überzeugung in sich , daß ohne Religion das Leben des Menschen elend ist .
Sie ging nun damit um , dem ihrigen ein Ende zu machen .
Je unerschütterlicher sich dieser Gedanke bei ihr festgesetzt hatte , desto mehr suchte sie ihn äußerlich zu verbergen .
Sie zeigte sogar , je gewisser sie mit sich selbst wurde , eine heitere Unbefangenheit , die die Rückkehr ihrer früheren Laune hoffen ließ .
Sie war viel auf ihrem Zimmer allein , weinte und rang ; aber beten konnte sie nicht .
Sie warf sich wohl oft verzweifelnd auf die Knie , aber wie eine eherne Mauer stand es vor ihr , wenn sie flehend die Hand ausstreckte .
Sie schrieb noch einzelne ihren Seelenzustand verratende Aphorismen in ihr Tagebuch ; die meisten bewegten sich um den Gedanken des Todes .
An der Ursache desselben hatte sie nichts mehr , was sie in sich ändern konnte .
Eine Stelle , welche man später im Buche fand , war ganz mit Tränen durchnäßt .
Man konnte das an der geronnenen Tinte und dem zerknitterten Papiere sehen .
Sie hieß : O Jesus !
Nie warst du mir teurer als tränenvergießend im Garten von Gethsemane !
Jesus !
Du batest Gott , daß er den Kelch dieses herben Todes möchte an dir vorübergehen lassen , du , du , der die Welt verändert hat !
Und die Jünger schliefen .
Sie achteten deiner flehenden Stimme nicht , daß sie mit dir wachten , daß sie mit dir weinten auf dem Ölberge .
Ach , um mich schlafen sie alle , und niemand kennt den Schmerz , der mich verzehrt , niemand wacht mit mir , niemand betet für mich !
Es war an einem trüben und regnerischen Herbsttage .
Die Kastanien prasselten von den Bäumen .
Der Wind schlug die Regenschauer an die nassen Fenster .
Alles in der Natur schien zu Grabe zu gehen .
Wally saß einsam in ihrem Zimmer .
Eine Uhr lag neben ihr .
Neben der Uhr ein rotes Tuch , das einen unsichtbaren Gegenstand bedeckte .
Eine Stunde verrann nach der anderen .
Um die sechste dunkelte es .
Man brachte ihr Licht .
Sie winkte stumm mit der Hand , als man nach ihren Befehlen fragte .
Sie trat ans Klavier und schlug einige Akkorde an .
Es schlug sieben Uhr .
Dann setzte sie sich und schrieb einige Zeilen :
Ich muß sterben , denn hassenswert schien ich mir , wenn ich mich durch die Welt schliche und mir selbst verbergen wollte , was ich leide .
Wir erkennen Gott nicht .
Nun und nimmer mehr .
Das tragische und der Menschheit würdige Schicksal unseres Planeten wäre , daß er sich selbst anzündete und alle , die Leben atmen , sich auf den Scheiterhaufen der brennenden Erde würfen .
Alle müßten sie sich opfern - aus Haß gegen den Himmel ; opfern , wie man Rechnungen verdirbt , die ohne den Wirt gemacht werden .
Alle !
Alle !
Dann wäre das Problem gelöst , und Gott müßte eilen , sich neue Menschen , neue Sklaven zu schaffen .
Barbarischer Mord der Völker untereinander , glaubt ihr , werde das Ende der Dinge sein ?
Die wiedererwachende Roheit der Natur ?
Hyänen , die sich untereinander zerfleischen , sind euch der Zweck der Geschichte ?
Gräßlicher Gedanke !
Prophezeiung , würdig eines Henkers !
Sie werden sterben , aber sie werden alle den Dolch in ihre eigene Brust senken und eine große Kette der Freundschaft schließen , die Menschen !
Sie werden sich fassen alle an ihrer Hand und mit der Rechten den Stoß vollbringen und noch im Tode sich mit ihren Küssen bedecken .
Sie werden sterben , weil sie reif sind , weil sie das Höchste erreichten in Wissenschaft und Kunst , weil sie alle ineinandergerechnet der Gottheit gleichkommen .
Aber die Gottheit sitzt hinter einem Vorhange und verbirgt nach wie vor ihr sprödes Antlitz und zögert , zu kommen und sich zu enthüllen .
