Dritter Band Erstes Kapitel Arbeit und Beschaulichkeit Ich schlief fest und traumlos bis zum Mittag ; als ich erwachte , wehte noch immer der warme Südwind , und es regnete fort .
Ich sah aus dem Fenster und erblickte das Tal auf und nieder , wie Hunderte von Männern am Wasser arbeiteten , um die Wehren und Dämme herzustellen , da in den Bergen aller Schnee schmelzen mußte und eine große Flut zu erwarten war .
Das Flüßchen rauschte schon stark und graugelblich daher ; für unser Haus war gar keine Gefahr , da es an einem sicher abgedämmten Seitenarme lag , der die Mühle trieb ; doch waren alle Mannspersonen fort , um die Wiesen zu schützen , und ich saß mit den Frauensleuten allein zu Tische .
Nachher ging ich auch hinaus und sah die Männer ebenso rüstig und entschlossen bei der Arbeit , als sie gestern die Freude angefaßt hatten .
Sie schafften in Erde , Holz und Steinen , standen bis über die Knie in Schlamm und Wasser , schwangen Äxte und trugen Faschinen und Balken umher , und wenn so acht Mann unter einem schweren langen Baume einhergingen , konnte man glauben , sie hielten wieder einen Aufzug ; doch der Unterschied war gegen gestern , daß man keine Tabakspfeifen sah .
Ich konnte nicht viel helfen und war den Leuten eher im Wege ; nachdem ich daher eine Strecke weit das Wasser hinaufgeschlendert , kehrte ich oben durch das Dorf zurück und sah auf diesem Gange die Tätigkeit auf allen ihren gewohnten Wegen .
Wer nicht am Wasser beschäftigt war , der fuhr ins Holz , um die dortige Arbeit noch schnell abzutun , und auf einem Acker sah ich einen Mann so ruhig und aufmerksam wäre .
Ich schämte mich , allein so müßig und zwecklos umherzugehen , und um nur etwas Entschiedenes zu tun , entschloß ich mich , sogleich nach der Stadt zurückzukehren .
Zwar hatte ich leider nicht viel zu versäumen , und meine ungeleitete haltlose Arbeit bot mir in diesem Augenblicke gar keine lockende Zuflucht , ja sie kam mir schal und nichtig vor ; da aber der Nachmittag schon vorgerückt war und ich durch Kot und Regen in die Nacht hinein wandern mußte , so ließ eine asketische Laune mir diesen Gang als eine Wohltat erscheinen , und ich machte mich trotz aller Einreden meiner Verwandten ungesäumt auf den Weg .
So stürmisch und mühevoll dieser war , legte ich doch die bedeutende Strecke zurück wie einen sonnigen Gartenpfad ; denn in meinem Inneren erwachten alle Gedanken und spielten fort und fort mit dem Rätsel des Lebens wie mit einer goldenen Kugel , und ich war nicht wenig überrascht , mich unversehens in der Stadt zu befinden .
Als ich vor unser Haus kam , merkte ich an den dunklen Fenstern , daß meine Mutter schon schlief ; mit einem heimkehrenden Hausgenossen schlüpfte ich ins Haus und auf meine Kammer , und am Morgen tat meine Mutter die Augen weit auf , als sie mich unerwartet zum Vorschein kommen sah .
Ich bemerkte sogleich , daß in unserer Stube eine kleine Veränderung vorgegangen war .
Ein Lotterbettchen stand an der Wand , welches die Mutter billigen Preises von einem Bekannten gekauft , der es nicht mehr unterzubringen wußte ; es war von der größten Einfachheit , leicht gebaut und nur mit weiß und grünem Stroh überflochten und doch ein ganz artiges Möbel .
Aber auf ihm lag ein ansehnlicher Stoß Bücher , an die fünfzig Bändchen , alle gleich gebunden , mit roten Schildchen und goldenen Titeln auf dem Rücken versehen und durch eine starke vielfache Schnur zusammengehalten .
Es waren Goethes sämtliche Werke , welche ein Trödler , der mich mit alten Büchern und vergilbten Kupferblättern in ein vorzeitiges gelindes Schuldentum zu verlocken pflegte , hergebracht hatte , um sie mir zur Ansicht und zum Verkaufe anzubieten .
Vor einigen Jahren hatte ein deutscher Schreinergeselle , welcher in unserer Stube etwas zurechthämmerte , dabei von ungefähr gesagt :
" Der große Goethe ist gestorben " , und dies Wort klang mir immer wieder nach .
Der unbekannte Tote schritt fast durch alle Beschäftigungen und Anregungen , und überall zog er angeknüpfte Fäden an sich , deren Enden in seiner unsichtbaren Hand verschwanden .
Als ob ich jetzt alle diese Fäden in dem ungeschlachten Knoten der Schnur , welche die Bücher umwand , beisammen hätte , fiel ich über denselben her und begann hastig ihn aufzulösen , und als er endlich aufging , da fielen die goldenen Früchte des achtzigjährigen Lebens auf das schönste auseinander , verbreiteten sich über das Ruhbett und fielen über dessen Rand auf den Boden , daß ich alle Hände voll zu tun hatte , den Reichtum zusammenzuhalten .
Ich entfernte mich von selber Stunde an nicht mehr vom Lotterbettchen und las vierzig Tage lang , indessen es noch einmal Winter und wieder Frühling wurde ; aber der weiße Schnee ging mir wie ein Traum vorüber , den ich unbeachtet von der Seite glänzen sah .
Ich griff zuerst nach allem , was sich durch den Druck als dramatisch zeigte , dann las ich manches Gereimte , dann die Romane , dann die Italienische Reise , und als sich der Strom hierauf in die prosaischen Gefilde des täglichen Fleißes , der Einzelmühe verlief , ließ ich das Weitere liegen und fing von vorn an und entdeckte diesmal die ganzen Sternbilder in ihren schönen Stellungen zueinander und dazwischen einzelne seltsam glänzende Sterne , wie den Reineke Fuchs oder den Benvenuto Cellini .
So hatte ich noch einmal diesen Himmel durchschweift und vieles wieder doppelt gelesen und entdeckte zuletzt noch einen ganz neuen hellen Stern Dichtung und Wahrheit .
Ich war eben mit diesem zu Ende , als der Trödler hereintrat und sich erkundigte , ob ich die Werke behalten wolle , da sich sonst ein anderweitiger Käufer gezeigt habe .
Unter diesen Umständen mußte der Schatz bar bezahlt werden , was jetzt über meine Kräfte ging ; die Mutter sah wohl , daß er mir etwas Wichtiges war , aber mein vierzigtägiges Liegen und Lesen machte sie unentschlossen , und darüber ergriff der Mann wieder seine Schnur , band die Bücher zusammen , schwang den Pack auf den Rücken und empfahl sich .
Es war , als ob eine Schar glänzender und singender Geister die Stube verließen , so daß diese auf einmal still und leer schien ; ich sprang auf , sah mich um und würde mich wie in einem Grabe gedünkt haben , wenn nicht die Stricknadeln meiner Mutter ein freundliches Geräusch verursacht hätten .
Ich machte mich ins Freie ; die alte Bergstadt , Felsen , Wald , Fluß und See und das formenreiche Gebirge lagen im milden Schein der Märzsonne , und indem meine Blicke alles umfaßten , empfand ich ein reines und nachhaltiges Vergnügen , das ich früher nicht gekannt .
Es war die hingebende Liebe an alles Gewordene und Bestehende , welche das Recht und die Bedeutung jeglichen Dinges ehrt und den Zusammenhäng und die Tiefe der Welt empfindet .
Diese Liebe steht höher als das künstlerische Herausstehlen des einzelnen zu eigennützigem Zwecke , welches zuletzt immer zu Kleinlichkeit und Laune führt , sie steht auch höher als das Genießen und Absondern nach Stimmungen und romantischen Liebhabereien , und nur sie allein vermag eine gleichmäßige und dauernde Glut zu geben .
Es kam mir nun alles und immer neu , schön und merkwürdig vor , und ich begann nicht nur die Form , sondern auch den Inhalt , das Wesen und die Geschichte der Dinge zu sehen und zu lieben .
Obgleich ich nicht stracks mit einem solchen fix und fertigen Bewußtsein herumlief , so entsprang das nach und nach Erwachende doch durchaus aus jenen vierzig Tagen , so wie deren Gesamteindrucke noch folgende Ergebnisse ursprünglich zuzuschreiben sind .
Nur die Ruhe in der Bewegung hält die Welt und macht den Mann ; die Welt ist innerlich ruhig und still , und so muß es auch der Mann sein , der sie verstehen und als ein wirkender Teil von ihr sie widerspiegeln will .
Ruhe zieht das Leben an , Unruhe Ruhe verscheucht es ; Gott hält sich mäuschenstill , darum bewegt sich die Welt um ihn .
Für den künstlerischen Menschen nun wäre dies so anzuwenden , daß er sich eher leidend und zusehend verhalten und die Dinge an sich vorüberziehen lassen als ihnen nachjagen soll ; denn wer in einem festlichen Zuge mitzieht , kann denselben nicht so beschreiben wie der , welcher am Wege steht .
Dieser ist darum nicht überflüssig oder müßig , und der Seher ist erst das ganze Leben des Gesehenen , und wenn er ein rechter Seher ist , so kommt der Augenblick , wo er sich dem Zuge anschließt mit seinem goldenen Spiegel , gleich dem achten Könige im Macbeth , der in seinem Spiegel noch viele Könige sehen ließ .
Auch nicht ohne äußere Tat und Mühe ist das Sehen des ruhig Leidenden , gleichwie der Zuschauer eines Festzuges genug Mühe hat , einen guten Platz zu erringen oder zu behaupten .
Dies ist die Erhaltung der Freiheit und Unbescholtenheit unserer Augen .
Ferner ging eine Umwandlung vor in meiner Anschauung vom Poetischen .
Ich hatte mir , ohne zu wissen wann und wie , angewöhnt , alles , was ich in Leben und Kunst als brauchbar , gut und schön befand , poetisch zu nennen , und selbst die Gegenstände meines erwählten Berufes , Farben wie Formen , nannte ich nicht malerisch , sondern immer poetisch , so gut wie alle menschlichen Ereignisse , welche mich anregend berührten .
Dies war nun , wie ich glaube , ganz in der Ordnung , denn es ist das gleiche Gesetz , welches die verschiedenen Dinge poetisch oder der Widerspiegelung ihres Daseins wert macht ; aber in Bezug auf manches , was ich bisher poetisch nannte , lernte ich nun , daß das Unbegreifliche und Unmögliche , das Abenteuerliche und Überschwengliche nicht poetisch ist und daß , wie dort die Ruhe und Stille in der Bewegung , hier nur Schlichtheit und Ehrlichkeit mitten in Glanz und Gestalten herrschen müssen , um etwas Poetisches oder , was gleichbedeutend ist , etwas Lebendiges und Vernünftiges hervorzubringen , mit einem Wort , daß die sogenannte Zwecklosigkeit der Kunst nicht mit Grundlosigkeit verwechselt werden darf .
Dies ist zwar eine alte Geschichte , indem man schon im Aristoteles ersehen kann , daß seine stofflichen Betrachtungen über die prosaisch-politische Redekunst zugleich die besten Rezepte auch für den Dichter sind .
Denn wie es mir scheint , geht alles richtige Bestreben auf Vereinfachung , Zurückführung und Vereinigung des scheinbar Getrennten und Verschiedenen auf einen Lebensgrund , und in diesem Bestreben das Notwendige und Einfache mit Kraft und Fülle und in seinem ganzen Wesen darzustellen , ist Kunst ; darum unterscheiden sich die Künstler nur dadurch von den anderen Menschen , daß sie das Wesentliche gleich sehen und es mit Fülle darzustellen wissen , während die anderen dies wiedererkennen müssen und darüber erstaunen , und darum sind auch alle die keine Meister , zu deren Verständnis es einer besonderen Geschmacksrichtung oder einer künstlichen Schule bedarf .
Ich hatte es weder mit dem menschlichen Wort noch mit der menschlichen Gestalt zu tun und fühlte mich nur glücklich und zufrieden , daß ich auf das bescheidenste Gebiet mit meinen Fuß setzen konnte , auf den irdischen Grund und Boden , auf dem sich der Mensch bewegt , und so in der poetischen Welt wenigstens einen Teppichbewahrer abgeben durfte .
Goethe hatte ja viel und mit Liebe von landschaftlichen Sachen gesprochen , und durch diese Brücke glaubte ich ohne Unbescheidenheit mich ein wenig mit seiner Welt verbinden zu können .
Ich wollte sogleich , anfangen , nun so recht mit Liebe und Aufmerksamkeit die Dinge zu behandeln und mich ganz an die Natur zu halten , nichts Überflüssiges oder Müßiges zu machen und mir bei jedem Striche ganz klar zu sein .
Im Geiste sah ich schon einen reichen Schatz von Arbeiten vor mir , welche alle hübsch , wert- und gehaltvoll aussahen , angefüllt mit zarten und starken Strichen , von denen keiner ohne Bedeutung war .
Ich setzte mich ins Freie , um das erste Blatt dieser vortrefflichen Sammlung zu beginnen ; aber nun ergab es sich , daß ich eben da fortfahren mußte , wo ich zuletzt aufgehört hatte , und daß ich durchaus nicht imstande war , plötzlich etwas Neues zu schaffen , weil ich dazu erst etwas Neues hätte sehen müssen .
Da mir aber nicht ein Blatt eines Meisters zu Gebote stand und die prächtigen Blätter meiner Phantasie sogleich in nichts sich auflösten , wenn ich den Stift auf das Papier setzte , so brachte ich ein trübseliges Gekritzel zustande , indem ich aus meiner alten Weise herauszukommen suchte , welche ich verachtete , während ich sie jetzt sogar nur verdarb .
So quälte ich mich mehrere Tage herum , in Gedanken immer eine gute und sachgemäße Arbeit sehend , aber ratlos mit der Hand .
Es wurde mir Angst und bange , ich glaubte jetzt sogleich verzweifeln zu müssen , wenn es mir nicht gelänge , und seufzend bat ich Gott , mir aus der Klemme zu helfen .
Ich betete noch mit den gleichen kindlichen Worten wie schon vor zehn Jahren , immer das gleiche wiederholend , so daß es mir selbst auffiel , als ich halblaut vor mich hinflüsterte .
Darüber nachsinnend , hielt ich mit der hastigen Arbeit inne und sah in Gedanken verloren auf das Papier .
Zweites Kapitel Ein Wunder und ein wirklicher Meister Da überschattete sich plötzlich der weiße Bogen auf meinen Knien , der vorher von der Sonne beglänzt war ; erschrocken schaute ich um und sah einen ansehnlichen , fremd gekleideten Mann hinter mir stehen , welcher den Schatten verursachte .
Er war groß und schlank , hatte ein bedeutsames und ernstes Gesicht mit einer stark gebogenen Nase und einem sorgfältig gedrehten Schnurrbart und trug sehr feine Wäsche .
In hochdeutscher Sprache redete er mich an :
" Darf man wohl ein wenig Ihre Arbeit besehen , junger Mann ? "
Halb erfreut und halb verlegen hielt ich meine Zeichnung hin , welche er einige Augenblicke aufmerksam besah ; dann fragte er mich , ob ich noch mehr in meiner Mappe bei mir hätte und ob ich wirklicher Künstler werden wollte .
Ich trug allerdings immer einen Vorrat des zuletzt Gemachten mit mir herum , wenn ich nach der Natur zeichnete , um jedenfalls etwas zu tragen , wenn ich einen unergiebigen Tag hatte , und während ich nun die Sachen nach und nach hervorzog , erzählte ich fleißig und zutraulich meine bisherigen Künstlerschicksale ; denn ich merkte sogleich an der Art , wie der Fremde die Sachen ansah , daß er es verstand , wo nicht selbst ein Künstler war .
Dies bestätigte sich auch , als er mich auf meine Hauptfehler aufmerksam machte , die Studie , welche ich gerade vorhatte , mit der Natur verglich und mir an letzterer selbst das Wesentliche hervorhob und mich es sehen lehrte .
Ich fühlte mich überglücklich und hielt mich ganz still , wie jemand , der sich vergnüglich eine Wohltat erzeigen läßt , als er einige Laubpartien auf meinem Papiere mit ihrem Vorbilde zusammenhielt , Licht und Formen klarmachte und auf dem Rande des Blattes mit wenigen mühlosen Meisterstrichen das herstellte , was ich vergeblich gesucht hatte .
Er blieb wohl eine halbe Stunde bei mir , dann sagte er :
" Sie haben vorhin den wackeren Habesaat genannt ; wissen Sie , daß ich vor siebzehn Jahren auch ein dienstbarer Geist in seinem verwünschten Kloster war ?
Ich habe mich aber beizeiten aus dem Staube gemacht und bin seither immer in Italien und Frankreich gewesen .
Ich bin Landschafter , heiße Römer und gedenke mich eine Zeitlang in meiner Heimat aufzuhalten .
Es soll mich freuen , wenn ich ihnen etwas nachhelfen kann ; ich habe manche Sachen bei mir , besuchen Sie mich einmal , oder kommen Sie gleich mit mir nach Hause , wenn_es Ihnen recht ist ! "
Ich packte eilig zusammen und begleitete in feierlicher Stimmung den Mann und mit nicht geringem Stolze .
Ich hatte oft von ihm sprechen gehört ; denn er war eine der großen Sagen des Refektoriums , und Meister Habesaat tat sich nicht wenig darauf zu gut , wenn es hieß , sein ehemaliger Schüler Römer sei ein berühmter Aquarellist in Rom und verkaufe seine Arbeiten nur an Fürsten und Engländer .
Auf dem Wege , solange wir noch im Freien waren , zeigte mir Römer allerlei gute Dinge in der Natur .
Aufmerksam begeistert sah ich hin , wo er mit der Hand fein wegstreichend hindeutete ; ich war erstaunt , zu entdecken , daß ich eigentlich , so gut ich erst kürzlich noch zu sehen geglaubt , noch gar nichts gesehen hatte , und ich staunte noch mehr , das Bedeutende und Lehrreiche nun meistens in Erscheinungen zu finden , die ich vorher entweder übersehen oder wenig beachtet .
Jedoch freute ich mich , leidlich zu verstehen , was mein Begleiter jeweilig meinte , und mit ihm einen kräftigen und doch klaren Schatten , einen milden Ton oder eine zierliche Ausladung eines Baumes zu sehen , und nachdem ich erst einige Male mit ihm spaziert , hatte ich mich bald gewöhnt , die ganze landschaftliche Natur nicht mehr als etwas rund in sich Bestehendes , sondern nur als ein gemaltes Bilder- und Studienkabinett , als etwas bloß vom richtigen Standpunkte aus Sichtbares zu betrachten und in technischen Ausdrücken zu beurteilen .
Als wir in seiner Wohnung anlangten , welche aus ein paar eleganten Zimmern in einem schönen Hause bestand , setzte Römer sogleich seine Mappen auf einen Stuhl vor das Sofa , hieß mich auf dieses neben ihn sitzen und begann die Sammlung seiner größten und wertvollsten Studien eine um die andere umzuwenden und aufzustellen .
Es waren alles umfangreiche Blätter aus Italien , auf starkes grobkörniges Papier mit Wasserfarben gemalt , doch auf eine mir ganz neue Weise und mit unbekannten kühnen und geistreichen Mitteln , so daß sie ebensoviel Schmelz und Duft als Klarheit und Kraft zeigten und vor allem aus in jedem Striche bewiesen , daß sie vor der lebendigen Natur gemacht waren .
Ich wußte nicht , sollte ich über die glänzende und angenehm nahetretende Meisterschaft der Behandlung oder über die Gegenstände mehr Freude empfinden , denn von den mächtigen dunklen Zypressengruppen der römischen Vielen , von den schönen Sabinerbergen bis zu den Ruinen von Pästum und dem leuchtenden Golf von Neapel , bis zu den Küsten von Sizilien mit den zauberhaften hingehauchten , gedichteten Linien , tauchte Bild um Bild vor mir auf mit den köstlichen Merkzeichen des Tages , des Ortes und des Sonnenscheins , unter welchem sie entstanden .
Schöne Klöster und Kastelle glänzten in diesem Sonnenschein an schönen Bergabhängen , Himmel und Meer ruhten in tiefer Bläue oder in heiterem Silberton , und in diesem badete sich die prächtige , edle Pflanzenwelt mit ihren klassisch einfachen und doch so vollen Formen .
Dazwischen sangen und klangen die italischen Namen , wenn Römer die Gegenstände benannte und Bemerkungen über ihre Natur und Lage machte .
Manchmal sah ich über die Blätter hinaus im Zimmer umher , wo ich hier eine rote Fischerkappe aus Neapel , dort ein römisches Taschenmesser , eine Korallenschnur oder einen silbernen Haarpfeil erblickte ; dann sah ich meinen neuen Beschützer aufmerksam und von Grund aus wohlwollend an , seine weiße Weste , seine Manschetten , und erst , wenn er das Blatt umwandte , fuhr mein Blick wieder auf dasselbe , um es noch einmal zu überfliegen , ehe das nächste erschien .
Als wir mit dieser Mappe zu Ende waren , ließ mich Römer noch flüchtig in einige andere blicken , von denen die eine einen Reichtum farbiger Details , die andere eine Unzahl Bleistiftstudien , eine dritte lauter auf das Meer , Schiffahrt und Fischerei Bezügliches , eine vierte endlich verschiedene Phänomene und Farbenwunder wie die Blaue Grotte , außergewöhnliche Wolkenerscheinungen , Vesuvausbrüche , glühende Lavabäche und 50 weiter enthielten .
Dann zeigte er mir noch im anderen Zimmer seine gegenwärtige Arbeit , ein größeres Bild auf einer Staffelei , welches den Garten der Villa d' Este vorstellte .
Dunkle Riesenzypressen ragten aus flatternden Reben und Lorbeerbüschen , aus Marmorbrunnen und blumigen Geländern , an welchen eine einzige Figur , Ariosst , lehnte , in schwarzem ritterlichen Kleide , den Degen an der Seite .
Im Mittelgrunde zogen sich Häuser und Bäume von Tivoli hin , von Duft umhüllt , und darüber hinweg dehnte sich das weite Feld , vom Purpur des Abends übergossen , in welchem am äußersten Horizonte die Beterskuppel auftauchte .
" Genug für heute ! " sagte Römer , " kommen Sie öfter zu mir , alle Tage , wenn Sie Lust haben ; bringen Sie mir Ihre Sachen mit , vielleicht kann ich Ihnen dies und jenes zum Kopieren mitgeben , damit Sie eine leichtere und zweckmäßigere Technik erlangen ! "
Mit der dankbarsten Verehrung verabschiedete ich mich und sprang mehr , als ich ging , nach Hause .
Dort erzählte ich meiner Mutter das glückliche Abenteuer mit den beredtesten Worten und verfehlte nicht , den fremden Herrn und Künstler mit allem Glanz auszustatten , dessen ich habhaft war ; ich freute mich , ihr endlich ein Beispiel rühmlichen Gelingens als einen Trost für meine eigene Zukunft vorführen zu können , besonders da ja Römer ebenfalls aus Herrn Habersaats kümmerlicher Pflanzschule hervorgegangen war .
Allein die siebzehn in der weiten Ferne zugebrachten Jahre , welche zu diesem Gelingen gebraucht worden , leuchteten meiner Mutter nicht sonderlich ein ; auch hielt sie dafür , daß es noch gar nicht ausgemacht wäre , ob der Fremde sich wirklich wohl befinde , indem er als solcher so einsam und unbekannt in seiner Heimat angekommen sei Ich hatte aber ein anderweitiges geheimes Zeichen von der Richtigkeit meiner Hoffnungen , nämlich das plötzliche Erscheinen Römers , unmittelbar nachdem ich gebetet hatte , da ich ungeachtet meines unkirchlichen Rebellentums noch immer ein richtiger Mystosoph war , sobald es sich um mein persönliches Wohl oder Weh handelte .
Hiervon sagte ich aber nichts zu meiner Mutter ; denn erstens war zwischen uns nicht herkömmlich , daß man viel von solchen Dingen sprach ; und dann baute die Mutter wohl fest auf die Hilfe Gottes , aber es würde ihr nicht gefallen haben , wenn ich mich eines so merkwürdigen und theatralischen Falles gerühmt hätte .
Sie war froh , wenn Gott das Brot nicht ausgehen ließ und für schwere Leiden , für Fälle auf Leben und Tod seine Hilfe in Bereitschaft hielt , und sie hätte mich wahrscheinlich ziemlich ironisch zurechtgewiesen ; desto mehr beschäftigte ich mich den Abend hindurch mit dem Vorfalle und muß gestehen , daß ich dabei doch eine zweifelhafte Empfindung hatte .
Ich konnte die Vorstellung eines langen Drahtes nicht unterdrücken , an welchem der fremde Mann auf mein Gebet herbeigezogen sei , während , gegenüber diesem lächerlichen Bilde , mir ein Zufall noch weniger munden wollte , da ich mir sein Ausbleiben nun gar nicht mehr denken mochte .
Seither habe ich mich gewöhnt , dergleichen Glücksfälle , so wie ihr Gegenteil , wenn ich nämlich ein unangenehmes Ereignis als die Strafe für einen unmittelbar vorhergegangenen , bewußten Fehler anzusehen mich immer wieder getrieben fühle , als vollendete Tatsachen einzutragen und Gott dafür dankbar zu sein , ohne mir des genaueren einzubilden , es sei unmittelbar und insbesondere für mich geschehen .
Doch kann ich mich bei jeder Gelegenheit , wo ich mir nicht zu helfen weiß , nicht enthalten , von neuem durch Gebet solche Lösungen anzustreben und für die Zurechtweisungen des Schicksals einen Grund in meinen Fehlern zu suchen und Besserung zu geloben .
Ich wartete ungeduldig einen Tag und ging dann am darauffolgenden mit einer ganzen Last meiner bisherigen Arbeiten zu Römer .
Er empfing mich freundlich zuvorkommend und besah die Sachen mit aufmerksamer Teilnahme .
Dabei gab er mir fortwährend guten Rat , und als wir zu Ende waren , sagte er , ich müßte vor allem die ungeschickte alte Manier , das Material zu behandeln , aufgeben , denn damit ließe sich gar nichts mehr ausrichten .
Nach der Natur sollte ich fleißig vorderhand mit einem weichen Blei zeichnen und für das Haus anfangen , seine Weise einzuüben , wobei er mir gerne behilflich sein wolle .
Auch suchte er mir aus seinen Mappen einige einfache Studien in Bleistift sowie in Farben , welche ich zur Probe kopieren sollte , und als ich hierauf mich empfehlen wollte , sagte er :
" Oh ! bleiben Sie noch ein Stündchen hier , Sie werden den Vormittag doch nichts mehr machen können ; sehen Sie mir ein wenig zu , und plaudern wir ein bißchen ! "
Mit Vergnügen tat ich dies , hörte auf seine Bemerkungen , die er über sein Verfahren machte , und sah zum ersten Mal die einfache , freie und sichere Art , mit der ein Künstler arbeitet .
Es ging mir ein neues Licht auf , und es dünkte mich , wenn ich mich selbst auf meine bisherige Art arbeitend vorstellte , als ob ich bis heute nur Strümpfe gestrickt oder etwas Ähnliches getan hätte .
Rasch kopierte ich die Blätter , die Römer mir mitgab , mit aller Lust und allem Gelingen , welche ein erster Anlauf gibt , und als ich sie ihm brachte , sagte er :
" Das geht ja vortrefflich , ganz gut ! "
An diesem Tage lud er mich ein , da das Wetter sehr schön war , einen Spaziergang mit ihm zu machen , und auf diesem verband er das , was ich in seinem Hause bereits eingesehen , mit der lebendigen Natur , und dazwischen sprach er vertraulich über andere Dinge , Menschen und Verhältnisse , welche vorkamen , bald scharf kritisch , bald scherzend , so daß ich mit einem Male einen zuverlässigen Lehrer und einen unterhaltenden und umgänglichen Freund besaß .
Bald fühlte ich das Bedürfnis , immer und ganz in seiner Nähe zu sein , und machte daher immer häufiger von meiner Freiheit , ihn zu besuchen , Gebrauch , als er eines Tages , nachdem er gründlich und schon etwas strenger eine Arbeit durchgesehen , zu mir sagte :
" Es würde gut für Sie sein , noch eine Zeit ganz unter der Leitung eines Lehrers zu stehen ; es würde mir auch zum Vergnügen und zur Erheiterung gereichen , Ihnen meine Dienste anzubieten ; da aber meine Verhältnisse leider nicht derart sind , daß ich dies ganz ohne Entschädigung tun könnte , wenigstens wenn es nicht durchaus sein muß , so besprechen Sie sich mit Ihrer Frau Mutter , ob Sie monatlich etwas daranwenden wollen .
Ich bleibe jedenfalls einige Zeit hier , und in einem halben Jahre hoffe ich Sie so weit zu bringen , daß Sie später besser vorbereitet und selbst imstande , einigen Erwerbe zu finden , Ihre Reisen antreten könnten .
Sie würden jeden Morgen um acht Uhr kommen und den ganzen Tag bei mir arbeiten . "
Ich wünschte nichts Besseres zu tun und lief eiligst nach Hause , den Vorschlag meiner Mutter zu hinterbringen .
Allein sie war nicht so eilig wie ich und ging , da es sich um Ausgabe einer erklecklichen Summe handelte und ich selbst einen Teil des an Habesaat Bezahlten für verlorenes Geld hielt , erst jenen vornehmen Herrn , bei dem sie schon früher einmal gewesen , um Rat zu fragen ; denn sie dachte , derselbe werde jedenfalls wissen , ob Römer wirklich der geachtete und berühmte Künstler sei , für welchen ich ihn so eifrig ausgab .
Doch man zuckte die Achseln , gab zwar zu , daß er als Künstler talentvoll und in der Ferne renommiert sei ; über seinen Charakter jedoch hüllte man sich ins Unklare , wollte nicht viel Gutes wissen , ohne etwas Näheres angeben zu können , und meinte schließlich , wir sollten uns in acht nehmen .
Jedenfalls sei die Forderung zu groß , unsere Stadt sei nicht Rom oder Paris , auch hielte man dafür , es wäre geratener , die Mittel für meine Reisen aufzusparen und diese desto früher anzutreten , wo ich dann selbst sehen und holen könne , was Römer besäße .
Das Wort Reisen war nun schon wiederholt vorgekommen und war hinreichend , meine Mutter zu bestimmen , jeden Pfennig zur Ausstattung aufzubewahren .
Daher teilte sie mir die bedenklichen Äußerungen mit , ohne zuviel Gewicht auf die den Charakter betreffenden zu legen , welche ich auch mit Entrüstung zunichte machte ; denn ich war schon dagegen gewaffnet , indem ich aus verschiedenen rätselhaften Äußerungen Römers entnommen , daß er mit der Welt nicht zum besten stehe und viel Unrecht erlitten habe .
Ja , es hatte sich schon eine eigene Sprache über diesen Punkt zwischen uns ausgebildet , indem ich mit ehrerbietiger Teilnahme seine Klagen entgegennahm und so erwiderte , als ob ich selbst schon die bittersten Erfahrungen gemacht oder wenigstens zu fürchten hätte , welche ich aber festen Fußes erwarten und dann zugleich mich und ihn rächen wollte .
Wenn Römer hierauf mich zurechtwies und erinnerte , daß ich die Menschen doch nicht besser kennen werde als er , so mußte ich dies annehmen und ließ mich mit wichtiger Miene belehren , wie es anzufangen wäre , sich gehörig zu stellen , ohne daß ich eigentlich wußte , worum es sich handelte und worin jene Erfahrungen denn beständen .
Ich entschloß mich kurz und sagte zur Mutter , ich wolle das Gold , welches in meinem ehemals geplünderten Sparkästchen übriggeblieben , für die Sache opfern .
Hiergegen hatte sie nichts einzuwenden ; ich nahm also die Schaumünze und einige Dukaten , welche dabei waren , und trug alles zu einem Goldschmied , welcher mir den Wert in Silber dafür bezahlte , brachte das Geld zu Römer und sagte , das sei alles , was ich verwenden könnte , und ich wünschte wenigstens vier Monate seines Unterrichtes dafür zu genießen .
Zuvorkommend sagte er , das sei gar nicht so genau zu nehmen !
Da ich tue , was ich könne , wie es einem Kunstjünger gezieme , so wolle er nicht zurückbleiben und ebenfalls tun , was er könne , solange er hier sei , und ich solle nur gleich morgen kommen und anfangen .
So richtete ich mich mit großer Befriedigung bei ihm ein .
Den ersten und zweiten Tag ging es noch ziemlich gemütlich zu ; allein schon am dritten begann Römer einen ganz anderen Ton zu singen , indem er urplötzlich höchst kritisch und streng wurde , meine Arbeit erbarmungslos heruntermachte und mir bewies , daß ich nicht nur noch nichts könne , sondern auch lässig und unachtsam sei .
Das kam mir höchst wunderlich vor ; ich nahm mich ein wenig zusammen , was aber nicht viel Dank einbrachte ; im Gegenteil wurde Römer immer strenger und ironischer in seinem Tadel , den er nicht in die rücksichtsvollsten Ausdrücke faßte .
Da nahm ich mich ernstlicher zusammen , der Tadel wurde ebenfalls ernstlich und fast rührend , bis ich endlich mich ganz zerknirscht und demütig daranmachte , mir bei jedem Striche den Platz , wo er hinsollte , wohl besah , manchmal ihn zart und bedächtig hinsetzte , manchmal nach kurzem Erwägen plötzlich wie einen Würfel auf gut Glück hinwarf und endlich alles genauso zu machen suchte , wie Römer es verlangte .
So erreichte ich endlich etwelches Fahrwasser , auf welchem ich ganz still dem Ziele einer leidlichen Arbeit zusteuerte .
Der Fuchs merkte aber meine Absicht und erschwerte mir unversehens die Aufgaben , so daß die Not von neuem anging und die Kritik meines Meisters schöner blühte denn je .
Wiederum steuerte ich endlich nach vieler Mühe einer angehenden Tadellosigkeit entgegen und wurde nochmals durch ein erschwertes Ziel zurückgeworfen , statt daß ich , wie ich gehofft , ein Weilchen auf den Lorbeeren einer erreichten Stufe ausruhen konnte .
So erhielt mich Römer einige Monate in großer Unterwürfigkeit , wobei jedoch die mystischen Gespräche über die bitteren Erfahrungen und über dies und jenes fortdauerten , und wenn die Tagesarbeit geschlossen war oder auf unseren Spaziergängen blieb unser Verkehr der alte .
Dadurch entstand eine seltsame Weise , indem Römer mitten in einer traulichen und tiefsinnigen Unterhaltung mich jählings andonnerte :
" Was haben Sie da gemacht !
Was soll denn das sein !
O Herr Jesus !
Haben Sie Ruß in den Augen ? " so daß ich plötzlich still wurde und voll Ingrimm über ihn und mich selbst meine Arbeit mit verzweifelter Aufmerksamkeit wieder aufnahm .
So lernte ich endlich die wahre Arbeit und Mühe kennen , ohne daß sie mir lästig wurde , da sie in sich selbst den Lohn der immer neuen Erholung und Verjüngung trägt , und ich sah mich in den Stand gesetzt , eine große Studie Römers , welche schon mehr ein Bild zu nennen war , vornehmen zu dürfen und so zu kopieren , daß mein Lehrer erklärte , es sei nun genug in dieser Richtung , ich würde ihm sonst seine ganzen Mappen nachzeichnen ; dieselben seien sein einziges Vermögen , und er wünsche bei aller Freundschaft doch nicht , eine förmliche Dublette in anderen Händen zu wissen .
Durch diese Beschäftigung war ich wunderlicherweise im Süden weit mehr heimisch geworden als in meinem Vaterlande .
Da die Sachen , nach welchen ich arbeitete , alle unter freiem Himmel und sehr trefflich gemacht waren , auch die Erzählungen und Bemerkungen Römers fortwährend meine Arbeit begleiteten , so verstand ich die südliche Sonne , jenen Himmel und das Meer beinahe , wie wenn ich sie gesehen hätte .
Einen besonderen Reiz gewährten mir die Trümmer griechischer Baukunst , welche sich da und dort fanden .
Ich empfand wieder Poesie , wenn ich das sonnige Marmorgebälk eines dorischen Tempels vom blauen Himmel abheben mußte .
Die horizontalen Linien an Architrav , Fries und Kranz sowie die Kannelierungen der Säulen mußten mit der zartesten Genauigkeit , mit wahrer Andacht , leis und doch sicher und elegant hingezogen werden ; die Schlagschatten auf diesem goldenen edlen Gestein waren rein blau , und wenn ich den Blick fortwährend auf dies Blau gerichtet hatte , so glaubte ich zuletzt wirklich einen leibhaften Tempel zu sehen .
Jede Lücke im Gebälk , durch welche der Himmel schaute , jede Scharte an den Kannelierungen war mir heilig , und ich hielt genau ihre kleinsten Formen fest .
Im Nachlasse meines Vaters fand sich ein Werk über Architektur , in welchem die Geschichte und Erklärung der alten Baustile nebst guten Abbildungen mit allem Detail enthalten waren .
Dies zog ich nun hervor und studierte es begierig , um die Trümmer besser zu verstehen und ihren Wert ganz zu kennen .
Auch erinnerte ich mich der Italienischen Reise von Goethe , welche ich gelesen ; Römer erzählte mir viel von den Menschen und Sitten und der Vergangenheit Italiens .
Er las fast keine Bücher als die deutsche Übersetzung von Homer und einen italienischen Ariosst .
Den Homer forderte er mich auf zu lesen , und ich ließ mir dies nicht zweimal sagen .
Im Anfange wollte es nicht recht gehen , ich fand wohl alles schön , aber das Einfache und Kolossale war mir noch zu ungewohnt , und ich vermochte nicht lange nacheinander auszuhalten .
Aber Römer machte mich aufmerksam , wie Homer in jeder Bewegung und Stellung das einzig Nötige und Angemessene anwende , wie jedes Gefäß und jede Kleidung , die er beschreibe , zugleich das Geschmackvollste sei , was man sich denken könne , und wie endlich jede Situation und jeder moralische Konflikt bei ihm bei aller fast kindlichen Einfachheit von der gewähltesten Poesie getränkt sei .
" Da verlangt man heutzutage immer nach dem Ausgesuchten , Interessanten und Pikanten und weiß in seiner Stumpfheit gar nicht , daß es gar nichts Ausgesuchteres , Pikanteres und ewig Neues geben kann s so einen homerischen Einfall in seiner einfachen Klassizität !
Ich wünsche Ihnen nicht , lieber Lee , daß Sie jemals die ausgesuchte pikante Wahrheit in der Lage des Odysseus , wo er nackt und mit Schlamm bedeckt vor Nausikaa und ihren Gespielen erscheint , so recht aus Erfahrung empfinden lernen !
Wollen Sie wissen , wie dies zugeht ?
Halten wir das Beispiel einmal fest !
Wenn Sie einst getrennt von ihrer Heimat und allem , was ihnen lieb ist , in der Fremde umherschweifen , und Sie haben viel gesehen und viel erfahren , haben Kummer und Sorge , sind wohl gar elend und verlassen so wird es ihnen des Nachts unfehlbar träumen , daß Sie sich ihrer Heimat nähern ; Sie sehen sie glänzen und leuchten in den schönsten Farben ; holde , feine und liebe Gestalten treten Ihnen entgegen ; da entdecken Sie plötzlich , daß Sie zerfetzt , nackt und staubbedeckt einhergehen ; eine namenlose Scham und Angst faßt Sie , Sie suchen sich zu bedecken , zu verbergen und erwachen in Schweiß gebadet .
Dies ist , solange es Menschen gibt , der Traum des kummervollen umhergeworfenen Mannes , und so hat Homer jene Lage aus dem tiefsten und ewigen Wesen der Menschheit herausgenommen ! "
Inzwischen war es gut , daß das Interesse Römers , hinsichtlich des Kopierens seiner Sammlungen , sich mit dem meinigen vereinigte ; denn als ich nun , gemäß seiner Aufforderung , mich wieder vor die Natur hinsetzte , erwies es sich , daß ich Gefahr lief , meine ganze Kopierfertigkeit und mein italienisches Wissen zu einer wunderlichen Fiktion werden zu sehen .
Es kostete mich die größte Beharrlichkeit und Mühe , ein nur zum zehnten Teile so anständiges Blatt zuwege zu bringen , als meine Kopien waren ; die ersten Versuche mißlangen fast gänzlich , und Römer sagte schadenfroh :
" Ja , mein Lieber , das geht nicht so rasch !
Ich habe es wohl gedacht , daß es so kommen würde ; nun heißt es auf eigenen Füßen stehen oder vielmehr mit eigenen Augen sehen !
Eine gute Studie leidlich kopieren , will nicht soviel heißen !
Glauben Sie denn , man läßt sich ohne weiteres für andere die Sonne auf den Buckel zünden ? " und so fort .
Nun begann der ganze Krieg des Tadels gegen das Bemühen , demselben zuvorzukommen und ihm boshafte Streiche zu spielen , von neuem ; Römer ging mit hinaus und malte selbst , so daß er mich immer unter seinen Augen hatte .
Es war hier nicht geraten , die Torheiten und Flausen zu wiederholen , die ich unter Herrn Habesaat gespielt hatte , da Römer durch Steine und Bäume zu sehen schien und jedem Striche anmerkte , ob derselbe gewissenhaft sei oder nicht .
Er sah es jedem Aste an , ob er zu dick oder zu dünn sei , und wenn ich meinte , der Ast könnte ja am Ende so gewachsen sein , so sagte er :
" Lassen Sie das gut sein !
Die Natur ist vernünftig und zuverlässig ; übrigens kennen wir solche Finessen wohl !
Sie sind nicht der erste Hexenmeister , welcher der Natur und seinem Lehrer ein X für ein U machen will ! "
Drittes Kapitel Anna Weil ich die mir durch den Aufenthalt Römers zugemessene Zeit wohl benutzen mußte , so konnte ich nicht daran denken , das Dorf zu besuchen , obschon ich verschiedene Grüße und Zeichen von daher erhalten hatte .
Um so fleißiger dachte ich an Anna , wenn ich arbeitete und die grünen Bäume leise um mich rauschten .
Ich freute mich für sie meines Lernens und daß ich in diesem Jahre so reich an Erfahrung geworden gegen das frühere Jahr ; ich hoffte einigen wirklichen Wert dadurch erhalten zu haben , der in ihren Augen für mich spräche und in ihrem Hause die Hoffnung begründe , die ich selbst für mich zu hegen mir erlaubte .
Der Herbst war gekommen , und als ich eines Mittags zum Essen nach Hause ging und in unsere Stube trat , sah ich auf dem Ruhbettchen einen schwarzseidenen Mantel liegen .
Freudig betroffen eilte ich auf denselben zu , hob das leichte angenehme Ding in die Höhe und untersuchte es von allen Seiten .
Ich eilte damit in die Küche , wo ich die Mutter beschäftigt fand , ein besseres Essen als gewöhnlich zu bereiten .
Sie verkündigte mir die Ankunft des Schulmeisters und seiner Tochter , fügte aber sogleich mit besorgtem Ernst bei , daß leider dieselben nicht zum Vergnügen gekommen wären , sondern um einen berühmten Arzt zu besuchen .
Während die Mutter in die Stube ging und den Tisch deckte , deutete sie mir mit einigen Worten an , daß sich bei Anna seltsame und beängstigende Anzeichen eingestellt hätten , der Schulmeister sehr bekümmert sei und sie , die Mutter , selbst nicht minder ; denn nach der ganzen Erscheinung des armen Mädchens könne es sich ereignen , daß das zarte Wesen nicht alt werde .
Ich saß auf dem Ruhbette , hielt den Mantel fest in meinen Händen und hörte ganz verwundert auf diese Worte , die mir so unerwartet und fremd klangen , daß sie mir mehr merkwürdig als erschreckend vorkamen .
In diesem Augenblicke ging die Tür auf , und die ebenso geliebten als wahrhaft geehrten Gäste traten herein .
Überrascht stand ich auf und ging ihnen entgegen , und erst als ich Anna die Hand geben wollte , sah ich , daß ich immer noch ihren Mantel hielt .
Sie errötete und lächelte zugleich , während ich verlegen dastand ; der Schulmeister warf mir vor , daß ich mich den ganzen Sommer über nie sehen lassen , und so vergaß ich über diesen Begrüßungen die Mitteilung der Mutter , an welche mich auch nichts Auffallendes erinnerte .
Erst als wir am Tische saßen , wurde ich durch eine gewisse vermehrte Liebe und Aufmerksamkeit , mit welcher meine Mutter Anna behandelte , gemahnt und glaubte jetzt nur zu sehen , daß sie gegen früher fast größer , aber auch zugleich zarter und schmächtiger erschien ; ihre Gesichtsfarbe war wie durchsichtig geworden , und um ihre Augen , welche erhöht glänzten , bald in dem kindlichen Feuer früherer Tage , bald in einem träumerischen tiefen Nachdenken , lag etwas Leidendes .
Sie war heiter und sprach ziemlich viel , während ich schwieg , hörte und sie ansah ; auch der Schulmeister war heiter und ganz wie sonst ; denn bei den Schicksalen und Leiden , welche uns Angehörige betreffen , benehmen wir uns nicht lamentabel , sondern fast vom ersten Augenblicke an mit der gleichen Gefaßtheit , mit dem gleichen Wechsel von Hoffnung , Furcht und Selbsttäuschung wie die Betroffenen selbst .
Doch ermahnte er jetzt seine Tochter , nicht zuviel zu sprechen , und mich fragte er , ob ich die Ursache der kleinen Reise schon kenne , und setzte hinzu : " Ja , lieber Heinrich ! meine Anna scheint krank werden zu wollen !
Doch laßt uns den Mut nicht verlieren !
Der Arzt hat ja gesagt , daß vorderhand nicht viel zu sagen und zu tun wäre .
Er hat uns einige Verhaltungsregeln gegeben und anbefohlen , ruhig zurückzukehren und dort zu leben , anstatt hierher zu ziehen , da die dortige Luft angemessener sei .
Für unseren Doktor will er uns einen Brief mitgeben und von Zeit zu Zeit selbst hinauskommen und nachsehen . "
Ich wußte hierauf rein nichts zu erwidern noch meine Teilnahme zu bezeugen ; vielmehr wurde ich ganz rot und schämte mich nur , nicht auch krank zu sein .
Anna hingegen sah mich bei den Worten ihres Vaters lächelnd an , als ob sie Mitleid mit mir hätte , so peinliche Dinge hören zu müssen .
Nach dem Essen verlangte der Schulmeister , von meinen Beschäftigungen zu wissen und etwas zu sehen ; ich brachte eine wohlgefüllte Mappe herbei und erzählte von meinem Meister ; doch verweilte er nicht lang dabei , sondern machte sich bereit , einige Gänge zu tun und Einkäufe zu besorgen .
Meine Mutter begleitete ihn , und ich blieb allein mit Anna zurück .
Sie fuhr fort , meine Sachen aufmerksam zu beschauen ; auf dem Ruhbett sitzend , ließ sie sich alles von mir vorlegen und erklären .
Während sie auf meine Landschaften sah , blickte ich auf sie nieder , manchmal mußte ich mich beugen , manchmal hielten wir ein Blatt zusammen in den Händen lange Zeit , doch ereignete sich sonst gar nichts Zärtliches zwischen uns ; denn während sie für mich nun wieder ein anderes Wesen war und ich mich scheute , sie nur von ferne zu verletzen , häufte sie alle Äußerungen der Freude und der Aufmerksamkeit allein auf meine Arbeiten und wollte sich nicht von denselben trennen , während sie mich selbst nur wenig ansah .
Plötzlich sagte sie :
" Unsere Tante im Pfarrhaus läßt dir sagen , du sollest mit uns sogleich hinausfahren , sonst sei sie böse !
Willst du ? "
Ich erwiderte : " Ja , jetzt kann ich schon ! " und setzte hinzu :
" Was fehlt dir denn eigentlich ? "
- " Ach , ich weiß es selbst nicht , ich bin immer müde und leide manchmal ein wenig ; die anderen machen mehr daraus als ich selbst ! "
Meine Mutter und der Schulmeister kamen zurück ; neben den fremdartigen pharmazeutischen Paketen , die er mit einem verstohlenen Seufzer auf den Tisch legte , brachte er einige Geschenke für Anna mit , gute Kleiderstoffe , einen großen warmen Schal und eine goldene Uhr , als ob er mit diesen kostbaren und auf die Dauer berechneten Sachen eine günstige Wendung des Geschickes erzwingen wollte .
Als Anna darüber erschrak , sagte er , sie habe die Dinge schon lange verdient und das bißchen Geld hätte gar keinen Wert für ihn , wenn er nicht ihr eine kleine Freude dadurch verschaffen könnte .
Er zeigte sich zufrieden , daß ich mitfahre ; meine Mutter sah es auch gern und legte mir einige Sachen zurecht , indessen ich das Gefährte aus dem Gasthause holte , wo es eingestellt war .
Anna sah allerliebst aus , als sie wohlvermummt und verschleiert dem Schulmeister zur Seite saß .
Ich nahm den Vordersitz und hatte das Leitseil des gutgenährten Pferdes ergriffen , das schon ungeduldig scharrte ; die Mutter machte sich noch lange am Wagen zu schaffen und wiederholte dem Schulmeister ihre Anerbietungen zu jeglicher Hilfe und , wenn es notwendig würde , hinzukommen und Anna zu pflegen ; die Nachbaren steckten die Köpfe aus den Fenstern und vermehrten mein Selbstbewußtsein , als ich endlich mit meiner liebenswürdigen und anmutigen Gesellschaft die enge Straße entlangfuhr .
Es glänzte ein sonniger Herbstnachmittag auf dem Lande .
Wir fuhren durch Dörfer und Felder , sahen die Gehölze und Anhöhen im zarten Dufte liegen , hörten die Jägerhörnchen in der Ferne , begegneten überall zahlreichem Fuhrwerke , welches den Herbstsegen einbrachte ; hier machten die Leute die Gefäße zur Weinlese zurecht und bauten große Kufen , dort standen sie reihenweise auf den Äckern und hoben die Wurzelfrüchte aus ; anderswo wieder pflügten sie die Erde um , und die ganze Familie war dabei versammelt , von der Herbstsonne hinausgelockt ; überall war es lebendig und zufrieden bewegt .
Die Luft war so mild , daß Anna ihren grünen Schleier zurückschlug und ihr liebliches Gesicht zeigte .
Wir vergaßen alle drei , warum wir eigentlich auf diesen Wegen fuhren ; der Schulmeister war gesprächig und erzählte uns viele Geschichten von den Gegenden , durch welche wir kamen , zeigte uns die Wohnungen , wo berühmte Männer hausten , deren wohlgeordnete saubere Hofstätten die weise Klugheit ihrer Besitzer verkündeten .
Da und dort wohnte eine hübsche Tochter oder deren zwei , von denen etwas zu erblicken wir im Vorüberfahren uns bemühten , und wenn dies gelang , so grüßte Anna mit dem bescheidenen Anstande derjenigen , welche selbst Blumen des Landes sind .
Doch dunkelte es eine geraume Weile , ehe wir ans Ziel gelangten , und mit der Dunkelheit fiel es mir plötzlich ein , daß ich Judith das Versprechen gegeben , sie jedesmal zu besuchen , wenn ich ins Dorf käme .
Anna hatte sich wieder verhüllt , ich saß nun neben ihr , da der Schulmeister , welcher die Wege besser kannte , die Zügel genommen ; und weil wir der Dunkelheit wegen nun schweigsamer waren , so hatte ich Zeit , darüber nachzudenken , was ich tun wollte .
Je untunlicher es mir schien , mein Versprechen zu halten , je weniger ich das Wesen , welches ich mir zur Seite fühlte und das sich nun sanft an mich lehnte , auch nur in Gedanken beleidigen mochte , desto dringender wurde auf der anderen Seite die Überzeugung , daß ich am Ende doch mein Wort nicht brechen dürfe , da mich Judith nur im Vertrauen auf dasselbe in jener Nacht entlassen , und ich zögerte nicht , mir einzubilden , daß der Wortbruch sie kränken und ihr weh tun würde .
Ich mochte um alles in der Welt gerade vor ihr nicht unmännlich als einer erscheinen , welcher aus Furcht ein Versprechen gäbe und aus Furcht dasselbe bräche .
Da fand ich einen sehr klugen Ausweg , wie ich dachte , der mich wenigstens vor mir selbst rechtfertigen sollte .
Ich brauchte nur bei dem Schulmeister zu wohnen , so war ich nicht im Dorfe , und wenn ich am Tage dieses besuchte , so mußte ich Judith nicht sehen , welche sich nur meinen nächtlichen und geheimen Besuch während eines Aufenthaltes im Dorfe ausbedungen hatte .
Als wir daher in des Schulmeisters Haus ankamen und dort die Muhme mit einem Sohne und zwei Töchtern vorfanden , welche uns erwarteten und mich mit dem Fuhrwerk gleich mitnehmen wollten , erklärte ich unversehens , hierbleiben zu wollen , und die alte Katherine eilte , mir ein Unterkommen zu bereiten , indessen Anna , die ganz ermüdet und angegriffen war und von Husten befallen wurde , sich sogleich zu Bett begeben mußte .
Sie führte mich an einen artig eingerichteten Tisch , auf welchem ihre Bücher und Arbeitssachen , auch Papier und Schreibzeug lagen , setzte Licht darauf und sagte lächelnd :
" Mein Vater bleibt alle Abend bei mir , bis ich eingeschlafen bin , und liest mir manchmal etwas vor .
Hier kannst du dich vielleicht so lange beschäftigen .
Sieh , hier mache ich etwas für dich ! " und sie zeigte mir eine Stickerei zu einer kleinen Mappe , welche sie nach jener Blumenzeichnung verfertigte , die ich vormehre Ren Jahren in der Weinlaube gemacht und ihr geschenkt hatte .
Das naive Bild hing über ihrem Tische .
Dann gab sie mir die Hand und sagte wehmütig leise und doch so freundlich : " Gut ' Nacht ! " und ich sagte ebenso leise : " Gut ' Nacht ! "
Einige Augenblicke nachher , als sie gegangen , kam der Schulmeister herein , und ich sah , daß er ein schön eingebundenes Andachtsbuch mitnahm , als er sich wieder entfernte , um in Annas Zimmer zu gehen .
Ich hingegen beschaute alle Sächelchen , welche auf dem Tische lagen , spielte mit ihrer Schere und konnte mir gar nicht ernstlich denken , daß irgendeine Gefahr für Anna sein sollte .
Viertes Kapitel Judith Da ich in dem Hause meines Liebchens zu Gaste war , so erwachte ich am Morgen sehr früh , noch ehe eine Seele sich regte .
Ich machte das Fenster auf und sah lange auf den See hinaus , dessen waldige Uferhöhen vom Morgenrote beglänzt lagen , indessen der späte Mond noch am Himmel stand und sich ziemlich kräftig im dunklen Wasser spiegelte .
Ich sah ihn nach und nach erbleichen vor der Sonne , welche nun die gelben Kronen der Bäume vergoldete und einen zarten Schimmer über den erblauenden See warf .
Zugleich aber begann die Luft sich wieder zu verhüllen , ein leiser Nebel zog sich erst wie ein Silberschleier um alle Gegenstände , und indem er ein glänzendes Bild um das andere auslöschte , daß sich rings ein Reigen von aufleuchtendem Scheiden und Verschwinden bewegte , wurde der Nebel plötzlich so dicht , daß ich nur noch das Gärtchen vor mir sehen konnte , und zuletzt verhüllte er auch dieses und drang feucht an das Fenster .
Ich schloß dieses zu , trat aus der Kammer und fand die alte Katherine in der Küche an dem traulichen hellen Feuer .
Ich plauderte lange mit ihr ; sie ergoß sich in zärtlichen Klagen über Annas bedenklichen Zustand , berichtete mir , seit wann derselbe begonnen , ohne daß ich jedoch über seine eigentliche Beschaffenheit klar wurde , da sie sich mancher dunklen und geheimnisvollen Anspielung bediente .
Dann begann sie mit rührender , aber ganz trefflicher Beredsamkeit das Lob Annas zu verkünden und ihr bisheriges Leben zu beschauen bis in die Kinderjahre zurück , und ich sah deutlich vor mir das dreijährige Engelchen umherspringen , in genau beschriebener Kleidung , aber freilich auch ein frühes und leidenvolles Krankenlager , auf welches das kleine Wesen dann jahrelang gelegt wurde , so daß ich nun ein schlohweißes , länglichgestrecktes Leichnamchen erblickte , mit geduldigem , klugem und immer lächelndem Angesicht .
Doch das kranke Reis erholte sich , der wunderbare Ausdruck der durch das Leiden hervorgebrachten frühen Weisheit verschwand wieder in seine unbekannte Heimat , und ein rosig unbefangenes Kind blühte , als ob nichts vorgefallen wäre , der Zeit entgegen , wo ich es zuerst sah .
Endlich zeigte sich der Schulmeister , welcher , da seine Tochter nun des Morgens im Bette bleiben mußte und länger schlief als sonst , sich des frühen Aufstehens auch nicht mehr freute und in seiner Zeiteinteilung ganz nach derjenigen seines kranken Kindes richtete .
Nach einer guten Weile erschien auch Anna und nahm ihr besonders vorgeschriebenes Frühstück , indessen wir das gewöhnliche verzehrten .
Es verbreitete sich dadurch eine gewisse Wehmut über den Tisch , welche nach und nach in eine ernste Beschaulichkeit überging , als wir drei sitzen blieben und uns unterhielten .
Der Schulmeister nahm ein Buch , die Nachfolge Christi von Thomas a Kempis , und las einige Seiten daraus vor , indessen Anna ihre Stickerei vornahm .
Dann hob ihr Vater über das Gelesene ein Gespräch an und suchte mich an demselben zu beteiligen und nach der herkömmlichen Weise meine Urteilskraft : zu prüfen , zu milderen und zu gemeinsamer Erbauung auf einen belehrenden Vereinigungspunkt zu lenken .
Aber ich hatte durch den letzten Sommer die Lust an solchen Erörterungen fast gänzlich verloren , mein Blick war auf sinnliche Erscheinung und Gestalt gerichtet , und selbst die rätselhaften Betrachtungen über die Erfahrungen , die ich mit Römer anstellte , gingen in einem durchaus weltlichen Sinne vor sich .
Außerdem fühlte ich , daß ich nun die größte Rücksicht auf Anna nehmen mußte , und als ich bemerkte , daß sie sogar froh schien , mich hier eingefangen und einem angehenden Bekehrungswerke preisgegeben zu sehen , hütete ich mich , einen Widerspruch zu äußeren , gab denjenigen Stellen , welche eine Wahrheit enthielten oder tief , schön und kraftvoll ausgedrückt waren , meinen aufrichtigen Beifall ; oder ich überließ mich einer reizenden Muße , die schönen Farben an Annas Seidenknäulchen beschauend .
Sie hatte wohl ausgeruht und schien ziemlich munter zu sein , so daß kein großer Unterschied gegen ihr früheres Wesen während des Tages bemerkbar war .
Das machte mich so froh , daß ich aufbrach , um am hellen Tage , vor Judith sicher , ins Pfarrhaus zu gelangen und von da zurückzukehren .
Als ich in den dichten Nebel hinausging , war ich sehr guter Dinge und mußte lachen über meine seltsame List , zumal das verborgene Wandeln in der grau verhüllten Natur meinen Gang einem Schleichwege noch völlig ähnlich machte .
Ich ging über den Berg und gelangte bald zum Dorfe ; doch verfehlte ich hier des Nebels wegen die Richtung und sah mich in ein Netz von schmalen Garten- und Wiesenpfaden versetzt , welche bald zu einem entlegenen Hause , bald wieder gänzlich zum Dorfe hinausführten .
Ich konnte nicht vier Schritte weit sehen ; Leute hörte ich immer , ohne sie zu erblicken , aber zufälligerweise traf ich niemanden auf meinen Wegen .
Da kam ich zu einem offenstehenden Pförtchen und entschloß mich , hindurchzugehen und alle Gehöfte gerade zu durchkreuzen , um endlich wieder auf die Hauptstraße zu kommen .
Ich geriet in einen prächtigen großen Baumgarten , dessen Bäume alle voll der schönsten reifen Früchte hingen .
Man sah aber immer nur einen Baum ganz deutlich , die nächsten standen schon halb verschleiert im Kreise umher , und dahinter schloß sich wieder die weiße Wand des Nebels .
Plötzlich sah ich Judith mir entgegenkommen , welche einen großen Korb mit Äpfeln gefüllt in beiden Händen vor sich her trug , daß von der kräftigen Last die Korbweiden leise knarrten .
Das Einsammeln des Obstes war fast die einzige Arbeit , der sie sich mit Liebe und Eifer hingab .
Sie hatte ihr Kleid des nassen Grases wegen etwas aufgeschürzt und zeigte die schönsten Füße ; ihr Haar war von Feuchte schwer und die Wange von der Herbstluft mit reinem Purpur gerötet .
So kam sie gerade auf mich zu , auf ihren Korb blickend , sah mich plötzlich , stellte erst erbleichend den Korb zur Erde und eilte dann mit den Zeichen der herzlichsten und aufrichtigsten Freude herbei , fiel mir um den Hals und drückte mir ein halbes Dutzend Küsse auf die Lippen .
Ich hatte Mühe , dies nicht zu erwidern , und rang mich endlich von ihrer Brust los .
