Erster Band Erstes Kapitel Lob des Herkommens Mein Vater war ein Bauernsohn aus einem uralten Dorfe , welches seinen Namen von dem Alemannen erhalten hat , der zur Zeit der Landteilung seinen Spieß dort in die Erde steckte und einen Hof baute .
Nachdem im Verlauf der Jahrhunderte das namengebende Geschlecht im Volke verschwunden , machte ein Lehenmann den Dorfnamen zu seinem Titel und baute ein Schloß , von dem niemand mehr weiß , wo es gestanden hat ; ebensowenig ist bekannt , wann der letzte " Edle " jenes Stammes gestorben ist .
Aber das Dorf steht noch da , seelenreich , und belebter als je , während ein paar Dutzend Zunamen unverändert geblieben und für die zahlreichen , weitläufigen Geschlechter fort und fort ausreichen müssen .
Der kleine Gottesacker , welcher sich rings an die trotz ihres Alters immer weiß geputzte Kirche legt und niemals erweitert worden ist , besteht in seiner Erde buchstäblich aus den aufgelösten Gebeinen der vorübergegangenen Geschlechter ; es ist unmöglich , daß bis zur Tiefe von zehn Fuß ein Körnlein sei , welches nicht seine Wanderung durch den menschlichen Organismus gemacht und einst die übrige Erde mit umgraben geholfen hat .
Doch ich übertreibe und vergesse die vier Tannenbretter , welche jedesmal mit in die Erde kommen und den ebenso alten Riesengeschlechtern auf den grünen Bergen rings entstammen ; ich vergesse ferner die derbe ehrliche Leinwand der Grabhemden , welche auf diesen Fluren wuchs , gesponnen und gebleicht wurde und also so gut zur Familie gehört wie jene Tannenbretter und nicht hindert , daß die Erde unseres Kirchhofes so schön kühl und schwarz sei als irgend eine .
Es wächst auch das grünste Gras darauf , und die Rosen nebst dem Jasmin wuchern in göttlicher Unordnung und Überfülle , so daß nicht einzelne Staudlein auf ein frisches Grab gesetzt , sondern das Grab muß in den Blumenwald hineingehauen werden , und nur der Totengräber kennt genau die Grenze in diesem Wirrsal , wo das frisch umzugrabende Gebiet anfängt .
Das Dorf zählt kaum zweitausend Bewohner , von welchen je ein paar hundert den gleichen Namen führen ; aber höchstens zwanzig bis dreißig von diesen pflegen sich Vetter zu nennen , weil die Erinnerungen selten bis zum Urgroßvater hinaufsteigen .
Aus der unergründlichen Tiefe der Zeiten an das Tageslicht gestiegen , sonnen sich diese Menschen darin , so gut es gehen will , rühren sich und wehren sich ihrer Haut , um wohl oder wehe wieder in der Dunkelheit zu verschwinden , wenn ihre Zeit gekommen ist .
Wenn sie ihre Nasen in die Hand nehmen , so sind sie sattsam überzeugt , daß sie eine ununterbrochene Reihe von zweiunddreißig Ahnen besitzen müssen , und anstatt dem natürlichen Zusammenhänge derselben nachzuspüren , sind sie vielmehr bemüht , die Kette ihrerseits nicht ausgehen zu lassen .
So kommt es , daß sie alle möglichen Sagen und wunderlichen Geschichten ihrer Gegend mit der größten Genauigkeit erzählen können , ohne zu wissen , wie es zugegangen ist , daß der Großvater die Großmutter nahm .
Alle Tugenden glaubt jeder selbst zu besitzen , wenigstens diejenigen , welche nach seiner Lebensweise für ihn wirkliche Tugenden sind , und was die Missetaten betrifft , so hat der Bauer so gut Ursache wie der Herr , die seiner Väter in Vergessenheit begraben zu wünschen ; denn er ist zuweilen trotz seines Hochmutes auch nur ein Mensch .
Ein großes rundes Gebiet von Feld und Wald bildet ein reiches , unverwüstliches Vermögen der Bewohner .
Dieser Reichtum blieb sich von jeher so ziemlich gleich ; wenn auch hie und da eine Braut einen Teil verschleppt , so unternehmen die jungen Bursche dafür häufige Raubzüge bis auf acht Stunden weit und sorgen für hinlänglichen Ersatz sowie dafür , daß die Gemütsanlagen und körperlichen Physiognomien der Gemeinde die gehörige Mannigfaltigkeit bewahren , und sie entwickeln hierin eine tiefere und gelehrtere Einsicht für ein frisches Fortgedeihen als manche reiche Patrizier- oder Handelsstadt und als die europäischen Fürstengeschlechter .
Die Einteilung des Besitzes aber verändert sich von Jahr zu Jahr ein wenig und mit jedem halben Jahrhundert fast bis zur Unkenntlichkeit .
Die Kinder der gestrigen Bettler sind heute die Reichen im Dorfe , und die Nachkommen dieser treiben sich morgen mühsam in der Mittelklasse umher , um entweder ganz zu verarmen oder sich wieder aufzuschwingen .
Mein Vater starb so früh , daß ich ihn nicht mehr von seinem Vater konnte erzählen hören ; ich weiß daher so gut wie nichts von diesem Manne ; nur so viel ist gewiß , daß damals die Reihe einer ehrbaren Unvermöglichkeit an seiner engeren Familie war .
Da ich nicht annehmen mag , daß der ganz unbekannte Urgroßvater ein liederlicher Kauz gewesen sei , so halte ich es für wahrscheinlich , daß sein Vermögen durch eine zahlreiche Nachkommenschaft zersplittert wurde ; wirklich habe ich auch eine Menge entfernter Vettern , welche ich kaum noch zu unterscheiden weiß , die , wie die Ameisen krabbelnd , bereits wieder im Begriffe sind , ein gutes Teil der viel zerhackten und durchfurchten Grundstücke an sich zu bringen .
Ja , einige Alte unter denselben sind in der Zeit schon wieder reich gewesen und ihre Kinder wieder arm geworden .
Dazumal war es nicht ganz mehr jene Schweiz , welche dem Legationssekretär Werther so erbärmlich vorgekommen ist , und wenn auch die junge Saat der französischen Ideen durch einen ungeheuren Schneefall österreichischer , russischer und selbst französischer Quartierbilletts bedeckt worden war , so gestattete doch die Mediationsverfassumg einen gelindert Nachsommer und verhinderte meinen Vater nicht , die Kühe , die er weidete , eines Morgens stehenzulassen und nach der Stadt zu gehen , um ein gutes Handwerk zu erlernen .
Von da an verschollte er so ziemlich für seine Mitbürger ; denn nach harten , aber gut bestandenen Lehrjahren führte ihn sein Trieb , einen immer kühneren Schwung nehmend , in die Ferne , und er durchschweifte als ein geschickter Steinmetz entlegene Reiche .
Indessen aber hatte der sanftknisternde Papierblumenfrühling , welcher nach der Schlacht bei Waterloo aufging , wie überallhin , so auch in alle Winkel der Schweiz sein bläuliches Kerzenlicht verbreitet ; auch in meines Vaters Geburtsdorf , dessen Bewohner in den neunziger Jahren ebenfalls entdeckt hatten , daß sie seit undenklichen Zeiten mitten in einer Republik lebten , war die ehrwürdige Dame Restauration mit allen ihren Schachteln und Kartons feierlich eingezogen und richtete sich in dem Neste so gut ein , als sie konnte .
Schattige Wälder , Höhen und Täler mit den angenehmsten Freudenplätzen , ein fischreicher , klarer Fluß und die Wiederholung aller dieser guten Dinge in einer weiten , belebten Nachbarschaft , welche sogar noch mit einigen bewohnten Schlössern geziert war , zogen den einwohnenden Herrschaften eine Menge jagender , fischender , tanzender , singender , essender und trinkender Gäste aus der Stadt zu .
Man bewegte sich um so leichter , als man den Reifrock und die Perücke weislich da liegenließ , wohin sie die Revolution geworfen hatte , und das griechische Kostüm der Kaiserzeit , wenn auch in diesen Gegenden etwas nachträglich , angetan hatte .
Die Bauern sahen mit Verwunderung die weißumflorten Göttergestalten ihrer vornehmen Mitbürgerinnen , ihre sonderbaren Hüte und noch merkwürdigeren Taillen , welche dicht unter den Armen gegürtet waren .
Die Herrlichkeit des aristokratischen Regimentes entfaltete sich am höchsten im Pfarrhause .
Die reformierten Landgeistlichen der Schweiz waren keine armen , demütigen Schlucker wie ihre Amtsbrüder im protestantischen Norden .
Da alle Pfründen im Lande fast ausschließlich den Bürgern der herrschenden Städte offenstanden , so bildeten sie zu den weltlichen Ehrenstellen eine Ergänzung im Systeme der Herrschaft , und die Pfarrer , deren Brüder das Schwert und die Waage handhabten , nahmen Teil an der Glorie , wirkten und regierten auf ihre Weise im Sinne des Ganzen kräftig mit oder überließen sich einem sorgenfreien , vergnüglichen Dasein .
Sehr oft waren sie von Haus reich , und die ländlichen Pfarrhäuser glichen eher den Landsitzen großer Herren ; auch gab es eine Menge adeliger Seelenhirten , welche die Bauern Junker Pfarrer nennen mußten .
Ein solcher war nun zwar der Pfarrer meines Heimatdorfes nicht , auch nichts weniger als ein reicher Mann ; doch sonst einer alten Stadtfamilie angehörend , vereinigte er in seiner Person und in seinem Hauswesen allen Stolz , Kastengeist und Lustbarkeit eines warmgesessenen Städtetumes .
Er tat sich etwas darauf zu gut , ein Aristokrat zu heißen , und vermischte seine geistliche Würde ungezwungen mit einem derben , militärisch-junkerhaften Anstriche ; denn man wußte dazumal noch nichts weder von dem Namen noch von dem Wesen des modernen Traktatlein-Konservatismus .
Es ging in seinem Hause geräuschvoll und lustig her ; die Pfarrkinder steuerten reichlich , was Feld und Stall abwarf , die Gäste holten sich selbst aus dem Forste Hasen , Schnepfen und Rebhühner , und da Treibjagden doch nicht landesüblich waren , so wurden die Bauern dafür zu großen Fischzügen freundschaftlich angehalten , was jedesmal ein Fest gab , und so war das Pfarrhaus nie ohne Freude und Lärm .
Man durchzog das Land ringsumher , stattete Besuche ab in Maße und empfing solche , schlug Zelte auf und tanzte darunter oder spannte sie über die lauteren Bäche , und die Griechinnen badeten darunter ; man überfiel in hellen Haufen eine einsame kühle Mühle oder fuhr in vollgepfropften Nachen auf Seen und Flüssen , der Pfarrer immer voran mit einer Entenflinte über dem Rücken oder ein mächtiges spanisches Rohr in der Hand .
Geistige Bedürfnisse waren in diesen Kreisen nicht viele vorhanden ; die weltliche Bibliothek des Pfarrers bestand , wie ich sie noch gesehen habe , aus einigen altfranzösischen Schäferromanen , Geßners Idyllen , Gellerts Lustspielen und einem stark zerlesenen Exemplar des Münchhausen .
Zwei oder drei einzelne Bände von Wieland schienen aus der Stadt geblieben und nicht mehr zurückgeschickt worden zu sein .
Man sang Höltys Lieder , und nur die Jugend führte etwa einen Matthisson mit sich .
Der Pfarrer selbst , wenn einmal von dergleichen Dingen die Rede war , pflegte seit dreißig Jahren regelmäßig zu fragen :
" Haben Sie Klopstocks Messias gelesen ? " und wenn das , wie natürlich bejaht wurde , schwieg er vorsichtig .
Im übrigen gehörten die Gäste nicht zu jenen feinsten Kreisen , welche die Kultur der herrschenden Interessen durch erhöhte Geistestätigkeit pflegen und durch eine edle Bildung zu befestigen suchen , sondern zu der gemütlichen Klasse , welche sich darauf beschränkt , die Früchte jener Bemühungen zu genießen und sich ohne weiteres Kopfzerbrechen lustig zu machen , solange es Kirchweih ist .
Aber diese ganze Herrlichkeit barg bereits den Keim ihres Zerfalles in sich selbst .
Der Pfarrer hatte einen Sohn und eine Tochter , welche beide in ihren Neigungen von denjenigen ihrer Umgebung abwichen .
Während der Sohn , ebenfalls ein Geistlicher und dazu bestimmt , seinem Vater im Amte zu folgen , vielfache Verbindungen mit jungen Bauern anknüpfte , mit ihnen ganze Tage auf dem Felde lag oder auf Viehmärkte fuhr und mit Kennerblicke die jungen Kühe betastete , hing die Tochter , sooft sie nur immer konnte , die griechischen Gewänder an den Nagel und zog sich in Küche und Garten zurück , dafür sorgend , daß die unruhige Gesellschaft etwas Ordentliches zu beißen fand , wenn sie von ihren Fahrten zurückkehrte .
Auch war diese Küche nicht der schwächste Anziehungspunkt für die genäschigen Städtebewohner , und der große gutbebaute Garten zeugte für einen ausdauernden Fleiß und treffliche Ordnungsliebe .
Der Sohn endigte sein Treiben damit , daß er eine begüterte rüstige Bauerntochter heiratete , in ihr Haus zog und alle sechs Werktage hindurch ihre Äcker und ihr Vieh bestellte .
In Anwartschaft seines höheren Amtes übte er sich , als Sämann den göttlichen Samen in wohlberechneten Würfen auszustreuen und das Böse in Gestalt von wirklichem Unkraut auszujäten .
Der Schrecken und der Zorn hierüber waren groß im Pfarrhause , zumal wenn man bedachte , daß die junge Bäuerin einst als Hausfrau dort einziehen und herrschen sollte , sie , welche weder mit der gehörigen Anmut im Grase zu liegen noch einen Hasen standesgemäß zu braten und aufzutragen wußte .
Deshalb war es der allgemeine Wunsch , daß die Tochter , welche allmählich schon über ihre erste Jugend hinausgeblüht hatte , entweder einen standesgetreuen jungen Geistlichen ins Haus locken oder sonst noch lange die zusammenhaltende Kraft desselben bleiben möchte .
Aber auch diese Hoffnungen schlugen fehl .
Zweites Kapitel Vater und Mutter Denn eines Tages geschah es , daß das ganze Dorf in große Bewegung gesetzt wurde durch die Ankunft eines schönen , schlanken Mannes , der einen feinen grünen Frack trug nach dem neuesten Schnitte , enganliegende weiße Beinkleider und glänzende Suwarowstiefeln mit gelben Stulpen .
Wenn es regnerisch aussah , so führte er einen rotseidenen Schirm mit sich , und eine große goldene Uhr von feiner Arbeit gab ihm in den Augen der Bauern einen ungemein vornehmen Anstrich .
Dieser Mann bewegte sich mit einem edlen Anstande in den Gassen des Dorfes umher und trat freundlich und leutselig in die niederen Türen , verschiedene alte Mütterchen und Gevattern aufsuchend , und war niemand anders als der weitgereiste Steinmetzgeselle Lee , welcher seine lange Wanderschaft ruhmvoll beendigt hatte .
Man kann wohl sagen ruhmvoll , wenn man bedenkt , daß er vor zwölf Jahren , als ein vierzehnjähriger Knabe , arm und bloß aus dem Dorfe gewandert war , hierauf bei seinem Meister die Lehrzeit durch lange Arbeit abverdienen mußte , mit einem dürftigen Felleisen und wenig Geld in die Fremde zog und nun solchergestalt als ein förmlicher Herr , wie ihn die Landleute nannten , zurückkehrte .
Denn unter dem niederen Dache seiner Verwandten standen zwei mächtige Kisten , von denen die eine ganz mit Kleidern und feiner Wäsche , die andere mit Modellen , Zeichnungen und Büchern angefüllt war .
Es gab etwas Schwungvolles in dem ganzen Wesen des etwa sechsundzwanzig Jahre alten Mannes ; seine Augen glühten wie von einem anhaltenden Glanze innerer Wärme und Begeisterung , er sprach immer hochdeutsch und suchte das Unbedeutendste von seiner schönsten und besten Seite zu fassen .
Er hatte ganz Deutschland vom Süden bis zum Norden durchreist und in allen großen Städten gearbeitet ; die Zeit der Befreiungskriege in ihrem ganzen Umfange fiel mit seinen Wanderjahren zusammen , und er hatte die Bildung und den Ton jener Tage in sich aufgenommen , insofern sie ihm verständlich und zugänglich waren ; vorzüglich teilte er das offene und treuherzige Hoffen der guten Mittelklassen auf eine bessere , schönere Zeit der Wirklichkeit , ohne von den geistigen Überfeinerungen und Wunderseligkeiten etwas zu wissen , die in manchen Elementen dazumal durch die höhere Gesellschaft wucherten .
Es waren nur wenige gleichgesinnte Arbeitsgenossen , welche die ersten , seltenen und verborgenen Keime bildeten zu der Selbstveredlung und Aufklärung , so den wandernden Handwerkerstand zwanzig Jahre später durchdrangen , und welche einen Stolz darauf setzten , die besten und gesuchtesten Arbeiter zu sein , und dadurch , verbunden mit Fleiß und Mäßigkeit , die Mittel erlangten , auch ihren Geist zu bilden und äußerlich wie innerlich schon in ihren Wanderjahren als achtungswerte , tüchtige Männer dazustehen .
Überdies war dem Steinhauer in den großen Werken altdeutscher Baukunst ein Licht aufgegangen , welches seinen Pfad noch mehr erleuchtete , indem es ihn mit heiteren Künstlerahnungen erfüllte und den dunklen Trieb jetzt erst zu rechtfertigen schien , welcher ihm von der grünen Weide hinweg dem gestaltenden Leben der Städte zugeführt hatte .
Er lernte zeichnen mit eisernem Fleiße , brachte ganze Nächte und Feiertage damit zu , Werke und Muster aller Art durchzupausen , und nachdem er den Meißel zu den kunstreichsten Gebilden und Verzierungen führen gelernt und ein vollkommener Handarbeiter geworden war , ruhte er nicht , sondern studierte den Steinschnitt und sogar solche Wissenschaften , welche anderen Zweigen des Bauwesens angehören .
Er suchte überall an großen öffentlichen Bauten unterzukommen , wo es viel zu sehen und zu lernen gab , und brachte es durch seine Aufmerksamkeit bald dahin , daß ihn die Baumeister ebensoviel auf ihren Arbeitszimmern am Zeichnen- oder Schreibtische verwendeten als auf dem Bauplatze .
Daß er dort nicht feierte , sondern manche Mittagsstunde damit zubrachte , alles mögliche durchzuzeichnen und alle Berechnungen zu kopieren , welche er erhaschen konnte , versteht sich von selbst .
So wurde er zwar kein akademischer Künstler mit einer allseitigen Durchbildung , aber doch ein Mann , welcher wohl den kühnen Vorsatz fassen durfte , in der Hauptstadt seiner Heimat ein wackerer Bau- und Maurermeister zu werden .
Mit dieser ausgesprochenen Absicht trat er nun auch im Dorfe zur großen Bewunderung seiner Sippschaft auf , und das Erstaunen wurde noch größer , als er , mit einem zierlichen Manschettenhemde bekleidet und sein reinstes Hochdeutsch sprechend , sich mitten unter die französisch-griechischen Gestalten des Pfarrhauses mischte und um die Pfarrerstochter warb .
Der ländlich gesinnte Bruder mochte hierzu eine Vermittlung , wenigstens ein aufmunterndes Beispiel darbieten ; die Jungfrau schenkte dem blühenden Freier bald ihr Herz , und die Verwirrung , welche dadurch zu entstehen drohte , löste sich schnell , als die Eltern der Braut kurz hintereinander starben .
Also hielten sie eine stille Hochzeit und zogen in die Stadt , sich weiter nicht nach der glanzvollen Vergangenheit des Pfarrhauses umsehend , in welches alsobald der junge Pfarrer mit ganzen Wagen voll Sensen , Sicheln , Dreschflegeln , Rechten , Heugabeln , mit gewaltigen Himmelbetten , Spinnrädern und Flachshecheln und mit seiner kecken , frischen Frau einzog , welche mit ihrem geräucherten Speck und mit ihren derben Mehlklößen schnell sämtliche Musselingewänder , Fächer und Sonnenschirmchen aus Haus und Garten vertrieben hatte .
Nur eine Wand voll vortrefflicher Jagdgewehre , die auch der Nachfolger zu fahren wußte , lockte im Herbst einzelne Jäger auf das Dorf und unterschied das Pfarrhaus einigermaßen von einem Bauernhause .
In der Stadt fing jener junge Baumeister damit an , daß er einige Arbeiter anstellte und , selbst arbeitend vom Morgen bis zum Abend , kleinere Aufträge aller Art annahm und darin so viel Geschick und Zuverlässigkeit zeigte , daß noch vor Ablauf eines Jahres sein Geschäft sich erweiterte und sein Kredit sich begründete .
Er war so erfinderisch und einsichtsvoll , gewandt und schnell beraten , daß bald viele Bürger seinen Rat und seine Arbeit suchten , wenn sie im Zweifel waren , wie sie etwas verändern oder neu bauen lassen sollten .
Dabei war er immer bestrebt , das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden , und war froh , wenn ihn seine Kunden nur gewähren ließen , so daß sie manche Zierde , manches Fenster und Gesims von reineren Verhältnissen erhielten , ohne daß sie deswegen den Geschmack ihres Baumeisters teurer bezahlen mußten .
Seine Frau aber führte mit wahrem Fanatismus das Hauswesen , welches durch verschiedene Arbeiter und Dienstboten schnell erweitert wurde .
Sie beherrschte mit Kraft und Meisterschaft das Füllen und Leeren einer Anzahl großer Speisekörbe und war der Schrecken der Marktweiber und die Verzweiflung der Schlächter , welche alle Gewalt ihrer alten Rechte aufbieten mußten , einen Knochensplitter mit auf die Waage zu bringen , wenn das Fleisch für die Frau Lee gewogen wurde .
Obgleich Meister Lee fast keine persönlichen Bedürfnisse hatte und unter seinen zahlreichen Grundsätzen derjenige der Sparsamkeit in der ersten Reihe stand , so war er doch so gemeinnützig und großherzig , daß das Geld für ihn nur Wert hatte , wenn etwas damit ausgerichtet oder geholfen wurde , sei es durch ihn oder durch andere ; daher verdankte er es nur seiner Frau , welche keinen Pfennig unnütz ausgab und den größten Ruhm darein setzte , jedermann weder um ein Haar zuwenig noch zuviel zukommen zu lassen , daß er nach Verfließen von zwei oder drei Jahren schon Ersparnisse vorfand , welche seinem unternehmenden Geiste nebst dem Kredite , den er bereits genoß , eine reichlichere Nahrung darboten .
Er kaufte alte Häuser an für eigene Rechnung , riß sie nieder und baute an der Stelle stattliche Bürgerhäuser , in welchen er eine Menge Einrichtungen fremder oder eigener Erfindung anbrachte .
Diese verkaufte er mehr oder weniger vorteilhaft , sogleich zu neuen Unternehmungen schreitend , und alle seine Gebäude trugen das Gepräge eines beständigen Strebens nach Formen- und Gedankenreichtum .
Wein ein gelehrter Architekt auch oft nicht wußte , wohin er alle angebrachten Ideen zählen sollte und vieles der Unklarheit oder Unharmonie zeihen mußte , so gestand er doch immer , daß es Gedanken seien , und belobte , wenn er unbefangen war , den schönen Eifer dieses Mannes mitten in der geistesarmen und nüchternen Zeit des Bauwesens , wie sie wenigstens in den abgelegenen Provinzen des Kunstgebietes bestand .
Dies tätige Leben versetzte den unermüdlichen Mann in den Mittelpunkt eines weiten Kreises von Bürgern , welche alle zu ihm in Wechselwirkung traten , und unter diesen bildete sich ein engerer Ausschuß gleichgesinnter und empfänglicher Männer , denen er sein rastloses Suchen nach dem Guten und Schönen mitteilte .
Es war nun um die Mitte der zwanziger Jahre , wo in der Schweiz eine große Anzahl gebildeter Männer aus dem Schoße der herrschenden Klassen selbst , die abgeklärten Ideen der großen Revolution wiederaufnehmend , einen frucht- und dankbaren Boden für die Julitage vorbereiteten und die edlen Güter der Bildung und Menschenwürde sorgsam pflegten .
Zu diesen bildete Lee mit seinen Genossen , an seinem Orte , eine tüchtige Fortsetzung im arbeitenden Mittelstande , welcher von jeher aus der Tiefe des Volkes auf den Landschaften umher seine Wurzeln trieb und sich erneuerte .
Während jene Vornehmen und Gelehrten die künftige Form des Staates , philosophische und Rechtswahrheiten besprachen und im allgemeinen die Fragen schönerer Menschlichkeit zu ihrem Gebiete machten , wirkten die rührigen Handwerker mehr unter sich und nach unten hin , indem sie einstweilen ganz praktisch so gut als möglich sich einzurichten suchten .
Eine Menge Vereine , öfter die ersten in ihrer Art , wurden gestiftet , welche meistens irgendeine Versicherung zum Wohle der Mitglieder und ihrer Angehörigen zum Zwecke hatten .
Schulen wurden gesellschaftsweise gegründet , um den Kindern des gemeinen Mannes eine bessere Erziehung zu sicheren ; kurz , eine Menge Unternehmungen dieser Art , zu jener Zeit noch neu und verdienstlich , gab den braven Leuten zu schaffen und Gelegenheit , sich daran emporzubilden .
Denn in zahlreichen Zusammenkünften mußten Statuten aller Art entworfen , beraten , durchgesehen und angenommen , Vorsteher gewählt und nach außen wie nach innen Rechte und Formen erklärt und gewahrt werden .
Zu diesen verschiedenen Elementen kam und berührte sie gemeinschaftlich der griechische Freiheitskampf , welcher auch hier , wie überall , zum ersten Mal in der allgemeinen Ermattung die Geister wieder erweckte und erinnerte , daß die Sache der Freiheit diejenige der ganzen Menschheit sei .
Die Teilnahme an den hellenischen Betätigungen verlieh auch den nicht philologischen Genossen zu ihrer übrigen Begeisterung einen edlen kosmopolitischen Schwung und benahm den hellgesinnten Gewerbesleuten den letzten Anflug von Spieß- und Pfahlbürgertum .
Lee war überall mit voran , ein zuverlässiger , hingebender Freund für alle , seines reinen Charakters und seiner gehobenen Gesinnung wegen allgemein geachtet , ja geehrt .
Er war um so glücklicher zu nennen , als er dabei nicht von Eitelkeit befangen war ; und erst jetzt fing er von neuem an zu lernen und nachzuholen , was ihm erreichbar war .
Er trieb auch seine Freunde dazu an , und es gab bald keinen derselben mehr , der nicht eine kleine Sammlung geschichtlicher und naturwissenschaftlicher Werke aufzuweisen hatte .
Da fast allen in ihrer Jugend die gleiche dürftige Erziehung zuteil geworden , so ging ihnen nun besonders bei ihrem Eindringen in die Geschichte ein reiches und ergiebiges Feld auf , welches sie mit immer größerer Freude durchwandelten .
Ganze Stuben voll waren sie an Sonntagsmorgen beisammen , disputierten und teilten sich die immer neuen Entdeckungen mit , wie allezeit die gleichen Ursachen die gleichen Wirkungen hervorgebracht hätten und dergleichen .
Wenn sie auch Schiller auf die Höhen seiner philosophischen Arbeiten nicht zu folgen vermochten , so erbauten sie sich um so mehr an seinen geschichltlichen Werken , und von diesem Standpunkte aus ergriffen sie auch seine Dichtungen , welche sie auf diese Weise ganz praktisch nachfühlten und genossen , ohne auf die künstlerische Rechenschaft , die jener Große sich selber gab , weiter eingehen zu können .
Sie hatten die größte Freude an seinen Gestalten und wußten nichts Ähnliches aufzufinden , das sie so befriedigt hätte .
Seine gleichmäßige Glut und Reinheit des Gedankens und der Sprache war mehr der Ausdruck für ihr schlichtes , bescheidenes Treiben als für das Wesen mancher Schillerverehrer der gelehrten heutigen Welt .
Aber einfach und durchaus praktisch , wie sie waren , fanden sie nicht volles Genügen an der dramatischen Lektüre im Schlafrock ; sie wünschten diese bedeutsamen Begebenheiten leibhaftig und farbig vor sich zu sehen , und weil von einem stehenden Theater in den damaligen Schweizerstädten nicht die Rede war , so entschlossen sie sich , wiederum angefeuert von Lee , kurz und spielten selbst Komödie , so gut sie konnten .
Die Bühne und die Maschinen waren freilich schneller und gründlicher hergestellt , als die Rollen erlernt wurden , und mancher suchte sich über den Umfang seiner Aufgabe selbst zu täuschen , indem er mit vergrößerter Kraft Nägel einschlug und Latten entzweisägte ; doch ist es nicht zu leugnen , daß ein großer Teil der Gewandtheit im Ausdruck und des äußeren Anstands , welche fast allen jenen Freunden eigen geblieben ist , auf Rechnung solcher Übungen gesetzt werden darf .
Wie sie älter wurden , ließen sie dergleichen Dinge wieder bleiben , aber sie behielten den Sinn für das Erbauliche in jeder Beziehung getreulich bei .
Würde man heutzutage fragen , wo sie denn die Zeit zu alledem hergenommen haben , ohne ihre Arbeit und ihr Haus zu vernachlässigen so wäre zu antworten , daß es erstens noch gesunde und naive Männer und keine Grübler waren , welche zu jeder Tat und jeder außerordentlichen Arbeit einen Schatz von Zeit verschwenden mußten , indem sie alles zerfaserten und breitquetschten , ehe es genießbar war , und daß zweitens die täglichen Stunden von sieben bis zehn Uhr abends , gleichmäßig benutzt , eine viel ansehnlichere Maße von Zeit ausmachen , als der Bürger heute glaubt , welcher dieselben hinter dem Weinglase im Tabaksqualm verbrütet .
Man war damals noch nicht einer Rotte von Schenkwirten tributpflichtig , sondern zog es vor , im Herbste das edle Gewächs selbst einzukellern , und es war keiner dieser Handwerker , vermöglich oder arm , der sich nicht geschämt hätte , am Schlusse der abendlichen Zusammenkünfte ein Glas derben Tischweines mangeln zu lassen oder denselben aus der Schenke holen zu müssen .
Während des Tages sah man keinen , oder höchstens flüchtig und heimlich , vor den Gesellen es verbergend , ein Buch oder eine Papierrolle in die Werkstatt eines anderen bringen , und sie sahen alsdann aus wie Schulknaben , welche unter dem Tische den Plan zu einer rühmlichen Kriegsunternehmung zirkulieren lassen .
Doch sollte dies aufgeregte Leben auf andere Weise Unheil bringen .
Lee hatte sich , bei seinen gehäuften Arbeiten in steter Anstrengung , eines Tages stark erhitzt und achtlos nachher erkältet , was den Keim gefährlicher Krankheit in ihn legte .
Anstatt sich nun zu schonen und auf jede Weise in acht zu nehmen , konnte er es nicht lassen , sein Treiben fortzusetzen und überall mit Hand anzulegen , wo etwas zu tun war .
Schon seine vielfältigen Berufsgeschäfte nahmen seine volle Tätigkeit in Anspruch , welche er nicht plötzlich schwächen zu dürfen glaubte .
Er rechnete , spekulierte , schloß Verträge , ging weit über Land , um Einkäufe zu besorgen , war im gleichen Augenblick zuoberst auf den Gerüsten und zuunterst in den Gewölben , riß einem Arbeiter die Schaufel aus der Hand und tat einige gewichtige Würfe damit , ergriff ungeduldig den Hebebaum , um eine mächtige Steinlast herumwälzen zu helfen , hob , wenn es ihm zu lange ging , bis Leute herbeikamen , selbst einen Balken auf die Schultern und trug ihn keuchend an Ort und Stelle , und statt dann zu ruhen , hielt er am Abend in irgendeinem Verein einen lebhaften Vortrag oder war in später Nacht ganz umgewandelt auf den Brettern , leidenschaftlich erregt , mit hohen Idealen in einem mühsamen Ringen begriffen , welches ihn noch weit mehr anstrengen mußte als die Tagesarbeit .
Das Ende war , daß er plötzlich dahinstarb als ein junger , blühender Mann , in einem Alter , wo andere ihre Lebensarbeit erst beginnen , mitten in seinen Entwürfen und Hoffnungen und ohne die neue Zeit aufgehen zu sehen , welcher er mit seinen Freunden zuversichtlich entgegenblickte .
Er ließ seine Frau mit einem fünfjährigen Kinde allein zurück , und dies Kind bin ich .
Der Mensch rechnet immer das , was ihm fehlt , dem Schicksale doppelt so hoch an als das , was er wirklich besitzt ; so haben mich auch die langen Erzählungen der Mutter immer mehr mit Sehnsucht nach meinem Vater erfüllt , welchen ich nicht mehr gekannt habe .
Meine deutlichste Erinnerung an ihn fällt sonderbarerweise um ein volles Jahr vor seinen Tod zurück , auf einen einzelnen schönen Augenblick , wo er an einem Sonntagabend auf dem Felde mich auf den Armen trug , eine Kartoffelstaude aus der Erde zog und mir die anschwellenden Knollen zeigte , schon bestrebt , Erkenntnis und Dankbarkeit gegen den Schöpfer in mir zu erwecken .
Ich sehe noch jetzt das grüne Kleid und die schimmernden Metallknöpfe zunächst meinen Wangen und seine glänzenden Augen , in welche ich verwundert sah von der grünen Staude weg , die er hoch in die Luft hielt .
Meine Mutter rühmte mir nachher oft , wie sehr sie und die begleitende Magd erbaut gewesen seien von seinen schönen Reden .
Aus noch früheren Tagen ist mir seine Erscheinung ebenfalls geblieben durch die befremdliche Überraschung der vollen Waffenrüstung , in welcher er eines Morgens Abschied nahm , um mehrtägigen Übungen beizuwohnen ; da er ein Schütze war , so ist auch dies Bild mit der lieben grünen Farbe und mit heiterem Metallglanze für mich ein und dasselbe geworden .
Aus seiner letzten Zeit aber habe ich nur noch einen verworrenen Eindruck behalten , und besonders seine Gesichtszüge sind mir nicht mehr erinnerlich .
Wenn ich bedenke , wie heiß treue Eltern auch an ihren ungeratensten Kindern hängen und dieselben nie aus ihrem Herzen verbannen können , so finde ich es höchst unnatürlich , wenn sogenannte brave Leute ihre Erzeuger verlassen und preisgeben , weil dieselben schlecht sind und in der Schande leben , und ich preise die Liebe eines Kindes , welches einen zerlumpten und verachteten Vater nicht verläßt und verleugnet , und begreife das unendliche , aber erhabene Weh einer Tochter , welche ihrer verbrecherischen Mutter noch auf dem Schafotte beisteht .
Ich weiß daher nicht , ob es aristokratisch genannt werden kann , wenn ich mich doppelt glücklich fühle , von ehrlichen und geachteten Eltern abzustammen , und wenn ich vor Freude errötete , als ich , herangewachsen , zum ersten Male meine bürgerlichen Rechte ausübte in bewegter Zeit und in Versammlungen mancher bejahrte Mann zu mir herantrat , mir die Hand schüttelte und sagte , er sei ein Freund meines Vaters gewesen und er freue sich , mich auch auf dem Platze erscheinen zu sehen ; als dann noch mehrere kamen und jeder den " Mann " gekannt haben und hoffen wollte , ich werde ihm würdig nachfolgen .
Ich kann mich nicht enthalten , sosehr ich die Torheit einsehe , oft Luftschlösser zu bauen und zu berechnen , wie es mit mir gekommen wäre , wenn mein Vater gelebt hätte , und wie mir die Welt in ihrer Kraftfülle von frühester Jugend an zugänglich gewesen wäre ; jeden Tag hätte mich der treffliche Mann weitergeführt und würde seine zweite Jugend in mir verlebt haben .
Wie mir das Zusammenleben zwischen Brüdern ebenso fremd als beneidenswert ist und ich nicht begreife , wie solche meistens auseinanderweichen und ihre Freundschaft außerwärts suchen , so erscheint mir auch , ungeachtet ich es täglich sehe , das Verhältnis zwischen einem Vater und einem erwachsenen Sohne um so neuer , unbegreiflicher und glückseliger , als ich Mühe habe , mir dasselbe auszumalen und das nie Erlebte zu vergegenwärtigen .
So aber muß ich mich darauf beschränken , je mehr ich zum Manne werde und meinem Schicksal entgegenschreite , mich , zusammenzufassen und in der Tiefe meiner Seele still zu bedenken :
Wie würde er nun an deiner Stelle handeln , oder was würde er von deinem Tun urteilen , wenn er lebte .
Er ist vor der Mittagshöhe seines Lebens zurückgetreten in das unerforschliche All und hat die überkommene goldene Lebensschnur , deren Anfang niemand kennt , in meinen schwachen Händen zurückgelassen , und es bleibt mir nur übrig , sie mit Ehren an die dunkle Zukunft zu knüpfen oder vielleicht für immer zu zerreißen , wenn auch ich sterben werde . -
Nach vielen Jahren hat meine Mutter , nach langen Zwischenräumen , wiederholt geträumt , der Vater sei plötzlich von einer langen Reise aus weiter Ferne , Glück und Freude bringend , zurückgekehrt , und sie erzählte es jedesmal am Morgen , um darauf in tiefes Nachdenken und in Erinnerungen zu versinken , während ich , von einem heiligen Schauer durchweht , mir vorzustellen suchte , mit welchen Blicken mich der teure Mann ansehen und wie es unmittelbar werden würde , wenn er wirklich eines Tages so erschiene .
Je dunkler die Ahnung ist , welche ich von seiner äußeren Erscheinung in mir trage , desto heller und klarer hat sich ein Bild seines inneren Wesens vor mir aufgebaut , und dies edle Bild ist für mich ein Teil des großen Unendlichen geworden , auf welches mich meine letzten Gedanken zurückführen und unter dessen Obhut ich zu wandeln glaube .
Drittes Kapitel Kindheit .
Erste Theologie .
Schulbänklein Die erste Zeit nach dem Tode meines Vaters war für seine Witwe eine schwere Zeit der Trauer und Sorge .
Seine ganze Verlassenschaft befand sich im Zustande des vollen Umschwunges und erforderte weitläufige Verhandlungen , um sie ins reine zu bringen .
Eingegangene Verträge waren mitten in ihrer Erfüllung abgebrochen , Unternehmungen gehemmt , große laufende Rechnungen zu bezahlen und solche einzuziehen an allen Ecken und Enden ; Vorräte von Baustoffen mußten mit Verlust verkauft werden , und es war zweifelhaft , ob bei der augenblicklichen Lage der Verhältnisse auch nur ein Pfennig übrig bleiben würde , wovon die bekümmerte Frau leben sollte .
Gerichtsmänner kamen , legten Siegel an und lösten sie wieder ; die Freunde des Verstorbenen und zahlreiche Geschäftsleute gingen ab und zu , halfen und ordneten ; es wurde durchgesehen , gerechnet , abgesondert , gesteigert .
Käufer und neue Unternehmer meldeten sich , suchten die Summen herunterzudrücken oder mehr in Beschlag zu nehmen , als ihnen gebührte , es war ein Geräusch und eine Spannung , daß meine Mutter , welche immer mit wachsamen Augen dabei stand , zuletzt nicht mehr wußte , wie sie sich helfen sollte .
Allmählich klärte sich die Verwirrung auf , ein Geschäft um das andere war abgetan , alle Verbindlichkeiten gelöst und die Forderungen gesichert , und es zeigte sich nun , daß das Haus , in welchem wir zuletzt wohnten , als einziges Vermögen übrigblieb .
Es war ein altes hohes Gebäude , mit vielen Räumen und von unten bis oben bewohnt wie ein Bienenkorb .
Der Vater hatte es gekauft in der Absicht , ein neues an dessen Stelle zu setzen ; da es aber von altertümlicher Bauart war und an Türen und Fenstern wertvolle Überbleibsel künstlicher Arbeit trug , so konnte er sich schwer entschließen , es einzureißen , und bewohnte es indessen nebst einer Anzahl von Mietsleuten .
Auf diesem Hause blieben zwar noch einige fremde Kapitalien haften , jedoch hatte es der rührige Mann in der Schnelligkeit so gut eingerichtet und vermietet , daß ein jährlicher Überschuß an Mietgeldern den Hinterlassenen ein bescheidenes Auskommen sicherte .
Das erste , was meine Mutter begann , war eine gänzliche Einschränkung und Abschaffung alles Überflüssigen , wozu voraus jede Art von dienstbaren Händen gehörte .
In der Stille dieses Witwentums fand ich mein erstes deutliches Bewußtsein , welches seinen Inhaber zur Übung treppauf und - ab im Inneren des Hauses umherführte .
Die unteren Stockwerke sind dunkel , sowohl in den Gemächern wegen der Enge der Gassen als auf den Treppenräumen und Fluren , weil alle Fenster für die Zimmer benutzt wurden .
Einige Vertiefungen und Seitengänge gaben dem Raume ein düsteres und verworrenes Ansehen und blieben noch zu entdeckende Geheimnisse für mich ; je höher man aber steigt , desto freundlicher und heller wird es , indem der oberste Stock , den wir bewohnten , die Nachbarhäuser überragt .
Ein hohes Fenster wirft reichliches Licht auf die mannigfaltig gebrochenen Treppen und wunderlichen Holzgalerien des luftigen Estrichs , welcher einen helleren Gegensatz zu den kühlen Finsternissen der Tiefe bildet .
Die Fenster unserer Wohnstube gingen auf eine Menge kleiner Höfe hinaus , wie sie oft von einem Häuserviertel umschlossen werden und ein verborgenes behagliches Gesumme enthalten , welches man auf der Straße nicht ahnt .
Den Tag über betrachtete ich stundenlang das innere häusliche Leben in diesen Höfen ; die grünen Gärtchen in denselben schienen mir kleine Paradiese zu sein , wenn die Nachmittagssonne sie beleuchtete und die weiße Wäsche darin sanft flatterte , und wunderfremd und doch bekannt kamen mir die Leute vor , welche ich fern gesehen hatte , wenn sie plötzlich einmal in unserer Stube standen und mit der Mutter plauderten .
Unser eigenes Höfchen enthielt zwischen hohen Mauern ein ganz kleines Stückchen Rasen mit zwei Vogelbeerbäumchen ; ein nimmermüdes Brünnchen ergoß sich in ein ganz grün gewordenes Sandsteinbecken , und der enge Winkel ist kühl und fast schauerlich , ausgenommen im Sommer , wo die Sonne täglich einige Stunden lang darin ruht .
Alsdann schimmert das verborgene Grün durch den dunklen Hausflur so kokett auf die Gasse , wenn die Haustür aufgeht , daß den Vorübergehenden immer eine Art Gartenheimweh befällt .
Im Herbste werden diese Sonnenblicke kürzer und milder , und wenn dann die Blätter an den zwei Bäumchen gelb und die Beeren brennend rot werden , die alten Mauern so wehmütig vergoldet sind und das Wässerchen einigen Silberglanz dazugibt , so hat dieser kleine abgeschiedene Raum einen so wunderbar melancholischen Reiz , daß er dem Gemüte ein Genüge tut wie die weiteste Landschaft .
Gegen Sonnenuntergang jedoch stieg meine Aufmerksamkeit an den Häusern in die Höhe und immer höher , je mehr sich die Welt von Dächern , die ich von unserem Fenster aus übersah , rötete und vom schönsten Farbenglanze belebt wurde .
Hinter diesen Dächern war für einmal meine Welt zu Ende ; denn den duftigen Kranz von Schneegebirgen , welcher hinter den letzten Dachfirsten halb sichtbar ist , hielt ich , da ich ihn nicht mit der festen Erde verbunden sah , lange Zeit für eins mit den Wolken .
Als ich später zum ersten Male rittlings auf dem obersten Grate unseres hohen , ungeheuerlichen Daches saß und die ganze ausgebreitete Pracht des Sees übersah , aus welchem die Berge in festen Gestalten , mit grünen Füßen aufstiegen , da kannte ich freilich ihre Natur schon von ausgedehnteren Streifzügen im Freien ; für jetzt aber konnte mir die Mutter lange sagen , das seien große Berge und mächtige Zeugen von Gottes Allmacht , ich vermochte sie darum nicht besser von den Wolken zu unterscheiden , deren Ziehen und Wechseln mich am Abend fast ausschließlich beschäftigte , deren Name aber ebenso ein leerer Schall für mich war wie das Wort Berg .
Da die fernen Schneekuppen bald verhüllt , bald heller oder dunkler , weiß oder rot sichtbar waren , so hielt ich sie wohl für etwas Lebendiges , Wunderbares und Mächtiges wie die Wolken und pflegte auch andere Dinge mit dem Namen Wolke oder Berg zu belegen , wenn sie mir Achtung und Neugierde einflößten .
So nannte ich , ich höre das Wort noch schwach in meinen Ohren klingen , und man hat es mir nachher oft erzählt , die erste weibliche Gestalt , welche mir wohlgefiel und ein Mädchen aus der Nachbarschaft war , die weiße Wolke , von dem ersten Eindrucke , den sie in einem weißen Kleide auf mich gemacht hatte .
Mit mehr Richtigkeit nannte ich vorzugsweise ein langes hohes Kirchendach , das mächtig über alle Giebel emporragte , den Berg .
Seine gegen Westen gekehrte große Fläche war für meine Augen ein unermeßliches Feld , auf welchem sie mit immer neuer Lust ruhten , wenn die letzten Strahlen der Sonne es beschienen , und diese schiefe , rotglühende Ebene über der dunklen Stadt war für mich recht eigentlich das , was die Phantasie sonst unter seligen Auen oder Gefilden versteht .
Auf diesem Dache stand ein schlankes , nadelspitzes Türmchen , in welchem eine kleine Glocke hing und auf dessen Spitze sich ein glänzender goldener Hahn drehte .
Wenn in der Dämmerung das Glöckchen läutete , so sprach meine Mutter von Gott und lehrte mich beten ; ich fragte : " Was ist Gott ? ist es ein Mann ? " und sie antwortete :
" Nein , Gott ist ein Geist ! "
Das Kirchendach versank nach und nach in grauen Schatten , das Licht klomm an dem Türmchen hinauf , bis es zuletzt nur noch auf dem goldenen Wetterhahne funkelte , und eines Abends fand ich mich plötzlich des bestimmten Glaubens , daß dieser Hahn Gott sei .
Er spielte auch eine unbestimmte Rolle der Anwesenheit in den kleinen Kindergebeten , welche ich mit vielem Vergnügen herzusagen wußte .
Als ich aber einst ein Bilderbuch bekam , in dem ein prächtig gefärbter Tiger ansehnlich dasitzend abgebildet war , ging meine Vorstellung von Gott allmählich auf diesen über , ohne daß ich jedoch , sowenig wie vom Hahne , je eine Meinung darüber äußerte .
Es waren ganz innerliche Anschauungen , und nur wenn der Name Gottes genannt wurde , so schwebte mir erst der glänzende Vogel und nachher der schöne Tiger vor .
Allmählich mischte sich zwar nicht ein klareres Bild , aber ein edlerer Begriff in meine Gedanken .
Ich betete mein Unservater , dessen Einteilung und Abrundung mir das Einprägen leicht und das Wiederholen zu einer angenehmen Übung gemacht hatte , mit großer Meisterschaft und vielen Variationen , indem ich diesen oder jenen Teil doppelt und dreifach aussprach oder nach raschem und leisem Hersagen eines Satzes den folgenden langsam und laut betonte und dann rückwärts betete und mit den Anfangsworten Vater unser schloß .
Aus diesem Gebete hatte sich eine Ahnung in mir niedergeschlagen , daß Gott ein Wesen sein müsse , mit welchem sich allenfalls ein vernünftiges Wort sprechen ließe , eher als mit jenen Tiergestalten .
So lebte ich in einem unschuldig vergnüglichen Verhältnisse mit dem höchsten Wesen , ich kannte keine Bedürfnisse und keine Dankbarkeit , kein Recht und kein Unrecht und ließ Gott herzlich einen guten Mann sein , wenn meine Aufmerksamkeit von ihm abgezogen wurde .
Ich fand aber bald Veranlassung , in ein bewußteres Verhältnis zu ihm zu treten und zum ersten Mal meine menschlichen Ansprüche zu ihm zu erheben , als ich , sechs Jahre alt , mich eines schönen Morgens in einen melancholischen Saal versetzt sah , in welchem etwa fünfzig bis sechzig kleine Knaben und Mädchen unterrichtet wurden .
In einem Halbkreise mit sieben anderen Kindern um eine Tafel herum stehend , auf welcher große Buchstaben prangten , lauschte ich sehr still und gespannt auf die Dinge , die da kommen sollten .
Da wir sämtlich Neulinge waren , so wollte der Oberschulmeister , ein ältlicher Mann mit einem großen groben Kopfe , die erste Leitung selbst für eine Stunde besorgen und forderte uns auf , abwechselnd die sonderbaren Figuren zu benennen .
Ich hatte schon seit geraumer Zeit einmal das Wort Pumpernickel gehört , und es gefiel mir ungemein , nur wußte ich durchaus keine leibliche Form dafür zu finden , und niemand konnte mir eine Auskunft geben , weil die Sache , welche diesen Namen führt , einige hundert Stunden weit zu Hause war .
Nun sollte ich plötzlich das große P benennen , welches mir in seinem ganzen Wesen äußerst wunderlich und humoristisch vorkam , und es wurde in meiner Seele klar , und ich sprach mit Entschiedenheit :
" Dieses ist der Pumpernickel ! "
Ich hegte keinen Zweifel , weder an der Welt noch an mir , noch am Pumpernickel , und war froh in meinem Herzen ; aber je ernsthafter und selbstzufriedener mein Gesicht in diesem Augenblicke war , desto mehr hielt mich der Schulmeister für einen durchtriebenen und frechen Schalk , dessen Bosheit sofort gebrochen werden müßte , und er fiel über mich her und schüttelte mich eine Minute lang so wild an den Haaren , daß mir Hören und Sehen verging .
Dieser Überfall kam mir seiner Fremdheit und Neuheit wegen wie ein böser Traum vor , und ich machte augenblicklich nichts daraus , als daß ich , stumm und tränenlos , aber voll innerer Beklemmung den Mann ansah .
Die Kinder haben mich von jeher geärgert , welche , wenn sie gefehlt haben oder sonst in Konflikt geraten , bei der leisesten Berührung oder schon bei deren Annäherung in ein abscheuliches Zetergeschrei ausbrechen , das einem die Ohren zerreißt ; und wenn solche Kinder gerade dieses Geschreis wegen oft doppelte Schläge bekommen , so litt ich am entgegengesetzten Extrem und verschlimmerte meine Händel stets dadurch , daß ich nicht imstande war , eine einzige Träne zu vergießen vor meinen Richtern .
Als daher der Schulmeister sah , daß ich nur erstaunt nach meinem Kopfe langte , ohne zu weinen , fiel er noch einmal über mich her , um mir den vermeintlichen Trotz und die Verstocktheit gründlich auszutreiben .
Ich litt nun wirklich ; anstatt aber in ein Geheul auszubrechen , rief ich flehentlich in meiner Angst :
" Sondern erlöse uns von dem Bösen ! " und hatte dabei Gott vor Augen , von dem man mir so oft gesagt hatte , daß er dem Bedrängten ein hilfreicher Vater sei .
Für den guten Lehrer aber war dies zu stark ; der Fall war nun zum außerordentlichen Ereignisse gediehen , und er ließ mich daher stracks los , mit aufrichtiger Bekümmernis darüber nachdenkend , welche Behandlungsart hier angemessen sei .