Was haben wir ihr getan ?
Es schlug acht Uhr .
Sie war in eine Aufregung gekommen , welche für ihren Entschluß nicht paßte .
Was ist Sturm , Ungewitter , Herbst , was selbst der Schmerz der Seele und des Herzens , wenn der Geist seine Gedanken aufrüttelt und die Denkkraft ihre Fühlfäden ausschießt ?
Das Denken erhält den Mut , den man am Wissen verliert .
Wally war so nahe daran , ihre Verirrung zu fühlen .
Aber sie war ein weibliches Herz , das nicht so leicht vergißt , was es einmal wollte , und in sich selbst kein großes Register von Entschließungen hat , wo sie wählen könnte .
Sie fiel in den alten Schmerz zurück .
Um neun Uhr griff sie noch einmal nach der Feder und schrieb : Lebet wohl !
Alle !
Alle !
Armselig war mein Leben ; wie klein , wie nichtig alle die Beziehungen meiner Jugend !
Und das war wohl des Todes wert ; denn ich bin nichts , nur Staub , nur Vernichtung .
Mein Leben ist unnütz .
Grüßet sie alle , grüßet den Frühling des kommenden Jahres , wo ich tot sein werde und keines Vogels Ruf mich wieder wecken wird .
Ich danke euch allen , die mich liebten , und Dir , Dir , Cäsar ; allen !
Allen !
Sie mußte noch viel geweint haben .
Auch diese Zeilen waren verronnen in nasse Punkte .
Sie mußte dann den Stoß vollbracht haben mit jenem Dolche , der ihrem toten Bruder gehörte .
Man fand sie auf dem Bette ausgestreckt .
Das Licht stand zu ihren Häupten .
Sie hatte mit beiden Händen den in das rote Tuch gewickelten und darin auch von ihr während des Stoßes gelassenen Dolch in ihr Herz gedrückt und lag da , nicht lächelnd und ruhig , wie wohl in anderen Fällen hier getroffen ist , sondern mit krampfhafter Verzerrung ihres schönen Antlitzes und einem Ausdrucke der Verzweiflung in den starren Augen , der erschrecken machte .
Sie wurde mit Gepränge bestattet .
Die , welche am Grabe standen , beweinten nicht sie selbst , sondern nur ihre Jugend .
Wahrheit und Wirklichkeit Wahrheit und Wirklichkeit Man kann den Zufall verdammen , man kann selbst überzeugt sein , daß in allem , was geschieht , eine konsequente Offenbarung der Gottesidee liegt ; und doch würde niemand zu behaupten wagen , daß alles , was geschieht , alles , was wir als geschehen beobachten können , etwas anderes sei als die zufälligen Äußerlichkeiten jener offenbarten Gottesidee .
Ich glaube , daß alles gut ist , was geschieht ; glaube aber nicht , daß eben nur das geschehen kann , was geschieht .
Unendlich ist das Reich der Möglichkeit , jenes Schattenreich , das hinter den am Lichte der Begebenheiten sichtbaren Erscheinungen liegt .
Es gibt eine Welt , die , wenn sie auch nur in unseren Träumen lebte , sich ebenso zusammensetzen könnte zur Wirklichkeit wie die Wirklichkeit selbst , eine Welt , die wir durch Phantasie und Vertrauen zu kombinieren vermögen .
Schale Gemüter wissen nur das , was geschieht ; Begabte ahnen , was sein könnte ; Freie bauen sich ihre eigene Welt .
Zwei Garantien der unsichtbaren Welt sind die Religion und die Poesie .
Jene schließt das Reich der Möglichkeit auf , um zu trösten ; diese , weil sie die Wirklichkeit erklären will .
Beide beruhen auf Täuschungen , nur ist die Poesie glücklicher , weil sie die Wahrscheinlichkeit für sich hat .
Es ist leichter , an ein Gedicht als an den Himmel glauben .
Die Ereignisse des Gedichtes sind oft die heimlichen Erklärungsmotive der Wirklichkeit , die Schöpfungen des Autors haben die Analogie für sich und die Erde ; aber der Himmel schwebt in der Luft und ist trotz aller Philosophie ohne Maßstab , wie Gott selbst .