" Sieh , sieh !
du gescheites Bürschchen ! " sagte sie froh lachend , " du bist heute gekommen und machst dir gleich den Nebel zunutze , mich noch vor Nacht heimzusuchen ; das hätte ich dir nicht einmal zugetraut ! "
- " Nein " , erwiderte ich , zur Erde blickend , " ich bin gestern gekommen und wohne beim Schulmeister , weil Anna krank ist .
Unter diesen Umständen kann ich jedenfalls nicht zu Euch kommen ! "
Judith schwieg eine Weile , die Arme übereinandergeschlagen , und sah mich klug und durchdringend an , daß mein Blick in die Höhe gezogen und auf den ihrigen gerichtet wurde .
" Das wäre allerdings noch gescheiter , als wie ich es meinte " , sagte sie endlich , " wenn es dir nur etwas helfen würde !
Doch weil unser armes Schätzchen krank ist , so will ich billig sein und unsere Übereinkunft abändern .
Der Nebel wird sich wenigstens eine Woche lang täglich mehrere Stunden auf dieselbe Weise zeigen Wenn du jeden Tag zu mir kommst , so will ich dich für die Nacht deiner Pflicht entbinden und dir zugleich versprechen , dich nie zu liebkosen und dich selbst zurechtzuweisen , wenn du es tun wolltest ; nur mußt du mir jedesmal auf ein und dieselbe Frage ein einziges Wörtchen antworten , ohne zu lügen ! "
- " Welche Frage ? " sagte ich .
" Das wirst du schon sehen ! " erwiderte sie ; " komme , ich habe schöne Äpfel ! "
Sie ging mir voran zu einem Baume , dessen Äste und Blätter edler gebaut schienen als die der übrigen , stieg auf einer Leiter einige Sprossen hinan und brach einige schön geformte und gefärbte Äpfel .
Einen davon , der noch im feuchten Dufte glänzte , bis sie mit ihren weißen Zähnen entzwei , gab mir die abgebissene Hälfte und fing an , die andere zu essen .
Ich aß die meinige ebenfalls und rasch ; sie war von der seltensten Frische und Gewürzigkeit , und ich konnte kaum erwarten , bis sie es mit dem zweiten Apfel ebenso machte .
Als wir drei Früchte so gegessen , war mein Mund so süß erfrischt , daß ich mich zwingen mußte , Judith nicht zu küssen und die Süße von ihrem Munde noch dazuzunehmen .
Sie sah es , lachte und sprach :
" Nun sage bin ich dir lieb ? "
Sie blickte mich dabei fest an , und ich konnte , obgleich ich jetzt lebhaft und bestimmt an Anna dachte , nicht anders und sagte : " Ja ! "
Zufrieden sagte Judith :
" Dies sollst du mir jeden Tag sagen ! "
Hierauf fing sie an zu plaudern und sagte : " Weißt du eigentlich , wie es mit dem guten Kinde steht ? "
Als ich erwiderte , daß ich allerdings nicht klug daraus würde , fuhr sie fort : " Man sagt , daß das arme Mädchen seit einiger Zeit merkwürdige Träume und Ahnungen habe , daß sie schon ein paar Dinge vorausgesagt , die wirklich eingetroffen , daß manchmal im Traume wie im Wachen sie plötzlich eine Art Vorstellung und Ahnung von dem bekomme , was entfernte Personen , die ihr lieb sind , jetzt tun oder lassen oder wie sie sich befinden , daß sie jetzt ganz fromm sei und endlich auf der Brust leide !
Ich glaube dergleichen Sachen nicht , aber krank ist sie gewiß , und ich wünsche ihr aufrichtig alles Gute , denn sie ist mir auch lieb um deinetwillen . -
Aber alle müssen leiden , was ihnen bestimmt ist ! " setzte sie nachdenklich hinzu .
Während ich ungläubig den Kopf schüttelte , durchfuhr mich doch ein leichter Schauer , und ein seltsamer Schleier der Fremdartigkeit legte sich um Annas Gestalt , welche meinem inneren Auge vorschwebte .
Und fast in demselben Augenblicke war es mir auch , als ob sie mich jetzt sehen müsse , wie ich vertraulich bei der Judith stand ; ich erschrak darüber und sah mich um .
Der Nebel löste sich auf , schon sah man durch seine silbernen Flore den blauen Himmel , einzelne Sonnenstrahlen fielen schimmernd auf die feuchten Zweige und beglänzten die Tropfen , welche sich fallend ablösten ; schon sah man den blauen Schatten eines Mannes vorübergehen , und endlich drang die Klarheit überall durch , umgab uns und warf , wie wir waren , unser beider Schlagschatten auf den matt besonnten Grasboden .
Ich eilte davon und hörte in dem Hause meines Oheims die Bestätigung dessen , was mir Judith mitgeteilt ; wohl aufgehoben in dem lebendigen Hause und beruhigt durch das vertrauliche Gespräch , lächelte ich wieder ungläubig und war froh , in meinen jungen Vettern Genossen zu finden , welche sich auch nicht viel aus dergleichen machten .
Doch blieb immer eine gemischte Empfindung in mir zurück , da schon die Neigung zu solchen Erscheinungen , der Anspruch darauf mir beinahe eine Anmaßung zu sein schien , die ich der guten Anna zwar keineswegs , aber doch einem mir fremden und nicht willkommenen Wesen zurechnen konnte , in welchem ich sie jetzt befangen sah .
So trat ich ihr , als ich abends zurückkehrte , mit einer gewissen Scheu entgegen , welche jedoch durch ihre liebliche Gegenwart bald wieder zerstreut wurde , und als sie nun selbst , in Gegenwart ihres Vaters , leise anfing von einem Traume zu sprechen , den sie vor einigen Tagen geträumt , und ich daher sah , daß sie Willens sei , mich in das vermeintliche Geheimnis zu ziehen , glaubte ich unverweilt an die Sache , ehrte sie und fand sie nur um so liebenswürdiger , je mehr ich vorhin daran gezweifelt .
Als ich mich allein befand , dachte ich mehr darüber nach und erinnerte mich , von solchen Berichten gelesen zu haben , wo , ohne etwas Wunderbares und Übernatürliches anzunehmen , auf noch unerforschte Gebiete und Fähigkeiten der Natur selbst hingewiesen wurde , so wie ich überhaupt bei reiflicher Betrachtung noch manches verborgene Band und Gesetz möglich halten mußte , wenn ich meine größte Möglichkeit , den lieben Gott , nicht zu sehr bloßstellen und in eine öde Einsamkeit bannen wollte .
Ich lag im Bette , als mir diese Gedanken klar wurden und ich der Unschuld und Redlichkeit Annas gedachte , als welche doch auch zu berücksichtigen wären ; und nicht so bald befiel mich diese Vorstellung , so streckte ich mich anständig aus , kreuzte die Hände zierlich über der Brust und nahm so eine höchst gewählte und ideale Stellung ein , um mit Ehren zu bestehen , wenn Annas Geisterauge mich etwa unbewußt erblicken sollte .
Allein das Einschlafen brachte mich bald aus dieser ungewohnten Lage , und ich fand mich am Morgen zu meinem Verdrusse in der behaglichsten und trivialsten Figur von der Welt .
Ich raffte mich hastig zusammen , und wie man des Morgens Gesicht und Hände wäscht , so wusch ich gewissermaßen Gesicht und Hände meiner Seele und nahm ein zusammengefaßtes und sorgfältiges Wesen an , suchte meine Gedanken zu beherrschen und in jedem Augenblicke klar und rein zu sein .
So erschien ich vor Anna , wo mir ein solch gereinigtes und festtägliches Dasein leicht wurde , indem in ihrer Gegenwart eigentlich kein anderes möglich war .
Der Morgen nahm wieder seinen Verlauf wie gestern , der Nebel stand dicht vor den Fenstern und schien mich hinauszurufen .
Wenn mich jetzt eine Unruhe befiel , Judith aufzusuchen , so war dies weniger eine maßlose Unbeständigkeit und Schwäche als eine gutmütige Dankbarkeit , die ich fühlte und die mich drängte , der reizenden Frau für ihre Neigung freundlich zu sein ; denn nach der unvorbereiteten und unverstellten Freude , in welcher ich sie gestern überrascht , durfte ich mir nun wirklich einbilden , daß sie mir herzlich gut war .
Und ich glaubte ihr unbedenklich sagen zu können , daß sie mir lieb sei , indem ich sonderbarerweise dadurch gar keinen Abbruch meiner Gefühle für Anna wahrnahm und es mir nicht bewußt war , daß ich mit dieser Versicherung fast nur das Verlangen aussprach , ihr recht heftig um den Hals zu fallen .
Zudem betrachtete ich meinen Besuch als eine gute Gelegenheit , mich zu beherrschen und in der gefährlichsten Umgebung doch immer so zu sein , daß mich ein verräterischer Traum zeigen durfte .
Unter solchen Sophismen machte ich mich auf , nicht ohne einen ängstlichen Blick auf Anna zu werfen , an welcher ich aber keinen Schatten eines Zweifels entdeckte .
Draußen zögerte ich wieder , fand aber den Weg unbeirrt zu Judiths Garten .
Sie selbst mußte ich erst eine Weile suchen , weil sie , mich gleich am Eingange sehend , sich verbarg , in den Nebelwolken hin und her schlüpfte und dadurch selbst irre wurde , so daß sie zuletzt stillstand und mir leise rief , bis ich sie fand .
Wir machten beide unwillkürlich eine Bewegung , uns in den Arm zu fallen , hielten uns aber zurück und gaben uns nur die Hand .
Sie sammelte immer noch Obst ein , aber nur die edleren Arten , welche an kleinen Bäumen wuchsen ; das übrige verkaufte sie und ließ es von den Käufern selbst vom Baume nehmen .
Ich half ihr einen Korb voll brechen und stieg auf einige Bäume , wo sie nicht hingelangen konnte .
Aus Mutwillen stieg ich auch in die oberste Krone eines hohen Apfelbaumes hinauf , daß ich im Nebel verschwand .
Sie fragte mich unten , ob ich sie liebhätte , und ich antwortete gleichsam aus den Wolken mein Ja .
Da rief sie schmeichelnd : " Ach , das ist ein schönes Lied , das höre ich gern ! Komme herunter , du junger Vogel , der so artig singt ! "
So brachten wir alle Tage eine Stunde zu , ehe ich zu meinem Oheim ging ; wir sprachen dabei über dies und jenes , ich erzählte viel von Anna , und sie mußte alles anhören und tat es mit großer Geduld , nur damit ich dabliebe Denn während ich in Anna den besseren und geistigeren Teil meiner selbst liebte , suchte Judith wieder etwas Besseres in meiner Jugend , als ihr die Welt bisher geboten ; und doch sah sie wohl , daß sie nur meine sinnliche Hälfte anlockte ; und wenn sie auch ahnte , daß mein Herz mehr dabei war , als ich selbst wußte , so hütete sie sich wohl , es merken zu lassen , und ließ mich ihre tägliche Frage in dem guten Glauben beantworten , daß es nicht so viel auf sich hätte .
Oft drang ich auch in sie , mir von ihrem Leben zu erzählen und warum sie so einsam sei .
Sie tat es , und ich hörte ihr begierig zu .
Ihren verstorbenen Mann hatte sie als junges Mädchen geheiratet , weil er schön und kraftvoll ausgesehen .
Aber es zeigte sich , daß er dumm , kleinlich und klatschhaft war und ein lächerlicher Topfgucker , welche Eigenschaften sich alle hinter der schweigsamen Blödigkeit des Freiers versteckt hatten .
Sie sagte unbefangen , sein Tod sei ein großes Glück gewesen .
Nachher bewarben sich nur solche Männer um sie , welche ihr Vermögen im Auge hatten und sich schnell anderswohin richteten , wenn sie ein paar hundert Gulden mehr verspürten .
Sie sah , wie blühende , kluge und handliche Männer ganz windschiefe und blasse Weibchen heirateten mit spitzigen Nasen und vielem Gelde , weswegen sie sich über alle lustig machte und sie schnöde behandelte .
" Aber ich muß selbst Buße tun " , fügte sie hinzu , " warum habe ich einen schönen Esel genommen ! "
Fünftes Kapitel Torheit des Meisters und des Schülers Nach acht Tagen kehrte ich zur Stadt zurück und nahm meine Arbeit bei Römer wieder auf .
Da es mit dem Zeichnen im Freien vorbei und auch nichts weiter zu kopieren war , leitete mich Römer an , zu versuchen , ob ich aus dem Gewonnenen ein Ganzes und Selbständiges herstellen könne .
Ich mußte unter meinen Studien ein Motiv suchen und selbiges zu einem kleinen Bilde ausdehnen und abgrenzen .
" Da wir hier ohne alle Mittel sind " , sagte er , " außer meiner eigenen Mappe , welche Sie mir diesen Winter hindurch in die Ihrige hinüberpinseln würden , wenn ich es zugäbe , so ist es am besten , wir machen es so Sie sind zwar noch zu jung dazu und werden noch ein- oder zweimal mit neuen Erfahrungen von vorn anfangen müssen , ehe Sie etwas Dauerhaftes machen .
Indessen wollen wir immerhin versuchen , ein Viereck so auszufüllen , daß Sie es im Notfall verkaufen können ! "
Mit der ersten Probe ging es ganz ordentlich ; ebenso mit der zweiten und dritten .
Die frische Luft , die Einfachheit des Gegenstandes und Römers sichere Erfahrung ließen die Gründe sich wie von selbst aneinanderfügen , das Licht wurde ohne Schwierigkeit verteilt und jede Partie in Licht und Schatten vernünftig und klar ausgefüllt , so daß keine nichtssagenden und verworrenen Stellen übrigblieben .
Großes Vergnügen gewährte es mir , wenn ich einen oder einige Gegenstände , zu denen die vorliegenden Studien im Licht gehalten waren , in Schatten setzen mußte oder umgekehrt , wo dann durch eigenes Nachdenken und Berechnung ein Neues und doch einzig Notwendiges bezweckt wurde , nach den Bedingungen der Lokalfarbe , der Tageszeit , des blauen oder bewölkten Himmels und der benachbarten Gegenstände , welche mehr oder weniger Licht und Farbe zurückwerfen mußten .
Gelang es mir , den wahrscheinlichen Ton zu treffen , der unter ähnlichen Verhältnissen über der Natur selbst geschwebt hätte - was man gleich sah , indem ein wahrer Ton immer einen ganz eigentümlichen Zauber übt - , so beschlich mich ein stolzes Gefühl , in welchem mir meine Erfahrung und das Weben der Natur eins zu sein schienen .
Allein das Vergnügen erwies sich schwieriger , als umfang- und inhaltsreichere Sachen unternommen wurden und , durch diese Tätigkeit hervorgerufen , meine Erfindungslust wieder auftauchte und überwucherte .
Das gewichtige Wort Komponieren summte mir mit prahlerischem Klang in den Ohren , und ich ließ , als ich nun förmliche Skizzen entwarf , die zur Ausführung bestimmt waren , meinem Hange den Zügel schießen .
Überall suchte ich poetische Winkel und Plätzchen , geistreiche Beziehungen und Bedeutungen anzubringen , welche mit der erforderlichen Ruhe und Einfachheit in Widerspruch gerieten .
Römer ließ mich eine solche Skizze unbeschnitten ausführen , und als das Machwerk mir selbst nicht behagen wollte , ohne daß ich wußte warum , zeigte er mir triumphierend , daß die technischen Mittel und die Naturwahrheiten im einzelnen der anspruchsvollen und gesuchten Komposition wegen keine Wirkung tun , zu keiner Gesamtwahrheit werden könnten und um meine hervorstechende Zeichnung hingen wie bunte Flitter um ein Gerippe , ja daß sogar im einzelnen keine frische Wahrheit möglich sei , auch bei dem besten Willen nicht , weil vor der überwiegenden Erfindung , vor dem anmaßenden Spiritualismus ( wie er sich ausdrückte ) die Naturfrische sich sozusagen aus der Pinselspitze in den Pinselstiel spröde zurückziehe .
" Es gibt allerdings " , sagte Römer , " eine Richtung , deren Hauptgewicht auf der Erfindung , auf Kosten der unmittelbaren Wahrheit , beruht .
Solche Bilder sehen aber eher wie geschriebene Gedichte als wie wirkliche Bilder aus , wie es ja auch Gedichte gibt , welche mehr den Eindruck einer Malerei machen möchten als eines geistig tönenden Wortes .
Wenn Sie in Rom wären und die Arbeiten des alten Koch oder Reinharts sähen , so würden Sie , Ihrer deutlichen Neigung nach , sich entzückt den alten Käuzen anschließen ; es ist aber gut , daß Sie nicht dort sind , denn dies ist eine gefährliche Sache für einen jungen Künstler .
Es gehört dazu eine durchaus gediegene , fast wissenschaftliche Bildung , eine strenge , sichere und feine Zeichnung , welche noch mehr auf dem Studium der menschlichen Gestalt als auf demjenigen der Bäume und Sträucher beruht , mit einem Wort ein großer Stil , welcher nur in dem Werte einer ganzen reichen Erfahrung bestehen kann , um den Glanz gemeiner Naturwahrheit vergessen zu lassen ; und mit allem diesem ist man erst zu einer ewigen Sonderlingsstellung und Armut verdammt , und das mit Recht , denn die ganze Art ist unberechtigt und töricht ! "
Ich fügte mich diesen Reden aber nicht , weil ich ihm schon abgemerkt hatte , daß das Erfinden nicht seine Stärke war ; denn schon mehr als einmal hatte er , meine Anordnungen korrigierend , Lieblingsstellen in Bergzügen oder Waldgründen , die ich recht bedeutsam glaubte , gar nicht einmal gesehen , indem er sie mit dem markigen Bleistifte schonungslos überschraffierte und zu einem kräftigen , aber nichtssagenden Grunde ausglich .
Wenn sie auch störten , so hätte er meiner Meinung nach wenigstens sie bemerken , mich verstehen und etwas darüber sagen müssen .
Ich wagte daher zu widersprechen , schob die Schuld auf die Wasserfarben , in welchen keine Kraft und Freiheit möglich sei , und sprach meine Sehnsucht aus nach guter Leinwand und Ölfarben , wo alles schon von selbst eine respektable Gestalt und Haltung gewinnen würde .
Hiermit griff ich aber meinen Lehrer in seiner Existenz an , indem er glaubte und behauptete , daß die ganze und volle Künstlerschaft sich hinlänglich und vorzüglich nur durch etwas weißes Papier und einige englische Farbentäfelchen betätigen und zeigen könne .
Er hatte seine Bahn abgeschlossen und gedachte nichts anderes mehr zu leisten , als er schon tat ; daher beleidigte ihn , wie ich nun zu erkennen gab , daß ich das durch ihn Gelernte nur als eine Staffel betrachte und bereits mich darüber hinweg zu etwas Höherem berufen fühle .
Er wurde um so empfindlicher , als ich einen lebhaften und wiederholten Streit über diesen Gegenstand hartnäckig aushielt , von meinen Hoffnungen nicht abließ und seine Aussprüche , wenn sie ins Allgemeine gingen , nicht mehr unbedingt annahm , vielmehr ungescheut bestritt .
Hieran war hauptsächlich der Umstand schuld , daß seine sonstigen Gespräche und Mitteilungen immer sonderbarer und auffallender geworden und meine Achtung vor seiner Urteilskraft geschwächt hatten .
Manches fiel zusammen mit den dunklen Gerüchten , die über ihn ergingen , so daß ich eine Zeitlang in der peinlichsten Spannung mich befand , aus einem geehrten und zuverlässigen Lehrer die seltsamste und rätselhafteste Gestalt sich herausschälen zu sehen .
Schon seit einiger Zeit wurden seine Äußerungen über Menschen und Verhältnisse immer härter und zugleich bestimmter , indem sie sich ausschließlicher auf politische Dinge bezogen .
Er ging alle Abende in einen Lesezirkel unserer Stadt , las dort die französischen und englischen Blätter und pflegte sich vieles zu notieren , so wie er auch in seiner Wohnung allerlei geheimnisvolle Papierschnitzel handhabte und sich oft über wichtigem Schreiben betreffen ließ .
Vorzüglich machte er sich mit dem Journal des Débats zu schaffen .
Unsere Regierung nannte er einen Trupp ungeschickter Krähwinkler , den Großen Rat aber ein verächtliches Gesindel und unsere heimischen Zustände im ganzen dummes Zeug .
Darüber wurde ich stutzig und hielt mit meinen Zustimmungen zurück oder verteidigte unsere Verhältnisse und hielt ihn für einen malkontenten Menschen , welchen der lange Aufenthalt in fremden großen Städten mit Verachtung der engen Heimat angefüllt habe .
Er sprach oft von Louis Philippe und tadelte dessen Maßregeln und Schritte wie einer , der eine geheime Vorschrift nicht pünktlich befolgt sieht .
Einst kam er ganz unwirsch nach Hause und beklagte sich über eine Rede , welche der Minister Tiers gehalten .
" Mit diesem vertrackten kleinen Burschen ist nichts anzufangen ! " rief er , indem er ein Zeitungsexzerpt zerknitterte , " ich hätte ihm diese eigenmächtige Naseweisheit gar nicht angesehen !
Ich glaubte in ihm den gelehrigsten meiner Schüler zu haben . "
- " Zeichnet denn der Herr Tiers auch Landschaften ? " fragte ich , und Römer erwiderte , indem er sich bedeutungsvoll die Hände rieb :
" Das eben nicht ! lassen wir das ! "
Doch bald darauf deutete er mir an , daß alle Fäden der europäischen Politik in seiner Hand zusammenliefen und daß ein Tag , eine Stunde des Nachlasses in seiner angestrengten Geistesarbeit , die seinen Körper aufzureiben drohe , sich alsobald durch eine allgemeine Verwirrung der öffentlichen Angelegenheiten bemerkbar mache , daß eine konfuse und ängstliche Nummer des Journal des Débats jedesmal bedeute , daß er unpäßlich oder abgespannt und sein Rat ausgeblieben sei .
Ich sah meinen Lehrer ernsthaft an ; er machte ein unbefangenes und ernsthaftes Gesicht , die gebogene Nase stand wie immer mitten darin , darunter der wohlgepflegte Schnurrbart , und über die Augen flog auch nicht das leiseste ungewisse Zucken .
Mein Erstaunen gewann nicht Zeit , sich aufzuhellen , indem ich ferner erfuhr , daß Römer , während er der verborgene Mittelpunkt aller Staatsregierungen , zugleich das Opfer unerhörter Tyranneien und Mißhandlungen war .
Er , der vor aller Augen auf dem mächtigsten Throne Europas hätte sitzen sollen von mehr als eines Rechtes wegen , wurde durch einen geheimnisvollen Zwang gleich einem gebannten Dämon in Verborgenheit und Armut gehalten , daß er kein Glied ohne den Willen seiner Tyrannen rühren konnte , während sie ihm täglich gerade so viel von seinem Genius abzapften , als sie zu ihrer kleinlichen Weltbesorgung gebrauchten .
Freilich , wäre er zu seinem Recht und zu seiner Freiheit gekommen , so würde im selben Augenblicke die Mäusewirtschaft aufgehört haben und ein freies , lichtes und glückliches Zeitalter angebrochen sein .
Allein die winzigen Dosen seines Geistes , welche nun so tropfenweise verwendet würden , sammelten sich doch langsam zu einem allmächtigen Meere , indem es ihre Art sei , daß keine davon wieder vergehen oder aufgehoben werden könne , und in jenem allbezwingenden Meere werde sein Wesen zu seinem .
Rechte kommen und die Welt erlösen , daher er gerne seine körperliche Person wolle verschmachten lassen .
" Hören Sie diesen verfluchten Hahn krähen ? " rief er , " dies ist nur ein Mittel von tausenden , die sie zu meiner Qual anwenden ; sie wissen , daß der Hahnenschrei mein ganzes Nervensystem erschüttert und mich zu jedem Nachdenken untauglich macht ; deshalb hält man überall Hähne in meiner Nähe und läßt sie spielen , sobald man die verlangten Depeschen von mir hat , damit das Räderwerk meines Geistes für den übrigen Tag stillstehe !
Glauben Sie wohl , daß dies Haus hier ganz mit verborgenen Röhren durchzogen ist , daß man jedes Wort hört , was wir sprechen , und alles sieht , was wir tun ? "
Ich sah mich im Zimmer um und versuchte einige Einwendungen zu machen , welche jedoch durch seine stechenden , geheimnisvollen und wichtigen Blicke und Worte unterdrückt wurden .
Solange ich mit ihm sprach , befand ich mich in der wunderlichen Stimmung , in welcher ein Knabe halbgläubig das Märchen eines Erwachsenen anhört , welcher ihm lieb ist und seiner Achtung genießt ; war ich aber allein , so mußte ich mir gestehen , daß ich das Beste , was ich bisher gelernt , aus der Hand des Wahnsinns empfangen habe .
Dieser Gedanke empörte mich , und ich begriff nicht , wie jemand wahnsinnig sein könne .
Eine gewisse Unbarmherzigkeit erfüllte mich , ich nahm mir vor , mit einem klaren Worte die ganze unsinnige Wolke gewiß zu zerstreuen ; stand ich aber dem Wahnsinne gegenüber , so mußte ich seine Stärke und Undurchdringlichkeit sogleich fühlen und froh sein , wenn ich Worte fand , welche , auf die verirrten Gedanken eingehend , dem Leidenden durch Mitteilung einige Erleichterung gewähren konnten .
Denn daß er wirklich unglücklich und leidend war und alle eingebildeten Qualen auch fühlte , konnte ich nicht verkennen .
Ich verschwieg Römers Tollheit lange gegen jedermann und selbst gegen meine Mutter , weil ich meine eigene Ehre dabei beteiligt glaubte , wenn ein so trefflicher Lehrer und Künstler als verrückt erschien , und weil es mir widerstrebte , den schlimmen Gerüchten , die über ihn im Umlauf waren , entgegenzukommen .
Doch verlockte mich einst ein gar zu lächerliches Vorkommnis zum Plaudern .
Nachdem er nämlich öfter bedeutungsvoll bald von den Bourbonen , bald von den Napoleoniden , bald von den Habsburgern gesprochen , ereignete es sich , daß eine Königinmutter aus irgendeinem monarchischen Staate , eine alte Frau mit vielen Dienern und Schachteln , einige Tage sich in unserer Stadt aufhielt .
Sogleich geriet Römer in große Aufregung , lenkte auf Spaziergängen unseren Weg an dem Gasthofe vorbei , wo sie logierte , ging in das Haus , als ob er mit der Dame , die er als sehr intrigant und seinetwegen hergekommen schilderte , wichtige Unterredungen hätte , und ließ mich lange unten warten .
Doch bemerkte ich an dem Dufte , den er zurückbrachte , daß er sich lediglich in der Kutscherstube aufgehalten und dort wohl eine Knoblauchwurst nebst einem Glase Wein zu sich genommen haben mußte .
Diese Narrenpossen , von einem Manne mit so edlem und ernstem Äußeren getrieben , empörten mich um so mehr , als sie mit einer lächerlichen Listigkeit verbunden waren .
Ich begann daher , mich zu Hause und auch anderwärts über die Angelegenheit zu äußeren und erfuhr nun mit Verwunderung , daß Römers seltsames Wesen wohl bekannt war , aber , statt Mitleiden und hilfreiche Teilnahme zu erregen , als eine Art böswilligen Lasters , als wissentliche Verlogenheit betrachtet wurde , darauf berechnet , die Menschen zu betrügen und auf ihre Kosten etwas Falsches vorzustellen .
Irgendeine im fernen Auslande begangene Verletzung der Bescheidenheit oder guten Sitte oder eine eingegangene Schuld , die er nicht lösen konnte , mußte mit dem Beginne der Krankheit zusammengefallen sein , ohne daß man dahinterkommen konnte , was es eigentlich gewesen .
Der Betroffene , der die Kenntnis davon in geheimer Weise unterhielt und von Zeit zu Zeit erneuerte , wollte doch den Anschein eines nachtragenden Verfolgers nicht auf sich nehmen und wußte den Kranken auf eine Art zu isolieren , daß fast nicht von der Sache gesprochen wurde und jener selbst keine Ahnung davon hatte .
Aber während viel unbedeutendere Künstler sich behaglich durchbringen konnten , tat man , als ob Römer gar nicht da wäre , und keine Gunst , keine Anerkennung , keine gefällige Fürsprache kam seinem untadelhaften Fleiße entgegen , der bei aller Geistesverirrung niemals einschlief .
Ich erfuhr erst später , daß Römer während unseres Verkehrs fast immer gehungert und dabei seine spärlichen Mittel beinahe nur für den Unterhalt einer sauberen äußeren Erscheinung geopfert hatte .
Wenn ich nun die umlaufenden Nachreden auch nicht für bare Münze nahm und den Mann gegen das Gerücht verteidigte , so beeinträchtigte es doch mein Vertrauen und den jugendlich ehrerbietigen Aufblick zu dem Lehrer , und ich wurde bis zu einem gewissen Grade mit gegen ihn eingenommen , nur mit dem Unterschiede , daß ich seinen Wert als Künstler nach wie vor hochhielt .
Nachdem ich vier Monate unter seiner Leitung zugebracht , wollte ich mich zurückziehen , indem ich die bezahlte Summe nun als ausgeglichen betrachtete .
Doch er äußerte wiederholt , daß es hiermit nicht so genau zu nehmen und die Studien deshalb nicht abzubrechen wären ; es sei ihm im Gegenteil ein angenehmes Bedürfnis , unseren Verkehr fortzusetzen .
So arbeitete ich zwar nicht mehr in seiner Wohnung , besuchte ihn aber zuweilen und empfing seinen Rat .
Weitere vier Monate vergingen so , während welcher er , durch die Not gezwungen , aber leichthin und beiläufig mich anfragte , ob meine Mutter ihm mit einem etwelchen Darlehen auf kurze Zeit aushelfen könne ?
Er bezeichnete ungefähr eine gleiche Summe wie die schon empfangene , und ich brachte ihm das Geld noch am gleichen Tage .
Im Frühjahr endlich gelang es ihm , mit Mühe wieder einmal eine Arbeit zu verkaufen , wodurch er etwas reichlichere Mittel in die Hände bekam .
Mit diesen beschloß er nach Paris zu gehen , da ihm hier kein Heil blühen wollte und ihn sonst auch der Wahn forttrieb , durch Ortsveränderung ein besseres Los erzwingen zu können .
Denn trotz allem scharfsinnigen Instinkte , den ein Irrsinniger und Unglücklicher hat , ahnte er von ferne nicht , daß sein wirkliches Geschick viel schlimmer als sein eingebildetes Leiden und daß die Welt übereingekommen war , seine armen schönen Zeichnungen und Bilder entgelten zu lassen , was man von seiner vermeintlichen Schlechtigkeit hielt .
Ich fand ihn , wie er seine Sachen zusammenpackte und einige Rechnungen bezahlte .
Er kündigte mir seine Abreise an , die am anderen Tage erfolgen sollte , und verabschiedete sich zugleich freundlich von mir , noch einige geheimnisvolle Andeutungen über den Zweck der Reise beifügend .
Als ich meiner Mutter die Nachricht mitteilte , fragte sie sogleich , ob er denn nichts von dem geliehenen Gelde gesagt habe ?
Ich hatte bei Römer einen entschiedenen Fortschritt gemacht , mein ganzes Können und meinen Blick erweitert , und es war gar nicht zu berechnen und schon nicht mehr zu denken , wie es ohne dies alles mit mir hätte gehen sollen .
Deswegen hätten wir das Geld füglich als eine wohlangewandte Entschädigung ansehen dürfen , und dies um so mehr , als Römer mir die letzte Zeit nach wie vor seinen Rat gegeben hatte .
Allein wir glaubten nur einen Beweis von der Richtigkeit jener Gerüchte zu sehen und wußten auch dazumal noch nicht , wie kümmerlich er lebte ; wir dachten ihn im Besitze guter Mittel , denn er hatte seine Armut sorgfältig verborgen .
Meine Mutter bestand darauf , daß er das Geliehene zurückgeben müsse , und war zornig , daß jemand von dem zum Besten ihres Söhnleins bestimmten kleinen Geldvorrate sich ohne weiteres einen Teil aneignen wolle .
Was ich gelernt , zog sie nicht in Betracht , weil sie es für die Schuldigkeit aller Welt hielt , mir mitzuteilen , was man irgend Gutes wußte .
Ich dagegen , teils weil ich zuletzt auch gegen Römer eingenommen war und ihn für eine Art Schwindler hielt , teils weil ich meine Mutter zur Herausgabe der Summe beredet , und endlich aus Unverstand und Verblendung , hatte nichts einzuwenden und empfand eher eine Genugtuung , mich für alle Unbill zu rächen .
Als daher die Mutter ein Billett an ihn schrieb und ich einsah , daß er , wenn er entschlossen war , das Geld zu behalten , die Mahnung einer in seinen Augen gewöhnlichen Frau nicht beachten werde , kassierte ich das Schreiben meiner Mutter , welche ohnedies verlegen war , an einen so ansehnlichen und fremdartigen Mann zu schreiben , und entwarf ein anderes , welches , ich muß es zu meiner Schande gestehen , höchst zweckmäßig eingerichtet war .
In höflicher Sprache berechnete ich seine fixen Ideen , seinen Stolz und sein Ehrgefühl , und indem das bescheidene Billett erst zu einer Bitterkeit wurde , wenn es unberücksichtigt blieb , war es , wenn Römer alles das verlachen sollte , schließlich so beschaffen , daß er doch nicht lachen , sondern sich durchschaut sehen konnte .
Soviel brauchte es indessen gar nicht ; denn als wir das Machwerk hinschickten , kehrte der Bote augenblicklich mit dem Gelde zurück .
Ich war etwas beschämt ; doch sprachen wir jetzt alles Gute von ihm , er sei doch nicht so übel usf. , nur weil er uns das elende Häufchen Silber herausgegeben .
Ich glaube , wenn Römer sich eingebildet hätte , ein Nilpferd oder ein Speiseschrank zu sein , so wäre ich nicht so unbarmherzig und undankbar gegen ihn gewesen ; da er aber ein großer Prophet sein wollte , so fühlte sich meine eigene Eitelkeit dadurch verletzt und waffnete sich mit den äußerlichen scheinbaren Gründen .
Nach einem Monate erhielt ich von Römer folgenden Brief aus Paris : " Mein werter junger Freund !
Ich bin Ihnen eine Nachricht über mein Befinden schuldig , da ich gern annehme , mich Ihrer ferneren Teilnahme und Freundschaft erfreuen zu dürfen .
Bin ich Ihnen doch meine endliche Befreiung und Herrschaft schuldig .
Durch Ihre Vermittlung , indem Sie das Geld von mir zurückverlangten ( welches ich nicht vergessen hatte , aber Ihnen in einem Freiern Augenblicke zurückgeben wollte ) , bin ich endlich in den Palast meiner Väter eingezogen und meiner wahren Bestimmung anheimgegeben !
Aber es kostete Mühseligkeit .
Ich gedachte jene Summe zu meinem ersten Aufenthalte hier zu verwenden ; da Sie aber selbige zurückverlangten , so blieb mir nach Abzug der Reisekosten noch ein Franc übrig , mit welchem ich von der Post ging .
Es regnete sehr stark , und verwandte ich daher den besagten Franc dazu , nach dem Mont piété zu fahren und dorten meine Koffer zu versetzen .
Bald darauf sah ich mich genötigt , meine Sammlungen einem Trödler für ein Trinkgeld zu verkaufen , und erst jetzt , als ich endlich von aller angenommenen Künstlermaske und allem Kunstapparate glücklich befreit und hungernd in den Straßen umherlief , ohne Obdach , ohne Kleider , doch jubelnd über meine Freiheit , da fanden mich treue Diener meines erlauchten Hauses und führten mich im Triumph heim !
Aber noch beobachtet man mich zuweilen , und ich benutze eine günstige Gelegenheit , dies Zeichen zu senden .
Sie sind mir wert geworden , und ich habe etwas Gutes mit Ihnen vor !
Inzwischen nehmen Sie meinen Dank für die günstige Wendung , die Sie herbeigeführt !
Möge alles Elend der Erde in Ihr Herz fahren , jugendlicher Held !
Mögen Hunger , Verdacht und Mißtrauen Sie liebkosen und die schlimme Erfahrung Ihr Tisch- und Bettgenosse sein !
Als aufmerksame Pagen sende ich Ihnen meine ewigen Verwünschungen , mit denen ich mich bis auf weiteres Ihnen treulichst empfehle !
Ihr wohlgewogener Freund .
Dies nur in Eile , ich bin zu sehr beschäftigt ! "
Erst später erfuhr ich , daß Römer in einem französischen Irrenhause verschollen sei .
Wie es dazu kam , wird in obigem Briefe ziemlich klar .
Meine Mutter , welcher ich alles verhehlte , konnte keine Schuld treffen als diejenige aller Frauen , welche aus Sorge für ihre Angehörigen engherzig und rücksichtslos gegen alle Welt werden .
Ich hingegen , der ich gerade zu dieser Zeit mich gut und strebsam glaubte , sah nun ein , welche Teufelei ich begangen hatte .
Ich log , verleumdete , betrog oder stahl nicht , wie ich es als Kind getan , aber ich war undankbar , ungerecht und hartherzig unter dem Scheine des äußeren Rechtes .
Ich mochte mir lange sagen , daß jene Forderung ja nur eine einfache Bitte um das Geliehene gewesen sei , wie sie alle Welt versucht , und daß weder meine Mutter noch ich je gewaltsam darauf bestanden hätten ; ich mochte mir lange sagen , daß Erfahrung den Meister mache und man auch diese Art Unrecht , als die häufigste und am leichtesten zu begehende , am besten durch ein Erlebnis recht einsehen und vermeiden lerne ; mochte ich mich auch überreden , daß Römers Wesen und Schicksal mein Verhalten hervorgerufen und auch ohne diesen Vorgang seine Erfüllung erreicht hätte alles dies hinderte nicht , daß ich mir doch die bittersten Vorwürfe machen mußte und mich schämte , sooft Römers Gestalt vor meinen Sinn trat .
Wenn ich auch die Welt verwünschte , welche dergleichen Handlungen als klug und recht anerkennt ( denn die rechtlichsten Leute hatten uns zu der Wiedererlangung der Summe beglückwünscht ) , so fiel doch alle Schuld wieder auf mich allein zurück , wenn ich an die Anfertigung jenes Billetts dachte , welches ich ohne die mindeste Mühe geschrieben und gleichsam aus dem Ärmel geschüttelt hatte .
Ich war bald achtzehn Jahre alt und entdeckte jetzt erst , wie ruhig und unbefangen ich seit den Knabensünden und Krisen gelebt , sechs lange Jahre !
Und nun plötzlich diese Untat !
Wenn ich schließlich bedachte , wie ich jenes unverhoffte Erscheinen Römers als eine höhere Fügung angesehen , so wußte ich nicht , sollte ich lachen oder weinen über den Dank , den ich dafür gespendet .
Den unheimlichen Brief wagte ich nicht zu verbrennen und fürchtete mich , ihn aufzubewahren ; bald begrub ich ihn unter entlegenem Gerümpel , bald zog ich ihn hervor und legte ihn zu meinen liebsten Papieren , und noch jetzt , sooft ich ihn finde , verändere ich seinen Ort und bringe ihn anderswohin , so daß er auf steter Wanderschaft ist .
Sechstes Kapitel Leiden und Leben Diese Demütigung traf mich um so stärker , als ich , in Annas Träumen und Ahnungen rein und gut zu erscheinen , den Winter über ein puritanisches Wesen angenommen hatte und nicht nur meine äußerliche Haltung , sondern auch meine Gedanken sorgfältig überwachte und mich bestrebte , wie ein Glas zu sein , das man jeden Augenblick durchschauen dürfe .
Welche Ziererei und Selbstgefälligkeit dabei tätig war , wurde mir jetzt erst bei dieser gewaltsamen Störung deutlich , und meine Selbstanklage wurde noch durch das Gefühl der Narrheit und Eitelkeit verbittert .
Anna hatte während des Winters streng das Zimmer hüten müssen und wurde im Frühling bettlägerig .
Der arme Schulmeister kam in die Stadt , um meine Mutter abzuholen ; er weinte , als er in die Stube trat .
Wir schlossen also unsere Wohnung zu und fuhren mit ihm hinaus , wo meine Mutter wie ein halbes Meerwunder empfangen und geehrt wurde .
Sie enthielt sich jedoch , alle die Orte , die ihr teuer waren , aufzusuchen und ihre gealterten Bekannten zu sehen , sondern eilte , sich bei dem kranken Kinde einzurichten ; erst nach und nach benutzte sie günstige Augen blicke , und es dauerte monatelang , bis sie alle Jugendfreunde gesehen , obgleich die meisten in der Nähe wohnten .
Ich hielt mich im Hause des Oheims auf und ging alle Tage an den See hinüber .
Anna litt morgens und abends und in der Nacht am meisten ; den Tag über schlummerte sie oder lag schweigend im Bette , und ich saß an demselben , ohne viel zu wissen , was ich sagen sollte .
Unser Verhältnis trat äußerlich zurück vor dem schweren Leiden und der Trauer , welche die Zukunft nur halb verhüllte .
Wenn ich manchmal ganz allein auf eine Viertelstunde bei ihr saß , so hielt ich ihre Hand , während sie mich bald ernst , bald lächelnd ansah , ohne zu sprechen , oder höchstens , um ein Glas oder sonst einen Gegenstand von mir zu verlangen .
Auch ließ sie sich oft ihre Schächtelchen und kleinen Schätze auf das Bett bringen , kramte dieselben aus , bis sie müde war , wo sie mich dann alles wieder einpacken ließ .
Dies erfüllte uns beinahe mit einem stillen Glücke , und wenn ich dann fortging , so konnte ich nicht begreifen , wie und warum ich Anna in Erwartung schmerzenvoller Qualen zurückließ .
Der Frühling blühte nun in aller Pracht ; aber das arme Kind konnte kaum und selten ans Fenster gebracht werden .
Wir füllten daher die Wohnstube , in welcher ihr weißes Bett stand , mit Blumenstöcken und bauten vor dem Fenster ein breites Gerüste , um auf demselben durch größere Töpfe möglichst einen Garten einzurichten .
Wenn Anna an sonnigen Nachmittagen eine gute Stunde hatte und wir der warmen Maisonne das Fenster öffneten , der silberne See durch die Rosen und Oleanderblüten hereinglänzte und Anna in ihrem weißen Krankenkleide dalag , so schien hier ein sanfter trauernder Kultus des Todes begangen zu werden .
Manchmal aber wurde Anna in solchen Stunden ganz munter und verhältnismäßig redselig ; wir setzten uns dann um ihr Bett herum und führten ein gemächliches Gespräch über Personen und Begebenheiten , bald heiterer Natur und bald ernster , so daß Anna Bericht erhielt von dem , was unsere kleine Welt bewegte .
Eines Tages , als meine Mutter in das Dorf gegangen war , fiel das Gespräch auf mich selbst , und der Schulmeister wie seine Tochter schienen es auf diesem Gegenstande so wohlwollend festhalten zu wollen , daß ich mich äußerst geschmeichelt fühlte und aus behaglicher Dankbarkeit die größte Aufrichtigkeit entgegenbrachte .
Ich benutzte den Anlaß , mein Verhältnis zu dem unglücklichen Römer zu erzählen , über welches ich seit jenem Briefe mit niemanden gesprochen , und ich brach in die heftigsten Klagen über den Vorfall und mein Verhalten aus .
Der Schulmeister verstand mich aber nicht recht ; denn er wollte mich beruhigen und die Sache als nicht halb so schlimm darstellen , und was darin doch gefehlt war , sollte mich aufmerksam machen , daß wir eben allzumal Sünder und der Barmherzigkeit des Erlösers bedürftig seien .
Das Wort Sünder war mir aber ein für allemal verhaßt und lächerlich und ebenso die Barmherzigkeit ; vielmehr wollte ich ganz unbarmherzig die Sache mit mir selbst ausfechten und mich verurteilen auf gut weltlich gerichtete Art und durchaus nicht auf geistliche Weise .
Plötzlich aber bekam Anna , welche sich bisher still verhalten , aufgeregt durch meine Erzählung und durch mein Gebaren , einen heftigen Anfall ihrer Krämpfe und Leiden , daß ich das arme zarte Wesen zum ersten Mal seiner ganzen hilflosen Qual verfallen sah .
Große Tränen , durch Not und Angst erpreßt , rollten über ihre weißen Wangen , ohne daß sie dieselben aufhalten konnte .
Sie war ganz durch die Bewegungen ihrer Leiden beschäftigt , so daß bald alle Rücksicht und Haltung verschwinden mußten , und nur dann und wann richtete sie einen kurzen irrenden Blick auf mich , wie aus einer fremden Welt des Schmerzes heraus ; zugleich schien sie dann eine zarte Scham zu ängstigen , so maßlos vor mir leiden zu müssen ; und ich muß bekennen , daß meine Verlegenheit , so gesund und ungeschlacht vor dem Heiligtume dieser Marterstätte zu stehen , fast so groß war als mein Mitleiden .
Überzeugt , daß ich ihr dadurch wenigstens einige Befreiung verschaffe , ließ ich sie in den Armen ihres Vaters und eilte bestürzt und beschämt davon , meine Mutter herbeizuholen .
Nachdem diese mit einer Nichte sich fortbegeben , um das kranke Kind zu pflegen , blieb ich den Rest des Tages im Hause des Oheims , mir Vorwürfe machend über mein plumpes Ungeschick .
Nicht nur mein Unrecht gegen Römer , sondern sogar das Bekenntnis desselben und seine heutigen Folgen warfen einen gehässigen Schein auf mich , und ich fühlte mich gebannt in einer jener dunklen Stimmungen , wo einem der Zweifel aufsteigt , ob man wirklich ein guter , zum Glück bestimmter Mensch sei ? wo es scheint , als ob nicht sowohl eine Schlechtigkeit des Herzens und des Charakters als eine gewisse Schlechtigkeit des Kopfes , des Geschickes einem anhafte , welche noch unglücklicher macht als die entschiedene Teufelei .
Ich konnte nicht einschlafen vor dem Bedürfnisse , mich zu äußeren , da das immerwährende Verschweigen wie die mißlungene Aufrichtigkeit das Gefühl des Unheimlichen noch vermehrt .
Ich stand nach Mitternacht auf , kleidete mich an und schlich mich aus dem Hause , um Judith aufzusuchen .
Ungesehen kam ich durch Gärten und Hecken , fand aber alles dunkel und verschlossen bei ihr .
Ich stand einige Zeit unschlüssig vor dem Hause ; doch kletterte ich zuletzt am Spalier empor und klopfte zaghaft an das Fenster ; denn ich fürchtete mich , das schöne und kluge Weib aus dem geheimnisvollen Schleier der Nacht aufzuschrecken .
Sie hörte und erkannte mich sogleich , stand auf , zog sich leicht an und ließ mich zum Fenster herein .
Dann machte sie Licht , Helle zu verbreiten , weil sie glaubte , ich sei in der Absicht gekommen , irgend einige Liebkosungen zu wagen .
Aber sie war sehr verwundert , als ich anfing , meine Geschichten zu erzählen , erst die gewaltsame Störung , welche ich heute in die stille Krankenstube getragen , und dann die unglückliche Geschichte mit Römer , deren ganzen Verlauf ich schilderte .
Nachdem ich meinen kunstreichen Mahnbrief und den darauf erhaltenen Pariser Brief beschrieben , aus dessen Inhalt wir wohl Römers Schicksal ahnen konnten , nur daß wir statt des Irrenhauses gar ein Gefängnis vermuteten , rief Judith :
" Das ist ja ganz abscheulich !
Schämst du dich denn nicht , du Knirps ? "
Und indem sie zornig auf und nieder ging , malte sie recht genau aus , wie Römer sich vielleicht erholt hätte , wenn man ihm nicht die Mittel zu seinem ersten Aufenthalte in Paris entzogen , wie ihn der Erhaltungstrieb vielleicht , ja sicher eine Zeitlang hätte klug sein lassen und hieraus unberechenbar eine bessere Wendung auf diese oder jene Weise möglich gewesen .
" Oh , hätte ich den armen Mann pflegen können " , rief sie aus , " gewiß hätte ich ihn kuriert !
Ich hätte ihn ausgelacht und ihm geschmeichelt , bis er klug geworden wäre ! "
Dann stand sie still , sah mich an und sagte : " Weißt du wohl , Heinrich , daß du allbereits ein Menschenleben auf deiner grünen Seele hast ? "
Diesen Gedanken hatte ich mir noch nicht einmal klargemacht , und ich sagte betroffen :
" So arg ist es wohl nicht !
Im schlimmsten Falle wäre es ein unglücklicher Zufall , den ich herbeizuführen nie wähnen konnte ! "
" Ja " , erwiderte sie sachte , " wenn du eine einfache , sogar grobe Forderung gestellt hättest !
Durch deinen sauberen Höllenzwang aber hast du ihm förmlich den Dolch auf die Brust gesetzt , wie es auch ganz einer Zeit gemäß ist , wo man sich mit Worten und Brieflein totsticht !
Ach , der arme Mann !
Er war so fleißig und gab sich Mühe , aus der Patsche zu kommen , und als er endlich ein Röllchen Geld erwarb , nimmt man es ihm weg !
Es ist so natürlich , den Lohn der Arbeit zu seiner Ernährung zu verwenden ; aber da heißt es Gib erst zurück , wenn du geborgt hast , und dann verhungere ! "
Wir saßen beide eine Weile düster und nachdenklich da ; dann sagte ich :
" Das hilft nichts , geschehene Dinge sind einmal nicht zu ändern .
Die Geschichte soll mir zur Warnung dienen ; aber ich kann sie nicht ewig mit mir herumschleppen , und da ich mein Un recht einsehe und bereue , so mußt du es mir endlich verzeihen und mir die Gewißheit geben , daß ich deswegen nicht hassenswert und garstig aussehe ! "
Ich merkte nämlich erst jetzt , daß ich darum hergekommen und allerdings bedürftig war , durch Mitteilung und durch die Vermittlung eines fremden Mundes die Vertilgung eines drückenden Gefühles oder Verzeihung zu erlangen , wenn ich mich auch gegen des Schulmeisters christliche Vermittlung sträubte .
Aber Judith antwortete :
" Daraus wird nichts !
Die Vorwürfe deines Gewissens sind ein ganz gesundes Brot für dich , und daran sollst du dein Leben lang kauen , ohne daß ich dir die Mutter der Verzeihung darauf streiche !
Dies könnte ich nicht einmal ; denn was nicht zu ändern ist , ist eben deswegen auch nicht zu vergessen , dünkt mich , ich habe dies genügsam erfahren !
Übrigens fühle ich leider nicht , daß du mir irgend widerwärtig geworden wärest ; wozu wäre man da , wenn man nicht die Menschen , wie sie sind , liebhaben müßte ? "
Diese seltsame Äußerung in Judiths Munde machte mich tief betroffen und verursachte mir ein langes Nachsinnen ; je länger ich sann , desto gewisser wurde es mir , daß Judith das Rechte getroffen , und ich gelangte zu einem Schluß , welcher , indem er zugleich zu einem Entschluß wurde , nämlich das Bewußtsein des begangenen Unrechtes nie mehr vergessen und immer in seiner ganzen Frische tragen zu wollen , mir die einzig mögliche Ausgleichung zu sein schien .
Es ist merkwürdig , daß die Menschen immer nur große Dummheiten , die sie begangen , nicht glauben vergessen zu können , sich bei deren Erinnerung vor den Kopf schlagen und kein Hehl daraus machen , zum Zeichen , daß sie nun klüger geworden ; begangenes Unrecht aber machen sie sich weiß allmählich vergessen zu können , während es in der Tat nicht so ist , schon deswegen , weil das Unrecht mit der Dummheit nahe verwandt und ähnlicher Natur ist .
Ja , dachte ich , so unverzeihlich mir meine Dummheiten sind , wird es auch mein Unrecht sein !
Was ich an Römer getan , werde ich von nun an nie mehr vergessen und , wenn ich unsterblich bin , in die Unsterblichkeit hinübernehmen , denn es gehört zu meiner Person , zu meiner Geschichte , zu meinem Wesen , sonst wäre es nicht geschehen !
Meine einzige Sorge wird sein , noch so viel Rechtes zu tun , daß mein Dasein erträglich bleibt !
Ich sprang auf und verkündete der Judith diese Ausführung und Anwendung ihrer einfachen Worte ; denn es dünkte mir ein wichtiges Ereignis , so für immer auf das Vergessen einer Übeltat zu verzichten .
Judith zog mich nieder und sagte mir ins Ohr : " Ja , so wird es sein ; du bist jetzt erwachsen und hast in diesem Handel schon deine moralische Jungfernschaft verloren !
Nun kannst du dich in acht nehmen , Bürschchen , daß es nicht so fort geht ! "
Der drollige Ausdruck , den sie gebrauchte , stellte mir die Sache noch in ein neues und lächerlich deutliches Licht , daß ich einen großen Ärger empfand und mich einen ausgesuchten Narren , Laffen und aufgeblähten Popanz schalt , der sich so blindlings habe übertölpeln lassen .
Judith lachte und rief :
" Denke daran , wenn man am gescheitesten zu sein glaubt , so kommt man am ehesten als ein Esel zum Vorschein ! "
- " Du brauchst nicht zu lachen ! " erwiderte ich ärgerlich , " Dich habe dir soeben , als ich kam , auch einen Tort angetan ; ich habe gefürchtet , daß du vielleicht einen fremden Mann bei dir haben könntest ! "
Sie gab mir sogleich eine Ohrfeige , doch wie es mir schien , mehr aus Vergnügen als aus Zorn , und sagte : " Du bist ein recht unverschämter Gesell und glaubst wohl , du brauchst deine schändlichen Gedanken nur einzugestehen , um von mir absolviert zu sein !
Freilich sind es nur die beschränkten und vernagelten Leute , welche nie etwas eingestehen wollen ; aber die übrigen machen deswegen damit auch nicht alles gut !
Zur Strafe gehst du mir jetzt gleich zum Tempel hinaus und machst , daß du nach Hause kommst !
In der künftigen Nacht darfst du dich wieder zeigen ! "
Ich begab mich nun , sooft es anging , des Nachts zu ihr ; sie brachte den Tag meistens allein und einsam zu , während ich entweder weite Streifzüge unternahm , um zu zeichnen , oder in des Schulmeisters Haus , als in einer Schule des Leidens , mich still und gemessen halten mußte .
So hatten wir in diesen Nächten vollauf zu plaudern und saßen oft stundenlang am offenen Fenster , wo der Glanz des nächtlichen Himmels über der sommerlichen Welt lag ; oder wir machten dasselbe zu , schlossen die Läden und setzten uns an den Tisch und lasen zusammen .
Ich hatte ihr im Herbst auf ihr Verlangen nach einem Buche eine deutsche Übersetzung des Rasenden Roland zurückgelassen , welchen ich selbst noch nicht näher kannte ; Judith hatte aber den Winter über oft darin gelesen und pries mir jetzt das Buch als das allerschönste in der Welt an .
Judith zweifelte nicht mehr an Annas baldigem Tod und sagte mir dies unverhohlen , obgleich ich es nicht zugeben wollte ; durch diesen Gegenstand und meine Berichte von jenem Krankenlager wurden wir trübselig und düster , jedes auf seine Weise , und wenn wir nun im Ariosst lasen , so vergaßen wir alle Trübsal und tauchten uns in eine frische glänzende Welt .
Judith hatte das Buch erst ganz volkstümlich als etwas Gedrucktes genommen , wie es war , ohne über seinen Ursprung und seine Bedeutung zu grübeln ; als wir aber jetzt zusammen darin lasen , verlangte sie manches zu wissen , und ich mußte ihr , so gut ich konnte , einen Begriff geben von der Entstehungsweise und der Geltung eines solchen Werkes , von dem Wollen und den bewußten Absichten des Dichters , und ich erzählte , soviel ich wußte , von Ariosst .
Nun wurde sie erst recht fröhlich , nannte ihn einen klugen und weisen Mann und las die Gesänge mit verdoppelter Lust , da sie wußte , daß diesen so heiteren und so tiefsinnigen Wechselgeschichten eine heitere Absicht zugrunde lag , ein Wollen , Schaffen und Gestalten , eine Einsicht und ein Wissen , das ihr in seiner Neuheit wie ein Stern aus dunkler Nacht erglänzte .
Wenn die in Schönheit leuchtenden Geschöpfe rastlos an uns vorüberzogen , von Täuschung zu Täuschung , und , leidenschaftlich sich jagend und haschend , immer eins dem anderen entschwand und ein drittes hervortrat , oder wenn sie in kurzen Augenblicken bestraft und trauernd ruhten von ihrer Leidenschaft oder vielmehr sich tiefer in dieselbe hineinzuruhen schienen an klaren Gewässern , unter wundervollen Bäumen , so rief Judith : " O kluger Mann !
Ja , so geht es zu , so sind die Menschen und ihr Leben , so sind wir selbst , wir Narren ! "
Noch mehr glaubte ich selbst der Gegenstand eines poetischen Scherzes zu sein , wenn ich mich neben einem Weibe sah , welches ganz wie jene Fabelwesen auf der Stufe der voll entfalteten Kraft und Schönheit stillzustehen und dazu angetan schien , unablässig die Leidenschaft fahrender Helden zu erregen .
An ihrer ganzen Gestalt hatte jeder Zug ein siegreiches festes Gepräge , und die Faltenlagen ihrer einfachen Kleider waren immer so schmuck und stattlich , daß man durch sie hindurch in der Aufregung wohl goldene Spangen oder gar schimmernde Waffenstücke zu ahnen glaubte .
Entblößte jedoch das üppige Gedicht seine Frauen von Schmuck und Kleidung und brachte ihre bloßgegebene Schönheit in offene Bedrängnis oder in eine mutwillig verführerische Lage , während ich mich nur durch einen dünnen Faden von der blühendsten Wirklichkeit geschieden sah , so war es mir vollends , als wäre ich ein törichter Fabelheld und das Spielzeug eines ausgelassenen Dichters .
Nicht nur das platonische Pflicht- und Treuegefühl gegen das von christlichen Gebeten umgebene Leidensbett eines zarten Wesens , sondern auch die Furcht , schlichtweg durch Annas krankhafte Träume verraten zu werden , legten ein Band um die verlangenden Sinne , während Judith aus Rücksicht für Anna und mich und aus dem Bedürfnisse sich beherrschte , in dem zierlich platonischen Wesen der Jugend noch etwas mitzuleben .
Unsere Hände bewegten sich manchmal unwillkürlich nach den Schultern oder den Hüften des anderen , um sich darumzulegen , tappten aber auf halbem Wege in der Luft und endigten mit einem zaghaften abgebrochenen Wangenstreicheln , so daß wir närrischerweise zwei jungen Katzen glichen , welche mit den Pfötchen nacheinander auslangen , elektrisch zitternd und unschlüssig , ob sie spielen oder sich zerzausen sollen .
Siebentes Kapitel Annas Tod und Begräbnis Zu diesen so ganz entgegengesetzten Aufregungen der Tage und Nächte kamen im Sommer noch verschiedene Auftritte im ländlichen Familienleben , welche bei aller Einfachheit doch den gewaltigen Wechsel des Lebens und sein unaufhaltsames Vor übergehen ins Licht stellten .
Der Haushalt des jungen Müllers ließ seine Heirat nicht länger aufschieben , und es wurde also eine dreitägige Hochzeit gefeiert , bei welcher die spärlichen Überreste städtischen Gebrauches , so die Braut aus ihrem Hause mitbrachte , gar jämmerlich dem ländlichen Pomp unterliegen mußten .
Die Geigen schwiegen nicht während der drei Tage ; ich ging mehrmals hin und fand Judith festlich geschmückt unter dem Gedränge der Gäste ; ein und das andere Mal tanzte ich bescheiden und wie ein Fremder mit ihr , und auch sie hielt sich zurück , obgleich wir während der geräuschvollen Nachte Gelegenheit genug hatten , uns unbemerkt nahe zu sein .
Kaum war die Hochzeit vorüber , so erkrankte die Muhme , welche noch nicht fünfzig Jahre alt war , und starb in Zeit von drei Wochen .
Sie war eine starke Frau , daher ihre Todeskrankheit um so gewaltsamer , und sie starb sehr ungern .
Sie litt heftig und unruhig und ergab sich erst in den letzten zwei Tagen ; und an dem Schrecken , der sich im Hause verbreitete , konnte man erst sehen , was sie allen gewesen .
Aber wie nach dem Hinsinken eines guten Soldaten auf dem Felde der Ehre die Lücke schnell wieder ausgefüllt wird und der Kampf rüstig fortgeht , so erwies sich die Art des Lebens und des Todes dieser tapferen Frau auch auf das schönste dadurch , daß die Reihen ohne Lamentieren rasch sich schlossen ; die Kinder teilten sich in Arbeit und Sorge und versparten den beschaulichen Schmerz bis auf die Tage der Ruhe , wo man die Marksteine des Lebens deutlicher ragen sieht .
Nur der Oheim äußerte erst einige tiefere Klagen , faßte diese aber bald in das Wort " meine selige Frau " zusammen , das er nun bei jeder Gelegenheit anbrachte .
An dem Leichenbegängnisse sah ich Judith unter den fremden Frauen .
Sie trug ein städtisches schwarzes Kleid bis unter das Kinn zugeknöpft , sah demütig auf den Boden und ging doch hoch einher .