Wir wurden für den Vormittag entlassen , der Mann führte mich selbst nach Hause .
Erst dort brach ich heimlich in Tränen aus , indem ich abgewandt am Fenster stand und die ausgerissenen Haare aus der Stirn wischte , während ich anhörte , wie der Mann , der mir im Heiligtum unserer Stube doppelt fremd und feindlich erschien , eine ernsthafte Unterredung mit der Mutter führte und versichern wollte , daß ich schon durch irgendein böses Element verdorben sein müßte .
Sie war nicht minder erstaunt als wir beiden anderen , indem ich , wie sie sagte , ein durchaus stilles Kind wäre , welches bisher noch nie aus ihren Augen gekommen sei und keine groben Unarten gezeigt hätte .
Allerlei seltsame Einfälle hätte ich allerdings bisweilen , aber sie schienen nicht aus einem schlimmen Gemüte zu kommen , und ich müßte mich wohl erst ein wenig an die Schule und ihre Bedeutung gewöhnen .
Der Lehrer gab sich zufrieden , doch mit Kopfschütteln , und war innerlich überzeugt , wie sich aus wiederholten Fällen ergab , daß ich gefährliche Anlagen zeige .
Er sagte auch sehr bedeutsam beim Abschiede , daß stille Wasser gewöhnlich tief wären .
Dieses Wort habe ich seither in meinem Leben öfter hören müssen , und es hat mich immer gekränkt , weil es keinen größeren Plauderer gibt als mich , wenn ich zutraulich bin .
Ich habe aber bemerkt , daß viele Menschen , welche immer das große Wort führen , aus denen nie klug werden , welche ihretwegen nie zu Worte kommen ; sie fassen dann ein ungünstiges Vorurteil , sobald sie mit Schwatzen fertig sind und es still geworden ist .
Sprechen jene aber einmal unerwarteterweise , so kommt es ihnen noch verdächtiger vor .
Im Umgange mit stillen Kindern aber kann es ein wahres Unglück werden , wenn die großen Schwätzer sich nicht anders zu helfen wissen als mit dem Gemeinplatze Stille Wasser sind tief !
Am Nachmittage wurde ich wieder in die Schule geschickt , und ich trat mit großem Mißtrauen in die gefährlichen Hallen , welche die Verwirklichung seltsamer und beängstigender Träume zu sein schienen .
Ich bekam aber den bösen Schulmann nicht zu Gesicht ; er hielt sich in einem Verschlage auf , welcher eine Art Geheimzimmer vorstellte und ihm zur Einnahme von kleinen Kollationen diente .
An der Türe dieses Verschlages befand sich ein rundes Fensterchen , durch welches der Tyrann öfters den Kopf zu stecken pflegte , wenn draußen ein Geräusch entstand .
Die Glasscheibe dieses Fensterchens fehlte seit geraumer Zeit , so daß er durch den leeren Rahmen sein Haupt weit in die Schulstube hineinstrecken konnte zur sattsamen Umsicht .
An diesem verhängnisvollen Tage nun hatte der Hausmeister gerade während der Mittagszeit die fehlende Scheibe ersetzen lassen , und ich schielte eben ängstlich nach derselben , als sie mit hellem Klirren zersprang und der umfangreiche Kopf meines Widersachers hindurchfuhr .
Die erste Bewegung in mir war ein Aufjauchzen der herzlichsten Freude , und erst als ich sah , daß er übel zugerichtet war und blutete , da wurde ich betreten , und es wurde zum dritten Male klar in meiner Seele , und ich verstand die Worte Und vergib uns unsere Schulden , wie auch wir vergeben unseren Schuldigern !
So hatte ich an diesem ersten Tage schon viel gelernt ; zwar nicht , was der Pumpernickel sei , wohl aber , daß man in der Not einen Gott anrufen müsse , daß derselbe gerecht sei und uns zu gleicher Zeit Lehre , keinen Haß und keine Rache in uns zu tragen .
Aus dem Gebote , seinen Beleidigern zu vergeben , entsteht , wenn es befolgt wird , von selbst die Kraft , auch seine Feinde zu lieben ; denn für die Mühe welche uns jene Überwindung kostet , fordern wir einen Lohn , und dieser liegt zunächst und am natürlichsten in dem Wohlwollen , welches wir dem Feinde schenken da er uns einmal nicht gleichgültig bleiben kann .
Wohlwollen und Liebe können nicht gehegt werden , ohne den Träger selbst zu veredeln , und sie tun dieses am glänzendsten , wenn sie dem gelten , was man einen Feind oder Widersacher nennt .
Diese eigentümlichste Hauptlehre des Christentums fand eine große Empfänglichkeit in mir vor , da ich , leicht verletzt und aufgebracht , immer ebenso schnell bereit war zu vergessen und zu vergeben , und es hat mich später , als mein Sinn sich der Offenbarungslehre zu verschließen anfing , lebhaft beschäftigt zu ermitteln , inwiefern jenes Gesetz nur der Ausdruck eines schon in der Menschheit vorhandenen und erkannten Bedürfnisses sei ; denn ich sah , daß es nur von einem bestimmten Teile der Menschen rein und uneigennützig befolgt wurde , von denjenigen nämlich , welche ihre natürlichen Gemütsanlagen dazu trieben .
Die anderen , welche ihr ursprüngliches Rachegefühl überwanden und auf das Vergeltungsrecht mit Mühe verzichteten , schienen mir oft dadurch mehr Vorteil über ihren Feind zu gewinnen , als sich mit dem Begriffe der reinen Selbstentäußerung vertrug ; weil zufolge der tiefen Vernunft und Klugheit , die zugleich im Verzeihen liegt , der Widersacher allein es ist , welcher sich in seiner unfruchtbaren Wut aufreibt und vernichtet .
Dies Verzeihen ist es auch , was in großen geschichtlichen Kämpfen die Überlegenheit des Siegers , nachdem er einen Handel männlich ausgefochten hat , vermehrt und beurkundet , daß dieselbe auch moralisch eine reifgewordene ist .
So ist das Schonen und Aufrichten des gebeugten Gegners mehr Sache der allgemeinen Weltweisheit ; das eigentliche Lieben aber des Feindes , in voller Blüte und solange er uns Schaden zufügt , habe ich nirgends gesehen .
Viertes Kapitel Lob Gottes und der Mutter .
Vom Beten Im Verlaufe der ersten Schuljahre fand ich nun häufige Gelegenheit , meinen Verkehr mit Gott zu erweitern , da die kleinen Erlebnisse sich vermehrten .
Ich hatte mich bald in den Weltlauf ergeben und tat , wie die anderen Kinder , was ich nicht lassen konnte .
Dadurch war ich abwechselnd zufrieden und geriet in Bedrängnis , wie es das Wohlverhalten oder die Vernachlässigung meiner Pflichten nebst allerhand kindischem Unfuge mit sich brachten .
In jeder üblen Lage aber rief ich Gott an und betete in meinem Inneren in wenigen wohlgesetzten Worten , wenn die Krisis zu reifen begann , um eine günstige Entscheidung und um Rettung aus der Gefahr , und ich muß zu meiner Schande gestehen , daß ich immer entweder das Unmögliche oder das Ungerechte verlangte .
Oft war es der Fall , daß meine Sünden übersehen wurden ; und alsdann ließ ich es nicht an herzlichen Dankgebeten aus dem Stegreife fehlen , welche um so vergnüglicher waren , als mir der Sinn für die Verdientheit der Strafe so lange verschlossen blieb , bis ich bewußte Fehler beging .
So bestand der Stoff meiner Anrufungen aus der wunderlichsten Mischung das eine Mal bat ich um die gelungene Probe eines schwierigen Rechenexempels oder daß der Vor gesetzte für einen Tintenklecks in meinem Hefte mit Blindheit geschlagen werde ; das andere Mal , ein zweiter Josua , um Still stand der Sonne , wenn ich mich zu verspäten drohte , oder auch um Erlangung eines fremden leckeren Backwerkes .
Als die Jungfrau , welche ich die weiße Wolke nannte , einst für lange Zeit verreiste und eines Abends bei uns Abschied nahm , während ich schon in meinem Bettchen lag , jedoch alles hörte , bat ich meinen himmlischen Vater in sehnlichen Ausdrücken , er möchte bewirken , daß sie mich hinter meinen Vorhängen nicht vergesse und noch einmal tüchtig küsse .
Ich schlief über der steten Wiederholung des gleichen kurzen Satzes endlich ein und weiß zur Stunde noch nicht , ob meine Bitte in Erfüllung gegangen ist .
Eines Tages wurde ich zur Strafe über die Mittagszeit in der Schule zurückbehalten und eingeschlossen , so daß ich erst auf den Abend zu essen bekam .
Das war das erste Mal , wo ich den Hunger kennen und zugleich die Ermahnungen meiner Mutter verstehen lernte , welche mir Gott vorzüglich als den Erhalter und Ernährer jeglicher Kreatur anpries und als den Schöpfer unseres schmackhaften Hausbrotes darstellte , der Bitte gemäß Gib uns heute unser tägliches Brot !
Überhaupt gewann ich für die Nahrungsdinge Interesse und manche Einsicht in die Beschaffenheit derselben , indem ich fast ausschließlich den Verkehr von Frauen mit ansah , dessen Hauptinhalt der Erwerbe und die Besprechung von Lebensmitteln war .
Auf meinen Wanderungen durch das Haus drang ich allmählich tiefer in den Haushalt der Mitbewohner ein und ließ mich oft aus ihren Schüsseln bewirten , und undankbarerweise schmeckten mir die Speisen überall besser als bei meiner Mutter .
Jede Hausfrau verleiht , auch wenn die Rezepte ganz die gleichen sind , doch ihren Speisen durch die Zubereitung einen besonderen Geschmack , welcher ihrem Charakter entspricht .
Durch eine kleine Bevorzugung eines Gewürzes oder eines Krautes , durch größere Fettigkeit oder Trockenheit , Weichheit oder Härte bekommen alle ihre Speisen einen bestimmten Charakter , welcher das genäschige oder nüchterne , weichliche oder spröde , hitzige oder kalte , das verschwenderische oder geizige Wesen der Köchin ausspricht , und man erkennt sicher die Hausfrau aus den wenigen Hauptspeisen des Bürgerstandes ; ich meinerseits , als ein frühzeitiger Kenner , habe aus einer bloßen Fleischbrühe den Instinkt geschöpft , wie ich mich zu der Meisterin derselben zu verhalten habe .
Die Speisen meiner Mutter hingegen ermangelten sozusagen aller und jeder Besonderheit .
Ihre Suppe war nicht fett und nicht mager , der Kaffee nicht stark und nicht schwach , sie verwendete kein Salzkorn zuviel , und keines hat je gefehlt ; sie kochte schlecht und recht , ohne Manieriertheit , wie die Künstler sagen , in den reinsten Verhältnissen ; man konnte von ihren Speisen eine große Menge genießen , ohne sich den Magen zu verderben .
Sie schien mit ihrer weisen und maßvollen Hand , am Herde stehend , täglich das Sprichwort zu verkörpern Der Mensch ißt , um zu leben , und lebt nicht , um zu essen !
Nie und in keiner Weise war ein Überfluß zu bemerken und ebensowenig ein Mangel .
Diese nüchterne Mittelstraße langweilte mich , der ich meinen Gaumen dann und wann anderswo bedeutend reizte , und ich begann über ihre Mahlzeiten eine scharfe Kritik zu üben , sobald ich satt und die letzte Gabel voll vertilgt war .
Da ich mit meiner Mutter immer allein bei Tische saß und sie lieber auf Gespräch und Unterhaltung dachte als auf ein genaues Erziehungssystem , so wies sie mich nicht kurz und strafend zur Ruhe , sondern widerlegte mich mit Beredsamkeit und stellte mir hauptsächlich vor , auf Menschenschicksale und Lebensläufe übergehend , wie ich vielleicht eines Tages froh sein würde , an ihrem Tische zu sitzen und zu essen ; dann werde sie aber nicht mehr dasein .
Obgleich ich dazumal nicht recht einsah , wie das zugehen sollte , so wurde ich doch jedesmal gerührt und von einem geheimen Grauen ergriffen und so für einmal geschlagen .
Machte sie alsdann auch noch auf die Undankbarkeit aufmerksam , welche ich gegen Gott beging , indem ich seine guten Gaben tadelte , so hütete ich mich mit einer heiligen Scheu , den allmächtigen Geber ferner zu beleidigen , und versank in Nachdenken über seine trefflichen und wunderbaren Eigenschaften .
Nun geschah es aber , daß in dem Maße , als ich ihn deutlicher erfaßte und sein Wesen mir unentbehrlicher und ersprießlicher wurde , mein Umgang mit Gott sich verschämt zu verschleiern begann und , als meine Gebete einen gewissen Sinn erhielten , mich eine wachsende Scheu beschlich , sie laut herzusagen .
Meine Mutter war eines einfallen und nüchternen Gemütes und nichts weniger als das , was man eine warm andächtige Frau nennt , sondern schlechthin gottesfürchtig .
Ihr Gott war nicht der Befriediger und Erfüller einer Menge dunkler und drangvoller Herzensbedürfnisse , sondern klar und einfach der vorsorgende und erhaltende Vater , die Vorsehung .
Ihr gewöhnliches Wort war Wer Gott vergißt , den vergißt er auch ; von der inbrünstigen Gottesliebe dagegen hörte ich sie nie reden .
Desto eifriger aber hielt sie darauf ; es wurde ihr in unserer Verlassenheit für die lange und dunkle Zukunft eine Hauptsache , daß Gott , der Ernährer und Beschützer , mir immer vor Augen sei , und sie legte mit andauernder Sorge den Grund zu einem lebendigen Gottvertrauen in mich .
Infolge dieses rührenden Bestrebens und auf das Zureden einer nichtsnutzigen Heuchlerin wollte sie eines Sonntags , als wir uns eben zu Tische gesetzt hatten , das Tischgebet einführen , welches bis dahin nicht üblich gewesen in unserem Hause , und sagte mir zu diesem Zwecke ein kleines altes Volksgebet vor , mit der Aufforderung , es jetzt und in Zukunft nachzubeten .
Aber wie erstaunte sie , als ich nur die ersten Worte trocken hervorbrachte und dann plötzlich verstummte und nicht weiterkonnte !
Das Essen dampfte auf dem Tische , es war ganz still in der Stube , die Mutter wartete , aber ich brachte keinen Laut hervor .
Sie wiederholte ihr Verlangen , aber ohne Erfolg ; ich blieb stumm und niedergeschlagen , und sie ließ es für diesmal bewenden , da sie mein Benehmen für eine gewöhnliche Kinderlaune hielt .
Am folgenden Tage wiederholte sich der Auftritt , und sie wurde nun ernstlich bekümmert und sagte : " Warum willst du nicht beten ?
Schämst du dich ? "
Das war nun zwar der Fall , ich vermochte es aber nicht zu bejahen , weil , wenn ich es getan , es doch nicht wahr gewesen wäre in dem Sinne , wie sie es verstand .
Der gedeckte Tisch kam mir vor wie ein Opfermal , und das Händefalten nebst dem feierlichen Beten vor den duftenden Schüsseln wurde zu einer Zeremonie , welche mir alsobald unbesieglich , widerstand .
Es war nicht Scham vor der Welt , wie es der Priester zu nennen pflegt ; denn wie sollte ich mich vor der einzigen Mutter schämen , vor welcher ich , bei ihrer Milde nichts zu verbergen gewohnt war ?
Es war Scham vor mir selber ; ich konnte mich selbst nicht sprechen hören und habe es auch nie mehr dazu gebracht , in der tiefsten Einsamkeit und Verborgenheit laut zu beten .
" Nun sollst du nicht essen , bis du gebetet hast ! " sagte die Mutter , und ich stand auf und ging vom Tische weg in eine Ecke , wo ich in grolle Traurigkeit verfiel , die mit einigem Trotze vermischt war .
Meine Mutter aber blieb sitzen und tat so , als ob sie essen würde , obgleich sie es nicht konnte , und es trat eine Art düsterer Spannung zwischen uns ein , wie ich sie noch nie gefühlt hatte und die mir das Herz beklemmte .
Sie ging schweigend ab und zu und räumte den Tisch ab ; als jedoch die Stunde nahte , wo ich wieder zur Schule gehen sollte , brachte sie mein Essen , indem sie sich die Augen wischte , als ob ein Stäubchen darin wäre , wieder herein und sagte : " Da kannst du essen , du eigensinniges Kind ! " worauf ich meinerseits unter einem Ausbruche von Schluchzen und Tränen mich hinsetzte und es mir tapfer schmecken ließ , sobald die heftige Bewegung nachließ .
Auf dem Wege zur Schule ließ ich es nicht an einem vergnügten Dankseufzer fehlen für die glückliche Befreiung und Versöhnung .
Als ich in späteren Jahren im Heimatdorfe auf Besuch war , wurde ich an das Ereignis lebhaft erinnert durch eine Geschichte , welche sich vor mehr als hundert Jahren mit einem Kinde dort zugetragen hatte und einen tiefen Eindruck auf mich machte .
In einer Ecke der Kirchhofmauer war eine kleine steinerne Tafel eingelassen , welche nichts als ein halbverwittertes Wappen und die Jahrzahl 1713 trug .
Die Leute nannten diesen Platz das Grab des Hexenkindes und erzählten allerlei abenteuerliche und fabelhafte Geschichten von demselben , wie es ein vornehmes Kind aus der Stadt , aber in das Pfarrhaus , in welchem dazumal ein gottesfürchtiger und strenger Mann wohnte , verbannt gewesen sei , um von seiner Gottlosigkeit und unbegreiflich frühzeitigen Hexerei geheilt zu werden .
Dieses sei aber nicht gelungen ; vorzüglich habe es nie dazu gebracht werden können , die drei Namen der höchsten Dreieinigkeit auszusprechen , und sei in dieser gottlosen Halsstarrigkeit verblieben und elendiglich verstorben .
Es sei ein außerordentlich feines und kluges Mädchen in dem zarten Alter von sieben Jahren und dessenungeachtet die allerärgste Hexe gewesen .
Besonders hätte es erwachsene Mannspersonen verführt und es ihnen angetan , wenn es sie nur angeblickt , daß selbe sich sterblich in das kleine Kind verliebt und seinetwegen böse Händel angefangen hätten .
Sodann hätte es seinen Unfug mit dem Geflügel getrieben und insbesondere alle Tauben des Dorfes auf den Pfarrhof gelockt und selbst den frommen Herrn verhext , daß er dieselben öfters einbehalten , gebraten und zu seinem Schaden gespeist habe .
Selbst die Fische im Wasser habe es gebannt , indem es tagelang am Ufer saß und die alten klugen Forellen verblendete , daß sie bei ihm verweilten und in großer Eitelkeit vor ihm herumschwänzelten , sich in der Sonne spiegelnd .
Die alten Frauen pflegten diese Sage als Schreckmännchen für die Kinder zu gebrauchen , wenn sie nicht fromm waren , und fügten noch viele seltsame und phantastische Züge hinzu .
Im Pfarrhause hingegen hing wirklich ein altes dunkles Ölgemälde , das Bildnis dieses merkwürdigen Kindes enthaltend .
Es war ein außerordentlich zart gebautes Mädchen in einem blaugrünen Damastkleide , dessen Saum in einem weiten Kreise starrte und die Füßchen nicht sehen ließ .
Um den schlanken feinen Leib war eine goldene Kette geschlungen und hing vorn bis auf den Boden herab .
Auf dem Haupte trug es einen kronenartigen Kopfputz aus flimmernden Gold- und Silberflittern , von seidenen Schnüren und Perlen durchflochten .
In seinen Händen hielt das Kind den Totenschädel eines anderen Kindes und eine weiße Rose .
Noch nie habe ich aber ein so schönes , liebliches und geistreiches Kinderantlitz gesehen wie das blasse Gesicht dieses Mädchens ; es war eher schmal als rund , eine tiefe Trauer lag darin , die glänzenden dunklen Augen sahen voll Schwermut und wie um Hilfe flehend auf den Beschauer , während um den geschlossenen Mund eine leise Spur von Schalkheit oder lächelnder Bitterkeit schwebte .
Ein schweres Leiden schien dem ganzen Gesichte etwas Frühreifes und Frauenhaftes zu verleihen und erregte in dem Beschauenden eine unwillkürliche Sehnsucht , das lebendige Kind zu sehen , ihm schmeicheln und es liebkosen zu dürfen .
Es war auch der Erinnerung des alten Dorfes unbewußt lieb und wert , und in den Erzählungen und Sagen von ihm war ebensoviel unwillkürliche Teilnahme als Abscheu zu bemerken .
Die eigentliche Geschichte war nun die , daß das kleine Mädchen , einer adeligen , stolzen und höchst orthodoxen Familie angehörig , eine hartnäckige Abneigung gegen Gebet und Gottesdienst jeder Art zeigte , die Gebetbücher zerriß , welche man ihm gab , im Bette den Kopf in die Decke hüllte , wenn man ihm vorbetete , und kläglich zu schreien anfing , wenn man es in die düstere , kalte Kirche brachte , wo es sich vor dem schwarzen Manne auf der Kanzel zu fürchten vorgab .
Es war ein Kind aus einer unglücklichen ersten Ehe und mochte sonst schon ein Stein des Anstoßes sein .
So beschloß man , als es durch keine Mittel von der unerklärlichen Unart abgebracht werden konnte , das Kind jenem wegen seiner Strenggläubigkeit berühmten Pfarrherrn versuchsweise in Pflege zu geben .
Wenn schon die Familie die Sache als ein befremdliches und ihrem Rufe Unehre bringendes Unglück auffaßte , so betrachtete der dumpfe , harte Mann dieselbe vollends als eine unheilvolle infernalische Erscheinung , welcher mit aller Kraft entgegenzutreten sei .
Demgemäß nahm er seine Maßregeln , und ein altes vergilbtes " diarium " , von ihm herrührend und im Pfarrhause aufbewahrt , enthält einige Notizen , welche über sein Verfahren sowie das weitere Schicksal des unglücklichen Geschöpfes hinreichenden Aufschluß geben .
Folgende Stellen habe ich mir ihres seltsamen Inhaltes wegen abgeschrieben und will sie diesen Blättern einverleiben und so die Erinnerung an jenes Kind in meinen eigenen Erinnerungen aufbewahren , da sie sonst verlorengehen würde .
Fünftes Kapitel Das Meretlein " Heute habe ich von der hochgeborenen und gottesfürchtigen Frau von M. das schuldende Kostgeld für das erste Quartal richtig erhalten , alsogleich quittiert und Bericht erstattet .
Ferner der kleinen Meret ( Emerentia ) ihre wöchentlich zukommende Korrektion erteilt und verscherpft , indem sie auf die Bank legte und mit einer neuen Ruten züchtigte , nicht ohne Lamentieren und Seufzen zum Herren , daß Er das traurige Werk zu einem guten Ende führen möge .
Hat die Kleine zwar jämmerlich geschrien und de- und wehmütig um Pardon gebeten , aber nichts desto weniger nachher in ihrer Verstocktheit verharret und das Liederbuch verschmähet , so ich ihr zum Lernen vorgehalten . Habe sie derowegen kürzlich verschnaufen lassen und dann in Arrest gebracht in die dunkle Speckkammer , wo sie gewimmert und geklagt , dann aber still geworden ist , bis sie urplötzlich zu singen und jubilieren angefangen , nicht anders wie die drei seligen Männer im Feuerofen , und habe ich zugehöret und erkennt , daß sie die nämliche versifizierten Psalmen gesungen , so sie sonsten zu lernen refüsierte , aber in so unnützlicher und weltlicher Weise , wie die törichten und einfältigen Ammen- und Kindslieder haben ; so daß ich solches Gebaren für eine neue Schalkheit und Mißbrauch des Teufels zu nehmen gezwungen wurde . "
Ferner : " Ist ein höchst lamentables Schreiben arriviert von Madame , welche in Wahrheit eine fürtreffliche und rechtgläubige Person ist .
Sie hat besagten Brief mit ihren Tränen benetzet und mir auch die große Bekümmernis des Herren Gemahls vermeldet , daß es mit der kleinen Meret nicht besser gehen will .
Und ist dieses gewißlich eine große Kalamität , so diesem hochansehnlichen und berühmten Geschlecht zugestoßen und möchte man der Meinung sein , mit Respekt zu sagen , daß sich die Sünden des Herren Großpapa väterlicher Seits , welches ein gottloser Wüterich und schlimmer Kavalier war , an diesem armseligen Geschöpflein vermerken lassen und rechen . Habe mein Traktament mit der Kleinen changiert und will nunmehr die Hungerkur probieren .
Auch habe ich ein Röcklein von grobem Sacktuch durch meine Ehefrau selbst anfertigen lassen und verboten , der Meret ein ander Habit anzulegen , sintemal diese Bußkleidung ihr am besten konveniert .
Verstocktheit auf dem gleichen Puncto . "
" Sah mich heute gezwungen , die kleine Demoiselle von allem Verkehr und Unterhalt mit denen Baurenkindern abzusperren , weil sie mit selbigen in das Holz gelaufen , allda gebadet im Holzweiher , das Bußhemdlein , so ich ihr ordinieret , an ein Baumast gehenkt hat und nackend davor gesprungen und getanzt und auch ihre Gespanen zu frechem Spott und Unfug aufgereizt .
Beträchtliche Korrektion . "
" Heute ein großer Spektakel und Verdruß .
Kam ein großer , starker Schlingel , der junge Müllerhanse , und richtete mir Händel an von wegen der Meret , welche er alltäglich schreien und heulen zu hören vorgegeben , und disputierte ich mit demselben , als auch der junge Schulmeister , der Tropf , herankam und drohte , mich zu verklagen , und fiel über die schlimme Kreatur her , herzte und küsste sie etc. etc. Ließ den Schulmeister alsochgleich arretieren und zum Landvogt führen .
Dem Müllerhanse muß ich auch noch beikommen , obgleich selbiger reich und gewalttätig ist .
Möchte bald selber glauben , was die Bauersleute sagen , daß das Kind eine Hexe sei , wenn diese Opinion nicht der Vernunft widerspräche .
Jeden Falls steckt der Teufel in ihr und habe ich ein schlimmes Stück Arbeit übernommen . "
" Diese ganze Woche habe ich einen Maler im Hause traktiert , so mir Madame übersendet , damit er das Porträt der kleinen Fräulein anfertige .
Die bedrängte Familie will das Geschöpfe nicht mehr zu sich nehmen und allein zum traurigen Angedenken und zur bußfertigen Anschauung , auch von wegen der großen Schönheit des Kindes , ein Konterfei behalten .
Insbesondere will der Herr nicht von dieser Idee lassen .
Meine Ehefrau verabreicht dem Maler alltäglich zwei Schoppen Wein , woran er nicht genug zu haben scheinet , da er allabendlich in den roten Löwen geht und dort mit dem Chirurg spielet .
Ist ein hochfahrendes Subjekt und setze ihm daher öfter ein Schnepfen oder ein Hechtlein vor , welches in dem Quartal Conto der Madame zu vermerken ist .
Wollte anfänglich mit der Kleinen sein Wesen und Freundlichkeit treiben und hat sie sich sogleich an ihn attachiert , daher ich ihm bedeutet habe , mir in meinem Procedere nicht zu intervenieren .
Wie man der Kleinen ihr verwahrte Habit und Sonntagsstaat hervorgeholt und angelegt nebst der Schapell und der Gürteln , so hat sie großen Plaisir gezeigt und zu tanzen begonnen Diese ihre Freude ist aber bald verbittert worden , als ich nach dem Befehl der Frau Mama 1 Totenschädel hohlen ließe und in die Hand zu tragen gab , welchen sie partout nicht nehmen wollen und hernachmalen weinend und zitternd in der Hand gehalten , wie wenn es ein feurig Eisen wäre .
Zwar hat der Maler behauptet , er könne den Schädel aufwendig malen , weil solcher zu denen allerersten Elementen seiner Kunst gehöre , habe es aber nicht zugegeben , sintemal Madame geschrieben hat :
» Was das Kind leidet , das leiden auch wir , und ist uns in seinem Leiden selbst Gelegenheit zur Buße gegeben , so wir für ihn es tun können ; deshalb brechen Ew. Wohlehrwürden in Nichts ab , Eure Fürsorge und Edukation betreffend .
Wenn das Töchterlein dereinst , wie ich zum allmächtigen und barmherzigen Gott verhoffe , hier oder dort erleuchtet und gerettet sein wird , so wird es unzweifelhaft sich höchlich erfreuen , ein gutes Teil seiner Buße schon mit seiner Verstocktheit abgetan zu haben , welche über ihn_es zu verhängen der unerforschliche Meister beliebt hat ! «
Diese tapferen Worte vor Augen , habe ich auch diese Gelegenheit für dienlich erachtet , der Kleinen mit dem Schädel eine ernsthafte Buße anzutun .
Man hat übrigens einen kleinen leichten Kindsschädel gebraucht , dieweil der Maler sich beschwert , daß der große Mannsschädel zu unförmlich sei für die kleinen Händlein , in Betracht seiner Kunst-Regula , und hat sie denselben nachher lieber gehalten ; auch hat ihr der Maler ein weißes Röschen dazugesteckt , was ich wohl leiden mochte , weil es als ein gutes Symbol gelten kann . "
" Habe heute plötzlich ein Contreordre erhalten in Betreff des Tableau und soll nun selbiges nicht nach der Stadt spedieren , sondern hier behalten .
Es ist Schad um die brave Arbeit , so der Maler gemacht hat , weil er ganz charmiert war von der Anmut des Kinds .
Hätte ich es früher gewußt , so hätte der Mann für diesen Kostenaufwand mein eigen Konterfei auf das Tuch malen können , wenn die schönen Viktualien nebst Lohn einmal drauf gehen sollen . "
" Es ist mir fernerer Befehl zu Händen gekommen , mit aller weltlichen Instruktion abzubrechen , besonders mit dem Französischen , da solches nicht mehr nötig erachtet werde , so wie auch meine Gemahlin den Unterricht auf dem Spinett sistieren solle , was der Kleinen leid zu tun scheinet .
Vielmehr soll ich sie fortan als ein einfaches Pflegekind traktieren und allein vorsorgen , daß sie kein öffentlich Ärgernis gebe . "
" Vorgestern ist uns die kleine Meret desertiert und haben wir große Angst empfunden , bis daß sie heute Mittag um 12 Uhr zu Oberst auf dem Buchenloo ausgespürt wurde , wo sie entkleidet auf ihrem Bußehabit an der Sonne saß und sich bass wärmte .
Sie hatte ihr Haar ganz aufgeflochten und ein Kränzlein von Buchenlaub darauf gesetzt , so wie ein dito Schärpen um den Leib gehenkt , auch ein Quantum schöner Erdbeeren vor sich liegen gehabt , von denen sie ganz voll und rundlich gegessen war .
Als sie unser ansichtig wurde , wollte sie wiederum Reißaus nehmen , schämte sich aber ihrer Blöße und wollte ihr Habitlein überziehen , daher wir sie glücklich attrapiret .
Sie ist nun krank und scheinet confuse zu sein , da sie keine vernünftige Antwort gibt . "
" Mit dem Meretlein geht es wiederum besser , jedoch ist sie mehr und mehr verändert und wird des Gänzlichen dumm und stumm .
Die Konsultation des herbeigerufenen Medici verlautet dahin , daß sie irr- oder blödsinnig werde und nunmehr der medizinischen Behandlung anheim zu stellen sei ; er offerierte sich auch zu derselbigen und hat verheißen , das Kind wieder auf die Beine zu bringen , wenn es in seinem Hause plaziert würde .
Ich merke aber schon , daß es dem Monsieur Chirurg nur um die gute Pension nebst denen Präsenten von Madame zu tun sei , und berichtete deshalb , was ich für gut befunden , nämlich daß der Herr seinen Plan nunmehr an ein Ende zu führen scheine mit seiner Kreatur und daß Menschenhände hieran Nichts changieren möchten und dürften , wie es in Wirklichkeit auch ist . "
Nach Überschlagung von fünf bis sechs Monaten heißt es weiter :
" Es scheinet dieses Kind in seinem blöden Zustande einer trefflichen Gesundheit zu genießen und hat ganz muntere rote Backen bekommen .
Hält sich nun den ganzen Tag in den Bohnen auf , wo man sie nicht sieht und weiter nicht um sie bekümbert , zumalen sie weiter kein Ärgernis gibt . "
" Das Meretlein hat sich in Mitten des Bohnenplatz ein kleinen Salon arrangiert , so man entdecket , und hat dorten artliche Visites akzeptiert von denen Baurenkindern , welche ihm Obst und andere Victualia zugeschleppt , so sie gar zierlich vergraben und in Vorrat gehalten hat .
Daselbst hat man auch jenen kleinen Kindsschädel begraben gefunden , welcher längst abhanden gekommen und daher dem Küster nicht restituiert werden konnte .
Dergleichen auch die Spatzen und andere Vögel herbeigezogen und zahm gemacht , daß die den Bohnen viel Abbruch getan und ich jedoch nicht mehr in die Bohnenstauden schießen können , von wegen der kleinen Insasse .
Item hat sie mit einer giftigen Schlangen ihr Spiel gehabt , welche durch den Hag gebrochen und sich bei ihr eingenistet ; in summa , man hat sie wieder ins Haus nehmen und inne behalten müssen . "
" Die roten Backen sind wiederum von ihr gewichen und behauptet der Chirurg , sie werde es nicht mehr lang prästieren . Habe auch schon an die Eltern geschrieben . "
" Heute vor Tag schon muß das arme Meretlein aus seinem Bettlein entkommen , in die Bohnen hinaus geschlichen und dort verschieden sein ; denn wir haben sie dort für tot gefunden in einem Grüblein , so sie in den Erdboden hineingewühlt , als ob sie hineinschlüpfen wollen .
Sie ist ganz gestabet gewesen und ihr Haar so wie ihr Hemdlein feucht und schwer vom Tau , als welcher auch in lauteren Tropfen auf ihren fast rötlichen Wangchen gelegen , nicht anders denn auf einem Apfelblust .
Und haben wir einen heftigen Schrecken bekommen und bin ich in große Verlegenheit und Konfusion geraten den heutigen Tag , dieweil die Herrschaft aus der Stadt angelanget , just wie meine Ehefrau verreiset ist nach K. , um allda einiges Konfekt und Provision einzukaufen , damit die Herrschaften höflichst zu traktieren .
Wußte deshalb nicht , wo mir der Kopf gestanden und war ein großes Rennen und Laufen , und sollten die Mägde das Leichlein waschen und ankleiden und zugleich für ein guten Imbiß sorgen .
Endlich habe ich den grünen Schinken braten lassen , so meine Frau vor acht Tagen in Essig gelegt , und hat der Jakob drei Stück von denen zahmen Forellen gefangen , welche noch hin und wieder an den Garten kommen , obgleich man die selige ( ?! ) Meret nicht mehr zum Wasser hinaus gelassen . Habe zum Glück mit diesen Speisen noch ziemliche Ehre eingelegt und haben dieselbigen der Madame wohl geschmeckt .
Ist eine große Traurigkeit gewesen und haben wir mehr denn zwei Stunden in Gebet und Todesbetrachtungen verbracht , desgleichen in melancolischen Reden von der unglückseligen Krankhaftigkeit des verstorbenen Mägdleins , da wir nun annehmen müssen zu unserem vermehrten Trost , daß selbe in einer fatalen Disposition des Bluts und Gehirns ihren Ursprung gehabt .
Daneben haben wir auch von den sonstigen großen Gaben des Kinds geredet und von seinen oftmaligen klugen und anmutigen Einfällen und Impromptus und Alles nicht zusammenreimen können in unserer irdischen Kurzsichtigkeit .
Morgens am Vormittag wird man dem Kind ein Christlich Begräbnis geben und ist die Präsenz der fürnehmen Eltern dazu kommlich , ansonsten die Paaren sich widersetzen möchten . "
" Dieses ist der allerwunderbarste und schreckhafteste Tag gewesen , nicht nur allein seit wir mit dieser unseligen Kreatur zu schaffen , sondern der mir überhaupt in meiner ruhsamen Existenz aufgestoßen ist .
Denn als die Stunde gekommen und es zehn Uhr geschlagen , haben wir uns hinter dem Leichlein her in Bewegung gesetzt und nach dem Gottesacker begeben , indessen der Sigrist die kleine Glocken geläutet , was er aber nicht mit sehrem Fleiße getan , dieweil es fast erbärmlich geklungen und das Geläute zur Halbpart vom starken Winde verschlungen worden , der unwirsch geweht hat .
Und war auch der Himmel ganz dunkel und schwül , so wie der Kirchhof von Menschen entblößet außer unserer kleinen Compagnie , hingegen außerhalb denen Mauren die ganze Baursame vereiniget und hat neugierig die Köpfe herüber gereckt .
Wie man aber so eben das Totenbäumlein in das Grab hinunter senken wollen , hat man ein seltsamen Schrei gehört aus dem Totenbäumlein hervor , so daß Wir auf das Heftigste erschrocken sind und der Totengräber auf und davon gesprungen ist .
Der Chirurg aber , welcher auch herzugeloffen , hat schleunigst den Deckel losgemacht und abgehoben , und hat sich das Tödlein als lebendig aufgerichtet und ist ganz behende aus dem Gräblein gekrochen und hat uns angeblickt .
Und wie im selbigen Moment die Strahlen Phöbi seltsam und stechend durch die Wolken gedrungen , so hat es in seinem gelblichen Brokat und mit dem glitzrigen Krönlein ausgesehen wie ein Feyen- oder Koboldskind .
Die Frau Mama ist alsobald in eine starke Ohnmacht verfallen und der Herr v. M. weinend zur Erde gestürzt .
Ich selbst habe mich vor Verwunderung und Schrecken nicht gerührt und in diesem Moment steif an ein Hexentum geglaubt .
Das Mägdlein aber hat sich bald ermannt und ist über den Kirchhof davon und zum Dorf hinaus gezwirbelt , wie eine Katz , daß alle Leute voll Entsetzen heimgeflohen sind und ihre Türen verriegelt haben .
Zu selbiger Zeit ist just die Schulzeit aus gewesen und ist der Kinderhaufen auf die Gasse gekommen , und als das kleine Zeugs die Sache gesehen , hat man die Kinder nicht halten können , sondern ist eine große Schar dem Leichlein nachgelaufen und hat es verfolget und hintendrein ist noch der Schulmeister mit dem Bakel gesprungen .
Es hat aber immer ein zwanzig Schritt Vorsprung gehabt und nicht eher Halt gemacht , als bis es auf dem Buchenloo angekommen und leblos umgefallen ist , worauf die Kinder um dasselbe herumgekrabbelt und es vergeblich , gestreichelt und karessiert haben .
Dieses Alles haben wir nach der Hand erfahren , weil wir mit großer Not in das Pfarrhaus uns salviert und in tiefer Desolation verharret sind , bis man das Leichlein wiederum gebracht hat .
Man hat es auf ein Matratze gelegt und ist die Herrschaft darauf verreiset mit Hinterlassung einer kleinen Steintafel , worein Nichts als das Familienwappen und Jahrzahl gehauen ist .
Nunmehr liegt das Kind wieder für tot und getrauen wir uns nicht , zu Bett zu gehen aus Furcht .
Der Medikus sitzet aber bei ihm und meint nun , es sei endlich zur Ruhe gekommen . "
" Heute hat der Medikus nach unterschiedlichen Experimenten erklärt , daß das Kind wirklich tot sei , und ist es nun in der Stille beigesetzt worden und nichts Weiteres arriviert usw . "
Sechstes Kapitel Weiteres vom lieben Gott .
Frau Margret und ihre Leute Ich kann nicht sagen , daß , nachdem Gott einmal die bestimmte und nüchterne Gestalt eines Ernährers und Aushelfers für mich gewonnen hatte , er mein Herz in jenem Alter mit zarteren Empfindungen oder tiefgehenden Gemütsfreuden erfüllte , zumal er aus dem glänzenden Gewande des Abendrotes sich verloren , um in viel späterer Zeit es wieder umzunehmen .
Wenn meine Mutter von Gott und den heiligen Dingen sprach , so fuhr sie fort , vorzüglich im Alten Testamente zu verweilen , bei der Geschichte der Kinder Israel in der Wüste oder bei den Kornhändeln Josephs und seiner Brüder , bei der Witwe Ölkrug und dergleichen oder ausnahmsweise bei der Speisung der fünftausend Männer im Neuen Testamente .
Alle diese Ereignisse gefielen ihr ausnehmend wohl , und sie trug mir dieselben mit warmer Beredsamkeit vor , während letztere mehr einem pflichtgemäß frommen Erzählen Raum gab , wenn das bewegte und blutige Drama von Christi Leidensgeschichte entwickelt wurde .
Sosehr ich daher den lieben Gott respektierte und in allen Fällen bedachte , so blieben mir doch die Phantasie und das Gemüt leer , solange ich keine neue Nahrung schöpfte außer den bisherigen Erfahrungen ; und wenn ich keine Veranlassung hatte , irgendeinen angelegentlichen Gebetvortrag abzufassen , so war mir Gott nachgerade eine farblose und langweilige Person , die mich zu allerlei Grübeleien und Sonderbarkeiten reizte , zumal ich sie bei meinem vielen Alleinsein doch nicht aus dem Sinne verlor .
So gereichte es mir eine Zeitlang zu nicht geringer Qual , daß ich eine krankhafte Versuchung empfand , Gott derbe Spottnamen , selbst Schimpfworte anzuhängen , wie ich sie etwa auf der Straße gehört hatte .
Mit einer Art behaglicher und mutwillig zutraulicher Stimmung begann immer diese Versuchung bis ich nach langem Kampfe nicht mehr widerstehen konnte und im vollen Bewußtsein der Blasphemie eines jener Worte hastig ausstieß , mit der unmittelbaren Versicherung , daß es nicht gelten solle , und mit der Bitte um Verzeihung ; dann konnte ich nicht umhin , es noch einmal zu wiederholen , wie auch die reuevolle Genugtuung , und so fort , bis die seltsame Aufregung vorüber war .
Vorzüglich vor dem Einschlafen pflegte mich diese Erscheinung zu quälen , obgleich sie nachher keine Unruhe oder Uneinigkeit in mir zurückließ .
Ich habe später gedacht , daß es wohl ein unbewußtes Experiment mit der Allgegenwart Gottes gewesen sei , welche ebenfalls anfing , mich zu beschäftigen , und daß damals das dunkle Gefühl in mir lebendig geworden sei vor Gott könne keine Minute unseres inneren Lebens verborgen und wirklich strafbar sein , sofern er das lebendige Wesen für uns sei , für das wir ihn halten .
Indessen hatte ich eine Freundschaft geschlossen , welche meiner suchenden Phantasie zu Hilfe kam und mich von diesen unfruchtbaren Quälereien erlöste , indem sie , bei der Einfachheit und Nüchternheit meiner Mutter , für mich das wurde , was sonst sagenreiche Großmütter und Ammen für die stoffbedürftigen Kinder sind .
In dem Hause gegenüber befand sich eine offene dunkle Halle , ganz mit Trödelkram angefüllt .
Die Wände waren mit alten Seidengewändern , gewirkten Stoffen und Teppichen aller Art behangen .
Rostige Waffen und Gerätschaften , schwarze zerrissene Ölgemälde bekleideten die Eingangspfosten und verbreiteten sich zu beiden Seiten an der Außenseite des Hauses ; auf einer Anzahl altmodischer Tische und Geräte stand wunderliches Glasgeschirr und Porzellan aufgetürmt , mit allerhand hölzernen und irdenen Figuren vermischt .
In den tieferen Räumen waren Berge von Betten und Hausgeräten übereinandergeschichtet , und auf den Hochebenen und Absätzen derselben , manchmal auf einem gefährlichen einsamen Grate , stand überall noch eine schnörkelhafte Uhr , ein Kruzifix oder ein wächserner Engel und dergleichen .
Im tiefsten Hintergrunde aber saß jederzeit eine bejahrte , dicke Frau in altertümlicher Tracht , in einem trüben Helldunkel , während ein noch älteres , spitziges , eisgraues Männchen mit Hilfe einiger Untergebenen in der Halle herumhantierte und eine zahlreiche Menge Leute abfertigte , welche fortwährend ab und zu ging .
Die Seele des Geschäftes war aber die Frau , und von ihr aus gingen alle Befehle und Anordnungen , ungeachtet sie sich nie von ihrem Platze bewegte und man sie noch weniger je auf einer Straße gesehen hatte .
Sie trug immer bloße Arme und hatte schneeweiße Hemdsärmel , auf eine künstliche Weise gefältelt , wie man es sonst nirgends mehr sah und es vielleicht vor hundert Jahren schon so getragen wurde .
Es war die originellste Frau von der Welt , welche vor vier Jahrzehnten mit ihrem Manne blutarm und unwissend in die Stadt gezogen , um da ihr Brot zu suchen .
Nachdem sie mit Tagelohn und saurer Arbeit eine Reihe von mühseligen Jahren durchgekämpft hatte , gelang es ihr , einen Trödelkram zu errichten , und erwarb sich mit der Zeit durch Glück und Gewandtheit in ihren Unternehmungen einen behaglichen Wohlstand , welchen sie auf die eigentümlichste Weise beherrschte .
Sie konnte nur schwierig Gedrucktes lesen , hingegen weder schreiben noch in arabischen Zahlen rechnen , welche letzteren zu kennen ihr nie gelang ; sondern ihre ganze Rechenkunst bestand in einer römischen Eins , einer Fünf , einer Zehn und einer Hundert .
Wie sie diese vier Ziffern in ihrer frühen Jugend , in einer entlegenen und vergessenen Landesgegend , überkommen hatte , überliefert durch einen jahrtausendalten Gebrauch , so handhabte sie dieselben mit einer merkwürdigen Gewandtheit .
Sie führte kein Buch und besaß nichts Geschriebenes , war aber jeden Augenblick imstande , ihren ganzen Verkehr , der sich oft auf mehrere Tausende in lauter kleinen Posten belief , zu übersehen , indem sie mit großer Schnelligkeit das Tischblatt mittels einer Kreide , deren sie immer einige Endchen in der Tasche führte , mit mächtigen Säulen jener vier Ziffern bedeckte .
Hatte sie aus ihrem Gedächtnisse alle Summen solchergestalt aufgesetzt , so erreichte sie ihren Zweck einfach dadurch , daß sie mit dem nassen Finger eine Reihe um die andere ebenso flink wieder auslöschte , als sie dieselben aufgesetzt hatte , und dabei zählend die Resultate zur Seite aufzeichnete .
So entstanden neue kleinere Zahlengruppen , deren Bedeutung und Benennung niemand kannte als sie , da es immer nur die gleichen vier nackten Ziffern waren und für andere aussahen wie eine altheidnische Zauberschrift .
Dazu kam noch , daß es ihr nie gelingen wollte , mit Bleistift oder Feder oder auch nur mit einem Griffel auf einer Schiefertafel das gleiche Verfahren vorzunehmen , indem sie nicht nur räumlich einer ganzen Tischplatte bedurfte , sondern auch nur mittels der weichen Kreide ihre markigen Zeichen zu bilden imstande war .
Sie beklagte oft , daß sie sich gar nichts Fixiertes aufbewahren könne , war aber gerade dadurch zu ihrem außerordentlichen Gedächtnisse gelangt , aus welchem jene wimmelnden Zahlenmassen plötzlich gestalt- und lebenvoll erschienen , um ebenso rasch wieder zu verschwinden .
Das Verhältnis zwischen Einnahme und Ausgabe machte ihr nicht viel zu schaffen ; sie bestritt alle häuslichen Bedürfnisse und sonstigen Ausgaben vorweg aus dem gleichen Säckel , welcher auch den Geschäftsverkehr begründete , und wenn eine überflüssige Summe Geldes beieinander war , so wechselte sie dieses sogleich in Gold um und verwahrte dasselbe in ihrer Schatztruhe , wo es für immer liegenblieb , wenn nicht ein Teil davon für eine besondere Unternehmung oder für ein ausnahmsweises Darlehen herausgenommen wurde , da sie sonst auf Zinsen kein Geld auslieh .
Sie hatte besonders mit Landleuten von allen Seiten her Verkehr , welche sich ihre gerätschaftlichen Bedürfnisse bei ihr holten , und gab ihre Waren jedermann auf Borg , gewann oft viel dabei und verlor auch oft .
So kam es , daß eine Menge von Leuten von ihr abhängig waren oder in einem verbindlichen oder feindlichen Verhältnisse zu ihr standen und daß sie beständig von Nachsichtsuchenden oder Bezahlenden umlagert war , welche ihr , zur Beherzigung oder als Dank , die mannigfaltigsten Gaben darbrachten , nicht anders als einem Landpfleger oder einer Äbtissin .
Feld- und Baumfrüchte jeder Art , Milch , Honig , Trauben , Schinken und Würste wurden ihr in gewichtigen Körben zugetragen , und diese Vorräte bildeten die Grundlage zu einem stattlichen Wohlleben , welches alsobald begann , wenn das geräuschvolle Gewölbe geschlossen war und in der noch seltsameren Wohnstube das häusliche Abendleben zur Geltung kam .
Dort hatte Frau Margret diejenigen Gegenstände zusammen gehäuft und als Zierat angebracht , welche ihr in ihrem Handel und Wandel am besten gefallen , und sie nahm keinen Anstand , etwas für sich aufzubewahren , wenn es ihr Interesse erweckte .
An den Wänden hingen alte Heiligenbilder auf Goldgrund und in den Fenstern gemalte Scheiben , und allen diesen Dingen schrieb sie irgendeine merkwürdige Geschichte oder sogar geheime Kräfte zu , was ihr dieselben heilig und unveräußerlich machte , sosehr auch Kenner sich manchmal bemühten , die wirklich wertvollen Denkmäler ihrer Unwissenheit zu entreißen .
In einer Truhe von Ebenholz bewahrte sie goldene Schaumünzen , seltene Talerstücke , Filigranarbeiten und andere köstliche Spielereien , für welche sie eine große Vorliebe trug und die sie nur wieder veräußerte , wenn ein besonderer Gewinn sich damit verband .
Endlich war auf einem Wandgestelle eine beträchtliche Zahl unförmlicher alter Bücher aufgespeichert , welche sie mit großem Eifer zusammenzusuchen pflegte .
Es waren verschiedene Bibeln , alte Kosmographien mit zahllosen Holzschnitten , fabelgespickte Reisebeschreibungen , vorzüglich kuriose Mythologien aus dem vorigen Jahrhundert mit großen zusammengefalteten Kupferstichen , welche vielfach zerknittert und zerrissen waren ; sie nannte diese naiv geschriebenen Werke schlichtweg Heiden- oder auch Götzenbücher .
Ferner hielt sie eine reiche Sammlung solcher Volksschriften , welche Nachricht gaben von einem fünften Evangelisten , von den Jugendjahren Jesu , noch unbekannten Abenteuern desselben in der Wüste , von einer Auffindung seines wohlerhaltenen Leichnams nebst Dokumenten von der Erscheinung und den Bekenntnissen eines in der Hölle leidenden Freigeistes ; einige Chroniken , Kräuterbücher und Prophezeiungen vervollständigten diese Sammlung .
Für Frau Margret hatte ohne Unterschied alles , was gedruckt war , wie die mündlichen Überlieferungen des Volkes , eine gewisse Wahrheit , und die ganze Welt in allen ihren Spiegelungen , das fernste sowohl wie ihr eigenes Leben waren ihr gleich wunderbar und bedeutungsvoll ; sie trug noch den ungebrochenen Aberglauben vergangener Zeiten an sich ohne Verfeinerung und Schliff Mit neugieriger Liebe erfaßte sie alles und nahm es als bare Münze , was ihrer wogenden Phantasie dargeboten wurde , und sie bekleidete es alsbald mit den sinnlich greifbaren Formen der Volkstümlichkeit , welche massiven metallenen Gefäßen gleichen , die trotz ihres hohen Alters durch den steten Gebrauch immer glänzend geblieben sind .