Die Geschichte der Poesie zeigt , wie sich in ihr von jeher Wahrheit und Wirklichkeit gestritten haben .
Jene Gemüter , welche wir die schalen nannten , entschieden sich für die Wirklichkeit , die freien für die unsichtbare Wahrheit , die begabten , die empfänglichen , die sogenannten Leute von Geschmack , Bildung und Erziehung für das Mittlere zwischen beiden , für die Wahrscheinlichkeit .
Und so ist es noch .
Bei jeder neuen Dichtung fragen die einen :
" Wo geschah dies ? " , die anderen :
" Sollte dies geschehen können ? "
Nur die freien Gemüter entscheiden , ohne zu fragen , weil sie es fühlen , daß das , was nicht geschieht , immer noch wahr ist , selbst wenn es nicht geschehen kann .
Alles , was die Wirklichkeit kopiert , ist für die Maße .
Diese Gattung der Poesie erhebt sich von der untersten Stufe der Genremalerei bis zu den Romanen von Walter Scott und Bulwer , bis zu den Dramen Ifflands und Kotzebues .
Nur hell , blank und geschliffen muß diese Literatur sein , weil sie der Wirklichkeit gegenüber ein Spiegel ist , der sie treu auffaßt und wiedergibt .
Für die schalen Gemüter ist nichts genialer , als sie selbst zu zeichnen , wie sie sind : ihre Tante , ihre Katze , ihren Schal , ihre kleinen Sympathien , ihre Schwachheiten .
Was haben wir von euren Grillen , von euren Erfindungen , die in der Luft schweben ?
Gebt uns uns selbst , dem Egoismus den Egoismus !
Es gibt Kritiker und Literatoren , die sich nur für das Kopieren der Wirklichkeit enthusiasmieren können .
Das Wahrscheinliche ist bei ihnen schon eine Konzession .
England hat von jeher diese Art der poetischen Darstellung bevorzugt , Deutschland ist systematisch genug bearbeitet worden , hierin nachfolgen zu müssen .
Die alte Literatur steht bei uns versteinert da in Tempeln und in Walhallen , die mittlere war keines Schusses Pulver wert , die neue hat nur noch ein schwankendes und kaltes , von Politik und spekulativer Trägheit ganz darrniedergehaltenes Publikum .
Darauf kommt alles zurück :
Man will von der Literatur keine Anstrengung haben ; die Literatur soll niemanden mehr eine unruhige Nacht machen , sie schildert , sie porträtiert , sie stillt die Leselust mit Historie und Bulwer .
Die Poesie ist jetzt Selbstbefruchtung .
Die Wirklichkeit nährt sich von ihrem eigenen bürgerlichen , überquellenden Fette .
Menschen , die schon eine Stufe höher stehen , sind mit der Wahrscheinlichkeit zufrieden .
Sie wollen nur einige Voraussetzungen , die den Boden der Wirklichkeit berühren ; das übrige überlassen sie der Kombination und Phantasie .
Dies sind die gemütlichen Leser , die sich durch poetische Schöpfungen in einen sanften Halbschlummer wiegen lassen , die die Bücher nach der Elle konsumieren .
Es muß ihnen nichts zu nahe und nichts zu ferne liegen .
Schwebend zwischen Himmel und Erde , ganz willenlos hingegeben den Capricen des Dichters , freuen sie sich zuletzt , daß nun alles , was sie gelesen haben , doch entweder nicht wahr ist oder im entgegengesetzten Falle immer sehr wahrscheinlich bleibe .
Die Wahrheit selbst ist unsichtbar und liegt niemals in dem , was wirklich ist .
Die poetische Wahrheit ist schöpferisch .
Sie baut mit den geheimsten Fäden der menschlichen Seele , sie kombiniert nicht , wie der Staat , die Familie , die Religion , die Sitten und das Herkommen kombinieren , sondern revolutionär .
Die poetische Wahrheit offenbart sich nur dem Genius .
Dieser lauscht niedergestreckt auf den Boden der Wirklichkeit und hört , wie in den innersten Getrieben der Gemüter eine embryonische Welt mit keimendem Bewußtsein wächst .
Wer auf seine Entwicklung lauscht , muß sich oft gestehen , daß ganze Gedichte in ihm sich zusammenreimen aus Motiven , welche die Außenwelt niemals anerkennen würde .