So war in kurzer Zeit die Gestalt des oheimlichen Hauses verändert und durch die verschiedenen Vorgänge alles älter und ernster geworden .
Von der traurigen Schaubühne ihres Krankenbettes sah die arme Anna diese Veränderungen , aber schon mehr als äußerlich getrennt von den Ereignissen .
Sie hatte eine geraume Zeit im gleichen Zustande verharrt , und alle hofften , daß sie am Ende wieder aufleben würde .
Aber da man es am wenigsten dachte , erschien eines Morgens im Herbste der Schulmeister schwarz gekleidet bei dem Oheim , welcher selbst noch schwarz ging , und verkündete ihren Tod .
In einem Augenblicke war nicht nur das Haus von Klagen erfüllt , sondern auch die benachbarte Mühle , und die Vorübergehenden verbreiteten das Leid im ganzen Dorfe .
Seit bald einem Jahre war der Gedanke an Annas Tod großgezogen worden , und die Leute schienen sich ein rechtes Fest der Klage und des Bedauerns aufgespart zu haben ; denn für eine allgemeine Totentrauer war dieser anmutige , schuldlose und geehrte Gegenstand geeigneter als die eigenen Verluste .
Ich hielt mich ganz still im Hintergrunde ; wenn ich auch bei freudigen Anlässen laut wurde und unwillkürlich eine anmaßende Rolle spielte , so wußte ich dagegen , wo es traurig herging , mich gar nicht vorzudrängen und geriet immer in die Verlegenheit , für teilnahmlos und verhärtet angesehen zu werden , und dies um so mehr , als mir von jeher nur die aus Schuld oder Unrecht entstandenen Mißstimmungen , die innere Berührung der Menschen , nie aber das unmittelbare Unglück oder der Tod Tränen zu entlocken vermochten .
Jetzt aber war ich erstaunt über den frühen Tod und noch mehr darüber , daß dies arme tote Mädchen meine Geliebte war .
Ich versank in tiefes Nachdenken darüber , ohne Schrecken oder heftigen Schmerz zu empfinden , obgleich , ich das Ereignis mit meinen Gedanken nach allen Seiten durchfühlte .
Nicht einmal die Erinnerung an Judith verursachte mir Unruhe .
Nachdem der Schulmeister seine Anordnungen getroffen , wurde ich endlich aus meiner Verborgenheit hervorgezogen , indem er mich aufforderte , nunmehr mit ihm zurückzugehen und einige Zeit bei ihm zu wohnen .
Wir machten uns auf den Weg , indessen die übrigen Verwandten , besonders die noch im Hause lebenden Töchter , versprachen , sogleich nachzukommen .
Auf dem Wege faßte der Schulmeister sein Leid zusammen und gab ihm durch die nochmalige Schilderung der letzten Nacht und des Sterbens , das gegen Morgen eintraf , Worte .
Ich hörte alles aufmerksam und schweigend an ; die Nacht war beängstigend und leidenvoll gewesen , der Tod selbst aber fast unmerklich und sanft .
Meine Mutter und die alte Katherine hatten die Leiche schon geschmückt und in Annas Kämmerchen gelegt .
Da lag sie , nach des Schulmeisters Willen , auf dem schönen Blumenteppich , den sie einst für ihren Vater gestickt und man jetzt über ihr schmales Bettchen gebreitet hatte ; denn nach solchem Dienste gedachte der gute Mann diese Decke immer zunächst um sich zu haben , solange er noch lebte .
Über ihr an der Wand hatte Katherine , deren Haar nun schon ganz ergraut war und die aufs heftigste und zärtlichste lamentierte , das Bild hingehängt , das ich einst von Anna gemacht , und gegenüber sah man immer noch die Landschaft mit der Heidenstube , welche ich vor Jahren auf die weiße Mauer gemalt .
Die beiden Flügeltüren von Annas Schrank standen geöffnet , und ihr unschuldiges Eigentum trat zutage und verlieh der stillen Totenkammer einen wohltuenden Schein von Leben .
Auch gesellte sich der Schulmeister zu den beiden Frauen , die vor dem Schranke sich aufhielten , und half ihnen die zierlichsten und erinnerungsreichsten Sächelchen , deren die Selige von früher Kindheit an gesammelt , hervorziehen und beschauen .
Dies gewährte ihm eine lindernde Zerstreuung , welche ihn doch nicht von dem Gegenstande seines Schmerzes abzog .
Manches holte er sogar aus seinem eigenen Gewahrsam herbei , wie zum Beispiel ein Bündelchen Briefe , welche das Kind aus Welschland an ihn geschrieben ; diese legte er , nebst den Antworten , die er nun im Schranke vorfand , auf Annas kleinen Tisch , und ebenso noch andere Sachen , ihre Lieblingsbücher , angefangene und vollendete Arbeiten , einige Kleinode , jene silberne Brautkrone Einiges wurde sogar ihr zur Seite auf den Teppich gelegt , so daß hier unbewußt und gegen den sonstigen Gebrauch von diesen einfachen Leuten eine Sitte alter Völker geübt wurde .
Dabei sprachen sie immer so miteinander , als ob die Tote es noch hören könnte , und keines mochte sich gern aus der Kammer entfernen .
Indessen verweilte ich ruhig bei der Leiche und beschaute sie mit unverwandten Blicken ; aber ich wurde durch das unmittelbare Anschauen des Todes nicht klüger aus dem Geheimnis desselben oder vielmehr nicht aufgeregter als vorhin .
Anna lag da , nicht viel anders , als ich sie zuletzt gesehen , nur daß die Augen geschlossen waren und das blütenweiße Gesicht beständig zu einem leisen Erröten bereit schien .
Ihr Haar glänzte frisch und golden , und ihre weißen Händchen lagen gefaltet auf dem weißen Kleide mit einer weißen Rose .
Ich sah alles wohl und empfand beinahe eine Art glücklichen Stolzes , in einer so traurigen Lage zu sein und eine so poetisch schöne tote Jugendgeliebte vor mir zu sehen .
Meine Mutter und der Schulmeister schienen stillschweigend mir ein nahes Recht auf die Verstorbene zuzugestehen , als man verabredete , daß fortwährend jemand bei der Toten weilen und ich die erste Wache halten sollte , damit die übrigen sich in ihrer Erschöpfung einstweilen zurückziehen und etwas erholen konnten .
Ich blieb aber nicht lange allein mit der Anna , da bald die Basen aus dem Dorfe kamen und nach ihnen manche andere Mädchen und Frauen , denen ein so rührendes Ereignis und eine so berühmte Leiche wichtig genug waren , die drängendste Arbeit liegenzulassen und dem ehrfurchtsvollen Dienste des Menschengeschickes nachzugehen .
Die Kammer füllte sich mit Frauensleuten , welche erst einer feierlich flüsternden Unterhaltung pflegten , dann aber in ein ziemliches Geplauder gerieten .
Sie standen dichtgedrängt um die stille Anna herum , die jungen mit ehrbar aufeinandergelegten Händen , die älteren mit untergeschlagenen Armen .
Die Kammertür stand geöffnet für die Ab- und Zugehenden , und ich nahm die Gelegenheit wahr , mich hinauszumachen und im Freien umherzuschlendern , wo die nach dem Dorfe führenden Wege ungewöhnlich belebt waren .
Erst nach Mitternacht traf mich die Reihe wieder , die Totenwache zu versehen , welche wir seltsamerweise nun einmal eingerichtet .
Ich blieb nun bis zum Morgen in der Kammer ; aber so schnell mir die Stunden vorübergingen , wie ein Augenblick , sowenig wüßte ich eigentlich zu sagen , was ich gedacht und empfunden .
Es war so still , daß ich durch die Stille hindurch glaubte das Rauschen der Ewigkeit zu hören ; das tote weiße Mädchen lag unbeweglich fort und fort , die farbigen Blumen des Teppichs aber schienen zu wachsen in dem schwachen Lichte .
Nun ging der Morgenstern auf und spiegelte sich im See ; ich löschte die Lampe ihm zu Ehren , damit er allein Annas Totenlicht sei , saß nun im Dunklen in meiner Ecke und sah nach und nach die Kammer sich erhellen .
Mit der Dämmerung , welche in das reinste goldene Morgenrot überging , schien es zu leben und zu weben um die stille Gestalt , bis sie deutlich im hellen Tage dalag .
Ich hatte mich erhoben und vor das Bett gestellt , und indem ihre Gesichtszüge klar wurden , nannte ich ihren Namen , aber nur hauchend und tonlos ; es blieb totenstill , und als ich zugleich zaghaft ihre Hand berührte , zog ich die meinige entsetzt zurück , als ob ich an glühendes Eisen gekommen wäre ; denn die Hand war kalt wie ein Häuflein kühler Ton .
Wie dies abstoßende kalte Gefühl meinen ganzen Körper durchrieselte , ließ es mir nun auch plötzlich das Gesicht der Leiche so seelenlos und abwesend erscheinen , daß mir beinahe der erschreckte Ausruf entfuhr :
" Was habe ich mit dir zu schaffen ? " als aus dem Saale her die Orgel in milden und doch kräftigen Tönen erklang , welche nur manchmal in leidvollem Zittern schwankten , dann aber wieder zu harmonischer Kraft sich ermannten .
Es war der Schulmeister , welcher in dieser Morgenfrühe seinen Schmerz und seine Klage durch die Melodie eines alten Liedes zum Lob der Unsterblichkeit zu lindern suchte .
Ich lauschte der Melodie ; sie bezwang meinen körperlichen Schrecken , ihre geheimnisvollen Töne öffneten die unsterbliche Geisterwelt , und ich glaubte derselben durch ein neues Gelöbnis mit der Entschlafenen um so sicherer anzugehören .
Das schien mir wiederum ein bedeutungsvoller und feierlicher Vorgang zu sein .
Aber zugleich wurde mir nun der Aufenthalt in der Totenkammer zuwider , und ich war froh , mit dem Gedanken der Unsterblichkeit hinauszukommen ins lebendige Grüne .
Es erschien an diesem Tage ein Schreinergesell aus dem Dorfe , um hier den Sarg zu machen .
Der Schulmeister hatte vor Jahren schon eigenhändig eine saubere Tanne gefällt und zu seinem Sarge bestimmt .
Dieselbe lag in Bretter gesägt hinter dem Hause , durch das Vordach geschützt , und hatte immer zu einer Ruhebank gedient , auf welcher der Schulmeister zu lesen und seine Tochter als Kind zu spielen pflegte .
Es zeigte sich nun , daß die obere schlanke Hälfte des Baumes den schmalen Totenschrein Annas abgeben könne , ohne den zukünftigen Sarg des Vaters zu beeinträchtigen ; die wohlgetrockneten Bretter wurden abgehoben und eines nach dem anderen entzweigeschnitten .
Der Schulmeister vermochte aber nicht lange dabeizusein , und selbst die Frauen im Hause klagten über den Ton der Säge .
Der Schreiner und ich trugen daher die Bretter und das Werkzeug in den leichten Nachen und fuhren an eine entlegene Stelle des Ufers , wo das Flüßchen aus dem Gehölze hervortritt und in den See mündet .
Junge Buchen bilden dort am Wasser eine lichte Vorhalle , und indem der Schreiner einige der Bretter mittels Schraubzwingen an den Stämmchen befestigte , stellte er eine zweckmäßige Hobelbank her , über welcher die Laubkronen der Buchen sich wölbten .
Zuerst mußte der Boden des Sarges zusammengefügt und geleimt werden .
Ich machte aus den ersten Hobelspänen und aus Reisig ein Feuer und setzte die Leimpfanne darauf , in welche ich mit der Hand aus dem Bache Wasser träufelte , indessen der Schreiner rüstig darauf lossägte und - hobelte .
Während die gerollten Späne sich mit dem fallenden Laube vermischten und die Bretter glatt wurden , machte ich die nähere Bekanntschaft des jungen Gesellen .
Es war ein Norddeutscher von der fernsten Ostsee , groß und schlank gewachsen , mit kühnen und schön geschnittenen Gesichtszügen , hellblauen , aber feurigen Augen und mit starkem goldenem Haar , welches man immer über die freie Stirn zurückgestrichen und hinten in einen Schopf gebunden zu sehen glaubte , so urgermanisch sah er aus .
Seine Bewegungen bei der Arbeit waren elegant , und dabei hatte sein Wesen doch etwas Kindliches .
Wir wurden bald vertraut , und er erzählte mir von seiner Heimat , von den alten Städten im Norden , vom Meere und von der mächtigen Hansa .
Wohlunterrichtet , erzählte er mir von der Vergangenheit , den Sitten und Gebräuchen jener Seeküsten ; ich sah den langen und hartnäckigen Kampf der Städte mit den Seeräubern , den Vitalienbrüdern , und wie Klaus Stürzenbecher mit vielen Gesellen von den Hamburgern geköpft wurde ; dann sah ich wieder , wie am ersten Mai aus den Toren von Stralsund der jüngste Ratsherr mit einem glänzenden Jugendgefolge im Waffenschmuck zog und in den prächtigen Buchenwäldern zum Maigrafen gekrönt wurde mit einer grünen Laubkrone und wie er abends mit einer schönen Maigräfin tanzte .
Auch beschrieb er die Wohnungen und Trachten nordischer Bauern , von den Hinterpommern bis zu den tüchtigen Friesen , bei welchen noch Spuren männlichen Freiheitssinnes zu finden ; ich sah ihre Hochzeiten und Leichenbegängnisse , bis der Geselle endlich auch von der Freiheit deutscher Nation redete und wie bald die stattliche Republik eingeführt werden müßte .
Ich schnitzte unterdessen nach seiner Anleitung eine Anzahl hölzerner Nägel ; er aber führte schon mit dem Doppelhobel die letzten Stöße über die Bretter , feine Späne lösten sich gleich zarten glänzenden Seidenbändern und mit einem hell singenden Tone , welcher unter den Bäumen ein seltsames Lied war .
Die Herbstsonne schien warm und lieblich drein , glänzte frei auf dem Wasser und verlor sich im blauen Duft der Waldnacht , an deren Eingang wir uns angesiedelt .
Jetzt bauten wir die glatten weißen Bretter zusammen , die Hammerschläge hallten wider durch den Wald , daß die Vögel überrascht aufflogen und erschreckt über den Seespiegel streiften , und bald stand der fertige Sarg in seiner Einfachheit vor uns , schlank und ebenmäßig , der Deckel schön gewölbt .
Der Schreiner hobelte mit wenigen Zügen eine schmale zierliche Hohlkehle um die Kanten , und ich sah verwundert , wie die Linien sich spielend dem weichen Holze eindrückten ; dann zog er zwei Stücke Bimsstein hervor und rieb sie aneinander , indem er sie über den Sarg hielt und das weiße Pulver über denselben verbreitete ; ich mußte lachen , als er die Stücke geradeso gewandt handhabte und abklopfte , wie ich bei meiner Mutter gesehen , wenn sie zwei Zuckerschollen über einem Kuchen rieb .
Als er aber den Sarg vollends mit dem Steine abschliff , wurde derselbe so weiß wie Schnee , und kaum der leiseste rötliche Hauch des Tannenholzes schimmerte noch durch , wie bei einer Apfelblüte .
Er sah so weit schöner und edler aus , als wenn er bemalt , vergoldet oder gar mit Erz beschlagen gewesen wäre .
Am Haupte hatte der Schreiner der Sitte gemäß eine Öffnung mit einem Schieber angebracht , durch welche man das Gesicht sehen konnte , bis der Sarg versenkt wurde ; es galt nun noch eine Glasscheibe einzusetzen , welche man vergessen , und ich fuhr nach dem Hause , um eine solche zu holen .
Ich wußte schon , daß auf einem Schranke ein alter kleiner Rahmen lag , aus welchem das Bild lange verschwunden .
Ich nahm das vergessene Glas , legte es vorsichtig in den Nachen und fuhr zurück .
Der Geselle streifte ein wenig im Gehölze umher und suchte Haselnüsse ; ich probierte indessen die Scheibe , und als ich fand , daß sie in die ; Öffnung paßte , tauchte ich sie , da sie ganz bestaubt und verdunkelt war , in den klaren Bach und wusch sie sorgfältig , ohne sie an den Steinen zu zerbrechen .
Dann hob ich sie empor und ließ das lautere Wasser ablaufen , und indem ich das glänzende Glas hoch gegen die Sonne hielt und durch dasselbe schaute , erblickte ich das lieblichste Wunder , das ich je gesehen .
Ich sah nämlich drei musizierende Engelknaben der mittlere hielt ein Notenblatt und sang , die beiden anderen spielten auf altertümlichen Geigen , und alle schauten freudig und andachtsvoll nach oben ; aber die Erscheinung war so luftig und zart durchsichtig , daß ich nicht wußte , ob sie auf den Sonnenstrahlen , im Glase oder nur in meiner Phantasie schwebte .
Wenn ich die Scheibe bewegte , so verschwanden die Engel auf Augenblicke , bis ich sie plötzlich mit einer anderen Wendung wieder bemerkte .
Ich habe seither erfahren , daß Kupferstiche oder Zeichnungen , welche lange Jahre hinter einem Glase ungestört liegen , während der dunklen Nächte dieser Jahre sich dem Glase mitteilen und gleichsam ihr Spiegelbild in demselben zurücklassen .
Ich ahnte jetzt auch etwas dergleichen , als ich die Schraffierung alter Kupferstecherei und in dem Bilde die Art van Eyckscher Engel erkannte .
Eine Schrift war nicht zu sehen und also das Blatt vielleicht ein seltener Probedruck gewesen .
Jetzt aber galt mir die kostbare Scheibe als die schönste Gabe , welche ich in den Sarg legen konnte , und ich befestigte sie selbst an dem Deckel , ohne jemandem etwas von dem Geheimnis zu sagen .
Der Deutsche kam wieder herbei ; wir suchten die feinsten Hobelspäne , unter welche sich manches rötliche Laub mischte , zusammen und breiteten sie zum letzten Bett in den Sarg ; dann schlossen wir ihn zu , trugen ihn in den Kahn und schifften mit dem weißen Gerät über den glänzenden stillen See , und die Frauen mit dem Schulmeister brachen in lautes Weinen aus , als sie uns heranfahren und landen sahen .
Am folgenden Tage wurde die Ärmste in den Sarg gelegt , von allen Blumen umgeben , welche in Haus und Garten augenblicklich blühten ; aber auf die Wölbung des Sarges wurde ein schwerer Kranz von Myrtenzweigen und weißen Rosen gebreitet , welchen die Jungfrauen aus der Kirchgemeinde brachten , und außerdem noch so viele einzelne Sträuße blasser herbstlicher Blüten aller Art , daß die ganze Oberfläche davon bedeckt wurde und nur die Glasscheibe frei blieb , durch welche man das weiße zarte Gesicht der Leiche sah .
Das Begräbnis sollte vom Hause des Oheims aus stattfinden , und zu diesem Ende hin mußte Anna erst über den Berg getragen werden .
Es erschienen daher Jünglinge aus dem Dorfe , welche die Bahre abwechselnd auf ihre Schultern nahmen , und unser kleines Gefolge der nächsten Angehörigen begleitete den Zug .
Auf der sonnigen Höhe des Berges wurde ein kurzer Halt gemacht und die Bahre auf die Erde gesetzt .
Es war so schön hier oben !
Der Blick schweifte über die umliegenden Täler bis in die blauen Berge , das Land lag in glänzender Farbenpracht rings um uns .
Die vier kräftigen Jünglinge , welche die Bahre zuletzt getragen , saßen ruhend auf den Tragewangen derselben , die Häupter auf ihre Hände gestützt , und schauten schweigend in alle vier Weltgegenden hinaus .
Hoch am blauen Himmel zogen leuchtende Wolken und schienen über dem Blumensarge einen Augenblick stillzustehen und neugierig durch das Fensterchen zu gucken , welches fast schalkhaft zwischen den Myrten und Rosen hervorfunkelte im Widerscheine der Wolken .
Wenn Anna jetzt die Augen hätte aufschlagen können , so würde sie ohne Zweifel die Engel gesehen und geglaubt haben , daß sie hoch im Himmel schwebten .
Wir saßen , wie es sich traf , umher , und mich rührte jetzt eine große Traurigkeit , so daß mir einige Tränen entfielen , als ich bedachte , daß Anna nun zum letzten Mal und tot über diesen schönen Berg gehe .
Als wir ins Dorf hinuntergestiegen , läutete die Totenglocke zum ersten Mal ; Kinder begleiteten uns in Scharen bis zum Hause , wo man den Sarg unter die Nußbäume vor die Tür hinstellte .
Wehmütig gewährten die Verwandten der Toten das Gastrecht bei dieser letzten Einkehr ; es waren nun kaum anderthalb Jahre vergangen , seit jener fröhliche Festzug der Hirten sich unter diesen selben Bäumen bewegte und mit bewundernder Lust Annas damalige Erscheinung begrüßte .
Bald war der Platz voll Menschen , welche sich herandrängten , um der Seligen zum letzten Mal ins Angesicht zu schauen .
Nun ging der Leichenzug vor sich , der außerordentlich groß war ; der Schulmeister , welcher dicht hinter dem Sarge ging , schluchzte fortwährend wie ein Kind .
Ich bereute jetzt , keinen schwarzen ehrbaren Anzug zu besitzen ; denn ich ging unter meinen schwarzgekleideten Vettern in meinem grünen Habit wie ein fremder Heide .
Nachdem die Gemeinde den gewohnten Gottesdienst beendigt und mit einem Choral beschlossen , scharte man sich draußen um das Grab , wo die ganze Jugend , außergewöhnlicherweise , einen sorgfältig eingeübten Grabgesang mit gemäßigter Stimme sang .
Jetzt wurde der Sarg hinabgelassen ; der Totengräber reichte den Kranz und die Blumen herauf , daß man sie aufbewahre , und der arme Sarg stand nun blank in der feuchten Tiefe .
Der Gesang dauerte fort , aber alle Frauen schluchzten .
Der letzte Sonnenstrahl leuchtete nun durch die Glasscheibe in das bleiche Gesicht , das darunter lag ; das Gefühl , das ich jetzt empfand , war so seltsam , daß ich es nicht anders als mit dem fremden und kalten Worte " objektiv " benennen kann , welches die Gelehrsamkeit erfunden hat .
Ich glaube , die Glasscheibe tat es mir an , daß ich das Gut , was sie verschloß , gleich einem hinter Glas und Rahmen gebrachten Teil meiner Erfahrung , meines Lebens , in gehobener und feierlicher Stimmung , aber in vollkommener Ruhe begraben sah ; noch heute weiß ich nicht , war es Stärke oder Schwäche , daß ich dies tragische und feierliche Ereignis viel eher genoß als erduldete und mich beinahe des nun ernst werdenden Wechsels des Lebens freute .
Der Schieber wurde zugemacht ; der Totengräber und sein Gehilfe stiegen herauf , und bald war der braune Hügel aufgebaut .
Achtes Kapitel Auch Judith geht Am anderen Tage , als der Schulmeister zu erkennen gab , daß er nun seinen Schmerz in der Einsamkeit allein mit seinem Gott überwinden wolle , schickte ich mich an , mit der Mutter nach der Stadt zurückzukehren .
Vorher ging ich zur Judith und fand sie beschäftigt , ihre Bäume zu mustern , da die Zeit wieder gekommen war , wo man das Obst einsammelte .
Der Herbstnebel traf gerade heute zum ersten Mal ein und verschleierte schon den Baumgarten mit seinem silbernen Gewebe .
Judith war ernst und etwas verlegen , als sie mich sah , da sie nicht recht wußte , wie sie sich zu dem traurigen Erlebnis stellen sollte .
Ich sagte aber ernsthaft , ich wäre gekommen , um Abschied von ihr zu nehmen , und zwar für immer ; denn ich könnte sie nun nie wiedersehen .
Sie erschrak und rief lächelnd , das werde nicht so unwiderruflich feststehen ; sie war bei diesem Lächeln so erbleicht und doch so freundlich , daß der Zauber mich beinahe umkehrte , wie man einen Handschuh umkehrt .
Doch ich bezwang mich und fuhr fort daß es ferner nicht so gehen könne , daß ich Anna von Kindheit auf gern gehabt , daß sie mich bis zu ihrem Tode wahrhaftige liebt und meiner Treue versichert gewesen sei .
Treue und Glauben müßten aber in der Welt sein , an etwas Sicheres müßte man sich halten , und ich betrachte es nicht nur für meine Pflicht , sondern auch als ein schönes Glück , in dem Andenken der Verstorbenen , im Hinblick auf unsere gemeinsame Unsterblichkeit , einen so klaren und lieblichen Stern für das ganze Leben zu haben , nach dem sich alle meine Handlungen richten könnten .
Als Judith diese Worte hörte , erschrak sie noch mehr und wurde zugleich schmerzlich berührt .
Es waren wieder von den Worten , von denen sie behauptete , daß niemals jemand zu ihr solche gesagt habe .
Heftig ging sie unter den Bäumen umher und sagte dann :
" Ich habe geglaubt , daß du mich wenigstens auch etwas liebtest ! "
" Gerade deswegen " , erwiderte ich , " weil ich wohl fühle , daß ich an dir hange , muß ein Ende gemacht werden ! "
" Nein , gerade deswegen mußt du erst anfangen , mich recht und ganz zu lieben ! "
" Das wäre eine schöne Wirtschaft ! " rief ich , " was soll dann aus Anna werden ? "
" Anna ist tot ! "
" Nein !
Sie ist nicht tot , ich werde sie wiedersehen , und ich kann doch nicht einen ganzen Harem von Frauen für die Ewigkeit ansammeln ! "
Bitter lachend stand Judith vor mir still und sagte : " Das wäre allerdings komisch !
Aber wissen wir denn , ob es eigentlich eine Ewigkeit gibt ? "
" So oder so " , erwiderte ich , " gibt es eine , und wenn es nur diejenige des Gedankens und der Wahrheit wäre !
Ja , wenn das tote Mädchen für immer in das Nichts hingeschwunden und sich gänzlich aufgelöst hätte , bis auf den Namen , so wäre dies erst ein rechter Grund , der armen Abwesenden Treue und Glauben zu halten !
Ich habe es gelobt , und nichts soll mich in meinem Vorsatz wankend machen ! "
" Nichts ! " rief Judith , "o du närrischer Gesell !
Willst du in ein Kloster gehen ?
Du siehst mir danach aus !
Aber wir wollen über diese heikle Sache nicht ferner streiten ; ich habe nicht gewünscht , daß du nach der traurigen Begebenheit sogleich zu mir kommest , und habe dich nicht erwartet .
Gehe nach der Stadt und halte dich ein halbes Jahr still und ruhig , und dann wirst du schon sehen , was sich ferner begeben wird ! "
" Ich sehe es jetzt schon " erwiderte ich , " du wirst mich nie wieder sehen und sprechen , dies schwöre ich hiermit bei Gott und allem , was heilig ist , bei dem besseren Teil meiner selbst und - "
" Halt inne ! " rief Judith ängstlich und legte mir die Hand auf den Mund ; " du würdest es sicher noch einmal bereuen , dir selbst eine so grausame Schlinge ge legt zu haben !
Welche Teufelei steckt in den Köpfen dieser Menschen !
Und dazu behaupten sie und machen sich selber weiß , daß sie nach ihrem Herzen handeln .
Fühlst du denn gar nicht , daß ein Herz seine wahre Ehre nur darin finden kann , zu lieben , wo es geliebt wird , wenn es dies kann ?
Du kannst es und tust es heimlich doch , und somit wäre alles in der Ordnung !
Sobald du mich nicht mehr leiden magst , sobald die Jahre uns sonst auseinanderführen , sollst du mich ganz und für immer verlassen und vergessen , ich will dies über mich nehmen ; aber nur jetzt verlaß mich und zwinge dich nicht , mich zu verlassen ; dies allein tut mir weh , und es würde mich wahrhaft unglücklich machen , allein um unserer Dummheit Willen nicht einmal ein oder zwei Jahre noch glücklich sein zu dürfen ! "
" Diese zwei Jahre " , sagte ich , " müssen und werden auch so vorübergehen , und gerade dann werden wir beide glücklicher sein , wenn wir jetzt scheiden ; es ist nun gerade noch die höchste Zeit , es ohne spätere Reue zu tun .
Und wenn ich dir es deutsch heraussagen soll , so wisse , daß ich mir auch dein Andenken , was immer ein Andenken der Verirrung für mich sein wird , doch noch so rein als möglich retten und erhalten möchte , und das kann nur durch ein rasches Scheiden in diesem Augenblicke geschehen .
Du sagst und beklagst es , daß du nie teilgehabt an der edleren und höheren Hälfte der Liebe !
Welche bessere Gelegenheit kannst du ergreifen , als wenn du aus Liebe mir freiwillig erleichterst , deiner mit Achtung und Liebe zu gedenken und zugleich der Verstorbenen treu zu sein ?
Wirst du dich dadurch nicht an jener tieferen Art der Liebe beteiligen ? "
" Oh , alles Luft und Schall ! " rief Judith ; " ich habe nichts gesagt , ich will nichts gesagt haben !
Ich will nicht deine Achtung , ich will dich selbst haben , solange ich kann ! "
Sie suchte meine beiden Hände zu fassen , ergriff dieselben , und während ich sie ihr vergeblich zu entziehen mich bemühte , indes sie mir ganz flehentlich in die Augen sah , fuhr sie mit leidenschaftlichem Tone fort : " O liebster Heinrich !
Gehe nach der Stadt , aber versprich mir , dich nicht selbst zu binden und zu zwingen durch solche schreckliche Schwüre und Gelübde !
Laß dich - "
Ich wollte sie unterbrechen , aber sie verhinderte mich am Reden und überflügelte mich : " Laß es gehen , wie es will , sage ich dir !
Auch an mich darfst du dich nicht binden , du sollst frei sein wie der Wind !
Gefällt es dir - "
Aber ich ließ Judith nicht ausreden , sondern riß mich los und rief : " Nie werde ich dich wiedersehen , so gewiß ich ehrlich zu bleiben hoffe !
Judith ! lebe wohl ! "
Ich eilte davon , sah mich aber noch einmal um , wie von einer starken Gewalt gezwungen , und sah sie in ihrer Rede unterbrochen dastehen , die Hände noch ausgestreckt von dem Losreißen der meinigen , und überrascht , kummervoll und beleidigt zugleich mir nachschauend , ohne ein Wort hervorzubringen , bis mir der von der Sonne durchwirkte Nebel ihr Bild verschleierte .
Eine Stunde später saß ich mit meiner Mutter auf einem Gefährt , und einer der Söhne des Oheims führte uns nach der Stadt .
Ich blieb den ganzen Winter allein und ohne allen Umgang ; meine Mappen und mein Handwerkszeug mochte ich kaum ansehen , da es mich immer an den unglücklichen Römer erinnerte und ich mir kaum ein Recht zu haben schien , das , was er mich gelehrt , fortzubilden und anzuwenden .
Manchmal machte ich den Versuch , eine neue und eigene Art zu erfinden , wobei sich aber sogleich herausstellte , daß ich selbst das Urteil und die Mittel , die ich dazu verwandte , nur Römern verdankte .
Dagegen las ich fort und fort , vom Morgen bis zum Abend und tief in die Nacht hinein .
Ich las immer deutsche Bücher und auf die seltsamste Weise .
Jeden Abend nahm ich mir vor , den nächsten Morgen , und jeden Morgen , den nächsten Mittag die Bücher beiseite zu werfen und an meine Arbeit zu gehen ; selbst von Stunde zu Stunde setzte ich den Termin ; aber die Stunden stahlen sich fort , indem ich die Buchseiten umschlug , ich vergaß sie buchstäblich ; die Tage , Wochen und Monate vergingen so sachte und heimtückisch , als ob sie , leise sich drängend , sich selbst entwendeten und zu meiner fortwährenden Beunruhigung lachend verschwänden .
Jedoch brachte der Frühling eine kräftige Erlösung aus diesem unbehaglichen Zustande ; ich hatte nun das achtzehnte Jahr überschritten , war militärpflichtig geworden und mußte mich am festgesetzten Tage in der Kaserne einfinden , um die kleinen Geheimnisse der Vaterlandsverteidigung zu lernen .
Ich stieß auf ein summendes Gewimmel von vielen hundert jungen Leuten aus allen Ständen , welche jedoch bald von einer Gruppe grimmiger Kriegsleute zur Stille gebracht , abgeteilt und während vieler Stunden als ungefüger Rohstoff hin- und hergeschoben wurden , bis sie das Brauchbare zusammengestellt hatten .
Als sodann die Übungen begannen und die Abteilungen zum ersten Mal unter den einzelnen Vorgesetzten , welches vielumhergeratene Soldatennaturen waren , zusammenkamen , wurde mir , der ich nichts bedacht hatte , unter Gelächter mein langes Haar dicht am Kopfe weggeschnitten .
Aber ich legte es mit dem größten Vergnügen auf den Altar des Vaterlandes und fühlte behaglich die frische Luft um meinen geschorenen Kopf wehen .
Jetzt mußten wir aber auch die Hände darstrecken , ob sie gewaschen und die Nägel ordentlich beschnitten seien , und nun war die Reihe an manchem biederen Handarbeiter , sich geräuschvoll belehren zu lassen .
Dann gab man uns ein kleines Büchelchen , das erste einer ganzen Reihe , in welchem Pflichten und Haltung des angehenden Soldaten in wunderlichen Sätzen als Fragen und Antworten deutlich gedruckt und numeriert waren .
Jeder Regel war aber eine kurze Begründung beigefügt , und wenn auch manchmal diese in den Satz der Regel , die Regel aber hintennach in die Begründung hineingeraten war , so lernten wir doch alle jedes Wort andächtig auswendig und setzten eine Ehre darein , das Pensum ohne Stottern herzusagen .
Endlich verging der Rest des ersten Tages Über den Bemühungen , von neuem stehen und einige Schritte gehen zu lernen , was unter dem Wechsel von Mut und Niedergeschlagenheit sich vollendete .
Es galt nun , sich einer eisernen Ordnung zu fügen und sich jeder Pünktlichkeit zu befleißen ; obgleich dies mich aus meiner vollkommenen Freiheit und Selbstherrlichkeit herausriß , so empfand ich doch einen wahren Durst , mich der Strenge hinzugeben , so komisch auch ihre nächsten kleinen Zwecke waren , und als ich einigemal nahe an der Strafe hinstreifte , und zwar nur aus Versehen , überkam mich ein wahrhaftes Schamgefühl vor den Kameraden , welche sich ihrerseits ganz ähnlich verhielten .
Als wir soweit waren , mit Ehren über die Straße zu marschieren , zogen wir jeden Tag auf den Exerzierplatz , welcher im Freien lag und von einer Landstraße durchschnitten wurde .
Eines Tages , als ich mitten in einem Gliede von etwa fünfzehn Mann nach dem Kommando des Instruktors , der unermüdlich rückwärts vor uns herging , schreiend und mit den Händen das Tempo schlagend , so schon stundenlang den weiten Platz nach allen Richtungen durchmessen hatte , kamen wir plötzlich dicht an die Landstraße zu stehen und machten dort halte und Front gegen dieselbe .
Der Exerziermeister , welcher hinter der Front stand , ließ uns eine Weile regungslos verharren , um einige Ausstellungen an unseren Gliedmaßen anzubringen .
Während er hinter unserem Rücken lärmte und schalt , soweit es ihm Gesetz und Sitte nur immer erlaubten , und wir so mit dem Gesichte gegen die Straße gewendet ihm zuhörten , kam ein großer , mit vier Pferden bespannter Wagen angefahren , wie die Auswanderer ihn herzurichten pflegen , welche sich nach den Seehäfen begeben .
Dieser Wagen war mit ansehnlichem Gute beladen und schien mehreren Familien zu dienen , die nach Amerika zogen .
Kräftige Männer gingen neben den Pferden , vier oder fünf Frauen saßen auf dem Wagen unter einem bequemen Zeltdache nebst mehreren Kindern und selbst einem Greise .
Aber diesen Leuten hatte sich Judith angeschlossen ; denn ich entdeckte sie , als ich zufällig hinsah , hoch und schön unter den Frauen , mit Reisekleidern angetan .
Ich erschrak heftig , und das Herz schlug mir gewaltig , während ich mich nicht regen noch rühren durfte .
Judith , welche im Vorüberfahren , wie mir schien , mit finsterem Blicke auf die Soldatenreihe sah , erschaute mich mitten in derselben und streckte sogleich die Hände nach mir aus .
Aber im gleichen Augenblicke kommandierte unser Tyrann " Kehrt euch ! " und führte uns wie ein Besessener im Geschwindschritte ganz an das entgegengesetzte Ende des weiten Platzes .
Ich lief immer mit , die Arme vorschriftsmäßig längs des Leibes angeschlossen , " die Daumen auswärts gekehrt " , ohne mir etwas ansehen zu lassen , obgleich ich heftig bewegt war ; denn in diesem Augenblicke war es mir , als ob sich mir das Herz in der Brust drehen wollte .
Als wir endlich das Gesicht wieder der Straße zuwandten , nach den maßgebenden Zickzackgedanken im Gehirne des Führers , verschwand der Wagen eben in weiter Ferne .
Glücklicherweise ging man nun auseinander , und indem ich mich sogleich entfernte und die Einsamkeit suchte , fühlte ich , daß jetzt der erste Teil meines Lebens abgeschlossen sei und ein anderer beginne .
Neuntes Kapitel Daß Pergamentlein Wie lang ist es her , seit ich das Vorstellende geschrieben habe .
Ich bin kaum derselbe Mensch , meine Handschrift hat sich längst verändert , und doch ist mir zu Mut , als führe ich jetzt fort zu schreiben , wo ich gestern stehenblieb .
Dem unveränderlichen Lebenszuschauer sind Stern und Unstern gleich kurzweilig , und er zahlt seinen wechselnden Platz unbesehen mit Tagen und Jahren , bis seine fliehende Münze zu Ende geht .
Der Wendepunkt , welcher mit dem Entschwinden der ersten Jugendzeit und der Judith unvermerkt genaht war , zeigte sich in der Notwendigkeit , meine Kunstübungen nunmehr einem Abschluß entgegenzuführen .
Es galt , jenen Weg in die weite Welt anzutreten , nach welcher so viele tausend Jünglinge täglich ausfahren , von denen so mancher nie mehr wiederkommt .
Diese alltägliche Angelegenheit war meinesteils so beschaffen , daß ich für eine beschränkte Zeit ohne Nahrungssorgen noch dem Lernen obliegen konnte , mit der Aussicht jedoch auf einen bestimmten Tag , an welchem ich auf mir selber zu stehen hatte .
Eine von Vatersseite vor Jahren mir zugefallene geringe Erbsumme lag nach gesetzlichen Vorschriften in der Verwaltung des Oheims , welcher mir zum Vormunde bestellt war , obgleich er sich selten im meine Sachen mischte .
Da fragliches Geld aber den Aufenthalt an der Künstlerschule ermöglichen sollte , die ich in herkömmlicher Weise gewählt , so war eine vormundschaftliche Verhandlung nötig , um dasselbe flüssig machen und aufbrauchen zu dürfen .
Der Fall war im ländlichen Heimatorte ganz neu , und niemand vermochte sich zu erinnern , daß jemals die schlichten Landmänner der Waisenbehörde darüber zu Gericht gesessen seien , ob ein junger Musensohn sein Vermögen zusammenpacken und aus dem Lande fahren dürfe , um es buchstäblich zu verzehren .
Dagegen hatten sie seit einiger Zeit das lebendige Beispiel eines Menschen unter sich , der dieses Geschäft ohne ihr Zutun verrichtet hatte und der Schlangenfresser genannt wurde .
An entfernten Orten unter dem Schutze leichtsinniger und unwissender Eltern aufgewachsen , hatte er gleich mir ein Maler werden wollen und sich in Samtröcken und engen Beinkleidern , mit langen Locken und Sporen an den Füßen auf Akademien herumgetrieben , bis das Gut und die Eltern verschwunden waren .
Dann schien er noch jahrelang mit einer Gitarre auf dem Rücken sich beholfen zu haben , ohne jedoch auch auf diesem Instrumente etwas Ordentliches vorbringen zu können , bis er unlängst als ein alternder Mensch in das Dorf heimgeschoben und in das Armenhäuslein gesteckt wurde , wo ein Dutzend alte Weiber , Idioten und ausgeglühte Lebenskünstler der untersten Ordnung zusammen hausten und zuweilen schrien und lärmten , als ob sie im Fegefeuer säßen .
Seine Vergangenheit war wie eine dunkle Sage .
Niemand wußte etwas Bestimmtes davon , ob er jemals Talent besessen und etwas gekonnt habe oder nicht , und er selbst schien auch keine Erinnerung daran mehr zu besitzen .
Keine Äußerung oder Handlung verriet , daß er einst unter gebildeten Menschen gewesen und einer Kunst obgelegen , außer wenn er gelegentlich sich rühmte , daß er einmal schöne Kleider getragen habe .
Seine einzige Geschicklichkeit bestand darin , sich auf tausend Wegen einen Schluck Branntwein zu verschaffen und Schlangen zu fangen , die er wie Aale briet und schmauste ; auch machte er sich auf den Winter einen Topf voll Blindschleichen ein , als ob es Neunaugen wären , und schleppte denselben aus einer Ecke in die andere , um den Schatz vor den Nachstellungen seiner Hausgenossen zu sicheren , die im Punkte des Eigennutzes nicht harmloser waren als die Lebensvirtuosen höheren Ranges .
Wie nun ein einziger Unhold dieser Art eine ganze Gegend verwüsten und alle Herzen gegen das Musenzeug aufbringen kann , so war auch mir der Schlangenfresser nicht zur guten Stunde im Dorfe aufgetaucht , als ich mich jetzt einfand , um der besagten Verhandlung beizuwohnen .
Er erschien mir selbst wie ein böser Dämon , da ich am Wege eine große vorjährige Distel , die aussah wie der Tod von Ypern , ins Büchlein zeichnete und der Kerl , zwei tote Schlangen an einer Gerte über der Schulter tragend , einen Augenblick stillstand , mir zusah , grinste und kopfschüttelnd weiterging , als ob ihm etwas Kurioses durch die Erinnerung liefe .
Er trug einen langen zerlöcherten Rock von ehemals rostbrauner Farbe , bis oben zugeknöpft , an den nackten Beinen Pantoffeln , die mit verblichenen Rosen gestickt waren , und auf dem Kopfe eine österreichische Soldatenmütze ; ich sehe ihn noch heute davonschlurfen .
Dieses Gespenst rumorte offenbar in den Köpfen der drei oder vier Gemeindevorsteher , welche als Waisenamt um einen Tisch versammelt saßen und meine Person mit vorsichtiger Neugier einen Augenblick betrachteten ; denn der Oheim hatte für gut gefunden , mich selbst einzuführen und vorzustellen , damit ich im Notfall seinen Vortrag ergänzen und näher beleuchten möge .
Die Männer schienen mir aber Gesichter zu machen wie solche , die eine unliebsame Sache halb und halb kommen sahen und nun sagen Da haben wir_es !
Sie mochten wohl mit Verwunderung beobachtet haben , wie ich schon seit Jahren allsommerlich Feld und Wald durchstreifte und da oder dort den weißen Leinwandschirm aufspannte , ohne daß ihre Gemarkung dadurch zu besonderem Rufe zu gelangen schien oder fremde Reisende kamen , das merkwürdige Land aufzusuchen .
Die Frage , ob ich bei dem lustigen Handwerk eigentlich etwas verdiene und mein Brot erwerbe , hatten sie einstweilen auf sich beruhen lassen , da niemand etwas von ihnen verlangte ; jetzt kam der Handel an den Tag .
Sie benahmen sich zwar anfänglich sehr zurückhaltend , als der Oheim die Sache dargelegt und erklärt hatte .
Keiner mochte zuerst einen Mangel an Verstand und Einsicht beurkunden oder sich als einen unbescheidenen Verächter dessen zeigen , was ihm unbekannt war .
Nichtsdestoweniger prägten sie sich deutlich ein , daß ein rundes Stück Vermögen , das jetzt so sicher in der Schirmlade lag wie Lazarus in Abrahams Schoß , binnen einer gegebenen Zeit tatsächlich verschwinden sollte .
Schnell stellte sich jeder , nach seiner eigenen Lage und Persönlichkeit , vor , zu was ein solches Geld nützlich wäre .
Der eine hätte eine Wiese gekauft , als Erbstück für Kind und Kindeskind , eine Wiese , die einige Stücke Vieh nährte ; der andere warf sein Auge auf eine Kammer Rebenlandes an vorzüglicher Lage , wo auch im schlimmsten Falle noch ein trinkbarer Wein wuchs ; der dritte kaufte in Gedanken dem Nachbaren ein Wegrecht ab , welches seinen Feldbesitz der Länge nach durchschnitt , und der vierte endlich vermutete , er würde den betreffenden Werttitel , welcher ein altes Pergamentlein war , als ein gutes Zinsstück , desgleichen man nie weggeben sollte , einfach behalten .
Indem sie dergestalt ihre Maßstäbe an die unsichtbare Sache legten , für welche ich die Wiese , den Weinberg , das Wegrecht und das Pergamentlein hingeben wollte , stellte jene sich immer sichtbarer dar , aber als ein nichtiger Nebel , ein ungreifbarer Dunst , und der Älteste gewann den Mut , seine Bedenken mit einem trockenen Hüsteln verziert zu äußeren .
Ihm folgte einer um den anderen .
Es scheine doch , hieß es , nicht ratsam , das einzige und wenige , was man besitze und sicher in der Hand habe , an ein Ungewisses zu tauschen , da es keineswegs verbürgt sei , daß ich meinen Zweck erreichen und das Gewünschte wirklich erlernen werde .
Für diesen Fall wäre es vielleicht klüger , jetzt schon anzunehmen , ich besäße das Geld nicht , und mir sonstwie zu behelfen .
Dann würde es für Tage der Krankheit , der Not oder Verarmung einst plötzlich willkommen sein und mit Vorsicht verwendet werden können .
Man habe auch etwa gehört , daß bedeutende Gelehrte oder Künstler , von frühsten Jahren an in die Welt gestellt , sich durch ihren Arbeitsfleiß haben er nähren und ihre Kunst dabei zugleich erlernen und großmachen müssen , ja daß gerade die dadurch angewöhnte unablässige Tätigkeit und Emsigkeit solchen Leuten ihr Leben lang zustatten gekommen und sie das Größte habe erringen lassen .
Dies Lied hörte ich nun zum zweiten Male in meinem kurzen Leben , und es gefiel mir noch immer nicht .
Die Männer , welche also verhandelten , saßen um einen runden Tisch herum und hatten ihr Glas dünnen säuerlichen Weines vor sich stehen ; ich dagegen , als der Gegenstand der Beratung , saß allein an einem langen Tische , dessen Ende sich in der Gegend der Türe im Halbdunkel verlor .
In dieser Dämmerung hockte der Schlangenmann , der sich unbemerkt hereingeschlichen hatte , während ich mich oben im helleren Lichte befand , ein Fläschchen dunkelroten Weines vor mir .
Das war freilich ein großer Taktfehler , obgleich er der Gemeindewirtin zur Last fiel , die mir den Wein vorgesetzt und die ich abzuweisen nicht besonnen genug war .
Der Oheim , der bei den Vorstehern saß , trank von dem nämlichen Weine , eines kleinen Magenleidens wegen , wie er den Bauern sagte .
Einer der letzteren , der sein Stückchen Weißbrot wie Marzipan behandelte und die auf den Tisch gefallenen Krümelchen mit dem Handbissen so sorglich auftupfte , als ob es Goldstaub wäre , fuhr nun fort :
Er verstehe nichts von der Sache , aber allerdings schiene es ihm auch zweckmäßiger gewesen zu sein , wenn der junge Mann , statt sich auf das kleine Erbe zu verlassen , die Jahre her , da er bei der Mutter gelebt , sich auf den Erwerbe eingeübt und auf die bequemlichste Weise der Welt diejenige Summe zusammengespart hätte , deren er nun bedürfe .
So wäre nun bereits für die Zukunft gesorgt ; denn wer sich bei guter Zeit angewöhnt habe , an den kommenden Tag zu denken und keine Arbeit ohne Hinblick auf ihren Wert zu verrichten , der könne von dieser Gewohnheit gar nicht mehr lassen und wisse sich überall zu helfen , wie ein Soldat im Felde .
Das sei auch eine gute Kunst , die je früher , je besser erlernt werde ; er möchte deshalb geradezu raten , daß ich mich frischen Mutes mit einem bescheidenen Reisegelde und dem Vorsatze auf den Weg mache , mich jetzt schon durch die Welt zu bringen .
Ich werde doch wohl die ganzen Jahre her irgend etwelche Fertigkeiten erworben haben , oder ob dies nicht der Fall sei ?
Auf diese Frage , welche ebenso richtig wie unrichtig gestellt war , wendete sich alles und blickte nach , mir herüber .
Der Schlangenfresser war aus seiner Dämmerung allmählich in meine Nähe gerutscht und belauerte aufmerksam meinen Wein und die Verhandlung zugleich ; so wurden wir auch alle drei , der rote Wein , der Schlangenfresser und ich , ins Auge gefaßt , und ich fühlte , daß ich so rot wurde wie der Wein , als eine vielsagende Stille eintrat .
Das wackere Getränke zeugte gegen meine Bescheidenheit und Sparsamkeit , der Genosse an meiner Seite gegen meine Lebenspläne , und zwar so laut , daß niemand für nötig hielt , ein Wort hinzuzufügen .
Es blieb deshalb , nachdem der Eindringling hinausgeschickt worden , noch ein gutes Weilchen still , bis der Oheim das Wort ergriff , um das festgefahrene Schifflein wieder flottzumachen .
Man könne das nicht so nehmen , wie die Herren Vorsteher meinen , sagte er ; das wäre , wie wenn ein Bauer sein Scheffel Korn , anstatt es zur Aussaat zu verwenden , aufbewahren wollte , bis eine Hungersnot käme , und dazwischen bei anderen Leuten auf Tagelohn ginge .
Zeit sei bekanntlich auch Geld , und es wäre nicht wohlgetan , einen jungen Menschen zu zwingen , jahrelang sich mühselig durchzuschleppen , um das zu erlernen , was er in kürzerer Zeit erreichen könne mit frischem Einsatz eines kleinen Erbgutes .
Auf dieses sei man nicht planlos verfallen , sondern man habe von Anfang an darauf gerechnet , es zur rechten Zeit zu verwenden ; übrigens möge man den Neffen selbst auch hören und derselbe vorbringen , was er etwa zu bemerken wisse .
Der Vorsitzende gab mir hierauf das Wort , mit welchem ich , halb schüchtern , halb empört , einige Prahlereien zustande brachte .
Die Zeit sei längst vorbei , da die Kunst mit dem Handwerk verbunden gewesen und der Scholare von Stadt zu Stadt habe wandern können wie jeder andere Handwerkegesell .
Es gebe jetzt kein solches stufenweises Nacheinander mehr , sondern mit einem einzigen wohlvorbereiteten Erstlingswerke müsse sich der Anfänger auf eigene Füße stellen .
Das sei aber nur möglich an einem Kunstorte ; dort finde man nicht nur die nötigen Vorbilder für alle Arten der Kunstübung , sondern auch den lehrreichen Wetteifer vieler Mitstrebenden , endlich aber zugleich die Anerkennung des zu Leistenden , den Markt für geschaffene Werke und die Pforte des Wohlergehens für die Zukunft .
An dieser Pforte sinke nieder und gehe unter , wer nicht berufen sei , die hehre Flamme des Genius nicht in sich trage , wie zum Beispiel der arme Schlangenspeiser , der vorhin gesehen worden .
Die anderen aber schreiten kühn hindurch und gelangen rasch zu Wohlstand und Ehre , so daß es noch die Bescheideneren unter ihnen seien , welchen bald der Verkaufspreis eines einzigen Werkes die aufgewendeten Kosten ersetze , den Wertbetrag einer Wiese , eines Weinberges oder Ackerstückes erreiche !
Wie es das Schicksal des guten Landvolkes ist , daß es in seiner Gläubigkeit immer wieder den großen Worten zuversichtlicher Menschen unterliegt , so wurden auch die Männer durch meine Reden unsicher , wenn nicht etwa gar gelangweilt .
Es fand aber Mals eine kurze Pause statt , während welcher das Gehörte lakonisch beräuspert wurde , worauf der Obmann unversehens sagte , er wolle gewärtigen , ob der Oheim als Vormund auf seinem Antrage beharre ; denn am Ende liege es in dessen Befugnis und sei er auch der Mann dazu , ein maßgebendes Wort zu sprechen .
Der Oheim bestätigte nochmals seine Meinung mit dem Beifügen Fort müsse ich , das sei notwendig ; allein weder sei vorgesehen worden , noch eigene ich mich dazu , wie die Dinge ständen , ohne Mittel auf die Wanderschaft zu gehen und ohne weiteres sofort mein Brot zu suchen .
Wären die Mittel nicht da und ich überhaupt ganz verwaist und ohne Freunde , so würde ich mich , das traue er mir zu , frischen Mutes dem Schicksal unterziehen ; ohne Not aber zwinge man zu so etwas einen unvorbereiteten Jüngling nicht .
Auf die Umfrage des Vorsitzenden erwiderten die anderen Vorsteher , sie hätten ihre Ansicht nach ihrem Sachverstande geäußert und fühlten sich nicht gedrungen , einen besonderen Widerstand zu leisten , zumalen man gern auf Begabung , Fleiß und tugendhafte Führung des in Rede stehenden Herren Vögtlings vertrauen wolle , der freilich , wenn er die Pforte des Wohlergehens zu durchschreiten gedenke , sich vorderhand abgewöhnen müsse , gleich vom besseren Wein zu trinken , wo er absitze .
Während ich diese Andeutung verschluckte , wurde über die Herausgabe des kleinen Vogtgutes Beschluß gefaßt , derselbe zu Protokoll gebracht und von meinem Oheim mit unterschrieben .
Die Schirmlade , in welcher die Wertschriften der unter Vormundschaft Stehenden aufbewahrt wurden , befand sich anderer Geschäfte wegen bereits zur Stelle , und die Behörde erklärte , es sei am besten , das Stück jetzt gleich herauszunehmen , so sei man dieser Angelegenheit hoffentlich für immer enthoben .
Der hölzerne , mit drei Schlössern versehene Kasten wurde auf den Tisch gestellt und geöffnet , indem der Vorsitzende , der Säckelmeister und der Schreiber jeder einen Schlüssel aus der Tasche zog , in das entsprechende Loch steckte und bedächtig umdrehte .
Der Deckel ging auf , und da lag nun an einem Häuflein das Vermögen der Witwen und Waisen , gleich einer kleinen Schafherde in der Ecke zusammengedrängt , wie es das Tragen und Rütteln des Kastens gefügt hatte .
" Es ist schon viel Schicksal durch diese Lade gegangen ! " sagte der Schreiber , als er die Überschriften der verschiedenen Pakete zu lesen begann ; es bezogen sich nicht alle auf Frauen und Minderjährige , auch die Vermögensteile von gefangenen , verschwenderischen oder geisteskranken Männern waren dabei .
Endlich stieß er auf ein kleines Wesen , las " Lee , Heinrich , Rudolf sel . " und reichte es dem Vorsitzenden .
Dieser enthüllte ein gebräuntes altes Pergament , an welchem ein halbzerbröckeltes Siegel von grauem Wachse hing .
Er legte sein messingenes Brillengeschirr um das Haupt und entfaltete das ehrwürdige Schriftstück , dasselbe weit von sich abhaltend .
" Dem Landschreiber , der die Geilt ausgefertigt hat , tun die Zähne auch nicht mehr weh ! " bemerkte er , " sie ist von Martini 1539 datiert , ein gutes altes Wertstück . "
Zugleich richtete er einen ernsten Blick auf mich , der ihm jedoch durch die Brille , die nur zum Lesen gut war , ganz nebelhaft erscheinen mußte .
" Seit dreihundert Jahren " , fuhr er fort , " ist dieser ehrwürdige Brief von Geschlecht zu Geschlecht gegangen und hat immer fünf vom Hundert Zinsen getragen ! "
" Wenn wir sie nur hätten " , warf mein Oheim lachend ein , um die abermals auf mich gerichtete Aufmerksamkeit zu stören ; " mein Neffe besitzt das Brieflein ja erst seit etwa zehn Jahren , und vor nicht vierzig Jahren noch gehörte es dem Kloster , dessen Abt es zur Zeit der Revolution verkaufte .
Man kann überhaupt nicht auf solche Weise rechnen ; es ist ebenso unrichtig , wie wenn man immer sagt , diese drei Greise sind zusammen 270 Jahre oder jene zwei Eheleutchen 160 Jahre alt !
Nein , jene Greise sind alle drei zusammen nur neunzig Jahre alt , Mann und Frau achtzig , da es genau dieselben Jahre sind , die sie verlebt haben .
So vertut der junge Künstler hier nicht die Zinsen von drei Jahrhunderten , wenn er das Brieflein verkauft , sondern nur den einfachen Betrag desselben ! "
Das wußten die Männer freilich wohl ; weil aber jeder von ihnen auf seinem Hofe solche uralte unablösliche Schuldverpflichtungen hatte und sich selbst als den Bezahler aller der ewigen Zinsen betrachtete , so hielten sie die nehmende Hand der wechselnden Gläubiger für etwas ebenso Unsterbliches und legten dem betreffenden Instrumente einen geheimnisvoll höheren Wert bei , als ihm zukam .
So fiel endlich das Wichtigkeitsgefühl der Verhandlung auch auf mich nieder und beengte mir den Sinn Ich sah mich als Gegenstand ernster Anrede und rechtlichen Verfahrens , leidend und verantwortlich zugleich , ohne daß ich etwas begangen hatte oder zu begehen Willens war , nach meiner Ansicht , und strebte mit verdoppeltem Eifer , aus der unfreien Lage hinauszukommen .
" Sie wissen den Teufel , was Freiheit heißt ! " singt der Student von den Philistern , nicht merkend , daß er selber erst auf dem Wege ist , es zu lernen .
Zehntes Kapitel Der Schädel Das alte Pergament war nun an einen Sammler solcher Stücke mit einigem Vorteil verkauft worden und die Zeit gekommen , wo die Abreise wirklich vor der Türe stand .
Am letzten Tage des Monats April , welcher auf den Sonnabend fiel , packte ich die mitzuführenden Habseligkeiten zusammen , was in unserer Wohnstube einen niegesehenen Auftritt gab und meine Mutter in Aufregung setzte .
Eine große Mappe mit den zweifelhaften Früchten meiner bisherigen Tätigkeit lehnte schon in Wachstuch gewickelt an der Wand , zu einigem Troste wenigstens von bedeutendem Gewicht ; mitten im Gemache aber stand der geöffnete Koffer , eine kleine Arche von Tannenholz .
Auf dem Boden derselben hatte ich bereits eingeschichtet , was ich an Büchern mitnehmen wollte , und mit ihnen auch ein festes Verlies für einen Totenschädel gebaut , damit er sicher auf dem Grunde verwahrt sei .
Dieser Schädel diente seit einiger Zeit zur Zierde meiner Arbeitskammer sowie auch zum angehenden Studium der menschlichen Gestalt , das für einmal freilich gleich mit dem Unterkiefer ein Ende genommen hatte , so daß ich vorläufig bloß die verschiedenen Kopfknochen zu benennen wußte .
Ich hatte den Überrest in der Ecke eines Friedhofes bemerkt , wo ihn der Totengräber seiner Wohlerhaltenheit wegen hingelegt haben mochte ; denn es war der Schädel eines jungen Mannes und wies noch alle Zähne auf .
In der Nähe lag ein beseitigter alter Grabstein , der vor ungefähr achtzig Jahren errichtet worden mit der Inschrift auf einen dazumal verstorbenen Albertus Zwiehan .
Obgleich es keineswegs erwiesen war , daß der Schädel diesem Zwiehan angehört hatte , nahm ich das doch für ein Faktum , weil sich laut der handschriftlichen Familienchronik eines benachbarten Hauses die wunderlichste kleine Geschichte mit jenem Namen verband .
Es handelt sich , soviel entwirrbar ist , um den Bastardsohn eines Zwiehans , der lange Jahre in Asien zugebracht hatte und dort verstorben war .
Die holländische Person , mit welcher er den Sohn gezeugt , besaß aber von einem verschollenen Menschen noch einen anderen unehelichen Knaben , namens Hieronymus , den sie mehr liebte als den jungen Zwiehan , und aus Liebe zu ihr und von ihr überredet , adoptierte er diesen anderen Knaben in rechtlicher Form an Kindesstatt , während er hinwieder verabsäumte , das Weib nachträglich zu ehelichen und sein eigenes Kind zu Ehren zu ziehen .
Der adoptierte Bastard aber entfernte sich , als er größer geworden , aus dem Hause und verschollte gleich seinem eigenen natürlichen Vater spurlos , und als endlich der alte Zwiehan und seine Beihalterin bald nacheinander das Zeitliche segneten , befand sich der erblos gebliebene Sohn Albertus allein bei dem herrenlosen Hause und Gute und zögerte nicht , sich auf geschickte Weise an Stelle des allein erbberechtigten Adoptivsohnes zu setzen , von dem erworbenen Vermögen des Alten zusammenzuraffen , was er konnte , und die asiatische Kolonie rasch zu verlassen , um die alte Heimat seines Vaters aufzusuchen .
Da er einst geträumt hatte , sein Halbbruder sei im Meere untergegangen , und fest an seine Träume glaubte , so tat er alles dies nicht gerade mit bösem Gewissen , obgleich er schlau genug war , in der alten Vaterstadt , die ihn noch nie gesehen , sein eigenes Dasein zu verschweigen und sich auf Grund der mitgebrachten Papiere für den anderen auszugeben .