Alle die Götter und Götzen der alten und jetzigen heidnischen Völker beschäftigten sie durch ihre Geschichte und ihr äußeres Aussehen in den Abbildungen , hauptsächlich auch daher , daß sie dieselben für wirkliche lebendige Wesen hielt , welche durch den wahren Gott bekämpft und ausgerottet würden ; das Spuken und Umgehen solcher halb überwundenen schlimmen Käuze war ihr ebenso schauerlich anziehend wie das grauenvolle Treiben eines Atheisten , unter welchem sie nichts anderes verstand und verstehen konnte als einen Menschen , welcher seiner Überzeugung von dem Dasein Gottes zum Trotz dasselbe hartnäckig und mutwillig leugne .
Die großen Affen und Waldteufel der südlichen Zonen , von denen sie in ihren alten Reisebüchern las , die fabelhaften Meermänner und Meerweibchen waren nichts anderes als ganze gottlose , nun vertierte Völker oder solche einzelne Gottesleugner , welche in diesem jammervollen Zustande , halb reuevoll , halb trotzig , Zeugnis gaben von dem Zorne Gottes und sich zugleich allerlei mutwillige Neckereien mit den Menschen erlaubten .
Wenn nun am Abend das Feuer prasselte , die Töpfe dampften , der Tisch mit den soliden volkstümlichen Leckereien bedeckt wurde und Frau Margret behaglich und ansehnlich auf ihrem zierlich eingelegten Stuhle saß , so begann sich nach und nach eine ganz andere Anhängerschaft und Gesellschaft einzufinden , als die den Tag über in dem Gewölbe zu sehen gewesen .
Es waren dies arme Frauen und Männer , welche , teils durch den Duft des gastlichen Tisches , teils durch die belebte Unterhaltung von höheren Dingen angezogen , hier mannigfache Erholung von den Mühen des Tages suchten und fanden .
Mit Ausnahme einiger weniger heuchlerischer Schmarotzer hatten sonst alle ein aufrichtiges Bedürfnis , sich durch Gespräche und Belehrungen über das , was ihnen nicht alltäglich war , zu erwärmen und besonders in Betreff des Religiösen und Wunderbaren eine gewürztere Nahrung zu suchen , als die öffentlichen Kulturzustände ihnen darboten .
Nichtbefriedigung des Gemütes , ungelöschter Durst nach Wahrheit und Erkenntnis , erlebte Schicksale , hervorgerufen durch die versuchte Befriedigung solcher unruhigen Triebe in der sinnlichen Welt , führten diese Leute hier zusammen und überdies noch in mancherlei seltsame Sekten hinein , von deren innerem Leben und Treiben sich Frau Margret fleißig Bericht erstatten ließ ; denn sie selbst war zu weltlich und bequem , als daß sie soweit gegangen wäre , dergleichen mitzumachen .
Vielmehr tadelte sie mit scharfen Worten die Kopfhänger und wurde sarkastisch und bitter , wenn sie allzu mystischen Unrat merkte .
Sie bedurfte das Wunderbare und Geheimnisvolle , aber in der Sinnenwelt , in Leben und Schicksal , in der äußeren wechselvollen Erscheinung ; von inneren Seelenwundern , bevorzugten Stimmungen , Auserwählten und dergleichen mochte sie nichts hören und kanzelte ihre Gäste tüchtig herunter , wenn sie mit solchen Dingen auftreten wollten .
Außer daß Gott als der kunst- und sinnreiche Schöpfer all der wunderbaren Dinge und Vorkommnisse für sie existierte , war er ihr vorzüglich in einer Richtung noch merk- und preiswürdig : nämlich als der treue Beistände der klugen und rührigen Leute , welche , mit nichts und weniger als nichts anfangend , ihr Glück in der Welt selbst machen und es zu etwas Ordentlichem bringen .
Deshalb fand sie ihre größte Freude an jungen Leuten , welche sich aus einer dunklen dürftigen Abkunft heraus durch Talent , Fleiß , Sparsamkeit und Klugheit in eine gute Stellung gearbeitet hatten und wohl gar hohe Protektion genossen .
Das Heranwachsen des Wohlstandes solcher Schützlinge war ihr wie eine eigene Sache angelegen , und wenn dieselben endlich dahin gediehen waren , einen bescheidenen Aufwand mit gutem Gewissen geltend zu machen , so fühlte sie selbst die größte Genugtuung , ihrerseits reichlich beizusteuern und sich des Glanzes mitzufreuen .
Sie war von Grund aus wohltätig und gab immer mit offenen Händen , den Armen und arm Bleibenden im gewöhnlichen abgeteilten Maße , denjenigen aber , bei welchen Hab , und Gut anschlug , mit wahrer Verschwendung für ihre Verhältnisse .
Es lag meistens ganz in der Natur solcher Emporkömmlinge , neben ihren anderweitigen größeren Beziehungen auch die Gunst dieser seltsamen Frau sorglich zu pflegen , bis sie durch einen jüngern Nachwuchs endlich verdrängt wurden , und so fand man nicht selten diesen oder jenen feingekleideten und vornehm aussehenden Mann unter den armen Gläubigen , der durch sein gemessenes Betragen dieselben verschüchterte und unbehaglich machte .
Auch nahmen sie wohl , wenn er abwesend war , Veranlassung , der Frau Weltsinn und Lust an irdischer Herrlichkeit vorzuwerfen , was dann jedesmal lebhafte Erörterungen und Streitreden hervorrief .
Von ihrer Freude an gedeihlichem Erwerbe und emsiger Tätigkeit mochte es auch kommen , daß mehrere Schacherjuden in den Kreis ihrer Wohlgelittenen aufgenommen waren .
Die Unermüdlichkeit und stetige Aufmerksamkeit dieser Menschen , welche öfter bei ihr verkehrten und ihre schweren Lasten abstellten , volle Geldbeutel aus unscheinbarer Hülle hervorzogen und ihr zum Aufbewahren anvertrauten , ohne irgend ein Wort oder eine Schrift zu wechseln , ihre billige Gutmütigkeit und neugierige Bescheidenheit neben der unberückbaren Pfiffigkeit im Handeln , ihre strengen Religionsgebräuche und biblische Abstammung , sogar ihre feindliche Stellung zum Christentum und die groben Vergehungen ihrer Voreltern machten diese vielgeplagten und verachteten Leute der guten Frau höchst interessant und gern gesehen , wenn sie sich bei den abendlichen Zusammenkünften vorfanden , am Herde der Frau Margret Kaffee kochten oder sich einen Fisch buken .
Wenn die fromm christlichen Frauen ihnen schonend vorhielten , wie es noch nicht gar zu lange her sei , daß die Juden doch schlimme Käuze gewesen , Christenkinder geraubt und getötet und Brunnen vergiftet hätten , oder wenn Margret behauptete , der Ewige Jude Ahasverus hätte vor zwölf Jahren einmal im Schwarzen Bären übernachtet und sie hätte selbst zwei Stunden vor dem Hause gepaßt , um ihn abreisen zu sehen , jedoch vergeblich , da er schon vor Tagesanbruch weitergewandert sei , dann lächelten die Juden gar gutmütig und fein und ließen sich nicht aus ihrer guten Laune bringen .
Da sie jedoch ebenfalls Gott fürchteten und eine scharf ausgeprägte Religion hatten , so gehörten sie noch eher in diesen Kreis , als man zwei weitere Personen darin vermutet hätte , welche allerdings irgend anderswo zu suchen waren als gerade hier ; und doch schienen sie eine Art unentbehrlichen Salzes für die wunderliche Mischung zu sein .
Siebentes Kapitel Fortsetzung der Frau Margret Es waren dies zwei erklärte Atheisten .
Der eine , ein schlichter , einsilbiger Schreinersmann , welcher schon manches Hundert Särge gefertigt und zugenagelt hatte , war ein braver Mann und versicherte dann und wann einmal mit dürren Worten , er glaube ebensowenig an ein ewiges Leben , als man von Gott etwas wissen könne .
Im übrigen hörte man nie eine freche Rede oder ein Spottwort von ihm ; er rauchte gemütlich sein Pfeifchen und ließ es über sich ergehen , wenn die Weiber mit fließenden Bekehrungsreden über ihn herfuhren .
Der andere war ein bejahrter Schneidersmann mit grauen Haaren und mutwilligem , unnützem Herzen , der schon mehr als einen schlimmen Streiche verübt haben mochte .
Während jener sich still und leidend verhielt und nur selten mit seinem dürren Glaubensbekenntnisse hervortrat , verfuhr dieser angriffsweise und machte sich ein Vergnügen daraus , die gläubigen Seelen durch derbe Zweifel und Verleugnungen , rohe Späße und Profanationen zu verletzen und zu erschrecken , als ein rechter Eulenspiegel das einfältige Wort zu verdrehen und mit dick aufgetragenem Humor in den armen Leuten eine sündhafte Lachlust zu reizen .
Er besaß weder großen Verstand noch Pietät für irgend etwas , selbst für die Natur nicht , und schien einzig ein persönliches Bedürfnis zu haben , das Dasein Gottes zu leugnen oder wegzuwünschen , indessen der Schreiner sich bloß nicht viel daraus machte , hingegen auf seinen Wanderjahren die Welt aufmerksam betrachtet hatte , sich fortwährend noch unterrichtete und von allerlei merkwürdigen Dingen mit Liebe zu sprechen wußte , wenn er auftaute .
Der Schneider fand nur Gefallen an Ränken und Schwänken und lärmenden Zänkereien mit den begeisterten Weibern ; auch sein Verhalten zu den Juden , gegenüber demjenigen des Sargmachers , war bezeichnend .
Während dieser wohlwollend und freundlich mit ihnen verfuhr als mit seinesgleichen , neckte und quälte sie der Schneider , wo er nur konnte , und verfolgte sie mit echt christlichem Übermute mit allen trivialen Judenspäßen , die ihm zu Gebote standen , so daß die armen Teufel manchmal wirklich böse wurden und die Gesellschaft verließen .
Frau Margret pflegte alsdann auch ungeduldig zu werden und verwies den Dämon aus dem Hause ; aber er fand sich bald wieder ein und wurde immer wieder gelitten , wenn er sein altes Wesen mit etwas Vorsicht und glatten Worten wieder begann .
Es war , als wenn die viel redenden und disputierenden Genossen seiner als eines lebendigen Exempels des Atheismus bedurften , wie sie ihn verstanden ; denn dies war er am Ende auch , indem es sich nicht undeutlich erwies , daß er den Gedanken Gottes und der Unsterblichkeit mehr zu unterdrücken suchte , weil er ihn in einem kleinlichen und nutzlosen Treiben beschränkte und belästigte , und als er späterhin starb , tat er dies so verzagt und zerknirscht , heulend und zähneklappend und nach Gebet verlangend , daß die guten Leute einen glänzenden Triumph feierten , indessen der Schreiner ebenso ruhig und unangefochten seinen letzten Sarg hobelte , welchen er sich selbst bestimmte , wie einst seinen ersten .
Dieser Art war die Versammlung , welche an vielen Abenden , zumal im Winter , bei Frau Margret zu treffen war , und ich weiß nicht , wie es kam , daß ich mich plötzlich am Tage oft in dem kurzweiligen Gewölbe mitten unter den Geschäftigen und am Abend zu den Füßen der Frau sitzen fand , welche mich in große Gunst genommen hatte .
Ich zeichnete mich durch meine große Aufmerksamkeit aus , wenn die wunderbarsten Dinge von der Welt zur Sprache kamen .
Die theologischen und moralischen Untersuchungen verstand ich freilich in den ersten Jahren noch nicht , obschon sie oft kindlich genug waren ; jedoch nahmen sie auch schon damals nicht zu viele Zeit in Anspruch , da sich die Gesellschaft immer bald genug auf das Gebiet der Begebenheiten und sinnlichen Erfahrungen und damit auf eine Art von naturphilosophischem Feld hinüberverfügte , wo ich ebenfalls zu Hause war .
Man suchte vorzüglich die Erscheinungen der Geisterwelt sowie die Ahnungen , Träume usw. in lebendigen Zusammenhäng zu bringen und drang mit neugierigem Sinne in die geheimnisvollen Lokalitäten des gestirnten Himmels , in die Tiefe des Meers und der feuerspeienden Berge , von denen man hörte , und alles wurde zuletzt auf die religiösen Meinungen zurückgeführt .
Es wurden Bücher von Hellsehenden , Berichte über merkwürdige Reisen durch verschiedene Himmelskörper und andere ähnliche Aufschlüsse gelesen , nachdem sie der Frau Margret zur Anschaffung empfohlen worden , und alsdann darüber gesprochen und die Phantasie mit den kühnsten Gedanken angefüllt .
Der eine oder andere fügte dann noch aufgeschnappte Berichte aus der Wissenschaft hinzu , wie er von dem Bedienten eines Sternguckers gehört hatte , daß man durch dessen Fernrohr lebendige Wesen im Monde und feurige Schiffe in der Sonne sehen könne .
Frau Margret hatte immer die lebendigste Einbildungskraft , und bei ihr ging alles in Fleisch und Blut über .
Sie pflegte mehrmals in der Nacht aufzustehen und aus dem Fenster zu schauen , um nachzusehen , was in der stillen dunklen Welt vorging , und immer entdeckte sie einen verdächtigen Stern , der nicht wie gewöhnlich aussah , ein Meteor oder einen roten Schein , welch allem sie gleich einen Namen zu geben wußte .
Alles war ihr von Bedeutung und belebt ; wenn die Sonne in ein Glas Wasser schien und durch dasselbe auf den hellpolierten Tisch , so waren die sieben spielenden Farben für sie ein unmittelbarer Abglanz der Herrlichkeiten , welche im Himmel selbst sein sollten .
Sie sagte : " Seht ihr denn nicht die schönen Blumen und Kränze , die grünen Geländer und die roten Seidentücher ?
diese goldenen Glöcklein und diese silbernen Brunnen ? " und sooft die Sonne in die Stube schien , machte sie das Experiment , um ein wenig in den Himmel zu sehen , wie sie meinte .
Ihr Mann und der Schneider lachten sie dann aus , und der erste nannte sie eine phantastische Kuh .
Jedoch auf einem festeren Boden stand sie , wenn von Geistererscheinungen die Rede war , denn hier besaß sie unleugbare Erfahrungen die Menge , welche sie schon Schweiß genug gekostet hatten ; und fast alle anderen wußten auch davon zu erzählen .
Seit sie nicht mehr aus dem Hause kam , waren freilich ihre Erlebnisse auf ein häufiges Pochen und Rumoren in alten Wandschränken und etwa auf das Umherschleichen eines schwarzen Schafes in der nächtlichen Straße beschränkt , wenn sie um Mitternacht oder gegen Morgen ihre Inspektionen aus dem Fenster hielt .
Auch geschah es wohl , daß sie ein kleines Männchen vor der Haustür entdeckte , welches , während sie mit scharfen kritischen Augen dasselbe beobachtete , plötzlich in die Höhe wuchs bis unter ihr Fenster , daß sie dasselbe kaum noch zuschlagen und sich ins Bett flüchten konnte .
Hingegen in ihrer lugend war es lebhafter hergegangen , als sie , besonders noch auf dem Lande , bei Tag und Nacht durch Feld und Wald zu gehen hatte .
Da waren kopflose Männer stundenweit ihr zur Seite gegangen und näher gerückt , je eifriger sie betete ; umgehende Bauern standen auf ihren ehemaligen Grundstücken und streckten flehend die Hand nach ihr aus ; Gehenkte rauschten von hohen Tannen hernieder mit schreckbarem Geheul und liefen ihr nach , um in den heilsamen Bereich einer guten Christin zu kommen , und sie schilderte mit ergreifenden Worten den peinlichen Zustand , in dem sie sich befand , wenn sie nicht unterlassen konnte , die unheimlichen Gesellen von der Seite anzuschielen , während sie doch wußte , daß dieses höchst schädlich sei .
Einige Male war sie auch ganz aufgeschwollen auf der Seite , wo die Gespenster gelaufen waren , und mußte den Doktor herbeirufen .
Ferner erzählte sie von den Zaubereien und bösen Künsten , welche zur Zeit ihrer Jugend , gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts , noch Gang und gäbe waren unter den Bauern .
Da waren in ihrer Heimat reiche gewaltige Bauernfamilien , welche alte Heidenbücher besaßen , mittels deren sie den schlimmsten Unfug trieben .
Daß sie mit offener Flamme Löcher durch Strohbunde brennen konnten , ohne diese zu zerstören , oder das Wasser bannen oder den Rauch aus den Schornsteinen in beliebiger Richtung aufsteigen und possierliche Figuren bilden zu lassen verstanden , gehörte nur zu den unschuldigen Scherzen .
Aber greulich war es , wenn sie ihre Feinde langsam töteten , indem sie für dieselben drei Nägel in einen Weidenbaum schlugen unter den gehörigen Sprüchen ( Margrets Vater siechte lange Zeit infolge dieser freundschaftlichen Manipulation , bis sie entdeckt und er durch Kapuziner gerettet wurde ) , oder wenn sie den armen Leuten das Korn in der Ähre verbrannten , um sie nachher zu verhöhnen , wenn sie hungerten und Not litten .
Man hatte zwar die Genugtuung , daß der Teufel den einen oder anderen mit großem Aufwand abholte , wenn er reif war ; allein das geriet den gerechten Leuten selbst wieder zum Schrecken , und es war eben nicht angenehm , den blutigen Schnee und die gelassenen Haare auf dem Platze zu sehen , wie es der Erzählerin selbst begegnet war .
Solche Bauern hatten Geld genug und maßen es bei Hochzeiten und Leichenfeiern einander in Scheffeln und Wannen zu .
Die Hochzeiten waren dazumal noch sehr großartig .
Sie hatte selbst noch eine solche gesehen , wo sämtliche Gäste , Männer und Weiber , beritten waren und nahe an hundert Pferde beisammen .
Die Weiber trugen Kronen von Flitter Gold und seidene Kleider mit drei bis vierfach umgewundenen Ketten von zusammengerollten Dukaten ; aber der Teufel ritt unsichtbar mit , und es ging nach dem Nachtessen nicht am ehrbarsten zu .
Diese Bauern hatten während einer großen Hungersnot in den siebziger Jahren ihren Hauptspaß daran , mit zwölf Dreschern in weitgeöffneten Scheunen zu dreschen , dazu einen blinden Geiger aufspielen zu lassen , welcher auf einem großen Brote sitzen mußte , und nachher , wenn genug hungrige Bettler vor der Scheune versammelt waren , die grimmigen Hunde in den wehrlosen Haufen zu hetzen .
Bemerkenswert war es , daß der Volksglaube diese reichen Dorftyrannen vielfach die verbauerten Nachkommen der alten Zwingherren sein ließ , unter welchen man alle ehemaligen Bewohner der vielen Burgen und Türme verstand , die im Lande zerstreut waren .
Ein anderes ergiebiges Feld für abenteuerliche Kunden war der Katholizismus mit seinen hinterlassenen leeren Klosterräumen und den noch lebendigen Klöstern , welche etwa in der katholisch gebliebenen Nachbarschaft sich befanden .
Dazu trugen die Ordensgeistlichen der letzteren vieles bei , besonders die Kapuziner , welche sich heute noch mit den Scharfrichtern freundschaftlich in die Arbeit teilen , bei den abergläubischen reformierten Bauern Teufelsbannerei und Sympathiekünste zu treiben .
In einigen abgelegenen Landesgegenden herrschte damals ein bewußtloser verkommener Protestantismus ; die Landleute standen nicht etwa über den katholischen , als hinwegsehend über verdummte Menschen , sondern sie glaubten alle Märchen derselben getreulich mit , nur hielten sie den Inhalt für übel und verwerflich , und sie lachten nicht über den Katholizismus , sondern sie fürchteten sich vor demselben als vor einer unheimlichen heidnischen Sache .
Ebensowenig als es ihnen möglich war , sich unter einem Freigeiste einen Menschen vorzustellen , welcher wirklich in seinem Inneren nichts glaube , sowenig waren sie imstande , von jemandem anzunehmen , daß er zu vieles glaube ; ihr Maß bestand einzig darin , sich nur zu denjenigen geglaubten Dingen zu bekennen , welche vom Guten und nicht vom Bösen seien .
Der Mann der Frau Margret , Vater Jakobleien genannt , von ihr schlechthin Vater , war fünfzehn Jahre älter als sie und näherte sich den Achtzigen .
Er besaß eine fast ebenso lebhafte Einbildungskraft wie seine Frau , dabei reichten seine Erinnerungen noch tiefer in die Sagenwelt der Vergangenheit zurück ; doch faßte er alles von einer spaßhaften Seite auf , da er von jeher ein spaßhaftes und ziemlich unnützes Männlein gewesen war , und so wußte er ebensoviel lächerlichen Spuk und verdrehte Menschengeschichten zu erzählen als seine Frau ernsthafte und schreckliche .
In seine frühste Jugend waren noch die letzten Hexenprozesse gefallen , und er beschrieb mit Humor aus der mündlichen Überlieferung geschöpfte Hexensabbate und Bankette ganz genauso , wie man sie noch in den aktenmäßigen Geschichten jener Prozesse , in den weitläufigen Anklagen und erzwungenen Geständnissen liest .
Dieses Gebiet sagte ihm besonders zu , und er versicherte feierlich von einigen seltsamen Personen , daß sie sehr wohl auf dem Besenstiele zu reiten verständen , versprach auch von einem Tage zum anderen , solange er lebte , von einem Hexenmeister seiner Bekanntschaft die Salbe herbeizuschaffen , mit welcher die Besen bestrichen würden , um darauf aus dem Schornstein fahren zu können .
Dieses gedieh mir immer zum größten Jubel , besonders wenn er mir die projektierte Fahrt bei schönem Wetter , wo ich dann vorn auf dem Stiele sitzen sollte , von ihm festgehalten , mit lustigen Aussichten ausmalte .
Er nannte mir manchen schönen Kirschbaum auf einer Höhe oder einen trefflichen Pflaumenbaum aus seiner Bekanntschaft , bei welchem haltgemacht und genascht , oder einen delikaten Erdbeerschlag in diesem oder jenem Walde , wo tapfer geschmaust werden solle , indessen der Besen an eine Tanne gebunden würde .
Auch benachbarte Jahrmärkte wollten wir besuchen und in die verschiedenen Schaubuden , ohne Eintrittsgeld , durch das Dach eindringen Bei einem befreundeten Pfarrherrn auf einem Dorfe müßten wir freilich , wenn wir anders von seinen berühmten Würsten etwas zu beißen bekommen wollten , den Besen im Holze verstecken und vorgeben , wir seien zu Fuß gekommen , um bei dem herrlichen Wetter den Herrn Pfarrer ein bißchen heimzusuchen ; hingegen bei einer reichen Hexenwirtin in einem anderen Dorfe müßten wir keck zum Schornstein hineinfahren , damit sie , in der törichten Meinung , ein Paar angehender hoffnungsvoller Hexer bei sich zu sehen , uns mit ihren vortrefflichen Pfannkuchen mit Speck und mit frischem Honig ohne Rückhalt bewirte .
Daß unterwegs auf hohen Bäumen und Felsen Einsicht in die seltensten Vogelnester genommen und das Tauglichste von jungen Vögeln ausgesucht würde , verstand sich von selbst .
Wie alles ohne Schaden zu unternehmen sei , dafür hatte er bereits eine Auskunft und kannte die Formel , mit welcher der Teufel , nach beendigtem Vergnügen , um seinen Teil gebracht würde .
Auch in dem Gespensterwesen war er sehr erfahren ; doch auch hier verdrehte sich ihm alles zum Lustigen .
Die Angst , welche er bei seinen Abenteuern empfunden , war immer eine höchst komische und endete öfter mit einem pfiffigen Streiche , welchen er den Quälgeistern gespielt haben wollte .
Auf diese Weise ergänzte er trefflich das phantastische Wesen seiner Frau , und ich hatte so die Gelegenheit , unmittelbar aus der Quelle zu schöpfen , was man sonst den Kindern der Gebildeten in eigenen Märchenbüchern zurechtmacht .
Wenn der Stoff auch nicht so unverfänglich war wie in diesen und nicht für eine so unschuldige kindliche Moral berechnet , so enthielt er nichtsdestoweniger immer eine menschliche Wahrheit und machte , besonders da in dem vielfältigen Sammelkram der Frau Margret eine reiche Fundgrube die sinnliche Anschauung vervollständigte , meine Einbildungskraft freilich etwas frühreif und für starke Eindrücke empfänglich , etwa wie die Kinder des Volkes früh an die kräftigen Getränke der Erwachsenen gewöhnt werden .
Denn was ich hörte , beschränkte sich nicht allein auf diese übersinnliche Fabelwelt ; sondern die Leute besprachen auch auf die leidenschaftlichste Weise ihre eigenen und fremde Schicksale , und hauptsächlich das lange Leben der Frau Margret und ihres Mannes war reich an ernsten und heiteren Geschichten , an Beispielen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit , der Gefahr , Not , Verwicklung und Befreiung ; Hunger , Krieg und Aufruhr hatten sie gesehen ; jedoch ihr eigenes Verhältnis zueinander war so sonderbar von Leidenschaften bewegt , und es traten so ursprünglich dämonische Gewalten der Menschennatur darin zutage , daß ich mit kindlich erstauntem Auge in die wilde Flamme sah und schon tiefe Eindrücke empfing .
Während nämlich die Frau Margret die bewegende und erhaltende Kraft in ihrem Haushalte war , den Grund zum jetzigen Wohlstand gelegt hatte und jederzeit das Heft in den Händen hielt , war ihr Mann einer von denjenigen , welche nichts Eigenes gelernt haben noch tun können und daher darauf angewiesen sind , mehr den Handlanger einer tatkräftigen Frau zu machen und auf eine müßige Weise unter dem Schilde ihres Regimentes ein ruhmloses Dasein zu führen .
Als die Frau , besonders in früheren Jahren , durch kecke Benutzung der Zeitläufe und originelle Handstreiche in wörtlichem Sinne Gold zusammenhäufte , spielte er nur die Rolle eines dienstbaren Hauskoboldes , welcher , wenn er seine Handleistungen getan hatte , mit dem , was ihm die Frau gab , sich gütlich tat und dazu allerhand Späße trieb , welche männiglich ergötzten .
Sein unmännlicher Mangel an Rat und Zuverlässigkeit , die Erfahrung , daß sie in kritischen Fällen nie einen kräftigen Schutz in ihm fand , ließen Frau Margret auch seine sonstigen Leistungen übersehen und erklärten die unbefangene Art , mit welcher sie ihn ohne weiteres von der Mitherrschaft über die Geldtruhe ausschloß .
Es hatte auch lange Zeit keines von beiden ein Arges dabei , bis einige Ohrenbläser , worunter auch jener ränkesüchtige Schneider , dem Manne das Demütigende seiner Lage vorhielten und ihn aufhetzten , endlich eine Teilung des Erworbenen und vollständige Mitherrschaft zu verlangen .
Sogleich schwoll ihm der Kamm gewaltig , und er drohte , die schlimmen Ratgeber hinter sich , der bestürzten Frau mit den Gerichten , wenn sie nicht seinen Anteil an dem " gemeinschaftlich erworbenen " Gute herausgäbe .
Sie fühlte wohl , daß es mehr um einen gewaltsamen Raub als um ein ehrliches Rechthalten zu tun sei , und sträubte sich mit aller Kraft dagegen , zumal sie wußte , daß sie nach wie vor die einzig erhaltende Kraft im Hause sein würde .
Sie hatte aber die Gesetze gegen sich , da diese nicht auf eine Ausscheidung der beitragenden Kräfte eingehen konnten , und zudem gab der Mann vor , sich allerlei mutwilliger Anklagen bedienend , sich nach geschehener Teilung von ihr trennen zu wollen , so daß sie betäubt und beschwatzt wurde und , krank und halb bewußtlos , die Hälfte von allem Besitze herausgab .
Er nähte sogleich seine schimmernden Goldstücke , je nach der Art , in lange , wurstartige Beutel , legte dieselben in einen Koffer , den er am Boden festnagelte , setzte sich darauf und schlug seinen Helfershelfern , welche auch ihren Anteil zu erschnappen gehofft hatten , ein Schnippchen .
Im übrigen blieb er bei seiner Frau und lebte nach wie vor bei und von ihr , indem er nur dann zu seinem Schatze griff , wenn er eine Privatliebhaberei befriedigen wollte .
Sie erholte sich indessen wieder und hatte nach einiger Zeit ihren eigenen Schatz wieder vervollständigt und mit den Jahren verdoppelt ; aber ihr einziger Gedanke war seit jenem Tage der Teilung , mit der Zeit wieder in den Besitz des Entrissenen zu gelangen , und das war nur möglich durch den Tod ihres Mannes .
Daher ging ihr jedesmal ein Stich durch das Herz , wenn er ein Goldstück umwechselte , und sie harrte unverwandt auf seinen Tod .
Er hingegen wartete ebenso sehnlich auf den ihrigen , um Herr und Meister des ganzen Vermögens zu werden und in voller Unabhängigkeit den Rest seines langen Lebens zuzubringen .
Dieses grauenhafte Verhältnis hätte man freilich auf den ersten Blick nicht geahnt ; denn sie lebten zusammen wie zwei gute alte Leutchen und nannten sich nur Vater und Mutter .
Insbesondere blieb die Margret in allem einzelnen auch gegen ihn die gute und freigebige Frau , die sie sonst war , und sie hätte vielleicht ohne den vierzigjährigen Lebensgenossen und sein spaßhaftes Umhertreiben nicht einen Tag leben können ; auch ihm war es mittlerweile wohl genug , und er besorgte mit humoristischer Geschäftigkeit die Küche , während sie im Kreise ihrer schwärmerischen Genossen die überfüllte Phantasie entzügelte .
Doch in jeder Jahreszeit einmal , wenn in der Natur die großen Veränderungen geschahen und die alten Menschen an die schnelle Vergänglichkeit ihres Lebens erinnerten und ihre körperlichen Gebrechen fühlbarer wurden , erwachte , meistens in dunklen schlaflosen Nächten , ein entsetzlicher Streit zwischen ihnen , daß sie aufrecht in ihrem breiten altertümlichen Bette saßen , unter dem einen buntbemalten Himmel , und bis zum Morgengrauen , bei geöffneten Fenstern , sich die tödlichen Beleidigungen und Zankworte zuschleuderten , daß die stillen Gassen davon widerhallten .
Sie warfen sich die Vergehungen einer fern abliegenden , sinnlich durchlebten Jugend vor und riefen Dinge durch die lautlose Nacht aus , welche lange vor der Wende dieses Jahrhunderts in Bergen und Gefilden geschehen , wo seitdem ganze dichte Wälder entweder gewachsen oder verschwunden , und deren Teilnehmer längst in ihren Gräbern vermodert waren .
Dann stellten sie sich darüber zur Rede , welchen Grund das eine denn zu haben glaube , das andere überleben zu können , und verfielen in einen elenden Wettstreit , wer von ihnen wohl noch die Genugtuung haben werde , den anderen tot vor sich zu sehen .
Wenn man am Tage darauf in ihr Haus kam , so wurde der greuliche Streit vor jedem Eintretenden , ob fremd oder bekannt , fortgeführt , bis die Frau erschöpft war und in Weinen und Beten verfiel , indes der Mann anscheinend munterer wurde , lustige Weisen pfiff , sich einen Pfannkuchen buk und fortwährend irgendeine Flause dazu hermurmelte .
Er konnte auf diese Weise einen ganzen Morgen hindurch nichts sagen als immer :
" Einundfünfzig ! Einundfünfzig ! Einundfünfzig ! " oder zur Abwechslung einmal :
" Ich weiß nicht , ich glaube immer , die alte Kunzin da drüben ist heute früh spazierengeritten !
sie hat gestern einen neuen Besen gekauft !
ich habe so was in der Luft flattern sehen , das sah ungefähr aus wie ihr roter Unterrock ; sonderbar ! hm ! Einundfünfzig " usw .
Dabei hatte er Gift und Tod im Herzen und wußte , daß seine Frau durch das Betragen doppelt litt ; denn sie hatte keine Bosheit noch Mutwillen , um den Kampf auf diese Weise fortzusetzen .
Was aber beide in diesem Zustande sich zuleide taten , bestand dann gewöhnlich in einer verschwenderischen Freigebigkeit , womit sie alles beschenkten , was ihnen zu nahe kam , gleichsam als wollte eines vor des anderen Augen den Besitz aufzehren , nach dem ein jedes trachtete .
Der Mann war gerade kein gottloser Mensch , sondern ließ , indem er in der gleichen wunderlichen Art wie an Gespenster und Hexen , so auch an Gott und seinen Himmel glaubte , denselben einen guten Mann sein und dachte nicht im mindesten daran , sich auch um die moralischen Lehren zu bekümmern , welche aus diesem Glauben entspringen sollten er aß und trank , lachte und fluchte und machte seine Schnurren , ohne je zu trachten , sein Leben mit einem ernsteren Grundsatze in Einklang zu bringen .
Aber auch der Frau fiel es niemals ein , daß ihre Leidenschaften mit dem religiösen Gebaren im Widerspruche sein könnten , und sie zeichnete sich vor ihren schmausenden Adeptinnen darin aus , daß sie niemals dem Ausdrucke dessen , was sie bewegte , einen Zügel anlegte .
Sie liebte und hafte , segnete und verwünschte und gab sich unverhüllt und ungehemmt allen Regungen ihres Gemütes hin , ohne je an eine eigene mögliche Schuld zu denken und sich unbefangenerweise stets auf Gott und seinen mächtigen Einfluß berufend .
Jede der Ehehälften hatte eine zahlreiche Verwandtschaft blutarmer Leute , welche im Lande zerstreut wohnten .
Diese teilten unter sich die Hoffnung auf das gewichtige Erbe um so mehr , als Frau Margret , zufolge ihrer hartnäckigen Abneigung gegen unverbesserlich arm Bleibende , ihnen nur spärliche Gaben von ihrem Überflusse zukommen ließ und sie nur an Feiertagen gastlich speiste und tränkte .
Alsdann erschienen von beiden Seiten her die alten Vettern und Basen , Schwestern und Schwäger mit ausgehungerten langnasigen Töchtern und bleichen Söhnen und trugen Säcklein und Körbe herbei , welche die kümmerlichen Gaben ihrer Armut enthielten , um die alten launenhaften Leute für sich zu gewinnen , und worin sie reichere Gegenspenden nach Hause zu tragen hofften .
Diese Sippschaft war schroff in zwei Lager geschieden , die sich in dem Streite , der zwischen den Hauptpersonen herrschte , ebenfalls den Hoffnungen auf den früheren Tod des Gegners hingaben , um einst ein vergrößertes Erbe zu erhalten .
Sie haßten und befeindeten sich ebenso stark untereinander , als die Leidenschaften Margrets und ihres Mannes das Vorbild dazu abgaben , und es entstand jedesmal , nachdem die zahlreiche Gesellschaft sich an dem ungewohnten Überflusse gesättigt und gewärmt hatte und der Übermut den anfänglichen Zwang auflöste , ein mächtiger Zank zwischen beiden Parteien , daß sich die Männer die übriggebliebenen Schinken , ehe sie dieselben in ihre Reisesäcke steckten , um die Köpfe schlugen und die armen Weiber sich gegenseitig unter die blassen spitzigen Nasen schimpften und über dem befriedigten Magen ein Herz voll Neid und Ärger auf den Heimweg trugen .
Ihre Augen funkelten stechend unter den dürftig aufgeputzten Sonntagshauben hervor , wenn sie mit langen Schritten , die vollgepfropften Bündel unter dem Arme , aus dem Tore zogen und sich grollend auf den Scheidewegen trennten , um den entlegenen Hütten zuzueilen .
Solcherweise ging es viele Jahre , bis die alte Frau Margret mit dem Sterben den Anfang machte und in jenes fabelhafte Reich der Geister und Gespenster selber hinüberging .
Sie hinterließ unerwarteterweise ein Testament , welches einen einzelnen jungen Mann zum alleinigen Erben einsetzte ; es war der letzte und jüngste jener Günstlinge , an deren Gewandtheit und Wohlergehen sie ihre Freude gehabt hatte , und sie war mit der Überzeugung gestorben , daß ihr gutes Gold nicht in ungeweihte Hände übergehe , sondern die Kraft und die Lust tüchtiger Leute sein werde .
Bei ihrem Leichenbegängnisse fanden sich sämtliche Verwandte beider Ehegatten ein , und es war ein großes Geheul und Gelärm , als sie sich also getäuscht fanden .
Sie vereinigten sich in ihrem Zorne alle gegen den glücklichen Erben , welcher ganz ruhig seine Habe einpackte , was irgend von Nutzen war , und auf einen großen Wagen lud .
Er überließ den armen Leuten nichts als die vorhandenen Vorräte an Lebensmitteln und die gesammelten Seltsamkeiten und Bücher der Seligen , insofern sie nicht von Gold , Silber oder sonstigem Gehalte waren .
Drei Tage und drei Nächte blieb der wehklagende Schwarm in dem Trauerhause , bis der letzte Knochen zerschlagen und dessen Mark mit dem letzten Bissen Brot aufgetunkt war .
Sodann zerstreuten sie sich allmählich , ein jeder mit dem Andenken , das er noch erbeutet hatte .
Der eine trug einen Pack Heiden- und Götzenbücher auf der Schulter , mit einem tüchtigen Stricke zusammengebunden und mit einem Scheite geknebelt , und unter dem Arme ein Säcklein getrockneter Pflaumen ; der andere hing ein Muttergottesbild an seinem Stabe über den Rücken und wiegte auf dem Kopfe eine kunstreich geschnitzte Lade , sehr geschickt mit Kartoffeln angefüllt in allen ihren Fächern .
Hagere lange Jungfrauen trugen zierliche altmodische Weidenkörbe und buntbemalte Schachteln , angefüllt mit künstlichen Blumen und vergilbtem Flitterkram ; Kinder schleppten wächserne Engel in den Armen oder trugen chinesische Krüge in den Händen ; es war , als sehe man eine Schar Bilderstürmer aus einer geplünderten Kirche kommen .
Doch gedachte ein jeder seine Beute als ein wertes Angedenken an die Verstorbene aufzubewahren , sich schließlich an das genossene Gute erinnernd , und zog mit Wehmut seine Straße , indessen der Haupterbe , neben seinem Wagen einherschreitend , plötzlich haltmachte , sich besann , darauf die ganze Ladung einem Trödler verkaufte und auch nicht einen Nagel aufbewahrte .
Dann ging er zu einem Goldschmied und verkaufte demselben die Schaumünzen , Kelche und Ketten und zog endlich mit rüstigen Schritten aus dem Tore , ohne sich umzusehen , mit seiner dicken Geldkatze und seinem Stabe .
Er schien froh zu sein , eine verdrießliche und langwierige Angelegenheit erledigt zu sehen .
In dem Hause aber blieb der alte Mann allein und einsam zurück mit dem zusammengeschmolzenen Reste jener früheren Teilung .
Er lebte noch drei Jahre und starb gerade an dem Tage , wo das letzte Goldstück gewechselt werden mußte .
Bis dahin vertrieb er sich die Zeit damit , daß er sich vornahm und ausmalte , wie er im Jenseits seine Frau haranguieren wolle , wenn sie da " mit ihren verrückten Ideen herumschlampe " , und welche Streiche er ihr angesichts der Apostel und Propheten spielen würde , daß die alten Gesellen was zu lachen bekämen .
Auch an manchen Toten seiner Bekanntschaft erinnerte er sich und freute sich auf die Wiederbelebung verjährten Unfuges beim Wiedersehen .
Ich hörte ihn immer nur in solch lustiger Art vom zukünftigen Leben sprechen .
Er war nun blind und bald neunzig Jahre alt , und wenn er , von Schmerzen , Trübsal und Schwäche heimgesucht , traurig und klagend wurde , so sprach er nichts von diesen Dingen , sondern rief immer , man sollte die Menschen totschlagen , ehe sie so alt und elend würden .
Endlich ging er aus wie ein Licht , dessen letzter Tropfen Öl aufgezehrt ist , schon vergessen von der Welt , und ich , als ein herangewachsener Mensch , war vielleicht der einzige Bekannte früherer Tage , welcher dem zusammengefallenen Restchen Asche zu Grabe folgte .
Achtes Kapitel Kinderverbrechen Gleich dem Chorus in den Schauspielen der Alten hatte ich von meiner frühsten Jugend an das Leben und die Ereignisse in diesem nachbarlichen Hause betrachtet und war ein allezeit aufmerksamer Teilnehmer .
Ich ging ab und zu , setzte mich in eine Ecke oder stand mitten unter den Handelnden und Lärmenden , wenn etwas vorfiel .
Ich holte die Bücher hervor und verlangte , wessen ich von den Sehenswürdigkeiten bedurfte , oder spielte mit den Schmucksachen der Frau Margret .
Alle die mannigfaltigen Personen , welche in das Haus kamen , kannten mich , und jeder war freundlich gegen mich , weil dieses meiner Beschützerin so behagte .
Ich aber machte nicht viele Worte , sondern gab acht , daß nichts von den geschehenden Dingen meinen Augen und Ohren entging .
Mit all diesen Eindrücken beladen , zog ich dann über die Gasse wieder nach Hause und spann in der Stille unserer Stube den Stoff zu grollen träumerischen Geweben aus , wozu die erregte Phantasie den Einschlag gab .
Sie verflochten sich mir mit dem wirklichen Leben , daß ich sie kaum von demselben unterscheiden konnte .
Daraus nur mag ich mir unter anderem eine Geschichte erklären , welche ich ungefähr in meinem siebenten Jahre anrichtete und die ich sonst gar nicht begreifen könnte .
Ich saß einst hinter dem Tische , mit irgendeinem Spielzeuge beschäftigt , und sprach dazu einige unanständige , höchst rohe Worte vor mich hin , deren Bedeutung mir unbekannt war und die ich auf der Straße gehört haben mochte .
Eine Frau saß bei meiner Mutter und plauderte mit ihr , als sie die Worte hörte und meine Mutter aufmerksam darauf machte .
Sie fragten mich mit ernster Miene , wer mich diese Sachen gelehrt hätte , insbesondere die fremde Frau drang in mich , worüber ich mich verwunderte , einen Augenblick nachsinnend , und dann den Namen eines Knaben nannte , den ich in der Schule zu sehen pflegte .
Sogleich fügte ich noch zwei oder drei andere hinzu , sämtlich Jungen von zwölf bis dreizehn Jahren , mit denen ich kaum noch ein Wort gesprochen hatte .
Einige Tage darauf behielt mich der Lehrer zu meiner Verwunderung nach der Schule zurück sowie jene vier angegebenen Knaben , welche mir wie halbe Männer vorkamen , da sie an Alter und Größe mir weit vorgeschritten waren .
Ein geistlicher Herr erschien , welcher gewöhnlich den Religionsunterricht gab und sonst der Schule vorstand , setzte sich mit dem Lehrer an einen Tisch und hieß mich neben ihn sitzen .
Die Knaben hingegen mußten sich vor dem Tische in eine Reihe stellen und harrten der Dinge , die da kommen sollten .
Sie wurden nun mit feierlicher Stimme gefragt , ob sie gewisse Worte in meiner Gegenwart ausgesprochen hätten ; sie wußten nichts zu antworten und waren ganz erstaunt .
Hierauf sagte der Geistliche zu mir : " Wo hast du die bewußten Dinge gehört von diesen Buben ? "
Ich , war sogleich wieder im Zuge und antwortete unverweilt mit trockener Bestimmtheit :
" Im Brüderleinsholze ! "
Dieses ist ein Gehölz , eine Stunde von der Stadt entfernt , wo ich in meinem Leben nie gewesen war , das ich aber oft nennen hörte .
" Wie ist es dabei zugegangen , wie seid ihr dahin gekommen ? " fragte man weiter .
Ich erzählte , wie mich die Knaben eines Tages zu einem Spaziergange überredet und in den Wald hinaus mitgenommen hätten , und ich beschrieb einläßlich die Art , wie etwa größere Knaben einen kleineren zu einem mutwilligen Streifzuge mitnehmen .
Die Angeklagten gerieten außer sich und beteuerten mit Tränen , daß sie teils seit langer Zeit , teils gar nie in jenem Gehölze gewesen seien , am wenigsten mit mir !
Dabei sahen sie mit erschrecktem Hasse auf mich wie auf eine böse Schlange und wollten mich mit Vorwürfen und Fragen bestürmen , wurden aber zur Ruhe gewiesen und ich aufgefordert , den Weg anzugeben , welchen wir gegangen .
Sogleich lag derselbe deutlich vor meinen Augen , und angefeuert durch den Widerspruch und das Leugnen eines Märchens , an welches ich nun selbst glaubte , da ich mir sonst auf keine Weise den wirklichen Bestand der gegenwärtigen Szene erklären konnte , gab ich nun Weg und Stege an , die an den Ort führen .
Ich kannte dieselben nur vom flüchtigen Hörensagen , und obgleich ich kaum darauf gemerkt hatte , stellte sich nun jedes Wort zur rechten Zeit ein .
Ferner erzählte ich , wie wir unterwegs Nüsse heruntergeschlagen , Feuer gemacht und gestohlene Kartoffeln gebraten , auch einen Bauernjungen jämmerlich durchgebleut hätten , welcher uns hindern wollte .
Im Walde angekommen , kletterten meine Gefährten auf hohe Tannen und jauchzten in der Höhe , den Geistlichen und den Lehrer mit Spitznamen benennend .
Diese Spitznamen hatte ich , über das Äußere der beiden Männer nachsinnend , längst im eigenen Herzen ausgeheckt , aber nie verlautbart ; bei dieser Gelegenheit brachte ich sie zugleich an den Mann , und der Zorn der Herren war ebenso groß als das Erstaunen der vorgeschobenen Knaben .
Nachdem sie wieder von den Bäumen heruntergekommen , schnitten sie große Ruten und forderten mich auf , auch auf ein Bäumchen zu klettern und oben die Spottnamen auszurufen .
Als ich mich weigerte , banden sie mich an einen Baum fest und schlugen mich so lange mit den Ruten , bis ich alles aussprach , was sie verlangten , auch jene unanständigen Worte .
In dessen ich rief , schlichen sie sich hinter meinem Rücken davon , ein Bauer kam in demselben Augenblicke heran , hörte meine unsittlichen Reden und packte mich bei den Ohren .
" Wart , ihr bösen Buben ! " rief er , " diesen habe ich ! " und hieb mir einige Streiche .
Dann ging er ebenfalls weg und ließ mich stehen , während es schon dunkelte .
Mit vieler Mühe riß ich mich los und suchte den Heimweg in dem dunklen Wald .
Allein ich verirrte mich , fiel in einen tiefen Bach , in welchem ich bis zum Ausgange des Waldes teils schwamm , teils watete , und so , nach Bestehung mancher Gefährde , den rechten Weg fand .
Doch wurde ich noch von einem großen Ziegenbocke angegriffen , bekämpfte denselben mit einem rasch ausgerissenen Zaunpfahl und schlug ihn in die Flucht .
Noch nie hatte man in der Schule eine solche Beredsamkeit an mir bemerkt wie bei dieser Erzählung .
Es kam niemand in den Sinn , etwa bei meiner Mutter anfragen zu lassen , ob ich eines Tages durchnäßt und nächtlich nach Hause gekommen sei ?
Dagegen brachte man mit meinem Abenteuer in Zusammenhäng , daß der eine und andere der Knaben nachgewiesenermaßen die Schule geschwänzt hatte , gerade um die Zeit , welche ich angab .
Man glaubte meiner großen Jugend sowohl wie meiner Erzählung ; diese fiel ganz unerwartet und unbefangen aus dem blauen Himmel meines sonstigen Schweigens .
Die Angeklagten wurden unschuldig verurteilt als verwilderte bösartige junge Leute , da ihr hartnäckiges und einstimmiges Leugnen und ihre gerechte Entrüstung und Verzweiflung die Sache noch verschlimmerten ; sie erhielten die härtesten Schulstrafen , wurden auf die Schandbank gesetzt und überdies noch von ihren Eltern geprügelt und eingesperrt .
Soviel ich mich dunkel erinnere , war mir das angerichtete Unheil nicht nur gleichgültig , sondern ich fühlte eher noch eine Befriedigung in mir , daß die poetische Gerechtigkeit meine Erfindung so schön und sichtbarlich abrundete , daß etwas Auffallendes geschah , gehandelt und gelitten wurde , und das infolge meines schöpferischen Wortes .
Ich begriff gar nicht , wie die mißhandelten Jungen so lamentieren und erbost sein konnten gegen mich , da der treffliche Verlauf der Geschichte sich von selbst verstand und ich hieran sowenig etwas ändern konnte als die alten Götter am Fatum .
Die Betroffenen waren sämtlich , was man schon in der Kinderwelt rechtliche Leute nennen könnte , ruhige , gesetzte Knaben , welche bisher keinen Anlaß zu scharfem Tadel gegeben und aus denen seither stille und arbeitsame junge Bürger geworden .
Um so tiefer wurzelte in ihnen die Erinnerung an meine Teufelei und das erlittene Unrecht , und als sie es jahrelang nachher mir vorhielten , erinnerte ich mich ganz genau wieder an die vergessene Geschichte , und fast jedes Wort wurde wieder lebendig .
Erst jetzt quälte mich der Vorfall mit verdoppelter nachhaltiger Wut , und sooft ich daran dachte , stieg mir das Blut zu Kopfe , und ich hätte mit aller Gewalt die Schuld auf jene leichtgläubigen Inquisitoren schieben , ja sogar die plauderhafte Frau anklagen mögen , welche auf die verpönten Worte gemerkt und nicht geruht hatte , bis ein bestimmter Ursprung derselben nachgewiesen war .
Drei der ehemaligen Schulgenossen verziehen mir und lachten , als sie sahen , wie mich die Sache nachträglich beunruhigte , und sie freuten sich , daß ich zu ihrer Genugtuung mich alles einzelnen so wohl erinnerte .
Nur der vierte , der viele Mühe mit dem Leben hatte , konnte niemals einen Unterschied machen zwischen der Kinderzeit und dem späteren Alter und trug mir die angetane Unbilde so nach , als ob ich sie erst heute , mit dem Verstande eines Erwachsenen , begangen hätte .
Mit dem tiefsten Hasse ging er an mir vorüber , und wenn er mir beleidigende Blicke zuwarf , so vermochte ich sie nicht zu erwidern , weil das frühe Unrecht auf mir ruhte und keiner es vergessen konnte .
Neuntes Kapitel Schuldämmerung Ich hatte mich nunmehr in der Schule zurechtgefunden und befand mich wohl in derselben , da das erste Lernen rasch , aufeinanderfolgte und täglich fortschritt .
Auch die Einrichtung der Schule hatte viel Kurzweiliges ; ich ging gern und eifrig hinein , sie bildete mein öffentliches Leben und war mir ungefähr , was den Alten die Gerichtsstätte und das Theater .
Es war keine öffentliche Anstalt , sondern das Werk eines gemeinnützigen Vereins und dazu bestimmt , bei dem damaligen Mangel guter unterer Volksschulen , den Kindern dürftiger Leute eine bessere Erziehung zu verschaffen , und sie hieß daher Armenschule .
Die Pestalozzi-Lancastersche Unterrichtsweise wurde angewendet , und zwar mit einem Eifer und einer Hingebung , welche gewöhnlich nur Eigenschaften von leidenschaftlichen Privatschulmännern zu sein pflegen .