Dies sollte nicht auch Wahrheit sein ?
Dies sollte den Dichter nicht entzücken ?
Die Alten und die Mittleren schufen in dieser Weise nicht :
aber die Modernen werden es .
Ihre Historien sind nicht die Sage oder Geschichte , sondern die Ideen , die im Schoße der still wirkenden und schaffenden Gottheit schlummern .
Die Welt , wie sie ist , wird ihren Gebilden nicht entsprechen ; diese werden dem nüchternen Vorwurfe der Unwahrheit und Unwahrscheinlichkeit ausgesetzt sein .
Aber noch immer ging das Genie seinem Jahrhunderte voraus .
Zwei Tatsachen möchte ich aus obigem folgern :
die beide weniger literarisch als historisch sind .
Wenn man in Anschlag bringt , daß entschieden schon in der französischen Literatur , ohne alle Widerrede auch bei uns allmählich eine Poesie der ideellen Wahrheit und reellen Unwirklichkeit sich zu entfalten beginnt , wenn man diese Frauengebilde betrachtet , welche die Phantasie der jetzigen begabteren Dichter erfindet , diese originellen Situationen und allem Herkommen widersprechenden Sitten ; sollte man diese Erscheinung nicht für beziehungsreich halten für unser zukünftiges Leben , für die Existenz in der Wirklichkeit , für die weite Unterlage der Maße und des allgemeinen Glaubens ?
Es ist wahr , die Dichter fangen an , auf immer luftigeren Bahnen zu wandeln :
sie schaffen sich ihre eigenen Welten mit Thronen , die ihre Phantasie erbaute , mit Richterstühlen , die ihre eigene Gesetzgebung haben , mit einem Gottesdienst , dessen Priester nur noch die kleine Gemeinde selbst ist .
Es baut sich eine Wahrheit der Dichtung auf , der in den uns umgebenden Institutionen nichts entspricht , eine ideelle Opposition , ein dichterisches Gegenteil unserer Zeit , das einen zweifachen Kampf wird zu bestehen haben , einmal einen gegen die Wirklichkeit selbst als konstituierte Macht mit physischer Autorität , sodann einen gegen die Poesie der Wirklichkeit , welche so viel Dichter und so viel Kritiker für sich hat .
Dies ist ein Symptom unserer Zeit , aus dem wir bis jetzt noch keinen weiteren Schluß ziehen wollen als einen , der vielleicht außerhalb der Literatur liegt , den ich aber nicht verschweigen will , weil jedes , was die Menschheit ehrt , auf den Lippen des Enthusiasten brennt .
Man verwirft mit Recht das Experimentieren mit der Menschheit , aber man geht darin weiter , als man darf , ohne die Menschheit zu beleidigen .
Wir fürchten uns , den Zeitgenossen etwas zu entziehen , wovon wir uns einbilden , daß es zu ihrem Leben nötig ist .
Wir glauben an die Institutionen in Sitte , Meinung und politischer Einrichtung wie an die unerläßlichen Lebensbedingungen der Jahrhunderte .
Als wenn die Menschheit keine inneren Quellen hätte !
Als wenn sie unterginge , wenn ihr sie aus dieser ganzen Sündflut ihrer Existenz plötzlich nackt und noch triefend auf den Ararat versetztet !
Als wenn die Mensch heit nicht immer die erste sein wird , die sich hilft , und diejenige , welche für sich den besten Rat weiß !
Sie zucken die Achseln wie unvorsichtige Ärzte , sie fürchten für das Leben des Patienten und quacksalbern an den alten Schäden herum ; aber nehmt der Menschheit ein Bein ab :
sie wird sich ein neues machen ; nehmt ihr , um nur eines , was unmöglich scheint , zu nennen , z.B. das Christentum : glaubt ihr , daß sie untergehen wird ?
Nehmt ihr eure Gesetzbücher , eure Verfassungen - nehmt ihr zuletzt das , worauf gleichsam alles ankommen soll , nehmt ihr euch selbst ! - und die Menschheit wird fortbestehen .
Sie wird alles ertragen und durch Felsen vom stärksten Granit noch immer einen Weg finden , der sie zu ihrem Ziele führt .

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Gutzkow, Karl. Wally. Bildungsromankorpus. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0mr.0