Er kaufte sich ein geräumiges Haus mit einem stillen freundlichen Garten , in welchem er gar anständig auf und nieder spazierte .
Hier wurde er freilich von den Nachbaren neugierig beobachtet , aber ohne daß er es bemerkte , und erst nachdem er sich ordentlich eingerichtet hatte , begann die Nachbarschaft sich zu beleben , wie wenn auf einer Insel für die dorthin verschlagenen Reisenden allmählich die Eingeborenen zum Vorschein kommen .
Durch Geschäftsleute wurde es ruchbar , daß der neue Ankömmling ansehnliche Bezüge und Geldanlagen mache , welche auf geregelten Verhältnissen beruhen .
So wurde er denn auf der Straße hie und da schon zutraulich gegrüßt , und jenseits der Gasse , welche er bewohnte , belebte sich mehr als ein Fenster , wenn er sich an dem seinigen blicken ließ , um nach dem Wetter zu sehen .
In einem schmalen Erker saß den ganzen Tag , mit dem Rücken gegen die Straße gewendet , ein junges Frauenzimmer am Spinnrad , ohne umzuschauen , und er konnte ihr Gesicht nie entdecken .
So vergaffte er sich , da er schon seines leidenschaftlichen Ursprungs wegen verliebter Natur war , einstweilen in den zierlichen Rücken der Spinnerin und in die anmutig geneigte Haltung ihres Kopfes .
Als er aber eines Tages , hierüber nachdenkend , auf der anderen Seite seines Hauses im Garten weilte , hörte er unversehens von einer weiblichen Stimme den Namen Cornelia rufen , auf welchen im Nachbargarten eine andere Stimme antwortete .
Dies wiederholte sich mehrmals während der nächsten Tage , so daß Albertus Zwiehan den Rücken der Spinnerin vergaß und sich in den schönen Namen der unsichtbaren Cornelia verliebte .
Denn sie war hinter einer Wand von Jasminbüschen verborgen .
Wie erstaunte er aber , als diese plötzlich sich auseinanderbogen und eine weibliche Gestalt auf das Zwiehansche Gebiet herübertrat , durch ein bisher unbemerktes Gittertürchen .
Das Haus zu welchem der jenseitige Garten gehörte , lag nämlich nicht an der gleichen Straße , sondern auf einer anderen Seite des ganzen Straßenviertels , und es haftete an beiden Häusern von alters her das Recht des Durchganges durch Gärten , Höfe und Hausflüre , zu gewissen Zwecken und Tageszeiten .
Es war ein nicht eben schönes , aber mit lachenden Augen begabtes längliches Wesen , das vor dem Überraschten stand und ihn von der bestehenden Servitut unterrichtete , als die Nachbarin seine Unwissenheit bemerkte .
Auch er müsse einen Schlüssel zu dem Pförtchen besitzen , sagte sie ihm ; er holte einen Kasten mit allerlei alten Schlüsseln herbei und fand mit ihrer Hilfe richtig denjenigen heraus , welcher in das Schloß paßte .
Wie sie so mit spitzen weißen Fingern sich bemühte , betrachtete er mit Wohlgefallen den magelichen Wuchs , der durch sehr knappes Gewand fast einen Eindruck von geschmeidiger Fülle machte .
Jetzt aber , indem sie ihn mit seinem Namen grüßte und ihm den ihrigen nannte , der auf jenes wohlklingende Cornelia hinauslief , gab sie ihr Anliegen kund .
Sie beanspruchte höflich das Recht , von dem reich mit Wasser versehenen Brunnen in seinem Hofe eine bewegliche Leitung nach ihrer Waschküche anzulegen , um für die vorzunehmende große Halbjahrwäsche das Hauptelement zu gewinnen , gemäß dem verbrieften Herkommen .
Da Albertus ebenso höflich bat , sich ganz nach Bequemlichkeit einzurichten , eilten alsbald auf ein Zeichen der Cornelia mehrere Waschfrauen herbei mit hölzernen und blechernen Rinnen und Rohren , fügten sie zusammen und stellten einen schwebenden Aquäduktum her , mit welchem sie wieder im Gebüsche verschwanden , aus dem sie hervorgebrochen waren .
Auch die Cornelia schlüpfte hindurch , nachdem sie sich verneigt hatte , und Herr Zwiehan , stand einsam an dem Gerinnsel seines schönen Brunnenwassers und wünschte , mit hinübergehen zu können .
Am anderen Tage jedoch erschienen abermals die Wäscherinnen , brachen die Wasserleitung ab und machten einer großen schweren Frau Platz , welche sich jetzt durch das Pförtchen arbeitete .
Sie gewährte eine tröstliche Vorstellung davon , wie stattlich dünne Fräuleins mit der Zeit bei guter Nahrung werden können ; denn sie gab sich als die Frau Mutter der bewußten Cornelia zu erkennen , welche sich nicht getraue , schon wieder den Herrn Nachbarn mit einer Unbequemlichkeit zu belästigen .
Es sei nämlich zweifelhaft , ob die Sonne den ganzen Tag scheine , und darum wünschenswert , die Wäsche in einemmal zu trockenen , was hinwieder ermöglicht würde durch die Erlaubnis , einen Teil derselben in dem Zwiehanschen Garten und Hof aufzuhängen .
Es sei dies in früheren Jahren auch etwa geschehen , obwohl nicht zu einer Servitut erwachsen wie das Wasserleitungsrecht , und also komme sie selbst , pflichtschuldig um die freundliche Vergünstigung anzufragen .
Mit großem Vergnügen entsprach Albertus Zwiehan sofort dem Ansuchen , worauf die Frau sich dankend zurückzog und dafür das Fräulein an der Spitze einiger Waschkörbe aus den Jasminbüschen hervortrat , sie selbst das auf eine Kurbel gewickelte Trockenseil tragend .
Dieses an den vorhandenen Pfosten , Haken und Baumästen anzubinden , reichte jedoch ihre Körperlänge nicht überall aus , sosehr sie sich auch auf die Zehn stellte , und so ergab es sich von selbst , daß Albertus aushalf und das Seil im Zickzack herumführte und festmachte , Cornelia aber dasselbe hinter ihm hertrug und abhaspelte .
Sie bewegte sich dabei mit viel Anmut und Lieblichkeit , und der junge Mann wurde darüber so eifrig und warm , daß er hie und da eine Levkoje oder Nelke zertrat .
Als es nun ans Aufhängen der Wäsche ging , blieb er in unmännlicher Weise im Garten und war wiederum behilflich , die Körbe zu schleppen und andere Handreichungen zu tun .
Das Fräulein bemerkte freundlich , daß sie ihre eigene und beste Leibgewandung herübergebracht und das ältere Zeug jenseits gelassen habe , um auf dem fremden Gebiete nicht allzu schofel zu erscheinen .
Der ganze Raum füllte sich also mit ihren Hemden , Strümpfen , Busentüchern und Nachthäubchen , und da eine frische Brise aufging , begann das blütenweiße Zeug so mutwillig zu flattern , daß alle Hände zu tun bekamen , das luftige Segelwerk festzuhalten .
In großer Aufregung zog er sich nach getaner Arbeit in seine Zimmer zurück , von deren Fenstern aus er unablässig den inhaltreichen Garten bewachte .
Niemand war jetzt dort und alles still ; nur die wie von Luftdämonen beseelten Weiberhülsen säuselten sachte hin und her , bis ein Windstoß sie plötzlich emporwirbelte , die langen weißen Strümpfe gleich Geisterbeinen um sich stießen und schon ein losgerissenes Häubchen wie ein kleiner Luftballon über das Dach wegstieg .
Da eilte Albertus Zwiehan besorgt wieder hinunter , um zu retten , was ihm bereits näher zu liegen dünkte als die eigene Haut .
Er schlug sich tapfer mit dem Winde herum ; allein die Strümpfe schlugen ihm an die Ohren , die Hemden flatterten um seinen Kopf und verhüllten ihm die Augen , und er wurde mit der wilden Leinwand nicht fertig , bis die lachenden Frauen herbeikamen und die Wäsche zusammenrafften .
Einige Tage später wurde er von den Nachbarinnen förmlich zum Kaffee eingeladen , um den Dank für seine Gefälligkeit zu empfangen .
Zum ersten Mal betrat er den jenseitigen Garten und fand den Tisch in einem offenen Sälchen gedeckt , das hinter der Jasminwand verborgen war .
Die alte und die junge Dame beflissen sich auf das freundlichste um ihn , und nachher mußte er noch in ihre Wohnung hinaufsteigen und sich mit einem kleinen Nachtmahl bewirten lassen .
Natürlich erwiderte er solche Höflichkeiten und lud die Nachbarinnen seinerseits zu einer Gastlichkeit ein , so gut er diese mit Hilfe einer alten Küchenmagd aufzubieten vermochte ; kurz , es entstand ohne weiteren Verzug ein häufiger Verkehr , und das Fräulein sowohl wie Albertus Zwiehan trugen den Schlüssel zum Durchgangstürchen beständig bei sich .
Bald ließ die Mutter ihre Tochter allein mit dem Fremden , und sie verloren sich in hundert trauliche Gespräche ; Cornelia fragte nach allem , was Albertus je erlebt oder ihn sonst betraf ; er dagegen fühlte sich durch diese Neugierde und Teilnahme geehrt und beglückt und vertraute ihr alles , um ihre Freundschaft zu erwidern und gewissermaßen sich ganz hinzugeben , ohne allen Rückalt , sein Herkommen , seinen Besitzstand und sein letztes Geheimnis , das letztere einzig mit der Abweichung , daß sein verschollener Halbbruder wirklich ertrunken sei statt nur in einem Traume .
Die neue Freundschaft verfehlte nicht , ruchbar und als eine bereits abgeschlossene oder wenigstens bevorstehende Verlobung angesehen zu werden .
Das bewiesen dem Verliebten einige nicht unterschriebene Briefe , die er nacheinander erhielt und die ihn vor der Verbindung warnten , welche er einzugehen im Begriffe stehe .
Die beiden Frauenzimmer , hieß es , seien nur scheinbar in guten Umständen ; in Wirklichkeit hätten sie nichts oder nicht viel mehr als einen großen Fleiß im Geldborgen , das sie allerdings aus dem Grunde verständen .
Sie wüßten es allerwärts so einzurichten , daß man nicht davon spreche , indem sie sich immer edeldenkende und verschwiegene Opfer aussuchten , auch im Notfall hie und da etwas zurückzahlten auf Kosten dritter Leute ; allein die Sache sei dennoch ein öffentliches Geheimnis , und man könne nicht zusehen , wie ein so ausgezeichneter Mitbürger , dem die besten Häuser sich auftäten , in sein Verderben renne .
Denn wo eine Untugend Hause , sei die zweite und dritte nicht weit , und der Geldmangel sei aller Sünden Angel .
Mehr wolle man nicht andeuten .
Als Albertus diese Briefe gelesen , wurde er weder betrübt noch zornig , sondern fröhlichen Herzens , weil er sie für Ausflüsse des Neides hielt und als ein Zeichen betrachtete , daß er nur zuzugreifen brauche , da eine Heirat in der öffentlichen Meinung für so wahrscheinlich und nah bevorstehend galt .
Von zärtlichem Mitleide bewegt , wünschte er einen angeblichen Notstand der beiden Frauen als wirklich bestehend herbei , um sich als Hilfespender recht weich in die Arme dankbarer Liebe betten zu können .
Selbst für den Fall , daß jene in der Tat etwas viel Geld brauchen sollten , entwarf er sofort Pläne , seine Mittel nach Notdurft zu vermehren ; er hatte ja ohnedies die Absicht , seine Kenntnis der östlichen Handelsbeziehungen zu verwerten und mit aller Bequemlichkeit und Vorsicht ein Haus zu gründen und eine seinen noch jungen Jahren angemessene Tätigkeit zu eröffnen .
Von solchen Gedanken getrieben , schritt er aufgeregt in seiner Wohnstube umher und arbeitete gleichmäßig den Geschäftsplan und das glänzende Bild der Zukunft aus dem Rohen heraus , wobei ihn immer wärmer das Gefühl eines einflußreichen Beschützers und Retters , eines Beglückers und mächtigen Schöpfers aufschwellt .
Um auf diesen Wogen einen Augenblick auszuruhen , stellte er sich an ein Fenster und sah zufällig , wie gegenüber die Spinnerin , die er ganz vergessen , in den Erker trat und ebenso zufällig ihn erblickte , ehe sie sich an ihr Rädchen setzte .
Schon hatte sie , wie gewöhnlich , ihm wieder den Rücken zugekehrt , der ihm so wohlbekannt war , als sie nochmals umschaute und , mit einem langen Blick ihn betrachtend , das mysteriöse Gesicht nun voll und ruhig zeigte , das er vorhin nur wie einen Blitz hatte aufleuchten gesehen .
Das Antlitz , fast herzförmig , endigte in ein feines kleines Kinn und schien eher wie eine Miniatur auf weißes Elfenbein gemalt als aus Fleisch und Blut zu bestehen ; nur der Mund war rötlich wie ein geschlossenes Rosenknospchen , das viel kleiner erschien als die großen dunklen Augen , und alles dies umgab fremdartig eine Hülle von Batistleinwand .
Endlich wandte sie sich wieder ab und setzte ihr Rad in Gang ; aber als ob sie spürte , daß die Augen des Nachbars an ihr hängenblieben , erhob sie sich und ging nach der dämmernden Tiefe des Zimmers .
Dort öffnete sie die Türe und schritt einen von der Abendsonne durchleuchteten Korridor entlang , bis sie in der jenseitigen Dämmerung wie ein Geist verschwand .
Hiermit lösten sich auch seine vorhinnigen Pläne und Luftschlösser in nichts auf , und Albertus hatte sie in diesem Augenblicke schon so vollständig vergessen , als ob statt einiger Minuten hundert Jahre verflossen wären .
Er stand und starrte hinüber , wo der Abendschein im Hintergrunde allmählich verblich und die Dämmerung das Zimmer füllte , bis es völlig dunkel war , wie die Stube , in welcher er selber weilte .
Nur der Blick jener geheimnisvollen Augen leuchtete noch in seinem Gehirne fort , und zwar auch während des nächtlichen Schlafes , bis der Morgenstern am Himmel glänzte , dessen Licht seine Augenlider berührt haben mochte ; denn er sah es unmittelbar , als er aufwachte .
Ihm hatte soeben geträumt , er sitze tief verborgen in dem Gartensälchen der Cornelia zwischen dieser und der unbekannten Spinnerin , die je doch wie jene seine angetraute Frau sei , und von beiden werde er liebkost , während er um jede von ihnen einen Arm geschlungen hielt .
Das schien ihm eine sehr annehmbare und preiswürdige Sachlage zu sein , und er hielt sich dabei so still wie die Luft und die reglosen Jasmingebüsche , als plötzlich die Unbekannte sich erhob und ihm mit einem unaussprechlich lieblichen Blicke zuwinkte , ihr zu folgen .
Allein die Cornelia umklammerte ihn so fest , daß er sich nicht zu bewegen vermochte und sehen mußte , wie jene durch einen unendlich langen Baumgang fortschwebte , ein helles Licht in der Hand tragend , welches im Vorübereilen einen Baum nach dem anderen beglänzte und wieder im Dunklen ließ .
Zuletzt verschwand sie in der blauen Nacht , in der das Licht allein hängenblieb , das eben der Morgenstern oder Luzifer war , den er beim Erwachen erblickte .
Voll unerträglicher Sehnsucht mochte er kaum die schickliche Zeit abwarten , um sich endlich näher nach der Unbekannten zu erkundigen und einen Zugang zu ihr zu finden .
Sonderbarerweise ergriff er zuallererst den Schlüssel des cornelianischen Nachbarpförtchens , schlüpfte hindurch und machte den dortigen Frauen einen Morgenbesuch .
Er traf sie am Packen einiger Koffer , da sie auf acht oder vierzehn Tage nach einem kleinen Badeorte reisen wollten und die alte Mietkutsche , die sie jährlich dahin brachte , schon erwarteten .
Als Zwiehan mit seinen Fragen nach der spinnenden Nachbarin begann , hielt Cornelia ein kleines Weilchen mit ihrer Arbeit inne und sah dem Frager , an einem Koffer kniend , stutzig ins Gesicht .
" Das wird wohl die Afra Zigonia Mailuft sein ! " sagte sie weniger erstaunt als überrascht ; denn schon früher hatte sie sich gewundert , daß er die wunderlich schöne Person nach nicht zu kennen schien .
Wie sie aber bemerkte , daß er die gehörten Namensworte mit glänzenden Augen wiederholte , unterbrach sie ihn mit der plötzlichen Einladung , sie und die Mutter nach dem Kurorte zu begleiten .
Wenn er sich für das Frauenzimmer interessiere , fügte sie errötend hinzu , werde man ihm unterwegs Weiteres mitteilen können , und überdies werde dasselbe , soviel man wisse , in wenigen Tagen auch in das Bad kommen , um mit Freunden zusammenzutreffen .
Da habe er dann die beste Gelegenheit , die Schöne in freiem Verkehre zu sehen und kennenzulernen .
Unverzüglich rannte Albertus in seine Behausung zurück , einiges Gepäck zu holen , und eine Stunde später saß er bei den zwei Frauen im Reisewagen und vernahm nun , daß die Fräulein Afra Zigonia Mailuft eigentlich nicht in unserer Stadt gebürtig sei , sondern nur als eine verwaiste Verwandte sich seit einiger Zeit in dem betreffenden Nachbarhause aufhalte und im übrigen für eine Fromme und Heilige gelte , ja sogar bereits halb und halb der evangelischen Brüdergemeinde , die man die Herrnhuter nenne , angehören solle .
Cornelia und ihre Mutter betrachteten hierauf Herrn Zwiehan genau , um die abschreckende Wirkung zu gewahren , welche sie von diesen Tatsachen erhofften .
Aber er schaute nur um so träumerischer vor sich hin , in süßen Gedanken verloren ; was er vernommen , schien ihm vielmehr die verlockende Aussicht zu eröffnen , sich an irgendeiner unbekannten Glückseligkeit beteiligen zu können .
In dem Badeort angelangt , zogen ihn daher seine Freundinnen , um ihn zu zerstreuen , sogleich in einen Kreis lustiger Badegäste , von welchen getrennt eine kleine Gruppe einfach gekleideter Männer und Frauen der Gesundheit pflegte .
Immer wurde er andere Wege geführt als diejenigen , auf welchen diese Stillen in gemäßigten Gesprächen lustwandelten , und so kam es , daß , als eines Abends die sogenannte Afra Zigonia in der Tat angekommen war , er dieselbe erst entdeckte , als sie am anderen Morgen früh mit zwei von den religiösen Personen in einen Reisewagen stieg .
Er hatte kaum noch die gemessene , aber innige Freundlichkeit gesehen , mit welcher die Zurückbleibenden die in Reisekleider gehüllte Gestalt umgeben und begleitet hatten , als der Wagen schon davonrollte und bald aus dem Gesichte entschwand , während jene Zurückbleibenden mit andächtig zufriedener Miene an ihm vorübergingen wie Leute , die eine ihnen am Herzen liegende und teure Sache wohl verrichtet haben .
" Nun ist das liebe Kind gut aufgehoben ! " hörte er sagen , " nun geht sie ihrem Heil entgegen und wird bald in den Gärten des Herren wandeln ! "
Eine unaussprechliche Vorstellung überfiel ihn mit diesen Worten ; er eilte beklemmten Herzens , seine Gönnerinnen aufzusuchen und sich nach der Bedeutung des soeben erlebten Vorganges zu erkundigen .
Lächelnd teilten sie ihm mit , die Neuigkeit werde just überall besprochen es heiße , die Afra Zigonia sei nach Sachsen verreist , um in die Brüdergemeinde zu Herrenhut aufgenommen zu werden und dort ihr Leben zu verbringen .
" Das ist mein Traum ! " sagte er sich ; " sie wandelt mit dem Lichte durch die Nacht in den Morgenstern hinein , aber ich lasse mich nicht zurückhalten von dieser Cornelia , sondern folge ihr diesmal nach ! "
Mit verstellter Ruhe blieb er noch ein paar Tage in dem Bade ; dann aber begab er sich ohne Abschied eines frühen Morgens nach Hause , übergab seine Vermögensangelegenheiten dem öffentlichen Notarius , das Haus der Köchin , auch versah er sich mit Geldmitteln und verschwand darauf aus der Stadt , seinem Traumbilde nachzujagen .
Da ihm aber die geographischen Verhältnisse der abendländischen Welt nicht geläufig waren und er das Ziel seiner Reise niemandem verraten mochte , gelangte er erst nach einigen Irrfahrten in die Gegend von Herrenhut .
Er umkreiste diese Niederlassung der Gottseligen immer näher , drang endlich hinein und bewarb sich um die Aufnahme in ihre Gemeinschaft .
Weil er nun weder in seinem Äußeren noch in seiner Sprache , weder in seinen Blicken noch in seinen Bewegungen irgendeine Verwandtschaft oder Kenntnis dessen verriet , was er erlangen zu wollen vorgab , und sich überhaupt als ein unbeholfener Himmelsbarbar darstellte , so wurde er befremdlich und verdächtig angesehen und nach einigen Fragen mit einer Ablehnung entlassen .
Betrübt und unentschlossen stand er da und hatte sogar Tränen in den Augen wegen seiner vergeblichen Reise , als ein Chor lediger Frauen vorüberging , deren letzte die Afra Zigonia war .
Als diese ihn erblickte , schien sie ihn zu erkennen oder sich zu besinnen , wo sie den Mann schon gesehen habe ; denn sie stand einen Augenblick still , ihn aufmerksam betrachtend , was er sogleich benutzte , sich ihr demütig grüßend zu nähern und das Bekenntnis zu stammeln , daß er aus heftiger Liebe ihr gefolgt , aber mit seiner Bitte um Aufnahme als Bruder abgewiesen sei .
Ebenso betroffen als mitleidig liebevoll , wie ihm schien , ließ sie ihr Auge auf ihm ruhen , wie von einem inneren Lichte sanft erglänzend , und sagte dann mit leiser und doch wohltönender Stimme , ihm sei mehr die Liebe zum Herrn und Erlöser als irdische Liebe vonnöten ; aber er solle nicht verstoßen werden und möge einen oder zwei Tage noch im Gasthause warten .
Hierauf grüßte sie ihn mit mildem Ernste und ging ihren Schwestern nach .
Schon am nächsten Morgen wurde Albertus von einem der Vorsteher aufgesucht und nochmals abgehört und geprüft .
Sei es nun , daß er durch die träumerischsüße Hoffnung , die ihn von neuem erfüllte , ein etwas andächtigeres Aussehen gewonnen oder daß die Mayluftin einen so bedeutenden Einfluß übte er wurde auf Probe zugelassen und der untersten Klasse von Neulingen beigesellt , immerhin in der Meinung , daß er sich nach Verlauf einiger Zeit dem Entscheide des Loses über seine endgültige Aufnahme zu unterwerfen habe , wie denn dieses Mittel in wichtigeren Angelegenheiten bekanntlich angewendet wurde , um dem unmittelbaren Kundgeben des göttlichen Willens Raum zu gestatten .
Er mußte nun auf die rechte Art lesen , beten , singen lernen , bescheiden , still und arbeitsam sein und vor allem aus über sein sündhaftes und elendiges Wesen nachdenken ; da er aber von alledem inwendig nichts fühlte und nur an die , wie er glaubte , von ihm geliebte Afra dachte , so wurde ihm die Sache sehr schwierig , und er verriet sich täglich mit barbarischen Blicken und Worten .
Die Geliebte bekam er nur von weitem in den gottesdienstlichen Versammlungen zu sehen , wo sie in den Reihen der Unvermählten saß , während er im Chore der ledigen Mannsbilder seufzte .
Sie schien ihn aber jedesmal mit den Augen zu suchen und einen Augenblick zu betrachten , ob er noch da sei , immer mit jenem großen Kinderblick , der ihn zum ersten Mal schon so plötzlich gerührt hatte .
Dann faßte er stets wieder Mut und fuhr in seinem Werke der Heiligwerdung fort .
Es gelang aber so kümmerlich , daß nach Verfließen einiger Monate , bevor man weitere Mühen an ihn verschwenden wollte , das Befragen des göttlichen Orakels wirklich angeordnet wurde .
In feierlicher Versammlung , in welcher eine kleine Zahl ähnlicher Fälle entschieden werden sollte , beim Schimmer geheimnisvoller Kerzen , kniete er abgesondert auf dem Boden , während Gebet und Gesang den Raum erfüllte , bis er an die Urne geführt wurde und in tiefer Stille sein Los zog .
Dasselbe war ihm günstig und entschied für seinen Eintritt in eine etwas vorgerücktere Prüfungsklasse .
Als er jetzt wieder in den Reihen der Genossen saß , war er so erschüttert , daß er das Singen und Beten versäumte , welches abermals begann , da nun ein angesehener und vielgereister Missionär an der Stelle kniete , welche Albertus Zwiehan vorhin innegehabt .
Bei diesem Missionär handelte es sich darum , ob er eine afrikanische Station mit höchst ungesundem Klima übernehmen dürfe , wie er durchaus begehrte , oder ob er sich mit einer gesünderen Luft begnügen solle , wie die Gemeinde seiner etwas erschöpften Kräfte wegen verlangte .
Das Orakel entsprach seinem Begehren , worauf er an den alten Ort zurückkehrte und abermals hinkniete ; die Gesänge erschallten von neuem , und Albertus Zwiehan , der sich inzwischen etwas gesammelt , benutzte die wachsende Begeisterung , um den Anblick der Afra Zigonia Mailuft aufzusuchen , die er noch nicht gesehen .
Er fand sie nicht an ihrem gewohnten Platze , weil sie still an der Seite des Sendboten kniete , wo das herumschweifende Auge Alberts sie unversehens entdeckte .
Denn bei ihr handelte es sich darum , ob es im Willen der Vorsehung liege , daß sie jenem als Ehefrau in die heiße und rauhe Wüste hinaus folgen solle oder ob ihre Person nicht vielmehr zu fein und zart , zu innerlich und vornehm hierfür beschaffen sei .
Aber auch ihre Wünsche erfüllte das Los , als sie zur Urne geführt wurde , und wie sie nun mit dem Erwählten Hand in Hand zur sofortigen Verlobung schwebte , leuchteten ihre sonst so ruhigen Augen beinahe um ein weniges zu warm und zu hell für eine irdische Angelegenheit .
Mit offenem Munde und totenbleich saß Albertus , und nur seine Unfähigkeit , auch nur aufzuatmen oder zu seufzen , verhinderte , daß er eine Aufmerksamkeit erregte .
Nachdem alles vorüber , schlich er lautlos auf sein Lager und brachte eine schreckliche Nacht zu ; seine ungeschulte , unwissende Selbstsucht würgte ihm wie eine ringelnde Schlange fast das Herz ab ; dazwischen sah er immer die Afra mit dem Missionär an der Hand davonschweben das war also das Licht , welches sie in jenem trügerischen Traume in der Hand getragen hatte !
Ganz abgemattet und niedergeschlagen kam er anderen Tages zum Vorschein , so daß er als zum Durchbruche reif erachtet wurde .
Um ihn in eine erfrischende Bewegung und Tätigkeit zu versetzen , wurde er zum dienenden Gehilfen eines anderen Missionsbeamten bestimmt , welcher auf dem Punkte war , die Niederlassungen in Grönland , Labrador und der Kalmückei zu bereisen .
Ohne jeglichen Widerstand ließ er sich dazu vorbereiten und fuhr mit seinem geistlichen Seelenmeister davon , ohne daß er die Afra wieder zu sehen bekommen hätte .
Nur ein schön gebundenes kleines , dickes Büchlein hatte sie ihm zum Andenken gesendet ; es enthielt für jeden Tag im Jahr einen Spruch oder ein Gedicht , und überdies war ein Stäbchen von Elfenbein zum prophetischen Zwischenstechen daran befestigt .
Mit dem Büchlein in der Hand saß er einige Monate später eines Tages an einem grönländischen Seestrande in der Nähe von St. Jan; schwächlicher Sonnenschein beleuchtete die Gewässer , aus denen hie und da ein Seehund emportauchte .
In dieser schläfrigen Lage stach er von ungefähr in das Buch ; denn er war von der Arbeit in Magazin und Schreibstube ein wenig ermüdet und träumte noch so hin , als er eine wunderliche Liederstrophe las :
In einem Gärtlein , wo du weißt , Da blüht der Seelen Paradies , Da bat im Brunnen der Heilig Geist Die Taubenflüglein silberweiß .
Da riecht der himmlische Jasmin , Die Seele spazieret süß erbaut In Zimtröslein her und hin , Da küßt der Bräutigam die Braut .
Durch die letzteren Zeilen wurde er zuerst halb und dann ganz munter ; plötzlich sah er den Garten hinter seinem Hause und in demselben die schlanke Nachbarin Cornelia durch die Jasminbüsche schlüpfen , und obgleich das Büchlein , das er in der Hand hielt , schon seit manchem Jahre gedruckt war , hielt er doch den Liedervers sogleich für eine unmittelbare Eingebung oder vielmehr für einen durch die Afra wunderbar bewirkten Aufruf zur Heimkehr und Heirat mit der Cornelia , die ihm mit jedem Augenblicke , den er darüber nachdachte , wieder wünschenswerter erschien .
Aber auch gegen Afra Zigonia empfand er , zum ersten Male seit dem Abenteuer des Losziehens , ein dankbares Wohlwollen , überzeugt , daß sie weiser sei als er und ihn schließlich auf den Weg geleitet habe , den er nie hätte verlassen sollen .
Das sei der Sinn ihres Wegganges im Traume und des Lichtes , das sie ihm aufgesteckt .
Er packte in der Nacht seine Habseligkeiten zusammen , lief seinen Vorgesetzten davon , fuhr mit einem Walfischfänger südwärts und strebte unaufhaltsam der Heimat zu , wo er an seinem Hause eines Abends anschellte , gerade als er die einst mitgenommene Barschaft gänzlich aufgezehrt hatte ; denn er war jetzt schon im zehnten Monat von Hause abwesend Er überlegte soeben , ob er , bei anbrechender Dämmerung , noch heute durch das Gartenpförtchen gehen und die verlassene Freundin wohltätig überraschen solle , als die Haustüre sich öffnete und ein fremdartiger Mensch vor ihm stand , ein blatternarbiger , gelbbrauner Mann mit gebogener Nase , starkem Schnurrbarte und runden Augen , der als Haustracht türkische Pantoffeln an den Füßen und eine lang herabhängende rote Kappe auf dem Kopfe trug , wie sie in den Ländern des Mittelländischen Meeres und weiterhin häufig bei Seeleuten gesehen wird .
Der fragte nach dem Begehren desjenigen , der geläutet habe .
" In mein Haus will ich ! " antwortete dieser verwundert , " ich bin der Herr Hieronymus Zwiehan ! "
" Der bin ich selbst " , sagte jener barsch und schlug die Türe zu .
Noch einige Minuten stand Albertus , bis ihm einfiel , er wolle den Notar aufsuchen , der wohl wissen werde , von welchem Insassen sein Haus besetzt sei .
Allein der öffentliche Schreiber , der an seinem Abendessen gestört wurde , sah ihn groß an und rief ob er sich endlich sehen lasse , nachdem er so lang nichts von sich habe hören lassen ?
( Denn damals gab es noch nicht die vielen Publikationsmittel , um einen unbekannt Abwesenden aufzurufen . )
Im Hause sitze kein anderer als der Adoptivsohn und einzige Erbe des verstorbenen Zwiehan , oder wenigstens einer , der sich gleichmäßig dafür ausgebe wie Albertus und ganz die gleichen Schriften besitze .
Bereits habe die Mamsell Cornelia Soundso , die man für die Verlobte des letzteren gehalten , gerichtlich bezeugt , daß sie von Albertus selbst auf dem Wege des Vertrauens das Geheimnis erfahren habe , wie er nicht sein Halbbruder , der ertrunkene Hieronymus , sondern der eigene natürliche Sohn des alten Zwiehans sei .
Auf dieses Zeugnis hin habe man dem unvermutet angekommenen Hieronymus einstweilen den Aufenthalt in dem Hause gestattet ; denn wenn es sich so verhalte , so sei nach hiesigem Erbrecht nicht der natürliche Sohn Albertus , sondern der Adoptivsohn rechtmäßiger Erbe , und jener könne gehen , wo er wolle , das heißt , insofern er nicht etwa wegen Fälschung des Familienstandes eingesperrt werde .
Was er nun dazu sage ?
Albertus hatte zwar wenig Ursache mehr , auf seine Träume zu bauen ; allein die grimmige Notwendigkeit zwang ihn , diesmal noch den Hieronymus für ertrunken zu halten ; verwirrt und aufgebracht stotterte er , das sei alles nicht wahr und nicht möglich und werde sich leicht aufklären ; aber der Notar zuckte die Achseln und ließ sich kaum herbei , dem Unglücklichen aus dem ihm anvertrauten Vermögen etwas weniges an Geld zu verabreichen , damit er eine Herberge suchen konnte .
In der Tat war der verschollen gewesene Bruder bald nach der Abreise des Albertus in Ostindien unversehens erschienen und den Spuren des letzteren nach der Schweiz gefolgt .
Wo er die vielen Jahre sich umgetrieben , wurde nie völlig klar , unterderhand aber behauptet , er sei bei den Piraten gewesen und habe einen ordentlichen Beutel voll Dukaten zusammengerafft .
Es kam nun zum gerichtlichen Austrag des Streites , welcher von den beiden Halbbrüdern und Bastarden der Adoptivsohn des leichtsinnigen toten Vaters sei .
Jeder von ihnen hatte einen Advokaten , der sich um die zu erhoffende Beute tüchtig wehrte , und eine Zeitlang schien bei der Entfernung des ursprünglichen Schauplatzes und dem Mangel an Zeugen der Kampf innezustehen , bis der Advokat des Hieronymus , nach Anleitung der Cornelia , einige ältere Männer herbeibrachte , welche den alten Zwiehan in seinen jüngeren Jahren , vor der Zeit der Auswanderung , noch wohl gekannt hatten .
Diese Männer bezeugten , daß Albertus der eigene Sohn des Alten sein müsse , weil er demselben ihrer deutlichen Erinnerung nach so ähnlich sehe wie ein Ei dem anderen , wodurch der Streit zugunsten des wahren Hieronymus entschieden und dieser in das ganze Erbe , wie Albertus es hergeschleppt hatte , eingesetzt , der letztere aber wegen seines betrüglichen Vorgebens , zwar mit Annahme mildernder Umstände , für ein Jahr ins Gefängnis geworfen wurde .
So war Albertus Zwiehan um sein natürliches Recht gekommen und sah den Abkömmling eines wildfremden Abenteurers , der selbst ein solcher war , durch die Schuld seiner leiblichen Mutter in den Besitz des ganzen von seinem Vater erworbenen Vermögens gebracht , während er selbst ein Bettler geworden .
Cornelia dagegen , deren schönklingender Name einst den einfältigen Albertus so bestochen hatte , vermählte sich unverzüglich mit dem Piraten , dessen mangelhafte und rauhe Sitten sie nicht abschreckten .
Um den unglücklichen Albertus auch nach Verbüßung seiner Strafe noch weiter quälen zu können , beredete sie ihren Mann , ihn um Gottes Willen in das Haus aufzunehmen , was auch geschah .
Er mußte nun die Arbeit eines Knechtes oder eher einer Magd verrichten ; denn er besaß zunächst nicht einen Pfennig , mit welchem er hätte verreisen oder ein Geschäft beginnen können , und war daher genötigt , sich allem zu unterziehen .
Unkraut jäten , Salat putzen , Wasser tragen ärgerten ihn weniger als das Einrichten jener Wasserleitung und das Aufhängen der Wäsche , zu welchem ihn die Madame Cornelia Zwiehan regelmäßig mit boshaftem Lächeln anhielt .
Eine Abwechslung gewährte ihm das Abschreiben der Familienchronik , welche im Besitze einer alten Frau von Zwiehanischer Abstammung war und dem Hieronymus Zwiehan geliehen wurde .
Dieser , als der letzte nun legitime Stammhalter des früher nicht unbedeutenden Geschlechtes , wollte sich auf dem Wege der Abschrift seiner Vorfahren versichern , da die eigensinnige Alte das Dokument nicht abtrat .
Er selbst verstand nicht deutsch zu schreiben , und die Cornelia , die sich ganz einem bequemen Wohlsein ergeben , weigerte sich , die Kopie anzufertigen .
Durch das Abschreiben lernte Albertus erst Ansehen und Würde der Familie kennen , aus welcher er abstammte und nun verstoßen war ; denn nicht einmal seine Eigenschaft als illegitimer Abkömmling konnte er beweisen , weil hierfür nicht eine einzige Urkunde mehr vorhanden war .
Durch die Unterdrückung seines wahren Familienstandes hatte der arme Tor sich selbst heimatlos gemacht , und die Ähnlichkeit mit seinem Vater , welche hingereicht , ihm das Erbe zu rauben , wurde nicht für genügend erachtet , ihm Namen und Bürgerrecht des Vaters zu verschaffen , weil hierüber kein Spruch und keine Notiz vorhanden war .
Um wenigstens eine Spur von seinem Dasein zu hinterlassen , schrieb er heimlich sein Schicksal in das Original der Aufzeichnungen hinein , wozu eine Reihe leergebliebener Blätter genügenden Raum bot , und brachte das Buch nach beendigter Arbeit sofort jener Alten zurück .
Sie las die eingeschaltete Geschichte mit aller Teilnahme , besonders da sie den neuen Stammhalter nicht leiden konnte , und als Albertus Zwiehan bald darauf aus Verdruß über den Verlust seines Daseins , ja seiner Person und Identität krank wurde und starb , ließ sie ihm einen Grabstein setzen und schrieb in die Chronik , mit ihm sei der letzte wirkliche Zwiehan begraben worden , und was allfällig in Zukunft noch unter diesem Namen herumlaufen werde , sei die Abkommenschaft eines landstreichereschen fremden Seeräubers .
Es war eine warme Sommernacht , als ich mich dazumal über die Kirchhofmauer schwang und den Schädel , den ich mir bei Anlaß eines Leichenbegängnisses gemerkt , abholte .
Er lag in einem hohen grünen Unkraut , die Kinnlade daneben , und war inwendig von einem schwachen bläulichen Lichte erhellt , das leise durch die Augenhöhlen drang , wie wenn das leere Kopfhäuschen des Albertus Zwiehan , insofern es wirklich das seinige gewesen , noch von nichtigen Traumgeistern bewohnt wäre .
Zwei Glühwürmchen saßen nämlich darin , vielleicht in Hochzeitsgeschäften ; ich nahm jedoch an , es seien die Seelen der Cornelia und der Afra , und steckte sie zu Hause in ein Fläschlein mit Weingeist , um ihnen endlich den Garaus zu machen ; denn ich glaubte fest , auch die fromme Afra habe den unhaltbaren Menschen absichtlich mit ihrem Rücken angelockt und irregeführt .
Nachdem der Grund des Reisekastens mit dem eingemauerten Totenkopfe dermaßen gelegt war , kam die Mutter heran , um die neue Leibwäsche in gebührlicher Weise hineinzuschichten und mir die solchen Dingen zukommende Sorgfalt einzuprägen .
Alles , was sie zum Vorschein brachte , hatte sie selbst gesponnen und weben lassen , eine Anzahl feinere Hemden noch in jungen Jahren ; denn da der Anwachs des Hauses so früh abgebrochen worden , so waren die Vorräte ihres Fleißes zum guten Teile verschont geblieben , und ich nahm auch von diesem wiederum nur einen Teil mit , indessen die Mutter das übrige für meine , wie sie hoffte , rechtzeitige Rückkehr zur Erneuerung bereithielt .
Dann kam ein Feiertagskleid , zum ersten Mal in anständigem Schwarz ; galt es ja nun , nicht durch Verletzung der Sitte vom Wege des guten Fortkommens abgedrängt zu werden ; überdies glaubte die Mutter , daß ich durch den Besitz eines Sonntagskleides eher im Zusammenhänge mit der göttlichen Weltordnung leben würde , wie sie sich auch nicht vorstellen mochte , daß ich in fremden Ländern einstmals sonn- und Werkeltags im gleichen Rocke herumlaufen könnte .
Sie wiederholte daher während des Packens die schon oft erteilten Ermahnungen über das Instandhalten der Kleider , wie mit einer einmaligen Vernachlässigung , einem kurzen Mißbrauche schon der frühe Untergang eines Stückes eingeleitet würde und wie wenig ehrenhaft es sei , einen weggelegten Rock später aus Armut doch wieder anziehen zu müssen , anstatt ihn von Anfang an zu schonen und möglichst lang in einem ordentlichen Mittelstande zu erhalten .
Hierdurch verschaffe man dem Schicksal genügenden Spielraum , sich zu wenden , während beim schnellen Ruinieren eines Kleides ja gar nichts Rechtes vorgehen könne , ehe es abgetragen und löchert sei .
Nachdem endlich die übrigen Gewandstücke sowie die Ausstattung an kurzer Ware hineingebreitet und allerlei Wertlosigkeiten des ärmlichen Bedürfnisses dazwischengesteckt worden , schlossen wir den Koffer , und ein Mann schaffte die kleine Arche zur Post , mit welcher ich am nächsten Morgen abreisen sollte .
Mit Schreck blickte die Mutter , die sich gesetzt hatte , auf den leeren Fleck des Stubenbodens , auf welchem der Kasten den ganzen Tag gestanden ; auch die Mappen waren schon weggetragen und somit von allem , was mich anging , nur noch meine Person , und auch die bloß für eine kurze Nacht , vorhanden .
Aber die Mutter überließ sich nicht lange diesem Vorgefühl der Einsamkeit , sondern raffte sich , da es Sonnabend war , nochmals auf , um die Stube in gewohnter resoluter Weise zu reinigen und nicht zu ruhen , bis alles getan war und die stille Sauberkeit der Sonntagsfrühe harrte .
Die stieg denn auch mit dem schönsten Maitag herauf , als ich bei dem ersten Morgengrauen erwacht und aus der Stadt auf eine benachbarte Anhöhe gelaufen war , nur um in meiner Ungeduld die Zeit zu verbringen und den letzten Blick auf die Heimat zu werfen .
Ich stand unter den Vorbäumen des Waldes ; hinter demselben lag der Osten mit dem erschimmernden Morgenrot ; zugleich aber erglühten die obersten Spitzen , Kämme und Wände des Hochgebirges im Süden , die dem Osten zugekehrt waren , in ungewohnten Formen , da ich sie zufällig nie so gesehen .
Abstürze und Klüfte , allmählich auch ganze hochliegende Gefilde und Ortschaften kamen zum Vorschein , von denen ich keine Vorstellung gehabt ; und als endlich auch die alten Kirchen der mir zu Füßen liegenden Stadt durch irgendeinen Bergeinschnitt östlich beglänzt wurden , dazu ein wolkenloser Äther sich über das Land ergoß und rings um mich her der Gesang der Vögel ertönte , da erschien mir diese Heimat so neu und fremdartig , als ob ich sie , statt sie zu verlassen , erst jetzt kennenzulernen hätte .
Es war einer jener Fälle , wo ein Altgewohntes , Naheliegendes erst in dem Augenblicke , in welchem wir uns von ihm wenden , einen ungekannten Reiz und Wert enthüllt und die schmerzliche Erfahrung unserer Flüchtigkeit und Beschränktheit wachruft .
Hier reichte der bloße Umstand , die Sache einmal im wörtlichsten Sinne von der anderen Seite beleuchtet zu sehen , hin , mir den Abschied zu erschweren und ein Gefühl der Reue und Unsicherheit zu erwecken , ja mich den fruchtlosesten aller Vorsätze fassen zu lassen , ein fleißiger Frühaufsteher und Zeitbenutzer zu werden , wie wenn ich ein Ackersmann , Jäger oder Soldat wäre , die allerdings mit der ersten Morgenfrühe aufs Feld gehören .
Als ein Zeugnis meines Vorsatzes und der besseren Pflichttreue hob ich das weiß und blau gestreifte Federchen eines Hähers vom Boden auf , welches die Farben unseres alten eidgenössischen Standes zeigte , und steckte es auf meine Samtmütze .
Damit eilte ich wieder in die Stadt hinunter , in deren Gassen jetzt die Morgensonne webte und die ersten Kirchenglocken erklangen .
Während die Mutter das letzte Frühstück bereitete , machte ich den Umgang , mich bei den Hausgenossen zu verabschieden , welche die einzelnen Stockwerke als Mieter bewohnten .
Zuunterst hauste ein Spenglermeister , ein Bearbeiter jenes nützlichen Materials , das an sich fast wertlos , nur durch unendliches Schneiden , Klopfen und Löten etwas wird und nie zum zweiten Male gebraucht werden kann .
Es beruht somit alles auf der zuwege gebrachten Form , mit welcher tausend hohle Räume umschlossen werden , und , da wegen des geringen Stoffes niemand viel Geld daranwenden will , auf einer von früh bis spät andauernden rastlosen Arbeit , damit durch die Menge des Gehämmerten ein bedürfnisgemäßer Ertrag ermöglicht wird .
Hierdurch sowie durch die erste Vorsicht , welche beim gefährlichen Anschlagen von Dachrinnen erforderlich ist , war der Meister ein etwas grämlicher Formalist geworden , der , streng gegen seine Gesellen , mit Frau und Kindern auch nicht freundlich tat .
Aus mißtrauischer Bescheidenheit hatte er nie gewagt , etwa einen Verkaufsladen zu eröffnen und sein Geschäft auszudehnen , sondern beschränkte sich darauf , in seiner dunklen Werkstatt , die in einer entlegenen Gasse lag , vom frühsten Morgen bis in die Nacht zu arbeiten , auch wenn seine Gesellen schon im Bette oder im Wirtshaus waren .
Er bezahlte den Mietzins immer pünktlich und verhielt sich der Mutter gegenüber gut und geziemend ; mich aber sah er mehr von der Seite an und behandelte mich abgemessen und trocken , weil er , wie ich längst bemerkt , mein bisher so freies und sorgenloses Leben , meinen Beruf , überhaupt alles , was ich tat , mißbilligte .
Um so überraschter war ich , als er mich jetzt ganz aufgeräumt und freundschaftlich empfing und seine unverhoffte Heiterkeit durch ein frischrasiertes Gesicht und sonntäglichen Anzug noch verklärt wurde , was ihn freilich nicht hinderte , einen kleinen Knaben durch eine Ohrfeige schnell zum Weinen zu bringen , der , beim Frühstück sitzend , noch mehr Milch verlangte .
Gleich darauf begann auch ein Mädchen unterdrückt zu schluchzen , das er plötzlich am Zopf gezerrt , weil es sein Brot hatte auf die Erde fallen lassen .
Nachdem auf einen strengen Blick des Mannes die Frau sich mit den Kindern in die Küche zurückgezogen , besprach er in heiterem Ton meine Reise , die Städte , welche ich sehen würde , die Wahrzeichen derselben , die ich besichtigen solle , und nannte mehrere , wie die Handwerksburschen auf der Wanderschaft sie sich zu überliefern pflegen , hier einen steinernen Mann , dort einen schiefen Turm , anderswo einen hölzernen Affen am Rathaus .
Dann brachte er Speis und Trank zur Sprache , was hier oder dort gut zu trinken oder zu meiden sei , die leckeren Nationalgerichte , die er nie vergessen und auf die ich stoßen werde , je nach Landesart .
Da möge ich mir nichts abgehen lassen .
Bedächtig schritt er unversehens zu seinem Schreibtisch , nahm ein Papierchen heraus , in welches ein Brabantertaler gewickelt war , und überreichte es mir als bescheidenes Reisegeschenk , wie er sagte , mit der Aufforderung , es mit guter Gesundheit fröhlich zu verzehren .
Ich durfte es nach der Sitte nicht ablehnen , sondern behielt es mit höflichem Dank in der Hand und stieg eine Treppe höher .
Später habe ich erst erfahren , welche Bewandtnis es mit seiner Freundlichkeit hatte .
Er war so fröhlich und scheinbar wohlwollend , weil er der Überzeugung lebte , ich werde nun lernen , was Leben und Arbeiten sei , und in der Schicksalsschule , der ich so harmlos entgegenreise , gehörig gemaßregelt werden ; denn es war mit den nationalen Leckerbissen , die er auf der Wanderschaft genossen haben wollte , nicht weit her ; Hunger und Durst hatte er gelitten und jegliche Not durchgemacht , nicht aus eigenem Verschulden , sondern aus Unstern .
Sein heiterer Abschied war daher eine Art Verwünschung , die er mir auf den Weg gab , obgleich zu meinem Besten , wie er meinte .
Auf dem nächsten Stocke , den ich nun besuchte , wohnte ein kleiner Mechanikus , welcher mit allerlei volkstümlichen Genauigkeitswerkzeugen , wie Waagen , Maßstäben , Zirkeln , dann mit Kaffeemühlen , Waffeleisen , Äpfelschälmaschinchen handelte , dergleichen auf Verlangen auch ausbesserte mit Hilfe eines alten Arbeiters .
Zugleich aber bekleidete er das Amt eines Eichmeisters über einen Kreis , prüfte Maß und Gewicht und kerbte , schlug und schliff die Zeichen in die betreffenden Gegenstände .
Vorzüglich mit den vielen Schenkwirten führte er einen beständigen Krieg , wenn sie mit allen Ränken und öfterem Wechsel ihres Glasgeschirres das Gesetz zu umgehen suchten .
Nun trieb ihn die Leidenschaft , nicht nur darüber zu wachen , daß das Geschirr richtig geeicht sei , sondern auch darüber , daß es gehörig gefüllt werde , und er zog von einem Wirtshaus ins andere , um nachzusehen , wo das Getränke unter dem Strich blieb und die Gäste sich das gefallen ließen .
Bei dieser Gelegenheit verlor er selbst das Maß und verfiel einem Trinken unzähliger halber Schöppchen , aus dem er sich nicht mehr losnesteln konnte , so genau und scharf er auch jedes einzelne betrachtete , bevor er es zu sich nahm .
Noch unrasiert und im Werktagshabit wartete er jetzt auf seinen Morgenkaffee , welchen die Frau still bereitete ; denn sie hielt mit ihren spitzigen Strafreden klug zurück , bis der letzte Rest der Weinlaune , aus welchem er noch Kraft zum Widerstande schöpfen konnte , abgestorben und nur noch die Schwäche übrig war , die sie jeden Tag nutzlos mit Worten zusammenhieb .
Der Eichmeister goß in ein zylindrisches Gläschen , das zum Ausgleichen und Abwägen kleiner Mengen diente , etwas Kirschgeist , da die Frau aus Neid oder Bosheit sein letztes Kelchgläschen zerbrochen habe Diese metrische Erquickung setzte er mir vor , während er sich selbst einen tüchtigen Schluck in ein größeres Glas schenkte , als willkommenes Mittel , den Zustand seiner Wehrbarkeit etwas zu verlängern .
Im ungekämmten Haare kratzend , sah er mich aus geröteten Augen blitzelnd an , seufzte und behagte die Unsitte , sich den Sonntagmorgen immer durch das lange Sitzen in der Samstagsnacht zum voraus zu verderben .
Dann sagte er :
" Ich bin Euerer Mutter , Herr Lee , noch den letzten Hauszins schuldig ; es wäre daher nicht schicklich , wenn ich Euch ein noch so bescheidenes Reisegeschenk anbieten wollte .
Dafür will ich Euch aber einen guten Rat auf den Weg geben , der Euch , insofern Ihr ihn befolget , nützlich sein wird .
Haltet immer auf rechte Gesellschaft und einen fröhlichen Sinn ; aber Ihr möget reich oder arm , beschäftigt oder müßig , geschickt oder ungeschickt sein , geht niemals am Tage ins Wirtshaus , sondern wartet den Abend ab !
Das ist der Standpunkt eines gesitteten und gebildeten Mannes , was ich leider nicht mehr bin !
Und auch am Abend geht eher spät als früh ; es gibt nichts , das so ehrbar und angenehm wäre als der zuletzt erscheinende Gast , vorausgesetzt , daß er nicht aus anderen Wirtshäusern kommt .
Freilich kann nicht jeder nach dieser Ehre trachten , weil auch einer oder mehrere die ersten sein müssen , andere die mittleren usw. ; dann aber nehmt Euer bescheidenes Maß ent schlossen zu Euch und brecht ebenso entschlossen wieder auf , oder wenigstens hockt nicht mit langweiligem Geschwätz vor leeren Gläsern ; lieber lasst diese nochmals füllen , als daß Ihr dem Wirte auf so niederträchtige Art die Nacht stehlet wie die Tagediebe dem Herrgott den Tag !
Und nun will ich Euch zum guten Abschied noch eichen , daß Ihr in allen Dingen Maßhaltet ! "
Er holte ein längliches Futteral herbei , nahm aus demselben ein amtliches Urmaß , fein aus glänzendem Messing gearbeitet , legte es mir an den Hals und sagte : " Bis hier hinauf und nicht weiter dürfen Glück und Unglück , Freude und Kummer , Lust und Elend gehen und reichen !
Mag_es in der Brust stürmen und wogen , der Atem in der Kehle stocken ! der Kopf soll oben bleiben bis in den Tod ! "
Da der blanke Metallstab sich kalt anfühlte , so hatte ich am Halse die Empfindung , wie wenn eine gebieterische Einwirkung in der Tat stattgefunden hätte , und ich wußte nicht , ob Torheit oder Weisheit aus dem Manne sprach .
Auch lachte er gleich mir , als er sich zu seinem Frühstück setzte und ich meines Weges weiterging .
Nun kam ich an eine verschlossene Türe , was ich eigentlich hätte vermuten können .
Dort wohnte nämlich ein unverheirateter kleiner Beamter , der jeden Sonntag , wenn das Wetter es irgend erlaubte , früh wegging und den ganzen Tag fortblieb , um ja nicht zu irgendeiner unvorhergesehenen Verrichtung oder Arbeit geholt zu werden .
So warf er auch jeden Tag , sobald es sechs Uhr schlug , die Feder weg und verließ das Lokal , mochte die Arbeit noch so dringend sein .
Den Posten , den er bekleidete , verfluchte er unablässig , obgleich er ihm jahrelang nachgelaufen war und fast kniefällig darum angehalten hatte .
Er nannte sich ein Opfer " enttäuschter Grundsätze " und besuchte nur solche Gesellschaften , wo seine Vorgesetzten geschmäht wurden , und er verbreitete dort die Meinung , daß er nicht an bessere Stellen befördert werde , weil er den Rücken nicht zu beugen verstehe .
Der eigentliche Grund seines Sitzenbleibens war freilich die Unfähigkeit , etwas Besseres zu leisten , wie er ja schon durch seine Redeblume der " enttäuschten Grundsätze " bewies , daß ihm die Kenntnis des richtigen Sprachgebrauches fehlte .
Trotz aller Unzufriedenheit hing er aber wie eine Klette an seinem Posten und wäre mit Feuerhaken nicht von demselben loszureißen gewesen ; denn er gewährte ihm , wenn auch kein glänzendes , so doch ein sicheres und gemächliches Auskommen .
Auch hütete er sich , da seine Trägheit eine vorsätzliche war und er es in diesem Punkte halten konnte , wie er wollte , er hütete sich vorsichtig , unter die Linie hinabzugehen , wo er weggeschickt worden wäre , wogegen er sich aus periodischen Verweisen und Aufmunterungen nichts machte .
Ich liebte diesen Hausgenossen um so weniger , als er zuweilen ein stiller Vorwurf für mich war , trotz seines keineswegs mustergültigen Charakters ; denn meine Mutter hatte , im Hinblick auf sein sorgloses und geruhiges Leben , schon mehr als einmal die schüchterne Frage aufgeworfen , ob es doch nicht vielleicht besser gewesen wäre , wenn wir , dem Rate jenes Magistraten folgend , eine solche Laufbahn gewählt hätten , auf der ein so dummer Mensch so behaglich einherwandle , während ich in die weite Welt müsse und nicht wisse , wie es mir ergehen werde .
Ich hatte mich aber begnügt , auf die miserable Figur hinzuweisen , die ein solcher Kerl mache , der nichts Höheres kenne und nichts erfahren habe .
Als ich nun vor der Türe stand , an welcher ein artiges Messingplättchen seinen Namen und den Titel seines Ämtchens zeigte , hörte ich im Inneren den Pendelschlag der Wanduhr langsam und friedlich hin- und hergehen .
Es herrschte eine so tiefe Stille und Ruhe in dem Gemach , daß die Uhr sich der Abwesenheit des unzufriedenen Gesellen förmlich zu freuen schien .
An dem Türpfosten lehnend , horchte ich eine Weile dem eintönig vielsagenden Liede der Zeitmesserin , die niemals denselben Augenblick zweimal mißt .
Ich hörte wohl etwas heraus , aber nicht das Rechte , weil ich jung war , und stürmte endlich in unsere eigene Wohnung hinauf .
Dort harrte die Mutter mit der letzten kleinen gemeinsamen Mahlzeit , die sie bereitet ; die nächste sollte sie nun allein verzehren .
Die Morgensonne erfüllte das Gemach mit ihrem Scheine , und ich betrachtete , als wir einsilbig am Tische saßen , durch die Stille wie befremdet , die schlichten weißen Vorhänge , das alte Wandgetäfer , das Hausgeräte , wie wenn ich alles dies nie wiedersehen sollte .
Das Frühstück war etwas reichlicher als gewöhnlich bedacht , hauptsächlich damit ich nicht in den nächsten Stunden Schon hungrig zu werden und Geld auszugeben brauchte , aber auch weil die Mutter sich mit dem Reste den übrigen Tag hindurch nähren und heute für sich allein nicht mehr kochen wollte .
Als sie das beiläufig sagte , wurde ich ganz betreten und wollte erwidern , sie müsse das ja nicht tun , wenn ich nicht eine traurige Vorstellung mit mir nehmen solle .
Allein ich brachte kein Wort hervor , an dergleichen Äußerungen nicht gewöhnt , indessen die Mutter nach Worten suchte , um diejenigen letzten Ermahnungen an mich zu richten , die sonst einem Vater obliegen .
Da sie aber die Welt nicht kannte noch die Tätigkeiten und Lebensarten , denen ich entgegenging , und doch wohl fühlte , daß etwas nicht richtig sei in meinen Geschichten und Hoffnungen , ohne daß sie nachweisen konnte , worin es lag , so beschränkte sie sich schließlich auf den kurzen Zuspruch , ich solle Gott nie vergessen .
Dieses Allgemeine , welches freilich alles umfaßte und ausdrückte , was sie mir hätte sagen können , weil ich ein ungebrochenes theistisches Glauben und Fühlen in mir trug , nahm ich mit dem Schweigen entgegen , das von selbst eine Bejahung ist .
Und da zugleich die Kirchenglocken einfielen und eine um die andere rasch zusammenklangen , so blieb jenes Wort das letzte zwischen uns gesprochene ; denn die Minute war da , wo ich aufzubrechen hatte .
Ich sprang auf , nahm Mantel und Tasche und gab der Mutter die Hand zum Lebewohl .
Unter der Stubentüre , als sie mich begleiten wollte , drängte ich sie sanft zurück , zog die Türe zu und eilte allein auf die Post , von wo ich bald darauf in einem der schweren , mit fünf Pferden bespannten Eilwagen saß , die jeden Morgen im Trabe die steilen , schlecht gepflasterten Gassen der Bergstadt hinunterrasselten .
Etwa fünf Stunden später fuhr ich über eine lange hölzerne Brücke .
Als ich mich aus dem Schlage bog , sah ich einen starken Strom unter mir daherziehen , dessen an sich klargrünes Wasser , das junge Buchenlaub , das die Uferhänge bedeckte , sowie die tiefe Bläue des Maihimmels vermischt widerstrahlend , in einem so wunderbaren Blaugrün heraufleuchtete , daß der Anblick mich wie ein Zauber befiel und erst , als die Erscheinung rasch wieder verschwand und es hieß : " Das war der Rhein ! " mir das Herz mit starken Schlägen pochte .
Denn ich befand mich auf deutschem Boden und hatte von jetzt an das Recht und die Pflicht , die Sprache der Bücher zu reden , aus denen meine Jugend sich herangebildet hatte und meine liebsten Träume gestiegen waren .
Daß es nicht in meinem Erinnern leben konnte , ich sei nur von einem Gau des alten Alemanniens in den anderen hinüber , aus dem alten Schwaben in das alte Schwaben gegangen , dafür hatte der Lauf der Geschichte gesorgt , und darum war mir das herrliche Funkeln der grünblauen Flamme des Rheinwassers wie der Geistergruß eines geheimnisvollen Zauberreiches gewesen , das ich betreten .
Ich sollte freilich auf unerwartete Weise aus solchen Träumen geweckt und meine Weiterreise zur seltsamsten Pönitenzfahrt werden , die je einer gemacht .
Denn bei der ersten Wechselstelle der nachbarländischen Post lag auch die Zollstätte mit dem fürstlichen Kronewappen , und während das Gepäck der übrigen Reisenden kaum geöffnet und leichthin geprüft wurde , erregte mein unförmlicher Koffer eine genauere Aufmerksamkeit der Zollbeamten ; was am gestrigen Abend so sorglich eingepackt worden , mußte unbarmherzig herausgenommen und auseinandergelegt werden bis auf die Bücher am Grunde , und diese wurden erst recht abgedeckt .