Mein Vater hatte bei seinen Lebzeiten für die Einrichtung und für die Ergebnisse dieser Anstalt , die er zuweilen besuchte und in Augenschein nahm , geschwärmt und oft den Entschluß ausgesprochen , meine ersten Schuljahre im derselben verfließen zu lassen , schon darin eine Erziehungsmaßregel suchend , daß ich mit den ärmsten Kindern der Stadt meine frühsten Jugendjahre zubrächte und aller Kastengeist und Hochmut so im Keime erstickt würden .
Diese Absicht war für meine Mutter ein heiliges Vermächtnis und erleichterte ihr die Wahl der ersten Schule für mich .
In einem großen Saale wurden etwa hundert Kinder unterrichtet , zur Hälfte Knaben , zur Hälfte Mädchen , vom fünften bis zum zwölften Jahre .
Sechs lange Schulbänke standen in der Mitte , von dem einen Geschlecht besetzt ; jede bildete eine Altersklasse , und davor stand ein vorgeschrittener Schüler von elf bis zwölf Jahren und unterrichtete die ganze Bank , welche ihm anvertraut war , indessen das andere Geschlecht in Halbkreisen um sechs Pulte herum stand , die längs den Wänden angebracht waren .
Inmitten jedes Kreises saß auf einem Stühlchen ebenfalls ein unterrichtender Schüler oder eine Schülerin .
Der Hauptlehrer thronte auf einem erhöhten Katheder und übersah das Ganze , zwei Gehilfen standen ihm bei , machten die Runde durch den ziemlich düstern Saal , hier und dort einschreitend , nachhelfend und die gelehrtesten Dinge selbst beibringend .
Jede halbe Stunde wurde mit dem Gegenstande gewechselt ; der Oberlehrer gab ein Zeichen mit einer Klingel , und nun wurde ein treffliches Manöver ausgeführt , mittels dessen die hundert Kinder in vorgeschriebener Bewegung und Haltung , immer nach der Klingel , aufstanden , sich kehrten , schwenkten und durch einen wohlberechneten Marsch in einer Minute die Stellung wechselten , so daß die früher fünfzig Sitzenden nun zu stehen kamen und umgekehrt .
Es war immer eine unendlich glückliche Minute , wenn wir , die Hände reglementarisch auf dem Rücken verschränkt , die Knaben bei den Mädchen vorbeimarschierten und unseren soldatischen Schritt gegen ihr Gänsegetrippel hervorzuheben suchten .
Ich weiß nicht , war es eine artige herkömmliche Nachlässigkeit oder gar eine Absicht , daß es erlaubt war , Blumen mitzubringen und während des Unterrichts in den Händen zu halten , wenigstens habe ich diese hübsche Lizenz in keiner anderen Schule mehr gefunden ; aber es war immer gut anzusehen während des lustigen Marsches , wie fast jedes Mädchen eine Rose oder eine Nelke in den Fingern auf dem Rücken hielt , während die Buben die Blumen im Munde trugen wie Tabakspfeifen oder dieselben burschikos hinter die Ohren steckten .
Es waren alles Kinder von Holzhackern , Tagelöhnern , armen Schneidern , Schustern und von Almosengenossin Leuten .
Bessere Handwerker durften ihres Ranges und Kredits wegen die Schule nicht benutzen .
Daher war ich der best und reinlichst gekleidete unter den Buben und galt für halb vornehm , obgleich ich bald sehr vertraulich war mit den buntscheckig geflickten armen Teufeln , ihren Sitten und Gewohnheiten , insofern sie mir nicht allzu fremd und unfreundlich waren .
Denn obgleich die Kinder der Armen nicht schlimmer und etwa boshafter sind als die der Reichen oder sonst Geborgenen , im Gegenteil eher unschuldiger und gutmütiger , so haben sie doch manchmal grinsende Derbheiten in ihren Gebärden , welche mich bei einigen Mitschülern abstießen .
Die Kleidung , welche ich damals erhielt , war grün , da meine Mutter aus den Uniformstücken des Vaters eine Tracht für mich schneiden ließ , für den Sonntag einen Anzug und für die Werktage einen .
Auch fast alle nachgelassenen bürgerlichen Gewänder waren von grüner Farbe ; bis zu meinem zwölften Jahre aber reichte der Nachlaß zur Herstellung von grünen lacken und Röcklein aus bei der großen Strenge und Aufmerksamkeit der Mutter für Schonung und Reinhaltung der Kleider , so daß ich von der unveränderlichen Farbe schon früh den Namen " grüner Heinrich " erhielt und in unserer Stadt trug .
Als solcher machte ich in der Schule und auf der Gasse bald eine bekannte Figur und benutzte meine grüne Popularität zur steten Fortsetzung meiner Beobachtungen und chorartiger Teilnahme an allem , was geschah und gehandelt wurde .
Ich drang mit den verschiedensten Kindern , je nach Bedürfnis und Laune , in die elterlichen Häuser und war als ein vermeintlich stilles gutes Kind gern gesehen , während ich mir genau den Haushalt und die Gebräuche der armen Leute ansah und dann wieder wegblieb , um mich in mein Hauptquartier bei der Frau Margret zurückzuziehen , wo es am Ende immer am meisten zu sehen gab .
Sie freute sich , daß ich bald imstande war , nicht nur das Deutsche geläufig vorlesen , sondern auch die in ihren alten Büchern häufigen lateinischen Lettern erklären zu können sowie die arabischen Zahlen , die sie nie verstehen lernte .
Ich verfertigte ihr auch allerlei Notizen in Frakturschrift auf Papierzettel , welche sie aufbewahren und bequem lesen konnte , und wurde auf diese Weise ihr kleiner Geheimschreiber .
Schon sah sie , die mich für ein großes Genie hielt , einen ihrer zukünftigen , klugen Glückmacher in mir und war im voraus meiner glänzenden Laufbahn froh .
Wirklich machte mir das Lernen weder Mühe noch Kummer , und ich war , ohne zu wissen wie , zu der Würde herangediehen , die kleineren Genossen unterrichten zu dürfen .
Dieses geriet mir zu einer neuen Lust , vorzüglich weil ich , ausgerüstet mit der Macht zu lohnen und zu strafen , kleine Schicksale kombinieren , Lächeln und Tränen , Freund- und Feindschaft hervorzaubern konnte .
Sogar die Frauenliebe spielte ihre ersten schwachen Morgenwölkchen dazwischen .
Wenn ich in einem Halbkreise von neun bis zehn kleinen Mädchen saß , so war der erste ehrenvollste Platz bald zunächst meiner Seite , bald war es der letzte , je nach der Gegend in dem grollen Saale .
So geschah es , daß ich die Mädchen , welche ich gern sah , entweder fortwährend oben hielt in der Region des Ruhmes und der Tugend oder aber sie stets niederdrückte in die dunkle Sphäre der Sünde und der Vergessenheit , in beiden Fällen immer zunächst meinem tyrannischen Herzen .
Dieses aber wurde selbst reichlich mitbewegt , wenn ich oft von der ohne Verdienst erhobenen Schönen kein Lächeln des Dankes erhielt , wenn sie die unverdiente Ehre hinnahm , als ob sie ihr gebührte , und es mir durch mutwillige rücksichtslose Streiche unendlich erschwerte , sie auf der glatten Höhe zu halten ohne auffallende Ungerechtigkeit .
Nur zwei Dinge waren mir in dieser Schule quälend und unheimlich und sind eine unliebliche Erinnerung geblieben .
Das eine war die düstere kriminalistische Weise , in welcher die Schuljustiz gehandhabt wurde .
Es lag dies teils noch im Geiste der alten Zeit , an deren Grenze wir standen , teils in einer Privatliebhaberei der Personen und harmonierte übel mit dem übrigen guten Ton .
Es wurden ausgesuchte peinliche und infamierende Strafen angewendet auf dies zarte Lebensalter , und es verging fast kein Monat ohne eine feierliche Exekution an irgendeinem armen Sünder .
Zwar wurden meistens wirkliche Bösewichte betroffen ; es war aber immerhin verkehrt , indem es die Kinder zu einem frühen geläufigen Verdammen hinführte ; so schon ist es eine seltsame Erscheinung , daß die Kinder , selbst wenn sie das Bewußtsein des gleichen Fehlers in sich haben , aber verschont geblieben sind , ein bestraftes und bezeichnetes verachten , verfolgen und verhöhnen , bis die letzten Wirkungen verklungen oder die Verfolger selbst in das Netz gefallen sind .
Solange das Goldene Zeitalter nicht gekommen , müssen kleine Buben geprügelt werden ; allein einen widerlichen Eindruck machte es , wenn ein unglücklicher Sünder nach gehaltener Standrede in ein abgelegenes Zimmer geführt , dort ausgezogen , auf eine Bank gelegt und abgehauen wurde ; oder als einmal ein ziemlich großes Mädchen mit einer umgehängten Tafel auf einem hohen Schranke sitzen mußte , einen ganzen Tag lang .
Ich hatte tiefes Mitleid mit ihr , obgleich sie etwas Großes begangen haben mochte .
Vielleicht war sie auch unschuldig verurteilt !
Ein paar Jahre später ertränkte sich das gleiche Mädchen während des Konfirmationsunterrichtes , ich weiß nicht mehr weshalb , erinnere mich aber noch der trauernden Teilnahme , welche ich für die Tote hegte , als ich sie zu Grabe tragen sah , gefolgt von einer großen Schar weißgekleideter Mädchen zwischen fünf- und sechzehn Jahren , welche Blumen trugen .
Man erwies ihr , ungeachtet ihres unchristlichen Todes , diese Ehre ihrer Jugend wegen , weil man zugleich das grelle Ereignis damit verhüllen und mäßigen konnte .
Die andere peinliche Erinnerung an jene Schulzeit sind mir der Katechismus und die Stunden , während deren wir uns damit beschäftigen mußten .
Ein kleines Buch voll hölzerner , blutloser Fragen und Antworten , losgerissen aus dem Leben der biblischen Schriften , nur geeignet , den dürren Verstand bejahrter und verstockter Menschen zu beschäftigen , mußte während der so unendlich scheinenden Jugendjahre in ewigem Wiederkäuen auswendig gelernt und in verständnislosem Dialoge hergesagt werden .
Harte Worte und harte Bußen waren die Aufklärungen , beklemmende Angst , keines der dunklen Worte zu vergessen , die Anfeuerung zu diesem religiösen Leben .
Einzelne Psalmstellen und Liederstrophen , ebenfalls aus allem Zusammenhänge gezerrt und deshalb unlieber einzuprägen als ein ganzes organisches Gedicht , verwirrten das Gedächtnis , anstatt es zu üben .
Wenn man diese , gegen die verwilderte Sündhaftigkeit ausgewachsener Menschen gerichteten , vierschrötigen nackten Gebote neben den übersinnlichen und unfaßlichen Glaubenssätzen gereiht sah , so fühlte man nicht den Geist wehen einer sanften menschlichen Entwicklung , sondern den schwülen Hauch eines rohen und starren Barbarentums , wo es einzig darauf ankommt , den jungen , zarten Nachwuchs auf der Schnell- und Zwangbleiche so früh als möglich für den ganzen Umfang des bestehenden Lebens und Denkens fertig und verantwortlich zu machen .
Die Pein dieser Disziplin erreichte ihren Gipfel , wenn mehrere Male im Jahre die Reihe an mich kam , am Sonntage in der Kirche , vor der ganzen Gemeinde , mit lauter vernehmlicher Stimme das wunderliche Zwiegespräch mit dem Geistlichen zu führen , welcher in weiter Entfernung von mir auf der Kanzel stand und wo jedes Stocken und Vergessen zu einer Art Kirchenschande gereichte .
Viele Kinder schöpfen zwar gerade aus dieser Sitte die Kunst , mit Salbung und Zungengeläufigkeit , wohl gar mit ihrer Frechheit zu prunken , und der Tag geriet ihnen immer zu einem Triumph- und Freudentag .
Gerade bei diesen erwies es sich aber jederzeit , daß alles eitel Schall und Rauch gewesen .
Es gibt geborene Protestanten , und ich möchte mich zu diesen zählen , weil nicht ein Mangel an religiösem Sinne , sondern , freilich mir unbewußt , ein letztes feines Räuchlein verschollener Scheiterhaufen , durch die hallende Kirche schwebend , mir den Aufenthalt widerlich machte , wenn die eintönigen Gewaltsätze hin- und hergeworfen wurden .
Nicht als ob ich mir einbilden wollte , ein scharfsinnig polemisches Wunderkind gewesen zu sein ; sondern es war einzig Sache des angeborenen Gefühles .
So wurde ich gewaltsam auf meinen Privatverkehr mit Gott zurückgedrängt , und ich beharrte auf meiner Sitte , meine Gebete und Verhandlungen selbst zu bestreiten nach meinem Bedürfnisse und sie auch in Ansehung der Zeit nur dann anzuwenden , wenn ich ihrer bedurfte .
Einzig das Vaterunser wurde morgens und abends regelmäßig , aber lautlos , gebetet .
Aber auch aus meinem inneren und äußeren Spiel-und Lustleben wurde der liebe Gott verdrängt und konnte weder durch die Frau Margret noch durch meine Mutter darin erhalten werden .
Für lange Jahre wurde mir der Gedanke Gottes zu einer prosaischen Vorstellung , in dem Sinne , wie die schlechten Poeten das wirkliche Leben für prosaisch halten im Gegensatze zu dem erfundenen und fabelhaften .
Das Leben , die sinnliche Natur waren merkwürdigerweise mein Märchen , in dem ich meine Freude suchte , während Gott für mich zu der notwendigen , aber nüchternen und schulmeisterlichen Wirklichkeit wurde , zu welcher ich nur zurückkehrte wie ein müdgetummelter , hungriger Knabe zur alltäglichen Haussuppe und mit der ich so schnell fertig zu werden suchte als möglich .
Solches bewirkte die Art und Weise , wie die Religion und meine Kinderzeit zusammengekuppelt wurden .
Wenigstens kann ich mich , trotzdem daß jene ganze Zeit wie ein heller Spiegel vor mir liegt , nicht entsinnen , daß ich vor dem Erwachen der Vernunft je einen Andachtschauer , wenn auch noch so kindlich , empfunden hätte .
Ich betrachte diese halb gottlose Zeit gerade der weichsten und bildsamsten Jahre , welche deren wohl sieben bis achte andauerte , als eine kalte öde Strecke und weise die Schuld einzig auf den Katechismus und seine Handhaber .
Denn wenn ich recht scharf in jenen vergangenen dämmerhaften Seelenzustand zurückzudringen versuchte , so entdecke ich noch wohl , daß ich den Gott meiner Kindheit nicht liebte , sondern nur brauchte .
Jetzt erst wird mir der trübe kalte Schleier ganz deutlich , welcher über jener Zeit liegt und mir dazumal die Hälfte des Lebens verhüllte , mich blöde und scheu machte , daß ich die Leute nicht verstand und mich selbst nicht zu erkennen geben konnte , so daß die Erzieher vor mir standen als vor einem Rätsel und sagten :
Dieses ist ein seltsames Gewächs , man weiß nicht viel damit anzufangen !
Zehntes Kapitel Das spielende Kind Desto eifriger verkehrte ich im stillen mit mir selbst , in der Welt , die ich mir allein zu bauen gezwungen war .
Meine Mutter kaufte mir nur äußerst wenig Spielzeug , immer und einzig darauf bedacht , jeden Heller für meine Zukunft zu sparen , und erachtete in ihrem Sinne jede Ausgabe für überflüssig , welche nicht unmittelbar für das Notwendigste geopfert wurde .
Sie suchte mich dafür durch fortwährende mündliche Unterhaltungen zu beschäftigen und erzählte mir tausend Dinge aus ihrem vergangenen Leben sowohl wie aus dem Leben anderer Leute , indem sie in unserer Einsamkeit selbst eine süße Gewohnheit darin fand .
Aber diese Unterhaltung sowie das Treiben im wunderlichen Nachbarhause konnte doch zu letzt meine Stunden nicht ausfüllen , und ich bedurfte eines sinnlichen Stoffes , welcher meiner Gestaltungslust anheimgegeben war .
So war ich bald darauf angewiesen , mir mein Spielzeug selbst zu schaffen .
Das Papier , das Holz , die gewöhnlichen Aushelfer in diesem Falle , waren schnell abgebraucht , besonders da ich keinen Mentor hatte , welcher mich mit Handgriffen und Künsten bekannt machte .
Was ich so bei den Menschen nicht fand , das gab mir die stumme Natur .
Ich sah aus der Ferne bei anderen Knaben , daß sie artige kleine Naturaliensammlungen besaßen , besonders Steine und Schmetterlinge , und von ihren Lehrern und Vätern angeleitet wurden , dergleichen selbst auf ihren Ausflügen zu suchen .
Ich ahmte dieses nun auf eigene Faust nach und begann gewagte Reisen längs der Bach- und Flußbette zu unternehmen , wo ein buntes Geschiebe an der Sonne lag .
Bald hatte ich eine gewichtige Sammlung glänzender und farbiger Mineralien beisammen , Glimmer , Quarze und solche Steine , welche mir durch ihre abweichende Form auffielen .
Glänzende Schlacken , aus Hüttenwerken in den Strom geworfen , hielt ich ebenfalls für wertvolle Stücke , Glasflüsse für Edelsteine , und der Trödelkram der Frau Margret lieferte mir einigen Abfall an polierten Marmorscherben und halb durchsichtigen Alabasterschnörkeln , welche überdies noch eine antiquarische Glorie durchdrang .
Für diese Dinge verfertigte ich Fächer und Behälter und legte ihnen wunderlich beschriebene Zettel bei .
Wenn die Sonne in unser Höfchen schien , so schleppte ich den ganzen Schatz hinunter , wusch Stück für Stück in dem kleinen Brünnlein und breitete sie nachher an der Sonne aus , um sie zu trockenen , mich an ihrem Glanze erfreuend .
Dann ordnete ich sie wieder in die Schachteln und hüllte die glänzendsten Dinge sorglich in Baumwolle , welche ich aus den grollen Ballen am Hafenplatze und beim Kaufhause gezupft hatte .
So trieb ich es lange Zeit ; allein es war nur der äußere Schein , der mich erbaute , und als ich sah , daß jene Knaben für jeden Stein einen bestimmten Namen besaßen und zugleich viel Merkwürdiges , was mir unzugänglich war , wie Kristalle und Erze , auch ein Verständnis dafür gewannen , welches mir durchaus fremd war , so starb mir das ganze Spiel ab und betrübte mich .
Dazumal konnte ich nichts Totes und Weggeworfenes um mich liegen sehen ; was ich nicht brauchen konnte , verbrannte ich hastig oder entfernte es weit von mir ; so trug ich eines Tages die sämtliche Last meiner Steine mit vieler Mühe an den Strom hinaus , versenkte sie in die Wellen und ging ganz traurig und niedergeschlagen nach Hause .
Nun versuchte ich es mit den Schmetterlingen und Käfern .
Meine Mutter verfertigte mir ein Garn und ging oft selbst mit mir auf die Wiesen hinaus ; denn die Einfachheit und Billigkeit dieser Spiele leuchteten ihr ein .
Ich fing zusammen , wessen ich habhaft werden konnte , und setzte eine Unzahl Raupen in Gefangenschaft .
Allein ich kannte die Speise dieser letzteren nicht und wußte sie sonst nicht zu behandeln , so daß kein Schmetterling aus meiner Zucht hervorging .
Die lebendigen Schmetterlinge aber , welche ich fing , wie die glänzenden Käfer machten mir saure Mühe mit dem Töten und dem Unversehrterhalten ; denn die zarten Tiere behaupteten eine zähe Lebenskraft in meinen mörderischen Händen , und bis sie endlich leblos waren , fand sich Duft und Farbe zerstört und verloren , und es ragte auf meinen Nadeln eine zerfetzte Gesellschaft erbarmungswürdiger Märtyrer .
Schon das Töten an sich selbst ermüdete mich und regte mich zu sehr auf , indem ich die zierlichen Geschöpfe nicht leiden sehen konnte .
Dieses war keine unkindliche Empfindsamkeit ; mir widerwärtige oder gleichgültige Tiere konnte ich so gut mißhandeln wie alle Kinder ; es war vielmehr ein ungerechtes Mitgefühl für diese bunteren Kreaturen , denen ich wohlgewogen war .
Jeder der unseligen Reste machte mich um so melancholischer , als er das Denkmal eines im Freien zugebrachten Tages und eines Abenteuers war .
Die Zeit von seiner Gefangennehmung bis zu seinem qualvollen Tode war ein Schicksal , welches mich mitberührte , und die stummen Überbleibsel redeten eine vorwurfsvolle Sprache zu mir .
Auch diese Unternehmung scheiterte endlich , als ich zum ersten Male eine große Menagerie sah .
Sogleich faßte ich den Entschluß , eine solche anzulegen , und baute eine Menge Käfige und Zellen .
Mit vielem Fleiße wandelte ich dazu kleine Kästchen um , verfertigte deren aus Pappe und Holz und spannte Gitter von Draht oder Zwirn davor , je nach der Stärke des Tieres , welches dafür bestimmt war .
Der erste Insasse war eine Maus , welche mit eben der Umständlichkeit , mit welcher ein Bär installiert wird , aus der Mausefalle in ihren Kerker hinübergeleitet wurde .
Dann folgte ein junges Kaninchen ; einige Sperlinge , eine Blindschleiche , eine größere Schlange , mehrere Eidechsen verschiedener Farbe und Größe ; ein mächtiger Hirschkäfer mit vielen anderen Käfern schmachteten bald in den Behältern , welche ordentlich aufeinandergetürmt waren .
Mehrere große Spinnen versahen in Wahrheit die Stelle der wilden Tiger für mich , da ich sie entsetzlich fürchtete und nur mit großem Umschweife gefangen hatte .
Mit schauerlichem Behagen betrachtete ich die Wehrlosen , bis eines Tages eine Kreuzspinne aus ihrem Käfige brach und mir rasend über Hand und Kleid lief .
Der Schrecken vermehrte jedoch mein Interesse an der kleinen Menagerie , und ich fütterte sie sehr regelmäßig , führte auch andere Kinder herbei und erklärte ihnen die Bestien mit großem Pomp .
Ein junger Weih , welchen ich erwarb , war der große Königsadler , die Eidechsen Krokodile , und die Schlangen wurden sorgsam aus ihren Tüchern hervorgehoben und einer Puppe um die Glieder gelegt .
Dann saß ich wieder stundenlang allein vor den trauernden Tieren und betrachtete ihre Bewegungen .
Die Maus hatte sich längst durchgebissen und war verschwunden , die Blindschleiche war längst zerbrochen , so wie die Schwänze sämtlicher Krokodile , das Kaninchen war mager wie ein Gerippe und hatte doch keinen Platz mehr in seinem Käfig , alle übrigen Tiere starben ab und machten mich melancholisch , so daß ich beschloß , sie alle zu töten und zu begraben .
Ich nahm ein dünnes langes Eisen , machte es glühend und drang mit zitternder Hand damit durch die Gitter und begann ein greuliches Blutbad anzurichten .
Aber die Geschöpfe waren mir alle lieb geworden , auch erschreckte mich das Zucken des zerstörten Organismus , und ich mußte innehalten .
Ich eilte in den Hof hinunter , machte eine Grube unter den Vogelbeerbäumchen , worin ich die ganze Sammlung , tote , halbtote und lebende , in ihren Kasten kopfüber warf und eilig verscharrte .
Meine Mutter sagte , als sie es sah , ich hätte die Tiere nur wieder ins Freie tragen sollen , wo ich sie geholt hätte , vielleicht wären sie dort wieder gesund geworden .
Ich sah dies ein und bereute meine Tat ; der Rasenplatz war aber lange eine schauerliche Stätte für mich , und ich wagte nie jener kindlichen Neugierde zu gehorchen , welche es immer antreibt , etwas Vergrabenes wieder auszugraben und anzusehen .
Bei Frau Margret tat sich mir die nächste Spielerei auf .
In einer verrückten Theosophie , welche ich unter ihren Büchern fand , war eine Anweisung enthalten , die vier Elemente zu veranschaulichen , nebst anderen kindischen Experimenten und den dazugehörigen Tafeln .
Nach diesen Vorschriften nahm ich eine große Phiole , füllte sie zum Vierteile mit Sand , zum Vierteile mit Wasser , dann mit Öl , und das letzte Vierteil ließ ich leer , das heißt mit Luft gefüllt .
Die Materien sonderten sich nach ihrer Schwere auseinander und stellten nun in dem geschlossenen Raume die vier Elemente vor , Erde , Wasser , Feuer ( das Brennöl ) und Luft .
Ich schüttelte sie tüchtig durcheinander , daraus entstand das Chaos , welches sich wieder aufs schönste abklärte , und ich saß sehr vergnügt vor der höchst gelehrten Erscheinung .
Dann nahm ich Bogen Papier und zeichnete darauf , nach den Angaben jenes Buches , große Sphären mit Kreisen und Linien kreuz und quer , farbig begrenzt und mit Zahlen und lateinischen Lettern besetzt .
Die vier Weltgegenden , Zonen und Pole , Himmelsräume , Elemente , Temperamente , Tugenden und Laster , Menschen und Geister , Erde , Hölle , Zwischenreich , die sieben Himmel , alles war toll und doch nach einer gewissen Ordnung durcheinandergeworfen und gab ein angestrengtes , lohnendes Bemühen .
Alle Sphären wurden mit entsprechenden Seelen bevölkert , welche darin gedeihen konnten .
Ich bezeichnete sie mit Sternen und diese mit Namen ; der glückseligste war mein Vater , zunächst dem Auge Gottes , noch , innerhalb des Dreieckes , und schien durch dieses allsehende Auge auf die Mutter und mich herunterzuschauen , welche in den schönsten Gegenden der Erde spazierten .
Meine Widersacher aber schmachteten sämtlich in der Hölle , wo der Böse mit einem ansehnlichen Schwanze begabt war .
Je nach dem Verhalten der Menschen veränderte ich ihre Stellungen , beförderte sie in reinere Gegenden oder setzte sie zurück , wo Heulen und Zähneklappen herrschte .
Manchen ließ ich prüfungsweise im Unbestimmten schweben , sperrte auch wohl zwei , die sich im Leben nicht ausstehen mochten , zusammen in eine abgelegene Region , indessen ich zwei andere , die sich gern hatten , trennte , um sie nach vielen Prüfungen zusammenzubringen an einem glückseligeren Orte .
Ich führte so ganz im geheimen eine genaue Übersicht und Schicksalsbestimmung aller mir bekannten Leute , jung und alt .
In der Theosophie war ferner anbefohlen , geschmolzenes Wachs in Wasser zu gießen , um ich weiß nicht mehr was zu versinnbildlichen .
Ich füllte mehrere Arzneigläser mit Wasser und belustigte mich an den Bildungen , welche durch das hineingegossene Wachs entstanden , verschloß die Gläser und vermehrte dadurch meine gelehrte Sammlung .
Dieses Gläserwesen sagte mir sehr zu , und ich fand einen neuen Stoff dafür , als ich einst mit tiefem Grauen durch eine anatomische Sammlung lief , welche dem Krankenhause beigegeben war .
Einige Reihen von Embryonen und Föten in ihren Gläsern jedoch erwarben sich meinen lebhaften Beifall und boten einen trefflichen Gegenstand für meine Sammlung dar , indem ich dergleichen nachzubilden versuchte .
In einem Schranke verwahrte die Mutter die aufgeschichtete Leinwand ihrer Mußezeit in rohen und gebleichten Stücken , und daselbst lagen auch , verborgen und vergessen , mehrere Scheiben reinlichen Wachses , die verjährten Zeugen einer einstigen fleißigen Bienenzucht .
Von diesen brach ich immer ansehnlichere Stücke los und formte nun im kleinen solche großköpfige wunderliche Burschen , wie ich sie gesehen , und bestrebte mich , die Verschiedenheit ihrer phantastischen Bildung noch zu vergrößern .
Ich trieb Gläser auf , soviel ich konnte , von allen Formen und Größen , und richtete die Bildwerke danach ein .
In langen schmalen Kölnischwasserflaschen , denen ich die Hälse abschlug , baumelten ebenso lange schmächtige Gesellen an ihrem Faden , in kurzen dicken Salbengläsern hausten knollenartige Gewächse .
Stadt mit Weingeist füllte ich die Gläser mit Wasser an und gab jedem Bewohner derselben einen Namen , welcher meinem humoristischen Interesse entsprach , das über der belustigenden Arbeit aus dem bloß gelehrten entstand .
Es waren schon einige dreißig Mitglieder dieses schönen Vereins beisammen und das Wachs nahezu aufgebraucht , als ich meine Geschöpfe taufte mit Namen wie Schnurper , Fark , Vogelmann , Säbelbein , Schneider , Schmerbauch , Nabelhans , Wachsbeißer , Wächserich , Honigteufel und dergleichen , und ich empfand ein dauerndes Vergnügen , indem ich zugleich für jeden eine kurze Lebensbeschreibung verfaßte , die sich in dem Berge zugetragen hatte , aus welchem nach unserem Ammenmärchen die kleinen Kinder geholt werden .
Ich verfertigte auch eigene Sphärentafeln für sie , worauf jeder verzeichnet war mit seiner tugendlichen oder schlimmen Aufführung , und wenn einer mein Mißfallen erregte , so wurde er so gut an einen schlechteren Ort gebracht als die lebendigen Leute .
Ich trieb diese Dinge alle in einer abgelegenen Kammer , wo ich eines Abends in der Dämmerung alle Gläser auf meinen Lieblingstisch stellte , ein altes braunes Möbel mit etlichen Auszügen .
Ich reihte die Gläser in einen großen Kreis , die vier Elemente in der Mitte , und breitete meine bunten Tabellen aus , beleuchtet von einigen Wachsmännern , denen Dochte aus erhobenen Händen brannten , und vertiefte mich nun in die Konstellationen auf den Karten , während ich die betreffenden Schicksalsträger einzeln vortreten ließ und musterte , den Wächserich und den Hürlimann , den Meyer oder den Vogelmann .
Von ungefähr stieß ich an den Tisch , daß alle Gläser erzitterten und die Wachsmännchen schwankten und zappelten .
Dies gefiel mir , so daß ich anfing , nach dem Takte auf den Tisch zu schlagen , wozu die Gesellen tanzten ; ich schlug immer stärker und wilder und sang dazu , bis die Gläser wie toll aneinanderschlugen und erklangen .
Auf einmal schneuzte es in einer Ecke , ein Paar feurige Augen funkelten hervor .
Eine fremde große Katze war in die Kammer gesperrt , hatte sich bisher ruhig verhalten und wurde nun scheu .
Ich wollte sie verscheuchen , da stellte sie sich drohend gegen mich , sträubte die Haare und pfauchte gewaltig ; ich machte in der Angst ein Fenster auf und warf ein Glas nach ihr , sie sprang hinauf , konnte aber nicht weiter gelangen und kehrte sich wieder gegen mich .
Nun schleuderte ich einen Wachsmann um den anderen auf sie , sie schüttelte sich furchtbar und rüstete sich zum Sprunge , und als ich zuletzt die vier Elemente ihr an den Kopf warf , fühlte ich ihre Krallen an meinem Halse .
Ich fiel am Tische nieder , die Lichter löschten aus , und ich schrie in der Dunkelheit , obgleich die Katze schon wieder weg war .
Meine Mutter trat herein , während dieselbe hinausschlüpfte , und fand mich halb bewußtlos am Boden liegen mitten in den Glasscherben , Wasserbächen und Kobolden .
Sie hatte nie auf mein Treiben in der Kammer geachtet , zufrieden , daß ich so still und vergnüglich war , und wußte sich nun meine verwirrte Erzählung um so weniger zu reimen .
Inzwischen entdeckte sie die gewaltige Abnahme ihres Wachses und betrachtete nun mit einigem Zorne die Trümmer der untergegangenen Welt .
Die Sache machte Aufsehen .
Frau Margret ließ sich erzählen und die bemalten Bogen nebst übrigen Trümmern zeigen und fand alles höchst bedenklich .
Sie befürchtete , daß ich am Ende in ihren Büchern gefährliche Geheimnisse geschöpft hätte , welche bei ihrem mangelhaften Lesen ihr selbst unzugänglich wären , und verschloß die bedenklichsten Bücher mit höchst bedeutungsvollem Ernste .
Jedoch konnte sie sich einer gewissen Genugtuung nicht erwehren , da es sich zu bestätigen schien , wie hinter diesen Sachen mehr stecke , als man geglaubt habe .
Sie war der festen Meinung , daß ich auf dem besten Wege gewesen sei , durch ihre Bücher ein angehender Zaubermann zu werden .
Elftes Kapitel Theatergeschichten .
Gretchen und die Meerkatze Über solchen Mißgeschicken verleidete mir die einsame Beschäftigung im Hause , und ich schloß mich nun einigen Knaben an , welche sich gut zu unterhalten schienen , indem sie in einem großen alten Fasse Komödie spielten .
Sie hatten einen Vorhang davorgezogen und ließen eine begünstigte Anzahl Kinder respektvoll harren , bis sie ihre geheimnisvollen Vorbereitungen geendet .
Dann wurde das Heiligtum geöffnet , einige Ritter in papiernen Rüstungen führten ein gedrängtes Zwiegespräch tüchtiger Schimpfreden , um sich darauf schleunigst durchzubleuen und unter dem Fallen des durchlöcherten Teppichs tot hinzustrecken .
Ich wurde bald eingeweiht als ein anstelliger Junge und brachte vor allem aus einen bestimmteren Stoff in das Fass , indem ich kurze Handlungen aus der biblischen Geschichte oder den Volksbüchern auszog und die vorkommenden Reden wörtlich abschrieb und durch einige Wendungen verband .
Ich fand auch , daß es wünschbar wäre , wenn die Helden einen besonderen Eingang hätten , um vorher ungesehen auftreten zu können .
Deshalb wurde in die Hinterwand ein Loch gesägt , geschnitten und gekratzt , bis ein Wohlgewappneter bescheiden durchkriechen konnte , was sehr possierlich aussah , wenn er mit seinen donnernden Reden begann , ehe er sich völlig aufgerichtet hatte .
Sodann wurden grüne Zweige geholt , um das Innere des Fasses in einen Wald umzuwandeln ; ich nagelte sie ringsherum fest und ließ nur oben das Spundloch frei , durch welches überirdische Stimmen herniederzuschallen hatten .
Ein Knabe brachte eine ansehnliche Tüte Theatermehl und hiermit ein neues prächtiges Element in unsere Bestrebungen .
Eines Tages wurde David und Goliath gegeben .
Die Philister standen auf dem Plane , führten sich heidnisch auf und traten vor das Fass hinaus in das Proszenium Dann krochen die Kinder Israel herein , lamentierten und waren verzagt und traten auf die andere Seite des Einganges , als Goliath , ein großer Bengel , erschien und übermütige Possen machte zum großen Gelächter beider Heere und des Publikums , bis David , ein unterwachsener bissiger Junge , plötzlich dem Unfug ein Ende machte und dem Riesen aus seiner Schleuder , die er trefflich führte , eine große Roßkastanie an die Stirn schleuderte Darüber wurde dieser wütend und hieb dem David ebenso derb auf den Kopf , und sogleich waren beide im heftigsten Raufen ineinander verknäuelt .
Die Zuschauer und die beiden Chöre klatschten Beifall und nahmen Partei ; ich selbst saß rittlings oben auf dem Fasse , ein Lichtstrümpfchen in der einen und eine tönerne Pfeife mit Kolophonium in der anderen Hand , und blies als Zens gewaltige , ununterbrochene Blitze durch das Spundloch hinein , daß die Flammen durch das grüne Laub züngelten und das Silberpapier auf Goliaths Helm magisch erglänzte .
Dann und wann guckte ich schnell durch das Loch hinunter , um dann die tapfer Kämpfenden ferner wieder mit Blitzen anzufeuern , und hatte kein Arges , als die Welt , welche ich zu beherrschen wähnte , plötzlich auf ihrem Lager wankte , überschlug und mich aus meinem Himmel schleuderte ; denn Goliath hatte endlich den David überwunden und mit Gewalt an die Wand geworfen .
Es gab ein großes Geschrei , der Eigentümer des Fasses kam heran und schloß das rollende Haus , nicht ohne Schelten und ausgeteilte Puffe , als er die willkürlichen Veränderungen entdeckte , welche angebracht waren .
Jedoch vermißten wir dies verbotene Paradies nicht allzusehr , da bald darauf eine deutsche Schauspielergesellschaft in unsere Stadt kam , um mit obrigkeitlicher Bewilligung vor den Bewohnern das leichte Haus der Leidenschaften in einem vollkommeneren Maße aufzubauen , als bisher von Liebhabern und Kindern geschehen war .
Der wandernde Künstlerverein schlug seinen Sitz in einem Gasthause der Stadt auf , wandelte den geräumigen Tanzsaal in ein Theater um und füllte zugleich alle bescheideneren Zimmer und Räume mit seinem häuslichen Leben .
Nur der Direktor bewohnte vornehm ein glänzenderes Gemach .
Übrigens zog uns das belebte Haus nicht nur während der abendlichen Vorstellungen an , sondern wir hatten auch während des Tages genug vor demselben zu stellen und zu beobachten , teils um die bewunderten Helden und Königinnen in ihrer verwegenen und anmutigen Tracht und Haltung aus und ein gehen zu sehen , teils um keine Maschine , keinen Korb mit roten Mänteln und Degen , kein Requisit aus den Augen zu verlieren , welches hineingetragen wurde .
Vorzüglich hielten wir uns auch vor einem offenen Hintergebäude auf , wo ein kühner Maler inmitten einer Anzahl Töpfe , aufrechtstehend und die eine Hand in der Hosentasche , mit einem unendlich verlängerten Pinsel Wunder auf das ausgebreitete Tuch oder Papier warf .
Ich erinnere mich deutlich des tiefen Eindruckes , welchen die einfache und sichere Art auf mich machte , mit welcher er duftige und durchsichtige weiße Vorhänge um die Fenster eines roten Zimmers zauberte ; mit den wenigen weißen , wohlangebrachten Strichen und Tupfen auf dem roten Grunde ging ein Licht in mir auf , der ich vor solchen Dingen , wenn sie in der nächtlichen Beleuchtung vor mir standen , begriffslos gestaunt hatte .
Es dämmerte die erste Einsicht in das Wesen der Malerei ; das freie Auftragen von dichten deckenden Farben auf durchsichtige Unterlagen machten mir vieles klar ; ich begann nachher der Grenze dieser zwei Gebiete nachzuspüren , wo ich ein Gemälde zu sehen bekam , und meine Entdeckungen hoben mich über den wehrlosen Wunderglauben hinaus , welcher es aufgibt , jemals dergleichen selbst zu verstehen .
An den Abenden , wo gespielt wurde , waren wir vollzählig und unfehlbar auf unserem Platze und schlichen wie die Katzen um das Gebäude herum .
Da ich bei der Sparsamkeit meiner Mutter keine Möglichkeit sah , auf legalem Wege in das Innere des Kunsttempels zu gelangen , so befand ich mich doppelt wohl bei meinen Genossen der Armenschule , welche ebenfalls darauf angewiesen waren , entweder durch kleine Dienstleistungen oder durch verwegene Schlauheit durchzuschlüpfen .
Es gelang mir auch mehrere Male , mich mit klopfendem Herzen in den angefüllten Saal zu schleichen , und überflog mit befriedigten Blicken die Dekorationen , wenn der Vorhang aufging , dann die Kostüme und Trachten der Spieler , um endlich , nachdem schon Erkleckliches gesprochen war , mich in das Studium der Fabel zu vertiefen .
Ich war bald ein großer Kenner und disputierte reichlich , unter angenommener Kaltblütigkeit , mit meinen Freunden .
Dieser Zwiespalt , die angenommene kennerhafte Ruhe und das unausbleibliche leidenschaftliche Hingeben auch an das verworfenste Stück fing an mich zu ärgern , und ich sehnte mich auch sonst , mit einem Schlage hinter die Kulissen zu kommen und das berückende Spiel und seine Spieler wie ihre Mittel in der Nähe zu besehen ; denn es bedünkte mich , daß es dort besser zu leben sein müsse als irgendwo in der Welt , leidenschaftslos und überlegen .
Doch dachte ich nicht so leicht an eine Erfüllung meines Wunsches , als ein günstiger Stern dieselbe unverhofft darbrachte .
Wir standen eines Abends ziemlich mutlos vor einer Seitentür , als eben der Faust gegeben wurde .
Wir hatten gehört , daß man den famosen Doktor Faust , den wir genügsam kannten , nebst dem Teufel und allen seinen Herrlichkeiten sehen würde , fanden aber heute alle Hindernisse unübersteiglich , welche auf unseren gewohnten Schlupfwegen sich entgegenstellten .
So hörten wir betrübt die Klänge der Ouvertüre , welche von den vornehmen Liebhabern der Stadt aufgeführt wurde , und zerbrachen die Köpfe über einem noch möglichen Eindringen .
Es war ein dunkler Herbstabend und regnete kühl und anhaltend .
Es fror mich , und ich dachte ans Nachhausegehen , zumal sich die Mutter über das abendliche Umhertreiben beklagt hatte , als die dunkle Tür sich öffnete , ein dienstbarer Geist heraussprang und rief : " Heda , ihr Buben ! drei oder vier von euch mögen hereinkommen , die sollen einmal mitspielen ! "
Auf dieses Zauberwort drängten sich sogleich die Stärksten in das Haus ; denn dies war ein Fall , wo ein jeder nur an sich selbst denken durfte .
Er wies sie aber zurück , indem er sie für zu groß und dick erklärte und mich , der ich ohne sonderliche Hoffnungen im Hintergrunde stand , heranrief und sagte :
" Der da ist recht , der wird eine gute Meerkatze sein ! "
Dazu ergriff er noch zwei andere , schmächtig gewachsene Jungen , schloß die Tür hinter uns und marschierte an unserer Spitze nach einem kleinen Saale , welcher als Garderobe diente .
Dort hatten wir nicht Zeit , die aufgehäuften Gewänder , Waffen und Rüstungen zu betrachten ; denn wir wurden schnell unserer Kleider entledigt und in abenteuerliche Pelze gesteckt , welche vom Kopf bis zum Fuße eine Hülle bildeten .
Das Meerkatzengesicht konnte wie eine Kapuze zurückgeschlagen werden , und als wir solchergestalt verwandelt dastanden , die langen Schwänze in der Hand haltend , lächelten wir ganz vergnügt und beglückwünschten uns nun erst zu unserem unverhofften Glücke .
Nun wurden wir auf die Bühne geführt , wo wir von zwei großen Meerkatzen lustig begrüßt und in aller Eile für unsere bevorstehende Aufgabe unterrichtet wurden .
Wir begriffen dieselbe bald und leisteten eine gelungene Probe verschiedener Purzelbäume und Affensprünge , spielten auch zierlich mit einer Kugel , so daß wir bis zu unserem Auftreten entlassen wurden .
Wir spazierten gravitätisch unter dem Gedränge herum , das sich auf dem schmalen Raume zwischen den vier wirklichen und den gemalten Wänden schob und mischte ; ich schaute unverwandt bald auf die Bühne , bald hinter die Kulissen und beobachtete mit hoher Freude , wie aus dem unkenntlichen , unterdrückt lärmenden und streitenden Chaos sich still und unmerklich geordnete Bilder und Handlungen ausschieden und auf dem freien , hellen Raume erschienen wie in einer jenseitigen Welt , um wieder ebenso unbegreiflich in das dunkle Gebiet zurückzutauchen .
Die Schauspieler lachten , scherzten , kosten und zankten , hier und da ging einer plötzlich von seiner Gruppe weg und stand in einem Augenblicke einsam und feierlich mitten in dem Zauberbanne und machte ein so frommes Gesicht gegen die mir unsichtbare Zuschauerwelt hinaus , als ob er vor den versammelten Göttern stände .
Ehe ich mich dessen versah , war er wieder mit einem Sprunge unter uns und setzte die unterbrochenen Schimpf- oder Schmeichelreden fort , indessen schon irgendein anderer sich ausgeschieden hatte , um es ebenso zu machen .
Die Menschen führten ein doppeltes Leben , wovon das eine ein Traum sein mochte ; aber ich wurde nicht klug daraus , welches davon der Traum und welches für sie die Wirklichkeit war .
Lust und Leid schienen mir in beiden Teilen gleich gemischt vorhanden zu sein ; doch im inneren Raume der Bühne , wenn der Vorhang geöffnet war , schien Vernunft und Würde und ein heller Tag zu herrschen und somit das wirkliche Leben zu bilden , während , sobald der Vorhang sank , alles in trübe traumhafte Verwirrung zerfiel .
Auch dünkte es mich , daß diejenigen , welche sich in diesem wüssten Traume am heftigsten und leidenschaftlichsten gebärdeten , dort in dem besseren Stück Leben die edelsten und ausdruckvollsten Gestalten waren ; diejenigen aber , welche in der Nähe ruhig , kalt und friedfertig herumstanden , in jenem Glanze eine ziemlich traurige Rolle spielten .
Der Text des Stückes war die Musik , welche das Leben in Schwung brachte .
Sobald sie schwieg , stand der Tanz still wie eine abgelaufene Uhr .
Die Verse des Faust , welche jeden Deutschen , sobald er einen davon hört , elektrisieren , diese wunderbar gelungene und gesättigte Sprache klang fortwährend wie eine edle Musik , machte mich froh und setzte mich mit in Erstaunen , obgleich ich nicht viel mehr davon verstand als eine wirkliche Meerkatze .
Indessen fühlte ich mich plötzlich beim Schwanze gefaßt und rücklings in die Hexenküche gezogen , wo bereits sämtliche Katzen umhersprangen und ein Schein und Gefunkel unzähliger Gesichter und Augen aus dem Parterre hereinschimmerte .
Ich hatte bisher über meinen Betrachtungen die zutage getretene Dekoration der Hexenküche übersehen und daher vieles nachzuholen ; denn die phantastischen Dinge um mich her , die Zerrbilder und Gespenster reizten mich sowohl wie das Treiben Mephistos , der Hexe und der anderen Meerkatzen .
Als ob ich nicht selbst eine Meerkatze wäre und meine Aufgabe zu erfüllen hätte , vergaß ich ganz die eingelernten Sprünge und Possen und sah ruhig und selbstvergessen den anderen zu .
Nun schaute Faust voll Entzücken in den Zauberspiegel , und es nahm mich höchlich Wunder , was es dort zu sehen gebe ?
Indem ich in der gleichen Richtung nachahmend hinsah , gingen meine Blicke dem leeren , gemalten Spiegel vorbei hinter die Kulisse und entdeckten dort in der Wirrnis des jenseitigen Lebens das Bild , welches Faust zu sehen vorgab .
Gretchen war unterdessen auf die Bühne gekommen und legte sich , einige tiefbewegte Worte nach rückwärts rufend , eben die letzte Schminke auf , nachdem sie sich Augen und Wangen mit einem weißen Tuche sorglich und fest getrocknet , als ob sie geweint hätte .
Es war eine sehr schöne Frau , von welcher ich kein Auge mehr abwandte , ungeachtet der heimlichen Puffe und Schelten , welche ich von meinen fleißigen Mitmeerkatzen erhielt .
So verlangte ich , der ich mich vorher nach dieser höheren Sphäre gesehnt hatte , nun nichts weiter , als dorthin zurückzukehren , wo die volle schöne Frauengestalt wandelte .
Die Zeit unseres Wirkens ging endlich vorüber , und ich machte meinen ersten und einzigen guten Sprung , als ich leidenschaftlich vom Schauplatze abtrat oder sprang und mich möglichst in die Nähe des gesehenen Bildes zu bringen suchte .
Aber in demselben Augenblicke befand sie sich ihrerseits einsam in der Handlung , und ich konnte sie nur wieder von ferne sehen .
Sie schien irgendeinen tiefen Verdruß in sich zu tragen , und daher war ihr Spiel halb aus Anmut und halb aus sichtbarem Zorne gemengt .
Diese Mischung brachte zwar kein gutes Gretchen hervor , aber sie verlieh der Spielerin einen eigentümlichen Reiz ; ich nahm Partei für sie gegen ihre unbekannten Feinde und dachte mir sogleich den Roman aus , in welchen sie etwa verwickelt sein möchte .
Doch , löste sich dieses flüchtige Gespinste bald auf und verschmolz sich mit der dargestellten Lichtung , als Gretchens Schicksal tragisch wurde .
Als sie im Kerker auf dem Stroh lag und nachher irreredete , spielte sie so meisterhaft , daß ich furchtbar erschüttert wurde und doch in durstig heißer Aufregung das Bild des im grenzenlosesten Unglücke versunkenen Weibes in mich hineintrank ; denn ich hielt das Unglück für wirklich und war ebenso erstaunt als gesättigt durch die Szene , welche an Stärke alles übertraf , was ich bisher gesehen oder gehört hatte .
Der Vorhang war gefallen , und alles lief auf dem Theater bunt durcheinander , während ich einigen Papieren nachschlich , welche ich in den Händen des Direktors und der Künstler vorhin bemerkte und in einem Winkel hinter einer gemalten Mauer fand .
Ich gelüstete sehr , Einsicht zu nehmen von dem Geschriebenen , welches so große Wirkung hervorgebracht ; daher war ich bald in das Lesen der Rollen versenkt .
Aber obgleich ich die körperlichen Erscheinungen gefaßt und empfunden hatte , so waren doch nun die geschriebenen Worte , als die Zeichensprache eines gereiften und großen männlichen Geistes , dem unwissenden Kinde vollkommen unverständlich ; der kleine Eindringling fand sich bescheidentlich wieder vor die verschlossene Türe einer höheren Welt gestellt , und ich schlief über meinen Forschungen schnell und fest ein .
Als ich wieder erwachte , war das Theater leer und still , die Lampen ausgelöscht , und der Vollmond goß sein Licht zwischen den Kulissen über die seltsame Unordnung herein .
Ich wußte nicht , wie mir geschah noch wo ich mich befand ; doch als ich meine Lage erkannte , wurde ich voll Furcht und suchte einen Ausgang , fand aber die Türen verschlossen , durch welche ich hereingekommen war .
Nun schickte ich mich in das Geschehene und begann von neuem alle Seltsamkeiten dieser Räume zu untersuchen .
Ich betastete die raschelnden , papiernen Herrlichkeiten und legte das Mäntelchen und den Degen des Mephistopheles , welche auf einem Stuhle lagen , über meinen Meerkatzenhabit um So spazierte ich in dem hellen Mondscheine auf und nieder , zog den Degen und fing an zu gestikulieren .
Dann entdeckte ich die Maschinerie des Vorhanges , und es gelang mir , denselben aufzuziehen .
Da lag der Zuschauerraum dunkel und schwarz vor mir wie ein erblindetes Auge ; ich stieg in das Orchester hinab , wo die Instrumente umherlagen und nur Violinen sorgfältig in Kästchen verschlossen waren .
Auf den Pauken lagen die schlanken Hammer , welche ich ergriff und zagend gegen das Fell schlug , daß es einen dumpf grollenden Ton gab .
Jetzt wurde ich kühner und schlug stärker , bis es zuletzt wie ein Gewitter durch den leeren , mitternächtlichen Saal hallte .
Ich ließ den Donner anschwellen und wieder abnehmen , und wenn er verklang , so dünkten mich die unheimlichen Pausen noch schöner als das Geräusch selbst .
Endlich erschrak ich über meinem Tun , warf die Schlegel hin und getraute mir kaum über die Bänke des Parterre hinwegzusteigen und mich zuhinterst an der Wand hinzusetzen .
Ich fror und wünschte zu Hause zu sein , auch wurde es mir bange in meiner Einsamkeit .
Die Fenster in diesem Teile des Saales waren dicht verschlossen , so daß nur die Bühne , welche immer noch den Kerker vorstellte , durch das Mondlicht magisch beleuchtet war .
Im Hintergrunde stand das Pförtchen noch offen , wo Gretchen gelegen haue , ein bleicher Strahl fiel auf das Strohlager ; ich dachte an das schöne Gretchen , welches nun hingerichtet sein werde , und der stille , mondhelle Kerker kam mir zauberhafter und heiliger vor als dem Faust einst Gretchens Kammer .
Ich stützte meinen Kopf auf beide Hände und sah mit sehnenden Blicken hinüber , besonders in die vom Lichte halb bestreifte Vertiefung , wo das Stroh lag .
Da regte es sich im Dunkel , atemlos sah ich hin , und jetzt stand eine weiße Gestalt in jenem Winkel ; es war Gretchen , wie ich sie zuletzt gesehen hatte .
Mich schauerte es vom Wirbel bis zur Zehe , meine Zähne schlugen zusammen , während doch ein mächtiges Gefühl glücklicher Überraschung mich durchzuckte und erwärmte .
Ja , es war Gretchen , es war ihr Geist , obgleich ich in der Entfernung ihre Züge nicht unterscheiden konnte , was die Erscheinung noch geisterhafter machte .
Sie schien mit dunklen Blicken in dem Raume umherzusuchen , ich richtete mich empor , es zog mich vorwärts wie mit gewaltigen , unsichtbaren Händen , und während mein Herz hörbar klopfte , schritt ich über die Bänke gegen das Proszenium hin , jeden Schritt einen Augenblick anhaltend .
Die Pelzumhüllung machte meine Füße unhörbar , so daß mich die Gestalt nicht bemerkte , bis ich , an dem Souffleurkasten hinaufklimmend , in meiner befremdlichen Tracht vom ersten Mondstrahl bestreift wurde .
Ich sah , wie sie entsetzt ihr glühendes Auge auf mich richtete und , doch lautlos , zusammenfuhr .
Einen leisen Schritt trat ich näher und hielt wieder ein ; meine Augen waren weit geöffnet , ich hielt die Hände zitternd erhoben , indes ich , von einem frohen Feuer des Mutes durchströmt , auf das Phantom losging .
Da rief es mit gebieterischer Stimme : " Halt ! kleines Ding ! was bist du ? " und streckte drohend den Arm gegen mich aus , daß ich fest an der Stelle gebannt blieb .
Wir sahen uns unverwandt an ; ich erkannte jetzt ihre Züge wohl , sie hatte ein weißes Nachtkleid umgeschlagen , Hals und Schultern waren entblößt und gaben einen milden Schein , wie nächtlicher Schnee .
Ich witterte alsogleich das warme Leben , und der abenteuerliche Mut , den ich dem Gespenste gegenüber empfunden hatte , verwandelte sich in die natürliche Blödigkeit vor dem lebendigen Weibe .
Sie hingegen war immer noch zweifelhaft über meine dämonische Erscheinung , und sie rief daher noch einmal :
" Wer seid Ihr , kleiner Bursch ? "
Kleinlaut antwortete ich :
" Ich heiße Heinrich Lee und bin eine von den Meerkatzen ; man hat mich hier eingeschlossen ! "
Da trat sie auf mich zu , streifte meine Maske zu rück , faßte mein Gesicht zwischen ihre Hände und rief , indem sie laut lachte :
" Herr Gott ! das ist die aufmerksame Meerkatze !
Ei , du kleiner Schalk ! bist du es , der den Lärm gemacht hat , als ob ein Gewitter im Hause wäre ? "
- " Ja ! " sagte ich , indem meine Augen fortwährend auf dem weißen Raume ihrer Brust hafteten und mein Herz zum ersten Male wieder so andächtig erfreut war wie einst , wenn ich in das glänzende Feld des Abendrotes geschaut und den lieben Gott darin geahnt hatte .
Dann betrachtete ich in vollkommener Ruhe ihr schönes Gesicht und gab mich unbefangen dem süßen Eindrucke ihres reizenden Mundes hin .
Sie sah mich eine Weile still und ernsthaft an , dann sprach sie :
" Mich dünkt , du bist ein guter Junge ; doch wenn du einst groß geworden , wirst du ein Lümmel sein wie alle ! "
Und hiermit schloß sie mich an sich und küßte mich mehrere Male auf meinen Mund , der nur dadurch leise bewegt wurde , daß ich heimlich , von ihren Küssen unterbrochen , ein herzliches Dankgebet an Gott richtete für das herrliche Abenteuer .
Hierauf sagte sie :
" Es ist nun am besten , du bleibest bei mir , bis es Tag ist ; denn Mitternacht ist längst vorüber ! " und sie nahm mich bei der Hand und führte mich durch einige Türen in ihr Zimmer , wo sie vorher schon geschlafen hatte und durch mein nächtliches Spuken geweckt worden war .
Dort ordnete sie am Fußende ihres Bettes eine Stelle zurecht , und als ich darauf lag , hüllte sie sich dicht in einen samtenen Königsmantel , legte sich der Länge nach auf das Bett und stützte ihre leichten Füße gegen meine Brust , daß mein Herz ganz vergnüglich unter denselben klopfte Somit entschliefen wir und glichen in unserer Lage nicht übel jenen alten Grabmälern , auf welchen ein steinerner Ritter ausgestreckt liegt mit einem treuen Hunde zu Füßen .
Zwölftes Kapitel Die Leserfamilie .
Lügenzeit Infolge der Sorge und Verwirrung , welche durch mein nächtliches Wegbleiben entstanden , war mir das abendliche Umhertreiben und der Besuch des Theaters streng untersagt worden ; auch am Tage wurde ich sorgfältiger beaufsichtigt und in meinem Umgange mit den Kindern der armen Leute beschränkt , welchen man fälschlicherweise eine verderbliche und ansteckende Ungebundenheit zuschrieb .
So hatten die fremden Schauspieler die Stadt verlassen , ohne daß ich jene Frau , der mein Herz nun ganz gehörte , wiedergesehen .
Als ich vernahm , daß die Gesellschaft fortgereist sei , bemächtigte sich meiner eine tiefe Traurigkeit , welche längere Zeit anhielt .
Je unbekannter mir die Gegend war , wo sie hingezogen sein mochte , desto mehr war mir alles Land , welches jenseits der Berge lag , ein Land unbestimmter Wünsche und dunklen Verlangens .
Um diese Zeit schloß ich mich enger an einen Knaben , dessen erwachsene , lesebegierige Schwestern eine Unzahl schlechter Romane zusammengetragen hatten .
Verlorengegangene Bände aus Leihbibliotheken , geringer Abfall aus vornehmen Häusern oder von Trödlern erstanden , lagen in der Wohnung dieser Leute auf Gesimsen , Bänken und Tischen umher , und an Sonntagen konnte man nicht nur die Geschwister und ihre Liebhaber , sondern Vater und Mutter , und wer sonst noch da war , in die Lektüre der schmutzig aussehenden Bücher vertieft finden .
Die Alten waren törichte Leute , welche in dieser Unterhaltung Stoff zu törichten Gesprächen suchten ; die Jungen hingegen erhitzten ihre Vorstellungskraft an den gemeinen unpoetischen Machwerken , oder vielmehr sie suchten hier die bessere Welt , welche die Wirklichkeit ihnen nicht zeigte .
Die Romane zerfielen hauptsächlich in zwei Arten .
Die eine enthielt den Ausdruck der üblen Sitten des vorigen Jahrhunderts in jämmerlichen Briefwechseln und Verführungsgeschichten , die andere bestand aus derben Ritterromanen .
Die Mädchen hielten sich mit großem Interesse an die erste Art und ließen sich dazu von ihren teilnehmenden Liebhabern sattsam küssen und liebkosen ; uns Knaben waren aber diese prosaischen und unsinnlichen Schilderungen einer verwerflichen Sinnlichkeit glücklicherweise noch ungenießbar , und wir begnügten uns damit , irgendeine Rittergeschichte zu ergreifen und uns mit derselben zurückzuziehen .
Die unzweideutige Genugtuung , welche in diesen groben Dichtungen waltete , war meinen angeregten Gefühlen wohltätig und gab ihnen Gestalt und Namen .
Wir wußten die schönsten Geschichten bald auswendig und spielten sie , wo wir gingen und standen , mit immer neuer Lust ab , auf Estrichen und Höfen , in Wald und Berg , und ergänzten das Personal vorweg aus willfährigen Jungen , die in der Eile abgerichtet wurden .
Aus diesen Spielen gingen nach und nach selbsterfundene fortlaufende Geschichten und Abenteuer hervor , welche zuletzt dahin ausarteten , daß jeder seine große Herzens- und Rittergeschichte besaß , deren Verlauf er dem anderen mit allem Ernste berichtete , so daß wir uns in ein ungeheures Lügennetz verwoben und verstrickt sahen ; denn wir trugen unsere erfundenen Erlebnisse gegenseitig einander so vor , als ob wir unbedingten Glauben forderten , und gewährten uns denselben auch , in eigennütziger Absicht , scheinbar .
Mir wurde diese trügliche Wahrhaftigkeit leicht , weil der Hauptgegenstand unserer Geschichten beiderseits immer eine glänzende und ausgezeichnete Dame unserer Stadt war und ich diejenige , die ich für meine Lügen auserwählt , bald mit meiner wirklichen Neigung und Verehrung bekleidete .
Daneben hatten wir mächtige Feinde und Nebenbuhler , als welche wir angesehene , ritterliche Offiziere bezeichneten , die wir oft zu Pferde sitzen sahen .
Verborgene Reichtümer waren in unserer Gewalt , und wir bauten aus denselben wunderbare Schlösser an entlegenen Punkten , welche wir mit wichtiger Geschäftsmiene zu beaufsichtigen vorgaben .
Jedoch beschäftigte sich die Einbildungskraft meines Genossen überdies mit allerhand Kniffen und Ränken und war eher auf Besitz und leibliches Wohlsein gerichtet , in welcher Beziehung er die sonderbarsten Dinge erfand , während ich alle Erfindungsgabe auf meine erwählte Geliebte verwandte und seine kleinlichen und mühsamen Geldverhältnisse , welche er unablässig zusammenträumte , mit einer kolossalen Lüge von einem gehobenen unermeßlichen Schatze überbot und kurz abfertigte .
Dieses mochte ihn ärgern , und wahrend ich , zufrieden in meiner ersonnenen Welt , mich wenig um die Wahrheit seiner Prahlereien bekümmerte , fing er an , mich mit Zweifeln an der Wahrheit der meinigen zu quälen und auf Beweise zu dringen .
Als ich einst flüchtig von einer mit Gold und Silber gefüllten Kiste erzählte , welche ich in unserem Kellergewölbe stehen hätte , drang er auf das heftigste darauf , dieselbe zu sehen .
Ich gab ihm eine Stunde an , zu welcher dies möglich wäre , und er fand sich pünktlich ein und versetzte mich in eine Verlegenheit , an welche ich im mindesten bisher noch nie gedacht hatte .
Aber schnell hieß ich ihn eine Weile warten vor dem Hause und eilte in die Stube zurück , wo in dem Schreibtisch meiner Mutter ein hölzernes Kästchen stand , welches einen kleinen Schatz an alten und neuen Silbermünzen und einige Dukaten enthielt .
Dieser Schatz umfaßte einesteils die Patengeschenke aus der Kinderzeit meiner Mutter , andernteils meine eigenen und war sämtlich mein erklärtes Eigentum .
Die Hauptzierde aber war eine mächtige goldene Schaumünze von der Größe eines Talers und bedeutendem Werte , welche Frau Margret in einer guten Stunde mir geschenkt und der Mutter in sicheren Gewahrsam gegeben hatte zum treuen Angedenken , wenn ich einst erwachsen , sie hingegen nicht mehr sein werde .
Ich durfte das Kästchen hervornehmen und den glänzenden Schatz beschauen , sooft ich wollte ; auch hatte ich denselben schon in allen Gegenden des Hauses herumgetragen .
Ich nahm ihn also jetzt und trug ihn in das Gewölbe hinunter und legte das Kästchen in eine Kiste , welche mit Stroh gefüllt war .
Dann hieß ich den Zweifler mit geheimnisvoller Gebärde hereinkommen , lüftete den Deckel der Kiste ein wenig und zog das Kästchen hervor .
Als ich es öffnete , blinkten ihm die blanken Silberstücke gar hell entgegen ; als ich aber die Dukaten und zuletzt die große Münze hervornahm , daß sie im Zwielichte seltsam funkelte und der alte Schweizer mit dem Banner , der darauf geprägt war , sowie der Kranz von Wappenschilden zutage traten , da machte er große Augen und wollte mit allen fünf Fingern in das Kästchen fahren .
Ich schlug es aber zu , legte es wieder in die Kiste und sagte : " Siehst du , solcher Dinge ist die Kiste voll ! "
Damit schob ich ihn aus dem Keller und zog den Schlüssel ab .
Er war nun für einmal geschlagen ; denn obgleich er von der Unwirklichkeit unserer Märchen überzeugt war , so gestattete ihm doch der bisher festgehaltene Ton unseres Verkehrs nicht , weiterzudringen , da es auch hier die rücksichtsvolle Höflichkeit des Lebens erforderte , den mit guter Manier vorgetragenen blauen Dunst bestehen zu lassen .
Vielmehr gab meinem Freunde diese vorläufige Toleranz Gelegenheit , mich zu weiteren Lügen zu reizen und auf immer bedenklichere Proben zu stellen .
Wir trafen bald darauf , als es gerade Meßzeit war , am Seeufer zusammen , vor den Krambuden flanierend , die dort in langen Straßen sich aneinanderreihten , und begrüßten uns wie Macbeths Hexen mit :
" Was hast du geschafft ? "
Wir standen vor dem Magazine eines Italieners , welcher neben südlichen Eßwaren auch glänzende Bijouterien und Spielereien feilbot .
Feigen , Mandeln und Datteln , Kisten voll reinlich weißer Makkaroni , besonders aber Berge ungeheurer Salamiwürste reizten den Sinn meines Gesellen zu kühnen Phantasien , indessen ich zierliche Frauenkämme , Ölfläschchen und Schalen voll schwarzer Räucherkerzchen betrachtete und ungefähr dachte , wo diese Dinge gebraucht würden , da wäre es gut sein .
" Ich habe soeben " , begann mein Lügengefährte , " solch eine Salamiwurst gekauft , zur Probe , ob ich für mein nächstes Bankett eine Kiste voll anschaffen soll .
Ich habe sie angebissen , fand sie aber abscheulich und schleuderte sie in den See hinaus ; die Wurst muß noch dort schwimmen , ich sah sie den Augenblick noch . "
Wir blickten auf den schimmernden Wellenspiegel hinaus , wo zwischen den Marktschiffen wohl etwa ein Apfel oder ein Salatblatt umhertrieb , aber keine Salami zu sehen war .
" Ei , es wird wohl ein Hecht danach geschnappt haben ! " sagte ich gutmütig , und er gab diese Möglichkeit zu und fragte mich , ob ich nicht auch Einkäufe machen wolle ?
" Freilich " , erwiderte ich , " ich möchte wohl diese Kette haben für meine Geliebte ! " und wies auf eine unechte , aber hell vergoldete Halskette .
Jetzt ließ er mich nicht mehr los , sondern umwickelte mich mit einem moralischen Zwangsnetze , indem ihm die Neugierde , ob ich wirklich über meinen geheimnisvollen Schatz frei verfüge , die Worte dazu lieh .
So hatte ich keinen anderen Ausweg , als nach Hause zu laufen und mir mit meinem Sparkästen zu schaffen zu machen .
Einige Augenblicke nachher ging ich wieder davon , einige glänzende Silberstücke in der festverschlossenen Hand , mit klopfender Brust dem Markte zu , wo mein lauernder Dämon mich empfing .
Wir handelten um die Kette oder gaben vielmehr , was der Italiener forderte ; ich wählte noch ein Armband von Agatplatten und einen Ring mit einer roten Glaspaste ; der Kaufmann besah mich und die schönen Gulden mit wunderlichen Blicken , steckte sie aber nichtsdestoweniger ein ; ich aber wurde schon auf dem Wege nach dem Hause fortgedrängt , wo meine Dame wohnte .
Auf einem abgelegenen Platze standen etwa sechs Herrenhäuser , deren Besitzer sich durch den Seidenhandel auf der Höhe früherer Vornehmheit erhielten .
Weder eine Schenke noch ein sonstiges niederes Gewerbe zeigte sich in dieser Gegend , welche still und einsam in ihrer Reinlichkeit ruhte ; das Pflaster war weißer und besser als in anderen Stadtteilen , und kostbare eiserne Hofgeländer begrenzten dasselbe .
In dem größten und vornehmsten dieser Häuser wohnte der Gegenstand meiner Lügen , eine jener jungen anmutigen Damen , welche , gut und elegant gewachsen , mit rosiger Gesichtsfarbe , großen , lachenden Augen und freundlichen Lippen , mit reichen Locken , wehenden Schleiern und seidenen Gewändern die Unerfahrenheit berücken und selbst gefurchte Stirnen aufheitern , sozusagen die Schönheit schlechthin darstellend .
Wir standen schon vor dem prächtigen Portale , und mein Begleiter schloß seine Überredungen , daß ich jetzt oder nie meiner Gebieterin die Geschenke überbringen müßte , endlich dadurch , daß er frech den glänzenden Griff der Hausglocke packte und anzog .
Aber trotz seiner Frechheit , würde ein Aristokrat sagen , reichte doch die Energie seines Plebejertums nicht aus , ein kräftiges Geklingel hervorzubringen ; es gab nur einen einzigen zaghaften Ton , welcher im Inneren des großen Hauses verhallte .
Nach einigen Sekunden ruckte der eine Torflügel um ein unmerkliches , und mein Begleiter schob mich hinein , was ich , aus Furcht vor allem Geräusche , willenlos geschehen ließ .
Da stand ich in unsäglicher Beklemmung neben einer breiten steinernen Treppe , welche sich oben zwischen geräumigen Galerien verlor .
Ich hielt Armband und Ring in die Hand gepreßt , und die Kette quoll teilweise zwischen den Fingern hervor ; in der Höhe ertönten Tritte , welche von allen Seiten widerhallten , und jemand rief herunter , wer da sei ?
Doch hielt ich mich still , man konnte mich nicht sehen und ging wieder , Türen hinter sich zuschlagend .
Nun stieg ich langsam die Treppe hinan , mich vorsichtig umsehend ; an allen Wänden hingen große Ölgemälde , entweder wunderliche Landschaften oder grobe Stillleben enthaltend ; die Decken waren in weißer Stukkatur gearbeitet mit kleinen Fresken dazwischen , und in abgemessenen Entfernungen standen hohe dunkelbraune Türen von Nußbaumholz , eingefaßt von Säulen und Giebeln von der gleichen Art , alles glänzend poliert .
Jeder meiner Schritte erweckte Geräusch in den Wölbungen , ich wagte kaum zu gehen und dachte doch nicht daran , was ich sagen wollte , wenn ich überrascht würde .
Vor jeder Tür lag eine Strohmatte , aber vor einer allein lag eine besonders reich und zierlich geflochtene von farbigem Stroh ; daneben stand ein altes , vergoldetes Tischchen und auf diesem ein Arbeitskörbchen mit Strickzeug , einigen Äpfeln und einem hübschen , silbernen Messerchen zuäußerst am Rande , als ob es soeben hingestellt wäre .
Ich vermutete , daß hier der Aufenthalt des Fräuleins sei , und im Augenblicke nur an sie denkend , legte ich meine Kleinodien mitten auf die Matte , nur den Ring zuunterst in das Körbchen auf einen feinen Handschuh .
Dann aber eilte ich Treppen_hinunter aus dem Hause , wo ich meinen Quälgeist ungeduldig meiner wartend fand .
" Hast du es getan ? " rief er mir entgegen .
" Ja freilich " , erwiderte ich mit leichtem Herzen .
" Das ist nicht wahr " , sagte er wieder , " sie sitzt ja die ganze Zeit an jenem Fenster dort und hat sich nicht gerührt . "
Wirklich war die schöne Frau hinter dem glänzenden Fenster sichtbar und gerade in der Gegend des Hauses , wo jene Zimmertür sein mochte .
Ich erschrak heftig , sagte aber :
" Ich schwöre dir , ich habe die Kette und das Armband zu ihren Füßen gelegt und den Ring an ihren Finger gesteckt ! "
- " Bei Gott ? "
- " Ja , bei Gott ! " rief ich .
" Nun mußt du ihr aber noch eine Kußhand zuwerfen , und wenn du es nicht tust , so hast du falsch geschworen ; sieh , sie schaut gerade herunter ! "
Wirklich ruhten ihre glänzenden Augen auf uns ; aber der Einfall meines Freundes war ein teuflischer ; denn lieber hätte ich dem Teufel selbst ins Gesicht gespien , als diese Zumutung erfüllt .
Durch meinen jesuitischen Schwor war ich aber erst recht in die Klemme geraten , es gab keinen Ausweg .
Rasch küßte ich meine Hand und bewegte sie gegen das Fenster hinauf .
Das Mädchen hatte uns aufmerksam angesehen und lachte nun ganz unbändig , indem es freundlich herunternickte ; doch ich lief , so schnell ich konnte , davon .
Das Maß war gefüllt , und als mein Gefährte mich in der nächsten Straße wieder erreichte , trat ich vor ihn hin und sagte : " Wie ist_es eigentlich mit deiner Salamiwurst ?
Meinst du , dieselbe sei hinreichend , dergleichen Sachen , wie ich bestehe , das Gegengewicht zu halten ? "
Damit warf ich ihn unversehens nieder und schlug ihn mit der Faust ins Gesicht , bis mich ein Mann weghob und rief : " Die Teufelsjungen müssen sich doch immer raufen ! "
Das war das allererste Mal in meinem Leben , daß ich einen Schul- und Jugendgenossen schlug ; ich konnte denselben nicht mehr ansehen , und zugleich war ich vom Lügen für einmal gründlich geheilt .
In dem lesebeflissenen Hause wurden indessen der Vorrat an schlechten Büchern und die Torheit immer größer .
Die Alten sahen mit seltsamer Freude zu , wie die armen Töchter immer tiefer in ein einfältig verbuhltes Wesen hineingerieten , Liebhaber auf Liebhaber wechselten und doch von keinem heimgeführt wurden , so daß sie mitten in der übelriechenden Bibliothek sitzenblieben mit einer Herde kleiner Kinder , welche mit den zerlesenen Büchern spielten und dieselben zerrissen .
Die Lesewut wuchs nichtsdestominder fortwährend , weil sie nun Zank , Not und Sorge vergessen ließ , so daß man in der Behausung nichts sah als Bücher , aufgehängte Windeln und die viefältigen Erinnerungen an die Galanterie der ungetreuen Ritter , wie gemalte Blumenkränze mit Sprüchen , Stammbücher voll verliebter Verse und Freundschaftstempel , künstliche Ostereier , in welchen ein kleiner Amor verborgen lag , und dergleichen .
Alles in allem genommen will es mir scheinen , daß auch dieses Elend sowohl wie das entgegengesetzte Extrem , die religiöse Sektiererei und das fanatische Bibelauslegen armer Leute , wie ich es im Hause der Frau Margret fand , nur die Spur derselben Herzensbedürfnisse und das Suchen nach einer besseren Wirklichkeit gewesen sei .
Bei dem Sohne dieses Hauses machte sich , als er größer wurde , die vielgeübte Phantasie auf andere , nicht minder bedenkliche Weise geltend .
Er wurde sehr genußsüchtig , lag schon als Handelslehrling in den Wirtshäusern als ein eifriger Spieler und war bei jedem öffentlichen Vergnügen zu sehen .
Dazu brauchte er viel Geld , und um sich dieses zu verschaffen , verfiel er auf die sonderbarsten Erfindungen , Lügen und Ränke , welche ihm nur eine Art Fortsetzung der früheren Romantik waren .
Jedoch hielt dies nur halb verdächtige Treiben nicht lange vor , vielmehr sah er sich bald darauf verwiesen , zuzugreifen , wo er konnte .
Denn er gehörte zu jenen Menschen , die nicht gesonnen sind , sich in ihren Begierden im mindesten zu beschränken , und in der Gemeinheit ihrer Gesinnung dem Nächsten mit List oder Gewalt das entreißen , was er gutwillig nicht lassen will .
Diese niedere Gesinnung ist gleichmäßig der Ursprung scheinbar ganz verschiedener Erscheinungen .
Sie beseelt den ungeliebten Herrscher , der , in seinem Dasein jedem Kind im Lande ein Überdruß , doch nicht von seiner Stelle weicht und nicht zu stolz ist , sich vom Herzblute des verachteten und gehaßten Volkes zu nähren ; sie ist der Kern der Leidenschaftlichkeit eines Verliebten , welcher , nachdem er einmal die bestimmte Erklärung der Nichterwiderung erhalten hat , sich nicht sogleich bescheidet , sondern mit gewaltsamer Aufdringlichkeit ein fremdes Leben verbittert ; wie in allen diesen Zügen lebt sie endlich auch in der Selbstsucht des Betrügers und Diebes jeglicher Art , groß und klein ; überall ist sie ein unverschämtes Zugreifen , zu welchem mein ehemaliger Gefährte nun auch seine Zuflucht nahm .
Ich hatte ihn im Verlaufe der Zeit ganz aus den Augen verloren , während er schon mehrere Male im Gefängnisse gesessen hatte , und dachte eines Tages an nichts weniger als an ihn , da ich einen verkommenen Menschen durch die Häscher dem Zuchthause zuführen sah .
In demselben ist er seither gestorben .
Dreizehntes Kapitel Waffenfrühling .
Frühes Verschulden Ich war nun zwölf Jahre alt , so daß meine Mutter auf meine weitere Schulbildung denken mußte .
Der Plan des Vaters , daß ich der Reihe nach die von gemeinnützigen Vereinen begründeten Privatanstalten besuchen sollte , war nun zerschnitten , indem dieselben inzwischen durch wohleingerichtete öffentliche Schulen überflüssig geworden ; denn die abermalige Regeneration der Schweiz hatte zuerst auf diesen Punkt ihr Augenmerk gerichtet .
Der alte Gelehrten- und Lehrerstand der Städte wurde durch einberufene deutsche Schulmänner reichlich erweitert und in den meisten Kantonen an eine große Zwillingsschule verteilt , welche aus einem Gymnasium und einer Realschule bestand .
Bei der letzteren brachte mich die Mutter nach mehreren Beratungen und feierlichen Gängen unter , und die Leistungen meiner bescheidenen Armenschule , aus welcher ich halb wehmütig und halb fröhlich schied , erwiesen sich bei der Aufnahmeprüfung so genügend , daß ich neben den Zöglingen der guten alten Stadtschulen vollkommen bestand .
Denn diese wohlhabenden Bürgerkinder waren nun ebenfalls auf die neuen Einrichtungen angewiesen .
So fand ich mich plötzlich in eine ganz andere Umgebung versetzt .
Stadt wie früher der bestgekleidete und vornehmste meiner Mitschüler zu sein , war ich in meinen grünen Jäckchen , welche ich aufs äußerste ausnutzen mußte , nun einer der unansehnlichsten und bescheidensten , und das nicht nur in Betracht der Kleidung , sondern auch des Benehmens .
Die Mehrzahl der Knaben gehörte dem altherkömmlichen Bürgerstande an ; einige waren vornehme feine Herrenkinder , und einige hinwieder stammten von reichen Dorfmagnaten ; alle aber hatten ein sicheres Auftreten und Gebaren , entschiedene Manieren und einen fixen Jargon im Sprechen und Spielen , vor welchem ich blöde und unsicher dastand .
Wenn sie sich stritten , so schlugen sie sich gleich mit raschen Bewegungen ins Gesicht , daß es klatschte , und mehr Mühe als das neue Lernen machte mir das Zurechtfinden in diese neue Umgangsweise , wenn ich nicht zuviel Unbilden erleiden wollte .
Ich erkannte nun erst , wie mild und gutmütig die Gesellschaft der armen Kinder gewesen war , und schlüpfte noch oft zu ihnen , die mich mit wehmütigem Neide von meinen jetzigen Verhältnissen erzählen hörten .
In der Tat brachte jeder Tag neue Veränderungen in meine bisherige Lebensweise .
Seit alter Zeit war die Jugend der Städte in den Waffen geübt worden , vom zehnten Jahre an bis beinahe zum wirklichen Militärdienste des Jünglingsalters ; nur war es mehr eine Sache der Lust und des freien Willens gewesen , und wer seine Kinder nicht wollte teilnehmen lassen , war nicht gezwungen .
Nun aber wurden die Waffenübungen für die sämtliche schulpflichtige Jugend gesetzlich geboten , so daß jede Kantonsschule zugleich ein soldatisches Korps bildete .
Mit den kriegerischen Übungen war das Turnen verwandt , zu welchem wir ebenfalls angehalten wurden , so daß einen Abend exerziert und den anderen gesprungen , geklettert und geschwommen wurde .
Ich war bisher aufgewachsen wie ein Gras , mich biegend und schmiegend , wie jedes Lüftchen der Lebensregungen und der Laune es wollte ; niemand hatte mir gesagt , mich gerade zu halten , kein Mann mich an See und Fluß geführt und da hineingeworfen , nur in der Aufregung hatte ich ein und anderen Sprung getan , den ich mit Vorsatz nicht zu wiederholen vermochte .
Mein Temperament aber hatte mich nicht dazu getrieben , wie etwa die Söhne anderer Witwen , da ich keinen Wert darauf legte und viel zu beschaulich war .
Meine jetzigen Schulgenossen hingegen bis auf den kleinsten herab schwammen alle wie die Fische im See herum , sprangen und kletterten , und hauptsächlich wohl nur ihr Spott nötigte mich , mir einige Haltung und Gewandtheit zu erwerben , da sonst mein Eifer bald erkaltet wäre .
Aber noch viel tiefer sollten die Veränderungen in mein Leben einschneiden .
Ich trieb mich in einer Genossenschaft herum , welche sämtlich mit einem mehr oder minder genugsamen Taschengelde versehen war , teils aus häuslicher Wohlhabenheit , teils auch nur infolge herkömmlichen Brauches und sorgloser Prahlerei der Eltern .
An Gelegenheit , Ausgaben zu machen , fehlte es noch weniger , da nicht nur bei den gewöhnlichen Übungen und Spielen auf den entlegenen Plätzen Obst und Backwerk zu kaufen üblich war , sondern auch bei größeren Turnfahrten und militärischen Ausflügen mit klingendem Spiel es für männlich galt , sich in den entfernten Dörfern hinter Brot und Wein zu setzen Dazu kamen noch die Ausgaben für allerhand Spielereien , welche in der Schule abwechselnd Mode wurden unter dem Vorwande nützlicher Beschäftigung , ferner der lehrreiche Besuch aller fremden Sehenswürdigkeiten , von welch allem sich regelmäßig entfernt halten zu müssen einen unerträglichen Anstrich von Dürftigkeit und Verlassenheit verlieh .
Meine Mutter bestritt mit gewissenhaftem Sinne alle die ungewohnten Ausgaben für Lehrmittel , Instrumente und Material und gab mir hierin sogar für eine gewisse Verschwendung Raum .
Mit den feinen Zirkeln des Vaters durchstach ich das schönste Papier in der Klasse ; jede Gelegenheit nahm ich wahr , ein neues Heft zu errichten , und meine Bücher waren immer dauerhaft gebunden .
Allein in allem anderen , das nur entfernt unnötig schien , beharrte sie eigensinnig auf dem Grundsatze , daß kein Pfennig unnütz dürfe ausgegeben werden und daß ich dies frühzeitig lernen müsse .
Nur für die Hauptausflüge und Unternehmungen , von denen wegzubleiben ein zu großer Schmerz für mich gewesen wäre , gab sie mir ein kärgliches Geld , welches jedesmal schon in der Mitte des frohen Tages aufgezehrt war .
Dabei hielt sie mich in weiblicher Unkenntnis der Welt nicht etwa in der Abgeschiedenheit zurück , wie es sich zu ihrer strengen Sparsamkeit geschickt hätte , sondern ließ mich meine ganze Zeit in der Gemeinschaft der anderen zubringen , mich nur unter lauter wohlgezogenen Knaben und unter der Aufsicht des großen , angesehenen Lehrerpersonales wähnend , während gerade dadurch das Mitmachen und Vergleichen unvermeidlich wurde und ich in tausend Verlegenheiten und schiefe Stellungen geriet .
In der Einfachheit und Unschuld ihres Gemütes und ihres Lebenslaufes hatte sie keine Ahnung von dem unheilvollen Giftkraute , welches falsche Scham genannt wird und in den frühesten Tagen des Lebens um so mehr zu wuchern beginnt , als es von der Dummheit der alten Menschen eher gehätschelt und gepflegt als ausgereutet wird .
Unter tausend Jugendfreunden und Mitgliedern von Pestalozzi-Stiftungen gibt es vielleicht keine zwölf , welche aus ihren eigenen Erinnerungen sich noch auf das Abc des kindlichen Gemütes besinnen und wissen , wie sich daraus die verhängnisvollen Worte bilden , und man darf sie eigentlich nicht einmal darauf aufmerksam machen , sonst werfen sie sich sogleich auf dieses Gebiet und errichten darüber ein Statut .
Auf Pfingsten wurde einst ein großer jugendlicher Feldzug angeordnet ; sämtliche kleine Mannschaft , einige hundert an der Zahl , sollte mit klingendem Spiel ausrücken und , über Berg und Tal marschierend , die bewaffnete Jugend einer benachbarten Stadt besuchen , um mit derselben gemeinschaftliche Paraden und Übungen abzuhalten .
Es herrschte eine allgemeine Aufregung , gemischt aus der Freude der Erwartung und aus der Lust der Vorbereitung .
Kleine Tornister wurden vorschriftsmäßig bepackt , Patronen wurden so viele als möglich über die bestimmte Zahl angefertigt , unsere Zweipfünderkanonen sowie die Fahnen bekränzt , und überdies ging unterderhand das Gerede , wie unsere Nachbaren nicht nur schmucke und gedrillte Soldaten , sondern auch aufgeweckte und lustige Zecher und Kameraden wären , daß es also nicht nur gelte , sich möglichst blank und strack zu halten , sondern jeder sich gut mit Taschengeld zu versehen hätte , um den berühmten Nachbaren auf jede Weise die Stirn zu bieten .
Dazu wußten wir , daß dort die weibliche lugend ebenfalls teilnehmen , festlich gekleidet und bekränzt uns beim Einmarsche begrüßen und daß nach dem gemeinschaftlichen Mahle getanzt würde .
Auch in dieser Hinsicht waren wir nicht gesonnen , uns etwas zu vergeben ; es hieß , jeder solle sich weiße Handschuhe verschaffen , um beim Balle ebenso galant als militärisch zu erscheinen , und alle diese Dinge wurden hinter dem Rücken der Aufseher mit solcher Wichtigkeit verhandelt , daß es mir Angst und bange wurde , allem zu genügen .
Zwar war ich einer der ersten , der die Handschuhe aufzuweisen hatte , indem meine Mutter auf meine Klage aus den begrabenen Vorräten ihrer lugend ein Paar lange Handschuhe von feinem weißem Leder hervorzog und unbedenklich die Hände vom Abschnitt , welche mir vortrefflich paßten .
Hingegen in Betreff des Geldes lebte ich der betrübten Aussicht , jedenfalls eine gedrückte und enthaltsame Rolle spielen zu müssen .
In solchen Betrachtungen saß ich am Vorabend der Freudentage in einem Winkel , als mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf fahre , ich das Hinausgehen der Mutter abwartete und dann zu dem Möbel eilte , das mein kleines Schatzkästchen barg .
Ich öffnete es zur Hälfte und nahm unbesehen ein großes Geldstück heraus , das zuoberst lag ; die anderen rückten alle ein klein wenig von der Stelle und machten ein leises Silbergeräusch , in dessen klangvoller Reinheit jedoch eine gewisse Gewalt ertönte , die mich schaudern machte .
Schnell brachte ich meine Beute zur Seite , befand mich aber nun in einer sonderbaren Stimmung , die mich scheu und wortkarg gegen die Mutter werden ließ .
Denn wenn der frühere Eingriff mehr die Folge eines vereinzelten äußeren Zwanges gewesen und mir kein böses Gewissen hinterlassen hatte , so war das jetzige Unterfangen freiwillig und vorsätzlich ; ich tat etwas , wovon ich wußte , daß es die Mutter nimmer zugeben würde ; auch die Schönheit und der Glanz der Münze schienen von der profanen Verausgabung abzumahnen .
Jedoch verhinderte der Umstand , daß ich mich selbst bestahl zum Zwecke der Nothilfe in einem kritischen Falle , ein eigentliches Diebsgefühl ; es war mehr etwas von dem Bewußtsein , welches im verlorenen Sohne dämmern mochte , als er eines schönen Morgens mit seinem väterlichen Erbteil auszog , es zu verschwenden .
Am Pfingsttage war ich schon früh auf den Füßen ; unsere Trommler , als die allerkleinsten auch die muntersten Bursche , durchzogen in ansehnlichem Haufen die Stadt , umschwärmt von marschbereiten Schülern , und ich beeilte mich , zu ihnen zu stoßen .
Meine Mutter hatte aber noch gar viel zu besorgen ; sie füllte meinen Tornister mit Eßwaren , hing mir ein artiges Reisefläschchen um , mit Wein gefüllt , steckte mir noch hie und da etwas in die Taschen und gab mir gute Verhaltungsregeln .
Ich hatte längst mein Gewehr auf der Schulter und die Patrontasche umgehängt , worin auch mein großer Taler steckte , und wollte mich endlich ihren Händen entreißen , als sie ganz verwundert sagte , ich werde doch etwas Geld mitnehmen wollen ?
Hierauf nahm sie das bereits Abgezählte hervor und unterwies mich , wie ich es einzuteilen hätte .
Es war zwar nicht überreichlich , aber doch anständig und vollkommen hinreichend und selbst für unvorhergesehene Fälle berechnet .
In einem Papiere war noch ein besonderes Stück eingewickelt , welches ich in dem gastfreundlichen Hause , wo ich einquartiert würde , den Dienstboten zu geben hätte .
Wenn ich die Sache recht betrachtete , so war dies auch die erste Gelegenheit , wo eine solche Ausstattung eigentlich notwendig schien , und die Mutter ließ es also nicht an dem Ihrigen fehlen .
Aber nichtsdestominder war ich überrascht ; ich geriet in die größte Verlegenheit und Aufregung , und indem ich die Treppen hinunterstieg , drangen mir seltenerweise Tränen aus den Augen , daß ich sie hinter der Haustür abtrocknen mußte , ehe ich auf die Straße trat und zu dem fröhlichen Haufen stieß .
Der allgemeine Jubel hätte in meinem Gemüte , welches durch die liebevolle Sorge der Mutter bewegt war , einen um so empfänglicheren Grund gefunden , wenn nicht der Taler in der Tasche mir wie ein Stein auf dem Herzen gelegen hätte .
Jedoch als sich die ganze Schar zusammenfand , das Kommando ertönte und wir uns ordneten und abzogen , wurden meine düsteren Gedanken gewaltsam unterdrückt , und als ich , zur Vorhut eingeteilt , schon auf den freien Höhen ging unter dem morgenfrischen Himmel und der lange Zug schimmernd und singend , mit wehender Fahne , sich zu unseren Füßen heranbewegte , da vergaß ich alles und lebte nur dem Augenblicke , welcher , Perle für Perle , von der glänzenden Schnur der nächsten Erwartung fiel .
Wir führten ein lustiges Vorhutleben ; ein alter Kriegsmann , in fremden Diensten ergraut und nun dazu verwendet , uns kleinen Nesthüpfern das Handwerk beizubringen , leitete uns an zu allerlei Schabernack und ließ sich unablässig bestürmen , aus unseren Feldflaschen zu trinken , was er mit scharfer Kritik des Inhaltes tat .
Wir waren stolz , keinen der Schulmänner bei uns zu haben , welche die große Kolonne begleiteten , und hörten andächtig die Kriegsabenteuer , so uns der alte Soldat erzählte .
Zur Mittagszeit machte der Zug in einem sonnigen unbewohnten Talkessel halte ; der wilde Boden war mit vielen einzelnen Eichen besetzt , um welche sich das junge Volk lagerte .
Wir Leute der Vorhat aber standen auf einem Berge und schauten zufrieden auf das fröhliche Gewühl hinunter .
Wir waren still geworden und schlürften den stillen glanzvollen Tag ein ; der alte Feldwebel lag froh an der Erde und blinzte in den ruhevollen Horizont hinaus , über blaue Ströme und Seen hin .
Obgleich wir noch nichts von landschaftlicher Schönheit zu sagen wußten und einige vielleicht in ihrem Leben nie dazu kamen , fühlten wir alle doch ganz die Natur , und das um so mehr , als wir mit unserem Freudenzuge eine würdige Staffage in der Landschaft bildeten , selbst handelnd darin auftraten und daher der empfindsamen Sehnsucht untätiger Naturbewunderer enthoben waren .
Denn ich habe erst später erfahren und eingesehen , daß das müßige und einsame Genießen der gewaltigen Natur das Gemüt verweichlicht und verzehrt , ohne dasselbe zu sättigen , während ihre Kraft und Schönheit es stärkt und nährt , wenn wir selbst auch in unserem äußeren Erscheinen etwas sind und bedeuten ihr gegenüber .
Und selbst dann ist sie in ihrer Stille uns manchmal noch zu gewaltig ; wo kein rauschendes Wasser ist und gar keine Wolken ziehen , da macht man gern ein Feuer , um sie zur Bewegung zu reizen und sie nur ein bißchen atmen zu sehen .
So trugen wir einiges Reisig zusammen und fachten es an ; die roten Kohlen knisterten so leis und angenehm , daß auch unser graue und rauhe Führer vergnügt hineinsah , während der blaue Rauch dem Heerhaufen im Tale ein Zeichen unseres Aufenthaltes war ; trotz der mittäglichen Sonnenhitze schien uns die erhöhte Glut des Feuers lieblich ; wir verloschen es ungern , als wir abzogen .
Gar zu gern hätten wir einige Schüsse in die stille Luft gesandt , wenn es nicht streng untersagt gewesen wäre ; ein Knabe hatte schon geladen und mußte den Schuß kunstgerecht wieder aus dem Gewehre ziehen , was ihm so peinlich war als einem Schwätzer das Unterdrücken eines Geheimnisses .
Im Scheine des Abendgoldes sahen wir endlich die befreundete Stadt vor uns , aus deren mit Blumen und grünen Zweigen bekleidetem altertümlichen Tore die so wie wir gerüstete Jugend uns entgegentrat , umgeben von den schaulustigen und freundlichen Eltern und Geschwistern .
Ihre Artillerie löste uns zu Ehren eine Anzahl von Schüssen ; wir betrachteten mit kritischem Auge , wie die kleinen Kanoniere neben der Mündung mit ebenso zierlicher Verrenkung sich zurückbogen , wenn die Lunte sich dem Brander näherte , und nach dem Schusse ebenso hampelmännisch sich mit dem Wischer auslegten , wie das alles bei uns üblich war .
Noch mehr Ursache zur Eifersucht gaben uns die hübschen Perkussionsgewehre , womit unsere Kameraden einherzogen , da wir selbst nur alte Steinschlösser hatten , welche sich dann und wann erlaubten zu versagen .
Die Regierung dieses Kantons stand ein wenig im Geruche , in ihrem aufgeweckten Sinne für alles Gute und Schöne manchmal mehr Aufwand zu machen , als sich mit haushälterischer Bedächtigkeit vertrüge , und harte demgemäß für ihre Schuljugend solche neue Waffen beschafft zu einer Zeit , wo dergleichen erst bei größeren Militärstaaten in der Einführung begriffen waren .
So hörten wir denn , während unsere Freunde uns wohlgefällig erklärten , wie bei ihnen während der Ladung die Bewegung von " Pulver auf Pfanne ' " nun wegfiele , unsere erwachsenen Begleiter heimlich einen bedächtigen Tadel über solchen Aufwand aussprechen .
Doch waren wir endlich ermüdet und gaben uns willig den Einladungen der Familien hin , welche sich so eifrig um unsere Beherbergung stritten , daß unsere ganze Schar in ihren offenen Armen so schnell verschwand wie ein flüchtiger Regenschauer im heißen durstigen Erdreiche .
Wir sahen uns nun vereinzelt in die Mitte häuslicher Wirtlichkeit versetzt als Gegenstand festlichen Wohlwollens und belohnten diese Gastfreundschaft dadurch ; daß wir , als ob wir in Feindesland wären , beim Schlafengehen unsere Flintchen mitnahmen und neben die großen Gastbetten stellten , welche zu ersteigen wir alle unsere Turnerkünste aufbieten mußten .
Das Fest des anderen Tages erfüllte alle Erwartungen .
Der Wetteifer ließ beide Parteien bei den Übungen gleich wohl bestehen ; gegen die Perkussionsgewehre unserer Nebenbuhler aber hatten wir einen anderen Trumpf auszuspielen .
Indem ihre Artillerie nämlich nur blind zu schießen gewohnt war und keine Kugeln kannte , schoß die unsrige so geschickt nach dem Ziele , daß das bei solcher Gelegenheit stehende Sprichwort :
" Die Kleinen machten es wahrlich besser denn die Großen ! " diesmal nicht ganz unrichtig war und die Nachbaren dem ernsthaften Richten der Geschütze verwundert zuschauten .
Ein großes Festmahl , welches einige tausend junge und alte Menschen vereinigte , wurde auf einer grünen Wiese eingenommen .
Beliebte Jugendfreunde hielten Tischreden und trafen in denselben das Rechte , indem sie , anstatt uns in hohlem , frühreifem Ernste zu halten , in reinem Humor den Ton unschuldiger Fröhlichkeit anstimmten , ihr Alter vergaßen , ohne kindisch zu tun , und uns dadurch desto leichter lehrten , die Freude nicht ohne Witz zu genießen .
Darauf zog eine Reihe feiner Mädchen aus dem Tore an uns vorbei auf einen geebneten Rasenplatz und lud uns mit Gesang zu Spiel und Tänzen ein .
Sie waren alle weiß und rot gekleidet und entfalteten sich in der lieblichsten Blüte vom kindlichen Lockenkopfe bis zur angehenden Jungfrau ; hinter dem weiten Kranze ragte manch weibliches Haupt in reifer Schönheit , um die zarten Pflänzlinge zu überwachen und bei guter Gelegenheit selbst noch ein bißchen jugendlicher über den Rasen zu schlüpfen , als in sonstigen Tagen erlaubt war .
Hatten doch die Männer ihrerseits die Gelegenheit auch ersehen und die Lust der Kinder bereits zu ihrer eigenen Sache erklärt und schon mit mancher Flasche besiegelt !
Unsere tapfere Schar näherte sich in dichtem Haufen dem flüsternden Kreise der Schönen , keiner wollte recht der vorderste sein ; unsere Sprödigkeit ließ uns fast feindlich und düster aussehen , während das Anziehen der weißen Handschuhe ein weitgehendes Flimmern und Schimmern verursachte .
Doch es zeigte sich nun , daß die Hälfte der Handschuhe überflüssig war , indem wir in zwei verschiedene Teile zerfielen , in solche Knaben nämlich , welche größere Schwestern zu Hause hatten , und in solche , welche dieses angenehme Glück nicht kannten .
Die ersteren zeigten sich alle als zierliche Tänzer , welche bald gesucht und ausgezeichnet wurden , indessen die letzteren wie ungeleckte Bären über den Rasen stolperten und nach einigen mißlungenen Abenteuern sich aus den Reihen stahlen und bei den Trinktischen zusammenfanden , wo wir mit energischem Gesang ein wildes Soldatenleben führten , als rauhe Krieger und Weiberfeinde , und uns gegenseitig einzubilden suchten , daß die Mädchen doch häufig nach unserem tüchtigen Treiben herüberschielten .
Unser Zechen bestand zwar mehr in einer bescheidenen Nachahmung der Alten und überwand den natürlichen Widerwillen gegen Unmäßigkeit nicht , der noch in jenem Lebensalter liegt ; doch bot es hinlänglichen Spielraum für unsere kleinen Leidenschaften .
Der Weinbau dieser Landschaft war bedeutender und edler als bei uns ; daher hatten unsere jungen Nachbaren schon eine entschiedenere Färbung in ihrer Fröhlichkeit und vertrugen ein stärkeres Glas Wein als wir , so daß sie ihren Ruf vollkommen rechtfertigten .
Da galt es nun , sich hervorzutun ; ich gab mich diesem Bestreben ohne Rückhalt hin , meine wohlversehene Kasse verlieh mir die nötige Sicherheit und Freiheit , und dieser folgte alsobald eine gewisse Achtung meiner Umgebung .
Wir durchzogen Arm in Arm die Stadt und die Lustplätze vor derselben ; das schöne Wetter , die Freude , der Wein regten mich auf und machten mich geschwätzig und ausgelassen , keck und gewandt ; aus einem stillen und blöden Fernesteher war ich urplötzlich ein lauter Tonangeber geworden , der sich in übermütigen Bemerkungen und Erfindung von Schwänken erging und welchen die übrigen Wortführer , die sich bisher wenig aus mir gemacht , sogleich anerkannten und hätschelten .
Die Eigenschaft als Fremder , der neue Schauplatz erhöhte noch die Stimmung .
Es ist schwer zu entscheiden , was größer war , ob meine Redseligkeit , mein Freudenrausch oder meine erwachte Eitelkeit ; kurz , ich schwamm in einem ganz neuen Glücke , welches am dritten Tage womöglich noch zunahm , als wir heimwärts zogen und die allseitige Zufriedenheit sowie die freiere Ordnung und Haltung eine neue Reihe fröhlicher Auftritte veranlaßten .
Als ich mit Sonnenuntergang das Haus meiner Mutter betrat , bestaubt und sonnverbrannt , die Mütze mit einem Tannenreise geschmückt , die Mündung des Gewehrchens und der eigene Mund prahlerisch von Pulver geschwärzt , da war ich nicht mehr der gleiche , wie ich ausgezogen , sondern einer , der sich mit den kecksten Führern der Knabenwelt in verschiedene Verabredungen und Versprechungen eingelassen hatte zur Fortsetzung des begonnenen Tones .
Hauptsächlich sollten die tanzkundigen Feintuer und Weichlinge , wie wir sie nannten ! verhindert werden , uns bei der einheimischen Schönheit etwa in den Schatten zu stellen ; wir wollten daher ihren zierlichen Künsten ein derbes militärisches Wesen , kühne Taten und allerlei Streifereien und Unternehmungen entgegensetzen zur Begründung eines bedenklichen Ruhmes .
Voll von diesen Ideen und noch voll der durchlebten Freude , die ich sowenig erschöpft hatte als sie mich , fühlte ich mich in der besten Laune und erging mich in unserem Hause in lauten Erzählungen und prahlerischem , barschem Wesen , bis ich durch einige magische Witzkörner , die meine Mutter in die unbescheidene Brandung warf , für einmal zu Ruhe und Schlaf gebracht wurde .
Vierzehntes Kapitel Prahler , Schulden , Philister unter den Kindern Meine neuen Freunde ließen mir nicht Zeit , aus meiner Verirrung zu kommen ; schon der nächste Tag , an dem ich , selbst eine Art von Größe , in der renommiertesten Gesellschaft unserer Stadt zu sehen war , weckte alle neuen Erinnerungen wieder ; die Nachklänge des Festes gaben Gelegenheit , den Rest meiner Barschaft anzubringen und dagegen erneute Lorbeeren einzutauschen .
Für einen der nächsten Sonntage wurde ein großer Spaziergang verabredet , welcher wieder eine Demonstration gegen die Feinspinner werden sollte .