So kam der Schädel des armen Zwiehan zutage und erweckte wiederum eine Neugierde anderer Art kurz , es wurde nicht geruht , bis der ganze Inhalt meiner Kiste auf dem fremden Boden umhergestreut lag .
Mit kaltem Lächeln schauten sodann die martialischen Grenzwächter zu , als ich hastig und bekümmert meine Habseligkeiten wieder in den Kasten warf und preßte und kaum alles unterbringen konnte , während die übrigen Reisenden bereits im neuen Postwagen saßen und der Wagenführer mich zur Eile antrieb .
Er half mir noch den Deckel zudrücken und schließen , und als die Bediensteten das schwere Möbel wegtrugen , lag richtig der Schädel auf der leeren Stelle und war , hinter dem Koffer versteckt , vergessen worden .
Er hätte auch nicht mehr Platz gefunden .
So hob ich ihn denn auf , nahm ihn unter den Arm , trug ihn zum Wagen und hielt ihn auf der ganzen Reise auf dem Schoße , in ein Tuch gewickelt , das ich für etwaigen Nachtfrost zum Schutze des Halses mit mir führte .
Eine Art natürlicher Pietät oder Gewissensfurcht hielt mich ab , das unbequeme Wesen unterwegs auf gute Weise wegzuwerfen oder zurückzulassen , nachdem ich es einmal zu leichtsinnig vom Friedhofe geraubt hatte ; wie ja auch der verworfenste Mensch immer noch Anlaß findet , mit einem Zuge der Menschlichkeit , wenn auch noch so wunderlich angewendet , sich auszuweisen .
Mit dem Sonnenuntergange des zweiten Tages er reichte ich das Ziel meiner Reise , die große Hauptstadt , welche mit ihren Steinmassen und großen Baumgruppen auf einer weiten Ebene sich dehnte .
Meinen verhüllten Totenkopf in der Hand , suchte ich bald das notierte Wirtshaus und durchwanderte so einen guten Teil der Stadt .
Da glühten im letzten Abendscheine griechische Giebelfelder und gotische Türme ; Säulenreihen tauchten ihre geschmückten Häupter noch in den Rosenglanz , helle gegossene Erzbilder , funkelneu , schimmerten aus dem Helldunkel der Dämmerung , wie wenn sie noch das warme Tageslicht von sich gäben , indessen bemalte offene Hallen schon durch Laternenlicht erleuchtet waren und von geputzten Leuten begangen wurden .
Steinbilder ragten in langen Reihen von hohen Zinnen in die dunkelblaue Luft , Paläste , Theater , Kirchen bildeten große Gesamtbilder in allen möglichen Bauarten , neu und glänzend , und wechselten mit dunklen Massen geschwärzter Kuppeln und Dächer der Rats- und Bürgerhäuser .
Aus Kirchen und mächtigen Schenkhäusern erscholl Musik , Geläute , Orgel- und Harfenspiel ; aus mystisch-verzierten Kapellentüren drangen Weihrauchwolken auf die Gasse ; schöne und fratzenhafte Künstlergestalten gingen scharenweise vorüber , Studenten in verschnürten Röchen und silbergestickten Mützen kamen daher , gepanzerte Reiter mit glänzenden Stahlhelmen ritten gemächlich und stolz auf ihre Nachtwache , während Kurtisanen mit blanken Schultern nach erhellten Tanzsälen zogen , von denen Pauken und Trompeten herübertönten .
Alte dicke Weiber verbeugten sich vor dünnen schwarzen Priestern , die zahlreich umhergingen ; in offenen Hausfluren dagegen saßen wohlgenährte Bürger hinter gebratenen jungen Gänsen und mächtigen Krügen ; Wagen mit Mohren und Jägern fuhren vorbei , kurz , ich hatte genug zu sehen , wohin ich kam , und wurde darüber so müde , daß ich froh war , als ich endlich in dem mir angewiesenen Zimmer des Gasthofes Mantel und Totenkopf ablegen konnte .
Elftes Kapitel Die Maler Gehe ich mit der Erinnerung meinem damaligen Wandel nach , so gestaltet sich derselbe erst um die Zeit wieder etwas deutlicher , wo ich gegen anderthalb Jahre am Musenorte mehr oder weniger inkognito zugebracht .
Denn weder meine Vorbereitung noch meine Lebenskunde waren geeignet gewesen , mein Tun und Lassen rasch in eine feste Form zu leiten .
In diesem Übergangsschatten herumsuchend , sehe ich mich eines Nachmittags bei guter Zeit die Palette reinigen und die Pinsel auswaschen , mit denen ich den Kampf mit einem auf Hörensagen begonnenen Ölmalen führte .
Ich sehe mich noch den schlichten breitrandigen Hut ergreifen , den ich längst statt des sentimentalen Samtbarettes trug , und den Weg zu einem neuen Bekannten antreten , um denselben noch bei der Arbeit zu finden und ihm eine flüchtige Weile zuzuschauen , ehe wir den verabredeten Gang ins Freie unternahmen .
Ohne alle Empfehlungen angekommen und auch ohne Mittel , mich in die Werkstatt eines in der Wolle des Gelingens sitzenden Meisters einzudingen , war ich darauf angewiesen , in den Vorhöfen des Tempels zu stehen und da oder dort durch die Vorhänge zu gucken , was immer seine Schwierigkeit hatte .
Denn von den Scholaren , wie sie im Durchschnitte sind , war nichts zu lernen , und sobald die jungen Leute durch den Verkaufe eines Werkleins sich als angehende Meister betrachten lernten , wurden sie in der Mitteilung ihrer Kunstgeheimnisse zugeknöpft und einsilbig .
Schon war ich einmal zurückgeschreckt worden , als ich mich auf ausdrückliche Einladung hin bei einem Derartigen schüchtern zum Besuche meldete und er mich an der Türe mit der hochmütigen Entschuldigung abwies , er halte soeben Konferenz mit seinem Literaten , um " den Mann " für die Besprechung eines neuen Bildes zu instruieren .
Auch in der Idealwelt der Kunst sind Kümmel und Salz reichlicher als Ambrosia , und wenn die Leute wüßten , wie klein und ordinär es in den Köpfen mancher Maler , Dichter und Musikanten aussieht , so würden sie einige dem Völklein nur schädliche Vorurteile aufgeben .
Mein neuer Freund , Oskar Erikson , war jedoch eine gerade und einfache Natur .
Mit seiner ganzen langen und breitschultrigen Gestalt und in seinem dichten Goldhaar , welches vom hoch einfallenden Lichte gestreift wurde , saß er vor einem winzigen Bildchen , an dem er malte .
Sonst war , außer einigen Skizzenbüchlein , in dem geräumigen Zimmer nichts zu erblicken als ein paar Jagdflinten an der Wand , auf dem Boden ausgestreckte Wasserstiefel und auf dem Tische liegende Pulverhörner und Schrotbeutel neben einigen Büchern .
Eine kurze Jägerpfeife im Munde , rückte die Hünengestalt eben , als ich eintrat , mächtige Rauchwolken ausstoßend , auf dem Stuhle stöhnend und brummend hin und her , stand auf , setzte sich wieder , warf die Pfeife weg , daß das glimmende Kraut umherfuhr , zielte mit dem Pinsel und rief in abgebrochener Weise : " O heiliges Donnerwetter !
Welcher Teufel mußte mir einblasen , ein Maler zu werden !
Dieser verfluchte Ast !
Da habe ich zuviel Laub angebracht , ich kann in meinem Leben nicht eine so ansehnliche Maße Baumschlag zusammenbringen !
Welcher Hafer hat mich gestochen , daß ich ein so kompliziertes Gesträuch wagte ?
O Gott , o Gott ! wäre ich , wo der Pfeffer wächst ! ei , ei , ei , ei !
Das ist eine saubere Geschichte - wenn ich nur diesmal noch aus der Tinte komme ! "
Plötzlich fing er ans Verzweiflung machtvoll an zu singen : " O wäre ich auf der hohen See Und säße fest am Steuer ! " was ihm zum Durchbruch zu verhelfen schien ; denn der Pinsel saß jetzt an der rechten Stelle und arbeitete mehrere Minuten gemächlich fort , indessen Erikson die angefangene Melodie immer ruhiger und gedämpfter wiederholte und endlich verstummte und still weitermalte .
Aber offenbar um Gott nicht allzulange zu versuchen , sprang er unversehens auf und betrachtete , einen Schritt zurücktretend , mit höchster Zufriedenheit den alten Dessauermarsch pfeifend , sein Werk .
Dann setzte er das Gepfiffene in Worte um und sang , indem er das Rauchzeug wieder zusammensuchte :
" So leben wir , so leben wir , so leben wir alle Tage " usw . , wobei er endlich meine Anwesenheit entdeckte .
" Sehen Sie , wie ich mich plagen muß ! " rief er , mir unbefangen die Hand schüttelnd ; " seien Sie froh , daß Sie ein gelehrter Komponist und Kopfmaler sind , der nichts zu können braucht , während so ein armer Teufel von Handelsmaler nicht weiß , wo er die Tausende von bargültigen Halbtönchen , Druckarchen und Lichtchen auftreiben soll , um seine kabinettsfähigen vierzig Quadratzoll nicht allzu schwindelhaft zu überstreichen ! "
Das war durchaus nicht ironisch gemeint ; vielmehr betrachtete er seine Arbeit von neuem mit mißtrauischen Augen und setzte sich wieder hin , um noch ein bißchen sein Heil zu versuchen , indessen ich ihm gespannt zuschaute , wie er auf der großen Palette mit ängstlicher Vorsicht reine und sichere Tinten aussonderte , mischte und in der beschriebenen Weise auf trug .
Wie er später , bei entwickelter Vertraulichkeit , von sich selbst behauptete , war er nicht etwa ein schlechter Maler ( dazu war er allerdings zu geistreich ) , sondern im wesentlichen Sinne der Frage gar keiner .
Ein Kind der nördlichen Gewässer , von der Grenzmark zwischen den Deutschen und Skandinaviern herstammend , Sohn eines in guten Umständen lebenden Seefahrtsmannes , hatte er in den ersten Jugendjahren ein anmutiges Geschick bekundet , mit gewandtem Stifte zu skizzieren , was ihm vor die Augen kam , und hauptsächlich für das jährliche Schulexamen prunkende Schaustücke in schwarzer Kreide angefertigt .
Durch den Einfluß eines jener verkümmerten Zeichenlehrer , welche die Dürftigkeit ihrer Existenz mit unversieglicher Begeisterung zu verhüllen oder zu verbessern trachten und überall mit unseligem Aufstacheln zur Hand sind , war er vom freisinnigen Mut einer glücklichen Familie , sich selbst nur halb bewußt , der Kunst zugewendet worden , nicht ohne daß jener Lehrer hierbei manches kräftige Liebesmahl und auch klingenden Lohn für allerlei Rat und Tat zu genießen wußte .
Die ungewöhnliche Laufbahn schien auch dem hellen und fröhlichen Sinn des Jünglings , seiner unbändig emporwachsenden Kraft eher zu entsprechen als der Aufenthalt in der väterlichen Schreibstube .
So wurde er denn , im Widerspiel mit so vielen anderen Jünglingen in ähnlicher Lage , unter bester Zustimmung und Hoffnung , wohlausgestattet und empfohlen , zur Reise nach den berühmtesten Kunstschulen entlassen und fand bei den namhaftesten Meistern , welche ihre Werkstätten zu öffnen pflegten , willige Aufnahme .
Im Anfange ging die Entwicklung ganz frisch und ohne Unterbruch vonstatten , besonders da der junge Mann , zwar nicht übereifrig und mehr lebenslustig , doch keine wirklichen Pausen in seinem Fleiße eintreten ließ und sowohl mit seiner prächtigen Gestalt als seinem heiter frohen Ernste eine Zierde der Ateliers bildete .
Aber die Fortschritte gingen nur bis zu einer gewissen Grenze und standen dann unerbittlich still , auf geheimnisvolle Weise , da jedermann die schönsten Hoffnungen hegte und in der Führung des männlich ruhigen Scholaren keine Änderung eingetreten war .
Erikson wurde des Phänomens zuerst inne , glaubte aber dagegen ankämpfen , dasselbe überwinden und beseitigen zu sollen .
Er veränderte den Ort , versuchte sich auf allen Gebieten , wechselte Meister um Meister - umsonst , er fühlte , daß ihm die Gewalt zur Erfindung sowohl wie zur Fülle der Ausführung abging , daß ihn das innere Sehen auf einem deutlich erkennbaren Punkte verließ oder höchstens sich vereinzelt gleich einem glücklichen Würfelspiel einstellte , welches sich nicht wiederholte , und schon hatte er sich entschlossen , den beschämenden Kampf aufzugeben und heimzukehren , als ihn die Nachricht von dem Ruin des väterlichen Hauses ereilte .
Derselbe war so vollständig und hoffnungslos , wenigstens auf Jahre hinaus , daß die Heimkehr des Sohnes als eine Vermehrung des Übels betrachtet und bestimmt gewünscht wurde , er möge zusehen , wie er sich mit den Früchten seines bisher so löblichen Fleißes nun weiterhelfe .
So war denn sein Entschluß bald verändert .
Mit unbestechlich bedächtiger Selbstkritik durchsuchte und verglich er das ganze Gebiet dessen , was in seinem Vermögen stand , und gelangte nach reiflichem Nachdenken zu dem Ergebnisse , daß er mit Sicherheit und Verständnis allereinfachste Landschaftsbilder im kleinsten Maßstabe , belebt mit vorsichtig hingesetzten Figürchen , alles dies mit einem gewissen Reiz ausgeführt , hervorbringen könne .
Ohne Zaudern machte er sich daran , und zwar mit redlichem und anständigem Sinne .
Denn anstatt mit leichter Arbeit auf falsche Effekte und irgendein manieriert modisches Gepinsel loszugehen , das sich sozusagen von selbst hinschmiert ( gerade das wäre für manchen anderen so recht angezeigt gewesen ) , blieb er wie ein wahrer Gentleman den Grundsätzen einer ehrlichen Vorbereitung und Vollendung getreu , und hiermit erneuerte sich bei jedem neuen Bildchen für ihn Arbeit und Mühe .
Glücklicherweise gelang die Sache .
Gleich das erste Produkt , das er ausstellte , wurde rasch verkauft , und es dauerte nicht lange , so suchten die für feinere Kenner geltenden Sammler die sogenannten Eriksons zu guten Preisen zu erwerben .
Ein solcher Erikson enthielt etwa im Vordergrunde ein helles Sandbord , einige Zaunpfähle mit Kürbisranken , im Mittelgrunde eine magere Birke , dann aber einen weiten flachen Horizont , dessen wenige Linien , mit weiser Berechnung angelegt und in Verbindung mit der einfach gehaltenen Luft , die Hauptwirkung des Werkleins hervorbrachten .
Obgleich dergestalt Erikson als echter Künstler angesehen wurde , verleitete ihn das weder zur Selbstüberschätzung noch zum Geiz ; sobald seinem Ausgabenbedürfnisse genügt war , warf er Pinsel und Palette hin und ging ins Gebirge , wo er sich als Jagdgenosse so einheimisch gemacht , daß er sogar zur Bärenjagd , wenn sich eine solche auftat , zugelassen wurde .
Den größeren Teil des Jahres brachte er , fern von der Stadt , auf diese Weise zu .
Es gehörte nur zum Bilde des allgemeinen Lebens und seines Haushaltes , wenn ich jetzt genötigt war , dem wackeren Gesellen , der sich selbst nicht für einen Meister hielt , die Geheimnisse des Handwerks abzulauschen .
" Nun ist es aber genug ! " rief Erikson plötzlich , " auf die Art kommen wir nicht fort .
Überdies wollen wir im Vorbeigehen einen Kameraden abholen , bei dem Sie Besseres sehen können , heißt das , wenn wir Glück haben !
Kennen Sie Lys , den Niederländer ? "
" Nur vom Hörensagen " , versetzte ich ; " ist es der Sonderling , von dem niemand weiß , was er malt ? der niemanden in seine Werkstatt läßt ? "
" Mich läßt er schon hinein , weil ich kein Maler bin !
Sie vielleicht auch , weil Sie noch nichts können und es noch unentschieden ist , ob Sie überhaupt je ein Maler sein werden !
Na , werden Sie nur nicht mauserig , etwas werden Sie schon werden und sind es ja bereits .
Lys hat es Gott sei Dank nicht nötig , er ist reich und kann schon alles , was er will , nur ist es nicht viel ; denn er tut fast nichts .
Am Ende ist er auch kein Maler , wenigstens sollte man keinen so heißen , der nicht wirklich malt , er müßte denn Abhaltungen haben wie jener Leonardo , der Talerstücke an die Domkuppel warf ! "
Ich half ihm rasch sein Zeug reinigen , das er stets in so guter Ordnung hielt , daß er auch jetzt nachsah , wie ich es gemacht .
" Denn es ist nicht gleichgültig " , sagte er , " ob man mit Mist malt , wenn man doch die Absicht hat , einen lauteren Ton zu treffen .
Wer immer Dreck in seinem Zeug hat oder das Unverträgliche mischt , ist wie ein Koch , der das Rattengift zwischen die Gewürze stellt .
Aber die Pinsel sind rein , Gott segne Sie ! von diesem Punkte aus kann man Sie unbescholten nennen !
Sie haben eine ordentliche Mutter , oder ist sie tot ? "
Nachdem wir einige Straßen zurückgelegt , betraten wir die Niederlassung des mysteriösen Niederländers , welche so gewählt war , daß die Fenster des geräumigen , von ihm allein bewohnten Stockwerkes auf den freien Horizont und offenen Himmel hinausgingen und von der Stadt selbst nichts zu sehen war als ein paar edle Architekturen und massige Baumgruppen .
Befand man sich in dieser Gegend auf freier Erde , so sah man nur den unfertigen Rand einer Stadt , mit Bretterwänden , alten Baracken und Wirtschaftlichkeiten versetzt ; die Fenster des Herrn Lys , welche nichts als jene in einer Flut goldenen Lichtes ruhenden idealen Gegenstände zeigten , schienen daher mit sorgfältigem Geschmacke herausgefunden zu sein .
Wenigstens wirkte die glänzende Durchsicht der großen Fenster durch eine offenbar bewußte Einfachheit und Ruhe in der Ausstattung der Zimmer in doppeltem Maße .
Zu meiner Verwunderung hatte Lys , der uns freundlich empfing , nichts Holländisches an sich , wie man sich dieses vorzustellen pflegt .
Ein mittelgroßer schlanker Mann von vielleicht achtundzwanzig Jahren , war er dunkel an Haar und Augen , letztere von einem fast melancholischen Ausdruck gleich dem hübsch lächelnden Munde .
Noch mehr wunderte ich mich , daß das Zimmer , in welchem wir uns befanden , keine Spur von Kunsttätigkeit verriet , vielmehr dem Aufenthalt eines Gelehrten oder Politikers glich .
Große , mit Gardinen verhangene Regale bargen eine Menge Bücher , worunter , wie ich später erfuhr , manche Raritäten und erste Ausgaben .
An den Wänden hingen nicht etwa Bilder oder Studien , sondern Landkarten , auf einem Tische lag ein Haufen Journale verschiedener Sprachen , und an einem breiten Schreibtische schien Lys soeben gearbeitet zu haben .
" Ich bin mir noch den Nachmittagskaffee schuldig " , sagte er , als wir uns setzten , " halten die Herren mit ? "
" Da wir vermuten , er werde nicht schlecht sein , gewiß ! " antwortete Erikson für uns beide , und Lys klingelte einem jungen Menschen , der ihn bediente .
Inzwischen sah ich mich immer noch im Raume um , nicht eben im Besitze des guten Tones .
" Der wundert sich auch " , rief Erikson , " wo die Staffeleien und Bilder dieses Kunsttempels seien !
Nur Geduld , junger Herr von Strebsam , der Mann zeigt sie uns noch , wenn wir schön bitten !
Aber wahr ist es , lieber Lys , bei Ihnen sieht es aus wie im Arbeitszimmer eines großen Publizisten oder eines Ministers ! "
Etwas düster lächelnd versetzte der andere , er sei nicht aufgelegt , seine Arbeiten heute noch zu sehen ; schon zum dritten Male müsse der Bursche die Paletten unverrichteterdinge abends wieder absetzen , und unter solchen Umständen sei es wohl verzeihlich , daß er nicht gern ins Atelier hinübergehe , sei es allein oder mit Fremden .
Wirklich erteilte er dem Diener , als der mit dem Kaffeebrett erschien , den Auftrag .
Brett und Geschirr aber glänzten , mit Ausnahme der chinesischen Tassen , in schwerem Silber und waren in dem nüchternen neugriechischen Stile früherer Jahrzehnte gearbeitet , ein Zeugnis , daß Eltern und Familie des Niederländers von der Erde verschwunden waren und er als allein Übriggebliebener das Erbstück mit sich führte , um einen letzten Schimmer des verlorenen Vaterhauses um sich zu haben .
Bei einer späteren Gelegenheit behauptete Erikson vertraulich , Lys bewahre in seinem Schreibtische auch das goldbeschlagene Kirchenbuch seiner Mutter auf .
Das braune Getränke war das feinste , was ich in meinen einfachen Verhältnissen bis anhin genossen ; allein das Ungewohnte , ein so kostbares Familiengeräte bei einem fahrenden Künstler in täglichem Gebrauche zu finden , schüchterte mich etwas ein , und als Lys , meine abermals herumschweifenden Blicke bemerkend , mich anredete :
" Nun , Herr Lehmann , können Sie sich noch nicht mit dem unmalerischen Anblick meiner Wohnung befreunden ? " reizte mich das Vergessen oder Nichtbeachten meines Namens sowie die Weigerung , seine Arbeiten zu zeigen , zu einem kleinen Ausfalle .
Die Art seiner Einrichtung , versetzte ich , werde vielleicht mit einem anderen Wesen zusammenhängen , das ich seit einiger Zeit beobachtet habe , nämlich die wunderliche Manier , in welcher die verschiedenen Künste ihre technische Ausdrucksweise vertauschen .
So hätte ich kürzlich die Kritik einer Symphonie gelesen , worin nur von der Wärme des Kolorites , Verteilung des Lichtes , von dem tiefen Schlagschatten der Bässe , vom verschwimmenden Horizonte der begleitenden Stimmen , vom durchsichtigen Helldunkel der Mittelpartien , von den gewagten Konturen des Schlußsatzes und dergleichen die Rede sei , so daß man durchaus die Rezension eines Bildes zu lesen glaube ; gleich darauf hätte ich den rhetorischen Vortrag eines Naturforschers , der den tierischen Verdauungsprozeß beschrieb , mit einer gewaltigen Symphonie , ja mit einem Gesange der Göttlichen Komödie vergleichen hören , während an einem anderen Tische des öffentlichen Lokales einige Maler die neue historische Komposition des berühmten Akademiedirektors besprochen und von der logischen Anordnung , der schneidenden Sprache , der dialektischen Auseinanderhaltung der begrifflichen Gegensätze , der polemischen Technik bei einem dennoch harmonischen Ausklingen der Skepsis in der bejahenden Tendenz des Gesamttones zu reden gewußt hätten , kurz , es scheine keiner Zunft mehr wohl in ihrer Haut zu sein und jede im Habitus der anderen einherziehen zu wollen .
Wahrscheinlich handle es sich um das Ermitteln und Feststellen eines neuen Inhaltes für sämtliche Wissenschaften und Künste , wobei man sich beeilen müsse , nicht zu kurz zu kommen .
" Ich sehe schon " , rief Lys mit Lachen , " wir müssen doch noch hinübergehen , damit Sie sehen , daß wir wenigstens noch mit Farben malen ! "
Er ging voran und öffnete die Türe zu einer Reihe von Räumen , in welchen je eines seiner Bilder , an denen er arbeitete , ganz allein und in der besten Beleuchtung aufgestellt war , so daß der Blick durch nichts anderes abgezogen und zerstreut wurde .
Die spätere Nachmittagssonne , die auf den Wolken draußen , auf der weiten Landschaft und den tempelartigen Gebäuden lag , ließ die an sich schon leuchtenden Bilder durch ihren hereinfallenden Reflex noch verklärter erscheinen , so daß sie in der Stille des Raumes einen seltsam feierlichen Eindruck machten .
Das erste war ein Salomo mit der Königin von Saba , ein Mann von eigentümlicher Schönheit , der sowohl das Hohelied gedichtet als geschrieben haben mußte Alles ist eitel unter der Sonne !
Die Königin war als Weib , was er als Mann , und beide , in reiche Gewänder gehüllt , saßen allein und einsam sich gegenüber und schienen , die glühenden Augen eines auf das andere geheftet , in heißem , fast feindlichem Wortspiele sich das Rätsel ihres Wesens , der Weisheit und des Glückes herauslocken zu wollen .
Das Merkwürdige dabei war , daß der schöne König in seinen Gesichtszügen ein verschönter und idealisierter Lys zu sein schien .
Im Zimmer war sonst nichts als eine flache blankgeputzte Messingschüssel von alter Arbeit mit einigen Orangen , die zufällig auf einem Ecktischchen stehen mochte .
Die Figuren des Bildes waren von halber Lebensgröße .
Das Bild im nächsten Raume stellte Hamlet den Dänen dar , aber nicht nach einer Szene des Trauerspieles , sondern als das von einem guten Künstler gemalte Bildnis gedacht , als das Porträt des in seine Staatsgewänder gekleideten , noch ganz jungen und blühenden Prinzen , um dessen Stirn , Augen und Mund jedoch schon das verschleierte Schicksal der Zukunft schwebte .
Dieser Hamlet erinnerte ebenfalls an den Maler selbst , aber mit so großer Kunst verhüllt , daß man nicht wußte , woran es lag .
In einer Ecke des Zimmers lehnte ein Schwert mit reich in Stahl und Silber gearbeitetem Korbe , welches offenbar zum Modell gedient hatte oder noch diente .
Dieser vereinzelte Gegenstand erhöhte noch den Eindruck der Einsamkeit und sanften Trauer , der von des Bildes stillem Leuchten ausströmte .
Im übrigen hatte das Kniestück die volle Lebensgröße .
Von diesem Raume ging es endlich in den letzten hinüber , der schon ein Saal zu nennen war .
Gleich den übrigen Bildern bereits mit dem schweren Schmuckrahmen versehen , stand hier die größte Komposition , deren Veranlassung die Bibelworte gegeben Wohl dem , der nicht sitzet auf der Bank der Spötter !
Auf einer halbkreisförmigen Steinbank in einer römischen Villa , unter einem Rebendache , saßen vier bis fünf Männer in der Tracht des achtzehnten Jahrhunderts , einen Marmortisch vor sich , auf welchem Champagnerwein in hohen venezianischen Gläsern perlte .
Vor dem Tische , mit dem Rücken gegen den Beschauer gewendet , saß einzeln ein üppig gewachsenes junges Mädchen , festlich geschmückt , welches eine Laute stimmt und , während sie mit beiden Händen damit beschäftigt ist , aus einem Glase trinkt , das ihr der nächste der Männer , ein kaum neunzehnjähriger Jüngling , an den Mund hält .
Dieser sah beim lässigen Hinhalten des Glases nicht auf das Mädchen , sondern fixierte den Beschauer , indessen er sich zu gleicher Zeit an einen silberhaarigen Greis mit rötlichem Gesicht lehnte .
Der Greis sah ebenfalls auf den Beschauer und schlug dazu spöttisch mutwillig ein Schnippchen mit der einen Hand , während die andere sich gegen den Tisch stemmte .
Er blinzelte ganz verzwickt freundlich mit den Augen und zeigte allen Mutwillen eines Neunzehnjährigen , indessen der Junge , Mit trotzig schönen Lippen , mattglühenden schwarzen Augen und unbändigen Haaren , deren Ebenholzschwärze durch den verwischten Puder glänzte , die Erfahrungen eines Greises in sich zu tragen schien .
Auf der Mitte der Bank , deren hohe , zierlich gemeißelte Lehne man durch die Lücken bemerkte , saß ein ausgemachter Taugenichts und Hanswurst , welcher mit offenbarem Hohne , die Nase verziehend , aus dem Bilde sah und seinen Hohn dadurch noch beleidigender machte , daß er sich durch eine vor den Mund gehaltene Rose das Ansehen gab , als wolle er denselben gutmütig verhehlen .
Auf diesen folgte ein stattlicher Mann in Uniform ; dieser blickte ruhig , fast schwermütig , aber doch mit mitleidigem Spotte drein , und endlich schloß den Halbkreis , dem Jüngling gegenüber , ein Abbe in seidener Soutane , welcher , wie eben erst aufmerksam gemacht , einen forschenden stechenden Blick auf den Beschauer richtete , während er eine Prise zur Nase führte und in diesem Geschäft einen Augenblick anhielt , so sehr schien ihn die Lächerlichkeit , Hohlheit oder Unlauterkeit des Beschauers zu frappieren und zu bösen Witzen aufzufordern .
So waren alle Blicke , mit Ausnahme derjenigen des Mädchens , auf den gerichtet , der vor das Bild trat , und sie schienen mit unabwehrbarem Durchdringen jede Selbsttäuschung , Halbheit , Schwärmerei , jede verborgene Schwäche , jede unbewußte oder bewußte Heuchelei aus ihm herauszufischen .
Auf ihren eigenen Stirnen , um ihre Mundwinkel ruhte zwar unverkennbare Hoffnungslosigkeit ; aber trotz der Blässe , die ohne den rötlichen Greis alle überzog , steckten sie in einer unverwüstlichen Gesundheit , wie die Fische im Wasser , und der Betrachter , der seiner nicht ganz bewußt war , befand sich so übel unter diesen Blicken , daß man eher versucht war auszurufen Weh dem , der vor der Bank der Spötter steht !
Waren nun Absicht und Wirkung dieses Bildes verneinender Natur , so war dagegen die Ausführung mit dem wärmsten Leben getränkt .
Jeder Kopf zeigte eine inhaltvolle wirkliche Persönlichkeit und war für sich eine ganze tragische Welt oder eine Komödie und nebst den feinen arbeitlosen Händen vortrefflich beleuchtet und gemalt .
Die gestickten Kleider der wunderlichen Herren , die altrömische Tracht des Weibes , ihr blendender Nacken , die Korallenschnur darum , die schwarzen Zöpfe und Locken , die Bildhauerarbeit an dem alten Marmortische , selbst der glänzende Sand des Bodens , in welchen sich der Fuß des Mädchens drückte , diese Knöchel im blaßroten Seidenschuh alles dies war so breit und sicher und doch ohne Manier und Unbescheidenheit , sondern aus dem naivsten Wesen heraus gemalt , daß der Widerspruch zwischen dem freudigen Glanz und dem kritischen Gegenstand des Bildes die sonderbarste Wirkung hervorrief .
Lys nannte dies Bild seine " hohe Kommission " , den Ausschuß der Sachverständigen , vor welchen er sich selbst zuweilen mit bangem Herzen stelle ; auch führte er etwa einen armen Sünder , dessen Wohlweisheit und Salbung nicht aus dem lautersten Himmel zu stammen schien , vor die Leinwand und beobachtete die verlegenen Gesichter , die er schnitt .
Als wir wiederholt von einem Bilde zum anderen gingen , ich dazwischen auch bei diesem oder jenem allein zurückblieb , wußte ich nicht ein Wort zu dem Gespräche beizutragen , sondern unterlag schweigend dem Eindrucke , den ein so entschiedenes Können auf den machte , der es nicht übersah .
Erikson dagegen , welcher ein so beschränktes und bescheidenes Arbeitsfeld besorgte , hatte so vieles geübt und gesehen , daß er sich mit Leichtigkeit und Verständnis aussprechen konnte .
Er pflegte auch zu sagen , er verstehe nun gerade genug von der Kunst , um ein anständiger Liebhaber und Sammler zu sein , wenn das Glück ihn reich machen wollte , und um diesen Preis würde er sofort seine Palette an den Nagel hängen .
In der Tat wußte er Altes und Neues wohl zu beurteilen und zu würdigen , ungleich so manchen Künstlern , die alles hassen oder geringschätzen oder einfach nicht verstehen , was nicht in ihrer Richtung liegt .
Diese leidenschaftliche Beschränktheit ist freilich für manche notwendig , wenn sie auf dem Punkte beharren sollen , dem sie allein gewachsen sind , weil Anspruch und Bescheidung sich selten glücklich mischen .
Auf jene Äußerung erwiderte dann Lys zuweilen , es sollte allerdings ab und zu einer von der Ausübung freiwillig zurücktreten , um der Kennerschaft frisches Blut zuzuführen ; die Literaten seien wohl nützlich für das Logische und Chronologische , das Graphische und Biographische , für das Eintragen des Festgesetzten ; vor dem Gegenwärtigen , sofern es als neu oder überraschend erscheine , ständen sie in der Regel unproduktiv und ratlos , und die ersten Stichworte müßten immer von den Künstlerkreisen ausgehen und seien daher meistens parteiisch , welche Parteilichkeit von den Literaten , nachdem die erste Kopflosigkeit überwunden , weiter ausgesponnen werde , bis der Gegenstand der Vergangenheit angehöre und einer verständigen Registrierung fähig geworden .
Es sei das ein verdrießlicher Handel !
Er habe Maler gekannt , die den verwichenen Raffael einen unangenehmen Kerl gescholten und dabei auf ihre grausam kritische Ader sich Wunder was eingebildet haben ; hinwieder seien ihm Kollegien lesende Professoren vorgekommen , welche an älteren Bildern eine wirkliche metallische Vergoldung nicht von gemaltem Golde zu unterscheiden wußten und in technischer Hinsicht überhaupt auf dem Standpunkte von Kindern und Wilden standen , die in einem gemalten Gesichte den Nasenschatten für einen schwarzen Fleck anzusehen pflegen .
Ich bemerkte wohl , daß Lys mit seinen Bildern in eigentümlicher Weise durch die Schule der großen Italiener hindurchgegangen sei , ohne sie im Unmöglichen gerade nachmachen zu wollen , erfuhr nun aber , er habe früher sich zum strengen deutschen Zeichner ausgebildet , der es im sicheren Führen von Stift und Kohle fast seinem berühmten Meister gleichgetan und die Farbe für ein mehr oder weniger notwendiges Übel gehalten habe .
Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Italien sei er gänzlich umgewandelt zurückgekommen , mit Geringschätzung auf die frühere Weise herabsehend .
Als hiervon die Rede war und Erikson bedauerte , daß Lys die edle Kunst der deutschen Zeichnung , die doch in ihrer Art ein unersetzliches Gut und Wahrzeichen der Nation sei , so ganz beiseite werfe , erwiderte dieser :
" Ei was !
Wer einmal recht zu malen versteht , kann erst recht zeichnen , und zwar alles , was er will !
Übrigens übe ich das Ding manchmal noch , freilich nur zu meinem eigenen Spaß . "
Er holte ein ziemlich großes Album vom besten Papier herbei , das in Leder gebunden und mit einem stählernen Schlosse versehen war .
Mit dem Schlüsselchen , das an seinem Uhrgehänge befestigt war , geöffnet , zeigte sich Blatt um Blatt eine Welt von Schönheit und zugleich der Verspottung derselben , wie sie nicht leicht wieder in solcher Weise sich zusammenfinden mag .
Es war die Geschichte einer Reihe von Liebschaften , welche er erlebt und in das Buch gezeichnet hatte mit feinstem Stifte und im solidesten deutschen Stil , als ob Dürer und Holbein , Overbeck oder Cornelius den Dekameron illustriert und die Zeichnungen für den Grabstichel unmittelbar fertig gebracht hätten .
Eine solche Geschichte bestand je nach ihrer Dauer aus mehr oder weniger zahlreichen Blättern ; jede begann mit dem Bildniskopfe des betreffenden Frauenzimmers und einigen Variationen desselben in verschiedener Auffassung ; dann folgte die ganze Figur , wie man wohl einer schönen Person zum ersten Mal auf dem Markte , in der Kirche oder im öffentlichen Garten ansichtig wird ; dann entwickelte sich die Begegnung und das Verhältnis zum Helden , immer Lys selbst , bis zum Sieg und Triumph der Liebe , worauf der Niedergang sich einleitete mit Gezänkszenen , Abenteuern der einseitigen oder gegenseitigen Untreue bis zur unvermeidlichen Trennung , die entweder mit einer jähen Verstoßung des scheinbar zerknirschten Helden oder mit einer komischen Gleichgültigkeit beider Teile vor sich ging .
In diesem Verlaufe glänzte besonders eine Anzahl Einzelfiguren von schmollenden oder weinenden Schönen als wahre kleine Monumente des anmutig strengen Stiles .
Eine entfesselte Haarflechte , eine Verschiebung der Gewänder an Schulter oder Fuß erhöhte stets den Eindruck der Bewegtheit , wie das zerrissen flatternde Segel eines Fahrzeuges von überstandenem Unwetter Kunde gibt .
Es war nicht zu entscheiden , ob diese tragischen Situationen eine andächtig mitfühlende Hand geschildert oder ob eine leise Ironie ihren Teil daran hatte ; unbestritten dagegen strahlten die weiblichen Ehren einiger Wesen , welche auf der Höhe ihres Triumphes in mythologischen Gestaltungen verklärt wurden .
Lys schlug so unbefangen ein Blatt nach dem anderen um , als ob er ein Schmetterlingsbuch vorwiese , und nannte nur zuweilen den Namen einer der Schönen das ist die Teresa , das die Marietta , das war in Frascati , das in Florenz , das in Venedig !
Wir schauten ebenso erstaunt als sprachlos dem Umwenden der Blätter zu , auf welchen soviel Schönheit und Talent vorüberschwirrte , und nur Erikson legte zuweilen die Hand auf ein Blatt , um dasselbe einen Augenblick festzuhalten .
" Ich muß gestehen " , sagte er endlich , " es ist mir nicht ganz begreiflich , wie man soviel Genie unterdrücken oder höchstens zu geheimen Allotria verwenden kann !
Wieviel Vergnügen vermöchten Sie zu verbreiten , wenn Sie all dies Können einem ernsten Zwecke zu gut kommen ließen ! "
Lys zuckte die Achseln : " Genie ?
Wo ist es ?
Das ist eben die Frage !
Auch das wildeste Wesen dieses Geschlechtes muß fromm sein und einfältig wie ein Kind , wenn es allein ist und arbeitet .
Mir fehlt vielleicht die Frommheit oder Frommkit ; ich bin nie allein , sondern alle Hunde sind bei mir , mit denen ich gehetzt bin ! "
Wir verstanden diese Worte , die zudem im Widerspruche mit der früheren Äußerung standen , daß man alles könne , nicht sonderlich wohl , und ich selber wußte vollends nicht , was ich von der ganzen Sache halten sollte .
Ich fühlte mich zu dem hübschen , ruhigen , ja ernsten Manne hingezogen , während der Inhalt des Buches auf eine gewisse Art von Ruchlosigkeit deutete , die mancher wohl sich selber verzeihen mag , aber nicht an einem ernsthaften Freunde liebt .
Es war etwas von jenem schrecklichen Prinzipe , das die beiden Geschlechter als zwei sich feindlich entgegenstehende Naturgewalten betrachtet , wo es heißt , Hammer oder Amboß sein , vernichten oder vernichtet werden , oder einfacher gesagt , wer sich nicht wehrt , den fressen die Wölfe .
Inzwischen waren wir beim letzten der gezeichneten Blätter angelangt , auf welches noch einige leere folgten , und Lys wollte das Album rasch zuschlagen .
Erikson hielt ihn jedoch auf und verlangte das letzte Bild genauer zu sehen ; denn alle bisher aufgetretenen Personen waren italienischen Ursprungs , jene aber offenbar von deutscher Art .
Der Kopf war nicht , wie bei den anderen , zuerst als Studie besonders gezeichnet , sondern es erschien gleich , als ob das Haupt nicht wohl abzusondern wäre , die ganze stehende Figur des schlanksten jungen Mädchens , dessen in großen Zöpfen aufgewundenes Haar so reich , daß das Haupt beinahe zu schwanken schien , wie eine Nelke auf ihrem Stängel , obgleich der feingerundete Hals und Nacken nur aus natürlicher Anmut sich leise neigte .
Außer zwei unschuldigen großen Sternenaugen war fast kein Inhalt in dem Gesicht , dessen zarte Züge kaum mit dem Silberstifte leicht genug anzudeuten waren , den der Zeichner dazu gewählt hatte .
Desto sicherer und fester , immer zwar mit zarter Hand , wuchs die herb jungfräuliche Erscheinung durch die strengen Gewänderfalten ins Licht , an denen kein Strich zuviel und keiner zuwenig war .
" Ei der Tausend ! " rief Erikson , " wo steht diese Blume ? "
" Die steht hier in der Stadt ! " versetzte Lys , " ihr könnt sie gelegentlich sehen , wenn ihr brav seid ! "
Ich jedoch , gerührt von der elementarischen Unschuld des Gebildes , rief unbedacht und flehentlich :
" Der tun Sie aber kein Leid an , nicht wahr ? "
" Oho " , sagte Lys lachend , indem er mir auf die Schulter klopfte , " was sollt ich ihr denn zuleid tun ? "
Auch Erikson lachte , und somit brachen wir auf , unseren Abendgang in Begleitung des Niederländers anzutreten .
Im Vorübergehen sahen wir die drei schönen Bilder wieder aufleuchten , ich für meine Person zum letzten Male ; denn ich bekam sie später nur in einer grauen Morgendämmerung nochmals zu Gesicht , als ich kaum darauf achten konnte .
Wo sie seither geblieben sind , weiß ich nicht ; sie sind niemals an die Öffentlichkeit gelangt , und Lys selber hat sich in der Folge durch ein Schwanken seines Wesens von der Kunst abgewendet .
Wenn es Sterne gibt , wie gesagt wird , welche man einen Augenblick lang deutlich hat schwanken sehen , warum sollte ein schwacher Mensch nicht von seiner Bahn abweichen ?
Wir gingen nun zu dritt vom nördlichen Teile der Stadt an den Westrand hinüber , um da allmählich am Ufer des südwärts herkommenden Flusses eine behagliche Ruhstatt aufzusuchen .
Unterwegs kamen wir an dem Hause vorbei , darin ich wohnte .
" Halt ! " sagte Erikson , als wir andere vorübergehen wollten , " wir wollen bei diesem auch noch schnell nachsehen , was er schafft !
Die untergehende Sonne , die ihm gerade in sein unpraktisches Fenster schaut , wird ihm zu Hilfe kommen , daß wir wenigstens etwas Farbe vor Augen haben ! "
Zögernd und doch nicht ungern ging ich voran , das Zimmer zu öffnen , und sah allerdings meine ungeheuerlichen Schildereien im Abendrote stehen gleich einer brennenden Stadt , so daß wir alle drei hoch auflachten .
Da waren zwei große Kartons , eine altdeutsche Auerochsenjagd in einem von Formen angefüllten gewaltigen Bergtale und ein germanischer Eichenwald mit Steinmalern , Heldengräbern und Opferaltären .
Ich hatte die beiden Sachen mit großer Schilffeder auf die mächtigen Papierflächen gezeichnet und markig schraffiert , auch breite Schattenmassen mit grauer Wasserfarbe angelegt , darauf die Kartons mit Leimwasser überzogen und auf diesem Grund sodann mit Ölfarben lustig herumgewirtschaftet in der Weise , daß in den helldunklen durchsichtigen Teilen überall die Schilffederzeichnung durchblickte .
Nicht eine einzige Naturstudie hatte ich dazu benutzt , sondern in meinem ungezügelten Schaffensdrang den ersten und letzten Strich frei erfunden , und da diese Art von Arbeit ebenso leicht als fröhlich vor sich ging , so sahen die zwei farbigen Kartons nach etwas aus , ohne daß viel davon zu sagen war .
Denn ob ich auch imstande gewesen wäre , solche Bilder wirklich auszuführen , konnte man zunächst nicht wissen .
Die acht Zoll großen Figuren hatte ich mir durch einen jungen Landsmann hineinzeichnen lassen , der als Schüler auf die Akademie ging und schon keck zu skizzieren verstand .
Sie waren aber noch ungefärbt und trieben sich einstweilen als weiße Gespenster in den Wäldern herum .
Hinter diesen Fahnen , von welchen die eine kulissenartig halb hinter der anderen verborgen stand , ragte an der Wand eine dritte über sie hinaus , in gleicher Weise angelegt , aber noch ohne Farben .
Eine von gewaltigen breiten Linden umgebene kleine Stadt baute sich zwischen den Stämmen und aus den Wipfeln heraus an einer Berglehne hinan , dicht gedrängt mit zahlreichen Türmen , Giebelhäusern , Wimpern , Zinnen und Erkern .
Man sah in die engen , krummen und mit Treppen verbundenen Gassen hinein , auf kleine Plätze , wo Brunnen standen , und durch die Glockenstuben des Münsters hindurch , hinter welchen die hellen Sommerwolken zogen , wie auch hinter den offenen Trinklauben , die sich in die Luft hinaus profilierten und Gesellschaften kleiner Männlein meiner eigenen Arbeit beherbergten .
Ich hatte die merkwürdige Stadt mit Hilfe eines architektonischen Sammelwerkes zusammengebaut und die Formen der romanischen und gotischen Baustile in bunter Gruppierung und Übertreibung so gehäuft , wie kaum jemals vorkam , und dabei die Entstehungsweise chronologisch angedeutet , indem die Burg und die unteren Teile der Kirche das höchste Alter in der Bauart zeigten .
Der hochgerückte Horizont zog sich noch über die Linden weg und schloß ein weites Gelände ab , das Meierhöfe , Mühlen , Gehölze und in einem düstern Schattenwinkel das Hochgericht umzirkte .
Vorn sollte aus dem offenen Tore eine mittelalterliche Hochzeit über die Fallbrücke kommen und sich mit einem einziehenden Fähnlein bewaffneter Stadtknechte kreuzen .
Dies Figurengewimmel fügte ich mit erklärenden Worten hinzu , da einstweilen bloß der Platz dazu offen war .
" Vortrefflich ! " sagte Lys , " eine gedachte Staffage , das ist das Leichteste und Duftigste , was es gibt !
Übrigens glüht Ihre Stadt in der verfluchten Himbeerbrühe dieses Abendrotes wie das brennende Troja !
Doch fällt mir ein Sie müssen alles aufgetürmte Mauerwerk aus rotem Sandstein bestehen lassen , das wird den kolossalen Bäumen gegenüber und in Verbindung mit den weißglänzenden Wolken einen eigentümlichen Effekt machen !
Doch was haben wir hier wieder ? "
Er meinte einen gegen die Wand lehnenden kleineren Karton , der sich grau in grau als eine Darstellung meiner Heimatsgegend zur Zeit der Völkerwanderung auswies .
Über die bekannten Landformen zogen sich Urwälder neben- und übereinander hin , zwischen deren Furchen ein ferner Heerbann sich bewegte ; auf einer Berghöhe rauchte ein römischer Wachtturm .
Doch schon hatte Lys einen zweiten Entwurf umgedreht , eine sozusagen geologische Landschaft .
Durch neuere Gebirgsarten , die sich schulgerecht unterscheiden lassen , ist ein kronenartiges Urgebirge gebrochen , welches mit jenen zusammen doch eine malerische Linie zu bilden sucht .
Kein Baum oder Strauch belebt die harte öde Wildnis ; nur das Tageslicht bringt einiges Leben , das mit dem dunklen Schatten einer über dem höchsten Gipfel ruhenden Wetternacht ringt .
Im Gestein aber beschäftigt sich Moses auf den Befehl Gottes mit der Herrichtung der Tafeln für die zehn Gebote , die zum zweiten Male aufgeschrieben werden sollen , nachdem die ersten Tafeln zerbrochen worden .
Hinter dem riesigen Manne , der in tiefem Ernste über den Tafeln kniet , steht auf einem Granitstück , ohne daß er es ahnt , das prästabilierte Jesuskind , unbekleidet , und schaut , die Händchen auf dem Rücken , dem gewaltigen Steinmetzen ebenso ernsthaft zu .
Ich hatte , weil es sich nur um einen ersten Entwurf handelte , die Figuren selbst erschaffen , so gut ich es vermocht , was sie der Epoche der Erdrevolutionen noch näherrückte .
Da der Moses mit den Strahlenhörnern und das Kind mit der Glorie versehen waren , so erkannte Lys zu meiner Genugtuung sofort den Gegenstand , rief aber gleich darauf :
" Da ist der Schlüssel !
Wir haben also einen Spiritualisten vor uns , einen , der die Welt aus dem Nichts hervorbringt !
Sie glauben wahrscheinlich heftig an Gott ? "
" Allerdings " , sagte ich , neugierig zu wissen , wo er hinauswolle ; Erikson aber unterbrach uns , indem er zu Lys gewendet sagte : " Lieber Freund !
Plagen Sie sich doch nicht immer mit der Ausreutung des lieben Gottes !
Sie machen es sich wahrhaftig saurer als der ärgste Fanatiker mit der Einpflanzung desselben ! "
" Ruhig , Indifferentest ! " versetzte Lys und fuhr fort :
" Da haben wir es also !
Sie wollen sich nicht auf die Natur , sondern allein auf den Geist verlassen , weil der Geist Wunder tut und nicht arbeitet !
Der Spiritualismus ist diejenige Arbeitsscheu , welche aus Mangel an Einsicht und Gleichgewicht der Erfahrung hervorgeht und den Fleiß des wirklichen Lebens durch Wundertätigkeit ersetzen , aus Steinen Brot machen will , anstatt zu ackern , zu säen , das Wachstum der ihren abzuwarten , zu schneiden , zu dreschen , malen und backen .
Das Herausspinnen einer fingierten , künstlichen , allegorischen Welt aus der Erfindungskraft , mit Umgehung der guten Natur , ist eben nichts anderes als jene Arbeitsscheu ; und wenn Romantiker und Allegoristen aller Art den ganzen Tag schreiben , dichten , malen und operieren , so ist dies alles nur Trägheit gegenüber derjenigen Tätigkeit , welche nichts anderes ist als das notwendige und gesetzliche Wachstum der Dinge .
Alles Schaffen aus dem Notwendigen heraus ist Leben und Mühe , die sich selbst verzehren , wie im Blühen das Vergehen schon herannaht ; dies Erblühen ist die wahre Arbeit und der wahre Fleiß ; sogar eine simple Rose muß vom Morgen bis zum Abend tapfer dabeisein mit ihrem ganzen Korpus und hat zum Lohne das Welken .
Dafür ist sie aber eine wahrhaftige Rose gewesen ! "
Da ich ihn nur halb verstand , indem ich doch glaubte , gearbeitet zu haben , so sagte ich ihm dies .
" Das geht so zu " , antwortete er :
" Die geognostische Landschaft , die Sie darstellen wollen , haben Sie nie gesehen und werden sie , ich will wetten , auch niemals sehen .
Dahinein setzen Sie zwei Figuren , mit denen Sie teils die Schöpfungsgeschichte und den Schöpfer feiern , teils aber ironisieren ; das ist ein gutes Epigramm , aber keine Malerei ; und endlich könnten Sie , wie man wohl sieht , die Figuren , wenigstens jetzt , gar nicht selbst ausführen , ihnen folglich nicht diejenige Bedeutung geben , die Sie sich geistreich denken ; folglich stehen Sie mit dem ganzen Handel in der Luft ; es ist ein Spiel und keine Arbeit !
Nun aber genug hiervon , und lassen Sie sich sagen , daß ich meine Predigt nicht gegen Sie , sondern gegen die ganze Gattung richte ; denn an sich betrachtet , machen mir Ihre Sachen schon deswegen Vergnügen , weil sie einen Kontrast zu den meinigen bilden .
Wir sind allzumal dualistische Tröpfe , wir mögen es anfangen , wie wir wollen .
Was haben Sie hier für einen Schädel ?
Der war nie präpariert , kommt also aus der Erde ? "
Er deutete auf den Schädel des Albertus Zwiehan , der in einer Ecke am Boden lag .
" Der gehörte auch einem Dualisten an in gewissem Sinne " , erwiderte ich und erzählte , indem wir fortgingen , mit einigen Worten die Geschichte von den zwei Weibern , zwischen denen jener hin- und hergezogen worden .
" Ich sage es ja ! " lachte Lys , " nehmen wir uns in acht , daß wir nicht zwischen zwei Stühle fallen ! "
Wir blieben bis tief in die Nacht alle drei beieinander und verabredeten , uns öfter zu treffen , was dann auch geschah , so daß wir bald gute Freunde und überall zusammen gesehen wurden .
Zwölftes Kapitel Fremde Liebeshandel Die räumliche Entfernung unserer Heimatlande untereinander , indem sie im äußersten Norden , Westen und Süden des ehemaligen Reichsrandes liegen , verband uns mehr , als daß sie uns trennte .
Alle drei von einem gleichen inneren Zuge der gemeinsamen Abstammung beseelt und an den großen Binnenherd der Völkerfamilie gekommen , befanden wir uns in der Lage weitläufiger Vettern , die im Gedränge eines gastfreien Hauses unbeachtet die Köpfe zusammenstecken und sich Lob oder Tadel dessen , was ihnen gefiel oder mißfiel , gegenseitig anvertrauen .
Wir hauen freilich schon ein und anderes Vorurteil mitgebracht , ohne unsere Schuld .
Es war jene Zeit , da Deutschland von seinen dreißig oder vierzig Inhabern so eng sinnig und ungeschickt verwaltet wurde , daß Scharen von Vertriebenen jenseits der Grenzen umherzogen und die Fremden im Schmähen und Schelten gegen ihr Vaterland förmlich unterrichteten .
Sie setzten Spottworte in Umlauf , welche den Nach baren bisher unbekannt gewesen waren und nur aus dem Inneren des gescholtenen Landes kommen konnten , und da die Gaben der Selbstironie , deren Übertreibung das Phänomen am Ende war , außerhalb Deutschlands nur spärlich verstanden und geschätzt werden , so nahm der Fremde das Unwesen zuletzt für bare Münze und lernte es selbständig gebrauchen oder mißbrauchen , zumal man sich mit solchem Tun förmlich einschmeicheln konnte bei den Unglücklichen , die in ihrer Weltunkenntnis hiervon Hilfe und Beistand erwarteten .
Jeder von uns hatte dergleichen gehört und in sich aufgenommen .
Mit der Zeit aber führte uns das vertraute Gespräch zu der Verständigung , daß die Ausgewanderten und die Daheimgebliebenen jederzeit verschiedene Leute seien und daß , um den Charakter eines Volkes recht zu kennen , man dasselbe bei sich und an seinem Herde aufsuchen müsse .
Es sei geduldiger und darum auch besser als die Ausgeschiedenen und stehe daher nicht unter , sondern über ihnen , trotz des gegenteiligen Anscheines , den es schließlich immer zu vernichten wisse .
Waren wir nun hierüber beruhigt , so plagte uns wieder ein anderes Übel , nämlich der Gegensatz zwischen den Südlichen und Nördlichen .
Bei Völkerfamilien und Sprachgenossenschaften , welche zusammen ein Ganzes bilden sollen , ist es ein wahres Glück , wenn sie einander etwas aufzurücken und zu sticheln haben ; denn wie durch alle Welt und Natur bindet auch da die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit , und das Ungleiche und doch Verwandte hält besser zusammen .
Das aber , was wir die Nord- und Südländer sich vorwerfen hörten , war gröblich beleidigend und lieblos , indem diese jenen Herz und Gemüt , jene diesen Geist und Verstand absprachen , und so unbegründet die Tradition war , gab es nur wenige tüchtige Personen beider Hälften , welche nicht daran glaubten .
Oder jedenfalls zeigten nur wenige den Mut , die schlendrianeschen Reden solcher Art zu unterbrechen , wenn sie unter den Ihrigen waren .
Um für unser Bedürfnis den vermißten idealen Zustand herzustellen , gaben wir uns das Wort , jedesmal wenn der Fall eintrat , als Unparteiische aufzutreten , ob wir einzeln oder in Kompanie zugegen seien , und für den , wie wir glaubten , mißhandelten Teil einzustehen .
Zuweilen gelang es uns , einige Verblüffung zu erregen oder gar eine wohlwollende Wendung hervorzurufen ; andere Male dagegen wurden wir selbst da- oder dorthin klassifiziert und je nach unserer Herkunft als einfältige Biederleute und Gemütsduseler oder als überkritische , geistreiche Hungerschlucker bezeichnet .
Weil das aber uns keineswegs unglücklich machte , vielmehr unsere Heiterkeit wachrief , so wurde wenigstens der schneidende Ton der Unterhaltung gemildert und ein leidlicher Ausgleich zustande gebracht .
Unser Mittleramt wurde aber eines Tages überflüssig und zugleich schönstens belohnt , als die ganze reichgeartete Künstlerschaft die kommende Faschingszeit zu feiern sich zusammentat , um in einem großen Schau- und Festzuge ein Bild untergegangener Herrlichkeit zu schaden , nicht mit Leinwand , Pinsel und Meißel , sondern mit Einsetzung der lebendigen Person .
Es sollte das alte Nürnberg wiederauferweckt werden , wie es in beweglichen Menschengestalten sich darstellen konnte und wie es zu der Zeit war , als der letzte Ritter , Kaiser Maximilian , in ihm Festtage feierte und seinen besten Sohn , Albrecht Dürer , mit Ehren und Wappen bekleidete .
In einem einzelnen Kopfe entstanden , wurde die Idee sogleich von achthundert Männern und Jünglingen , Kunstbeflissenen aller Grade , aufgenommen und als tüchtiger Handwerksstoff ausgearbeitet und ausgefeilt , als ob es gälte , ein Werk für die Nachwelt zu schaffen , und es erwuchs in der sachgerechten und allseitigen Vorbereitung eine Lust und Geselligkeit , welche wohl an Macht von der Freude des Festtages überboten wurde , in der Erinnerung jedoch ein lieblich heller Teil des Ganzen blieb .
Der Festzug zerfiel in drei Hauptzüge , von denen der erste die nürnbergische Bürger- , Kunst- und Gewerbswelt , der zweite den Kaiser mit den Fürsten , Reichsrittern und Kriegsmännern und der dritte einen alten Mummenschanz umfaßte , wie er von der bedeutenden Reichsstadt dem gekrönten Gast vorgeführt wurde .
In diesem letzten Teile , welcher recht eigentlich ein Traum im Traume genannt werden konnte , hatten wir drei unseren Standort gewählt , um als verdoppelte Phantasiegebilde im Schattenbilde der Vergangenheit mitzuziehen .
Der Ernst und die feierliche Pracht , womit die Unternehmung von vornherein angelegt war , hatten die Teilnahme des weiblichen Geschlechtes nicht ausgeschlossen ; Frauen , Töchter , Bräute der Künstler und deren Freundinnen aus den anderen Ständen bereiteten demnach ihre festliche Umkleidung vor , und es gehörte nicht zu den geringsten Vorfreuden der Männer , an der Hand der alten Trachtenbücher das wichtige Geschäft zu leiten und darüber zu wachen , daß die Sammet- und Goldstoffe , die schweren Brokate und die duftigen Flore für die schlanken Gestalten richtig zugeschnitten und zusammengesetzt , die Haare in gehöriger Weise geflochten oder ausgebreitet wurden , die Federhüte , die Barette , Hauben und Häubchen aller Art Form und Stil bekamen und gut saßen .
Zu diesen Beglückten zählten sich auch meine Freunde Erikson und Lys , von denen jeder in seiner Weise auf einem Liebeswege ging .
In die jährliche Verlosung , welche mit der Gemäldeausstellung verbunden war , hatte Erikson eines seiner kleinen Bilder verkauft , und dasselbe war von der Witwe eines großen Bierbrauers gewonnen worden , die nicht gerade im Rufe einer Kunstfreundin stand , sondern mehr in Erfüllung einer Anstandspflicht reicher Leute sich an diesen Dingen beteiligte .
Da es öfter vorkam , daß so gewonnene Gegenstände an zudringliche Händler verschleudert wurden , so suchten die Künstler ihr Werk in solchem Falle wiederzuerwerben , um den Gewinn selbst zu machen .
Auch Erikson hatte bei gedachter Gelegenheit den Versuch gewagt und gehofft , das Bild um ermäßigten Preis an sich zu bringen , um es abermals zu verkaufen und der Mühsal der Erfindung und Ausführung eines neuen Werkleins für einmal enthoben zu sein .
Denn er war bescheiden und hielt nicht dafür , daß das Bestehen der Welt von der Unerschöpflichkeit seines Fleißes abhänge .
Er suchte also die Wohnung der Gewinnerin unverweilt auf und stand bald auf dem Vorsaale des Witwensitzes , dessen Stattlichkeit das Gerücht von dem Reichtume des verstorbenen Brauers zu bestätigen schien .
Eine alte Dienerin , welcher er sein Anliegen mitteilen mußte , brachte ihm ohne Zögern den Bericht , daß die Herrin das Bild mit Vergnügen abtrete , daß er aber ein andermal wieder vorsprechen möge .
Weit entfernt , über solche Willfährigkeit und Geringschätzung empfindlich zu sein , ging Erikson ein zweites und drittes Mal hin , und erst jetzt wurde er etwas betroffen und erbost , als die Dienerin endlich kundtat , die bequeme Dame verkaufe das Bild um ein Vierteil des angegebenen Wertes und bestimme das Geld für die Armen ; der Herr Maler möge , um nicht fernere Mühe zu haben , es am anderen Tage bestimmt abholen und das Geld mitbringen .
Er tröstete sich indessen mit der Aussicht , nun jedenfalls ein Vierteljahr nicht malen zu müssen , und das Wetter ausspähend , ob es gute Jagdtage verspreche , machte er sich zum vierten Male auf den Weg .