In meinem Leichtsinn hatte ich nicht bedacht , woher ich die nötigen Mittel nehmen wolle , also auch keinen Vorsatz gefaßt ; als aber der Augenblick da war , griff ich wieder in den Schrein , ohne etwas anderes zu fühlen als das zwingende Bedürfnis und eine Art dunklen Entschlusses , daß es das letzte Mal sei .
So ging es den ganzen kurzen Sommer hindurch .
Die veranlassende Laune war längst verflogen , die Teilnehmer hatten sich dem ordentlichen Lauf der Dinge wieder gefügt ; auch über mich hätten Maß und Bescheidenheit ihre Herrschaft wiedergewonnen , wenn nicht eine andere Leidenschaft aus der Sache erwachsen wäre , nämlich die des unbeschränkten Geldausgebens , der Verschwendung an sich .
Es reizte mich , jeden Augenblick die kleinen Herrlichkeiten , wonach jedes Alter gelüstet , kaufen zu können ; immer hatte ich die Hand in der Tasche , um mit Münzen hervorzufahren Gegenstände , welche Knaben sonst eintauschen , kaufte ich nur mit barem Gelde , gab solches an Kinder , Bettler und beschenkte einige Gesellen , die meinen Schweife bildeten und meine Verblendung benutzten , solange es ging .
Denn es war eine wirkliche Verblendung .
Ich bedachte im mindesten nicht , daß die Sache doch ein Ende nehmen müsse ; nie mehr öffnete ich das Kästchen ganz und übersah das Geld , sondern schob nur die Hand unter den Deckel , um ein Stück herauszunehmen , und überdachte auch nie , wieviel ich schon verschleudert haben müsse .
Ich empfand auch keine Angst vor der Entdeckung ; in der Schule und bei meinen Arbeiten hielt ich mich nicht schlimmer als früher , eher besser , weil keine unbefriedigten Wünsche mich zu träumerischem Müßiggange verleiteten und die vollkommene Freiheit des Handelns , welche ich beim Geldausgeben empfand , sich auch im Arbeiten durch eine gewisse Raschheit und Entschlossenheit äußerte .
Zudem fühlte ich das dunkle Bedürfnis , das unsichtbare Unheil , welches über mir sich sammelte , durch sonstige Pflichterfüllung einigermaßen aufzuwiegen .
Jedoch trotz allem befand ich mich jenen ganzen Sommer hindurch in einem unheimlichen und peinvollen Zustande , dessen Erinnerung , verbunden mit derjenigen an den blauen Himmel und Sonnenschein , an die stillen grünen Waldschenken , in welche wir uns zu heimlichen Gelagen verkrochen , eine seltsame Empfindung wachruft .
Meine Genossen mußten längst gemerkt haben , daß es mit meinem Gelde nicht mit rechten Dingen zugehe ; aber sie hüteten sich sorgfältig , einen Verdacht zu äußeren oder die leiseste Frage an mich zu tun ; vielmehr stellten sie sich , als ob sich alles von selbst verstünde , waren mir stillschweigend behilflich , die auffälligen blanken Silberstücke umzuwechseln , ohne in Erörterungen einzugehen , und als die Herrlichkeit ein Ende nahm , wandten sie sich ganz trocken und unbeteiligt von mir , ganz wie erwachsene brave Geschäftsleute , welche in aller Seelenruhe auch den Gewinn der Unredlichen an sich bringen , ohne über den Ursprung desselben Forschungen anzustellen .
Dies vorausgeahnte Benehmen drückte mich um so mehr , als ich bald bemerkte , daß sie sich sonderbar gemessen gegen mich betrugen und nur wärmer wurden , wenn ich wieder ein Geldstück auf die Straße brachte , daneben aber sich anderweitig über mich zu besprechen schienen .
Während jedoch die kleinliche und gewöhnliche Art der Mehrzahl keine heftige und leidenschaftliche Trennung bedingte , sollte mir die energische Selbstsucht eines einzigen und der daraus entspringende Haß Kummer und Leiden bereiten , wie sie wohl selten in diesem Alter sich zeigen .
Derselbe war ein kleiner Bursche mit kleinen regelmäßigen Gesichtszügen , mit zierlichen Sommersprossen ganz bedeckt .
Er besaß einen frühreifen Verstand , lernte fleißig und genau , bestrebte sich gegen ältere Leute , besonders gegen Frauen , in wohlgesetzten , altklugen Worten auszudrücken und galt daher für einen ordentlichen , höchst brauchbaren Jungen .
Er war fast in allen Übungen geschickt , durch Aufmerksamkeit und Ausdauer , und brachte alles , was er unternahm , auf eine niedliche Weise zustande .
Meierlein , so hieß er , besaß aber kein tieferes Talent ; in seinen verschiedensten Unternehmungen war nie etwas Neues oder Eigenes sichtbar , sondern er brachte nur das gut zuwege , was er sich vorgemacht sah , und ihn beseelte nur ein unablässiges Bedürfnis , sich alles Erdenkliche anzueignen .
Deshalb konnte er ebensowohl eine vollkommene und reinliche Papparbeit hervorbringen als über einen Graben setzen oder Ball schlagen oder mit einem Steinchen eine bezeichnete Stelle an einer Mauer treffen , alles durch langsame und anhaltende Übung ; seine Schulhefte waren korrekt und in bester Ordnung , seine Schrift klein und zierlich , besonders seine Zahlen wußte er ausnehmend angenehm und rundlich in Reihen zu setzen .
Seine vorzüglichste Gabe aber war eine gewisse Fähigkeit , mit verständiger Besprechung alles zu überspinnen , Verhältnisse auszuklügeln und mit vielsagender Miene Aufschlüsse und Vermutungen aufzustellen , welche über unser Alter hinausgingen .
Dabei stets ein zuverlässiger und kurzweiliger Gesell , gesucht und nützlich , fing er wenig Streit an , focht aber einen solchen höchst hartnäckig aus , und er blieb um so respektierter , als er immer wohlbedächtig auf der Seite stand , wo das wirkliche oder erlogene Recht sich behauptete .
Er war anderthalb Jahre älter als ich , hatte sich indessen enger an mich geschlossen als alle übrigen , so daß wir eine besondere Freundschaft pflegten und jeden freien Augenblick zusammensteckten .
Er ergänzte mich vortrefflich und sagte mir daher sehr zu .
Meine Unternehmungen gingen immer auf das Phantastische , Bunte und Wirksame aus , während er durch Genauigkeit und Sorgfalt der mechanischen Arbeit meinen flüchtigen und rohen Entwürfen Zweck und Ordnung verlieh .
Meierlein ließ mein Geheimnis ebenso vorsichtig bestehen wie die anderen , obwohl es für seine verständige Aufmerksamkeit noch weniger eines sein konnte ; doch ließ er nicht ebenso zwischendurch seine Einsicht ahnen , sondern bestrebte sich vielmehr , mich von den zu leichtsinnigen Ausgaben abzuhalten und meine Wünsche auf scheinbar nützliche und gute Dinge zu richten mit gesetzten Worten , was dem Verkehr mit ihm einen soliden Anstrich gab .
Nur für sich selbst war er mit noch größerem Eifer bedacht als die übrigen , und sich nicht begnügend mit meiner unmittelbaren Freigebigkeit , errichtete er mit großer Einsicht ein Schuldverhältnis zwischen mir und ihm , indem er sich haushälterisch aus meinem Gelde eine kleine Kasse ansammelte , aus welcher er mir , wenn ich augenblicklich nicht über mein Kästchen konnte , mäßige Vorschüsse machte , die wir gemeinsam verbrauchten und die er in ein niedlich angefertigtes Büchelchen eintrug , dessen Seiten mit Soll und Haben ansehnlich überschrieben waren .
Überdies wußte er mir eine Menge kindischer Gegenstände zu verkaufen , deren Betrag er fleißig in sein Buch setzte .
Seine Gewandtheit in den verschiedensten Übungen verwertete er ebenfalls ; er war mein dienstbarer Dämon , der alles konnte und alles in Angriff nahm , was wir wünschten , aber jede Dienstleistung durch kleine Münzsorten in meinem Schuldregister bezeichnete .
Auf Spaziergängen reizte er mich stets , seine Geschicklichkeit auf die Probe zu stellen :
" Soll ich mit diesem Steinchen jenes dürre Blatt treffen ? " sagte er , und ich erwiderte :
" Das kannst du nicht ! "
- " Willst du mir einen Batzen schuldig sein , wenn ich es tue ? "
- " Ja ! " und er traf es und erschwerte unter den gleichen Bedingungen die Aufgabe manchmal dreimal hintereinander , ohne sie je zu verfehlen .
Dann schrieb er die Summe genau in sein Buch mit allerliebsten wohlgestalteten Zahlen , was mir solches Vergnügen gewährte , daß ich laut auflachte .
Er aber sagte ernsthaft , da sei gar nichts zu lachen , ich sollte bedenken , daß ich alles einmal berichtigen müßte und daß sein Büchlein eine ordentliche Bedeutung und Gültigkeit hätte vor jedem Geschäftsmann !
Dann veranlaßte er mich wieder zu zahlreichen Wetten , ob zum Beispiel ein Vogel sich auf diesen oder jenen Pfahl setzen , ob ein vom Winde bewegter Baum sich das nächste Mal so oder so tief niederbeugen , ob am Gestade des Sees mit dem fünften oder sechsten Wellenschlage eine große Welle ankommen würde .
Wenn bei diesem Spiele der Zufall mich manchmal gewinnen ließ , so setzte er in seinem Buche auf die Seite des Soll mit wichtiger Miene ein knappes Zahlchen , welches sich in seiner Einsamkeit höchst wunderlich ausnahm und mir neuen Stoff zum Lachen , ihm hingegen zu ernsthaften Redensarten gab .
Er suchte mich eifrigst zu überzeugen , daß Schulden eine wichtige Ehrensache seien , und eines Tages , als der Sommer sich seinem Ende nahte , überraschte mich Meierlein mit der Nachricht , daß er nun " abgerechnet " habe , und zeigte mir eine runde Zahl von mehreren Gulden nebst einigen Kreuzern und Pfennigen und bemerkte dabei , daß es nun schicklich wäre , wenn ich darauf dächte , ihm den Betrag einzuhändigen , indem er wünsche , aus seinen Ersparnissen sich ein schönes Buch zu kaufen .
Doch erwähnte er hierüber die nächsten zwei Wochen nichts mehr und legte inzwischen eine neue Rechnung an , welches er mit vermehrtem Ernste tat und wobei er ein seltsames Betragen annahm .
Er wurde nicht unfreundlich , aber die alte Fröhlichkeit und Unbefangenheit unseres Verkehres war verschwunden .
Eine große Niedergeschlagenheit beschlich mich , welche Meierlein durchaus nicht zu stören schien ; vielmehr verfiel er selber in einen elegischen Ton , ungefähr wie er Abraham überkommen haben mochte , als er mit seinem Sohne Isaac den vermeintlich letzten Gang tat .
Nach einiger Zeit wiederholte er seine Mahnung , diesmal mit Entschiedenheit , doch nicht unfreundlich , sondern mit einer gewissen Wehmut und väterlichem Ernste .
Nun erschrak ich und fühlte eine heftige Beklemmung , indessen ich versprach , die Sache abzumachen .
Jedoch konnte ich mich nicht ermannen , die Summe zu nehmen , und verlor selbst den Mut , meine gewöhnlichen Eingriffe fortzusetzen .
Das Gefühl meiner Lage hatte sich jetzt ganz ausgebildet ; ich schlich trübselig umher und wagte nicht zu denken , was nun kommen sollte .
Ich empfand eine beängstigende Abhängigkeit gegen meinen Freund ; seine Gegenwart war mir drückend , seine Abwesenheit aber peinlich , da es mich immer zu ihm hintrieb , um nicht allein zu sein und vielleicht eine Gelegenheit zu finden , ihm alles zu gestehen und bei seiner Vernunft und Einsicht Rat und Trost zu finden .
Aber er hütete sich wohl , mir diese Gelegenheit zu bieten , wurde immer gemessener im Umgange und zog sich zuletzt ganz zurück , mich nur aufsuchend , um seine Forderung nun mit kurzen , fast feindlichen Worten zu wiederholen .
Er mochte ahnen , daß eine Krisis für mich nahe bevorstehe ; daher war er besorgt , noch vor dem Ausbruche derselben sein so lang und sorglich gepflegtes Schäfchen ins trockene zu bringen .
Und er hatte recht .
Um diese Zeit war meine Mutter durch die verspätete Mitteilung eines Bekannten aufmerksam gemacht worden ; sie erfuhr endlich mein bisheriges Treiben außer dem Hause , woran hauptsächlich die übrigen Kumpane schuld sein mochten , die sich schon früher von mir gewendet hatten , als meine Niedergeschlagenheit begonnen .
Eines Tages , als ich am Fenster stand und für meine Blicke auf den besonnten Dächern , im Gebirge und am Himmel stille Ruhepunkte und die vorwurfsvolle Stube hinter mir zu vergessen suchte , rief mich die Mutter mit ungewohnter Stimme beim Namen ; ich wandte mich um , da stand sie neben dem Tische und auf demselben das geöffnete Kästchen , auf dessen Boden zwei oder drei Silberstücke lagen .
Sie richtete einen strengen und bekümmerten Blick auf mich und sagte dann :
" Schau einmal in dies Kästchen ! "
Ich tat es mit einem halben Blicke , der mich seit langer Zeit zum ersten Male wieder den wohlbekannten inneren Raum der geplünderten Lade sehen ließ .
Er gähnte mir vorwurfsvoll entgegen .
" Es ist also wahr " , fuhr die Mutter fort , " was ich habe hören müssen und was sich nun bestätigt , daß sich mein guter und sorgloser Glaube , ein braves und gutartiges Kind zu besitzen , so grausam getäuscht sieht ? "
Ich stand sprachlos da und sah in eine Ecke ; das Gefühl des Unglückes und der Vernichtung kreiste in meinem Inneren so stark und gewaltig , als es nur immer im langen und vielfältigen Menschenleben vorkommen kann ; aber durch die dunkle Wolke blitzte bereits ein lieblicher Funke der Versöhnung und Befreiung .
Der offene Blick meiner Mutter auf meine unverhüllte Lage fing an , den Alp zu bannen , der mich bisher gedrückt hatte ; ihr strenges Auge war mir wohltätig und löste meine Qual , und ich fühlte in diesem Augenblicke eine unsägliche Liebe zu ihr , welche meine Zerknirschung durchstrahlte und fast in einen glückseligen Sieg verwandelte , während meine Mutter tief in ihrem Kummer und in ihrer Strenge beharrte .
Denn die Art meines Vergehens hatte ihre empfindlichste Seite , sozusagen ihren Lebensnerv getroffen einesteils das kindliche blinde Vertrauen ihrer religiösen Rechtlichkeit , andernteils ihre ebenso religiöse Sparsamkeit und unwandelbare Lebensfrage .
Sie hatte keine Freude beim Anblick des Geldes ; nie übersah sie unnötigerweise ihre Barschaft ; aber jedes Guldenstück war ihr beinahe ein heiliges Symbol des Schicksals , wenn sie es in die Hand nahm , um es gegen Lebensbedürfnisse auszutauschen .
Deshalb war sie nun weit schwerer mit Sorge erfüllt , als wenn ich irgend etwas anderes begangen hätte .
Wie um sich gewaltsam vom Gegenteile zu überzeugen , hielt sie mir alles deutlich und gemessen vor und fragte dann wiederholt :
" Ist es denn wirklich wahr ?
Gestehe ! "
Worauf ich ein kurzes Ja hervorbrachte und mich meinen Tränen überließ , ohne indessen viel Geräusch zu machen ; denn ich war nun völlig befreit und fast vergnügt .
Sie ging tiefbewegt auf und nieder und sprach : " So weiß ich nun nicht , was werden soll , wenn du dich nicht fest und für immer besseren willst ! "
Damit legte sie das Kästchen wieder in ihren Schreibtisch und ließ den Schlüssel desselben an dem gewohnten Ort .
" Sieh " , sagte sie , " ich weiß nicht , ob du , wenn du deine paar Geldstücke noch verbraucht hättest , alsdann auch nach meinem Gelde , welches ich so sparen muß , gegriffen haben würdest ; es wäre nicht unmöglich gewesen ; aber mir ist es unmöglich , dasselbe vor dir zu verschließen .
Ich lasse daher den Schlüssel stecken wie bisher und muß es darauf ankommen lassen , ob du freiwillig dich zum Besseren wendest ; denn sonst würde doch alles nichts helfen , und es wäre gleichgültig , ob wir beide ein bißchen früher oder später unglücklich würden ! "
Es begannen gerade acht Tage Ferien ; ich blieb von selbst im Hause und suchte alle Winkel auf , in denen ich den Frieden und die Ruhe der früheren Tage wiederfand .
Ich war gründlich still und traurig , zumal die Mutter ihren Ernst beibehielt , ab- und zuging , ohne vertraulich mit mir zu sprechen .
Am traurigsten war das Essen , wenn wir an unserem kleinen Eßtischen saßen und ich nichts zu sagen wagte oder wünschte , weil ich das Bedürfnis dieser Trauer selbst fühlte und mir sogar darin gefiel , während meine Mutter in tiefen Gedanken saß und manchmal einen Seufzer unterdrückte .
Fünfzehntes Kapitel Frieden in der Stille .
Der erste Widersacher und sein Untergang So verharrte ich im Hause und gelüstete nicht im mindesten ins Freie und zu meinen Genossen .
Höchstens betrachtete ich einmal aus dem Fenster , was auf der Straße vorfiel , und zog mich sogleich wieder zurück , als ob die unheimliche Vergangenheit zu mir heranstiege .
Unter den Trümmern und Erinnerungen meines verflogenen Wohlstandes befand sich ein großer Farbenkasten , welcher gute Farbentafeln enthielt , statt der harten Steinchen , die man sonst den Knaben für Farben gibt .
Ich hatte schon durch Meierlein erfahren , daß man nicht unmittelbar mit dem Pinsel diese Täfelchen aushöhlen , sondern die selben in Schalen mit Wasser anreiben müsse .
Sie gaben reichliche , gesättigte Tinten , ich fing an , mit diesen Versuche anzustellen , und lernte sie mischen .
Besonders entdeckte ich , daß Gelb und Blau das verschiedenste Grün herstellten , was mich sehr freute ; daneben fand ich die violetten und braunen Töne .
Ich hatte schon längst mit Verwunderung eine alte in Öl gemalte Landschaft betrachtet , die an unserer Wand hing ; es war ein Abend ; der Himmel , besonders der unbegreifliche Übergang des Gelben ins Blaue , die Gleichmäßigkeit und Sanftheit desselben reizte mich stark an , ebensosehr der Baumschlag , der mich unvergleichlich dünkte .
Obgleich das Bild unter dem Mittelmäßigen stand , schien es mir ein bewundernswertes Werk zu sein , denn ich sah die mir bekannte Natur um ihrer selbst Willen mit einer gewissen Technik nachgebildet .
Stundenlang stand ich auf einem Stuhle davor und versenkte den Blick in die an haltlose Fläche des Himmels und in das unendliche Blattgewirre der Bäume , und es zeugte eben nicht von größter Bescheidenheit , daß ich plötzlich unternahm , das Bild mit meinen Wasserfarben zu kopieren .
Ich stellte es auf den Tisch , spannte einen Bogen Papier auf ein Brett und umgab mich mit alten Untertassen und Tellern ; denn Scherben waren bei uns nicht zu finden .
So rang ich mehrere Tage lang auf das mühseligste mit meiner Aufgabe ; aber ich fühlte mich glücklich , eine so wichtige und andauernde Arbeit vor mir zu haben ; vom frühen Morgen bis zur Dämmerung saß ich daran und nahm mir kaum Zeit zum Essen .
Der Frieden , welcher in dem gutgemeinten Bilde atmete , stieg auch in meine Seele und machte von meinem Gesichte auf die Mutter hinüberscheinen , welche am Fenster saß und nähte .
Noch weniger , als ich den Abstand des Originales von der Natur fühlte , störte mich die unendliche Kluft zwischen meinem Werke und seinem Vorbilde .
Es war ein formloses , wolliges Geflecksel , in welchem der gänzliche Mangel jeder Zeichnung sich innig mit dem unbeherrschten Materiale vermählte ; wenn man jedoch das Ganze aus einer tüchtigen Entfernung mit dem Ölbilde vergleicht , so kann man noch heute darin einen nicht ganz zu verkennenden Gesamteindruck finden .
Kurz , ich wurde zufrieden über meinem Tun , vergaß mich und fing manchmal an zu singen , wie früher , erschrak je doch darüber und verstummte wieder .
Doch vergaß ich mich immer mehr und summte anhaltender vor mich hin ; wie Schneeglöckchen im Frühjahr tauchte ein und das andere freundliche Wort meiner Mutter hervor , und als die Landschaft fertig war , fand ich mich wieder zu Ehren gezogen und das Vertrauen der Mutter hergestellt .
Als ich eben den Bogen vom Brette löste , klopfte es an die Tür , und Meierlein trat feierlich herein , legte seine Mütze auf einen Stuhl , zog sein Büchlein hervor , räusperte sich und hielt einen förmlichen Vortrag an meine Mutter , indem er in höflichen Worten Klage gegen mich einlegte und die Frau Lee wollte gebeten haben , meine Verbindlichkeiten zu erfüllen ; denn es würde ihm leid tun , wenn es zu Unannehmlichkeiten kommen sollte !
Damit überreichte der kleine Knirps sein unvermeidliches Buch und bat , gefällige Einsicht zu nehmen .
Meine Mutter sah ihn mit großen Augen an , dann auf mich , dann in das Büchelchen und sagte : " Was ist das nun wieder ? "
Sie durchging die reinlichen Rechnungen und sagte : " Also auch noch Schulden ?
Immer besser , ihr habt das Ding wenigstens großartig betrieben ! " während Meierlein immer rief : " Es ist alles in bester Ordnung , Frau Lee !
Diesen letzten Posten nach der Hauptrechnung bin ich jedoch erbötig nachzulassen , wenn Sie mir jene berichtigen wollten . "
Sie lachte ärgerlich und rief : " Ei , ei !
So , so ?
Wir wollen die Sache einmal mit deinen Eltern besprechen , Herr Schuldenvogt !
Wie sind denn diese artigen Schulden eigentlich entstanden ? "
Da reckte sich der Bursche empor und sagte : " Ich muß mir ausbitten , ganz in der Ordnung ! "
Die Mutter aber fragte mich streng , da ich ganz verblüfft und in neuer Beklemmung dagestanden :
" Bist du dem Jungen dieses schuldig und auf welche Weise ?
Sprich ! "
Ich stotterte verlegen ja und einige Tatsachen über die Natur der Schulden .
Da hatte sie schon genug und jagte den Meierlein mit seinem Buche aus der Stube , daß er sich mit frechen Gebärden davonmachte , nachdem er noch einen drohenden Blick auf mich geworfen .
Nachher befragte sie mich weitläufig über den ganzen Hergang und geriet in großen Zorn ; denn es war vorzüglich das ehrbare Aussehen dieses Knaben gewesen , welches in ihr von meinen Vergehungen keine Ahnung aufkommen ließ .
Sodann nahm sie Gelegenheit , gründlicher auf alles Geschehene einzutreten und mir eindringliche Vorstellungen zu machen , aber nicht mehr im Tone der strengen und strafenden Richterin , sondern der mütterlichen Freundin , die bereits verziehen hat .
Und nun war alles gut .
Allein doch nicht alles .
Denn als ich nun wieder in die Schule trat , bemerkte ich , daß mehrere Schüler , um Meierlein versammelt , die Köpfe zusammensteckten und mich höhnisch ansahen .
Ich ahnte nichts Gutes , und als die erste Stunde zu Ende war , welche der Rektor der Schule selbst gegeben , trat mein Gläubiger respektvoll vor ihn hin , sein Büchlein in der Hand , und erhob in geläufiger Rede seine Anklage wider mich .
Alles war gespannt und horchte auf , ich saß wie auf Kohlen .
Der Rektor stutzte , durchsah das Heft und begann das Verhör , welches Meierlein zu beherrschen suchte .
Aber der Vorsteher gebot ihm Stille und forderte mich zum Sprechen auf .
Ich gab einige kümmerliche Nachricht und hätte gern alles verschwiegen ; doch der Mann rief plötzlich :
" Genug , ihr seid beide Taugenichtse und werdet bestraft ! "
Damit trat er zu den aufliegenden Tabellen und bedachte jeden von uns mit einer scharfen Note .
Meierlein sagte betreten :
" Aber , Herr Professor - "
" Still ! " rief dieser und nahm das verhängnisvolle Buch , welches er in tausend Stücke zerriß , " wenn noch ein Wort darüber verlautet oder sich dergleichen wieder holt , so werdet ihr eingesperrt und als ein paar recht bedenkliche Gesellen abgestraft !
Pack dich ! "
Während der übrigen Unterrichtsstunden schrieb ich ein Briefchen meinem Widersacher , worin ich ihn versicherte , daß ich ihm nach und nach meine Schuld abtragen und ihm jeden Kreuzer zustellen wolle , den ich von nun an ersparen könnte .
Ich rollte das Papier zusammen , ließ es unter den Tischen zu ihm hin befördern und erhielt die Antwort zurück :
Sogleich alles oder nichts !
Nach Beendigung der Schule , als der Lehrer fort war , stellte sich der Dämon an der Tür auf , umgeben von einer schaulustigen Menge , und wie ich hinausgehen wollte , vertrat er mir den Weg und rief : " Seht den Schelm !
Er hat den ganzen Sommer hindurch Geld gestohlen und mich um fünf Gulden dreißig Kreuzer betrogen !
Wißt es alle und seht ihn an ! "
- " Ein artiger Schelm , der grüne Heinrich ! " ertönte es nun von mehreren Seiten , ich rief ganz glühend :
" Du bist selbst ein Schelm und Lügner ! "
Allein ich wurde überschrien , fünf oder sechs boshafte Bursche , welche stets einen Gegenstand der Mißhandlung suchten , scharten sich um Meierlein , folgten mir nach und ließen Schimpfworte ertönen , bis ich in meinem Hause war .
Von jetzt an wiederholten sich solche Vorgänge beinahe täglich ; Meierlein warb sich eine förmliche Verbindung zusammen , und wo ich ging , hörte ich irgendeinen Ruf hinter mir .
Ich hatte mein renommistisches Benehmen schon verloren und war wieder ungeschickt und blöde geworden ; das reizte den Mutwillen und die Spottsucht meiner Verfolger , bis sie endlich müde wurden .
Es waren alles solche Kumpane , welche selbst schon irgendeinen Streiche verübt oder nur auf Gelegenheit warteten , Werg an die Kunkel zu bekommen .
Es war auffallend , daß Meierlein trotz seines altklugen und fleißigen Wesens sich nicht zu ähnlich beschaffenen Naturen hielt , sondern immer in Gesellschaft der Leichtsinnigen , der Mutwilligen und Törichten zu sehen war , wie mit mir und den übrigen .
Indessen nahmen nun die Ruhigen und Unbescholtenen unseres Alters Teil gegen das verfolgungssüchtige Wesen jener , beschützten mich zu wiederholten Malen vor ihren Anfällen und ließen mich überhaupt weder Verachtung noch Unfreundlichkeit fahlen , so daß ich mehr als einem herzlich zugetan wurde , den ich vorher kaum beachtet hatte .
Zuletzt blieb Meierlein ziemlich allein mit seinem Grolle , der aber dadurch nur heftiger und wilder wurde , so wie auch in mir jedes Vorgefühl einer Versöhnung erstarb .
Wenn wir uns begegneten , so suchte ich wegzublicken und ging stumm vorüber ; er aber rief mir laut ein giftiges und tödliches Wort zu , wenn wir allein in der Gegend oder nur fremde Menschen zugegen ; waren wir aber nicht allein , so murmelte er dasselbe leise vor sich hin , daß nur ich es hören konnte .
Ich hafte ihn nun wohl so bitter , als er mich hassen konnte ; aber ich wich ihm aus und fürchtete den Augenblick , wo es einmal zur Abrechnung käme .
So ging es ein volles Jahr lang , und der Herbst war wieder gekommen , wo eine große militärische Schlußübung stattfinden sollte .
Wir freuten uns immer auf diesen Tag , weil wir da nach Herzenslust schießen durften .
Aber für mich waren alle gemeinsamen Freuden trüb und kalt geworden , da mein Feind zugleich teilnahm und öfter in meine Nähe geriet .
Diesmal wurde unsere Schar in zwei Hälften geteilt , von denen die eine den waldigen und steilen Gipfel einer Anhöhe besetzen , die andere aber den Fluß überschreiten , den Hügel umgehen und einnehmen sollte .
Ich gehörte zu dieser , mein Feind zu jener Abteilung .
Wir hatten schon die ganze Woche vorher einen kleinen Brückenkopf gebaut und leichte Palisaden zugespitzt und eingerammelt , während einige Zimmerleute eine Brücke über das seichte Wasser geschlagen .
Nun erzwangen wir mit unserem Geschütze höherer Verabredung gemäß den Übergang und trieben rüstig den Feind berghinan .
Die Hauptmasse zog auf einem schneckenförmigen Fahrweg aufwärts , indessen eine weitgedehnte Plänklerkette das Gebüsch säuberte und über Stock und Stein Vorwärtsdrang .
Bei dieser war das größte Vergnügen und auch die stärkste Aufregung ; die einzelnen Leute rückten sich auf den Leib , die zum Rückzuge bestimmten wollten durchaus nicht weichen , man brannte sich die Schüsse fast ins Gesicht , und mehr als ein Ladstock schwirrte , im Eifer vergessen , durch die Bäume , und nur das Glück der Jugend verhütete ernstliche Unfälle ; auch war der alte Feldwebel , welcher die Plänkler beaufsichtigte , genötigt , mit seinem Stocke dazwischenzuschlagen und reichlich zu fluchen , um die Disziplin einigermaßen zu wahren .
Ich befand mich auf einem äußersten Flügel dieser Kette , teilte aber die Aufregung meiner Kameraden nicht , sondern ging gedankenlos vorwärts , ruhig und melancholisch meine Schüsse abgebend und mein Gewehr wieder ladend .
Bald hatte ich mich von den übrigen verloren und befand mich mitten am Abhange einer wilden , mir unbekannten Schlucht , in deren Tiefe ein Bächlein rieselte und die mit altem Tannenwalde erfüllt war .
Der Himmel hatte sich bedeckt , es ruhte eine düstere und doch weiche Stimmung auf der Landschaft ; das Schießen und Trommeln aus der Ferne hob noch die tiefe Stille der unmittelbaren Nähe , ich stand still und lehnte mich ausruhend auf das Gewehr , indem ich einer halb weinerlichen , halb trotzigen Laune anheimfiel , welche mich öfter beschlichen hat gegenüber der großen Natur und welche der Bedrängten Frage nach Glück ist .
Da hörte ich Schritte in der Nähe , und auf dem schmalen Felspfade , in der tiefen Einsamkeit , kam mein Feind daher ; das Herz klopfte mir heftig , er sah mich stechend an und sandte mir gleich darauf einen Schloß entgegen , so nah , daß mir einige Pulverkörner ins Gesicht fuhren .
Ich stand unbeweglich und starrte ihn an ; hastig lud er sein Gewehr wieder , ich sah ihm immer zu ; dies verwirrte ihn und machte ihn wütend , und in unsäglicher Verblendung der Gescheitheit , der vermeintlichen Dummheit und Gutmütigkeit mitten ins Gesicht zu schießen , wollte er in dichter Nähe eben wieder anlegen , als ich , meine Waffe wegwerfend , auf ihn losfuhr und ihm die seinige entwand .
Sogleich waren wir ineinander verschlungen , und nun rangen wir eine volle Viertelstunde miteinander , stumm und erbittert , mit abwechselndem Glücke .
Er war behend wie eine Katze , wandte hundert Mittel an , um mich zu Falle zu bringen , stellte mir das Bein , drückte mich mit dem Daumen hinter den Ohren , schlug mir an die Schläfe und bis mich in die Hand , und ich wäre zehnmal unterlegen , wenn mich nicht eine stille Wut beseelt hätte , daß ich aushielt .
Mit tödlicher Ruhe klammerte ich mich an ihn , schlug ihm gelegentlich die Faust ins Gesicht , Tränen in den Augen , und empfand dabei ein wildes Weh , welches ich sicher bin , niemals tiefer zu empfinden , ich mag noch so alt werden und das Schlimmste erleben .
Endlich glitten wir aus auf den glatten Nadeln , welche den Boden bedeckten , er fiel unter mich und schlug das Hinterhaupt dermaßen wider eine Fichtenwurzel , daß er für einen Augenblick gelähmt wurde und seine Hände sich öffneten .
Sogleich sprang ich unwillkürlich auf , er tat das gleiche ; ohne uns anzusehen , ergriff jeder sein Gewehr und verließ den unheimlichen Ort .
Ich fühlte mich an allen Gliedern erschöpft , erniedrigt und meinen Leib entweiht durch dieses feindliche Ringen mit einem ehemaligen Freunde .
Von dieser Zeit an trafen wir nie wieder zusammen ; er mochte aus meiner verzweifelten Entschlossenheit herausgefühlt haben , daß er im ganzen doch an den Unrechten gerate , und vermied jetzt jede Reibung .
Aber der Streit war unentschieden geblieben , und unsere Feindschaft dauerte fort ; ja sie nahm zu an innerer Kraft , während wir uns in den Jahren , die vergingen , nur selten sahen .
Jedes Mal aber reichte hin , den begrabenen Haß aufs neue zu wecken .
Wenn ich ihn sah , so war mir seine Erscheinung , abgesehen von der Ursache unserer Entzweiung , an sich selbst unerträglich , vertilgungswürdig ; ich empfand keine Spur von der milden Wehmut , welche sich sonst beim Anblicke eines verfeindeten Freundes mit dem Unwillen vermischt ; ich fühlte den reinen Widerwillen und daß , wie sonst Jugendfreunde für das ganze Leben eine Zuneigung bewahren , dieser für die gleiche Dauer mein Jugendfeind sein würde .
Ähnliche Empfindungen mochte er bei meinem Anblick erfahren , wozu noch der Umstand kam , daß die anfängliche Ursache unserer Feindschaft , die Geschichte des Schuldbuches , für ihn an sich selbst unvergeßlich sein mußte .
Er war unterdessen in ein Comptoir getreten , hatte seine eigentümlichen Fähigkeiten fort und fort ausgebildet , erwies sich als sehr brauchbar , klug und vielversprechend und erwarb sich die Neigung seines Vorgesetzten , eines schlauen und gewandten Geschäftsmannes ; kurz , er fühlte sich glücklich und sah voll Hoffnung auf sein zukünftiges Selbstwirken .
So kann ich mir gar wohl denken , daß die arge Enttäuschung , welche sein erster jugendlicher Versuch , ein Geschäft zu machen , erfuhr , für ihn ebenso nachhaltig schmerzlich sein mußte als einer kindlichen Dichter- oder Künstlernatur der erste verneinende Hohn , welcher ihren naiven und harmlosen Versuchen zuteil wird .
Wir waren schon konfirmiert , er etwa achtzehn , ich sechzehn Jahre alt ; wir begannen uns selbständiger zu bewegen und lernten nun Verhältnisse und Menschen kennen .
Wenn wir an öffentlichen Orten zusammentrafen , so vermieden wir , uns anzusehen , aber jeder weihte seine Freunde in seinen Haß ein , welcher manchmal um so gefährlicher zu wirken und auszubrechen drohte , als nun ein jeder mit solchen jungen Leuten umging , die seiner Beschäftigung und seinem Wesen entsprachen und also einen empfänglichen Boden für eine weiterzündende Feindschaft bildeten .
Deswegen dachte ich mit Sorge an die Zukunft und wie das denn nun das ganze Leben hindurch in der so engen Stadt gehen sollte ?
Allein diese Sorge war unnütz , indem ein trauriger Fall ein frühes Ende herbeiführte .
Der Vater meines Widersachers hatte ein altes wunderliches Gebäude gekauft , welches früher eine städtische Ritterwohnung gewesen und mit einem starken Turme versehen war .
Dies Gebäude wurde nun wohnlich eingerichtet und in allen Winkeln mit Veränderungen heimgesucht .
Für den Sohn war dies eine goldene Zeit ; da nicht nur das Unternehmen überhaupt eine Spekulation vorstellte , sondern auch eine Menge Geschicklichkeiten an den Mann gebracht werden konnten .
Jede Minute , die er frei hatte , steckte er unter den Bauleuten , ging ihnen an die Hand und übernahm viele Arbeiten ganz , um sie zu ersetzen und zu sparen .
Mein Weg zur Arbeit führte mich alltäglich an diesem Hause vorüber , und immer sah ich ihn zwischen zwölf und ein Uhr , wenn alle Arbeiter ruhten , und am Abend wieder , mit einem Farbentopfe oder mit einem Hammer unter Fenstern oder auf Gerüsten stehen .
Er war seit der Kinderzeit fast gar nicht mehr gewachsen und sah in seiner Emsigkeit , an den ungeheuerlichen Mauern hängend , höchst seltsam aus ; ich mußte unwillkürlich lachen und hätte fast einem freundlicheren Gefühle Raum gegeben , da er in diesem Wesen doch liebenswürdig und tüchtig erschien , wenn er nicht einst die Gelegenheit wahrgenommen hätte , einen ansehnlichen Pinsel voll Kaltwasser auf mich herunterzuspritzen .
Eines Tages , als ich des Hauses bereits ansichtig war , führte mich mein milder Stern durch eine Seitenstraße einen anderen Weg ; als ich einige Minuten später wieder in die Hauptstraße einbog , sah ich viele erschreckte Leute aus der Gegend jenes Hauses herkommen , welche eifrig sprachen und lamentierten .
Um die Wegnahme einer alten Windfahne auf dem Turme zu bewerkstelligen , hatten die Bauleute erklärt , ein erhebliches Gerüste anbringen zu müssen .
Der Unglückliche , der sich alles zutraute , wollte die Kosten sparen und während der Mittagsstunde die Fahne in aller Stille abnehmen , hatte sich auf das steile hohe Dach hinausbegeben , stürzte herab und lag in diesem Augenblicke zerschmettert und tot auf dem Pflaster .
Es durchfuhr mich , als ich die Kunde vernommen und schnell meines Weges weiterging , wohl ein Grauen , verursacht durch den Fall , wie er war ; aber ich mag mich durchwühlen , wie ich will , ich kann mich auf keine Spur von Erbarmen oder Reue entsinnen , die mich durchzuckt hätte .
Meine Gedanken waren und blieben ernst und dunkel ; aber das innerste Herz , das sich nicht gebieten läßt , lachte auf und war froh .
Wenn ich ihn leiden gesehen oder seinen Leichnam geschaut , so glaube ich zuversichtlich , daß mich Mitleid und Reue ergriffen hätten ; doch das unsichtbare Wort , mein Feind sei mit einem Schlage nicht mehr , gab mir nur Versöhnung , aber die Versöhnung der Befriedigung und nicht des Schmerzes , der Rache und nicht der Liebe .
Ich konstruierte zwar , als ich mich besonnen , rasch ein künstliches und verworrenes Gebet , worin ich Gott um Verzeihung , um Mitleid , um Vergessenheit bat ; mein Inneres lächelte dazu , und noch heute , nachdem wieder Jahre vorübergegangen , fürchte ich , daß meine nachträgliche Teilnahme an jenem Unglücke mehr eine Blüte des Verstandes als des Herzens sei , so tief hatte der Haß gewurzelt !
Sechzehntes Kapitel Ungeschickte Lehrer , schlimme Schüler Um wieder zu jener Schulzeit zurückzukehren , so kann ich nicht bekennen , daß dieselbe hell und glücklich gewesen sei .
Der Kreis des zu Erfahrenden hatte sich nun erweitert , die Ansprüche waren ernster geworden , ich hatte ein dunkles Gefühl , daß es sich um Wichtiges und Schönes handle , und auch einen gewissen Drang , diesem Gefühle zu genügen .
Aber die Übergänge von einer Stufe zur anderen waren mir nie klar und gingen mir öfter verloren .
Das Übel lag aber hauptsächlich in den Übergangszuständen der Schule selbst , da die Lehrerschaft noch aus alten Teilen , nämlich unbeschäftigten Theologen der Landeskirche , die aus Liebhaberei oder Bedürfnis alle möglichen Lehrfächer zu übernehmen gewöhnt waren , und aus neuen durchgebildeten Fachlehrern bestand und daher keine gleichmäßige und ineinandergreifende Lehrweise hervorbrachte .
Jene Theologen verfuhren nach alten Gewohnheiten und persönlichen Launen , sprangen von den Gegenständen ab , wenn es ihnen beliebte , und behandelten alles mehr als Dilettanten , während die weltlichen Berufslehrer wiederum ganz verschiedene Manieren und Methoden handhabten , die ihrerseits auch noch nicht erprobt waren .
Hieraus ergab sich als Hauptübel überdies eine ungleiche und unsichere Behandlung der Jugend und die Möglichkeit jener wunderlichen Katastrophen und Abenteuer , deren Opfer bald der Lehrer , bald der Schüler wurde .
Es lehrte an unserer Schule ein Mann , welcher mit gutem Willen und ehrlichem Sinn eine große Unerfahrenheit , mit der Jugend umzugehen , und ein schwächliches und seltsames Äußeres verband .
Er hatte in dem Kampfe , welcher den Umschwung der Dinge und besonders das erneute Schulwesen herbeiführte , tapfer mitgewirkt und war in der altgesinnten Stadt als ein leidenschaftlicher Liberaler verschrien .
Wir Knaben waren allzumal gute Aristokraten , mit Ausnahme derer , die vom Lande kamen .
Auch ich , obgleich meines Ursprunges halber auch ein Landmann , aber in der Stadt geboren , heulte mit den Wölfen und dünkte mich in kindischem Unverstand glücklich , auch ein städtischer Aristokrat zu heißen .
Meine Mutter politisierte nicht , und sonst hatte ich kein nahestehendes Vorbild , welches meine unmaßgeblichen Meinungen hätte bestimmen können .
Ich wußte nur , daß die neue radikale Regierung einige alte Türme und Mauerlöcher vertilgt hatte , welche Gegenstand unserer besonderen Zuneigung gewesen , und daß sie aus verhaßten Landleuten und Emporkömmlingen bestand .
Hätte mein Vater , der zu diesen gehörte , noch gelebt , so wäre ich ohne Zweifel ein ganz liberales Männlein gewesen .
Gleich beim Beginne der neuen Schulen , als der ungeschickte Lehrer seine Tätigkeit mit vieler Gemütlichlkeit antrat , brachte ein Schüler , der Sohn eines fanatischen Stadtbürgers , mit wichtigen Worten die Nachricht unter uns , wie der Lehrer geschworen hätte , uns Aristokratenkinder mit eiserner Rute zu bändigen .
Er war nämlich in einer Gesellschaft aufmerksam gemacht worden , wie er es teilweise mit einer durch altes Herkommen übermütigen und ausgelassenen Stadtjugend zu tun haben wurde , worauf er antwortete , er werde mit den Bürschlein schon fertig zu werden wissen .
Auf obige Weise dargestellt , wurde diese Rede nun , wahrscheinlich nicht ohne Zutun der Alten , unter unsere verstandlose Maße geworfen , und sie begann sogleich zu wirken .
Wir nahmen den Handschuh auf ; die Verwegensten eröffneten einen geordneten Widerstand und ein leichtes Geplänkel des Unfuges .
Schon dies verwirrte ihn , und anstatt mit Sarkasmen und ruhiger , überlegener Entschiedenheit die Angreifer zurückzuwerfen , rückte er sogleich mit seiner Hauptmacht und dem schweren Geschütze vor , indem er jeden kleinen Mutwillen , auch jede unabsichtliche Tat blindlings mit den schwersten und einflußreichsten Strafen belegte , die ihm zu Gebote standen und welche sonst nur in seltenen Fällen angewandt wurden .
Dadurch entzog er sich in unseren Augen den guten Rechtsboden , da wir in der Abschätzung des Verhältnisses zwischen Strafe und Vergehen eine große Übung besaßen .
Seine Strafen wurden bald wertlos und zuletzt eine Ehrensache , ein Martyrium .
Es entstand offener Lärm in den Stunden , welcher sich auch in die anderen Säle verbreitete , wo der Gehetzte zu erscheinen hatte .
Nun beging er einen neuen Fehlgriff statt die Bewegung in sich selbst zerfallen zu lassen und eine Zeitlang ihr zu stehen , fing er an , jeden Schüler aus der Stube zu jagen , der das Geringste verübte .
Eine unschuldig gestellte Frage an ihn , das absichtliche oder unabsichtliche Fallenlassen eines Gegenstandes reichte hin , ins Freie befördert zu werden .
Wir merkten uns dies , und bald hielt er regelmäßig nur mit zwei oder drei Frommen seinen Unterricht , während der helle Haufen vor der Türe sich auf seine Kosten belustigte .
Das Einschreiten oberer Behörden oder auch seine eigene Energie , wenn er , trotz des Verbotes , die Schüler zu schlagen , einige ein einziges Mal bei den Köpfen genommen und tüchtig durchgebleut hätte , würden hingereicht haben , die Ruhe herzustellen .
Zu letztem besaß er nicht die geeignete Persönlichkeit ; das erstere unterblieb , da die unmittelbar folgende Instanz aus Pflegern bestand , welche dem Verfolgten abgeneigt waren und so lang als möglich die Vorfälle nicht zu bemerken schienen .
Die Schüler erzählten in ihren Familien mit Ruhmredigkeit ihre Taten , wobei sie nicht unterließen , den Lehrer als den schreckbarsten Popanz darzustellen .
Die behäbigen Bürger , sich mit Wohlgefallen ihrer eigenen Knabenstreiche erinnernd und in der Erfahrung der alten Zeit aufgewachsen , daß die Schule nur eine Art Unterkommen bilde , bis das würdige Bürgerkind , ohne sich den Kopf zerbrechen zu müssen , in das behagliche Privilegien- und Zunftwesen der guten alten Stadt aufgenommen würde , bestärkten ihre Söhnlein durch unverhohlenes Lächeln , wo nicht durch direkte Aufreizung , in ihrem Treiben .
Obgleich die Sache längst Aufsehen gemacht hatte , wurde sie nach oben hin stets so geschildert , als ob alle Schuld an dem Verfolgten läge ; es kam etwa ein Herr in die Stunde , um selbst zu sehen ; dann hüteten wir uns aber wohl , etwas zu beginnen , so wie wir auch in den Stunden der übrigen Lehrer uns doppelt ruhig verhielten .
Der Unglückliche war ein Ableiter für allen bösen Stoff , welcher in der Schule steckte .
So schleppte er sich beinahe ein Jahr lang hin , bis er endlich für eine Zeitlang suspendiert wurde .
Er wäre so gerne ganz weggeblieben , indem er Schaden an seiner Gesundheit litt und ganz abmagerte ; aber eine zahlreiche Familie schrie nach Brot , und er war auf diesen Beruf angewiesen .
So trat er eines Tages seinen Leidensweg wieder an , so versöhnlich und bescheiden als möglich ; allein er fand keine Barmherzigkeit ; ein wilder Jubel brach los , das alte Unwesen wiederholte sich , und er mußte nach wenigen Tagen gänzlich entlassen werden .
Ich hatte mich lange Zeit ziemlich ruhig verhalten und nur den zahlreichen Auftritten behaglich zugesehen .
Gegen den Mann selbst verging ich mich nicht ein einziges Mal , da es mir widerstrebte , einem Erwachsenen gegenüber aufzutreten .
Erst als das Hinausschieben der ganzen Klasse begann , suchte ich auch teilzunehmen und bewerkstelligte dies durch kleine Streiche oder wischte auch so mit hinaus ; denn erstens ging es sehr lustig her draußen , und zweitens hätte ich um keinen Preis bei den wenigen verpönten Gerechten bleiben mögen , welche in der Stube saßen .
Desto lauter wurde ich , wenn ich einmal draußen war , half Aufzüge und Umgänge anordnen und überließ mich , nach langer Zurückgezogenheit , einer so wilden Freude , daß mir das Herz heftig klopfte und mein Blut ganz in Wallung war , wenn wir bei dem folgenden Lehrer wieder an unseren Plätzen saßen .
Ich kann mir fest gestehen , daß ich mich damals über die Freude selbst freute und keinerlei Bosheit in mir trug .
Vielmehr empfand ich ein heimliches Mitleid mit dem Armen , welches ich zu äußeren aber unterließ , um nicht lächerlich zu werden .
Einst traf ich ihn ganz allein auf einem Feldwege ; er schien einen Erholungsgang zu machen ; unwillkürlich zog ich ehrerbietig meine Mütze , was ihn so freute , daß er mir zuvorkommend dankte und mich dabei so marterlich ansah , als ob er um Barmherzigkeit flehte .
Ich wurde gerührt und dachte , daß es anders werden müsse .
Gleich am nächsten Tage trat ich zu einer Gruppe der wildesten Mitschüler , um geradezu am rechten Fleck anzugreifen und ein Wort des Mitgefühls , des Nachdenkens unter sie zu werfen ; ich hatte den richtigen Instinkt , daß dieses gewiß , wenn auch nicht augenblicklich , weiterwirken und die Laune der Menge anziehen würde .
Sie sprachen eben von dem Lehrer , hatten eben einen neuen Spitznamen erfunden , der so komisch klang , daß alles bester Laune war und auflachte ; die vorbedachten Worte verdrehten sich mir auf der Zunge , und anstatt meine Pflicht zu tun , verriet ich ihn und mein besseres Selbst , indem ich das gestrige Abenteuer auf eine Weise vortrug , die der gegenwärtigen Stimmung vollkommen entsprach und dieselbe erhöhte !
Nach seiner Entfernung wurde es still unter uns ; die Lärmbedürftigen und Schlimmgesinnten wandten sich unbehaglich hin und her , zehrten von der Erinnerung und konnten sich nicht zurechtfinden .
Eines Abends , nach dem Schlusse des Unterrichts , ging ich ruhig meiner Wege und näherte mich meiner Wohnung , als ich rufen hörte :
" Grüner Heinrich ! hierher ! "
Ich kehrte mich um und erblickte in einer anderen Straße eine ansehnliche Schar Schüler , welche durcheinandertrieben wie ein Ameisenhaufen und sehr geschäftig schienen .
Ich erreichte sie , man teilte mir mit , daß man in Gesamtheit dem verabschiedeten Lehrer noch einen Besuch abstatten und ein rechtes Schlußvergnügen veranstalten wolle , und forderte mich auf teilzunehmen .
Der Plan wollte mir gar nicht einleuchten , ich lehnte kurz ab und ging weg .
Jedoch die Neugier drehte mich , daß ich von ferne nachzog und sehen wollte , wie es abliefe .
Der Haufen bewegte sich vorwärts ; andere Schulen , deren Bestandteile um diese Zeit alle in den Gassen wimmelten , wurden angeworben , daß bald ein Zug von hundert Jungen aller Art sich fortwälzte .
Die Bürger standen unter den Türen und betrachteten mit Verwunderung das Tun , ich hörte einen sagen :
" Was mögen die Teufelsbuben nur wieder vorhaben ?
Die sind bei Gott fast so munter , als wir gewesen sind ! "
Diese Worte klangen in meinen Ohren wie Kriegsdrommeten , meine Füße wurden lebendiger , und schon trat ich dem letzten Manne des Zuges auf die Fersen .
Es war ein unsägliches Vergnügen in der Menge , hervorgerufen durch das improvisierte Beisammensein aus eigener Machtvollkommenheit .
Ich wurde immer wärmer , schob mich vorwärts und sah mich plötzlich bei der Spitze angelangt , wo die hohen Häupter gingen und mich begrüßten .
" Der grüne Heinrich ist doch noch gekommen ! " hieß es , der Name erschallte längs des ganzen Zuges und vermehrte den Stoff zu Geräusch und spielerischer Freude .
Mir schwebten sogleich gelesene Volksbewegungen und Revolutionsszenen vor .
" Wir müssen uns in gleichmäßigere Glieder abteilen " , sagte ich zu den Rädelsführern , " und in ernstem Zuge ein Vaterlandslied singen ! "
Dieser Vorschlag wurde beliebt und sogleich ausgeführt ; so durchzogen wir mehrere Straßen , die Leute sahen uns mit Staunen nach ; ich schlug vor , noch einen Umweg zu machen und dies Vergnügen so lange als möglich andauern zu lassen .
Auch dies geschah , allein zuletzt langten wir doch am Ziele an .
" Was wollen wir nun eigentlich beginnen ? " fragte ich , " ich dächte , wir sängen hier ein Lied und zögen dann wieder mit einem Hurra davon ! "
- " ins Haus , ins Haus ! " tönte es zur Antwort , " wir wollen ihm eine Dankrede für sein Wirken abstatten ! "
- " So sollen wenigstens alle für einen stehen und keiner davonlaufen , damit alle die gleiche Strafe tragen , wenn es etwas absetzt ! " rief ich , worauf der ganze Schwarm in das kleine enge Haus einströmte und die Treppen hinantobte .
Ich blieb an der Haustüre stehen , um die vorzeitige Flucht einzelner Mitschuldiger zu verhindern .
Es tönte ein furchtbarer Lärm im Inneren , die Knaben waren ganz berauscht von ihrer eigenen Aufregung ; der Gesuchte lag krank in einem verschlossenen Zimmer , die Frauen suchten erschrocken die übrigen Türen zu verschließen und sahen sich aus den Fenstern nach Hilfe um .
Doch schämten sie sich zu rufen ; die Nachbaren wußten nicht , was alles zu bedeuten hätte , und sahen höchst verwundert zu ; ich blieb mit nichts weniger als heiteren Gedanken auf meinem Posten .
Das Haus war von unten bis oben angefüllt , die Lärmenden erschienen unter den Dachluken , warfen alte Körbe heraus und stiegen sogar auf das Dach , die Luft mit ihrem Geschrei erfüllend .
Ein altes Weib brach endlich beherzt aus einem Kämmerchen hervor und trieb den ganzen Schwarm mit einem Besen allmählich aus dem Hause .
Dies Attentat war denn doch zu auffällig gewesen , als daß die oberen Behörden länger hätten zusehen können .
Sie verlangten eine strenge Untersuchung .
Wir wurden in einem Saale versammelt und einzeln aufgerufen , um vor ein Tribunal zu treten , welches in einer Nebenstube saß .
Das Verhör dauerte einige Stunden , die Zurückkehrenden gingen sogleich weg , ohne Bericht zu geben ; zwei Dritteile der Versammelten waren schon fort , und noch wurde ich nicht aufgerufen ; dagegen bemerkte ich , daß zuletzt alle , welche aus der Verhörstube kamen , mich ansahen , ehe sie weggingen .
Zuletzt hieß es , der ganze Rest solle hereinkommen mit Ausnahme des grünen Heinrich .
Endlich kam die Reihe an mich ; der letzte Trupp erschien wieder und hieß mich hineingehen .
Ich wollte fragen , was denn vorginge , erhielt aber keine Antwort ; vielmehr sputeten sie sich ängstlich von hinnen .
So trat ich in die Nebenstube , halb von Neugierde vorwärtsgedrängt , halb von jener beklemmenden Furcht zurückgehalten , welche die Jugend vor den Alten empfindet , wenn sie in ihnen an Verstand überlegene und allmächtige Wesen voraussetzt .
Es saßen zwei Herren am oberen Ende eines langen Tisches , an dessen Fuß ich stand , einige Stücke Papier und ein Schreibzeug vor sich .
Der eine war der nächste Vorsteher der Schule , der auch selbst Unterricht erteilte und mich kannte , der andere ein höherer gelehrter Herr , welcher wenig sagte .
Zu jenem stand ich in einem eigentümlichen Verhältnisse er war ein gemütlicher Poltron , gern viele Worte machend und froh , wenn ein Schüler durch bescheidene Widerrede ihm Gelegenheit gab , sich gründlich über ein Faktum zu verbreiten .
Im Anfange hatte er mir wohlgewollt , da ich gerade bei ihm mich ziemlich gut aufführte ; aber meine Eigenschaft , den Vorwürfen , Ermahnungen und Strafen bei vorkommenden Fällen ein unwandelbares Schweigen entgegenzusetzen , hatte mir seine Abneigung zugezogen .
Das ängstliche Leugnen , die Zungengeläufigkeit , Strafe von sich abzuwenden , das hartnäckige Feilschen um dieselbe waren mir unmöglich ; glaubte ich eine solche verdient zu haben , so nahm ich sie schweigend hin ; schien sie mir zu ungerecht , so schwieg ich ebenfalls , und nicht aus Trotz , sondern ich lachte innerlich ganz frohmütig darüber und dachte , der Richter hätte das Pulver auch nicht erfunden .
Darum hielt mich der Herr für einen unbrauchbaren , bedenklichen Burschen und fuhr mich nun mit drohender Miene an :
" Hast du an dem Skandale teilgenommen ?
Schweige ! leugne nicht , es wird nichts helfen ! "
Ich brachte ein leises Ja hervor , der weiteren Dinge gewärtig .
Doch wie um mich in seinen Augen , da ihm einmal zur Weckung guter Laune durchaus ein gründlicher Wortwechsel nötig war , noch zu retten , tat er , als ob er ein Nein vernommen hätte , und schrie :
" Wie , was ?
Heraus mit der Wahrheit ! "
- " Ja ! " wiederholte ich etwas lauter .
" Gut , gut , gut ! " sagte er , " du wirst gewiß noch einen finden , der dir gewachsen ist , einen Stein , der eine Beule in deine eiserne Stirn schlägt ! "
Diese Worte beleidigten mich und taten mir weh ; denn sie schienen nicht nur eine arge Verkennung zu enthalten , sondern auch eine ungehörige Voraussagung der Zukunft , eine persönliche Bitterkeit zu sein .
Er fuhr fort : " Hast du auf dem Wege vorgeschlagen , einen förmlichen Zug zu ordnen und ein Lied zu singen ? "
Diese Frage machte mich stutzen ; meine Genossen hatten also mich verraten und deshalb ohne Zweifel sich reingewaschen ; ich schwankte , ob ich nicht leugnen könne , aber es kam wieder ein Ja hervor .
" Hast du am Hause erklärt , daß keiner sich zurückziehen dürfe , und dieser Erklärung durch Bewachung der Tür Folge gegeben ? "
Das bejahte ich unbedenklich , da es mir weder eine Schande noch ein besonderes Vergehen zu sein schien .
Diese beiden Momente , aus den ersten Fragen an die Mitschuldigen schon zutage getreten , schienen dem Herrn auf den Haupturheber hinzudeuten ; sie ragten auch wohl am faßbarsten aus all dem wirren Treiben hervor , und er hatte allein auf sie hin verhört .
Jeder bejahte regelmäßig die Frage danach und war froh , nicht über sich selbst sprechen zu müssen .
Ich wurde entlassen und ging etwas bewegt , doch gemächlich nach Hause ; das Ganze schien mir nicht sehr würdig zu verlaufen Zwar fühlte ich eine tiefe Reue , aber nur gegen den mißhandelten Lehrer .
Zu Hause erzählte ich der Mutter den ganzen Vorgang , worauf sie mir eben eine Strafrede halten wollte , als ein Amtsdiener hereintrat mit einem großen Briefe .
Dieser enthielt die Nachricht , daß ich von Stunde an und für immer von dem Besuche der Schule ausgeschlossen sei .
Das Gefühl des Unwillens und erlittener Ungerechtigkeit , welches sich sogleich in mir äußerte , war so überzeugend , daß meine Mutter nicht länger bei meiner Schuld verweilte , sondern sich ihren eigenen bekümmerten Gefühlen überließ , da der große und allmächtige Staat einer hilflosen Witwe das einzige Kind vor die Türe gestellt hatte mit den Worten Es ist nicht zu brauchen !
Wenn über die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe ein tiefer und anhaltender Streit obwaltet , so kann man füglich die Frage , ob der Staat das Recht hat , ein Kind oder einen jungen Menschen , die gerade nicht tobsüchtig sind , von seinem Erziehungssysteme auszuschließen , zugleich mit in den Kauf nehmen .
Gemäß jenem Vorgange wird man mir , wenn ich im späteren Leben in eine ähnliche ernstere Verwicklung gerate , bei gleichen Verhältnissen und Richtern wahrscheinlich den Kopf abschneiden ; denn ein Kind von der allgemeinen Erziehung ausschließen heißt nichts anderes , als seine innere Entwicklung , sein geistiges Leben köpfen .
In der Tat haben auch häufig die öffentlichen Bewegungen der Erwachsenen , von welchen solche Kinderaufläufe ein Abbild genannt werden können , mit Enthauptungen geendigt .
Der Staat hat nicht danach zu fragen , ob die Bedingungen zu einer weiteren Privatausbildung vorhanden seien oder ob trotz seines Aufgebens das Leben den Aufgegebenen doch nicht fallenlasse , sondern manchmal noch etwas Rechtes aus ihm mache er hat sich nur an seine Pflicht zu erinnern , die Erziehung jedes seiner Kinder zu überwachen und weiterzuführen .
Auch , ist am Ende diese Erscheinung weniger wichtig in Bezug auf das Schicksal solcher Ausgeschlossenen , als daß sie den wunden Fleck auch der besten unserer Einrichtungen bezeichnet , die Trägheit nämlich und Bequemlichkeit der mit diesen Dingen Beauftragten , welche sich für Erzieher ausgeben .
Siebzehntes Kapitel Flucht zur Mutter Natur Der Kummer und die Niedergeschlagenheit meinerseits waren nicht allzu groß ; ich hatte dem Lehrer des Französischen einige Bücher zurückzustellen , da er mir mit Wohlwollen ehrwürdige Franzbände französischer Klassiker zu leihen pflegte .
Auch führte er mich einige Male in einer großen Bibliothek umher , mir respektvolle Vorbegriffe vom Bücherwesen beibringend .
Als ich zu ihm kam , drückte er mir sein Bedauern über das Geschehene aus und gab mir zu verstehen , wie ich es nicht allzu hoch aufzunehmen hätte , da seines Wissens die Mehrzahl der Lehrer , gleich ihm , nicht unzufrieden mit mir wären .
Ferner lud er mich ein , ihn zu besuchen und seinen Rat zu holen , wenn ich Lust hätte , das Französische weiter zu betreiben .
Ich sah ihn zwar nicht wieder im Wechsel der Zeit ; aber seine Worte gaben mir eine gewisse Genugtuung , daß ich mich nun frei fühlte wie der Vogel in der Luft , zumal ich die Bedeutung des Augenblickes und die Wichtigkeit der Zukunft nicht zu übersehen vermochte .
Meine Mutter hingegen befand sich in großer Bedrängnis ; sie konnte bestimmt annehmen , daß der Vater meine Schulbildung jetzt noch nicht abgeschlossen haben würde , wenn er noch lebte , und doch sah sie bei ihren beschränkten Mitteln keine Möglichkeit , mir Privatlehrer zu halten oder mich auf eine auswärtige Schule zu schicken , noch konnte sie sich den Beruf denken , welchen ich nun am besten ergriffe , da gerade für eine einsichtvollere Selbstbestimmung der erweiterte Gesichtskreis der nun verschlossenen höheren Klassen hätte Gelegenheit bieten sollen .
Meine häusliche Beschäftigung hatte in letzter Zeit beinahe ausschließlich in Zeichnen und Malen bestanden , und auch in dieser Hinsicht befand ich mich in einem sonderbaren Verhältnis zur Schule .
Dort galt ich für nichts weniger als für einen talentvollen Zeichner .
Monatelang klebte der gleiche Bogen auf meinem Reißbrette ; ich quälte mich verdrossen ab , einen kolossalen Kopf oder ein Ornament mit dem mageren Bleistifte zu kopieren ; Dutzende von Linien wurden ausgelöscht , bis die richtige stehenblieb , das Papier wurde beschmutzt und durchgerieben und verkündete einen faulen und verdrießlichen Zeichner .
Sobald ich aber nach Hause kam , warf ich diese Schulkunst beiseite und machte mich mit eifrigem Fleiße hinter meine Hauskunst .
Nach jenem ersten Versuche , eine gemalte Landschaft zu kopieren , hatte ich fortgefahren , dergleichen Gebilde in Wasserfarben hervorzubringen ; da ich nun aber weiter keine Vorbilder besaß , mußte ich sie auf eigene Faust ins Leben rufen und tat dieses mit anhaltendem Fleiße .
Der gemalte Ofen unserer Stube enthielt eine Menge kleiner Landschaftsmotive , eine Burg , eine Brücke , einige Säulen an einem See und solches mehr ; ein altes Stammbuch der Mutter sowie eine kleine Bibliothek verjährter Damenkalender aus ihrer Jugend bargen einen Schatz sentimentaler Landschaftsbilder , dem lyrischen Texte entsprechend , mit Tempeln , Altären und Schwänen auf Teichen , mit Liebespaaren , in Kähnen sitzend , und dunklen Hainen , deren Bäume mir unvergleichlich gestochen schienen .
Aus allem diesem zusammen bildete sich eine höchst unschuldige und sozusagen elementare Poesie , welche meinem eifrigen Machen zugrunde lag und mich während desselben beglückte .
Ich erfand eigene Landschaften , worin ich alle poetischen Motive reichlich zusammenhäufte , und ging von diesen auf solche über , in denen ein einzelnes vorherrschte , zu welchem ich immer den gleichen Wanderer in Beziehung brachte , mit welchem ich , halb bewußt , mein eigenes Wesen ausdrückte .
Denn nach dem immerwährenden Mißlingen meines Zusammentreffens mit der übrigen Welt hatte eine ungebührliche Selbstbeschauung und Eigenliebe angefangen mich zu beschleichen ; ich fühlte ein weichliches Mitleid mit mir selbst und liebte es , meine Person symbolisch in die interessanten Szenen zu versetzen , welche ich erfand .
Diese Figur , in einem grünen , romantisch geschnittenen Kleide , eine Reisetasche auf dem Rücken , starrte in Abendröten und Regenbogen , ging auf Kirchhöfen oder im Walde oder wandelte auch wohl in glückseligen Gärten voll Blumen und bunter Vögel .
Das Machwerk an der beträchtlichen Sammlung solcher Bilder , welche sich bereits angehäuft hatte , blieb immer auf dem nämlichen Standpunkte gänzlicher Erfahrungs- und Unterrichtslosigkeit ; nur eine gewisse Keckheit und Fertigkeit im Auftragen der grellen Farben , welche ich durch die unablässige Übung erwarb , verbunden mit der kühnen Absicht meiner Unternehmungen überhaupt , unterschied mein Treiben einigermaßen von sonstigen knabenhaften Spielen mit Bleistift und Farbe und mochte meinen vorläufigen Ausspruch , daß ich ein Maler werden wolle , veranlassen .
Doch wurde jetzt nicht näher darauf eingegangen , sondern bestimmt , daß ich einige Zeit in dem ländlichen Pfarrhause bei dem Bruder der Mutter zubringen sollte , um über die nächsten Monate meines Ungemaches auf gute Weise hinwegzukommen , indessen eine taugliche Zukunft für mich ermittelt würde .
Das Heimatdorf lag in einem äußersten Winkel des Landes ; ich war noch nie dort gewesen , so wie auch die Mutter seit manchen Jahren es nicht mehr besucht hatte und die dortigen Verwandten , mit seltenen Ausnahmen , nie in der Stadt erschienen .
Nur der Oheim Pfarrer kam jedes Jahr einmal auf seinem Klepper geritten , um an einer Kirchenversammlung teilzunehmen , und schied immer mit kordialen Einladungen , endlich einmal hinauszuwandern .
Er erfreute sich eines halben Dutzends Söhne und Töchter , welche mir noch so unbekannt waren wie ihre Mutter , meine rüstige Muhme und geistliche Bäuerin .
Außerdem lebten dort zahlreiche Verwandte des Vaters , vor allen auch seine leibliche Mutter , eine hochbejahrte Frau , welche , schon längst an einen zweiten , reichen und finsteren Mann verheiratet , unter dessen harter Herrschaft in tiefer Zurückgezogenheit lebte und nur selten mit den Hinterlassenen ihres früh gestorbenen Sohnes einen sehnsüchtigen Gruß aus der Ferne wechselte .
Das Volk lebte noch in der stillen Einschränkung und Entsagung vergangener Jahrhunderte , wo besonders die Frauen , wenn sie einmal durch einige Meilen getrennt waren , einander nicht wieder oder nur bei seltenen , hochwichtigen Ereignissen sahen , bei welchen es alsdann wahrhaft episch herging und Tränen der Rührung und schmerzlicher oder froher Erinnerung ihren Augen entflossen , während die Männer wohl sich vom Orte bewegten , aber in ernstem Geschäftssinne an den Türen halbverschollener Verwandter vorübergingen , wenn sie keinen Rat zu bringen oder zu holen hatten .
Jetzt ist das Volk wie der lebendiger geworden ; durch die erleichterten Verkehrsmittel , durch das wiedererstandene öffentliche Leben und zahlreiche Volksfeste veranlaßt , bewegt es sich fröhlich von der Stelle und macht damit zugleich seinen Geist wieder jung und fruchtbar , und nur beschränkte Eiferer predigen noch gegen die festliche Wanderlust derer , die den Pflug führen , und ihrer Kinder .
Meine Mutter befahl mir , insbesondere der einsamen überlebenden Großmutter so viele Zeit als möglich zu widmen und in Ehrerbietung und Liebe bei ihr auszuharren , solange es ihr gefiele , mich um sich zu haben und von meinem Vater , ihrem Sohne , zu reden .
So machte ich mich eines Morgens vor Sonnenaufgang auf die Füße und trat den weitesten Weg an , den ich bis dahin unternommen hatte .
Ich genoß zum ersten Male das Morgengrauen im Freien und sah die Sonne über nachtfeuchten Waldkämmen aufgehen .
Ich wanderte den ganzen Tag , ohne müde zu werden , kam durch viele Dörfer und war wieder stundenlang allein in gedehnten Waldungen oder auf freien heißen Höhen , mich oft verirrend , aber die verlorene Zeit nicht bereuend , weil ich fortwährend in meinen Gedanken beschäftigt war und zum ersten Mal , durch mein stilles Wandern bewegt , von der ernsten Betrachtung des Schicksals und der Zukunft erfüllt wurde .
Kornblumen und roter Mohn und in den Wäldern bunte Pilze begleiteten mich längs der ganzen Straße ; wunderschöne Wolken bildeten sich unablässig und zogen am tiefen stillen Himmel dahin ; ich ging immerzu , indessen mich das selbstgefällige Mitleid mit mir selbst , welches mir die Welt aufgedrängt hatte , wieder überkam , bis ich gegen alle Gewohnheit bitterlich weinte .
Ich wußte mich vor Betrübnis nicht zu lassen und saß an einer schattigen Quelle nieder , immer schluchzend , bis ich mich schämte , mein Gesicht wusch und über mich selbst erbost den Rest des Weges zurücklegte .
Endlich sah ich das Dorf zu meinen Füßen liegen in einem grünen Wiesentale , welches von den Krümmungen eines leuchtenden kleinen Flusses durchzogen und von belaubten Bergen umgeben war .
Die Abendsonne lag warm auf dem Tale , die Kamine rauchten freundlich , einzelne Rufe klangen herüber .
Bald befand ich mich bei den ersten Häusern , ich fragte nach dem Pfarrhofe , und die Leute , welche an meinen Augen und meiner Nase erkannten , daß ich zu dem Geschlecht der Lee gehöre , fragten mich , ob ich vielleicht ein Sohn des verstorbenen Baumeisters sei ?
So gelangte ich zu der Wohnung meines Oheims , welche von dem rauschenden Flüßchen bespült und mit großen Nußbäumen und einigen hohen Eschen umgeben war ; die Fenster blinkten zwischen dichtem Aprikosen- und Weinlaube hervor , und unter einem derselben stand mein dicker Oheim in grüner Jacke , ein silbernes Waldhörnchen , in welchem eine Zigarre rauchte , im Munde und eine Doppelflinte in der Hand .
Ein Flug Tauben flatterte ängstlich über dem Hause und drängte sich um den Schlag , mein Oheim sah mich und rief sogleich :
" Haha , da kommt unser Neveu ! das ist gut , daß du da bist , schnell heraufspaziert ! "
Dann sah er plötzlich in die Höhe , schoß in die Luft , und ein schöner Raubvogel , welcher über den Tauben gekreist hatte , fiel tot zu meinen Füßen .
Ich hob ihn auf und trug ihn , durch diesen tüchtigen Empfang angenehm begrüßt , meinem Oheim entgegen .
In der Stube fand ich ihn allein neben einer langen Tafel , die für viele Personen gedeckt war .
" Eben kommst du recht ! " rief er , " wir halten heute das Erntefest , gleich wird das Volk dasein ! "
Dann schrie er nach seiner Frau , sie erschien mit zwei mächtigen Weingefäßen , stellte sie ab und rief : " Ei , ei , was ist das für ein Bleichschnabel , für ein Milchgesicht ?
Warte , du sollst nicht mehr fort , bis du so rote Backen hast wie dein seliger Vater !
Wie geht_es der Mutter , was ist das , warum kommt sie nicht mit ? "
Sogleich richtete sie mir an der Tafel ein vorläufiges Mal zu und schob mich , als ich zögerte , ohne weiteres auf den Stuhl und befahl mir , stracks zu essen und zu trinken .
Indessen näherte sich Geräusch dem Hause , der hohe Garbenwagen schwankte unter den Nußbäumen heran , daß er die untersten Äste streifte , die Söhne und Töchter mit einer Menge anderer Schnitter und Schnitterinnen gingen nebenher unter Gelächter und Gesang ; der Oheim , seine Flinte reinigend , schrie ihnen zu , ich wäre da , und bald fand ich mich mitten im fröhlichen Getümmel .
Erst spät in der Nacht legte ich mich zu Bette bei offenem Fenster ; das Wasser rauschte dicht unter demselben , jenseits klapperte eine Mühle , ein majestätisches Gewitter zog durch das Tal , der Regen klang wie Musik und der Wind in den Forsten der nahen Berge wie Gesang ; und die kühle erfrischende Luft atmend , schlief ich sozusagen an der Brust der gewaltigen Natur ein .
Achtzehntes Kapitel Die Sippschaft Am frühen Morgen , als Sonnenglanz durch das Laubwerk ins Zimmer drang , wurde ich auf eigentümliche Weise geweckt .
Ein junger Edelmarder mit zartem Pelze saß auf meiner Brust und beschnüffelte mit den feinen hastigen Atemstößen seiner spitzen kühlen Schnauze meine Nase und huschte , als ich die Augen aufschlug , unter die Bettdecke , blinzelte da und dort hervor und versteckte sich wieder .
Als ich aus dieser Erscheinung nicht klug wurde , brachen meine jungen Vettern aus ihrer Schlafkammer , in welcher sie gelauscht hatten , lachend hervor , veranlaßten das behende Tier zu den anmutigsten und possierlichsten Sprüngen und erfüllten das Zimmer mit Fröhlichkeit .
Dadurch herangelockt , drang eine Meute schöner Hunde her ein , ein zahmes Reh erschien neugierig unter der Tür , eine prachtvolle graue Katze folgte und schmiegte sich durch das Getümmel , die spielenden und zutäppischen Hunde würdevoll ab weisend ; Tauben saßen auf dem Fenster , Menschen und Tiere , die ersteren kaum halb angezogen , jagten sich durcheinander .
Alle aber hielt der kluge Marder zum besten und schien viel eher mit uns zu spielen als wir mit ihm .
Nun erschien auch der Oheim mit dem rauchenden Waldhörnchen , uns eher noch zu Unfug anspornend als abwehrend ; seine frisch blühenden Töchter folgten ihm , um nach der Ursache des Geräusches zu sehen und uns zu Frühstück und Ordnung zu rufen , mußten sich aber bald ihrer Haut wehren , da ein Krieg allgemeiner Neckerei sich gegen sie entspann , an dem sogar die Hunde teilnahmen , welche sich die Parole der erlaubten Ausgelassenheit am frühen Morgen nicht zweimal geben ließen , sondern sich tapfer an die starken Kleidersäume der scheltenden Mädchen hingen .
Ich saß an dem offenen Fenster und atmete die balsamische Morgenluft ; die glitzernden Wellen des raschen Flüßchens flimmerten wider an der weißen Zimmerdecke , und ihr Reflex überstrahlte das Angesicht jenes seltsamen Kindes Meret , dessen altertümliches Bild an der Wand hing .
Es schien unter dem Wechseln des spielenden Silberscheines zu leben und vermehrte den Eindruck , den alles auf mich machte .
Dicht unter dem Fenster wurde Vieh getränkt , Kühe , Ochsen , junge Rinder , Pferde und Ziegen gingen in der Mitte des klaren Wassers , tranken in bedächtigen Zügen und sprangen mutwillig davon ; das ganze Tal war lebendig und glänzte vor Frische , und sein Rauschen vermischte sich mit dem Gelächter in meinem Zimmer ; ich fühlte mich glücklicher als ein junger Fürst , bei welchem glänzendes Lever gehalten wird .
Endlich erschien die Muhme und befahl uns ohne Widerstand zum Frühstück .
Ich sah mich wieder an den langen Tisch versetzt , um welchen die zahlreiche Familie mit ihren Schützlingen und Tagewerkern versammelt war .
Letztere kamen schon von mehrstündiger Arbeit und erholten sich von der ersten leichten Müde , von der erstarkten Sonne als Morgengruß gesendet .
Alles aß kräftige Hafersuppe , in welche reichlich Milch gegossen wurde ; nur am oberen Ende , zwischen Vater , Mutter und der ältesten Tochter , herrschte die Kaffeetasse , und ich , als Gast diesem vornehmen Anhängsel beigefügt , sah mit Neid in die frische Suppenregion hinüber , wo fröhliche Späße getauscht wurden .
Doch bald brach die Gesellschaft wieder auf , um zur Arbeit auf dem fernen heißen Felde oder in Scheunen und Stall sich zu zerstreuen .
Die Auszüge des Tisches wurden ineinandergeschoben , daß er , eine schwere Maße glänzenden Nußbaumholzes , still in der geleerten Stube stand , bis die Hausfrau einen mächtigen Korb Hülsenfrüchte darauf schüttete , um sie für das Mittagsmahl vorzubereiten , und dem Oheim kaum für seine Hefte Raum ließ , in welchen er den diesjährigen Ertrag seiner Felder aufschrieb , mit den früheren Jahrgängen , und überdies noch das Verhalten der einzelnen Äcker untereinander verglich .
Der jüngste Sohn , etwa in meinem Alter , mußte ihm , hinter sei einem Stuhle stehend , Bericht erstatten , und als er seiner Pflicht genügt hatte , forderte er mich auf , mit ihm hinauszustreifen und etwa mitzuarbeiten , wo es uns am besten gefiele , vorzüglich aber uns bei dem Zwischenimbiß einzufinden , der auf dem Felde gehalten würde und wo es an Scherz nicht fehle .
Indessen erschien aber ein Sendbote der Großmutter , die von meiner Ankunft gehört hatte und mich einlud , sogleich zu ihr zu kommen .
Mein Vetter bot sich mir zur Begleitung an ; ich putzte mich , nicht ohne Ziererei , halb einfach ländlich , halb komödiantisch heraus , und wir gingen auf den Weg , welcher zuerst über den Kirchhof führte , der auf einer kleinen Höhe gelegen ist .
Dort duftete es gewaltig von tausend Blumen , eine flimmernde , summende Welt von Licht , Käfern und Schmetterlingen , Bienen und namenlosen Glanztierchen webte über den Gräbern hin und her .
Es war ein feines Konzert bei beleuchtetem Hause , wogte auf und nieder , erlösche bis auf das gehaltene Singen eines einzelnen Insektes , belebte sich , wieder und schwellte mutwillig und volltönig an ; dann zog es sich in die Dunkelheiten zurück , welche die Jasmin- und Holunderbüsche über den Grabzeichen bildeten , bis eine brummende Hummel den Reigen wieder ans Licht führte ; die Blumenkelche nickten im Rhythmus vom fortwährenden Absitzen und Auffliegen der Musikanten .
Und unter diesem zarten Gewebe lag das Schweigen der Gräber und der Jahrhunderte seit den Tagen , wo dieser Zweig alemannischen Volkes sich hier festgesetzt und die erste Grube gegraben .
Ihr Wort , Spuren ihrer Sitte und ihrer Gesetze leben noch im grünen Gau , auf den Berghöfen , in den kleinen grauen Steinstädten , die an den Flüssen hängen oder an Halden lehnen .
Ich empfand eine Art von Scheu , vor die ergraute Frau zu treten , die ich noch nie gesehen und mir eher als eine gestorbene Vorfahrin denn als eine lebendige Großmutter erschien .
Auf engen Pfaden , unter fruchtbeschwerten Bäumen hin , um stille Gehöfte herum gelangten wir endlich vor ihr Haus , welches in tiefgrünem , schweigendem Schatten lag ; sie stand unter der braunen Tür und schien , die Hand über den Augen , sich nach mir umzusehen .
Sogleich führte sie mich in die Stube hinein und hieß mich mit sanfter Stimme willkommen , ging zu einem blanken zinnernen Gießfasse , welches in gebohnter Eichenholznische über einer schweren zinnernen Schale hing , drehte den Hahn und ließ sich das klare Wasser über die kleinen gebräunten Hände strömen .
Dann setzte sie Wein und Brot auf den Tisch , stand lächelnd , bis ich getrunken und gegessen hatte , und setzte sich hierauf ganz nahe zu mir , da ihre Augen schwach waren , betrachtete mich unverwandt , während sie nach der Mutter und unserem Ergehen fragte und doch zugleich in Erinnerung früherer Zeit versunken schien .
Auch ich sah sie aufmerksam und ehrerbietig an und behelligte sie nicht mit kleinen Berichten , welche mir nicht hierher zu gehören schienen .
Sie war schlank und fein gewachsen , trotz ihres hohen Alters beweglich und aufmerksam , keine Städterin und keine Bäuerin , sondern eine wohlwollende Frau ; jedes Wort , das sie sprach , war voll Güte und Anstand , Duldung und Liebe , von aller Schlacke übler Gewohnheit gereinigt , gleichmäßig und tief .
Es war noch ein Weib , bei dem man begreifen konnte , wie die Alten das verdoppelte Wergeld des Mannes forderten , wenn es erschlagen oder beschimpft wurde .
Ihr Mann erschien , ein diplomatischer und gemessener Bauer ; er begrüßte mich mit freundlicher Teilnahmlosigkeit , und nachdem er mit einem Blicke gesehen , daß ich eine ähnliche " phantastische " Natur wie mein Vater und deshalb in der Zukunft weder Ansprüche noch Streitigkeiten zu befürchten seien , ließ er seine Frau in ihrer Freude gewähren , gab ihr sogar gelassen zu verstehen , daß sie mich nach Gefallen bewirten dürfe , und ging wieder seine Wege .
Ich blieb einige Stunden bei ihr , ohne daß , wir viel sprachen ; sie saß stillvergnügt neben mir und schlief endlich lächelnd ein .
Über ihre geschlossenen Augen ging eine leise Bewegung wie das Wallen eines Vorhanges , hinter welchem etwas vorgeht , man ahnte , daß sich dort Bilder in zartem , verjährtem Sonnenscheine zeigten , und die freundlichen Lippen verkündeten es in schwachen Regungen .
Als ich mich erhob , um behutsam fortzugehen , erwachte sie sogleich , hielt mich an und betrachtete mich fremd ; wie in ihrer Person das meinem Dasein Vorhergegangene groß und unvermittelt vor mir stand , mochte ich als die Fortsetzung ihres Lebens , als ihre Zukunft dunkel und rätselhaft vor ihr stehen , da meine Tracht wie meine Sprache von allem abwich , worin sie sich lebenslang bewegt hatte .
Sie schritt gedankenvoll in die Nebenkammer , wo sie in einem hohen Schranke einen Vorrat neuer Kleinigkeiten aufbewahrte , die sie von fahrenden Krämern zu kaufen pflegte , um sie gelegentlich an das junge Volk zu verschenken .
Stadt eines mächtigen Taschentuches ergriff sie , ihres blöden Gesichtes wegen , ein kleines rotseidenes Halstuch , wie es Landmädchen tragen , und gab mir es , noch in das gleiche Papier gewickelt , in dem sie es gekauft .
Ich mußte ihr versprechen , jeden Tag zu kommen und nächstens einmal dort zu speisen .
Klein Vetter hatte sich längst entfernt , und ich suchte allein meinen Heimweg , das rote Tüchelchen in der Tasche .
Bei einem Hause vorbeigehend , bemerkte ich einige derbe Kinder , welche wie der Blitz hineinliefen und dort lärmend etwas riefen .
Eine Frau kam heraus , holte mich ein , kündigte sich als Base an und fragte , ob ich denn nichts von ihr und ihrer Familie wisse ?
Ich bejahte die Frage , indem ich mich entschuldigte , sie nicht gekannt zu haben .
Sie nötigte mich nun in das Haus , wo es von frischgebackenem Brote duftete und eine lange Treppe von unten bis oben mit großen viereckigen und runden Kuchen bedeckt war , auf jeder Staffel einer , um zu verkühlen .
Während diese Base , ein rüstiges Weib in voller Blüte der Arbeitslust und Kraft , schnell ihre Haare zurückstrich und eine Schürze umband , hockten die Kinder alle hinter dem heißen Ofen und guckten scheu , doch kichernd hervor .
Meine neue Gönnerin verkündigte , daß ich gerade zu einer guten Stunde gekommen sei , da sie heute gebacken hätte ; zerschnitt sogleich einen großen Kuchen in vier Stocke und setzte Wein dazu , um dann den Tisch für das Mittagsmahl zu decken .
Dieses Haus hatte nicht den patriarchalischen Anstrich wie dasjenige der Großmutter ; man sah keine Geräte von Nussbaum , sondern nur von Tannenholz ; die Wände waren noch von frischer Holzfarbe , die Ziegel auf dem Dache hellrot wie das zutage tretende Gebälk und vor dem Hause wenig oder kein Baumschatten ; die Sonne lag heiß auf dem weiten Gemüsegarten , in welchem nur ein bescheidenes Blumenrevier verkündete , daß diese Haushaltung einen jungen Wohlstand zu begründen im Begriffe und vorderhand an den prosaischen Nutzen gewiesen sei .
Nun kam der Mann vom Felde mit dem ältesten Knaben , besorgte , obgleich er vernahm , daß ich in der Stube sei , erst seine Ochsen und Kühe , wusch sich am Brunnen gemächlich die Hände und trat dann , dieselben mir reichend , fest und ruhig herein , sogleich nachsehend , ob seine Frau mich gehörig bewirte .
Dabei zeigten die Leute keinerlei Ziererei , als ob ihre Gaben zu gering wären ; denn der Bauer ist der einzige , welcher nur sein Brot als das beste erachtet und es als solches jedermann anbietet .
Seine Leckerbissen sind die Erstlinge jeder Frucht ; die neue Kartoffel , die erste Birne , die Kirschen und die Pflaumen gehen ihm über alles , und er schätzt sie so hoch , daß er Wunder glaubt was zu gewinnen , wenn er von fremden Bäumen im Vorübergehen eine Handvoll erhaschen kann , während er an den bunten Leckereien der Städte gleichgültig vorübergeht .
Diese Überzeugung , daß er das Beste und Gesündeste biete , geht auf den Gast über , welcher sich alsbald einer kräftigen Eßlust hingibt , ohne sie zu bereuen .
Darum saß ich schmächtiges " Vetterlein " wieder tapfer schmausend hinter dem Tische , obgleich ich heute schon ein Erkleckliches getan hatte .
Mit Wohlwollen überhäuften mich die Verwandten und betrachteten mich , wie jeden Städter , der nicht ein Zinsherr ist , als einen Hungerschlucker .
Sie führten ein lebhaftes Gespräch über unser Schicksal und befragten mich des genauesten nach allen unseren Umständen .
Nachdem ich noch den Stall besehen und in der Scheune jeder Kuh eine Gabel voll Klee hinübergeschoben , verabschiedete ich mich ; die Base ließ es sich aber nicht nehmen , mich ein Stück Weges zu begleiten , um mich schnell noch einer anderen Base vorzustellen , wo ich mich nicht lange aufzuhalten brauche für dieses Mal .
Ich fand eine freundliche Matrone , nicht ganz von dem edlen und feinen Wesen meiner Großmutter , aber doch anständig und wohlwollend .
Sie wohnte allein mit einer Tochter , welche früher , einer häufigen Sitte gemäß , zwei Jahre in der Stadt gedient , dann einen vermöglichen Bauern geheiratet hatte und nach dessen baldigem Tode nun als Witwe lebte .
Kaum zweiundzwanzig Jahre alt , war sie von hohem und festem Wuchs , ihr Gesicht hatte den ausgeprägten Typus unseres Geschlechtes , aber durch , eine ungewöhnliche Schönheit verklärt ; besonders die großen braunen Augen und der Mund mit dem vollen runden Kinn machten augenblicklichen Eindruck .
Dazu schmückte sie ein schweres dunkles , fast nicht zu bewältigendes Haar .
Sie galt für eine Art Lorelei , obschon sie Judith hieß , auch niemand etwas Bestimmtes oder Nachteiliges von ihr wußte .
Dies Weib trat nun herein , vom Garten kommend , etwas zurückgebogen , da sie in der Schürze eine Last frischgepflückter Ernteäpfel und darüber eine Maße gebrochener Blumen trug .
Dies schüttete sie alles auf den Tisch , wie eine reizende Pomona , daß ein Gewirre von Form , Farbe und Duft sich auf der blanken Tafel verbreitete .
Dann grüßte sie mich mit städtischem Akzente , indessen sie aus dem Schatten eines breiten Strohhutes neugierig auf mich herabsah , sagte , sie hätte Durst , holte ein Becken mit Milch herbei , füllte eine Schale davon und bot sie mir an ; ich wollte sie ausschlagen , da ich schon genug genossen hatte , allein sie sagte lachend :
" Trinkt doch ! " und machte Anstalt , mir das Gefäß an den Mund zu halten .
Daher nahm ich es und schlürfte nun den marmorweißen und kühlen Trank mit einem Zuge hinunter und mit demselben ein unbeschreibliches Behagen , wobei ich sie ganz ruhevoll ansah und so ihrer stolzen Ruhe das Gleichgewicht hielt .
Wäre sie ein Mädchen von meinem Alter gewesen , so hätte ich ohne Zweifel meine Unbefangenheit nicht bewahrt .
Doch war dies alles nur ein Augenblick , und als ich mir darauf mit den Blumen zu schaffen machte , zwang sie sogleich einen großen Strauß von Rosen , Nelken und stark duftenden Kräutern zusammen und steckte mir denselben wie ein Almosen in die Hand ; das alte Mütterchen füllte meine Taschen mit Äpfeln , daß ich nun , mit Gaben förmlich beladen , ohne Widerrede gedemütigt von dannen zog , von sämtlichen Frauen zu fleißigem Besudle bei ihnen , wie bei den noch übrigen Verwandten , aufgefordert .
Neunzehntes Kapitel Neues Leben Es war schon tiefer Nachmittag , als ich endlich das Haus meines Oheims wiederfand , und zwar verschlossen , weil alle Bewohner ins Freie gegangen ; doch wußte ich , daß ich durch Scheune und Stall ein Schlupfloch finden würde .
In der Scheune sprang mir das Reh entgegen und schloß sich mir unverweilt an ; im Stalle sahen sich die Kühe nach mir um , und ein lediges Rind tappte halbwegs auf mich zu und machte Anstalt , einen vertraulichen Satz gegen mich zu nehmen , daß ich mich furchtsam in den nächsten Raum salvierte , der ganz mit Ackergerätschaften und Holzgerümpel angefüllt war .
Aus dem dunklen Wirrsal hervor schoß mit vergnüglichem Murren der Marder , welcher sich hier einsam gelangweilt hatte , und saß mir im Augenblicke auf dem Kopfe , mir mit dem Schwanz um die Backen schlagend und vor Freude tollen Unsinn treibend , daß ich laut lachen mußte .
So gelangte ich mit meiner Gesellschaft in den helleren , bewohnten Teil des Hauses und fand endlich die Wohnstube , wo ich meine Bürde von Blumen , Früchten und Tieren abwarf .
Auf dem Tische stand mit Kreide geschrieben , wo ich zu essen finden würde , im Falle ich Lust hätte , nebst allerlei beigefügten Witzen des jungen Volkes ; aber ich zog vor , mir das Geburtshaus meiner Mutter nun gemächlich anzusehen .
Der Oheim hatte schon seit einigen Jahren dem geistlichen Stande entsagt , um sich ganz seinen Neigungen hinzugeben .
Da die Gemeinde ohnehin Willens war , ein neues Pfarrhaus zu bauen , kaufte der Oheim dazumal das alte Pfarrhaus von ihr , welches ursprünglich eigentlich der Landsitz eines Herren gewesen war und daher steinerne Treppen mit Eisengeländern , in Gips gearbeitete Plafonds , einen Saal mit einem Kamine , viele Zimmer und Räume und überall eine Unzahl fast schwarzer Ölgemälde enthielt .
In dieses Wesen hinein hatte der Oheim , unter das gleiche Dach , seine Landwirtschaft geschoben , indem er einen Teil der Wohnung herausgebrochen , daß sich beide Elemente , das junkerhafte und das bäuerliche , verschmolzen und durch wunderliche Türen und Durchgänge verbanden .
Aus einem mit Jagden bemalten und mit alten theologischen Werken versehenen Zimmer sah man sich , wenn man eine Tapetentür öffnete , plötzlich auf den Heuboden versetzt .
Unter dem Dache fand ich eine kleine Mansarde , deren Wände mit alten Hirschfängern und Galanteriedegen sowie mit unbrauchbarem Schießgewehr bedeckt waren ; eine lange spanische Klinge mit trefflich gearbeitetem stählernen Griffe war ein Prachtstück und mochte schon seltsame Tage gesehen haben .
Ein paar Folianten lagen bestäubt in der Ecke ; in der Mitte des Zimmers stand ein mit Leder bezogener zerfetzter Lehnstuhl , so daß nur der Don Quijote fehlte , um das Ganze zu einem Bilde zu machen .
Übrigens setzte ich mich behaglich hinein und dachte an den guten Herrn , dessen Geschichte ich einst aus dem Französischen des Mr. Florian übersetzt hatte .
Ich hörte ein seltsames Geräusch , Gurren und Krabbeln an der Wand , schlug einen hölzernen Schieber zurück und steckte den Kopf hindurch in den heißen Taubenschlag , welcher alsobald in solchen Alarm geriet , daß ich mich zurückziehen mußte .
Ferner entdeckte ich die Schlafzimmer der Töchter , stille Gelasse mit grünen Fenstergärtchen und überdies von treuen Baumwipfeln bewacht , mit geretteten Stücken blumiger Tapeten bekleidet , wo die Rokokospiegel des ehemaligen Herrensitzes eine ehrenvolle Zuflucht im Alter gefunden hatten ; so auch die große Kammer der Söhne , welche mit den Spuren einiger nicht zu tiefen Studien und den Werkzeugen des ländlichen Müßigganges , mit Angelzeug und Vogelgarnen , verziert war .
Gegen Osten sahen die Fenster des Hauses in das Wirrsal von Obstbäumen und Dachgiebeln des Dorfes , aus welchem der erhöhte Kirchhof mit der weißen Kirche wie eine geistliche Festung emporragte ; nach der Abendseite schaute die hohe lange Fensterflucht des Saales über ein sattgrünes Wiesental , durch welches sich der Fluß in vielen Armen und Windungen buchstäblich silbern schlängelte , da er höchstens zwei Fuß tief war und wie Brunnenwasser in lebendigen heftigen Wellen über weißes Geschiebe floß .
Jenseits dieses Wiesengrundes stieg eine waldige Berghalde auf , an welcher alle Laubarten durcheinanderwogten , von grauen Felswänden und Kuppen unterbrochen .
Die untergehende Sonne aber hatte einen freien Ausgang über fernere Blauberge und übergoß das Tal alle Abend mit Glut , daß man an den Fenstern des Saales im Roten saß , ja die Röte drang durch diesen hin , wenn seine Türen geöffnet , ins Innere des Hauses und überzog Gänge und Wände .
Gemüse- und Blumengärten , vernachlässigte Zwischenräume , Holunderbüsche und eingefaßte Quellen , alles von Bäumen überschattet , bildeten eine reizende Wildnis weit herum und dehnten sich noch mittels einer kleinen Brücke über das Wasser hinaus .
Die etwas weiter oben liegende Mühle aber gab sich nur durch das Geräusch und durch das Blitzen und Stäuben des Rades kund , welches unter den Bäumen durchleuchtete .
Das Ganze war eine Verschmelzung von Pfarrei , Bauernhof , Villa und Jägerhaus , und mein Herz jubelte , als ich alles entdeckte und übersah , umgaukelt von der geflügelten und vierfüßigen Tierwelt .
Hier war überall Farbe und Glanz , Bewegung , Leben und Glück , reichlich , ungemessen , dazu Freiheit und Überfluß , Scherz und Wohlwollen .
Der erste Gedanke war eine freie ungebundene Tätigkeit .
Ich eilte auf mein Zimmer , welches auch nach der Abendseite lag , und begann meine indessen angekommenen Sachen auszupacken , meine Schultücher und abgebrochenen Hefte , welche ich so gut möglich noch zu pflegen gedachte , vorzüglich aber einen ansehnlichen Vorrat von Papier verschiedener Art , Federn , Bleistifte und Farben , vermittels deren ich schreiben , zeichnen , malen wollte , weiß Gott was alles !
In diesem Augenblicke wandelte sich der bisherige Spieltrieb in eine ganz neuartige Lust zu Schaffen und Arbeit , zu bewußtem Gestalten und Hervorbringen um .
Mehr als alles vorhergehende Ungemach weckte dieser eine , so einfache und doch so reiche Tag den ersten Schein der Klarheit , die Morgendämmerung der reiferen Jugend in mir auf .
Als ich meine bisher übermalten Streifen und Bogen auf dem großen Bette ausbreitete , daß es mit wunderlich bunter Decke bezogen war , fühlte ich mich mit einem Male über diese Dinge hinausgerückt und mit dem Bedürfnis auch den Willen , sogleich einen Fortschritt aus mir selbst hervorzuzwingen .
Mein Oheim trat , von einer Aufsichtswanderung zurückgekehrt , zu mir herein und sah mich mit Verwunderung von meinem Krame umgeben .
Die kindliche Renommisterei und Keckheit meiner Machwerke , die marktschreierischen Farben imponierten seinem ungeübten Auge , und er rief : " Ei , du bist ja ein ganzer Maler , Herr Neveu !
Das ist nun recht ; da hast du ja auch eine Menge Papier und Farben ?
Gut !
Was hast du hier für Sachen , wo hast du sie hergenommen ? "
Ich erwiderte , daß ich alles aus dem Kopfe gemacht hätte .
" Ich will dir nun andere Aufgaben stellen " , sagte er , " du sollst nun unser Hofmaler sein !
Gleich morgen sollst du versuchen , unser Haus zu zeichnen mit Gärten und Bäumen , und alles genau nachbilden !
Auch kann ich dir manchen schönen Punkt in unserer Gegend zeigen , wo du interessante Prospekte aufnehmen magst ; das wird dich üben und dir nützlich sein .
Ich wollte selbst , ich hätte dergleichen geübt .
Halt , ich kann dir einige hübsche Sachen zeigen , welche von einem Herrn herrühren , der vor vielen Jahren oft bei uns zu Gast war , als wir immer Besuch aus der Stadt hatten .
Er malte zu seinem Vergnügen in Öl , in Wasserfarben und stach in Kupfer oder radierte , wie er es nannte , und war geschickt , trotz einem Künstler ! "
Er holte eine alte Mappe herbei , welche mit einer ansehnlichen Schnur umwickelt war , und indem er sie öffnete , sagte er :
" Ich habe bei Gott diese Dinge längst vergessen , ich sehe sie selbst einmal gern wie der !
Der gute Junker Felix liegt in Rom begraben , schon manches lange Jahr ; er war ein alter Junggesell , trug gepuderte Haare und ein Zöpfchen noch anfangs der Zehner Jahre ; er malte und radierte den ganzen Tag , ausgenommen im Herbste , wo er mit uns jagte .
Damals , zu Anfang der Zehner Jahre , kamen ein paar junge Herren aus Italien zurück , worunter ein Malergenie .
Diese Bursche machten einen Teufelslärm und behaupteten , die ganze alte Kunst sei verkommen und würde eben jetzt in Rom wiedergeboren von deutschen Männern .
Alles , was vom Ende des vorigen Jahrhunderts her datiere , das Geschwätz des sogenannten Goethe von Hackert , Tischbein und dergleichen , das sei alles Lumperei , eine neue Zeit sei angebrochen .
Diese Redensarten störten meinen armen Felix urplötzlich in seinem bisherigen Lebensfrieden ; umsonst suchten ihn seine alten Künstlerfreunde , mit denen er schon manchen Zentner Tabak verraucht hatte , gelassen zur Ruhe zu bringen , indem sie sagten , er möge doch die jungen Fante schreien lassen , die Zeit werde so gut über sie hinweggehen wie über uns !
Alles umsonst !
Eines Morgens schloß er seinen hagestolzlichen Kunsttempel zu und rannte wie verrückt nach dem St. Gotthard , hinüber und kam nicht wieder .
Nachdem ihm die Halunken zu Rom den Zopf abgeschnitten bei einer Sauferei , verlor er allen Halt und alle Ehrbarkeit und starb in seinen alten Tagen nicht an Altersschwäche , sondern an dem römischen Wein und an den römischen Weibsbildern .
Diese Mappe ließ er zufällig bei uns zurück . "
Wir durchblätterten nun die vergilbten Papiere ; es waren ein Dutzend Baumstudien in Kreide und Rotstift , nicht sehr körperlich und sicher gezeichnet , doch von einem eifrigen dilettantischen Streben zeugend , nebst einigen verblaßten Farbenskizzen und einer großen in Öl gemalten Eiche .
" Dies nannte er Baumschlag " , sagte mein Oheim , " und machte ein großes Wesen daraus .
Das Geheimnis desselben hatte er im Jahre 1780 in Dresden erlernt bei seinem verehrten Meister Zink , oder wie er ihn nannte .
Es gibt , pflegte er zu sagen , zwei Klassen von Bäumen , in welche alle zerfallen , in die mit runden und die mit gezackten Blättern .
Daher gibt es zwei Manieren die gezackte Eichenmanier und die gerundete Lindenmanier !
Wenn er bestrebt war , unseren jungen Damen das geläufige Schreiben dieser Manieren beizubringen , so sagte er , sie müßten sich vor allem an einen gewissen Takt gewöhnen , zum Beispiel beim Zeichnen dieser oder jener Blattart zählen :
» Eins zwei , drei - vier fünf , sechs ! «
- » Das ist ja der Walzertakt ! « schrien die Mädchen und begannen um ihn herumzutanzen , bis er wütend aufsprang , daß ihm der Zopf wackelte ! "
So gewann ich auf dem seltsamen Wege einer Tradition , deren Träger selbst der Sache fremd war , den ersten Anhaltspunkt .
Ich betrachtete die Blätter stumm und aufmerksam und bat mir die Mappe zur freien Verfügung aus .