Die unvermeidliche Alte führte ihn in ihr kleines Dienstgemach und ließ ihn da stehen , um das Kunstwerkchen herbeizuholen .
Dieses war aber nirgends zu finden ; immer mehr Bedienstete , Köchin , Kammermädchen , Hausknecht und Kutscher rannten umher und suchten in Küche , Keller , Kammern und Remisen .
Endlich rief das Geräusch die Witwe herbei , und als sie , die , nach dem kleinen Bildchen urteilend , gewähnt hatte , einen ebenso kleinen und dürftigen Urheber zu finden , nun den mächtigen Erikson dastehen sah , dessen Goldhaar glänzend auf die breiten Schultern fiel , geriet sie in die größte Verlegenheit , zumal er , aus einem ruhigen Lächeln erwachend , sie mit festem offenem Blicke betrachtete wie eine Erscheinung .
Sie war aber auch des längsten Anschauens wert ; von der Rosenfarbe der Gesundheit und Lebensfrische überhaucht , kaum vierundzwanzig Sommer alt , vom reinsten Ebenmaß an Gestalt und Gliedern , mit braunem Seidenhaar und braunen lachenden Augen , konnte ihr Wesen kurz und gut als ein aphrodisisches im besten Sinne bezeichnet werden , ein solches nämlich , das der Eignerin wohl bewußt war und von ihr selbst darum mit edler Sitte gehütet wurde .
Um die gegenseitige Verwunderung und Verlegenheit zu endigen , lud die Errötende mit zurückgekehrter Geistesgegenwart den Maler ein , in das Zimmer zu treten , und wie sie dort waren , entdeckte er die kleine Gemäldekiste , welche als Fußschemel unter dem Arbeitstischchen der Witwe stand , von dieser nicht beachtet oder vergessen .
" Hier ist es ja ! " sagte Erikson und zog das Kistchen hervor .
Es war noch nicht einmal geöffnet worden ; denn der Deckel haftete noch leicht aufgeschraubt an demselben .
Erikson machte ihn mit wenig Mühe los , und das kleine Bild glänzte nun in seinem Rahmen , der nach einem alten reichen Muster gearbeitet war , mit aller Frische im Tageslichte .
Inzwischen hatte die junge Frau die Lage der Dinge schnell zu erfassen gesucht und wünschte vor allem der Beschämung zu entgehen , die ihr die nachlässige Art , eine Kunstsache zu behandeln , zuziehen konnte .
Von neuem errötend , sagte sie , sie habe in der Tat nicht gewußt , um was es sich handle ; nun aber , obgleich sie keine Kennerin sei , scheine ihr doch das Bildchen von vorzüglichem Werte , und sie glaube den Schöpfer desselben zu beleidigen , wenn sie nicht mindestens die Hälfte des Ankaufspreises verlange .
Besorgt , sie möchte ihre Forderung abermals erhöhen , beeilte sich Erikson , die Börse zu ziehen und die Goldstücke hinzulegen , indes die Dame das einfache Landschäftlein immer aufmerksamer betrachtete und die schönen Augen in dem sonnigen Gefildchen spazierengehen ließ , wie wenn sie Land und Meer des Golfes von Neapel vor sich hätte .
Dann blickte sie wie verschüchtert zu dem Recken empor und begann wieder je mehr sie das Bild ansehe , desto besser gefalle es ihr , und sie müsse nun die volle Summe dafür fordern !
Seufzend bot er drei Vierteile , um wenigstens etwas zu retten .
Allein sie scheute sich keineswegs , auf ihrer Wortbrüchigkeit zu beharren , und erklärte , das Bild lieber behalten als es unter dem Werte hingeben zu wollen .
" In diesem Falle wäre es lieblos von mir " , versetzte Erikson , " mein kleines Werk einer so guten Stelle zu berauben ; auch habe ich keine weitere Ursache mehr , auf einem Handel zu bestehen , der mir keinen Gewinn bringt ! "
Er strich hiermit sein Geld wieder ein und machte Anstalt , sich zu entfernen .
Doch die Schöne , den Blick auf das Bildchen gerichtet , bat ihn mit einiger Verlegenheit , noch einen Augenblick zu verziehen .
Erst jetzt bot sie ihm einen Stuhl an , um Zeit zu gewinnen , ihre Genugtuung für den solchem Manne angetanen Affront vollständig zu machen .
Endlich besann sie sich auf den schicklichsten Ausweg und fragte Erikson mit höflichen Worten , ob sie ein Gegenstück zu dem Bilde bei ihm bestellen dürfe , das ebenso freundlich und friedlich auf das Auge wirke , so daß sie sozusagen für jedes Auge einen solchen Ruhepunkt hätte , wenn sie an ihrem Schreibtische säße , über welchem sie die Bildchen aufzuhängen gedenke .
Dieser optische Unsinn erweckte eine vergnügliche innere Heiterkeit des Malers , und obgleich er hergekommen war , um eine Verminderung statt Vermehrung der Arbeit zu erzielen , bejahte er natürlich die Frage in verbindlicher Weise , worauf aber die Witwe plötzlich die Unterhaltung abbrach und den Maler mit zerstreutem Wesen entließ .
Diesen bisherigen Verlauf hatte uns Erikson am Abend des gleichen Tages als hübsches Abenteuer selbst erzählt ; in der folgenden Zeit aber kam er nicht mehr darauf zurück , sondern beobachtete über den Gegenstand ein sorgfältiges Schweigen .
Wir errieten trotzdem an einem Zeichen , wie es stand , als er eines Tages , von dem fertiggewordenen zweiten Bildchen sprechend , nicht vermeiden konnte , der Bestellerin zu erwähnen , und sie dabei unvorsichtig bei ihrem Taufnamen Rosalie nannte .
Wir andere sahen uns schweigend an ; denn wir mochten ihn als aufrichtige Freunde , die ihm verdientermaßen zugetan waren , auf sei einen Wegen nicht stören .
Selbst einer reichen Brauersfamilie entsprossen , war das junge Mädchen in Befolgung einer alten Hauspolitik dem Bräuherren verbunden worden , da die Grundlage des klassischen Nationalgetränkes an sich von öffentlicher Bedeutung und wichtig genug war , derartige Überlieferungen zu tragen .
Nachdem aber der kräftige Bräuherr unversehens von einem gefährlichen Fieber dahingerafft worden , sah sich die Witwe mit einem Schlage in volle Freiheit und Selbständigkeit versetzt , mit welcher sich das inzwischen gereifte Bewußtsein der Person verband .
Mit jener außergewöhnlichen Schönheit begabt , die ebenso selten als dann auch vollkommen erscheint , von innen heraus zugleich von dem Bedürfnis harmonischen Lebens beseelt , hatte sie sich zunächst mit den leichten und doch starken Schranken ruhiger Absichtslosigkeit , ja Resignation umgeben , um jeder Reue bringenden Übereilung und Gewaltsamkeit aus dem Wege zu gehen , wahrscheinlich aber doch mit dem Vorbehalte entschiedener Wahl , sobald die rechte Stunde käme .
Diese war mit der Erscheinung Eriksons unvermutet da ; in Erkennung oder Ahnung derselben hatte Rosalie den ersten Augenblick nicht verscherzt , nachher aber mit aller Ruhe und Umsicht sich weiter benommen .
Sie wußte Erikson nach und nach Gelegenheit zu geben , mit allerlei Rat bei ihr zu erscheinen ; das gab sich ungezwungen von selbst , da sie in der Tat begriffen war , die zufällige und bunte Art ihres Hausrates und Wohnsitzes umzuwandeln , zu vereinfachen und doch zu bereichern .
Mit geheimer Freude bemerkte sie die ruhige Sicherheit in Eriksons Auskünften und Hilfeleistungen und wie er ganz an seiner Stelle schien , wenn er über Mittel und Raum in zweckmäßiger Weise verfügen konnte .
Daß er von guter Familie und Erziehung war , blieb ihr nicht verborgen , soweit sie das aus eigener Erfahrung zu beurteilen vermochte , und so ging sie Schritt für Schritt weiter in der Absicht , den Bären zu fangen , dessen Gefangene sie schon war .
Sie zog mehr Gäste herbei , um ihn öfter einladen zu können und ihn bei Tische zu sehen ; auch veranlaßte sie ihn , Freunde bei ihr einzuführen , so daß ich ebenfalls ein- oder zweimal in ihr Haus geriet , wobei es mir zustatten kam , daß ich nach dem Wünsche meiner Mutter mich immer noch im Besitze eines geschonten Sonntagskleides befand .
Unseren Freund Lys hingegen brachte er kein einziges Mal hin , des verschlossenen Albums wegen , wie er mir anvertraute , was ich mit ernster Miene billigte .
Ich glaube beinahe , daß ich eine Art pharisäischer Eitelkeit über meine Bevorzugung beherbergte und mir etwas darauf zu gut tat , daß ich noch nie durch Reichtum , Freiheit , Weltkenntnis und geeignete Persönlichkeit in die Lage gekommen war , die eigene Tugend zu bewähren .
Denn meine frühen Judetischen Abenteuer brachte ich keineswegs in Anschlag ; ich lebte auf jenem Punkte , wo man die sogenannten Kindereien für geraume Zeit vergessen und in selbstgerechter Härte alles verurteilt , was man noch nicht erfahren hat .
Als jetzt das Künstlerfest vorbereitet wurde , standen die Sachen zwischen Rosalie und Erikson so , daß jene halbwegs als seine Partnerin daran teilnehmen konnte , wie man etwa der Einladung zu einem Balle folgt .
Auf einem anderen Wege wandelte Lys , um seine Festgefährtin zu holen .
In einem altertümlichen Teile der inneren Stadt , auf einem kleinen Seitenplatze , stand ein schmales Haus , von geschwärztem Backstein erbaut und nur drei Stockwerke hoch , jedes nur von der Breite eines einzigen , freilich ansehnlichen Fensters .
Nicht nur die Fenster waren reich in ihrer Einfassung gegliedert , sondern in die Höhe laufend unter sich mit Zierat verbunden , der wiederum verdunkelte Mauergemälde einfaßte .
So bildete das Haus einen kleinen Turm oder vielmehr ein schlankes Monument , wie etwa Künstler vergangener Jahrhunderte mit besonderer Liebe für sich selber erbaut haben .
Über der Haustüre reichte ein Marienbild von schwarzem Marmor , das auf einem vergoldeten Halbmonde stand , bis zum ersten Stockwerke , und an der Türe glänzte noch der ursprüngliche Türklopfer , der ein kühn sich hinausbiegendes Meerweibchen darstellte .
Das untere Gemälde über dem ersten Fenster enthielt den Perseus , wie er die Andromeda von dem Drachen befreit , dasjenige über dem zweiten Fenster den Kampf des heiligen Georg , der die libysche Königstochter aus der Gewalt des Lindwurmes erlöst , und auf die spitze Giebelmauer war der Engel Michael gemalt , der zugunsten der Jungfrau über der Haustüre ebenfalls ein Ungeheuer mit seiner Lanze niederstieß .
Vor vielen Jahren , als solche Denkmäler wie dies zierliche Häuschen verachtet und niedergerissen oder übertüncht wurden , hatte ein kleiner Baumeister dasselbe für wenig Geld an sich gebracht , sorglich erhalten und seinem Sohne hinterlassen , der ein mittelmäßiger Bildnismaler und zugleich ein Ersatzmann in des Königs Hartschiergarde gewesen , da er ein stattlicher Mann war .
Die Witwe dieses malenden Hartschiers lebte mit ihrer Tochter in dem alten Hause von einem kleinen Witwengehalt und einer gewissen Summe , welche ihr jährlich dafür bezahlt wurde , daß sie ohne höhere Bewilligung das Haus nicht verkaufte noch an der Fassade etwas zerstören oder ändern ließ .
Die Tochter , Agnes geheißen , war das Urbild jener letzten Zeichnung in dem Album des schönheitskundigen Lys , der erst das Haus und sodann , das Innere desselben beschauend , auch das Juwel entdeckt hatte , das das Kästchen umschloß ; die Mutter war nicht nur die Hüterin der Schönheit von Kind und Haus , sondern auch ihrer eigenen , soweit sie noch in einem lebensgroßen Bildnisse von der Hand ihres toten Eheherren erglänzte .
Von einem hohen Kam überragt , zu jeder Seite der Stirn drei querliegende Locken , beherrschte sie im Schimmer ihres Brautstandes das Gemach , und vor dem Bilde standen jederzeit zwei rosenrote Wachskerzen , die noch nie gebrannt hatten .
Trotz der flachen und schwächlichen Malerei machte sich die ehemalige Schönheit geltend ; es war dabei nicht zu erkennen , ob eine gewisse Seelenlosigkeit mehr von dem Ungeschick des Malers oder dem Wesen der Frau herrührte ; dennoch regierte sie mit dem Bilde noch immer das Haus und brauchte bloß einen Blick darauf zu werfen im Vorübergehen , um die Schönheit der Tochter sich nicht über den Kopf wachsen zu lassen .
Diese Blicke wiederholten sich während des Tages ebenso regelmäßig wie das Eintauchen ihrer Fingerspitzen in das Weihwasserkesselchen neben der Stubentüre .
Von der Seele aber , die in der Reihenfolge des Werdens ihr ohne Aufenthalt entschlüpft , war ein Teil in der Tochter wieder zum Vorschein gekommen , freilich so schwank , still und elementarisch wie das Leibliche , in dem sie wohnte .
Als Lys mit gewandten und angenehmen Sitten sich soweit eingeführt hatte , daß er jene Figur zeichnen durfte , zwar nicht in das bewußte Buch , sondern vorerst in größerer Form auf ein besonderes Studienblatt , fand er weder den Mut noch den Anlaß , den gewohnten Zyklus durchzuführen , und es blieb bei dem einzigen Eintrag in das Album , den er nach der Studie mit Liebe und Sorgfalt vornahm .
Er verbrachte zuweilen einen Abend bei den Frauen , führte sie auch einmal in das Theater oder in einen Lustgarten , und wo sie erschienen , erregte die seltene Erscheinung der Agnes ein so allgemeines und zugleich reines Wohlgefallen , daß sich keinerlei Nachrede oder Mißdeutung vernehmen ließ .
Alle ihre ruhigen Bewegungen waren einfach und kurz nur auf den nächsten Zweck gerichtet und daher voll Anmut ; ihre Augen glänzten , wenn sie von irgendeinem Reiz angesprochen wurde , mit der treuherzigen Unschuld eines jungen Tieres , das noch keine Mißhandlung erfahren hat , und so kam es , daß Lys , anstatt eine seiner früheren Liebeleien anzufangen , unwillkürlich in einen ehrenhaften ernsteren Verkehr hineingeriet , der ihm zum bisher unbekannten Bedürfnis wurde .
Seine Befangenheit mehrte sich , wenn die Mutter in der Absicht , die Bravheit des Kindes zu rühmen , in dessen Abwesenheit erzählte , wie es nie imstande gewesen sei , die kleinste Lüge auch nur zum Scherz aufzubringen , und schon in frühsten Jahren jede Übertretung selbst an gezeigt habe , und zwar mit einer solchen Ruhe , wenn nicht Neugierde über den Erfolg , daß die Strafe als unmöglich oder überflüssig erschien .
Die Mutter konnte dann in ihrer Weise , um nicht selbst für unklug zu gelten , die Andeutung nicht unterlassen , das Kind dürfte allerdings keines der geistreichsten , dafür aber um so ehrlicher und vollkommen aufrichtig sein .
Lys wußte aber bereits , daß Agnes klüger war als die Mutter , wenn sie dessen auch noch nicht innegeworden ; nicht minder übertraf sie dieselbe an Geschicklichkeit ; denn er bemerkte , daß sie häusliche Geschäfte rasch und geräuschlos besorgte , ohne je etwas zu zerbrechen , während die Mutter alles mit beträchtlichem Aufwand von Hin- und Hergehen , Reden und Klappern verrichtete und ihre Taten nicht selten mit dem Klirren eines entzweigegangenen Geschirres abschloß .
Alsdann pflegte die Tochter eine erklärende oder tröstliche Bemerkung zu machen , welche dem graziösesten Witze gleich und doch mit tiefem Ernste rein sachlich gemeint und gegeben war .
Allein welcher Art der Geist oder das Wesen dieses Geschöpfes sei , blieb ihm unbekannt , und wenn man ihn wegen seiner Entdeckung beglückwünschte und erklärte , die Agnes werde das beste Malerfrauchen abgeben , das man finden könne , still , harmonisch und eine unerschöpfliche Quelle schöner Bewegung , so schüttelte er den Kopf und meinte , er könne doch nicht ein Naturspiel heiraten !
Dennoch setzte er seine Besuche in dem schlanken Häuschen , drin das schlanke Wesen wohnte , fort und hütete sich nur , etwas Verliebtes zu tun oder zu sagen .
Die Augen des Mädchens kamen ihm vor wie ein stilles Wasser , das wohl widerstandslos , aber auch für einen guten Schwimmer nicht gefahrlos ist , da man nicht wissen kann , welche Pflanzen oder Tiere es in seiner Tiefe verbirgt .
Von der unbestimmten Vorstellung solcher Fährlichkeiten bedrückt , geriet er in ungewohnte Sorgen und stieß hie und da einen Seufzer aus , ohne es zu wissen ; diese Seufzer aber entfachten die geheime Glut einer herzlichen Neigung , die seit geraumer Zeit in dem kaum siebzehnjährigen Mädchen entzündet war , zur lebendigen Flamme .
Jedermann konnte das liebliche Feuer sehen ; auch wir Freunde sahen es , als Lys bei den beiden Frauen zuweilen eine kleine Abendbewirtung anstellte und uns dazu einlud , um nicht allein dort zu sein und doch das Haus nicht meiden zu müssen .
Wir sahen , wie sie stets die Augen auf ihn richtete , sich traurig wegwendete und doch immer wieder näherte , während er sich zwang , es nicht zu bemerken , aber sichtlich sich hundertmal zurückhalten mußte , sie mit der zuckenden Hand nicht zu berühren .
Gelang es ihr dagegen einmal , sich so zu stellen , als ob sie seine trocken väterliche Art verstehe und würdige , und dabei ein Weilchen die Hand auf seiner Schulter liegenzulassen oder gar sich wie ein unbefangenes Kind einen Augenblick an ihn zu lehnen , so leuchtete das Glück aus ihren Augen , und sie blieb dann den ganzen Abend hindurch zufrieden und genügsam .
Das Verhältnis begann für alle schwierig und bedenklich zu werden , die Mutter ausgenommen , welche die Belebung ihres Hauses angenehm empfand und nicht zweifelte , daß Lys eines Tages mit einem ernsten Antrage sich einstellen werde , gerade weil er so zurückhaltend sei .
Auch Erikson mühte sich , anderweitig in Anspruch genommen , nicht stark um die Sache , und besonders wenn wir das zierliche Haus zusammen verließen , ging er unverweilt seine eigenen Wege , während ich mit Lys bald vor seine , bald vor meine Haustüre zu wandeln und dort noch stundenlange zu verhandeln und zu streiten pflegte .
Ich wagte zwar nicht , ihn des Mädchens wegen offen zur Rede zu stellen ; denn er war hierin kurz abgebunden und stellte sich , je unentschlossener er sich fühlte , um so fester , als einer , der wisse , was er tue und zu tun habe .
Dafür nahm ich den Umweg durch metaphysische Disputationen , weil ich die Leichtfertigkeit , deren ich ihn mit aufrichtigen Schmerzen bezichtigte , mit der Gottlosigkeit zusammenwarf , welche er in so später Stunde ebenso eifrig und närrisch verteidigte , wie ich sie unaufhörlich angriff .
Wir sprachen zuweilen so lange und so laut durch die Stille der Nacht , daß die Scharwächter der Stadt uns zur Schonung der schlafenden Bürger vermahnten .
Plötzlich aber , zur Zeit da das Künstlerfest vorbereitet wurde , unterbrach Lys einmal meine Rede , von der er wohl merkte , wo sie hinauswollte , und kündigte mit ruhigen Worten an , daß er die Agnes als seine Festgefährtin einladen und auf den Verlauf des Festes abstellen wolle , ob eine bleibende Verbindung zwischen ihnen sich ergeben werde .
Bei derartigen Anlässen , sagte er , pflegen die befangenen Menschenkinder aus sich herauszugehen und schicksalsfähiger zu sein als in gewöhnlichen Tagen .
Auch für ihn stehe die Sache so , daß er einer zufälligen Entscheidung bedürfe , indem die Kraft des Wunsches und die Besorgnis eines Fehltritts sich vollkommen die Waage hielten .
Agnes blühte augenblicklich in neuer Hoffnung auf , als der Geliebte das Wort des Heiles an sie richtete ; denn sie hatte schon in stiller Trauer dem Gedanken entsagt , im Glanze jener Festfreuden ihm auch nur nahe sein zu können .
Aber sie wollte das Heil nicht berufen und fügte sich still und demütig allen seinen Anordnungen , als er mit den reichen Stoffen zu ihren Gewändern erschien , welche die schlanke Gestalt umspannen , ihren Wuchs zum Ausdrucke rein geprägter Schönheit bringen sollten .
Aber während er ihre schwarzen Haarwellen , die für drei Mädchenköpfe ausgereicht hätten , vorprüfend durch die Hände laufen ließ und in neue Lagen ordnete und sie lautlos das Haupt dazu hinhielt , beschloß sie in diesem selben jungen Haupte stumm und feierlich , nur danach zu trachten , wie sie ihn im rechten Augenblick in ihre Arme zwingen und ihr Leben unauflöslich mit dem seinigen verbinden möge .
Der kühne Vorsatz konnte nur die Ausgeburt des kindlich einfachen , aber in Aufregung geratenen Wesens sein .
Dreizehntes Kapitel Wiederum Fastnacht Das größte Theater der Residenz war in einen Saal umgewandelt und hatte , voll erleuchtet , bereits die beiden Körper des Festheeres , die Darstellenden und die Zuschauer , in sich aufgenommen .
Während auf den Galerien und in den Logen reihen die schauende Welt versammelt harrte und einstweilen sich selbst in ihrem Schmucke betrachtete , summten die Seitensäle und Gänge , dicht angefüllt von den sich ordnenden Künstlerscharen .
Hier wogte es hundertfarbig und schimmernd durcheinander .
Jeder war für sich eine inhaltvolle Erscheinung und Person , und indem er selber etwas Rechtem gleichsah , schaute er freudig den Nächsten , welcher in der schönen Tracht nun ebenfalls so vorteilhaft und kräftig erschien , wie man gar nicht hinter ihm gesucht hätte , trotzdem der Kern der Festgebenden nicht aus leeren Figuranten und Lebemenschen , sondern aus schwungvollen , vom Genius gehobenen Jünglingen und längst in gediegener Arbeit ausgereiften Männern bestand , welche einen rechtsgültigen Anspruch besaßen , die bewährten Vorfahren darzustellen .
Außer den Malern und Bildhauern gingen im Zuge Baumeister , Erzgießer , Glas- und Porzellanmaler , Holzschneider , Kupferstecher , Steinzeichner , Medailleure und viele andere Angehörige eines voll ausgegliederten Kunstlebens .
In den Gießhäusern standen zwölf Ahnenbilder für den Königspalast , soeben vollendet , jedes zwölf Fuß hoch und im Feuer vergoldet .
Zahlreiche Statuen von Landes-und Geistesfürsten eigener und fremder Nationalität , zu Roß und Fuß , samt den Bildwerken ihrer Fußgestelle waren schon vollendet und in der Welt zerstreut , riesenhafte Unternehmungen begonnen , und es ging in den Feuerhäusern wohl schon so gewaltsam und kraftvoll her wie an jenem Gußofen zu Florenz , als Benvenuto seinen Perseus goß .
In Fresko und Wachs waren schon unabsehbare Wände bemalt ; haushohe gemalte Fenster wurden gebrannt und zusammengesetzt in einem Farbenfeuer , das der Auferstehung einer untergegangenen Kunst angemessen war , um sie würdig zu feiern .
Was die Gemäldesammlungen an seltenen und unersetzbaren Schätzen auf vergänglicher Leinwand bewahrten , wurde zur Erhaltung in dauernder Wiedergabe von geübten Arbeitern mit anspruchlosem Fleiße auf Porzellantafeln und edle Gefäße übertragen mit einer Kunst , die erst seit wenig Jahren in solchem Grade bestand .
Was nun der ganzen Trägerschaft dieser Kunstwelt , den großen und kleineren Meistern , den Gesellen und Schülern einen erhöhten Wert verlieh , das war der reinere Abglanz der ersten Jugendreife einer solchen Epoche , deren ideale Freudigkeit im selben Zeitalter selten wiederkehrt , eher schon von den leichten Schatten der Verbildung und Ausartung da und dort umschwebt wird .
Alle , auch die Bejahrteren , waren noch jung , weil die ganze Zeit jung und die Spuren eines bloßen Können es ohne Gefühl noch wenig zahlreich waren .
Jetzt öffneten sich die Türen , und die Trompeter und Pauker , welche klangvoll erschienen , verbargen mit ihren Reihen den hinter ihnen anschwellenden Zug , so daß man erwartungsvoll harrte , bis sie vorgeschritten der reichen Entfaltung Raum gaben .
Ihnen folgten zwei Zugfahrer mit dem Nürnberger Wappen , dem Jungfernadler auf den weiß und roten Röcken , und hinter diesen schritt schlank und zierlich einher , einen mächtigen Laubkranz auf dem Haupte , den goldenen Stab in der Hand , der Führer der stattlichen Zunft der Meistersänger .
Alle bekränzt , ging die gute Schar derselben daher mit ihrer Spruchtafel , voran die wanderlustige Jugend in kurzer Tracht , welcher die Alten folgten , den ehrwürdigen Hans Sachs umgebend , der sich im dunkelfarbigen Pelzmantel wie ein wohlgelungenes Leben mit dem Sonnenschein ewiger Jugend um das weiße Haupt darstellte .
Aber das bürgerliche Lied war dazumal so reich und überquellend , daß es jede Meisterschaft begleitete und hauptsächlich auch unter dem Banner der nun folgenden Baderzunft hinter Schermesser und Bartbecken herging .
Da war Hans Rosenblüte , der Schnepperer , der vielgewanderte Schalks- und Wappendichter , ein krummbuckliger munterer Gesell mit einer großen Klistierspritze im Arm .
Mit langen Schritten folgte diesem der hochbeinige Hans Folz von Worms , der berühmte Barbier und Dichter der Fastnachtsspiele und Schwänke und als solcher Genoß des Rosenblüte und Vorzünder des Hans Sachs .
Zwei Bartscherer und ein Schuhmacher pflegten so das junge Schoß der deutschen Bühne .
Liederreich waren alle die anderen Zünfte , die nun folgten in ihren bestimmten Farben an Kleid und Banner , die Schäffler und Brauer , die Metzger in rot und schwarzem , mit Fuchspelz verbrämtem Zunftgewande , die hechtgrauen und weißen Bäcker , die Wachszieher , lieblich in Grün , Weiß und Rot , und die berühmten Lebküchler , hellbraun und dunkelrot gekleidet ; die unsterblichen Schuster schwarz und grün wie Pech und Hoffnung , buntflickig die Schneider .
Mit den Damast- und Teppichwirkern erschienen schon namhafte Meister des höheren Gewerbes ; denn sie brachten die fürstlichen Teppiche und Tücher hervor , mit denen die Häuser der Kaufherren und Patrizier geschmückt waren .
Alle jetzt erscheinenden Zünfte waren ausgefüllt von einer wahren Republik kraftvoller , erfindungsreicher Handwerks und Kunstmänner .
Die Tüchtigkeit teilte sich unter die Gesellen , welche manchen berufenen Burschen aufzuweisen hatten , wie unter die Meister .
Schon die Dreher zeigten als Genossen Hieronymus Gärtner , welcher mit kindlicher Andacht , als ein Werklein zum Preise Gottes , aus einem Stückchen Holz eine Kirsche schnitzte , die auf dem Stiele schwankte , und eine Fliege , die darauf saß , so zart , daß die Flügel und die Füße sich bewegten , wenn man sie anhauchte - der aber zugleich ein erfahrener Meister in Wasserwerken und kunstreichen Brunnen war .
Aus der wirren Fülle von Erscheinungen , deren fast jede ihre anmutige Legende hatte , leben jetzt noch manche in meinem Gedächtnisse , und doch sind es wenige im Vergleich zum Ganzen .
Unter den Hufschmieden , rot und schwarz gekleidet wie Feuer und Kohle , ging Meister Melchior ; der die großen eisernen Schlangengeschütze aus freier Hand schmiedete ; unter den Büchsenmachern der erfindungsreiche Geselle Hans Danner , der schon dazumal von den Metallen Späne trieb , als hätte er weiches Holz unter den Händen , und sein Bruder Leonhard , der Erfinder von mauerstürzenden Brechschrauben .
Da ging auch Meister Wolff Danner , der Erfinder des Feuersteinschlosses , und neben ihm Böheim , der Meister der Geschützgießer , welche ihre gleißenden , wohlverzierten Geschützröhren , Kanonen , Metzen und Kartaunen durch alle Welt berühmt machten .
Die Zunft der Schwertfeger und Waffenschmiede allein umfaßte eine gegliederte Welt kunstreicher Metallarbeiter .
Der Schwertfeger , der Haubenschmied , der Harnischmacher , jeder von diesen brachte den Teil der kriegerischen Rüstung , der seinem Namen entsprach , zur größten Gediegenheit und bewährte darin ein nachhaltiges Künstlerdasein .
Wunderbar löste sich die strenge Einteilung in die Freiheit und Vielseitigkeit auf , mit welcher die schlichten Zunftmänner wieder zu den wichtigsten Taten und Erfindungen vorschritten und alle wieder alles konnten , oft ohne des Lesens und Schreibens mächtig zu sein .
So der Schlosser Hans Bullmann , der Verfertiger großer Uhrwerke mit Planetensystemen , und der Vervollkommner derselben , Andreas Heinlein , welcher auch so kleine Uhren zuwege brachte , daß sie im Knopfe der Spazierstöcke Platz hatten ; auch Peter Hele , der eigentliche Erfinder der Taschenuhren , ging hier unter dem handfesten Namen eines Schlossermeisters .
Noch sehe ich auch unter den Holzschneidern ein kleines Männchen in einem Mäntelchen von Katzenpelz , den Hieronymus Rösch , den Katzenfreund , in dessen stiller Arbeitsstube überall jene spinnenden Tiere saßen .
Und gleich hinter dem grauschwarzen Katzenmännchen erblicke ich die lichte Erscheinung der Silberschmiede , in himmelblauem und rosenrotem Gewande mit weißem Überwurf , und die Goldschmiede , hochrot gekleidet mit schwarzdamastenem , reich mit Gold gesticktem Mantel .
Silberne Bildtafeln und goldgetriebene Schalen wurden ihnen vorangetragen ; die plastische Kunst lachte hier in silberner Wiege , und die neugeborene Kupferstecherei hatte hier ihren metallischen Ursprung , getrennt von dem Holzschnitt , welcher mit der schwärzlichen Buchdruckerei wandelte .
Noch sehe ich auch einen feinen Mann , dessen Legende mich besonders rührte , unter den Kupfertreibern , den Sebastian Lindenast , der seine kupfernen Gefäße und Schalen so schön und kostbar arbeitete , daß der Kaiser ihm das Vorrecht verlieh , sie zu vergolden , was sonst keiner durfte .
Welch ein schönes Verhältnis zwischen dem Werkmann und dem obersten Haupte der Nation , diese Befugnis , ein geringes Metall um der edlen Form Willen zum Goldrange zu erheben !
Gleich neben diesem sah ich den Veit Stoß , einen Mann von seltsamster Mischung .
Er schnitt aus Holz so holde Marinbilder und Engel und bekleidete sie so lieblich mit Farben , güldenem Haar und Edelsteinen , daß damalige Dichter begeistert seine Werke besangen .
Dazu war er ein mäßiger und stiller Mann , der keinen Wein trank und fleißig seiner Arbeit oblag , immer neue fromme Bilder für die Altäre erschaffend .
Aber des Nachts machte er eifrig falsche Wertpapiere , um sein Gut zu mehren , und als er ertappt wurde , durchstach man ihm öffentlich mit einem glühenden Eisen beide Wangen .
Weit entfernt , von solcher Schmach gebrochen zu werden , erreichte er in aller Gemächlichkeit ein Alter von fünfundneunzig Jahren und schnitt nebenbei Reliefkarten von Landschaften mit Städten , Gebirgen und Flüssen ; auch malte er und stach in Kupfer .
Doch als ein ganzer und klassischer Genoß trat nun unter dem schlichten Namen eines Gelb- und Rotgießers Peter Vischer einher mit seinen fünf Söhnen , die Hantierer in glänzendem Erze .
Er sah aus mit seinem kräftig gelockten Bart , der runden Filzmütze und seinem Schurzfell wie der wackere Hephaistos selber .
Sein freundlich großes Auge verkündete , daß es ihm gelang , sich im Sebaldusgrabe ein unvergängliches Denkmal zu setzen , reich an Arbeit vieler Jahre und beschienen vom Abglanz griechischen Lebens , ein Wohnsitz vieler Bildwerke , die im lichten Raume den silbernen Sarg des Heiligen hüten .
So wohnte der Meister selbst mit seinen fünf Söhnen samt ihren Weibern und Kindern in einem Hause und derselben Werkstatt , im Glanz neuer Werke .
Einer , der mir nicht viel weniger gefiel , war im Zuge der Maurer und Zimmerleute Georg Weber , groß und stark heranschreitend , zu dessen grauem Kleide es einer Unzahl von Ellen Tuches bedurfte .
Der war freilich ein Wäldervertilger ; denn mit seinen Werkleuten , die er alle so groß und stark aussuchte , wie er selber war , mit dieser Riesenschaft arbeitete er mächtig in Bäumen und Balken , sinnreich und künstlich , und fand nicht seinesgleichen .
Er war jedoch ein trotziger Volksmann und machte im Bauernkrieg den Bauern Geschütze aus grünen Waldbäumen .
Er sollte deshalb zu Dinkelsbühl geköpft werden ; allein der Rat von Nürnberg löste ihn wegen seiner Kunst und Nützlichkeit aus und ernannte ihn zum Stadtzimmermeister .
Er baute nicht nur schönes und festes Sparren- und Balkenwerk , sondern auch Mühl- und Hebemaschinen und gewaltige lasttragende Wagen und fand für jedes Hindernis , jede Gewichtmasse einen Anschlag unter seiner starken Hirnschale .
Bei alledem konnte er weder lesen noch schreiben .
So folgten sich , da man eine ganze Zeit zusammenfaßte , Scharen von ausdrucksvollen Gestalten , die alle im Leben gestanden hatten , bis dieser Teil des Zuges mit der Zunft der Maler und Bildhauer und der Erscheinung Albrecht Dürers abschloß .
Unmittelbar voran ging ihm der Edelknabe mit dem Wappenschilde , der in blauem Felde drei silberne Schildchen zeigt und von Maximilian dem großen Meister für die ganze Künstlerschaft gegeben worden ist .
Dürer selbst schritt zwischen seinem Lehrer Wohlgemut und Adam Kraft ; die eigenen hellen Ringellocken des Darstellers fielen nach beiden Seiten gleich gescheitelt ganz so auf die breiten , mit Pelz bedeckten Schultern wie im bekannten Selbstbildnis , und mit anmutiger Geschicklichkeit trug der geschmeidige Mann die feierliche Würde , die auf ihm lastete .
Nachdem nun , was eine Stadt baut und ziert , vorangegangen , trat gewissermaßen die Stadt selbst auf .
Von zwei bärtigen Hellbardieren begleitet , wurde ihr das große Banner vorgetragen .
Hoch trug der kecke Fähndrich die wallende Fahne , im üppig geschlitzten Kleide , die linke Faust stattlich in die Seite gestemmt .
Alsdann kam der Stadthauptmann , kriegerisch prächtig in Rot und Schwarz gekleidet , mit dem Brustharnisch angetan und den Kopf mit breitem , von Federn wogendem Baretthute bedeckt .
Ihm folgten Bürgermeister , Syndikus und Ratsherren , unter ihnen manch ein im weiten Reich angesehener und ersprießlicher Mann , und endlich die festlichen Reihen der Geschlechter .
Seide , Gold und Juwelen glänzten hier in schwerem Überfluß .
Die kaufmännischen Patrizier , deren Güter auf allen Meeren schwammen , die zugleich in streitbarer Haltung mit dem selbstgegossenen Geschütze die Stadt verteidigten und an den Reichskriegen teilnahmen , übertrafen den mittleren Adel an Pracht und Reichtum wie in Gemeinsinn und sittlicher Würde .
Ihre Frauen und Töchter rauschten wie große lebende Blumen einher , einige mit goldenen Netzen und Häubchen um die schöngezöpften Haare , andere mit federwallenden Hüten , diese den Hals mit feinstem Linnen umschlossen , jene die entblößten Schultern mit köstlichem Rauchwerk eingerahmt .
Inmitten dieser glänzenden Reihen gingen einige venezianische Herren und Maler , als Gäste gedacht , poetisch in ihre welschen , purpurnen oder schwarzen Mäntel gehüllt .
Diese Gestalten lenkten die Phantasie auf die Lagunenstadt und von da in die Weite an alle Küsten des Mittelmeeres .
Eine zweite breite Reihe von Trompetern und Paukern , überragt vom Doppelaar , führte endlich schmetternd das Reich heran , mit allem , was es an Tapferkeit und Glanz um den Kaiser zu scharen hatte .
Ein Haufen Landsknechte mit seinem robusten Hauptmann gab sogleich ein lebendiges Bild jener Kriegszeit und ihres unruhigen , wilden und sanglustigen Volkstums .
Durch den Wald von achtzehn Schuh langen Spießen , unter dem sie einhermarschierten , sah der innere Blick Berg und Tal , Wälder und Felder , Burgen und festen , deutsches und welsches Land sich ausbreiten , nachdem die mauerumschlossene , reichgebaute Stadt sich vorhin kundgetan .
Die Schar der Kriegsgesellen , aus dem jungen Volke und einigen älteren Schnapphähnen bestehend , hatte sich so eifrig in Tracht , Sitten und Lieder des geschichtlichen Vorbildes eingelebt , daß von diesem Feste her sich eine eigene Landsknechtkultur in Wort und Bild auftat und die bloßen sonnverbrannten Nacken der Schwartenhälse , ihre zerschnittenen Bauschkleider und kurzen Schwerter noch langhin überall zu sehen waren .
Nun wurde es aber wieder feierlicher und stiller .
Vier Edelknaben mit den Wappenschilden von Burgund , Holland , Flandern und Österreich , dann vier Ritter mit den Bannern von Stier , Tirol , Habsburg und mit dem kaiserlichen Paniere traten auf , dann ein Schwertträger und zwei Herolde .
Nach der Flamberge tragenden Leibwache des Kaisers kam eine Schar Edelknaben in kurzen goldstoffenen Wämsern , goldene Pokale tragend , dem kaiserlichen Mundschenk vorauf , und ebenso gingen Jäger und Falkoniere dem Oberjägermeister vorauf .
Fackelträger mit vergittertem Gesicht umgaben den Kaiser .
Rock und Hermelinmantel von schwarzdurchwirktem Goldstoff , einen goldenen Brustharnisch tragend , auf dem Barett den königlichen Reif , ging Maximilian heroisch daher , das Angesicht auf das Heldenmütige , Ritterhafte und Sinnreiche gerichtet .
So konnte man selbst von dem lebenden Konterfei sagen .
Denn es hatte sich für das Bild des Kaisers ein junger Maler von den fernsten Grenzen des ehemaligen Reiches gefunden , der in Haltung und Angesicht ohne alle Zutat wie dazu geschaffen war .
Unmittelbar hinter dem Kaiser ging sein lustiger Rat Kunz von der Rosen , aber nicht gleich einem Narren , sondern wie ein kluger und wehrbarer Held launiger Weisheit .
Er war ganz in rosenroten Samt gekleidet , knapp am Leibe , doch mit weiten ausgezackten Oberärmeln .
Auf dem Kopfe trug er ein azurblaues Hütchen mit einem Kranze von je einer Rose und einer goldenen Schelle ; an der Hüfte indessen hing an rosenfarbenem Gehänge ein breites , langes Schlachtschwert von gutem Stahl .
Wie sein Held und Kaiser war er nicht sowohl ein Dichter als selbst ein Gedicht .
Nun schritt in Stahl gehüllt und waffenklirrend einher , was von der Lüneburger Heide bis zum alten Rom , von den Pyrenäen bis zur türkischen Donau gefochten und geblutet hatte , die glänzende Führerschaft des Reiches der Erbschenk und Statthalter Siegmund von Dietrichstein und der zum zeitweiligen Feldherrn gediehene Jurist Ulrich von Schellenberg , Georg von Frundsberg , Erich von Braunschweig , Franz von Sickingen , das Freundespaar Roggendorf und Salm , Andreas von Sonnenburg , Rudolf von Anhalt und die übrigen , jeder mit seinen Waffen- und Trophäenträgern , überschattet von den Fahnen mit den Namen der Schlachten und Belagerungen , begleitet von Schilden mit kühnen oder edelsinnigen Wahlsprüchen .
In diesem Aufzug sah man vorzugsweise schöne und kräftige Männergestalten , da hier meistens solche ihren Platz genommen , die als die Schmiede ihres Glückes sich auf die Höhe des Lebens und Gelingens durchgekämpft hatten und in jeder Hinsicht geeignet waren , das Tüchtigste vorzustellen .
Ich hatte mich an meinem noch verborgenen Platze etwas vorgedrängt , um besser sehen zu können , was uns voranzog , und verschlang alles mit den Augen wie einer , der das Zweite Gesicht hat .
Meine eigene Mitspielerschaft ganz vergessend , erlabte ich mich an dem Anblick der Herrlichkeit ; als ob ich selbst ein Nachkomme der verschwundenen Reichsgenossen wäre , atmete ich voll stolzer Freude , die sich womöglich noch steigerte , als nun unter den gelehrten Räten des Königs der berühmte Willibald Pirckheimer auftrat , der in dem sogenannten Schwabenkriege den Nürnberger Zuzug in der Heerfolge Maximilians gegen die Schweizer geführt und jenen Feldzug beschrieben hat .
Denn plötzlich fiel mir nun ein , wie dieser selbe Ritterkönig mit allen diesen Kriegsherren , als er mein Vaterland hatte zum Reiche zurückzwingen wollen , das gegen meine Vorfahren aufgerichtete Reichsbanner hatte niederlassen und ohne Erfolg abziehen müssen , in die Klage ausbrechend , er könne die Schweizer nicht ohne Schweizer schlagen .
So vermochte ich um so ungetrübter mich allen nationalen Selbstzufriedenheiten hinzugeben und bedachte nicht , wie unablässig die Eimer des Geschickes steigen und fallen und wie wenig , was meine alten Eidgenossen betraf , dieselben eigentlich trotz ihrer Tapferkeit von allen ihren Nachbaren geliebt und geschätzt waren .
Ich hätte auch beinahe übersehen , daß der lange Prachtzug des letzten Ritters zu Ende ging und , während die Scharen der bisher Vorübergezogenen im weiten Rundgange sich kreuzten , schon der Mummenschanz heranrauschte , in welchem alles sich auftat , was die Künstlerschaft an übermütigen Sonderlingen , Witzbolden , Lückenbüßern und Kometennaturen vermochte .
Auf einem störrischen Esel eröffnete der Mummereimeister den träumerischen Zug , und hinter ihm tanzten die bunten Narren Gylyme , Pöck und Guggerillis , die Zwergschälke Metterschi und Duweindl und viele andere Narren daher , unter welche ich als ein ziemlich stiller Narr zurückgeschlüpft war .
Dann kam der bekränzte Thyrsusträger , welcher die behaarte , gehörnte und geschwänzte Musikbande führte .
In ihren Bockshäuten nach der eigenen Musik hüpfend und hopsend , brachten diese Gesellen eine uralte , seltsam schreiende und brummende Musik hervor , bald in der Oktave ! bald in lauter Quinten pfeifend und schnurrend , aus der obersten Höhe in die unterste Tiefe springend .
Mit goldenem umlaubtem Thyrsusstabe schritt der Anfahrer des Bacchuszuges vor .
Ein Kranz blauer Trauben umschattete seine glühende Stirn ; von den Schultern flatterte und wallte eine festliche Last buntgestreifter Seidenbänder bis auf die Füße und verhüllte wehend den schlanken Körper .
Nur die Füße waren mit goldenen Sandalen bekleidet .
Halb mittelalterlich , halb antik geschürzte Winzer umschwärmten die biblischen Kundschafter aus dem Gelobten Lande , welche an tiefgebogener Stange die große Traube trugen , gefolgt von vier noch kernhafteren Männern , die zwischen vier aufrechten Fichten eine noch viel mächtigere Traube daherbrachten .
Alle übrige Zubehör eines bacchantischen Getümmels mit Becken , Schalen und Stäben zog und schob den Wagen des efeubekränzten Gottes , über dem sich ein dunkelblauer Himmel von Trauben wölbte .
Dem Triumphwagen der Venus , welcher sich hierauf nahte , gingen als Diener des Mars zwei zarte , in Landsknechttracht gekleidete Knaben mit Trommel und Pfeife vorauf , die gekerbten Federhüte auf dem Rücken tragend , daß das bunte Gefieder auf dem Boden schleifte .
Mit schelmischer Feierlichkeit ließen sie ihren Kriegsmarsch ertönen , wobei die mehr sanfte als schrille Flöte immer denselben sehnsüchtigen Satz wiederholte .
Könige mit Krone und Zepter , zerlumpte Bettler mit dem Schnappsack , Pfaffen und Juden , Türken und Mohren , Jünglinge und Greise zogen den Wagen herbei .
Die auf ihm ruhende Venus war niemand anders als die schöne Rosalie , halb liegend auf einem Rosenlager unter durchsichtiger Blumenlaube .
Ihr Kleid war von Purpurseide , aber vom Schnitte eines patrizischen Festkleides der damaligen Zeit , wie etwa Altrecht Dürer eine mythologische Gestalt zu zeichnen liebte .
Der schwere Stoff bildete sogar getreu den prächtigen gebrochenen Faltenwurf an den weiten langen Ärmeln und der königlichen Schleppe , und ein breiter Damenhut von Purpursamt , mit weißen Federn umsäumt , überschattete waagrecht das Haupt , von einem goldenen Stern überstrahlt .
In der Hand hielt sie eine goldene Weltkugel , auf welcher zwei mit den Flügeln schlagende und sich schnäbelnde Tauben saßen .
Unter ihren Gefangenen gingen zu beiden Seiten des Wagens der heidnische Philosoph Aristoteles und der christliche Dichter Dante Alighieri , welche in ehrwürdigster Haltung ihr zu besonderem Schutz und Handreichung dienten .
Sie aber schaute dann und wann rückwärts , da gleich hinter ihrem Wagen der starke Erikson als wilder Mann einherkam , der den Zug der Diana anführte , Lenden und Stirn in dichtes Eichenlaub gehüllt , ein Bärenfell um die Schultern geschlagen .
Viele Jäger folgten ihm mit grünen Zweigen auf Hüten und Kappen , die großen Hefthörner mit Laubwerk umwunden , das Jagdkleid mit Iltisfellen , Luchsköpfen , Rehfüßen und Eberzähnen besetzt .
Einige führten Rüden und Windspiele , einige mit Steigeisen am Gürtel trugen Gemsböcke auf dem Rücken , andere Auerhähne und Bündel von Fasanen , und wieder andere auf Bahren Schwarzwild und Hirsche mit versilberten Hauern , Geweihen und Schalen .
Dann trug eine Schar wilder Männer ein wanderndes Gehölz belaubter Bäume verschiedener Art , in welchen Eichhörnchen kletterten und Vögel nisteten .
Durch die Stämme dieses Waldes sah man schon die silberne Gestalt der Diana schimmern , der schmalen Agnes , wie sie von Lys gekleidet und geschmückt worden .
Ihr Wagen war von allem möglichen Wilde bedeckt , und dessen Köpfe umkränzten ihn mit vergoldetem Horn und bunten Federn .
Sie selbst saß mit Bogen und Pfeil auf einem Felsen , aus welchem ein Quell in ein Becken von Tropfsteinen sprang ; wilde Männer , Jäger und Nymphen nahten sich in buntem Gedränge , um aus hohler Hand den Durst zu stillen .
Agnes war in ein Gewand von Silberstoff gekleidet , das bis an die Hüften sich knapp anschmiegte und alle ihre geschmeidigen Formen wie aus dem hellen Metalle gegossen erscheinen ließ Die kleine klare Brust war wie von einem Silberschmied zierlich getrieben .
Vom Schoße abwärts , den ein grüner Florgürtel mehrfach umwand , floß das Gewand weit und faltig , wiederholt geschürzt , doch bis auf die Füße , die mit silbernen Sandalen keusch hervorsahen .
Im schwarzen , griechisch aufgebundenen Haare machte sich mit Mühe die blanke Mondsichel sichtbar , und wenn sich der Kopf ein wenig regte , wurde sie von den Locken zeitweise ganz bedeckt .
Das Gesicht der Agnes war weiß wie Mondschein und noch blasser als gewöhnlich ; ihr Auge flammte dunkel und suchte den Geliebten , während in dem silberglänzenden Busen der kühne Anschlag , den sie gefaßt , das Herz pochen machte .
Der geliebte Lys aber , der den Aufzug eines der Jagd obliegenden Assyrerkönigs gewählt , um seiner Diana zur Seite gehen zu können , hatte , sobald er die Rosalie-Venus erblickt , jene verlassen , sich unter den Triumphzug der letzteren gemischt , betrachtete sie unverwandt gleich einem Nachtwandler und wich keinen Schritt von ihrem Wagen , ohne seines Tuns bewußt zu werden .
Meinerseits hatte ich mich , meinem alten Zunamen getreu , in ein laubgrünes Narrenkleid gesteckt und um die Schellenkappe ein Geflecht von Disteln und Stechpalmzweigen mit roten Beeren geschlungen .
Diese jagdverwandte Tracht benutzte ich nun , als ich sah , wie die Dinge standen oder vielmehr gingen , um ab und zu durch den wandelnden Wald zu huschen und der ärmsten Diana zur Seite zu bleiben , da sonst kein Befreundeter um sie war ; denn Erikson , der wilde Mann , hielt sein Auge auf Lys und Rosalien gerichtet , ohne indessen stark aus seiner Gemütsruhe zu geraten .
Den südlich-griechischen Bildern folgte als nordisch-germanisches Märchen der Zug des Bergkönigs .
Ein Gebirge von Erzstufen und Kristallen war auf seinem Wagen errichtet , und darauf thronte die riesige Gestalt in grauem Pelztalar , den schneeweißen Bart wie das Haar bis auf die Hüften gebreitet und diese davon umwallt .
Das Haupt trug eine hohe goldene Zackenkrone .
Um ihn her schlüpften und gruben kleine Gnomen in den Höhlen und Gängen und waren wirkliche Bübchen ; aber ein kleiner Berggeist , welcher vorn auf dem Wagen stand , ein strahlendes Grubenlicht auf dem Kopf , den Hammer in der Hand , war ein kaum drei Spannen langer , völlig ausgewachsener Künstler , ebenmäßig fein gebaut , mit männlich sauberem Gesichtchen , blauen Augen und blondem Zwickelbart .
Das kleine Wesen , einem Zaubermärchen gleichend , war nichts weniger als eine bloße Seltsamkeit , sondern ein solider und rühmlicher Maler , ein lebendiges Zeugnis , daß diese bedeutende Künstlerschaft nicht nur alle Gliederungen eines großen Volkes , sondern auch alle Gestaltungen des körperlichen Daseins umfaßte .
Hinter dem Bergkönig auf demselben Wagen schlug der Prägemeister aus Silber und blankem Kupfer kleine Denkmünzen auf das Fest ; ein Drache spie sie in ein klingendes Becken , und zwei Pagen , Gold und Silber genannt , warfen die Schimmerstücke unter das schauende Volk .
Ganz zuletzt und einsam schlich der Narr Gülichisch daher und schüttelte traurig den leeren Beutel .
Freilich folgte dem hinkenden Narren auf dem Fuße wieder der glanzvolle Anfang ; wieder gingen die Zünfte , das alte Nürnberg , Kaiser und Reich und die Fabelwelt vorüber , und so zum dritten Male , und immer ging Lys neben dem Wagen der Venus , schritt Erikson aufmerksam dahinter her und schaute Agnes , welche in ihrem Walde nicht sehen konnte , was vorging , bald ratlos umher , bald schlug sie traurig die Augen nieder .
Die ganze Maße reihte sich nun in eine gedrängte Ordnung und ließ ein volltöniges Festlied erschallen , um dem wirklichen Könige , in dessen Machtkreis zuletzt diese ganze Traumwelt hing , ihre Huldigung darzubringen .
Dann bewegte sich der lange Zug an der im Logensaal versammelten Familie des Landesherren vorbei und auf bedeckten Gängen in das Königsschloß hinüber , durch dessen Säle und Korridore , welche alle von Zuschauern angefüllt waren .
Der zufriedene , ja vergnügt scheinende Monarch , welcher die rauschende und farbenstrahlende Festfreude gewissermaßen als den Lohn seines eigenen Verdienstes betrachten durfte , saß auf goldenem Sessel in der Mitte der Seinigen und besah sich nun diese und jene Erscheinung des vorüberwallenden Zuges genauer und richtete an manchen einzelnen ein Scherzwort .
Als ich in seine Nähe kam , hatte ich ein kleines Hühnchen mit ihm zu pflücken .
Denn vor kurzer Zeit , da ich nach dem Rate des Trinksamen Eichmeisters in der Abenddämmerung durch eine stille Straße ging , um den bescheidenen Abendtrunk aufzusuchen , begegnete ich dem mir unbekannten schlank hagern Manne , der plötzlich seinen raschen Schritt anhielt und mich achtlos Vorübergehenden fragte , warum ich ihm nicht die gebührende Ehre erweise ?
Erstaunt sah ich ihn an ; aber schon hatte er mir den Hut vom Kopfe genommen , mir in die Hand gegeben und sagte :
" Kennen Sie mich nicht ?
Ich bin der König ! " worauf er seinen Weg in die Dämmerung hinein fortsetzte .
Ich brachte meinen Hut wieder , wo er hingehörte , sah dem schattenhaften Wandler noch verblüffter nach und wußte nicht , was zu tun sei .
Endlich sagte ich mir , wenn es ein Spaßvogel gewesen , der sich einen Scherz gemacht , so handle es sich nicht um die Ehre ; sei es aber wirklich der König , dann auch nicht ; denn wenn die Könige nicht beleidigt werden dürfen , so können sie auch nicht beleidigen noch beschimpfen , da ihre einsame Willkür jede gewöhnliche Wirkung aufhebe .
Heute erkannte ich , als ich ihm vorüberging , sogleich , daß es der König gewesen .
Die Narrenfreiheit benutzend , sprang ich aus dem Zuge heraus , trat vor ihn , streckte meinen Kopf dar und rief fröhlich :
" Hei , Bruder König ! warum greifst du nicht an meinen Hut ? "
Er sah mich aufmerksam an , erinnerte sich offenbar und verstand auch , daß ich die Disteln und Stechpalmen meinte , an denen er sich verletzen würde .
Aber er sagte kein Wort , sondern faßte lächelnd mit spitzen Fingern zwei der aufragenden Schellenzipfel meiner Kappe , hob diese ganz sachte in die Höhe , so daß ich barhäuptig dastand , und ließ sie ebenso sanft wieder nieder .
Da sah ich , daß hier nicht aufzukommen war , ließ den Handel fallen und trollte weiter .
Die Prachttreppen hinunter , durch Bogengänge und Säulenhallen , über die von Pechflammen erleuchteten Plätze , von den Wogen des Stadtvolkes angefüllt , überall gingen die Künstler an ihren Werken vorbei , bis der Zug in dem großen Festgebäude mündete , dessen Räume für die weiteren Taten zubereitet und geschmückt waren .
Der größte Saal war zu Bankett , Spiel und Tanz eingerichtet , und zwar ganz im Stile des gefeierten Zeitalters , eine Reihe von Nischen und Nebengemächern für den Aufenthalt einzelner Gruppen und Gesellschaften gartenähnlich verkleidet .
Nachdem die allgemeine Tafelfreude genügsam vorgerückt , begann auch unverweilt Tanz und Spiel jeder Art an allen Enden .
Die Meistersänger hielten bei offener Türe Singschule in einem kleineren Saale .
Es wurde nach den zünftigen Gebräuchen wettgesungen , ein Schulfreund oder Singer zum Meister gesprochen und dergleichen mehr .
Die vorgetragenen Gedichte enthielten hauptsächlich Hecheleien der verschiedenen Kunstrichtungen gegeneinander , Verspottung anmaßlichen oder eigensinnigen Wesens an Leuten und Schulen , Klagen über gesellschaftliche Übelstände , dann auch den Preis des Unbestrittenen , Anerkannten .
Es war sozusagen eine allgemeine Abrechnung , bei welcher jede Richtung und jede Größe ihren Vertreter mit fertigem Spruche unter die Singer gestellt hatte .
Der Inhalt der lebhaften satirischen Verse nahm sich höchst seltsam aus in der Form , in welcher er vorgebracht wurde .
Denn während alle Singenden in denselben einförmigen und hölzern trockenen Knittelversen ihre angeblichen Stollen und Abgesänge vortrugen , wurde doch jeder einzelne unter Ankündigung einer neuen Weise aufgerufen .
Da wurde gesungen in Orpheus ' sehnlicher Klagweise , der gelben Löwenhautweise , der schwarzen Agtsteinweise , der Igelweise , verschlossenen Helmweise , überhohen Bergweise , krummen Zinkenweise , glatten Seidenweise , Strohhalmweise , spitzigen Pfriemweise , stumpfen Pinselweise , blauen Berlinerweise , rheinischen Senfweise , glitzerigen Turmgockelweise , sauren Zitronweise , zähen Honigweise usw. , und das Gelächter war groß , wenn nach diesen pomphaften Ankündigungen immer der alte grämliche Leierton sich von neuem hören ließ .
Einige Singer packten auch ihren Gegenstand unmittelbar aus dem gegenwärtigen Augenblicke ; so rächte sich ein Schuster für den Stolz , mit welchem eine Edelfrau , ihrer Rolle getreu , ihm soeben den Tanz verweigert , durch lautes Anrühmen der Gunst , die bei mehr als einer goldenen Dame zu holen sei , wenn man es nur recht anzufangen wisse , worauf ein Weißgerber mit Aufwerfung der alten Frage antwortete , ob Keckheit oder Bescheidenheit eher zum Ziele führe , und ein Wachszieher schließlich die Frauen für solche Wesen erklärte , welche stets die eine Art vorzögen , wenn die andere gerade nicht zu haben wäre .
So grobe Reden durfte die Frau Venus , die mit einem Teile ihres Gefolges der Singschule beigewohnt , nicht anhören .
Sie brach mit verstellter Entrüstung auf und zog sich in eines der Seitengemächer zurück , wo sie ihren durch ein paar anmutige Frauen vermehrten Hof hielt .
In einer anstoßenden ganz grünen Nische hatten die Jäger ihren Sitz aufgeschlagen , und ihrer Diana dienten einige junge Nymphen zur Gesellschaft ; sie ließen sie aber meistens allein sitzen und Schwärrenten mit den wilden Jagdgenossen auf den Tanz aus .
Ich setzte mich daher öfter neben sie und suchte ihre Verlassenheit durch Gespräch und übliche Dienstleistungen so ungesehen als möglich zu machen , bis die zu erhoffende Wendung der Dinge herbeikäme .
Erikson ging ab und zu ; er konnte seiner Wildemannstracht halber nicht wohl tanzen noch sich in zu große Nähe der Frauen setzen .
Die Rolle war ihm erst in den letzten Tagen durch eingetretenen Notfall aufgedrängt worden , und er hatte sie nicht ungern übernommen , weil sie ihn von der Frau Rosalie etwas getrennt hielt und hierdurch das zwischen ihnen waltende Verhältnis nicht zu früh ganz offenkundig wurde , und Rosalie war damit einverstanden .
Jetzt bereute er fast sein Verfahren , als er sah , wie Lys fort und fort dicht in ihrer Nähe blieb , wie sie lachte , scherzte , von freundlichem Liebreize strahlte und den eifrig sie unterhaltenden Untreuen mit anmutig naiven Fragen in einer Bewegung erhielt , deren Verblendung die schöne Sicherheit nicht ahnte , in welcher die Frau lebte .
Weder er noch Erikson bemerkten den scheinbar zufälligen , flüchtigen , aber zufriedenen Blick , mit welchem sie mitten im Gespräche der Gestalt des wilden Mannes folgte , wenn er zuweilen in einiger Entfernung vorbeiging .
Agnes hatte schon lange stumm neben mir gesessen , während die kostbare Zeit dieser Nacht unaufhaltsam vorrückte .
Sie wiegte , den Busen von ungestümen Gefühlen bewegt , das schwarzgelockte Haupt , und nur zuweilen schoß sie einen flammenden Blick zu Lys und Rosalien hinüber , zuweilen auch sah sie ruhig verwundert hin , aber stets erblickte sie dasselbe Schauspiel .
Zuletzt verstummte auch ich und versank in trübes Sinnen über eine so große Schwäche des von mir hochgehaltenen Freundes .
Wie eine unheimliche Naturerscheinung beunruhigte mich dieser rücksichtslose Wankelmut , der zu einer Art frecher Kühnheit wurde , und ich litt unter dem Eindruck , mit welchem man im Traum einen Sinnlosen sich in den Abgrund stürzen sieht .
Ein tiefer Seufzer weckte mich auf ; Agnes hatte gesehen , wie Lys mit Rosalien zum Tanze schritt , der im nahen Hauptsaale rauschte und wogte ; plötzlich forderte sie mich auf , sie ebenfalls hinzuführen und mit ihr zu tanzen .
Schon drehten wir uns mit der buntschimmernden Menge und begegneten zweimal der rosigen Venus , deren Purpurgewand flog und den mit ihr tanzenden Lys zeitweise halb bedeckte .
Dieser grüßte uns froh und zufrieden , wie man Kinder grüßt , die sich gut zu unterhalten scheinen .
Wieder trafen wir am Ende des Walzers zusammen ; Rosalien gefiel das zierliche Kind und verlangte es in ihrer Nähe zu haben , während ich an den Narrenspielen teilnehmen mußte , die den Tanz jetzt ablösten .
An einem langen Seile führte Kunz von der Rosen alle vorhandenen Narren durch das Gedränge .
Jeder trug auf einer Tafel geschrieben den Namen seiner Narrheit , und von den leichteren schied der lustige Rat neun schwere aus und stellte sie vor dem Kaiser als Kegelspiel auf .
So standen da vor aller Augen Hochmut , Neid , Grobheit , Eitelkeit , Vielwisserei , Vergleichungssucht , Selbstbespiegelung , Halsstarrigkeit und Wankelmut .
Mit einer mächtigen Kugel , welche die übrigen Narren mit komisch heftigen Gebärden herbeiwälzten , versuchte nun mancher Ritter und Bürger nach den neun Kegelnarren zu schieben , aber nicht einer wankte , bis endlich der heroische Max , welcher das ganze deutsche Volk darstellte , sie alle mit einem Wurfe über den Haufen warf , daß sie übereinanderpurzelten .
Aus dieser Niederlage entwickelte sich eine scherzhafte Auferstehung , indem Kunz dem sieghaften König als Belohnung die wiedererstandenen Bildwerke der alten Welt vor Augen brachte und zunächst die gefallenen Narren als Niobidengruppe aufrichtete , welche freilich zur Zeit Maximilians noch in der Erde lag .
Aus der tragischen Darstellung löste sich unversehens die Gruppe der Grazien , von drei jungen , zierlich feinen Narren gebildet , welche sich nach einmaligem Umdrehen wieder um einen Mann verminderten und als Amor und Psyche umfingen , bis diese sich auflösten und nur ein Narzissus übrigblieb .
Aber auch dieser schwand hinweg , und an seiner Stelle lag jener kleinste Zwerg als sterbender Fechter am Boden und machte seine Sache so vortrefflich , daß alle Zuschauer zu lautem Beifall gerührt wurden und die gesamte Narrenschaft herbeieilte , ihn samt der umgekehrten Fischschüssel , auf welcher er lag , emporhob und im Triumph davontrug .
Als auch diese Wolke sich verzogen , wurde eine Laokoonsgruppe sichtbar , von Erikson und zwei jungen Satyren mit Hilfe zweier großen Schlangen dargestellt , die man aus Draht und Leinwand gemacht hatte .
Es war keine leichte Anstrengung , mit gespannten Muskeln in der vorgeschriebenen Lage zu verharren ; diese wurde aber noch schwieriger , als er in dem krampfhaft zurückgebogenen Kopfe die Augen einmal abwärts bewegte und in dem nunmehrigen augenblicklichen Gesichtsfelde Rosalien sah , wie sie von Lys am Arme vorübergeführt wurde , sich lächelnd , aber flüchtig nach ihm umwendete und dann mit ihrem Führer plaudernd sich im Gedränge verlor .
Auch hörte er in der Nähe sagen : " Da geht ja die schöne Venus die ganze Zeit mit dem reichen Fläming oder Friesen , oder was er ist !
Gut genug sieht er übrigens aus , und sie wird denken schön und reich , sind beide gleich ! "
Sobald er die Schlangen abgestreift hatte und frei war , stürmte Erikson durch das Haus und bettelte von zechenden Bekannten entbehrliche Gewandstücke zusammen .
Wunderlich gekleidet , teilweise ein Bischof , ein Jäger und ein wilder Mann , den Kopf noch grün belaubt , suchte er die Verschwundenen auf und fand sie in dem größeren Kreise , in welchem die Bacchusleute , der Hof der Venus und die Jäger sich vereinigt hatten .
Er war nicht eifersüchtig und schämte sich sogar des Gedankens , daß er es je sein könnte , weil die begründete wie die grundlose Eifersucht diejenige Würde vernichtet , deren die gute Liebe bedarf .
Er wußte nur , daß in der Welt alles möglich sei und das Folgenreichste oft von einer kleinen Unterlassung abhänge , welche die Dinge ohne Not verändere , und überdies war er zu dieser Zeit noch ungewiß , ob das Verraten von Ruhe oder Unruhe welches von beiden für Rosalien eher beleidigend sein könnte .
Denn wenn sie sich die Mühe gab , die Bewerbungen des Niederländers so offenkundig zu ertragen , und dabei eine geheime Absicht verbarg , so mußte Erikson sich artigerweise auch die Mühe geben , einen solchen Vorgang zu verstehen .
Die Ruhe gewann indessen die Oberhand , als er das vermißte Paar mitten in unserem mythologischen Kreise sitzen sah ; er nahm gleichmütig in der Nähe Platz , mußte aber alsobald seine Aufmerksamkeit wieder anstrengen .
Lys führte seine Reden über durchaus unverfängliche , ja gleichgültige Dinge , aber mit jenem unmittelbar an die Frau gerichteten vertrauten Tone , welchen solche Eroberer anzuschlagen pflegen , um die Welt an das Unvermeidliche beizeiten zu gewöhnen .
Erikson ertrug manches an ihm , ohne zu richten ; jetzt aber stieg ihm doch der Gedanke auf , ob der Freund nicht doch einer von den Tröpfen sein dürfte , deren Hauptstück darin besteht , goldene Uhren zu stehlen oder einem anderen das Weib zu nehmen .
Es gibt ja , dachte er , bei beiden Geschlechtern solche Raub- und Wechseltiere , die nur dann glücklich sind , wenn sie erst fremdes Glück zerstört haben !
Freilich nehmen sie nur , was sie kriegen können , und die Ware ist auch meistens danach !
Allein diesmal wäre es wirklich schade !
Und er betrachtete mit neuer Besorgnis und Bewunderung Frau Rosalien , wie sie mit unverwüstlicher Holdseligkeit Lysens Gespräch anhörte und ihn mit unwiderstehlichem Lächeln zu klugen und zuversichtlichen Redensarten verlockte .
Derart beschäftigt , konnte er nicht beachten , was mit Agnes vorging und wie ich als ihr Abgesandter abermals zu Lys herüberkam und ihn leise , aber inständig bat , nur ein einziges Mal mit ihr zu tanzen .
Da Lys eben eine kleine Pause machte , schreckte er auf wie ein balzender Auerhahn , aber nicht um davonzufliegen , sondern mich mit unterdrückter Stimme anzufahren :
" Was ist denn das für eine Sitte an einem jungen Mädchen ?
Tanzt miteinander und laßt mich zufrieden ! "
Ich ging hin , um das schmerzlich erregte Wesen so gut möglich zu trösten und hinzuhalten ; doch war mir Erikson schon zuvorgekommen , welchem Rosalie , während ich mit Lys gesprochen , einige Worte zugeflüstert hatte , die ihn munter zu machen schienen .
Er führte die schimmernde Gestalt in die Tanzreihen und schwang sich mit ihr ebenso kraftvoll als leicht herum , und Agnes flog in eigener Kraft mit ihm und um ihn herum , wie wenn ihre feinen Knöchel von Stahl gewesen wären .
Hernach wurde sie von Herrn Franz von Sickingen aufgefordert , der noch nicht gewillt war , sich in einem Harnischkasten begraben zu lassen .
Sie erschien auch in dem Figurentanze , der aufgeführt wurde , wieder so fremdartig reizend , daß der große Meister Dürer selbst sich an den Weg stellte und seiner Rolle getreu kein Auge von ihr verwandte , sein Büchlein hervorzog und eifrig zu zeichnen begann .
Der artige Einfall rief großes Vergnügen hervor ; man hielt inne , und es sammelte sich eine beifällige , fast ehrfürchtige Menge , etwa wie wenn der alte Meister leibhaftig erschienen und zeichnend gesehen worden wäre .
Es war noch nicht der Gipfel der Ehren , die Agnes heute erlebte ; der kaiserliche Weißkunig ließ sich im Vorbeispazieren von seinem Gefolge über den Auftritt Bericht geben , die schlanke Diana sich vorstellen und bat den von Sickingen mit huldreichen Worten , sie ihm für einen Rundgang zu überlassen .
Unter dem Einfallen des vollen Orchesters ging sie an der Hand des festlichen Traumköniges um den Saal , während überall auf ihrem Wege die Ritter , Edeldamen und Patrizierinnen sich verbeugten , die Bürger ihre Mützen zogen .
Ihr Gesicht war blühend gerötet von Erregung und Hoffnung , als sie mit so rühmlichem Erfolge , nachdem der Kaiser sie an Sickingen , dieser an Erikson feierlich abgegeben hatte , von letztem an ihren Platz zurückgeführt wurde .
Allein der Geliebte hatte nichts von allem gesehen und nahm auch ihre Rückkehr nicht wahr .
Rosalie hatte sich während der Zeit ihres breiten Federhutes entledigt und denselben Lysen zum Halten gegeben ; und wie sie nun mit freiem Kopfe dasaß und ihr ambrosisches Haar mit den weißen Fingern ordnete , wirkte ihre Schönheit mit erneuter Betörung auf ihn ein .
Jetzt erblaßte Agnes , wendete sich zu mir und bat mich , ihm zu sagen , sie wünsche nach Hause gebracht zu werden .
Sogleich eilte er herbei , besorgte den warmen Mantel des Mädchens und ihre Überschuhe , und als sie gut verhüllt war , führte er sie , mich hinzuwinkend , in den Hof , legte ihren Arm in den meinigen und ersuchte mich , indem er sich von Agnes in freundlich väterlicher Weise verabschiedete , seine kleine Schutzbefohlene recht sorgsam und wacker nach Hause zu geleiten .
Zugleich verschwand er , nachdem er uns beiden die Hände gedrückt , wieder in der Menge , welche die breite Treppe auf- und niederstieg .
Da standen wir nun auf der Straße ; der Wagen , welcher Agnesen mit ihrem Liebesentschlüsse hergebracht , war nicht zu finden , und nachdem sie traurig an das erleuchtete Haus , in welchem es sang und klang , hinaufgesehen , kehrte sie ihm noch trauriger den Rücken und trat , von mir geführt , den Rückweg durch die stillen Gassen an , in denen der Morgen zu dämmern begann .
Sie hielt das Köpfchen tief gesenkt ; in der Hand trug sie unbewußt den großen Hausschlüssel , ein altes Stück Arbeit , welches ihr Lys in der Zerstreuung anstatt mir zugesteckt hatte .
Sie trug den Schlüssel fest umschlossen in dem dunklen Gefühle , daß Lys ihr das kalte , rostige Eisen gegeben ; es war doch etwas , das von ihm kam , sonst hatte er heute nicht viel an sie gewendet .
An dem Festmale hatte sie beinahe nichts genossen , und das wenige , mit dem sie seither etwa ihre Lippen erfrischt , war von mir besorgt worden .
Als wir vor dem Hause angelangt , stand sie schweigend und rührte sich nicht , obgleich ich sie wiederholt fragte , ob ich die Glocke ziehen oder vielmehr mit dem zierlichen Meerfräulein des Türklopfers Lärm machen solle , und erst als ich den Schlüssel in ihrer Hand entdeckte , aufschloß und sie bat hineinzugehen , legte sie langsam beide Arme mir um den Hals und fing an , erst wie im Traume zu stöhnen , dann mit den Tränen zu ringen , die nicht fließen wollten .
Ihr Mantel sank von den Schultern ; ich wollte ihn aufhalten , umfing sie aber statt dessen brüderlich und streichelte ihr den Kopf und den Hals , denn den Wangen konnte ich nicht beikommen .
In der feinen Silberbrust , die an mir lag , fühlte und hörte ich die Seufzer sich heraufarbeiten und das Herz klopfen ; es war wie das Murmeln eines verborgenen Quells , den man im .
Walde an der Erde liegend etwa zu hören bekommt .
Ihr heißer Atem strömte in mein Ohr , es wurde mir zu Mute , als ob ich ein selig trauriges Märchen , wie es in alten Liedern steht , wirklich erlebte , und ich seufzte unwillkürlich auf .
Endlich konnte das ärmste Wesen zum Weinen kommen , und es begann ein bitterliches Schluchzen .
Die klagenden Naturlaute , keineswegs schön , aber unendlich rührend , wie der Kummer eines Kindes , drängten und brachen sich in der feinen Kehle und in der nächsten Nähe meines Ohres .
Sie warf den Kopf herum auf meine andere Schulter , und ich legte meinen Kopf in absichtsloser Bewegung auch darauf , wie um ihren Schmerz zu bestätigen .
Da zerstachen ihr die Distelblätter und Stechpalmen an meiner Kappe Hals und Wange , sie fuhr zurück , erwachte und erkannte plötzlich , mit wem sie war .
Hilflos stand das doppelt getäuschte Mädchen da und sah weinend zur Seite .
Ich gab ihr den Mantel auf den Arm , nur um sie mit etwas zu beschäftigen , führte sie sanft zur Treppe und ging darauf hinaus , die Türe zuziehend .
Alles war noch still in dem Hause , die Mutter schien fest zu schlafen , und ich hörte nur , wie Agnes stöhnend die Treppe hinaufstieg und sich wiederholt an den Stufen stieß .
Endlich ging ich weg und kehrte langsam in den Festsaal zurück .
Vierzehntes Kapitel Das Narrengefecht Die Sonne ging eben auf , als ich in den Saal trat .
Alle Frauen und älteren Leute waren schon weggegangen ; die Menge der Jüngeren aber , von höchster Lust bewegt , wogte durcheinander und schickte sich an , eine Reihe von Wagen zu besteigen , um unverzüglich , ohne auszuruhen , ins Land hinauszufahren und das Gelage in den Forsthäusern und Waldgärten fortzusetzen , welche an den Ufern des breiten Bergflusses gelegen waren .
Rosalie besaß in jener Gegend ein Landhaus , und sie hatte die fröhlichen Leute der Mummerei eingeladen , sich am Nachmittage dort einzufinden , bis wohin sie als bereite Wirtin ebenfalls dasein würde .
Insbesondere waren dazu noch einige Frauen gebeten , und diese hatten ausgemacht , da es einmal Fasching sei , in der alten Tracht hinauszufahren ; denn auch sie wünschten so lang als möglich sich des glänzenden Ausnahmezustandes zu erfreuen .
Erikson war in seine Wohnung gegangen , um sich in seine gewohnten Kleider zu werfen , die er nur etwas sorgfältiger als sonst auswählte .
Da auch Rosalie später in moderner Toilette erschien , wie sie der Jahreszeit und dem Tage einfach angemessen war , ließ sich denken , daß hierin entweder eine Verständigung stattgefunden oder ein übereinstimmendes Gefühl waltete , beides schlichte Anzeichen , die von ruhigen Beobachtern nicht übersehen wurden .
Auch Lys war nach Hause geeilt , doch in entgegengesetztem Sinne .
Er hatte seinerzeit zu Studien für das Bild mit dem Salomo versuchsweise ein altorientalisches Königskostüm anfertigen lassen ; das lange Gewand war von weißem feinem Batistleinen , in viele Falten gelegt und mit purpurfarbigen , blauen und goldenen Borten , Troddeln und Fransen besetzt .
Kopf- und Fußbekleidung entsprachen ebenfalls dem ungefähren vorderasiatischen Stile des Altertums .
Die betreffende Studie hatte er in der Ausführung zwar nicht benutzt ; jetzt aber schien ihm das Kleid tauglich , um darin einen Scherz vorzubringen und am Hofe der Liebesgöttin sich als gestriger Jagdkönig im Hofgewande einzufinden .
Dazu ließ er Haar und Bart mit Brenneisen und duftenden Ölen formieren und kräuseln und legte schließlich um die nackten Vorderarme abenteuerliche Spangen und Ringe .
Das alles beschäftigte ihn reichlich bis zur Mitte des Tages , nachdem er in der leidenschaftlichen Verirrung , die ihn befallen , wenig genug geschlafen haben mochte .
Meinerseits hatte ich gar nicht geschlafen , sondern fuhr gleich in der Morgenfrühe mit der Hauptschar hinaus .
Große Wagen , mit Landsknechten beladen und von deren Spießen starrend , rasselten voraus und ihnen nach eine lange Reihe von Fuhrwerken aller Art in die helle Morgensonne hinein , am Rande der schönen Buchenwälder , hoch auf den Uferhängen des Stromes , der in glänzenden Windungen um die Geschiebe- und Gebüschinseln rauschte .
Es war ein milder Februartag und der Himmel blau ; die Bäume wurden bald von der Sonne durchschossen , und wenn ihnen das Laub fehlte , so glänzte das weiche Moos auf dem Boden und auf den Stämmen um so grüner , und in der Tiefe leuchtete das blaue Bergwasser .
Das bunte Volk ergoß sich über eine malerische Gruppe von Häusern , welche vom Wald umgeben auf der Uferhöhe lag .
Ein Forsthof , ein altertümliches Wirtshaus und eine Mühle am schäumenden Waldbach waren bald in ein gemeinsames Lustlager verwandelt und verbunden ; die stillen Bewohner sahen sich von dem berühmten Feste gleichsam in Person überrascht und umklungen und hatten genug zu tun mit Sehen und Hören , Bewundern und Belachen alles dessen , was sie in hundert Gestalten so plötzlich von allen Seiten umgab .
Den Künstlern aber weckte die freie Natur , der erwachende Lenz den Witz in der tiefsten Seele ; die frische Luft legte die beweglichsten Fühlfäden der Freude bloß , und wenn die Lust der entschwundenen Nacht auf Verabredung und geplanter Einrichtung beruhte , so lockte die jetzige Tageslust zufällig und frei zum lässigen Pflücken , wie die Frucht am Baume .
Die dem phantasierenden Fühlen und Genießen angemessenen Kleider waren nun wie etwas Hergebrachtes , das schon nicht mehr anders sein kann , und in ihnen begingen die Glücklichen tausend neue Scherze , Spiele und Torheiten von der geistreichsten wie von der kindlichsten Art , oft plötzlich unterbrochen durch einen wohlklingenden , festen Gesang , hier unter Bäumen , dort aus einer Schenkstube oder aus dem Ringe von Landsknechten , welche die Müllerstochter umstellt hatten .
Aber bei allem Selbstvergessen blieb jeder , was er war , und huschten die ewigen Menschlichkeiten wie leise Schatten über die frohen Gesichter .
Der Mürrische schmollte ein weniges bei Gelegenheit , der Mutwillige reizte den Übelnehmer , der Sorglose den Tadelsüchtigen zu einem kleinen Gezänk ; der Gedrückte dachte unversehens einmal an seine Sorgen und tat einen tieferen Atemzug ; der Sparsame und Ängstliche überzählte verstohlen seine Barschaft , und der Leichtsinnige , der schon fertig war , überraschte und kränkte ihn durch ein Darlehnsbegehren .
Aber alles dies kräuselte sich im Fluge vorüber wie der Lufthauch auf dem Glanze eines Wasserspiegels .
Auch ich geriet eine Weile in einen solchen Wolkenschatten .
Ich war dem Mühlbache nach tiefer in das Gehölz gegangen und wusch mir das Gesicht mit den frischklaren Wellen ; dann setzte ich mich auf das Holzwerk einer Wasserschwelle und überdachte die vergangene Nacht und das seltsame Abenteuer im Hausflur der Agnes .
Das sanfte Rauschen des Wassers brachte mich in einen Halbschlummer , in welchem meine Gedanken wie träumend in die Heimat wanderten ; ich glaubte an der Seite der toten Anna an dem stillen Waldwasser zu sitzen in der Tracht des Telespieles ; dann sah ich mich an ihrer Seite durch die Abendlandschaft reiten und sah alles mit ruhigem Herzen wie eine Erscheinung verschollener Tage , welche für sich abgeschlossen und nicht mehr zu ändern ist .
Unversehens aber verlor sich und verblich das Bild vor der Gestalt der Judith , mit der ich durch die Nacht wandelte ; ich war bei ihr im Hause , während die barmherzigen Brüder es belagerten , ich sah sie in ihrem Baumgarten aus dem Herbstdufte hervortreten und endlich auf dem Wagen der Auswanderer in die Ferne verschwinden .
Wo ist sie ?
Was ist aus ihr geworden ? rief es in mir , und das Heimweh nach ihr machte mich plötzlich munter .
Im hellsten Tageslicht sah ich sie vor mir stehen und gehen , aber ich sah keine Erde unter ihren lieben Füßen , und es war mir , als ob ich das Beste , was ich je gehabt und noch haben könnte , gewaltsam und unwiederbringlich mit ihr verloren hätte .
Ich dachte an die Flucht der räuberischen Zeit , seufzte und schüttelte leise den Kopf , und erst jetzt wurden durch den Klang der Schellen meine Gedanken ganz wach und geordnet , daß ich endlich auch der Mutter gedachte , freilich nur wie eines Selbstverständlichen und Unverlierbaren , wie eines guten Hausbrotes ; denn daß ein solches eines Tages am ehesten abhanden kommen kann , hatte ich noch nicht erfahren .
Dennoch dachte ich mit ziemlichem Ernste an die Frau in der stillen Stube ; schon ging ich in meinem zweiundzwanzigsten Jahre , und noch hatte ich ihr keine klare Rechenschaft ablegen können über den Stand meiner irdischen Aussichten , über die Frage des Fortkommens in der Welt .
Rasch rückte ich das Täschchen herum , das an meinem Gurte hing und neben dem Schnupftuch und anderen Dingen einen Teil der letzten Barschaft enthielt , die ich noch zu verzehren und die mir die Mutter , wie die früheren Summen , pünktlich und getreulich vor kurzer Zeit gesendet hatte .
Freilich nützte das Zählen jetzt nichts , und ich schob die Tasche wieder zurück , verhehlte mir aber nicht , daß meine kleine Hausvorsehung zu Hause die Teilnahme an dem Feste nicht billigen werde .
Das Narrenkleid kostete zwar nicht viel , und ich hatte es auch hauptsächlich aus diesem Grunde gewählt ; dennoch konnte die Stunde kommen , wo ich den bescheidenen Betrag bitter entbehren mußte .
Doch jetzt verstand ich besser als die Mutter , was nötig und ersprießlich war für einen jungen Gesellen , besonders als ein frisches Lied aus dem Lager der Freude herübertönte .
Ich schüttelte abermals den Kopf , daß die Schellen klangen , sprang auf und eilte davon .
Ich trieb mich vergnüglich herum und machte allerlei Gänge in die Landschaft hinein , bald mit anderen , bald allein .
Gegen Mittag lief ich dem stattlichen Erikson in die Hände , der eben aus der Stadt geschritten kam .
Unser erstes Gespräch war das Benehmen unseres Freundes Lys. Erikson zuckte die Achsel und sagte nicht viel , während ich mein Erstaunen ausdrückte und viele Worte machte , wie jener so schmählich handeln könne .
Ich ergoß mich im schärfsten Tadel und um so lauter , als ich das dunkle Gefühl empfand , ich sei bei der verwirrten Umhalsung Agnesens in verwichener Nacht einer unerlaubten Anwandlung nur mit Not entgangen .
Meine Selbstgerechtigkeit stand ja auf festen Füßen , weil ich durch das erwachte Andenken an Judith und ein starkes Heimweh nach ihr mich jetzt sicher fühlte .
Und allerdings war es eigentümlich , daß Erlebnisse , die in vergangenen Tagen gefährlich und ungehörig für mich gewesen , jetzt dazu dienen mußten , mich gegen Verlockungen der heutigen Stunde zu schützen .
" Ich will wetten " , unterbrach mich Erikson , " daß er das arme Ding heute sitzenläßt und nicht mitbringt .
Wir sollten ihm aber einen Streiche spielen , damit er zur Vernunft kommt .
Nimm einen Wagen , fahre in die Stadt und sieh ein wenig zu !
Findest du den Tollkopf nicht zu Hause noch bei dem Mädchen , so bringe dieses ohne weiteres mit , und zwar in Rosaliens Namen und Auftrag , so kann die Mutter nichts dagegen haben ; ich werde das verantworten .
Zu Lys wirst du nachher einfach sagen , daß du für deine Pflicht gehalten , dem Gebote nachzukommen , da er dir die Schöne in letzter Nacht so beharrlich anvertraut . "
Ich fand diesen Einfall nur in der Ordnung und fuhr sogleich in die Stadt .
Auf dem Wege begegnete ich Lys , der ganz allein in einer Kutsche saß , in einen warmen Mantel gehüllt ; die kegelförmige Königsmütze mit ihren Anhängseln , der wunderlich gelockte schwarze Bart verrieten aber genügsam den festschwärmenden Nachzügler .
" Wohin willst du ? " rief er mir zu .
" Ich soll " , erwiderte ich , " dich aufsuchen und sehen , daß du das gute Mädchen Agnes mitbringst , im Falle du es nicht ohne hin tun würdest !
Dies scheint nun so zu sein , und ich will sie holen , wenn du nichts dagegen hast , und in deinem Namen .
Eriksons schöne Witwe wünscht es . "
" Tu das , mein Sohn ! " sagte Lys möglichst gleichgültig , obschon er sichtlich etwas überrascht war .
Er hüllte sich dichter in den Mantel , indem er seinem Kutscher barsch befahl weiterzufahren , und ich hielt bald nachher vor Agnesens Wohnung .
Das Pferdegetrampel und Rollen der Räder sowie das plötzliche Stillstehen widerhallte in ungewohnter Weise auf dem still entlegenen Plätzchen , so daß Agnes im selben Augenblicke mit strahlenden Augen ans Fenster fuhr .
Als sie mich aussteigen sah , verschleierte sich der Blick wieder , doch harrte sie noch erwartungsvoll , als ich in die Stube trat .
Ihre Mutter war auch da , beschaute mich von allen Seiten , und indem sie fortfuhr , mit einer alten Straußenfeder ihren Altar , das darüber hängende Bild , die Porzellantassen und Prunkgläser , auch die Wachslichter abzustäuben und zu reinigen , fing sie an zu plaudern : " Ei , da kommt uns ja auch ein Stück Karneval ins Haus , gelobt sei Maria !
Welch allerliebster Narr ist der Herr !
Aber was Tausend habt Ihr denn ?
was hat Herr Lys nur mit meiner Tochter angefangen ?
Da sitzt sie den ganzen Morgen , ißt nichts , schläft nicht , lacht nicht und weint nicht !
Dies ist mein Bild , Herr , wie ich vor zwanzig Jahren gewesen bin !
Doch Sie haben es , glaube ich , auch schon gesehen !
Dank unserem Herren und Heiland , man darf es noch betrachten !
Sagen Sie nur , was ist es mit dem Kinde ?
Gewiß hat Herr Lys sie zurechtweisen müssen , ich sage es immer , sie ist noch zu dumm und ungebildet für den feinen Herren !
Sie lernt nichts und beträgt sich unschicklich .
Ja , ja , sieh nur zu , Agnes ! lernst du das von mir ?
Siehst du nicht auf diesem Bild , welchen Anstand ich hatte , als ich jung war ?
Sah ich nicht aus wie eine Edelfrau ? "
Ich antwortete auf alles dies mit meiner Einladung , die ich sowohl in Lysens als in Frau Rosaliens Namen ausrichtete ; auch brachte ich einige Gründe vor , warum jener nicht selbst kommen könne , indes die Mutter einmal über das andere rief : " So mache , so mache , Nesi !
Jesus Maria , wie reiche Leute sind da beisammen !
Ein bißchen zu klein , ein bißchen zu klein ist die gnädige Frau , sonst aber reizend !
Nun kannst du nachholen , was du gestern etwa versäumt und verbrochen !
Gehe , kleide dich an , Undankbare ! mit den kostbaren Sachen , die Herr Lys dir geschenkt !
Da liegt der Halbmond am Boden !
Aber zuerst muß ich dir das Haar machen , wenn es der Herr erlaubt ! "
Agnes setzte sich mitten in die Stube , und ihre Wangen röteten sich leise von wiederaufkeimender Hoffnung .
Die Mutter frisierte sie nun mit großer Geschicklichkeit .
Sie führte nicht ohne Anmut den Kamm , und als ich die hochgewachsene Frau betrachtete und die immer noch schönen Anlagen und Züge ihres Gesichtes sah , mußte ich gestehen , daß ihre Eitelkeit einst berechtigt gewesen sei .
Agnes saß mit bloßem Halse , von der Nacht der aufgelösten Haare umschattet , und es gewährte mir einen lieblich ruhevollen Anblick , wie die Mutter die langen Stränge kämmte , salbte und flocht und dabei weit zurücktreten mußte .
Sie sprach fortwährend , indessen wir anderen schwiegen und wohl wußten warum .
Ich merkte aus allen den Reden , daß Agnes ihrer eigenen Mutter von dem Unsterne der Nacht noch nichts anvertraut hatte , und entnahm daraus , wie grausam die Sache sie würgen mußte .
Endlich war das Haar ungefähr so gemacht , wie es gestern gewesen , und Agnes ging mit der Mutter nach ihrem gemeinsamen Schlafzimmer , das Dianengewand wieder anzuziehen ; sobald sie aber damit nur einigermaßen zustande gekommen , erschienen sie wieder und vollendeten den Anzug in meiner Gegenwart , weil die Alte sich unterhalten und soviel möglich von dem Feste , und wie alles verlaufen sei , erfahren wollte .
Dann aber kochte sie schnell eine kräftige Schokolade , ihre Lieblingsnahrung , deren Bestandteile nebst Gebäck sie schon seit dem frühen Morgen in Bereitschaft gehalten für den erwarteten Besuch des assyrischen Königs .
Jetzt mußte das duftende Getränk der genügsamen Frau zugleich das Mittagsmahl versehen , und sie ließ es sich eifrig schmecken , denn sie hatte eine ausreichende Menge gebraut ; auch Agnes nahm zwei Tassen zu sich und aß ein gutes Stück Kuchen , und ich hielt vergnüglich mit , obgleich ich schon Verschiedenes genossen hatte .
So erlebt der Mensch mancherlei Unterkunft in seinen Tagen ; es ist mir kaum mehr glaublich , daß ich einst in solcher Tracht , in einem so kunstreich zierlichen Baudenkmälchen , zwischen der Diana und der alten Sibylle gesessen und friedlich gefrühstückt habe .
Weil das Wetter so schön war und die Alte es verlangte , um vor ihren Nachbaren zu triumphieren , wurde die Decke des Wagens niedergelassen , als wir wegfuhren , und sie schwenkte ihr Tuch aus dem offenen Fenster unter Abschiedsgrüßen und Glückwünschen .
Agnes aber seufzte dabei verstohlen und atmete erst etwas freier , als wir vor dem Tore waren .
Ohne der Vorfälle der letzten Nacht mit einem Worte zu gedenken , fing sie an zu plaudern .
Ich mußte berichten , wie die heutige Lustbarkeit sich veranlaßt habe , wer draußen zu treffen sei und wann wir wieder zurückkehrten ?
Denn sie wagte noch nicht , offen vorauszusetzen , wie sie hoffte , daß sie nicht mit mir , sondern mit Lys heimfahren werde .
Ich wußte noch weniger einen Aufschluß zu erteilen und sprach , die allgemeine Vermutung aus , es werde die ganze Gesellschaft zusammen aufbrechen , und wenn es auf mich ankomme , so gehe man heute überhaupt noch nicht heim !
Da sei sie auch dabei , sagte sie fast so fröhlich , wie wenn es ihr Ernst wäre .
Als wir schon das weiße Landhaus in einiger Entfernung glänzen sahen , geriet Agnes aufs neue in Bewegung ; sie wurde rot und blaß , und da sich zur Seite der Straße auf einem kleinen Hügel eine Kapelle zeigte , verlangte sie auszusteigen .
Sie eilte , ihr Silbergewand zusammenfassend , den Stufen weg hinan und ging in das Kirchlein ; der Kutscher nahm seinen Hut ab , stellte ihn neben sich auf den Bock , bekreuzte sich und betete , die fromme Muße benutzend , ein Vaterunser .
So blieb mir nichts übrig , als verlegen unter die Kapellentür zu treten und zu warten , bis die unerwartete Zwischenhandlung vorüber war .
An einem der Türpfosten sah ich ein gedrucktes Gebet hinter Glas gefaßt aufgehängt , welches ungefähr folgende Überschrift trug Gebet zur allerlieblichsten , allerseligsten und allerhoffnungsreichsten heiligen Jungfrau Maria , der gnadenreichen und hilfespendenden Fürbitterin Mutter Gottes .
Approbiert und zum wirksamen Gebrauche empfohlen für bedrängte weibliche Herzen durch den hochwürdigsten Herren Bischof usw .
Dazu war noch eine Gebrauchsanweisung gefügt , wie viele Ave und andere Sprüche herzusagen seien .
Dasselbe Gebet lag auf Pappe gezogen auf ein paar alten Holzbänken umher .
Sonst zeigte das Innere der Kapelle nichts als einen einfachen Altar , der mit einer verblichenen veilchenfarbigen Decke behangen war .
Das Altarbild zeigte den Englischen Gruß , von roher Hand gemalt , und vor demselben stand noch ein kleines Marienbildchen im starren Reifröckchen von Seide und Metallflittern in allen Farben .
Rings um den Altar hingen an der Wand geopferte Herzen von Wachs , in allen Größen und auf die mannigfaltigste Weise verziert ; im einen steckte ein seidenes Blümchen , im anderen eine Flamme von Rauschgold , das dritte durchbohrte ein Pfeil , wieder ein anderes war ganz in rote Seidenläppchen gewickelt und mit Goldfaden umwunden , und eines war gar mit großen Stecknadeln besetzt wie ein Nadelkissen , wohl zur Schilderung der schmerzlichen Pein seiner Spenderin ; dagegen schien ein mit grüner Farbe und vielen roten Röschen bemaltes Herz von der zur Zufriedenheit gelungenen Heilung Kunde zu geben .
Leider versäumte ich , den Text des Gebetes selbst zu lesen , weil ich nur auf die Beterin sehen mußte , die in ihrem heidnischen Göttergewande , den keuschen Halbmond über der Stirn , auf der Altarstufe vor dem wächsernen Frauenbilde kniete , mit zitternden Lippen das Gebet von einem der Pappdeckel ablas , dann die Hände faltete , zu dem Bilde aufblickte und die vorgeschriebene Zahl der übrigen Sprüche , die zum Glücke nicht groß war , leise murmelte oder flüsterte .
In dieser großen Stille und bei diesem Anblicke fühlte ich das Ineinanderweben der Zeiten , und es war mir fast zu Mut , als lebte ich vor zweitausend Jahren und stünde vor einem kleinen Venustempel irgendwo in alter Landschaft .
Ich dünkte mich jedoch unendlich erhaben über die Szene , so artig sie war , und dankte meinem Schöpfer für das stolze und freie Gefühl , das mich beseelte .
Endlich schien Agnes sich der Hilfe der Himmelskönigin genügsam versichert zu haben ; sie erhob sich mit einem Seufzer und ging nach dem in meiner Nähe hängenden Weihkessel .
Da sah sie mich in der Türe gelehnt , wie ich sie aufmerksam betrachtete , und erinnerte sich über meiner ganzen Haltung daran , daß ich ein Ketzer war .
Ängstlich tauchte sie den Wedel tief in den Kessel , eilte mir damit entgegen und besprengte mir das Gesicht über und über mit Wasser , indem sie mit dem Wedel viele Kreuze schlug .
So hatte sie mich in weniger als zwölf Stunden zum zweiten Male durchnäßt , erst mit ihren Tränen und nun mit dem Weihwasser , und ich rückte doch den Hals etwas unbehaglich her und hin , da mir die Feuchte in den Nacken rieselte .
Das doppelt mythologische Geschöpf aber war nun über die schädliche Einwirkung meiner Ketzerei beruhigt ; sie ergriff meinen Arm und ließ sich wieder in die Kutsche bringen , deren Lenker seine geistliche Erquickung längst beendigt hatte und zur Weiterfahrt bereit war .
Er machte ein kurios lächelndes Gesicht gegen mich , weil er den Volksglauben kannte , der an dem kleinen Gnadenörtchen haftete .
Er selbst mochte den weichlichen Liebessegen nur mitgenommen haben , wie ein derberer Trinker etwa aus Versehen ein Gläschen süßen Likörs schnappt , das gerade dasteht .
Der Landsitz , bei dem wir anlangten , war schon ziemlich belebt ; in einem geräumigen Gartenland gelegen , zeigte seine gemischte Bauart , daß er früher den Zwecken einer Gastwirtschaft gedient und erst seit neuerer Zeit und jetzt noch in der Umwandlung zum Sommerhaus einer Familie begriffen war , wo ein Pächter oder Wirtschaftsführer zugleich für allerhand haushälterischen Nutzen sorgte .
So kam jetzt vorzüglich der gute Rahm bei dem erquicklichen Kaffeetrinken zustatten , welches Frau Rosalie für den Empfang der Gäste veranstaltet hatte .
Die Sonne schien so warm , daß mehrere den Trank im Freien , vor den Türen der neueingerichteten Gartenzimmer , genossen , während andere inwendig um die Kaminfeuer oder gar in einer alten Wirtsstube beim geheizten Ofen saßen .
Ich war nicht viel kecker als meine Schutzbefohlene und drang sachte mit ihr vor ; doch wurden wir bald von der schönen Wirtin entdeckt , die jetzt in stattlichem Seidenkleide sich munter bewegte und Agnesen unverweilt ins Innere des Hauses führte .
" Die Göttertracht " , sagte sie , " will sich doch nicht recht für unser Klima schicken , besonders für uns Frauen !
Gehen wir hinein , wo es ein Feuer gibt !
Auch der König von Babylon oder Ninive , Herr Lys , ist drinnen ; denn er würde hier erfrieren . "
Lys hatte es in der Tat mit seinen bloßen Armen und im Batisthabit nicht im Freien ausgehalten und saß nicht eben in bester Laune an einem großen Ofen ; auch der Kaffee , für uns andere gut genug , vermochte nicht die Sorgen zu zerstreuen , die auf seiner Stirn lagerten .
Die Alltagstracht , in welcher er unerwartet nicht nur Frau Venus , sondern auch Erikson angetroffen , hatte diese Sorgen heraufbeschworen , und mehr noch die rüstige Tätigkeit des guten Freundes , den man bald ein Fass des besten Bieres über den Hof rollen , bald einige Brote zerschneiden oder sonst etwas hantieren sah , als stände er da Tagelohn .
Der Anblick Agnesens war dem düstern Assyrer unter solchen Umständen nicht unwillkommen .
Er bot ihr sofort freundlich den Arm als einer schicklichen Ergänzung für die Zeit der Einsamkeit oder Abwesenheit Rosaliens , welche sich vor dem Hause aufhielt , um nicht nur die vom Walde herüberkommenden Festgenossen , sondern auch verschiedene ihr verwandte und befreundete Personen zu empfangen ; denn auch solche hatte sie in der Schnelligkeit herbeirufen lassen .
Gerade die ungewohnte Heftigkeit der Leidenschaft , die Lys befallen , hieß ihn auch , wie einen Kriegshelden im Felde , eine verdoppelte Wachsamkeit üben ; er konnte jetzt eine gefährliche Erkältung oder gar tödliche Krankheit nicht brauchen und mußte die Torheit seiner Kleidung durch vorsichtige Zurückhaltung gutmachen ; und da diente ihm nun die silberne Diana , deren Gewänder er ja gekauft hatte , trefflich zur Verhüllung seiner Lage .
So war sie jetzt an seiner Seite , in der Heimat ihrer Liebe , und schien zu ihrem Rechte zu kommen .
Aber sie zeigte keinen Triumph , keine Überhebung , sondern atmete nur etwas ruhiger auf , die innere Glut bis auf weiteres verschließend ; denn sie hatte in kurzer Zeit zu Schlimmes erfahren , um es schon vergessen zu können .
Sie ging vielmehr mit gesammeltem Ernste am Arme des schönen Großkönigs durch die Zimmer , der sich scherzend für den alten Nimrod ausgab und behauptete , er habe mit bekanntem Jägerglück die Göttin der Jagd selbst gefangen .
Erst als sie an einem großen Spiegel vorübergingen , kannte sie deutlicher seine veränderte , glänzende Tracht und Gestalt , sah sich selber daneben und die Blicke der Anwesenden , welche das eigentlich leuchtende Paar mit Verwunderung vefolgten .
Da überflog eine leichte heitere Röte das weiße Gesicht ; allein sie hielt sich tapfer zusammen und bewahrte das gleichmütige Aussehen , obschon sie vielleicht die einzige Person im Hause war , auf welche Lysens auffälliger Putz in dem verführerischen Sinne wirkte , wie seine Verirrung es wollte .
Inzwischen ertönte aus den entlegeneren Räumen des Hauses eine lockende Tanzmusik , wie es von dem jungen Volke und der Karnevalszeit nicht anders zu erwarten war .
In einem ehemaligen Wirtschaftssaale war noch die kleine Tribüne der Spielleute vorhanden , mit bunten Teppichen behängt und mit Topfpflanzen verziert worden .
Auf diesem Gestelle saßen vier musizierende Kunstgesellen , die ihre Instrumente herbeigeschafft hatten , auf denen sie an manchen Abenden zusammen zu spielen pflegten , als unter sich verbundene , sinnig lebende Leute .
Sie wurden die vier frommen Geiger genannt , weil sie teils aus Liebhaberei , teils auch um einen kleinen Nebengewinn zu erzielen , sonntags auf dem Chore einer der vielen Kirchen der Stadt mitspielten .
Ihr Hauptmann war ein hübscher bräunlicher Rheinländer von etwas untersetzter Gestalt , mit heiteren Augen und treuherzigem Munde , der von krauslichem Barte umgeben war .
Er hieß bei der Künstlerschaft der Gottesmacher , weil er nicht nur silberne Kirchengeräte von guter Form schmiedete , sondern auch Kruzifixe und Muttergottesbilder sauber in Elfenbein schnitt und zur tieferen Ausbildung in diesen Übungen vom Rheine herübergekommen war .
Überall wohlgelitten , bezeigte er keineswegs eine fanatische Gesinnung und wußte eine Menge lustiger Pfaffenstücklein zu erzählen .
Dergestalt logierte er in dem katholischen Wesen wie in einer alten Gewohnheit , die nicht zu ändern ist , dachte darüber niemals nach und führte übrigens stets ein Fass eigenen Weines aus der Heimat mit sich , das er schleunigst zum Füllen sandte , wenn es leer geworden .
Der Gottesmacher handhabte das Cello , und zwar in der Tracht eines Winzers aus dem Bacchuszuge ; die erste Violine spielte der lange Bergkönig , der seinen Bart beiseite gelegt hatte und nun als ein junger Bildhauer zum Vorschein kam .
Er modellierte , wie man sagte , seit zwei Jahren an einer Kreuztragung , konnte aber nicht von einem bekannten klassischen Vorbilde abkommen ; dafür strich er um so fertiger die Geige .
Die mittleren Spieler waren zwei Glasmaler ; sie machten an den Kirchenfenstern die prächtigen Teppichmuster und anderes Beiwerk und ließen sich nie einer ohne den anderen sehen .
Sie waren zu uns aus dem Zug der Nürnberger Zünfte herübergekommen , wo sie unter den Meistersingern gegangen ; ich aber kannte die ganze Musik vom Mittagstische her , den ich in einer billigen Wirtschaft aufzusuchen gewohnt war .
Viele gute Brüder lösten sich dort an den stets vollbesetzten Tischen täglich ab ; aber die beiden Glasmaler waren die einzigen , welche ihr Geld in rundlichen wohlverschnürten Lederbeutelchen führten ; denn sie freuten sich ihres bescheidenen , aber sicheren Erwerbes , lebten sparsam und verdienten jeden Sonntag einen Extragulden mit der Kirchenmusik .
Doch heute taten die vier um der Freude Willen ein übriges und lockten mit recht wohlgezogenem Tone das Volk zum Tanze .
Bald drehte sich ein halbes Dutzend Paare bequemlich im weiten Raume , darunter Agnes mit Lys , in dessen Arm sie mit erwachender Glückseligkeit dahinschwebte , zum ersten Male seit dem Beginne des ganzen Festes .
Das Gebet in der Kapelle schien geholfen zu haben ; freilich gehörten auch so fromme Spielleute dazu , und besonders der Gottesmacher , der die Gestalt mit glänzenden Augen verfolgte , drückte jedesmal , wenn sie in seine Nähe kam , den Cellobogen mit vollerer und doch weicher Kraft auf die Saiten und gab seinem Wohlgefallen auf diese Weise den zierlichsten Ausdruck .
Ich saß ausruhend bei einem Krüglein frischen Bieres an einem Tischchen , beobachtete ihn mit Vergnügen und begriff vollkommen , wie dem Arbeiter in Silber und Elfenbein das feine Wesen einleuchten mußte .
Nun ging es diesem während ein paar Stunden nach Wunsch ; die frommen Geiger spielten als Freiwillige nicht zu oft , so daß niemand ermüdet wurde und genügsam Zeit zu geruhiger Unterhaltung übrigblieb .
Die Sonne ging dem Untergange entgegen , und im Hause begann es zu dämmern ; Erikson erschien an allen Enden gleich einem Haushofmeister und ließ die Lichter anzünden , aufhängen , hinstellen , wie es gehen wollte .
Dann verschwand er wieder , um in einem neueren Saale das einfache Abendessen zu ordnen , mit welchem die frohsinnige Witwe ihre Eingeladenen bewirten wollte so gut es sich in der Eile habe tun lassen , teilte der Unermüdliche entschuldigend mit , als ob es bereits seine eigene Angelegenheit wäre .
Lys indessen ging ab und zu , sich anderwärts umzusehen ; endlich aber kam er nicht mehr zurück .
Wir harrten seiner beinahe eine Stunde ; Agnes verhielt sich schweigend und gab mir kaum eine Antwort , wenn ich das Wort an sie richtete ; auch mit anderen wollte sie weder plaudern noch tanzen .
Zuletzt , da ich sah , daß sie des Wartens müde war und wieder zu leiden begann , schlug ich ihr vor , in die anderen Teile des Hauses zu gehen und zu betrachten , was alles dort vorfiele .
Das nahm sie an , und ich führte sie langsam durch verschiedene Räume , wo sich überall einzelne Gesellschaften vergnügten , bis wir in ein Kabinett gelangten , in welchem an zwei oder drei kleinen Tischen behaglich gespielt wurde .
An einem derselben saß Lys , der Hausherrin gegenüber und zwischen zwei älteren Herren , und spielte eine Partie Whist ; denn die letzteren gehörten zu Rosaliens Verwandten , welchen sie die Zeit so angenehm als möglich zu vertreiben wünschte , und natürlich hatte sich Lys beeilt , das Opfer mit ihr zu teilen .
Er war so glücklich und in seine Lage vertieft , daß er gar nicht bemerkte , wie wir dem Spiele zuschauten und sich noch andere Zuschauer sammelten .
Die Partie ging zu Ende ; Lys und Rosalie hatten den alten Herren einige Louisdors abgenommen , was den Unverbesserlichen als ein günstiges Zeichen so bewegte , daß er seine Freude nicht verbergen konnte .
Doch Rosalie nahm die Karten zusammen und bat die Spieler , zu welchen auch die von den anderen Tischen getreten waren , eine kleine Rede von ihr anzuhören .
" Ich habe mich " , begann sie mit artiger Beredsamkeit , " bisher arg gegen die Kunst versündigt , indem ich , obgleich mit Glücksgütern gesegnet , soviel wie nichts für sie getan habe !
Ich bin um so tiefer beschämt , als es mir so gut unter den Künstlern ergeht , und ich glaube auch schon meine Dankbarkeit für die ehrenvolle Anwesenheit so fröhlicher Musenkinder am besten einigermaßen abzutragen , wenn ich endlich beginne , etwas Nützliches zu tun .
Nun aber ist es eine bekannte Eigenschaft der Protektoren und Gutesstifter , daß sie für ihre Sache stets Teilnehmer anwerben und möglichst ins Breite wirken müssen , damit das Gute um so mehr Boden gewinne .
So hören Sie denn , werte Freunde !
Am heutigen Nachmittage , als ich um das Haus herumging , irgendeinen Dienstboten zu rufen , fand ich in einer verborgenen Ecke des Gartens den jüngsten und zierlichsten unserer Gäste , den Pagen Gold des Herren Bergkönigs , der am Zuge so großmütig seine Schätze ausgestreut hat .
Der noch nicht siebzehn Jahre zählende Knabe stand bei seinem Genossen , dem Pagen Silber , einen offenen Brief in der Hand , bleich und entsetzt und schwere heiße Tränen in seinen hübschen Augen zerdrückend .
In der offenen und teilnehmenden Stimmung , in der wir uns ja alle befinden , konnte ich mich nicht enthalten , hinzuzutreten und mich nach der Ursache solchen Leidwesens freundlich zu erkundigen .
Da vernehme ich , daß schon in den gestrigen Abendzeitungen die Nachricht von einem großen Feuer gestanden hat , welches seit Tagen in der fernen Vaterstadt des trauernden Knaben watet , während wir in unserem Freudengedränge hiervon keine Ahnung hatten .
Und heute bringt der Silberpage , der in der Morgenfrühe ordentlich schlafen gegangen ist und mittags seinen Freund abholen wollte - denn beide sind Zöglinge unserer Akademie und arbeiten nebeneinander - , heute nachmittags bringt er jenen Brief hier hinaus , wo er den Freund aufgesucht hat .
In dem Briefe steht , daß auch die Straße , darin jener geboren und seine alternde Mutter wohnt , bereits in Asche liegt und die Mutter ohne Obdach ist .
Ich lasse durch Herren Erikson in der Eile weitere Nachfrage halten .
Der blutjunge Mensch , ungewöhnlich begabt , ist in ungewohnt frühem Alter hierhergesandt worden , um mit Hilfe einiger geringer Sparmittel sich frühzeitig emporzubringen , ein Wagnis , welches sich bis jetzt durch den glücklichen Fleiß des Schülers zu rechtfertigen schien .
Nun ist alles in Frage gestellt !
Nicht nur sind vielleicht die Existenzmittel durch das Feuer für immer verloren , sondern der arme Gesell kann im Augenblicke nicht einmal hineilen und sein Mütterchen in dem Elend und Wirrsal aufsuchen , weil er die paar Taler , die hierzu dienen würden , an die Kosten dieses Karnevals gewendet hat , überredet von anderen , die seine glückliche Knabengestalt nicht entbehren mochten ! und weil er ohnedies gerade einer Sendung von Hause entgegensah , die nun nicht kommen kann .
Und eben über seinen vermeintlichen Leichtsinn macht er sich die bittersten Vorwürfe und will in Selbstanklagen vergehen , wie wenn er das entsetzliche Feuer selber angezündet hätte !
Ich habe den unseligen Pagen , dem das Goldausstreuen so schlecht bekommen ist , sogleich veranlaßt , nach seiner Wohnung zu gehen und seine Sachen zu packen ; allein mich dünkt , man sollte trachten , daß er auch wieder kommen und weiterlernen kann , sobald das Mütterchen versorgt und beruhigt ist .
Mit einem Wort ich möchte für den Unglücksvogel eine bescheidene Pension stiften , die ein paar Jährchen hinreicht , und hier den Anfang machen !
Ich lege die Karten aus , halte Bank , wie ich es leider an Badeorten gesehen habe , als ich meine seligen Eltern dahin begleiten mußte .
Wer verliert , muß es verscherzen ; wer gewinnt , legt die Hälfte des Gewinnes in diese Schale , die den Pensionsfonds vorstellt !
Spielen dürfen nur Nichtkünstler ; Herr Lys ist ausgenommen , der nicht von seiner Kunst lebt , wie ich höre ! "
Nach diesen Worten zog sie eine beschwerte Börse und legte sie vor sich auf den Tisch .
Dann mischte sie die Karten und rief : " Also machen Sie Ihr Spiel , Herren und Damen !
Rot oder Schwarz ? "
Die etwas überraschte Gesellschaft zögerte ein paar Sekunden ; da setzte Lys ritterlich ein Goldstück und gewann .
Rosalie zahlte ihm die Hälfte und warf die andere in eine geleerte Zuckerschale , die gerade zur Hand war .
" Schönsten Dank , Herr Lys !
Wer setzt weiter ? " sagte sie fröhlich und huldvoll .
Ein älterer Mann , den sie mit " Brav , Herr Oheim ! " anredete , setzte ein Zweiguldenstück und gewann auch .
Sie legte einen Gulden in die Schale und gab ihm den anderen samt seinem Einsatz .
Drei oder vier Damen , hierdurch ermutigt , wagten gleichzeitig jede ein Guldenstück und verloren , und Rosalie warf lachend für jede einen halben Gulden in das Gefäß .
Die Frauen zu rächen , wie er sagte , legte Lys abermals einen Louisdor hin , worauf einige Herren sich mit doppelten Talerstücken einstellten und auch die Frauen sich wieder mit einzelnen halben , ja ganzen Gulden hervorwagten .
Das Gewinnen und Verlieren wechselte ziemlich gleichmäßig , aber stets fiel etwas in die Zuckerbüchse , und wenn auch langsam , wuchs der Pensionsfonds , wie Rosalie es nannte , doch sichtbarlich an .
Doch Lys rief jetzt :
" Das geht zu sachte voran ! " und setzte vier Goldstücke , den Rest des Bargeldes , das er in seiner Börse trug .
" Schönen Dank abermals ! " sagte Rosalie , als sie gewann und die Hälfte in die Schale warf .
Es war nicht recht ersichtlich , ob Lys sich mit ihr freute ; doch ergriff er einen Stuhl und setzte sich der schönen Frau gegenüber , indem er rief :
" Noch immer besser muß es kommen ! "
Er pflegte niemals auszugehen , ohne eine größere Summe Geldes in Noten bei sich zu tragen , einer langjährigen Reisegewohnheit zufolge .
Auch jetzt hielt er die Brieftasche in seinen Gewändern irgendwo versorgt , zog sie hervor und legte eine Note von hundert rheinischen Gulden hin , dann , als er sie verlor , die zweite , dritte und so weiter bis zur zehnten , welches die letzte war .
Der ganze Vorgang , Zug um Zug , dauerte nicht länger als zwei Minuten , so daß Rosalie mit einem einzigen strahlenden Blicke und einem einzigen Lächeln , das sie , fast ohne zu atmen , auf Lysen gerichtet hielt , ausreichte von der ersten bis zur letzten Note , welche sie ohne Abzug einer Hälfte vorweg in die Schale warf .
Die blitzartige Schnelligkeit , mit welcher der Zufall spielte , verlieh der Szene eine eigentümliche Anmut und brachte den Eindruck hervor , wie wenn die rosige Bankhalterin mehr als Brot essen könnte , das heißt geheimnisvoller Künste mächtig wäre .
" Wir haben genug ! " rief sie , " tausend Gulden ohne das Bare !
Mehr als fünfhundert Gulden soll ein so junger Bursch im Jahr nicht vertun .
Also können wir ihn zwei Jahre durchbringen und wollen das Geld beim Bankier hinterlegen !
Morgen aber soll er vorerst nach Hause reisen ! "
Dann malte sie sich und uns die Erkennungsszene aus , welche zwischen der abgebrannten Mutter und dem unverhofft mit Hilfe erscheinenden Sohne stattfinden werde ; sie beschrieb nochmals , wie der blühende Junge , fern von der Heimat , mitten im Jubel eines Maskenfestes von der Schreckenskunde überfallen , verzweifelt dagestanden und mit den bitteren Tränen gekämpft habe .
Sie war in ihrer Freude jetzt so schön , daß sie den Höhepunkt weiblichen Reizes erreichte und einen Abglanz ihrer Schönheit auf Lysens Gesicht warf , als sie ihm über den Tisch weg die Hand bot , die seinige drückte und herzlich schüttelte , indem sie sagte :
" Freuen Sie sich nicht auch an dem bißchen Sonnenschein , das wir Ihnen danken ?
Ohne Ihren raschen Edelmut wäre ja nicht so bald geholfen !
Sie sollen auch unser Vorsteher sein und mich heute abend zu Tisch führen ! "
Bei diesen Worten schienen ihre Gedanken eine andere Richtung zu nehmen ; sie erhob sich , bat um Entschuldigung und zog sich zurück .
Gleich darauf eilte auch Lys durch die gleiche Türe fort , als ob er etwas Vergessenes zu sagen hätte .
Es dauerte eine halbe Stunde , bis Rosalie an Eriksons Arm wieder erschien , um an der Spitze ihrer lustigen Hausbesatzung zu Tisch zu gehen .
Lys kam nicht wieder ; man hörte , er sei in das Waldlager hinüber , das er auch noch habe in seiner Lustbarkeit sehen und studieren wollen .
Was inzwischen vorgefallen , wurde später ziemlich im Zusammenhänge denjenigen bekannt , die von den Dingen in dieser oder jener Weise berührt waren .
Lys hatte mit stürmischen Schritten , mit plötzlicher Entschlossenheit die Verschwundene verfolgt und in einem einsamen Zimmer erreicht , wo sie mit einem anderen als ihm eine kurze Zwiesprache zu halten dachte .
Ihre beiden Hände ergreifend , erklärte er seine ernste und heilige Liebe und forderte sein Lebensglück und seine Ruhe von ihr , die einzig sie ihm geben könne .
Sie sei das Weib der Weiber , die göttliche Frau , die immer nur einmal in der Welt sei , schön und hell und heiter , wie der Stern der Venus , klug und gütig und nur sich selber gleich .
Er wisse jetzt , warum er sich in Irrsal und Wankelmut umgetrieben , indem er das Beste geahnt und gesucht , aber nicht habe finden können ; aber nun habe er auch die unerbittliche Pflicht und das unveräußerliche Recht , es zu erringen .
Keine Rücksicht dürfe ihn hindern , in so entscheidender Stunde den Schritt über die schwanke , schmale Brücke zum Dasein zu tun und ihr das ungeteilte und ganze , von keinen Zufälligkeiten getrübte Leben anzubieten , ein Leben , das die Notwendigkeit , nicht die eiserne , sondern die goldene , selbst sein würde .
Denn es sei nicht möglich , daß irgendein Lebendiger sie so zu kennen und zu würdigen vermöge wie er , das fühle er untrüglich und glühend , wie ein lohendes Feuer , eine Glut , die zugleich ein Licht , das Licht des Urteils sei , das gegenseitig sein müsse .
Und was solcher großen Worte mehr sein mochten , ihm selbst ungewohnt ; denn er soll dabei so gut und begeistert , ja hinreißend ausgesehen haben , daß es Rosalien unmöglich war , den Überfall mit einer schalkhaften oder verletzenden Wendung abzuweisen , obgleich sie sich schon durch den Anzug , in welchem er heute in ihrem Hause erschienen , unangenehm betroffen fand .
Sie entzog ihm erschreckt die Hände , trat zurück und rief : " Bester Herr Lys ! ich verstehe von Ihren geheimnisvollen Reden nur so viel , daß das Licht , das gegenseitige Urteil , von dem Sie sprechen , uns gänzlich fehlt .
Ich bin nicht das Weib der Weiber , behüte mich Gott davor , da müßte ich ja die Summe aller Schwachheit sein !
Ich bin ein einfaches , beschränktes Wesen und kann zunächst keine Spur einer Neigung zu Ihnen entdecken , und Sie können mich ebensowenig kennen , da Sie mich vor noch nicht vierundzwanzig Stunden zum ersten Mal gesehen haben ! "
Er unterbrach sie jedoch , suchte wieder ihre Hände zu fassen und fuhr fort er kenne sie wohl , samt ihrer Vergangenheit und Zukunft .
Eben daß sie in Demut und Verkennung dahingelebt , sei das Wahrzeichen ihrer Bestimmung , siegreich zur Klarheit und zum Glanze ihres Rechtes zu kommen !
Das sei ja das Tiefsinnige in so vielen Götter- und Menschensagen , daß die himmlische Güte und Schönheit in Dunkelheit und Dienstbarkeit niedergestiegen und aus der rührenden Unkenntnis ihrer selbst zum Bewußtsein gerufen worden seien , das Wesenhafte sich aus dem Staube des Unwesentlichen habe befreien müssen .
Plötzlich schlug sie die Hände zusammen und rief mit klagendem Tone :
" Himmel , welch ein Unglück !
Hätte ich das nur vor acht Tagen gewußt - jetzt ist es wieder einmal zu spät !
Ich bin verlobt , raten Sie , mit wem ? "
" Mit Erikson ! " versetzte er mit einiger Heftigkeit .
" Ich habe mir es halb gedacht !
Aber das tut nichts !
Die echten Schicksalswandlungen gehen über dergleichen hinweg wie ein Morgenwind über das Gras !