Sie enthielt überdies noch eine Anzahl radierter Landschaften , einige Waterloos , einige idyllische Haine von Geßner mit sehr hübschen Bäumen , deren Poesie mich frappierte und sogleich einnahm , bis ich eine Radierung von Reinhart entdeckte , gelb und beschmutzt , knapp am Rande beschnitten , deren Kraft , Schwung und Gesundheit mächtig zu mir sprach und aus dem verzettelten Stückchen Papier gewaltig herausleuchtete .
Während ich staunend das Blatt in der Hand hielt ( ich hatte bis jetzt nie etwas wahrhaft Künstlerisches gesehen ) , kam der Oheim wieder und rief : " Komme mit , Neveu Maler ! der Herbst wird bald genug dasein , und da müssen wir sehen , wie es vorläufig um die Häslein und Füchslein , um Hühner und derlei Volk steht !
Es ist ein schöner Abend , wir wollen ohne Gewehr ein bißchen auf den Anstand gehen , da kann ich dir zugleich hübsche Prospekte zeigen . "
Er ergriff aus einem Winkel , wo eine Menge alter spanischer Rohre versammelt war , einen tüchtigen Stock , gab mir auch einen solchen , pustete aus seinem Waldhörnchen den abgebrannten Zigarrenstumpf heraus , steckte einen frischen Glimmstengel hinein , pfiff aus dem Fenster in weithin schallenden Tönen , worauf sogleich die Hunde aus allen Ecken des Dorfes wie der Blitz herbeisprangen , und wir zogen , umgeben von den bellenden Tieren , dem abendlichen Bergwalde zu .
Bald war die Meute weit voraus und im Gehölze verschwunden ; aber kaum begannen wir die Höhe hinanzusteigen , so hörten wir sie über uns anschlagen und in voller Jagd am Berge hinziehen , daß die Schluchten widerhallten .
Meinem Oheim lachte das Herz , er zog mich vorwärts und behauptete , wir müßten rasch nach einer kleinen Waldwiese eilen , um das Tier zu sehen ; doch auf dem Wege horchte er auf und änderte die Richtung , indem er rief : " Es ist bei Gott ein Fuchs ! dorthin müssen wir gehen , schnell , pst ! "
Kaum hatten wir einen schmalen Pfad betreten , welcher neben einem trockenen Waldbache hinlief , zwischen zwei bewachsenen Abhängen , als er mich plötzlich anhielt und lautlos vorwärts wies , ein rötlicher Streife schloß still über Weg und Schlucht , herab , hinauf , und eine Minute nachher heulten die sechs Hunde hintendrein .
" Hast du ihn gesehen ? " sagte der Oheim so vergnügt , als ob er am Vorabend seiner Hochzeit stände ; dann fuhr er fort : " Sie haben ihn verloren , doch in jenem Schlag müssen sie notwendig ein Häschen auftun !
Wir wollen vollends hier hinaufgehen ! "
Wir gelangten auf eine kleine Hochebene , welche ein von der sinkenden Sonne gerötetes Haferfeld war , umsäumt von stillglühenden Föhren .
Hier hielten wir an und stellten uns am Rande auf , in wohligem Schweigen , unfern eines verwachsenen Weges , der ins Dunkle führte .
Wir mochten so eine Viertelstunde gewartet haben , als das Gebell in großer Nähe plötzlich wieder begann und mein Oheim mich anstieß .
Zugleich bewegte sich der Hafer vor uns , er flüsterte :
" Was Teufel ist denn da los ? " und es erschien eine riesenhafte Bauernkatze , welche uns ansah und davonschlich .
In großem Zorne rief der geistliche Herr :
" Du vermaledeite Bestie , was hast denn du hier zu schaffen ?
Da sieht man , wo die jungen Hasen hinkommen !
Wart , ich will dir jagen helfen ! " und er schleuderte ihr einen mächtigen Stein nach .
Sie sprang wieder mitten in den Hafer hinein , indessen die Hunde an uns vorüberbrausten und mein zorniger Oheim ganz verblüfft sagte :
" Da ! nun haben wir den Hasen nicht gesehen ! "
" Genug für heute " , sagte er , " nun laß uns noch da vornhin gehen , wo du das Hochgebirge sehen kannst , dem du jetzt ein bißchen ferner gerückt bist . "
Am entgegengesetzten Rande des hohen Feldes , wo die Föhren sich , lichteten , sah man über zuerst grüne , dann immer blauer werdende Bergrücken hin nach dem Gebirge im Süden , welches in seiner ganzen Ausdehnung von Ost nach West vor uns lag , von den Appenzeller Kuppen bis zu den Berner Alpen , aber so fern wie ein Traum .
Dadurch wurde ich auch auf den Charakter der mich umgebenden Landschaft aufmerksamer .
Dieselbe war schon mehr in der Art , wie ich mir deutsches Gebirge vorstellte , grün , felsig und bebaut .
Eine Menge Täler und Einschnitte , von Gewässern durchzogen , versprachen eine reiche Zuflucht für fortwährende Streifereien ; vorzüglich war es ein rechtes Waldland .
Indessen wir auf einem anderen Wege nach Hause kehrten , wechselten die reizenden Bilder vor meinen Augen bis in die Schatten der Nacht hinein und schlossen mit dem hellsten Mondscheine , der auf Mühle , Pfarrhaus und auf dem Wasser flimmerte , als wir anlangten .
Die jungen Leute jagten sich auf dem Platze unter den Eschen umher und drängten einander in das Flüßchen , die Töchter sangen im Garten , und die Muhme rief aus dem Fenster , ich sei ein Landstreicher , den man den ganzen Tag nie gesehen habe .
Zwanzigstes Kapitel Berufsahnungen Der nächste junge Tag ließ mich von allen Seiten mit dem Rufe Maler ! begrüßen .
Guten Morgen , Maler !
Haben der Herr Maler wohl geruht ?
Maler , zum Frühstück ! hieß es , und das Völklein handhabte diesen Titel mit derjenigen gutmütig spottenden Freude , welche es immer empfindet , wenn es für einen neuen Ankömmling , den es nicht recht anzugreifen wußte , endlich eine geläufige Bezeichnung gefunden hat .
Ich ließ mir jedoch den angewiesenen Rang gern gefallen und nahm mir im stillen vor , denselben nie mehr aufzugeben .
Ich brachte aus Pflichtgefühl die erste Morgenstunde noch über meinen Schulbüchern zu , mich selbst unterrichtend ; aber mit dem grauen Löschpapier dieser melancholischen Werke kam die Öde und die Beklemmung der Vergangenheit wieder heran ; jenseits des Tales lag der Wald in silbergrauem Duft , die Terrassen hoben sich merklich voneinander los ; ihre laubigen Umrisse , von der Morgensonne bestreift , waren hellgrün , jede bedeutende Baumgruppe zeichnete sich groß und schön in dem zusammenhaltenden Dufte und schien ein Spielwerk für die nachahmende Hand zu sein ; meine Schulstunde wollte aber nicht vorübergehen , obschon ich längst nicht mehr aufmerkte .
Ungeduldig ging ich , ein Lehrbuch der Physik in der Hand , hin und her und durch mehrere Zimmer , bis ich in einem derselben die weltliche Bibliothek des Hauses entdeckte ; ein breiter alter Strohhut , wie ihn die Mädchen zur Feldarbeit brauchen , hing darüber und verbarg sie beinahe ganz .
Wie ich denselben aber wegnahm , sah ich eine kleine Schar guter Franzbände mit goldenem Rücken , ich zog einen Quartband hervor , blies den dichten Staub davon und schlug die Geßnerschen Werke auf , in dickem Velinpapier , mit einer Menge Vignetten und Bildern geschmückt .
Überall , wo ich blätterte , war von Natur , Landschaft , Wald und Flur die Rede ; die Radierungen , von Geßners Hand mit Liebe und Begeisterung gemacht , entsprachen diesem Inhalte ; ich sah meine Neigung hier den Gegenstand eines großen , schönen und ehrwürdigen Buches bilden .
Als ich aber auf den Brief über die Landschaftmalerei geriet , worin der Verfasser einem jungen Manne guten Rat erteilt , las ich denselben überrascht vom Anfang bis zum Ende durch .
Die unschuldige Naivetät dieser Abhandlung war mir ganz faßlich ; die Stelle , wo geraten wird , mannigfaltig gebrochene Feld- und Bachsteine auf das Zimmer zu tragen und danach Felsenstudien zu machen , entsprach meinem noch halbkindischen Wesen und leuchtete mir ungemein in den Kopf .
Ich liebte sogleich diesen Mann und machte ihn zu meinem Propheten .
Nach mehr Büchern von ihm suchend , fand ich ein kleines Bändchen , nicht von ihm , aber seine Biographie enthaltend .
Auch dieses las ich auf der Stelle ganz durch .
Er war ebenfalls ein hoffnungsloser Schüler gewesen , indessen er auf eigene Faust schrieb und künstlerischen Beschäftigungen nachhing .
Es war in dem Werklein viel von Genie und eigener Bahn und solchen Dingen die Rede , von Leichtsinn , Drangsal und endlicher Verklärung , Ruhm und Glück .
Ich schlug es still und gedankenvoll zu , dachte zwar nicht sehr tief , war jedoch , wenn auch nicht klar bewußt , für die Bande geworben .
Es ist bei der besten Erziehung nicht zu verhüten , daß dieser folgenreiche und gefährliche Augenblick nicht über empfängliche junge Häupter komme , unbemerkt von aller Umgebung , und wohl nur wenigen ist es vergönnt , daß sie erst das leidige Wort Genie kennenlernen , nachdem sie unbefangen und arglos bereits ein gesundes Stück Leben , Lernen , Schaffen und Gelingen hinter sich haben .
Ja , es ist überhaupt die Frage , ob nicht zu dem bescheidensten Gelingen eine dichte Unterlage von bewußten Vorsätzen und allem Apparate der Geniesucht gehöre , und der Unterschied mag oft nur darin bestehen , daß das wirkliche Genie diesen Apparat nicht sehen läßt , sondern vorweg verbrennt , während das bloß vermeintliche ihn mit großem Aufwande hervorkehrt und wie ein verwitterndes Baugerüst stehen läßt am unfertigen Tempel .
Den berückenden Trank schöpfte ich jedoch nicht aus einem anspruchsvollen und blendenden Zauberbecher , sondern aus einer bescheidenen lieblichen Hirtenschale ; denn bei allen Redensarten war dies Geßnersche Wesen durchaus einfacher und unschuldiger Natur und führte mich für einmal nur mit etwas mehr Bewußtsein unter grüne Baumschatten und an stille Waldquellen .
In der Biographie machte ich auch die Bekanntschaft mit dem alten Sulzer , welcher in Berlin des jungen Geßner Gönner gewesen ; wie ich nun unter den Büchern einige Bände der " Theorie der schönen Künste " bemerkte , nahm ich sie als in mein neuentdecktes Gebiet gehörig in Beschlag .
Dies Buch muß seinerzeit eine gewaltige Verbreitung gefunden haben , da man es fast in allen alten Bücherschränken findet und es auf allen Auktionen spukt und für wenig Geld erstanden werden kann .
Gleich einer jungen Katz im Grasgarten fahre ich in der enzyklopädischen Einrichtung des längst obsolet gewordenen Buches herum , alles für bare Münze nehmend und hundert vorläufige und unverstandene Gesichtspunkte ergreifend , und als der Mittag herannahte , war mein Kopf von Gelehrsamkeit vollgepfropft ; ich fühlte beinahe selbst den gravitätischen Stolz in meinen gekräuselten Lippen und aufgespannten Augen und schleppte sämtliche Kunstliteratur in mein Zimmer hinüber zu der Mappe des Junker Felix .
Kaum nahm ich mir nach Tische noch Zeit , bei der Großmutter einen kurzen Besuch abzustatten , ein kleines Testamentchen mit Goldschnitt und silbernem Schlösschen , das sie für mich bestimmt hatte , einzustecken , und eilte wieder davon .
Die Großmutter sah mir , so weit ihre schwachen Augen reichten , etwas wehmütig nach ; denn sie hatte mir die heilige Gabe mit besonderer Liebe und Feierlichkeit einhändigen wollen .
Aber ich schwand ihr eilig aus dem Gesichte , allein begierig , meine angefachte Kunsteinsicht an den Mann oder vielmehr an die Bäume zu bringen .
Mit einer Mappe und Zubehör versehen , lief ich bereits unter den grünen Hallen des Bergwaldes hin , jeden Baum betrachtend , aber nirgends eigentlich einen Gegenstand sehend , weil der stolze Wald eng verschlungen , Arm in Arm stand und mir keinen seiner Söhne einzeln preisgab ; die Sträucher und Steine , die Kräuter und Blumen , die Formen des Bodens schmiegten und duckten sich unter den Schutz der Bäume und verbanden sich überall mit dem großen Ganzen , welches mir lächelnd nachsah und meiner Ratlosigkeit zu spotten schien .
Endlich trat ein gewaltiger Buchbaum mit reichem Stamme und prächtigem Mantel und Krone herausfordernd vor die verschränkten Reihen , wie ein König aus alter Zeit , der den Feind zum Einzelkampfe aufruft .
Dieser Recke war in jedem Aste und jeder Laubmasse so fest und klar , so lebens- und gottesfreudig , daß seine Sicherheit mich blendete und ich mit leichter Mühe seine Gestalt bezwingen zu können wähnte .
Schon saß ich vor ihm , und meine Hand lag mit dem Stifte auf dem weißen Papiere , indessen eine geraume Weile verging , ehe ich mich zu dem ersten Strich entschließen konnte ; denn je mehr ich den Riesen an einer bestimmten Stelle genauer ansah , desto unnahbarer schien mir dieselbe , und mit jeder Minute verlor ich mehr meine Unbefangenheit Endlich wagte ich , von unten anfangend , einige Striche und suchte den schöngegliederten Fuß des mächtigen Stammes festzuhalten ; aber was ich machte , war leben- und bedeutungslos ; die Sonnenstrahlen spielten durch das Laub auf dem Stamme , beleuchteten die markigen Züge und ließen sie wieder verschwinden , bald lächelte ein grauer Silberfleck , bald eine saftige Moosstelle aus dem Helldunkel , bald schwankte ein aus den Wurzeln sprossendes Zweiglein im Lichte , ein Reflex ließ auf der dunkelsten Schattenseite eine neue mit Flechten bezogene Linie entdecken , bis alles wieder verschwand und neuen Erscheinungen Raum gab , während der Baum in seiner Größe immer gleich ruhig dastand und in seinem Inneren ein geisterhaftes Flüstern vernehmen ließ .
Aber hastig und blindlings zeichnete ich weiter , mich selbst betrügend , baute Lage auf Lage , mich ängstlich nur an die Partie haltend , welche ich gerade zeichnete , und gänzlich unfähig , sie in ein Verhältnis zum Ganzen zu bringen , abgesehen von der Formlosigkeit der einzelnen Striche .
Die Gestalt auf meinem Papiere wuchs ins Ungeheuerliche , besonders in die Breite , und als ich an die Krone kam , fand ich keinen Raum mehr für sie und mußte sie , breitgezogen und niedrig , wie die Stirn eines Lumpen , auf den unförmlichen Klumpen zwingen , daß der Rand des Bogens dicht am letzten Blatte stand , während der Fuß unten im Leeren taumelte .
Wie ich aufsah und endlich das Ganze überflog , grinste ein lächerliches Zerrbild mich an , wie ein Zwerg aus einem Hohlspiegel ; die lebendige Buche aber strahlte noch einen Augenblick in noch größerer Majestät als vorher , wie um meine Ohnmacht zu verspotten ; dann trat die Abendsonne hinter den Berg , und mit ihr verschwand der Baum im Schatten seiner Brüder .
Ich sah nichts mehr als eine grüne Wirrnis und das Spottbild auf meinen Knien .
Ich zerriß dasselbe , und so hochmütig und anspruchsvoll ich in den Wald gekommen , so kleinlaut und gedemütigt war ich nun .
Ich fühlte mich abgewiesen und hinausgeworfen aus dem Tempel meiner jugendlichen Hoffnung ; der tröstende Inhalt des Lebens , den ich gefunden zu haben wähnte , entschwand meinem inneren Blicke , und ich kam mir nun vor wie ein wirklicher Taugenichts , mit welchem wenig anzufangen sei .
Ich brach verzagt und weinerlich auf , mit gebrochenem Mute nach einem anderen Gegenstande suchend , welcher sich barmherziger gegen mich erwiese .
Allein die Natur , mehr und mehr sich verdunkelnd und verschmelzend , ließ mir kein Almosen ab ; in meiner Bedrängnis tat sich mir das Wort kund " Aller Anfang ist schwer " und damit die Einsicht , daß ich ja erst jetzt anfange und diese Mühsal eben den Unterschied von dem früheren Spielwerke begründe .
Aber die Einsicht stimmte mich nur trauriger , da mir Mühseligkeit und saurer Fleiß bisher unbekannte Dinge gewesen waren .
Ich nahm meine Zuflucht endlich wieder einmal zu Gott , der mir im Rauschen des Waldes und in meinem eingebildeten Elende wieder nahe getreten , und bat ihn flehentlich , mir zu helfen um meiner Mutter Willen , deren sorgenvoller Einsamkeit ich nun auch gedachte .
Da traf ich auf eine junge Esche , welche mitten in einer Waldlücke auf einem niedrigen Erdwalle emporwuchs , von einer sichernden Quelle getränkt .
Das Bäumchen hatte einen schwanken Stamm von nur zwei Zoll Dicke und trug oben eine zierliche Laubkrone , deren regelmäßig gereihte Blätter zu zählen waren und sich , so wie der Stamm , einfach , deutlich und anmutig auf das klare Gold des Abendhimmels zeichneten .
Weil das Licht hinter der Pflanze war , sah man nur den scharfen Umriß des Schattenbildes ; es schien wie absichtlich zur Übung eines Schülers hingestellt .
Ich setzte mich noch einmal hin und wollte flugs das kindliche Stämmchen mit zwei parallelen Linien auf mein Papier stehlen ; aber noch einmal wurde ich gehöhnt , indem der einfache , grünende Stab im selben Augenblicke , wo ich ihn zu zeichnen und genauer anzusehen begann , eine unendliche Feinheit der Bewegung annahm .
Die beiden aufstrebenden Linien schmiegten sich in allen kaum merklichen Biegungen so streng aneinander , sie verjüngten sich nach oben so fein , und die jungen Äste gingen endlich in so gemessenen Winkeln daraus hervor , daß um kein Haar abgewichen werden durfte , wenn das Bäumchen seine schöne Gestalt behalten sollte .
Doch nahm ich mich zusammen und klammerte mich ängstlich und aufmerksam an jede Bewegung meines Vorbildes , woraus endlich nicht eine sichere und elegante Skizze , sondern ein zaghaftes , aber ziemlich treues Gebilde hervorging .
Ich fügte , einmal im Zuge , mit Andacht die nächsten Gräser und Würzelchen des Bodens hinzu und sah nun auf meinem Blatte eines jener frommen nazarenischen Stengelbäumchen , welche auf den Bildern der alten Kirchenmaler und ihrer heutigen Epigonen den Horizont so anmutig und naiv durchschneiden .
Ich war zufrieden mit meiner bescheidenen Arbeit und betrachtete sie noch lange abwechselnd mit der schlanken Esche , die sich im leisen Abendhauche wiegte und mir wie ein freundlicher Himmelstote erschien .
Als ob ich Wunder was verrichtet hätte , zog ich hochvergnügt dem Dorfe zu , wo meine Verwandten begierig waren , die Früchte meiner mit soviel Anspruch unternommenen Waldfahrt zu sehen .
Nachdem ich aber mein Bäumlein mit seinen höchstens vier Dutzend Blättern hervorgezogen , löste sich die Erwartung in ein allgemeines Lächeln auf , welches bei den Unbefangensten zum Gelächter wurde ; nur dem Oheim gefiel es , daß man doch gleich ein junges Eschchen erkannte , und er munterte mich auf , unverdrossen fortzufahren und die Waldbäume recht zu studieren , wozu er mir als Forstmann behilflich sein wolle .
Er besaß noch so viel städtische Erinnerung , daß ihm dergleichen nicht lächerlich vorkam ; auch mochten leidenschaftliche Jäger von jeher die Malerei wohl leiden , insofern sie den Schauplatz ihrer Freuden und ihre Taten selbst verherrlicht .
Daher begann er nach dem Abendessen noch sogleich einen Kursus mit mir und sprach von den Eigentümlichkeiten der Bäume und von den Stellen , wo ich die lehrreichsten Exemplare finden würde .
Zuvörderst aber empfahl er mir , die Studien des Junkers Felix zu kopieren , was ich an den folgenden Tagen mit großem Eifer tat , indessen wir an den schönen Abenden unsere Spürgänge für die nächste Jagdzeit fortsetzten und dabei die reizendsten Gründe und Höhen durchstreiften , umgeben und begleitet von der reichen Baumwelt .
So ging die erste Woche meines ländlichen Aufenthaltes angenehm zu Ende , und um diese Zeit wußte ich schon etwelche Bäume voneinander zu unterscheiden und freute mich , die grünen Gesellen mit ihren Namen begrüßen zu können ; nur hinsichtlich der Kräuterdecke des feuchten oder trockenen Bodens bedauerte ich erst jetzt wieder lebhaft die Unterbrechung der botanischen Anfänge in der Schule , da ich wohl fühlte , daß für die Kenntnis dieser kleinen , aber weit mannigfaltigeren Welt einige grobe Umrisse nicht genügten ; und doch hätte ich so gern die Namen und Eigenschaften aller der blühenden Dinge gekannt , welche den Boden bedecken .
Einundzwanzigstes Kapitel Sonntagsidylle .
Der Schulmeister und sein Kind Auf den ersten Sonntag meiner Anwesenheit war schon ein Besuch verabredet worden , welchen wir jungen Leute hinter dem Walde abstatten wollten .
Dort wohnte auf einem einsamen und abgelegenen Hofe ein Bruder meiner Tante mit einer jungen Tochter , welche mit meinen Basen eine eifrige Mädchenfreundschaft pflegte .
Ihr Vater war früher Dorfschulmeister gewesen , hatte aber nach dem Tode seiner Frau sich in jenen beschaulichen Waldhof zurückgezogen , da er ein hinlängliches Vermögen besaß und das gerade Gegenteil meines Oheims darstellte .
Während dieser , von städtischer Abkunft und in einigen geistlichen Studien aufgewachsen , dieses alles hinter sich geworfen und vergessen hatte , um sich ganz der braunen Ackererde und dem wilden Forste hinzugeben , strebte jener , von bäuerischem Herkommen und bescheidener Bildung , allein nach milden und feinen Sitten , nach dem Leben und Ruhme eines Weisen und Gerechten und vertiefte sich in beschauliche geistliche und philosophische Spekulationen , betrachtete die Natur nach Anleitung einiger Bücher und freute sich , vernünftige Gespräche anzuknüpfen , sooft sich hierzu die Gelegenheit bot , wobei er eine große Artigkeit zu entfalten bestrebt war .
Sein Töchterchen , ungefähr von vierzehn Jahren , lebte still und fein in dem milden Lichte solcher Gesinnungsweise und stellte nach den Wünschen ihres Vaters eher ein zartes Pfarrerskind vor denn eine Landmannstochter , indessen die weibliche Nachkommenschaft meines Oheims , zur derben Arbeit gehalten , einen starken Anhauch von Regen und Sonnenschein zeigte , welcher sie aber viel eher zierte als entstellte und dem Glanze ihrer frischen Augen entsprach .
Meine drei Basen , von zwanzig , sechzehn und vierzehn Jahren , mit städtisch welschten Namen Margot , Lisette und Caton , hielten am Sonntagnachmittag lange Konferenz in ihren Kämmerchen , einander wechselseitig besuchend und die Türen hinter sich abschließend .
Wir Bursche , deren Toilette längst beendigt war , harrten ungeduldig und konnten nur durch Schlüssellöcher und Türspalten bemerken , daß die Kleiderschränke weit geöffnet und die Mädchen mit wichtigen Gebärden ratschlagend davorstanden .
Um uns die Zeit zu vertreiben , begannen wir die andächtigen Töchter zu necken und drangen endlich mit hellem Haufen in ihre Mitte , über einen mächtigen Schrank herfallend , um die Nasen in die hundert Schächtelchen , Büchschen und Heimlichkeiten zu stecken .
Aber mit dem Mute wilder Löwinnen , denen man die Jungen rauben will , wurden wir hinausgeworfen und führten vor den Türen einen vergeblichen Kampf , dieselben wieder aufzubrechen .
Da gingen sie mit einem Male nach einer kurzen Stille von selber auf , und heraus traten , verschämt und unwillig , und doch siegbewußt , die drei armen Kinder , bunt und prächtig , nach der vorjährigen Mode gekleidet , mit vorweltlichen Parasols und wunderbar geformten Ridiküls , der eine einem Sterne gleich , der andere einem Halbmonde , der dritte ein Mittelding zwischen Husarentasche und Lyra .
Dies alles mußte um so größeren Eindruck machen , wenn man bedachte , daß die guten Mädchen Autodidaktinnen waren und in Sachen des Putzes ganz allein und ratlos in der Welt dastanden ; denn ihre Mutter hatte einen Abscheu vor aller Stadtkleidung und riß jedesmal , wenn sie aus der Kirche kam , die Spitzenhaube , welche sie als Pfarrfrau trug , sogleich herunter .
Die Damen des neuen Pfarrers , außerdem die einzigen im Dorfe , waren stolz , unzugänglich und bezogen ihren Putz fertig aus der Stadt .
So waren meine Basen ganz auf sich selbst , auf eine Dorfnähterin und auf einige Traditionen des Hauses gewiesen , welche sie als eifrige Forscherinnen der dunklen Vergangenheit entlockten .
Deswegen waren ihre Erfolge doppelt achtungswert , und wenn wir sie mit einem spöttischen Ah ! empfingen bei ihrer heutigen Erscheinung , so war dieser Spott nur ein verstellter und die Maske einer aufrichtigen Bewunderung .
Indessen entsprach unsere Tracht an kühner und eleganter Mischung vollkommen derjenigen der Jungfrauen .
Die Vettern trugen Jacken von ziemlich grobem Tuche , welchen aber der Dorfschneider einen kecken , ja höchst gewagten Zuschnitt gegeben hatte .
Diese Jacken waren mit einer Unzahl blanker Knöpfe besetzt , auf welchen die Tiere des Waldes gepreßt in jagdgerechten Sprüngen erschienen und welche der Oheim einst bei guter Gelegenheit im großen eingehandelt und sich so für Kind und Kindeskind versehen hatte .
Die abgefallenen Stücke dieser Zierat gingen unter der Dorfjugend als gangbare Münze und wogen beim Spiele sechs Horn- oder Bleiknöpfe auf .
Ich selber trug zu meinem grünen Kadettenrock mit roten Schnürchen weiße Beinkleider , keine Weste über dem burschikosen Hemde , hingegen das rote Seidentuch der Großmutter malerisch umgeschlungen , und überdies hing die goldene Uhr meines Vaters , die ich ererbt , aber nie in Ordnung zu halten verstand , an einem blauen Bande mit gestickten Blumen , das ich den Schachteln meiner Mutter entnommen hatte .
Von der Mütze hatte ich längst den philiströsen Schirm abgetrennt , daß sie die Stirn frei ließ , und ich mochte wie ein vollendeter Jahrmarktsbursche aussehen .
Menschen , welche etwas Besseres und Tieferes ahnen und wünschen , werden sich , wie ich glaube , mehr und mehr aller lächerlichen Äußerlichkeiten enthalten , je mehr sie dem geahnten Wesen durch Erfahrung und Tat nahe treten ; je weiter sie aber noch davon entfernt sind , desto mehr klammern sie sich an solche Schnörkeleien .
Allein gerade diese Äußerlichkeit verhindert oft das Innere , sich rasch zu entwickeln , wenn nicht ein Mann und Vater vorhanden ist , welcher sie mit gesundem Spotte beschneidet und unterdrückt , indessen er dem aufstrebenden Sohne das Wahre mit fester Hand vorzeichnet .
Man konnte auf zwei Wegen zu der Wohnung des alten Schulmeisters gelangen : entweder mußten wir einen langgedehnten Berg hinter dem Dorfe ersteigen und , längs auf demselben fortgehend , endlich jenseits niedersteigen , wo wieder ein Tal lag , ähnlich dem unsrigen , nur kleiner und runder und beinahe ganz mit einem tiefen dunklen See erfüllt ; oder wir konnten längs des Flusses unser Tal durchwandern und mit dem in Gehölzen sich verlierenden Wasser um den Berg herum an den See gelangen , in welchem jenes mündete und das befreundete Haus sich spiegelte .
Wir zogen es vor , mit dem kurzweiligen Flüßchen den Hinweg zurückzulegen und erst in der Abendkühle über den Berg heimzukehren , und unsere bunte , weithin glänzende Gesellschaft bewegte sich bald durch das grüne Tal hin , bis wir in eine reizende Wildnis gelangten , wo der Wald von beiden Seiten an das Gewässer niederstieg und dasselbe kühl und dunkel überschattete .
Bald faßte er es mit undurchdringlichen Laubwänden ein , daß wir die überhangenden Zweige zurückbiegen mußten ; bald weitete er sich aus und ließ eine Schar lichter , hoher Tannen auf sonnigem Boden vorrücken ; dann lagen herabgestürzte Felsblöcke am Rande und im Wasser und verursachten Wasserfälle , indessen zurückgebliebene Trümmer aus dem Gebüsche der Abhänge hervorragten ; kleine Seitenwege lockten ins Dunkel , und überall enthüllten sich die lieblichsten Geheimnisse .
Die roten , blauen und weißen Gewänder der Mädchen leuchteten herrlich in dem dunklen Grün , die Vettern sprangen von Stein zu Stein , daß ihre Goldknöpfe aufblitzten und mit den Silberkringeln der Wellen wetteiferten .
Allerhand Getier machte sich sichtbar , hier sahen wir die Federn einer wilden Taube , die unzweifelhaft von einem Raubvogel zerrissen worden , dort schoß eine Schlange durch die Uferwellen über die glatten Kiesel hin , und in einer abgetrennten Untiefe hatte sich eine schimmernde Forelle gefangen , welche mit ihrer Schnauze ängstlich an den abschließenden Steinen herumtastete , bei unserer Annäherung aber einen Sprung machte und im strömenden Elemente verschwand .
So waren wir unbemerkt um den Berg herumgekommen , die holde Wildnis erweiterte sich und ließ mit einem Male den stillen dunkelblauen , mit Silber besprengten See sehen , der mit seiner friedevollen Umgebung im lautlosen Glanze eines Sonntagnachmittages ruhte .
Ein schmaler Streifen bebauter Erde zog sich um den See herum , hinter demselben setzte sich überall der ansteigende Wald fort , welcher aber da und dort wieder ein stilles Ackerfeld bergen mußte , da hier und da ein rotes Dach oder eine blaue Rauchsäule aus dem Dickicht emporstieg .
Nur auf der Sonnenseite lag ein ansehnlicher Weinberg und zu Füßen desselben das Haus des Schulmeisters , dicht am See ; unmittelbar über den obersten Pfahlreihen aber hing der reine tiefe Himmel , und dieser spiegelte sich in dem glatten Wasser , bis wo er durch den gelben Kornstreifen , die Kleefelder und den dahinter liegenden Wald , welche alle sich gänzlich unverändert in der Flut auf den Kopf stellten , begrenzt wurde .
Das Haus war weiß getüncht , das Fachwerk rot angestrichen und die Fensterladen mit großen Muscheln bemalt ; aus den Fenstern wehten weiße Vorhänge , und aus der Haustüre trat , ein zierliches Treppchen herunter , das junge Bäschen , schlank und zart wie eine Narzisse , in einem weißen Kleide , mit goldbraunen Haaren , blauen Äuglein , einer etwas eigensinnigen Stirn und einem lächelnden Munde .
Auf den schmalen Wangen wallte ein Erröten über das andere hin , das feine Glockenstimmchen klang kaum vernehmbar und verhallte alle Augenblicke wieder .
Durch ein duftendes Rosen- und Nelkengärtchen führte uns Anna , nachdem sie sich mit meinen Basen so zärtlich und feierlich begrüßt hatte , als ob sie einander ein Jahrzehnt nicht gesehen , in das vor Reinlichkeit und Aufgeräumtheit widerhallende Haus , wo uns ihr Vater , in einem sauberen grauen Fracke und weißer Halsbinde , in gestickten Pantoffeln einhergehend , herzlich und zufrieden willkommen hieß .
Er hatte den beschaulichen Sonntag über Büchern zugebracht , welche noch auf dem Tische lagen , und mochte nun froh sein , unverhofft eine so hübsche Anzahl Zuhörer für seine Beredsamkeit vor sich zu sehen .
Als ich ihm vorgestellt wurde , schien er sich besonders zu freuen , seine Manieren und gelehrten Reden mit Anerkennung an den Mann bringen zu können , da er mich mitten aus dem blühendsten höheren Schulwesen herkommend vermutete .
Er hatte auch alle Ursache , sich an mich zu halten ; denn schon waren meine Vettern wieder verschwunden , noch ehe der Schulmeister einen Stoff ergriffen , und ich sah , wie sie draußen am Ufer alle drei ihre Köpfe tief in die Öffnung eines Fischkastens steckten , daß man nichts von ihnen sehen konnte als ihre sechs Beine .
Sie untersuchten aufmerksam den Fischbestand ihres Oheims , indessen die Schwestern seinem Töchterchen und einer alten Magd in Küche und Garten gefolgt waren .
Der Schulmeister merkte bald , daß ich ein williger Zuhörer und auf seine Fragen nach Vermögen einzugehen bereit sei .
Nachdem er mich über die neuen Schuleinrichtungen angelegentlich befragt , fuhr er fort : " Aber etwas bunt muß es doch noch zugehen !
Da habe ich eben in der Zeitung gelesen , daß in einer Abteilung unserer Kantonsschule die bekannten Störungen endlich dadurch gehoben worden , daß man den untauglichen Lehrer und den unnützesten Schüler , einen wahren kleinen Revolutionär , zugleich entfernt und dadurch die Ruhe gründlich hergestellt habe .
Daß man nun den Lehrer entlassen hat , scheint mir ganz vernünftig , wenn man ihn nur anderweitig versorgt ; hingegen mit dem Schüler will es mir nicht recht einleuchten ; es will mich bedünken , als ob man demselben damit verdeutet habe Du bist nun außer unsere Gemeinschaft gestellt und magst zusehen , was du aus dir machst !
Dies ist nicht christlich gehandelt , und unser Herr und Meister würde das verirrte Schaf gewiß zunächst unter die Falten seines Mantels genommen haben .
Kennt Ihr , liebes Vettermännchen , den verstoßenen Knaben ? "
Der Mann weckte durch diese Frage die peinvollen Erinnerungen und durch ihre Fassung zugleich eine tiefe Wehmut in mir auf , und ich antwortete kleinlaut , ich wäre es selbst .
Ganz erstaunt trat er einen Schritt zurück und betrachtete mich mit großen Augen ; er war verlegen , einen angehenden Teufel in so harmloser Gestalt so nahe vor sich zu sehen Doch hatte ich ihn schon ein wenig für mich eingenommen , und mein stilles Verhalten mochte ihn belehren , daß er mit seiner vorher ausgesprochenen milden Ansicht nicht das Unrechte getroffen .
" Ich habe mir es doch gleich gedacht " , versetzte er , " daß die Sache ein Häklein habe ; denn ich sehe und will es gern glauben , daß der Vettermann ein junger Mensch ist , mit dem sich ein vernünftiges Wort reden läßt !
Doch erzählt mir nun den Verlauf dieser schlimmen Geschichte recht getreulich , es nimmt mich sehr Wunder , wie sich darin die Schuld und das Unrecht verteilen ! "
Nachdem ich dem freundlichen Schulmeister den ganzen Hergang aufrichtig und weitläufig , zuletzt etwas leidenschaftlich , berichtet , da ich zum ersten Mal seither mein Herz leeren konnte , besann er sich eine Weile , indem er verschiedene Hm ! und Soso ! hervorstieß , und fuhr dann fort :
" Das ist ein ganz eigenes Geschick !
Zuerst müsset Ihr nun Euch nicht überheben und etwa einen hochmütigen Groll auf das Erlittene begründen , welcher Euch für das ganze Leben schädlich sein könnte !
Ihr müsset bedenken , daß Ihr doch das Unrecht und den Mutwillen der übrigen geteilt habt , und Euch hiernach glücklich preisen , daß Ihr in so frühem Alter schon von Gott selbst eine ernste Strafe und Belehrung empfangen ; denn das , was Euch , widerfahren , ist nicht die Gerechtigkeit der Menschen , sondern ein unmittelbares Eingreifen des Herrn der Welt , womit er Euch frühzeitig gewürdigt und gezeigt hat , daß er mit Euch , nicht zu spaßen gedenkt , sondern Euch seine eigenen strengen Wege führen will .
Nachdem Ihr also dieses scheinbare Unglück dankbar und reuevoll angenommen und das vermeintliche Unrecht vergeben und vergessen , müßt Ihr allein darauf bedacht sein , dem Ernste dieses Erlebnisses entsprechend fortzuleben , und gewärtig , daß jede Abweichung von der Bahn der Tugend sich an Euch empfindlicher rächen werde als an anderen , auf daß Ihr dadurch in der Übung des Guten gerade fleißiger und stärker werdet als viele , denen nicht solches geschieht .
Nur auf diese Weise vermag das Ereignis etwas Heilbringendes zu sein ; ohne dies aber würde es nur eine fatale und ärgerliche Geschichte bleiben , mit welcher ein so junges Leben zu beladen nicht die Absicht und das Vergnügen Gottes sein kann .
Freilich ist nun die Wahl eines Berufes das Nächste und Wichtigste , und wer weiß , ob nicht Eure Bestimmung ist , gerade durch diese plötzliche Bedrängnis Euch früher zu entscheiden , als sonst geschehen wäre !
Gewiß habt Ihr schon die Lust zu irgendeinem besonderen Berufe in Euch verspürt ? "
Diese Reden gefielen mir ausnehmend wohl ; obgleich ich den ernsten moralischen Sinn derselben nicht sonderlich faßte , so ergriff ich doch den Gedanken an eine höhere Bestimmung und Leitung Gottes höchst lebendig und dünkte mich glücklich , mich unter dem besonderen Schutze Gottes in meinen Neigungen zu wissen ; es ging mir ein heller Stern auf , und ich sagte unumwunden :
" Ja , ich möchte ein Maler werden ! "
Bei dieser Antwort stutzte mein neuer Freund fast noch mehr als bei dem früheren Geständnisse , weil er in seiner Abgeschiedenheit von allem Verkehre der Welt am wenigsten an dies Wort gedacht hatte .
Doch besann er sich ebenfalls schnell und sprach :
" Ein Maler ?
Ei sieh , das ist seltsam !
Doch lasst sehen !
Es war allerdings eine Zeit , wo es Maler gegeben hat , welche von göttlichem Geiste erfüllt waren , welche den dürstenden Völkern einen Trunk himmlischen Lebens reichten in Ermangelung des lebendigen Wortes , das wir jetzt haben .
Allein so wie schon dazumal diese Kunst nur zu bald ein eitler Flitterkram der hochmütigen Kirche geworden , so scheint sie mir heutzutage vollends ohne inneren Kern und ein bloßes Gebaren der menschlichen Eitelkeit und Fratzenhaftigkeit zu sein .
Ich habe zwar durchaus keine Kenntnis von den Künsten , wie sie jetzt in der Welt praktiziert werden , kann mir aber desto weniger vorstellen , wie sich ein ernsthaftes und geistiges Leben dabei führen läßt !
Habt Ihr denn so große Lust und Geschick , allerlei unnützes Bildwerk zu verfertigen oder wohl gar Menschengesichter für Bezahlung abzubilden ? "
" Zuvörderst will ich ein Landschaftsmaler werden " , erwiderte ich , " und habe dazu allerdings große Lust und hoffe , der liebe Gott werde mir auch das Geschick geben ! "
" Ein Landschaftsmaler ? das heißt , merkwürdige Städte , Gebirge und Weltgegenden abbilden ?
Hm !
Dieses scheint mir nicht so übel zu sein , da lernt man wenigstens die Welt kennen und kommt weit umher ; Länder , Meere und allenfalls auch , die Menschen dazu ; aber dazu gehört besonderer Mut und eigenes Glück , wie mich dünkt , und vor allem soll , meines Erachtens , ein junger Mensch darauf denken , wie er im Lande bleiben und sich redlich nähren , auch seinen Mitbürgern sich nützlich , und seinen Eltern dienstbar erweisen kann ! "
" Die Landschaftsmalerei , die ich im Sinne habe , ist nicht sowohl , was Ihr hiermit darunter versteht , Herr Vetter ! als etwas ganz anderes ! "
" Nun , und das wäre ? "
" Sie besteht nicht darin , daß man merkwürdige und berühmte Orte aufsucht und nachmacht , sondern darin , daß man die stille Herrlichkeit und Schönheit der Natur betrachtet und abzubilden sucht , manchmal eine ganze Aussicht , wie diesen See mit den Wäldern und Bergen , manchmal einen einzigen Baum , ja nur ein Stücklein Wasser und Himmel . "
Da der Vetter hierauf nichts entgegnete , sondern auf eine Fortsetzung zu warten schien , fuhr ich auch fort und geriet nun meinerseits in eine ordentliche Begeisterung und Beredsamkeit hinein .
Der zwischen Sonnenglanz und Waldesschatten schwebende See ruhte majestätisch vor den klaren Fenstern ; von fernem Bergrücken schienen einige schlanke Eichen , die in die himmelhohe Sonntagsluft stiegen , mir zuzuwinken , fern , leise , aber eindringlich ; ich blickte unverwandt nach ihnen wie auf eine höhere Erscheinung , indem ich sprach :
" Warum sollte dies nicht ein edler und schöner Beruf sein , immer und allein vor den Werken Gottes zu sitzen , die sich noch am heutigen Tag in ihrer Unschuld und ganzen Schönheit erhalten haben , sie zu erkennen und zu verehren und ihn dadurch anzubeten , daß man sie in ihrem Frieden wiederzugeben versucht ?
Wenn man nur ein einfältiges Sträuchlein abzeichnet , so empfindet man eine Ehrfurcht vor jedem Zweige , weil derselbe so gewachsen ist und nicht an des nach den Gesetzen des Schöpfers ; wenn man aber erst fähig ist , einen ganzen Wald oder ein weites Feld mit seinem Himmel wahr und treu zu malen , und wenn man endlich dergleichen aus seinem Inneren selbst hervorbringen kann , ohne Vorbild , Wälder , Täler und Gebirgsziege , oder nur kleine Erdwinkel , frei und neu , und doch nicht anders , als ob sie irgendwo entstanden und sichtbar sein müßten , so dünkt mich diese Kunst eine Art wahren Nachgenusses der Schöpfung zu sein .
Da lässt man die Bäume in den Himmel wachsen und darüber die schönsten Wolken ziehen und beides sich in klaren Gewässern spiegeln !
Man spricht Es werde Licht ! und streut den Sonnenschein beliebig über Kräuter und Steine und läßt ihn unter schattigen Bäumen erlöschen .
Man reckt die Hand aus , und es steht ein Unwetter da , welches die braune Erde beängstigt , und läßt nachher die Sonne in Purpur untergehen !
Und dies alles , ohne sich mit schlechten Menschen vertragen zu müssen ; es ist kein Mißton im ganzen Tun ! "
" Gibt es denn eine solche Art der Kunst , und wird sie anerkannt ? " fragte der gute Schulmeister ganz verblüfft .
" Jawohl " , erwiderte ich , " in den Städten , in den Häusern der Vornehmen , da hängen schöne glänzende Gemälde , welche meistens stille grüne Wildnisse vorstellen , so reizend und trefflich gemalt , als sähe man in Gottes freie Natur , und die eingeschlossenen gefangenen Menschen erfrischen ihre Augen an den unschuldigen Bildern und nähren diejenigen reichlich , welche sie zustande bringen ! "
Der Schulmeister trat an das Fenster und schaute etwas überrascht hinaus .
" Also dieser kleine See zum Beispiel , diese meine holdselige Einsamkeit würde ein genugsamer Gegenstand sein für die Kunst , obgleich niemand den Namen kennte , bloß wegen der Milde und Macht Gottes , die sich auch hier offenbart ? "
" Ja gewiß !
Ich hoffe noch , Euch diesen See mit seinem dunklen Ufer , mit dieser Abendsonne so zu malen , daß Ihr mit Vergnügen diesen Nachmittag darin erkennen sollt und selbst sagen müßt , es sei weiter hierzu nichts nötig , um bedeutend zu sein , das heißt , wenn ich ein Maler werden kann und etwas Rechtes lerne ! " setzte ich hinzu .
" Jetzt habe ich alter Mensch wieder etwas Neues gelernt " , sagte mein Vetter gerührt , " es ist doch höchst merkwürdig , in wie vielen Weisen der menschliche Geist sich äußeren kann .
Mir scheint , Ihr seid auf einem guten und frommen Wege , und wenn Ihr ein solches Stück zustande bringen könnt , so möchte es leidlich so verdienstvoll sein als ein gutes geistliches Frühlings- oder Erntelied .
He , ihr Knaben ! " rief er den jungen Fischkennern zu , welche immer noch an ihrem Geschäfte waren , " holt ein Gefäß und sucht ein tüchtiges Gericht Fische aus , Aale , Forellen oder Hechte , daß die Weiber sie backen können ! "
Indessen waren die Mädchen wieder in die Stube gekommen und hatten teilweise unser Gespräch angehört , so daß der redselige Mann nicht verlegen war , auf einen neuen Stoff überzugehen und alle für denselben pflichtig zu machen .
Ich selbst wurde wieder still und ziemlich befangen , da die zierliche Anna ungehört wieder da war und leise mit einer Base flüsterte .
Der Alte sprach nun von der Ernte , von den Weinhoffnungen , von den Baumfrüchten mit den Mädchen , aber alles in einer feinen und salbungsvollen Weise , mir nebenbei manche Aufklärung gebend , wenn er meine Unbekanntschaft mit diesen Dingen voraussetzte .
Ich aber sagte fürder nichts , sondern befand mich glücklich und wohlgemut in der Nähe des lieblichen Mädchens , ohne sie jedoch anzusehen , und nur angenehm berührt , wenn sie einmal ihr Stimmchen erhob .
Ein lieblicher Speiseduft verbreitete sich , zog die Knaben herbei und veranlaßte den Schulmeister , auf ein Zeichen der alten Köchin , zum Aufbruch in das obere Stockwerk aufzufordern .
Dort war ein kleiner , heller und kühler Saal , welcher zwischen seinen ganz geweißten Wänden nichts enthielt als einen länglichen Tisch , Stühle und eine alte Hausorgel .
Der Tisch war gedeckt , wir setzten uns zu einem fröhlichen Abendessen , welches aus den Fischen bestand , so die Vettern mit wenig Bescheidenheit ausgewählt hatten .
Ländliches Backwerk und Früchte und ein milder heller Wein , an der Höhe hinter dem Hause gewachsen , bereicherten das einfache und in seiner Art doch festliche Mal ; der Alte würzte es mit sinnigen Reden , die Jungen scherzten und gaben sich naive Rätsel und Wortspiele auf , und dies alles übergoldete ein gehobener sonntäglicher Ton , anders als ob man zu Hause , und anders als ob man in einer gewöhnlichen Bauernfamilie wäre .
Als wir uns genügsam erfrischt , schritt der Schulmeister zu der Orgel hin und öffnete dieselbe , daß die glänzende Pfeifenreihe zutage trat und das Innere der beiden Flügeltürchen das gemalte Paradies zeigte mit Adam und Eva , Blumen und Tieren .
Er setzte sich davor ; wir mußten uns in einen Kreis um ihn herumstellen , Anna teilte einige alte Musikbücher aus , und nachdem ihr Vater etwas präludiert , sangen wir zu seinem Spiele und Vorsang einige schöne kirchliche Sommerlieder und hernach einen künstlichen Kanon .
Wir sangen in heiterer Freude und aus voller Brust und doch mit Maß und Haltung ; die Dankbarkeit gegen den Augenblick brachte bessere Musik hervor als die strengste Schulprobe , und ich selbst ließ mein inneres Glück unbefangen und frei in den Gesang strömen ; denn dieser Tag war für mich wieder neuer und schöner als alle früheren .
Wenn wir einen Vers geendigt hatten , erklang über den See her , von einer Wand im Walde , ein harmonisch verhallendes Echo , die Orgeltöne und Menschenstimmen verschmelzend zu einem neuen wunderbaren Tone , und zitterte eben aus , indem wir selbst den Gesang wieder anhoben .
An verschiedenen Stellen , in der Höhe und Tiefe , wurden freudige Menschenstimmen wach , welche ihre Lust in die still webenden Lüfte sangen und jauchzten , so daß unser Kanon , mit welchem wir schlossen , sozusagen sich über das ganze Tal verbreitete .
Doch nun mußten wir aufbrechen , da die Sonne sich schon den Bergen näherte ; der Schulmeister entließ uns mit Zufriedenheit und verabschiedete mich mit entschiedenen Zeichen seines Wohlwollens .
Ich mußte ihm versprechen , auf meinen Streifzügen so oft als möglich in sein Tal zu kommen und in seinem Hause meinen Sitz aufzuschlagen , als ob er ebenfalls mein Oheim wäre .
Anna wollte uns noch bis auf die Berghöhe begleiten , und so machten wir uns viel aufgeregter und lauter auf den Weg , als wir gekommen waren .
Die Mädchen , so schon durch ein Nichts , durch die bloße freie Gelegenheit in die höchste Stimmung reiner mutwilliger Lust versetzt , sangen fort und fort mit glänzenden Augen und verlockten uns mitzusingen , indem sie Welt- und Vaterlandslieder anstimmten .
Dazwischen machte sich eine gegenseitige Neckerei mit Herzensangelegenheiten unter den Geschwistern geltend , das ganze süße Geplauder jenes hoffnungsreichen Alters befreite sich aus den offenen Gemütern und umspann alle mit gern gehörten Anspielungen , verstelltem Widerstande und schelmischer Rückantwort .
Nur Anna schien vor den Angriffen sicher zu sein , während sie hie und da einen schüchternen Scherz hinwarf , und ich sagte gar nichts dazu , weil mein Herz voll war von den Begebnissen des Tages .
Wir standen nun auf der Höhe , welche im Glanze der untergehenden Sonne schimmerte ; vor mir schwebte die federleichte , verklärte Gestalt des jungen Mädchens , und neben ihr glaubte ich den lieben Gott lächeln zu sehen , den Freund und Schutzpatron der Landschaftsmaler , als welchen ich ihn heute in dem Gespräche mit dem Schulmeister entdeckt hatte .
Das scheidende Mädchen errötete noch stärker in die Abendröte hinein , als sie zuletzt auch mir die Hand bot .
Wir berührten uns kaum mit den Fingerspitzen und nannten uns höflich Sie ; aber die Vettern lachten uns aus , und die Basen verlangten ernsthaft , daß wir uns mit Du anreden sollten , da hierzulande nichts anderes geduldet würde unter jungen Leuten .
So wechselten wir unsere Taufnamen , verzagt und spröde ; aber der meinige schlüpfte wie ein Flötenton in mein Ohr , und als Anna schnell und ängstlich im Schatten ihrer Bergseite verschwand und wir auf der unsrigen niederstiegen , hatte ich zwei Dinge erworben einen großen und mächtigen Kunstgönner , der unsichtbar über der dämmernden Welt hauste , und ein zartes Frauenbildchen , welches ich unverweilt in meinem Herzen aufzustellen wagte .
CC-BY

Rechtsinhaber*in
Bildungsroman Projekt

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Korpus. Der grüne Heinrich: Teil 1. Der grüne Heinrich: Teil 1. Bildungsromankorpus. Bildungsroman Projekt. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0hg.0