Vor dem Entschluss von heute muß der verjährte Willen von gestern verbleichen . "
" Nein ! " erwiderte sie mit Kopfschütteln und scheinbar trauriger Verlegenheit , " ich gehöre zu dem Geschlecht derer , die Wort halten ; ich kann nicht anders , ich gehöre zum Grase ! "
Sie schwieg einen Augenblick , wie um sich zu besinnen , während er mit dringlichen Reden wieder begann ; doch sie unterbrach ihn abermals , als ob sie einen guten Gedanken gefunden hätte .
" Ich habe gehört oder gelesen von ausgezeichneten Frauen , welche mit unbedeutenden Männern friedlich gelebt , indessen sie aber mit höchst bedeutenden Geistern eine Seelenfreundschaft gepflegt haben , wozu jedoch für den Anfang eine beträchtliche Entfernung gehört , bis das beruhigende Alter die rechte Weihe bringt .
Solche Frauen , wenn sie genügsam Kinder geboren und wohl erzogen haben , sollen alsdann nicht selten zum höchsten Verständnis jener Geister sich emporschwingen , da es ihnen nicht mehr an Zeit gebricht , den großen Dingen nachzuleben .
Nun sehen Sie , wie schön wir es doch noch einrichten könnten , wenn wir nur wollten .
Sollte wirklich etwas so Außerordentliches in mir sein , wie Sie mich bald glauben machen , so kann ich ja einstweilen meinen unbedeutenden Erikson heiraten , Sie entfernten sich für ein paar Jahrzehnte - "
Sie schwieg nicht ohne Besorgnis , als Lys mit einem schmerzlichen Seufzer auf einen Stuhl sank und vor sich niedersah .
Er merkte erst jetzt , daß die reizende Frau ihr Spiel trieb , und da er zugleich sein Kleid gewahrte , mochte er der bedenklichen Lage innewerden , in die seine Schwäche ihn geführt , vielleicht auch zum ersten Mal ihn die Empfindung von der dunklen leeren Stelle in seinem sonst so reichen Wesen überschatten .
Ungehört auf den weichen Teppichen des kleinen Zimmers war Erikson schon vor einigen Minuten eingetreten und hinter dem Freunde gestanden , und Rosalie hatte ihre schalkischen Reden in seiner Gegenwart gehalten , die sie mit keinem Zwinkern ihrer Augen verriet .
" Aber , närrischer Kauz " , sagte er , indem er jenem die Hand auf die Schulter legte , " wer wird denn seinen Kameraden die Bräute wegschnappen ? "
Lys schnellte sich herum und sprang auf .
Zur Rechten sah er die Frau , zur Linken den Nordländer stehen , die sich zulächelten .
" Da ! " sagte er mit Lippen , die nicht nur von Reue und Verlegenheit , sondern auch ein wenig von Herzenstrauer verbittert schienen , " da habe ich_es nun !
Das ist die Folge , sobald man sich einmal selbst hingibt .
Nun erfahre ich , wie es tut , wenn einer in die Verbannung geht .
Ich wünsche euch übrigens Glück ! "
Damit wandte er sich rasch und ging fort .
Als es später zur Tafel ging , welche zu einem mehr traulichen als prunkenden Mahle gerüstet war , und Lys nicht wieder erschien , fiel mir abermals die Sorge für die gute Agnes anheim .
Sie hatte , lautlos neben mir stehend , dem Spiele zugeschaut , dann während der langen Pause meinen Arm ergriffen und war mit mir herumgegangen , ohne ein Wort zu sagen .
Ich hatte noch in keiner Weise mit ihr über ihre Sache und ihren Zustand zu reden gewagt und fühlte auch kein Bedürfnis oder Geschick dazu ; aber ich spürte wohl , wie es in ihrem Busen fortwährend arbeitete , zornige und wehmütige Seufzer sich bekämpften und miteinander zerdrückt und hinuntergepreßt wurden .
Ich begleitete sie an den Tisch und kam an ihre Seite zu sitzen .
Als jetzt Erikson eine kurze Rede hielt , das Ereignis der Verlobung verkündigte und die Bitte beifügte , die fröhliche Gesellschaft möchte sein Glück bei dieser guten Gelegenheit mitfeiern helfen , hörte ich , wie Agnes mitten im Geräusch der allgemeinen Überraschung , des Gläserklingens und Hochrufens tief aufatmete .
Wie von einer Last befreit , saß sie einige Minuten in sich gekehrt ; doch da Lys nicht wieder zum Vorschein kam , half ihr ja alles nichts ; sein Abfall trat durch den Vorgang , den sie ahnte , nur um so heller ins Licht , und ihre einfache Seele war nicht geartet , auf sein Mißgeschick neue Pläne zu gründen .
Doch bezwang sie ihren Kummer und hielt tapfer aus , ohne nach Hause zu begehren .
Sie folgte mir sogar , als ich sie zum Anschlusse einlud , da sich alle von ihren Plätzen erhoben , um an der bräutlichen Wirtin glückwünschend und grüßend vorüberzuziehen .
Rosalie war zunächst von ihren Verwandten umgeben , welche von der unerwarteten Verlobung nicht sonderlich erfreut schienen und ziemlich ernsthafte Gesichter machten ; denn die kluge Frau hatte den Tag benutzt , sie in die Falle zu locken und sie zu zwingen , ihrem Verlobungsfeste in ehrbarer Weise beizuwohnen , ohne daß sie , schon der Menge der Gäste wegen , den geringsten Widerstand zu leisten vermochten mit unwillkommenen Warnungen oder Ratschlägen .
Um so lieblich heiterer nahm sich die Zufriedene unter den verdrossenen Vettern und Basen aus .
Nun war es aber ein ergreifender Anblick , wie in der bunten Reihe der vielgestaltigen Gäste auch die Agnes herantrat und das verlassene Weib dem siegreichen seinen Gruß darbrachte .
Sie beugte sich nieder und küßte der Braut die Hand wie das demütige Unglück dem Glücke .
Rosalie sah sie betroffen an und drückte ihr dann teilnehmend die Hand .
Sie hatte das Mädchen ganz vergessen , wie sie in diesem Augenblick auch den schlimmen Lys schon vergessen , und man konnte bemerken , daß sie sich irgend etwas vornahm ; allein die nächste Sekunde entführte ihr das weitereilende Trauerwesen und gab sie selbst ihrer glückseligen Zerstreuung zurück .
Nachdem alle Gäste ihre Plätze wieder eingenommen und eine gleichmäßige , schließlich auch von den doch lebelustigen Vettern geteilte Heiterkeit sich eingestellt , gab es bald einen neuen Unterbruch .
Die Kunde von dem Glückswechsel eines Genossen war rasch in das große Lustlager im Walde gedrungen , wo die unverwüstliche Jugend noch immer hauste .
So marschierte denn jetzt mit Trommel und Pfeife und fliegender Fahne ein Zug Landsknechte zur einen Türe herein , während in der anderen eine Schar lustiger Zunft- und Handwerksgesellen mit ihrer Musik erschien .
Beide Parteien zogen um die Tafel herum , mit Hüteschwingen und lautem Zuruf , und führten sich auf biedere Art zu einem Ehrentrunk ein .
Die bisherige Ordnung wurde dadurch aufgehoben , und Erikson hatte samt den Hausbedienten genug zu tun , den Zuwachs unterzubringen , der so ziemlich alle Räume füllte .
Doch ging alles mit froher und guter Laune vonstatten , die Denkwürdigkeit des Tages steigerte sich zusehends .
Ich fragte Agnes , was sie vornehmen wolle , ob sie nach Hause zu kehren oder noch zu bleiben wünsche ?
Mir wäre das erstere nicht unwillkommen gewesen ; denn so lieblich und ehrenvoll mich die fortgesetzte Obhut eines so unschuldig reizenden Geschöpfes dünkte , empfand ich doch nach Art junger Deutschgesellen den Wunsch , das bisher Versäumte nachzuholen und die letzten Stunden doch noch unter meinesgleichen , ein Freier unter Freien , zu verbringen .
Agnes zögerte mit ihrem Entschluss ; sie schauderte heimlich vor dem Alleinsein in ihrem Hause , wo sie keines rechten Trostes gewärtig war , und mochte sich auch sträuben , die Stelle zu verlassen , wo in jüngster Zeit noch der Geliebte geweilt und sie in neuer Hoffnung gelebt hatte .
So führte ich sie einstweilen in den verschiedenen Gemächern , zwischen den malerischen Zechergruppen herum , überall wo es etwas Merkwürdiges zu sehen gab , wie der unermüdliche Einfall einzelner oder vieler es stets neu gebar .
Auf unserer Wanderung hörten wir einen wohltönenden vierstimmigen Gesang und gingen ihm nach .
Am Ende eines schwach erleuchteten Flures fanden wir einen erkerartigen Ausbau , der wegen seiner Fenster zu einer kleinen Orangerie diente ; denn er war mit etwa einem Dutzend Orangen- , Granat- und Myrtenbäumen besetzt , zwischen welche der Gottesmacher und seine Leute ein Tischchen gestellt und sich niedergelassen hatten .
Über dem Eingange hing ein altes eisernes Schenkezeichen in Gestalt eines Pentagramms oder Drudenfußes , das von ihnen in irgendeinem Winkel aufgefunden und herbeigebracht worden .
Da saßen sie nun , der rheinische Winzer , der Bergkönig und die zwei glasmalenden Meistersinger , und zeigten , daß sie im vierstimmigen Zusammensingen nicht minder geübt waren als im Saitenspiel .
Als wir vor ihrer Herberge standen und zuhörten , nötigten sie uns sofort , bei ihnen Platz zu nehmen , indem sie zusammenrückten und Stühle herbeiholten .
Zu meiner Verwunderung ließ Agnes sich das gern gefallen ; der Gesang schien ihr Herz anzulocken , zu beschäftigen und still zu machen .
Um jene Zeit waren einige alte deutsche Volkslieder zuerst wieder hervorgezogen und von lebenden Komponisten sangbar gemacht worden .
Ebenso wurde , was von Eichendorff , Uhland , Kerner , Heine , Wilhelm Müller im Tone jener Lieder vorhanden , von den Sangmeistern in mehr oder minder schwermütige Noten gesetzt und eben als das Neuste von der geschulten Männerjugend gesungen , ehe es , teils zum zweiten Male , ins Volk überging .
Noch nie hatte Agnes dergleichen gehört .
Soeben war das Lied " Am Brunnen vor dem Tore , da steht ein Lindenbaum " zu Ende , und es kam " Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht " .
Alte Scheidelieder , Todeskundschaften , Klagen um entschwundenes Glück , Lenzverheißungen , die Lieder vom Mühlrad und vom Tannenbaum , Uhlands " Nun , armes Herz , vergiß der Qual , nun muß sich alles , alles wenden " eins nach dem anderen kam zum reinen und ausdrucksvollen Vortrag , wobei der Gottesmacher mit seinem hellen Tenor die Oberstimme führte , der Bergkönig den Bass sang und die Glasmaler andächtig dazwischen mitliefen , zuverlässig auf Ton und Takt haltend .
Agnes lauschte unverwandt , und altes , was sie hörte , schien wie für sie gemacht und aus ihrer eigenen Brust zu kommen .
Indem sie nach jedem Liede erleichternde Atemzüge tat , wurde sie zusehends ruhiger und freier .
Ein sonniger Frohsinn ging um unsere kleine , halb verborgene Tafelrunde ; es war , wie wenn alle stillschweigend fühlten , daß ein bedrängtes Herz sich entlastete , obgleich eigentlich außer mir keiner etwas wußte .
Jetzt trat noch der herumstreifende Erikson herzu , entdeckte unsere Niederlassung und eilte , als er die Art derselben erkannte , von dannen , um einige Flaschen französischen Schaumweines herbeizuschaffen , worauf er seinen vorsorglichen Rundgang im Dienste der Gebieterin des Hauses fortsetzte .
Agnes und die meisten von uns hatten noch niemals Champagner gesehen , noch weniger getrunken , und schon die nach damaliger Mode noch ganz hohen Gläser , in welchen die Perlen unaufhörlich stiegen , erhöhten unsere Stimmung bis zur Feierlichkeit .
Nun kam Rosalie selbst und brachte der Agnes einen Teller süßes Backwerk und Früchte und empfahl uns , mit der feinen Diana ja recht fröhlich und galant zu sein .
Das waren wir denn auch in der besten und ziemlichsten Weise .
Vor allen bezeigte sich der Gottesmacher aufmerksam und höflich gegen sie ; aber auch die anderen wurden ebenso aufgeräumt , als sie in heiterer Ehrerbietung verharrten , stolz darauf , daß eine so poetisch schöne Erscheinung , wie sie_es nannten , ihre kleine Kompanie zierte .
Als alle auf ihr Wohl mit ihr anstießen , trank sie den schlanken Kelch bis auf den Grund leer , oder vielmehr floß ihr die perlende Süße wie ein Schlanglein in den Mund , ohne daß sie es wußte ; wenigstens behauptete der Gottesmacher nachher , er habe an ihrer weißen Kehle gesehen , wie es durchgeschlüpft sei .
Nun fing sie an zu zwitschern und meinte , hier wäre es gut , es sei ihr zu Mut , wie wenn sie aus winterlichem Schlackerwetter in ein warmes Stübchen gekommen wäre ; aber sie wisse schon , was das sei , immer machten einige gute Menschen zusammen ein warmes Stübchen aus , auch , ohne Ofen , Dach und Fenster !
" Alle guten Leute sollen leben ! " rief sie und trank , als die Gläser zusammenklangen , das ihrige abermals auf einen Zug leer und setzte hinzu : " Ei , wie lieb ist dieser Wein !
Der ist auch ein guter Geist ! "
Das gefiel uns ausnehmend wohl ; die vier Sänger hoben ohne Verabredung alsogleich mit voller Kraft an : " Am Rhein , am Rhein , da wachsen unsere Reben " .
Kaum war das ehrliche Trinklied verklungen , so sangen sie , auf eine ernst gehaltene Weise übergehend , obgleich nicht in schleppendem Tempo , das andere schöne Lied von Claudius :
" Der Mensch lebt und bestehet Nur eine kleine Zeit , Und alle Welt vergehet Mit ihrer Herrlichkeit " usw .
Als dann die Motette mit dem schwungvollen Halleluja Amen schloß und bei uns eine plötzliche Stille eintrat , hörte man aus den übrigen Räumen her , wie aus der Ferne , das Geräusch der summenden Stimmen , durcheinandertönender Lieder und einer Tanzmusik , welche dunkel fortrollende Tonmasse übrigens in jeder Pause hörbar wurde , die wir machten .
In diesem Augenblicke aber machte uns die Sache durch den Kontrast einen feierlichen Eindruck ; es war , wie wenn wir den Lärmen der Welt rauschen hörten , während wir in traulicher Beschaulichkeit in unserem Myrten- und Orangenwäldchen saßen .
Wir horchten eine Weile mit Behagen auf das wunderliche Tosen und gerieten dann in ein unterhaltliches Gespräch , in welchem wir die Köpfe über dem Tische zusammensteckten und jeder eine heitere oder traurige Geschichte oder Erinnerung zum Vorschein brachte , besonders aber der Gottesmacher eine Menge anmutiger Schwänke von der Mutter Gottes zu erzählen wußte , wie sie einmal einen Kongreß ihrer Vertreterinnen an den berühmtesten Wallfahrtsorten der Welt veranstaltet habe und wie es da zugegangen und ein großer Zwist entstanden sei , wie nicht anders möglich , wo so viele Frauenzimmer zusammenkämen ; was sie alles auf der Hin- und Rückreise erlebt und verrichtet hätten ; wie die eine als große Fürstin mit verschwenderischer Pracht , die andere aber wie ein schäbiger Filz gereist sei und in den Herbergen , wo sie übernachtet , ihre Engel in den Hühnerstall gesperrt und am Morgen auch wie Hühner abgezählt habe , ob keiner fehle .
So seien auch zwei andere große Frauen , die zum Kongreß reisten , die Mutter Gottes von Czenstochau in Polen und die Maria zu den Einsiedeln , mit ihrem Gefolge bei einem Wirtshause zusammengetroffen und hätten im Garten das Mittagessen eingenommen .
Als nun eine Schüssel mit Leipziger Lerchen , worauf eine gebratene Schnepfe gelegen , aufgetragen worden , habe die Polackin die Schüssel sofort an sich genommen und gesprochen Soviel sie wisse , sei sie die vornehmste Person am Tische und gebühre ihr hiermit das Störchlein , das da obenauf liege !
Denn wegen des langen Schnabels habe sie die Schnepfe für einen jungen Storch gehalten , dieselbe auch mit der Gabel angestochen und auf ihren Teller getan .
Die Schweizerin hingegen , über solche Anmaßung entrüstet , habe nur " Schwips ! " gemacht , und die gebratene Schnepfe sei lebendig und gefiedert vom Teller auf und davon geflogen .
Inzwischen habe die Maria von Einsiedeln die Schüssel an sich genommen und sämtliche Lerchen auf ihren und der Ihrigen Teller gestreift , die Frau von Czenstochbau aber " Tirili " gepfiffen , und die Lerchen seien ebenso wie vorhin die Schnepfe aufgeflattert und singend in der Höhe verschwunden , und somit hätten sich die Herrschaften gegenseitig aus Eifersucht das Mittagessen verdorben und sich nachher mit einer dicken Milch begnügen müssen , wozu die schwarzbraunen Gesichter beider Damen sich possierlich verzogen haben .
Agnes saß wie ein Kamerad zwischen uns , einen Arm auf den Tisch und die Wange auf die Hand gestützt .
Sie konnte aber nicht recht klug daraus wer den , wie alle die heiligen Marinfrauen , die doch nur ein und dasselbe seien , als so viele unterschiedene Personen herumreisen , sich versammeln und sogar bekriegen können , und sie gab ihrem Zweifel unverhohlenen Ausdruck .
Der Winzer legte den Finger an die Nase und sagte nachdenklich :
" Das ist eben das Mysterium , das Geheimnis , das wir mit unserem Verstande nicht zu erklären vermögen . "
Allein der Bergkönig , der in fremdartigen Dingen um so beredter war , je weniger er mit seiner Kreuztragungsgruppe von Raffaels berühmtem Bilde wegkommen konnte , ergriff das Wort und sagte : " Die Sache bedeutet nach meiner Ansicht die ungeheure Allgemeinheit , Allgegenwart , Teilbarkeit und Wandlungsfähigkeit der Himmelskönigin ; sie ist alles in allem , wie die Natur selbst , und steht dieser schon als Frau am nächsten auch in Hinsicht der unaufhörlichen Veränderlichkeit , wie sie denn auch außerdem in allen möglichen Gestalten aufzutreten liebt und sogar als streitbarer Soldat gesehen worden ist .
Hierin gerade mag sie einen Zug ihres Geschlechtes bewähren , wenigstens der vorzüglicheren Mitglieder desselben , nämlich einen gewissen Hang , Mannskleider anzuziehen . "
Einer der Glasmaler lachte bei diesen Worten .
" Mir fällt ein drolliges Beispiel solcher Verkleidungskunst ein " , sagte er und erzählte :
" In meiner Vaterstadt , in welcher besonders im Herbst große Märkte stattfinden , waren wir Gassenbuben scharenweise dahinter her , auf diesen Märkten die häufig auf die Erde rollenden Apfel , Birnen , Pflaumen und andere Früchte , wenn sie umgeladen und ausgemessen wurden , zu haschen und solche auch vom Haufen wegzustibitzen .
Da lief dann immer ein Junge zwischen uns mit , den keiner kannte , der aber immer zuvorderst und am behendesten von allen war , sich die Taschen füllte , verschwand und bald wieder erschien , um sie abermals zu füllen .
Auch wenn der neue Wein von den Bauern in die Stadt geführt und vor den Bürgerhäusern abgezapft wurde und wir mit langen hohlen Schilfrohren unter die Wagen hockten , die Röhrchen heimlich in die untergestellten Bütten und Kübel steckten , um den von den Küfern beim Abmessen einstweilen dorthin gegossenen überschüssigen Most aufzusaugen , war der unbekannte Junge bei der Hand , schluckte den Wein aber nicht hinunter , wie wir taten sondern ließ das vollgesogene Rohr weislich in eine Flasche ablaufen , die er in seiner Jacke verborgen trug .
Der Kerl war nicht größer , aber etwas stärker als wir , hatte ein sonderbares ältliches Gesicht , aber eine helle Kinderstimme , und als wir ihn einmal drohend fragten , wie er eigentlich heiße , nannte er sich kurzweg Jochel Klein .
Nun , dieser Jochel war ein künstlicher Gassenjunge , nämlich eine klein gewachsene arme Witwe aus der Vorstadt , die nichts zu beißen und zu brechen hatte und , von der Not und ihrem Genie gedrungen , die Kleider eines verstorbenen zwölfjährigen Sohnes anzog , den Zopf abschnitt und sich so zu gewissen Stunden auf die Straße wagte und sich unter die Buben mischte .
Als sie ihre Kunst auf die Spitze trieb , wurde sie entdeckt .
Auf dem Käsemarkt , wo die Käsehändler ihren Verkehr hielten , hatte sie beobachtet , wie diese Männer mit hohlen Kässtechern aus den großen Schweizerkäsen zum Behufe des Kostens ihrer Qualität runde Stäbchen oder Zäpfchen herausstachen , davon ein Endchen säuberlich vorn abbrachen , kosteten und das Zäpfchen im übrigen wieder in das Loch steckten , daß der Käse wieder ganz war .
Also versah sie sich mit einem gewöhnlichen Nagel , strich um die Käse herum und erspähte die Stellen , wo eine zarte Kreislinie ein solches Stäbchen anzeigte .
Dann steckte sie im geeigneten Momente den Nagel hinein und zog es heraus , und oftmals trug sie wohl ein halbes Pfund trefflichen Käses nach Haus .
Endlich aber , da die Käsehändler überall auf ihren Vorteil erpichter und unduldsamer sind als andere Kaufherren , wurde sie erwischt und der Polizei übergeben und bei dieser Gelegenheit ihr wahrer Stand entdeckt .
Man nannte sie aber den Jochel Klein , solang sie lebte . "
Agnes ergötzte sich an der einfachen und harmlosen List der armen Frau und bedauerte nur den schlechten Ausgang .
Der andere Glasmaler hingegen meldete sich auch mit einer Verkleidungsgeschichte eines Weibes , die aber grauslicher sei als die von dem weiblichen Gassenjungen .
" Es ist aber eine alte Geschichte aus dem sechzehnten Jahrhundert " , sagte er ; " im Jahr 1560 oder 62 laut der Chronik geschah es in der Stadt Nimwegen , im Geldernschen gelegen , daß der Scharfrichter nach dem Städtlein Grave an der Maß , auf der brabantischen Grenze , berufen wurde , um drei Missetäter zu richten .
Der Nachrichter von Nimwegen lag aber krank und schwach im Bett , weil ihm sein eigener Knecht mit einem vergifteten Süppchen vergeben hatte , um seine Stelle zu bekommen .
Denn , sagt der Chronist , es ist kein Amt so elend , daß nicht einer da wäre , der es auf Kosten seiner Seele erhaschen möchte .
Der Meister berichtete also an den Rat zu Grave , er könne nicht kommen , werde aber seine Frau stracks an den Scharfrichter von Arnheim senden , mit dem er einen Vertrag zu gegenseitiger Aushilfe geschlossen habe , und es werde derselbe rechtzeitig sich stellen und zu Gebote sein .
Der Frau befahl er , sich unverweilt nach Arnheim zu begeben und den dortigen Geschäftsfreund in Kenntnis zu setzen .
Doch die Frau , ein wohlgewachsenes , schönes und freches Weib , war geizig und wollte den Lohn eines so einträglichen Geschäftes nicht fahrenlassen .
Stadt nach Arnheim zu gehen , zog sie heimlich die Kleider ihres Mannes an , nachdem sie Hemd und Wams der Brust wegen erweitert hatte , setzte seinen Federhut auf den schnell geschorenen Kopf , gürtete das breite Richtschwert um und machte sich bei Nacht und Nebel auf den Weg nach Grave , wo sie zur rechten Stunde eintraf und sich bei dem Burgermeister meldete .
Ihm fiel zwar ihr glattes Gesicht und die junge helle Stimme auf , und er fragte , ob sie oder vielmehr er , der angebliche Scharfrichter , auch die hinreichende Kraft und Übung zu dem vorhabenden Werke besitze ?
Aber sie versicherte mit frechen Worten , daß sie das Spiel genügsam kenne und es schon manchmal getrieben habe .
Sie griff auch gleich nach dem Stricke , an welchem der erste der armen Sünder hinausgeführt wurde , und setzte sich so in den Besitz desselben .
Als es aber so weit gekommen , daß der Mann auf dem Stuhle saß und sie ihm die Augen verband , wurde er etwas unruhig ; sie bückte sich tiefer über ihn her , um zu sehen , ob die Binde überall gut schließe , und so spürte er ihre weiche Brust an seinem Kopfe .
Sogleich schrie er , es sei ein Weib da !
er wolle aber nicht von einem solchen , sondern von einem ordentlichen Nachrichter getötet werden , das sei sein Recht !
Der arme Mensch hoffte durch den Umstand einen Aufschub zu gewinnen .
In der entstehenden Verwirrung schrie er immer lauter , man solle ihr die Kleider herunterreißen , so werde man sehen , daß es ein Weibsbild sei .
Da die Sache endlich die Umstehenden nicht unwahrscheinlich dünkte , wurde einem Henkersknecht geboten , sich zu überzeugen , und mit der Schere , mit welcher er soeben dem Übeltäter das Haar abgenommen , schnitt er dem Weibe auf Brust und Rücken Wams und Hemd auf und streifte es ihr von den Schultern , so daß sie vor allem Volke mit entblößtem Oberkörper dastand und mit Schmach von der Richtstätte gejagt wurde .
Die Verbrecher mußten wieder ins Gefängnis geführt werden ; das aufgebrachte Volk aber wollte das Weib ins Wasser werfen und ließ sich nur mit Mühe daran verhindern .
Dennoch stürzten die Frauen und Mägde aus den Häusern , verfolgten die fliehende Scharfrichterin mit Kunkeln und Besenstielen bis vor die Stadt und zerbleuten ihr den glänzendweißen Rücken .
So nahm diese Verkleidung ein schlechtes Ende für die verwegene Amazone .
Als ihr Mann bald darauf starb , wurde wirklich der falsche Knecht , der ihn vergiftete , an seiner Stelle Nachrichter zu Nimwegen , heiratete die Witwe , und hatte demnach der Henker eine Frau , die seiner wert war . "
Mit dieser derben Geschichte hatte unser Geplauder die Grenze fast überschritten , die wir dem anwesenden Mädchen schuldig waren .
Sie schüttelte schauernd den Kopf und säumte nicht , ihr Glas auszutrinken , als wir zusammen anstießen .
Während der ganzen Unterhaltung hatte jeder seinen langen Kelch fest in der Hand gehalten , damit er nicht umfalle und zu gelegentlichem Zuspruch dem Munde möglichst nah sei , und Agnes hatte in ihrer Unerfahrenheit und im glücklichen Vergessen aller Not uns getreulich nachgeahmt .
Als unwissenden Junggesellen war uns unbekannt , wie man sich in solchem Falle mit einem weiblichen Wesen zu benehmen hat , und füllten alle Gläser , sooft sie sich leerten , uns der wachsenden Aufregung und Fröhlichkeit des guten Kindes erfreuend .
Reinhold , der Gottesmacher , hatte während der langen Plauderei von einem hinter der Agnes stehenden Orangenbäumchen blühende Zweige gebrochen , sie zu einem Kränzlein verflochten und drückte ihr jetzt dasselbe auf den Kopf .
Zugleich bat er sie , ihn mit einem Tänzchen zu beglücken , zu welchem einer oder zwei von den anderen aufspielen sollten .
" Nein ! " rief sie , " zuerst will ich euch einmal einen Ländlertanz allein vorführen , den ihr alle vier spielen sollt ! "
Die Gesellen gehorchten , nahmen die Instrumente aus den Futteralen und stimmten sie wieder .
Ich rückte zur Seite , sie spielten einen damals sehr beliebten Volkstanz jener Gegend , und Agnes tanzte auf dem kleinen Raume , der zwischen den Bäumchen übrig war , mit aller Anmut die langsame und eine gewisse Sehnsucht ausdrückende Weise .
Kaum war der letzte Takt verklungen , so verlangte sie , indem sie sich das schäumende Glas geben ließ und es mit dürstenden Lippen leerte , einen Walzer , den sie noch allein tanzen wolle .
Die guten Junggesellen geigten , so kräftig sie vermochten , und Agnes drehte sich , die Hände in die schlanken Hüften stützend , mit glänzenden Augen um sich selber .
Auf einmal griff sie mit den Armen in die Luft , als suche sie jemanden , stand still , nahm den Kranz vom Kopfe , besah ihn , setzte ihn wieder auf und fing darauf an zu schwanken .
Ich sprang schnell hinzu und führte sie zu ihrem Stuhle ; die Musiker hielten erschreckt inne , das arme Mädchen aber warf Kopf und Arme auf den Tisch , daß alle Gläser umstürzten , und begann überlaut mit herzzerreißendem Jammer zu weinen und nach ihrer Mutter zu rufen .
Sie weinte und rief so durchdringend , daß andere Gäste herbeikamen und wir in der größten Bestürzung und Ratlosigkeit herumstanden .
Wir versuchten sie aufzurichten ; allein sie sank uns aus den Händen und zu Boden , wo sie leichenblaß mit zitternden Lippen und Händen ausgestreckt lag und bald gänzlich leblos schien , so daß jetzt eine ängstliche Stille eintrat .
Endlich mußten wir uns entschließen , das arme reglose Wesen wegzutragen und im bewohnten oder zur Hilfe bereiten Teile des Hauses eine Stätte zu suchen .
Der Bergkönig faßte sie unter den Armen , der Gottesmacher nahm die Füße , und so trugen sie die leichte silberschimmernde Last sorgsam davon .
Ich ging voraus , und die zwei Glasmaler folgten , ihre Violinen unter dem Arm , die sie einzupacken keine Zeit fanden und doch nicht zurücklassen wollten , weil es gute Instrumente waren .
Frau Rosalie war leider in Eriksons Begleitung schon nach der Stadt gefahren , ohne von irgendwem Abschied zu nehmen , damit nicht gegen ihren Willen ein Aufbruch stattfände und die Lustbarkeit gestört würde .
Um so willkommener war die Hausmeisterin oder Verwalterin , die herbeikam und unseren Trauerzug in ihre eigene Wohnstube leitete , wo die Regungslose auf ein bequemes Ruhbett und einige herbeigeholte Kissen gelegt wurde .
" Es ist nicht so schlimm " , sagte die beratene Frau , als sie unseren Schreck bemerkte ; " das Fräulein wird einen Rausch haben , das wird bald vorübergehen ! "
" Nein , sie hat einen Kummer ! " flüsterte ich ihr zu .
" Dann hat sie eben in den Kummer hinein getrunken " , versetzte sie ; " wer gibt einem jungen Mädchen denn so viel zu trinken ? "
Erst jetzt erröteten wir und standen in Beschämung und Verlegenheit , bis uns die wackere Frau fortschickte , nachdem sie sich noch erkundigt hatte , wo die Erkrankte hingehöre .
" Der Wagen der Herrschaft " , sagte sie , " wird noch einmal herauskommen , um etwa nötig werdende Dienste zu leisten ; also werden wir für alles besorgt sein . "
Reinhold anerbot sich und ließ es sich nicht nehmen , im Hause zu bleiben ; er drang in mich , ihm den ferneren Schutz der Verlassenen anheimzustellen , und ich war es zufrieden , da er für einen wohlbeschaffenen braven Mann galt .
Agnes ging also , um ihr Schicksal zu erfüllen , in ihrer Bewußtlosigkeit und überhaupt während des ganzen Festes von einer Hand in die andere wie ehemals eine in die Sklaverei geratene Königstochter .
Ich trennte mich von den Geigern , die für Unterbringung ihrer Instrumente zu sorgen hatten , und machte mich auf den Weg .
Übrigens wurde sowohl hier als am Walde drüben allgemein aufgebrochen , und die Straße war von den Wagen der Heimkehrenden bedeckt .
Da ich nicht gleich eine Unterkunft fand , zog ich vor , zu Fuß zu gehen , und um nicht von den Fuhrwerken , die im Trabe fuhren und sich jagten , gefährdet zu werden , betrat ich den Seitenpfad , der sich auf dem Waldboden längs der Straße hinzog .
Der abnehmende Mond erhellte den Weg einigermaßen durch die Bäume ; immerhin behinderte das Gestrüppe des Unterholzes da und dort die Schritte , und ich holte denn auch einen einsamen Wandler ein , der sich mit Weißdornruten und Brombeerstauden ärgerlich herumschlug .
Es war Lys , unter dessen dunklem Mantel das feine Leinwandkleid hervorschimmerte und an den Dorngeflechten hängenblieb .
Nachdem wir uns erkannt , erzählte ich das Vorgefallene in einem Tone , der ihn erraten ließ , wo ich hinauswollte .
Lys , der ein ausdauernder Trinker war , aber alle Betrunkenheit schon an Männern verabscheute , empfand einen tiefen Verdruß und benutzte denselben überdies , weitere Vorwürfe oder unliebe Bemerkungen abzuschneiden .
" Das ist eine saubere Geschichte ! " rief er , " sind das nun eure Heldentaten , ein unerfahrenes Mädchen berauscht zu machen ?
Wahrhaftig , ich habe das arme Kind guten Händen übergeben ! "
" Übergeben ! " erwiderte ich gereizt ; " verlassen , verraten willst du sagen ! " und ich übergoß ihn mit einer Flut von Vorwürfen , die über meine Berechtigung weit hinausgingen .
" Ist es denn so schwer " , schloß ich vorläufig , " seinen Neigungen einen festen Halt zu geben und sich mit einiger dankbaren Treue an einer so reichen Gabe Gottes genügen zu lassen ?
Muß denn die ganze Welt Durcheinanderrennen und sich überall selbst im Lichte stehen und sich betrüben ? "
Lys hatte sich indessen von den Dornen losgewickelt .
Da er sah , daß er mich nicht einschüchtern konnte , ergab er sich und sagte ruhig , indem wir einer hinter dem anderen weitergingen : " Laß mich zufrieden , du verstehst das nicht ! "
Aufbrausend antwortete ich :
" Lange genug habe ich mir eingebildet , daß in deiner Sinnesart etwas liege , was ich mit meiner Erfahrung nicht übersehen und beurteilen könne !
Jetzt aber gewahre ich nur zu deutlich , daß es die trivialste Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit ist , welche dich beherrscht , so leicht erkennbar als verabscheuungswert .
Oh , wenn du wüßtest , wie tief dich diese Art entstellt und deinen Freunden weh tut , du würdest schon aus der gleichen Eigenliebe dich ändern und den häßlichen Makel von dir tun ! "
" Ich sage noch einmal " , erwiderte Lys , sich halb nach mir umwendend , " du verstehst das nicht !
Und das ist in meinen Augen die beste Entschuldigung für deine unziemlichen Reden .
Nun , du Tugendheld ! hast du jemals etwas anderes getan , als was du nicht lassen konntest ?
Du tust es jetzt nicht und wirst es noch weniger tun , wenn du erst einmal etwas erlebst ! "
" Ich hoffe wenigstens , daß ich zu jeder Zeit das lassen kann , was schlecht und verwerflich ist , sobald ich es nur als solches erkenne ! "
" Du wirst jederzeit " , sagte Lys hierauf kaltblütig , indem er sich wieder vorwärts wandte , " du wirst jederzeit das lassen , was dir nicht angenehm ist ! "
Ungeduldig wollte ich ihn nochmals unterbrechen ; allein er übertönte mich und fuhr fort : " Gerätst du einst zwischen zwei Weiber , so wirst du wahrscheinlich beiden nachlaufen , wenn dir beide angenehm sind , das ist einfacher , als sich für eine zu entschließen !
Und vielleicht wirst du recht haben !
Was mich betrifft , so wisse :
Das Auge ist der Urheber und der Erhalter oder Vernichter der Liebe ; ich kann mir vornehmen , treu zu sein , das Auge nimmt sich nichts vor , das gehorcht der Kette der ewigen Naturgesetze Luther hat nur als Normalmensch gesprochen , wenn er sagte , er könne kein Weib ansehen , ohne ihrer zu begehren !
Erst durch ein Weib von solcher Reinheit von allem eigensinnigen , kränklichen und absonderlichen Beiwerke , durch ein Weib von so unverwüstlicher Gesundheit , Heiterkeit , Güte und Klugheit wie diese Rosalie könnte ich für immer gefesselt werden .
Wie beschämt sehe ich nun ein , welch eine vergängliche Spezialität ich in jener Agnes mir zu verbinden im Begriffe war !
Du aber schäme dich ebenfalls , als ein leeres Schema in der Welt herumzulaufen wie ein Schatten ohne Körper !
Suche , daß du endlich einen Inhalt , eine ausfüllende Leidenschaft bekommst , anstatt anderen mit deinem Wortgeklingel beschwerlich zu fallen ! "
Mehrfach beleidigt schwieg ich einige Minuten .
Ohne es zu wissen , hatte Lys mit den zwei Weibern , die er mir in Aussicht stellte , etwas Wahres getroffen , insofern ich ja noch als halbes Kind schon auf ähnlichen Wegen geirrt war .
Und doch wollte ich mich nicht mit ihm vergleichen lassen ; der genossene Wein , die mehr als vierundzwanzigstündige mannigfache Aufregung taten auch das Ihrige , meine Streitlust zu entflammen , und ich begann daher wieder mit entschiedener Stimme :
" Nach deiner vorhinnigen Äußerung zu urteilen , bist du also nicht sehr Willens , dem Mädchen die Hoffnungen , die du ihr leichtsinnigerweise erregt , zu erfüllen ? "
" Ich habe keine Hoffnungen gemacht " , sagte Lys , " ich bin frei und Herr meines Willens , gegen jedes Frauenzimmer sowohl wie gegen alle Welt !
Wenn ich übrigens für das gute Kind etwas tun kann , so werde ich ihr ein wahrer und uneigennütziger Freund sein , ohne Ziererei und ohne Phrasen !
Und zum letzten Mal gesagt Kümmere dich nicht um meine Liebschaften oder Nichtliebschaften , ich weise es durchaus ab ! "
" Ich werde mich aber darum kümmern ! " rief ich , " entweder sollst du einmal Treue und Ehre halten , oder ich will es dir in die Seele hinein beweisen , daß du Unrecht tust !
Das kommt aber nur von dem trostlosen Atheismus !
Wo kein Gott ist , da ist kein Salz und kein Halt ! "
Lys lachte laut auf , da er antwortete :
" Nun , dein Gott sei gelobt !
Dachte ich doch , daß du schließlich noch in diesen Hafen der Glückseligkeit einlaufen würdest !
Ich bitte dich aber jetzt , grüner Heinrich , laß den lieben Gott aus dem Spiele , der hat hier ganz und gar nichts zu schaffen !
Ich versichere dich , ich würde mit ihm wie ohne ihn ganz der gleiche sein !
Das hängt nicht von meinem Glauben , sondern von meinen Augen , von meinem Hirn , von meinem ganzen körperlichen Wesen ab ! "
" Jedenfalls von deinem Herzen ! " rief ich zornig und außer mir ; " ja , sagen wir es nur heraus , nicht dein Kopf , sondern dein Herz kennt keinen Gott !
Dein Glauben oder vielmehr Nichtglauben ist dein Charakter ! "
" Nun habe ich genug ! " donnerte Lys mit starker Stimme und kehrte sich stehenbleibend gegen mich ; " obgleich es ein Unsinn ist , den du sprichst , der an sich nicht beschimpfen kann , so weiß ich , wie du es meinst ; denn ich kenne diese unverschämte Sprache der Hirnspinner und Fanatiker , die ich dir nie zugetraut hätte !
Sogleich nimm zurück , was du gesagt hast !
Ich lasse nicht ungestraft meinen Charakter antasten ! "
" Nichts nehme ich zurück !
Nun wollen wir sehen , wie weit deine gottlose Tollheit dich führt ! "
Dies sagte ich mit wilder Streitlust ; Lys aber antwortete mit bitterer verdrußvoller Stimme :
" Genug des Scheltens !
Du bist von mir gefordert !
Und zwar mit Tagesanbruch halte dich bereit , einmal mit der Waffe in der Hand für deinen Gott einzustehen , für den du so weidlich zu schimpfen weißt .
Sorge für deinen Beistand , der meinige wird in zwei Stunden da und da zu finden sein , um alles übrige zu besorgen . "
Er bezeichnete einen Ort , wo voraussichtlich die ganze Nacht der Verkehr des Festes mit seinen Nachklängen fortdauerte .
Dann wandte er sich und ging mit raschen Schritten vorwärts , da der Weg besser geworden .
Ich selber sprang auf die Straße hinüber , die während unseres Streites längst leer und still geworden .
Das war nun das Ende des schönen Festes !
Der Mond warf meinen eigenen Schatten vor mir her , als ich mitten auf der Straße ging , und ich sah die Zipfel meiner Narrenkappe deutlich auf derselben abgezeichnet .
Allein das half nichts das Licht der Vernunft war erloschen ; ich eilte meines Weges , um für den Zweikampf meine Helfershelfer zu suchen .
Schon vor wenigstens sechs Jahren hatte ich von einem Polen , der in unserem Hause ein kleines Zimmer bewohnte , etwas fechten gelernt .
Es war einer jener stattlichen , hochgewachsenen Militärs , wie sie aus der Revolution von 1831 als Flüchtlinge bekannt geworden und seither ziemlich aus der Welt oder wenigstens aus der Emigration verschwunden sind .
Von vornehmer Geburt und ein gewesener Reiteroffizier , brachte er sich geschickt und redlich durch und fügte sich in die bescheidenste Lebensart , in jede Arbeit , war immer heiter und liebenswürdig , ausgenommen wenn er von den Schlachten und dem Unglücke seines Vaterlandes , von seinem Hasse gegen Rußland sprach .
Obgleich gut katholisch erzogen , rief er dann jedesmal voll Bitterkeit , es sei kein Gott im Himmel , sonst hätte er die Polen nicht in die Hand des Russen gegeben .
Der mochte mich wohl leiden , und um mir irgendeine Freundlichkeit oder Wohltat zu erweisen und weil er gerade nichts anderes hatte , ruhte er nicht , bis er mir einigen Unterricht in der Fechtkunst geben konnte .
Aus eigener Tasche kaufte er zwei Stoßrapiere oder Fleurets , Drahtmasken und anderen Zubehör und ging mit mir täglich eine Stunde auf den großen Estrich unter dem Dache , wo er mich dazu brachte , eine erste Schule notdürftig durchzumachen , und er tat es mit solcher Liebe und Ausdauer , als ob es sich um das Goldmachen handelte , bis ihn eine Schicksalswendung aus unserer Gegend hinwegführte .
In der Stadt , wo ich jetzt lebte , hatte ich bei studierenden Landsleuten , mit denen ich zuweilen verkehrte und die sich Fechtapparate auf dem Zimmer hielten , manchmal wieder den einen oder anderen Gang versucht , ohne an etwas anderes als an einen vorübergehenden Zeitvertreib zu denken .
Einen oder zwei der jungen Leute dachte ich jetzt sicher noch an ihrem gewohnten Versammlungsorte zu treffen , um ihren Beistand in Anspruch zu nehmen , und fand sie auch in der verwegenen Stimmung , welche der späten Stunde und meinen Wünschen entsprach .
Sie begaben sich sofort dahin , wo die Vertrauten meines Gegners sie erwarteten .
Bald kamen sie mit der Verabredung zurück , daß der Duellhandel morgens um sechs Uhr in Lysens Wohnung vor sich gehen solle .
Lys habe hervorgehoben , daß er ganz allein darin Hause und also keine Zeugen zu befürchten seien ; ferner könne er , wenn er verwundet werde , sich gleich in sein eigenes Bett legen und in der Stille geheilt werden oder sterben , der Gegner aber mit aller Sicherheit und Muße abreisen .
Treffe es aber mich , so könne ich dort an seiner Stelle mich zunächst hinlegen , indessen er sich aus dem Staube mache .
Für einen Arzt , hieß es , sei auch schon gesorgt , ebenso für die Waffen , als welche ich Stoßdegen oder sogenannte Pariser , die einzigen , die ich etwas zu führen verstand , vorgeschlagen hatte , zumal ich wußte , daß auch Lys damit umgehen konnte .
Wie er den kurzen Rest der Nacht verbracht , habe ich nicht erfahren ; was mich betrifft , so blieb ich mit meinen Ratgebern sitzen , da wir fanden , das gefährliche Abenteuer sei besser als Schluß der ganzen Feststrapaze zu bestehen , mit der es sozusagen in einem hinginge , als wenn ich nach unzureichender Ruhe , aus tiefem Schlafe geweckt und ohne Zusammenhäng der Gedanken , fechten müßte .
So kam ich nicht einmal dazu , den Anzug zu wechseln , und wenn mich das Geschick getroffen hätte , so wäre ich in der Gestalt eines erstochenen Narren weggetragen worden .
Trotzdem überfiel mich die Müdigkeit ; ich schlummerte ein und lag zuletzt mit dem Kopfe schlafend auf dem Tische , während die anderen mit ab- und zugehenden Nachzüglern und Spätlingen eine Bowle heißen Punsch tranken .
Auch ich stürzte noch ein Glas hinunter , als ich mit dem Morgengrauen aufgerüttelt wurde , mich aber durch den kurzen Schlaf keineswegs erquickt oder ernüchtert fand .
Doch erinnere ich mich wie aus einem Traume , daß ich gleich den zwei , die mit mir kamen , mit tiefem Ernst durch die Straßen ging und in Lysens stille Wohnung trat , wo er mit zwei oder drei jungen Männern ebenso ernst und kalt uns erwartete .
Wir standen alle in dem geräumigsten seiner Zimmer , vor dem Bilde mit den Spöttern ; die Morgendämmerung ließ die aus dem Dunkel hervorleuchtenden Figuren wie belebt erscheinen , als ob sie der Dinge gewärtig wären , die da kommen sollten .
Nun wurden aus einem langen Kistchen zwei glänzend polierte dreieckige und nadelspitze Klingen , zwei mit Silberdraht übersponnene Griffe und zwei vergoldete halbkugelförmige Glocken zum Schutze der Hand ausgepackt und ineinandergeschraubt .
Nachdem gefragt worden , ob keine Versöhnung oder anderweitige Verständigung möglich sei , und keiner von uns beiden sich gerührt hatte , gab man uns die Waffen in die Hand und wies jedem seinen Platz an .
Ich warf einen Blick auf Lys ; er sah ebenso blaß und überwacht aus wie ich selbst .
Jeder Zug von Wohlwollen oder freundschaftlicher Gesinnung war aus unseren Gesichtern verschwunden , während auch der ursprüngliche Zorn verraucht war und nur die erstarrte Menschentorheit auf den Lippen saß .
Da stand ich nun mit dem Eisen in der Hand , bereit , das Blut eines Freundes zu vergießen , um ihm die Wahrheit meines Gottesglaubens zu beweisen , und der Freund bedurfte meines Blutes zur Verteidigung der moralischen Ehre seiner Weltanschauung , und jeder hatte sich sonst für die Vernunft , Freiheit und Menschlichkeit selbst gehalten .
Eine unglückliche Sekunde , und der gleißende Stahl war in ein warmes Herz geglitten !
Aber zu einer heilsamen Überlegung war keine Zeit mehr .
Das Zeichen wurde gegeben , wir machten mit den Degen den üblichen Gruß und setzten uns in Positur , aber nicht wie geübte Duellanten , sondern mehr wie etwas unsichere Schüler .
Unsere Hände zitterten fast gleichmäßig , als wir die Degenspitzen sich umeinander drehen ließen , um den Anfang zu finden , und der erste Stoß , den ich tat , war auch richtig der erste Schulstoß , wie er der Nummer nach auf dem Fechtsaale gezeigt wird .
Lys parierte ihn ebenso schulmäßig , da er ihn von weitem kommen sah ; er erwiderte den Ausfall , und ich wies ihn etwas schwerfälliger , aber noch gerade zeitig genug ab .
Der liebe Gott , um den wir uns schlugen , mochte wissen , wie ein Paar so friedlicher Fechter in eine so gefährliche Lage geraten war .
Allein gefährlich war sie nichtsdestoweniger ; denn mit dem Geräusch der gleitenden Klingen wurde das Gefecht belebter und rascher , so daß schon wegen der Notwehr die Stöße zahlreicher und fester wurden .
Da blitzten plötzlich Stahl und Glocken unserer Waffen mit einem rötlichen Schimmer auf , und gleichzeitig begann das Bild im Hintergrunde des Zimmers sachte zu leuchten , beides vom Glühen einer Wolke , die im Widerscheine der anbrechenden Morgenröte stand .
Lys warf unwillkürlich einen Blick seitwärts auf sein Bild und sah die Blicke seiner Sachverständigen , wie er sie nannte , auf uns gerichtet .
Er ließ seinen Degen sinken , und mir , der ich eben wieder auszufallen im Begriffe war , wurde ein " Halt ! " zugerufen .
Lys , der im übrigen vollkommen nüchtern geblieben , war der Nichtigkeit unseres Tuns durch den Anblick zuerst innegeworden .
" Ich nehme meine Herausforderung zurück " , er klärte er mit ernstem , aber ruhigem Tone , " und will das Vorgefallene vergessen , ohne daß Blut fließen soll ! "
Er trat mir einen Schritt entgegen und bot mir die Hand .
" Laß uns schlafen gehen , Heinrich Lee ! " sagte er , " und zugleich lebe wohl !
Da ich einmal zur Abreise gerüstet bin , so will ich heute für einige Zeit fort . "
Damit ging er , nachdem er die Anwesenden gegrüßt , nach seinem Schlafzimmer , und wir verließen uns trotz der unerwarteten Aussöhnung ohne Freundlichkeit , weil wir uns eigentlich selbst beleidigt hatten und zur Stunde keiner mit sich im reinen war .
Die Zeugen und der Arzt , welche in den Verlauf der Streitigkeit überhaupt keinen klaren Einblick hatten , verabschiedeten sich vor dem Hause stillschweigend , und jeder ging seines Weges , ich überdies mit einem Gefühle , wie wenn ich von der moralischen Überlegenheit eines Gegners , den ich hatte schulmeistern wollen , heimgeschickt worden wäre .
Als ich meine Wohnung betrat , wurde ich von den Wirtsleuten , die an ihrem Frühstücke saßen , als ein ausdauernder Lustigmacher begrüßt .
Obschon ich erschöpft und müde war , konnte ich beinahe nicht einschlafen , und als es geschah , träumte mir , ich hätte den Freund totgestochen , blutete aber statt seiner selbst und werde von meiner weinenden Mutter verbunden .
Indessen würgte ich an einem geträumten Schluchzen herum , über welchem ich erwachte .
Ich fand die Augen und das Kissen zwar trocken , dachte aber über die möglich gewesenen Folgen nach , bis ich endlich fester einschlief .
Fünfzehntes Kapitel Der Grillenfang Ich schlief bis in den Nachmittag hinein , und als ich erwachte , wußte ich nichts mit mir anzufangen ; die Welt und mein Kopf schienen mir beide leer und ausgestorben .
Ich dachte an das Ende des Kadettenfestes in meiner Knabenzeit , an dasjenige des Telespieles , und sagte mir Wenn alle deine Freudenfeste einen solchen Ausgang nehmen , so wird es besser sein , du gehst nicht mehr hinzu , wo es dergleichen gibt !
Zunächst las ich das Narrenkleid zusammen , das zerstreut am Boden lag , und hing es im Atelier als malerischen Gegenstand an einen Nagel , und den Distel- und Stechpalmenkranz legte ich um den Zwiehansschädel , den ich auf die Kommode des kleinen Schlafzimmers setzte , um dergestalt ein heilsames Memento zu errichten .
Das Spielerische und Ziersüchtige in uns bleibt in allem Elende und unter allen Gestalten lebendig , bis wir zerbrochen sind .
Vielleicht ist es ein Teil des Gewissens ; denn wie das Tier nicht lacht , so spielt der ganz Gewissenlose nicht , es sei denn um Gewinn .
In meiner dunkel müßigen Lage war mir der Besuch Reinholds , des Winzers und Geigenspielers , willkommen , der mich aufsuchte und einen Liebesdienst von mir verlangte .
Er berichtete , daß der hilflose Zustand Agnesens noch stundenlange gedauert und sie sich erst gegen Morgen soweit erholt habe , daß die Heimschaffung möglich geworden , und zwar bereits bei Tageshelle .
Allein nachteilige Gerüchte von einem sozusagen zuchtlosen Benehmen , von einer Berauschung , in deren Folge sie von einem reichen Bewerber sofort verlassen und aufgegeben worden sei , wären schon voraufgedrungen , und als das Gefährt vor dem Hause angekommen und das Mädchen , matt und niedergeschlagen , ausgestiegen sei , hätten sich die Nachbarfenster geöffnet und die Leute mit sichtlicher Verachtung oder wenigstens Mißbilligung zugeschaut .
Er selbst habe nebst einer Magd vom Landhause die Arme begleitet , sich aber natürlich sofort wegbegeben , ohne mit in das Haus zu treten .
Aber auch dies Erscheinen eines neuen Beschützers habe den bösen Schein noch verschlimmert , und es liege wohl an uns , die wir das Unsrige beigetragen , den Leumund des unschuldigen Wesens zu verteidigen .
Er habe nun den Plan gefaßt und mit seinen Freunden verabredet , heute abend unter dem Fenster des geprüften Fräuleins eine ernsthafte und ehrbare Musik , eine Serenade in würdigster Form , abzuhalten ; um jede Störung zu vermeiden und das Ansehen der Sache zu erhöhen , sei schon die amtliche Erlaubnis eingeholt .
Nach Schluß der Serenade aber gedenke er stracks hinaufzugehen und der Verlassenen feierlich seine Hand anzutragen .
" Absichtlich " , fuhr er fort , " will ich von allem , was vorausgegangen , nichts wissen , was man auch munkeln mag !
Wie sie ist , in diesem Augenblicke , mit ihrem Gesichtchen , ihrer leichten Gestalt , mit ihrem ganzen Wesen und ihrem kleinen Schicksal gefällt sie mir und dünkt mich unentbehrlich !
Und wenn ich mich irre , so wird es nur in dem Sinne sein , daß sie mehr ist , als ich geglaubt habe !
Etwas warme Sonne , ein wenig Glück , was man so nennt , gleichsam ein Gläschen guten Rheinweins werden sie munter machen ! "
" Und was soll ich hierbei tun ? " fragte ich verwundert , aber auch mit Teilnahme , da mir das Vorhaben des gemütlichen Mannes als die beste Hilfe in der Not erschien .
" Was ich von Ihnen wünsche " , versetzte er , " ist , daß Sie gegen Abend in das schmale Haus , in das Juwelenkästchen , gehen und die Frauen suchen hinzuhalten , damit sie es nicht verlassen und doch von der Musik überrascht werden .
Ferner sollen Sie , wenn es nicht von selbst geschieht , das Gespräch auf mich bringen , in nicht auffälliger Weise , und mich ein bißchen anrühmen , das heißt , nicht meine Person , sondern meine Verhältnisse , ich will sagen , meinen bescheidenen Wohlstand , der mir erlaubt , unbesorgt eine Frau heimzuführen .
Ich wünsche , daß Sie das ganz beiläufig tun , jedoch als von etwas Bekanntem , sozusagen außer Zweifel Stehendem sprechen , so daß diese Voraussetzung bereits vorhanden ist , wenn ich komme , und ich nicht selbst davon anfangen muß .
Es ist solches wichtig und in dergleichen Verwicklungen meistens von entscheidendem Einfluß .
Und Sie werden nicht lügen , sofern Sie nicht etwa aufschneiden , ich gebe Ihnen mein Wort darauf !
Etwas Grundeigentum und mein Kunsterwerb reichen zu einem bürgerlichen , doch keineswegs knauserigen Leben hin , und für die Zukunft ist mir das Erbe einer alten Tante sicher , die mich immer wegen des Heiratens plagt und eine Aussteuer bereithält wie für eine einzige Tochter .
Halt - diesen Umstand könnten Sie etwas ausmalen !
Es ist wirklich komisch , wie die Gute immer noch Einkäufe macht , sobald sie etwas sieht , wovon sie denkt , es wäre in meinem dereinstigen Haushalt zu brauchen , und so stapelt sie in ihrem von alters her angefüllten Hause stets neue Vorräte von kleinen und großen Dingen auf . -
Also reden Sie , sprechen Sie ! wollen Sie meine Wünsche erfüllen ?
Ich kann Ihnen sagen , es ist mir zu Mute wie einem , der einen Diamant , den ein Dummkopf weggeworfen hat , liegen sieht und nun fürchtet , es möchte ihn ein anderer finden , ehe er selbst zur Stelle ist ! "
Ich mußte innerlich lächeln über dies treffliche Stückchen Weltlauf , das sich so artig selbst berichtigte , wenn Reinholds Pläne gelangen .
Gern sagte ich ihm zu , seine Wünsche zu erfüllen , so gut ich es verstände , und er eilte nach der weiter nötigen Verabredung in Hoffnung davon .
Mir konnte für den leeren öden Tag der Auftrag nur willkommen sein , so neu es mir war , eine Art Kuppelei zu betreiben .
" Nachdem du fast zwei Tage lang das hintangestellte Schätzchen eines Don Juans gehütet hast " , sagte ich mir , " kannst du dies Altweibergeschäft dir auch noch gefallen lassen , es paßt zum anderen , auch zu dem gefehlten Duell ! "
Mit anbrechender Dämmerung begab ich mich auf den Weg und stand alsbald vor der Stubentüre der Frauen , die in tiefster Stille saßen ; denn kein Laut war zu vernehmen .
Erst auf ein Anklopfen hörte ich ein mattes " Herein ! " und als ich eintrat , sah ich in dem halbdunklen Gemache nur die Frau Mutter in ihrem Lehnsessel , den Kopf in beide Hände gestützt .
Auf dem Tische vor ihr lag ein kleines Kästchen .
Mich erkennend , sagte sie mit heiserer Stimme nichts als :
" Ein schönes Fest für uns !
Eine schöne Nacht und ein schöner Tag ! "
" Ja " , antwortete ich kleinlaut , " es war etwas verhext und ist manchem wunderlich gegangen ! "
Sie schwieg eine kleine Weile und fuhr dann geläufiger fort : " Eine schöne Wunderlichkeit !
Wenn ich den Kopf vor die Türe strecke , so zeigen die Nachbaren mit Fingern auf mich !
Eine Gevatterin nach der anderen , die sich sonst nie sehen lassen , ist heute eingedrungen , um sich an der Schande zu weiden !
Da schleppt man das Kind zwei Nächte herum und schickt es mir betrunken nach Haus und durch fremde Leute !
Und der hübsche reiche Bewerber , dieser Herr Lys , hat natürlich genug an der Aufführung , sagt ab und macht sich davon !
Da sehen Sie , was wir alles erlebt haben ! "
Sie zog einen Brief hervor , der unter dem Kästchen lag , und entfaltete ihn ; es war aber zu dunkel , um lesen zu können .
" Ich will Licht holen ! " sagte sie , ging müde und verdrossen hinaus und kehrte mit einem bescheidenen Küchenlämpchen zurück , da es nicht der Mühe wert schien , einem von der schnöden Gesellschaft ein besseres Licht vorzusetzen .
Ich las den kurzen Brief , worin Lys mit wenigen Zeilen anzeigte , daß er auf unbestimmte Zeit , vielleicht für immer , abreisen müsse , für gute Freundschaft , die er genossen , herzlich dankte , Glück und Wohlergehen wünschte und die Tochter bat , ein kleines Andenken freundlich anzunehmen .
Als ich das gelesen , öffnete die betrübte Frau das Kästchen , in welchem eine ziemlich kostbare Uhr mit feiner Kette glänzte .
" Ist dies reiche Geschenk " , rief sie , " nicht ein Beweis , wie ernst er gesinnt war , da er sich sogar jetzt noch so edel benimmt , trotz der Schmach , die man ihm angetan ? "
" Sie irren sich ! " sagte ich ; " niemand hat sich etwas vorzuwerfen , am allerwenigsten das gute Fräulein !
Lys hat Ihre Tochter von Anfang an sitzenlassen und ist einer anderen Schönheit nachgelaufen ; und weil er von dieser zurückgewiesen wurde , denn es ist , kurz gesagt , die nunmehrige Braut seines Freundes Erikson , hat er sich von hier entfernt .
Ich weiß bestimmt , daß er für Ihr Kind verloren war , ehe dasselbe aus Kummer und Aufregung unwohl wurde .
Und es ist wahrscheinlich ein Glück für das Fräulein , nach meiner Meinung sogar gewiß ! "
Die Frau sah mich groß an ; aus dem Hintergrunde des schmalen , aber tiefen Zimmers ertönte ein stöhnender Laut .
Erst jetzt gewahrte ich , daß Agnes in einem Winkel neben dem Ofen saß .
Ihr Haar war aufgelöst , aber nicht wieder geflochten worden und bedeckte das Gesicht und die Hälfte der gebeugten Gestalt .
Überdies hatte sie ein Tuch um Kopf und Schultern geworfen und in das Gesicht gezogen ; das letztere drückte sie , vom Zimmer abgewendet , an die Wand und verharrte so ohne Bewegung .
" Sie getraut sich nicht mehr am Fenster zu sitzen ! " sagte die Mutter .
Ich ging hin , sie zu begrüßen und ihr die Hand zu reichen ; allein sie wendete sich noch tiefer ab und begann leise in sich hinein zu weinen .
Verlegen ging ich zum Tische zurück , und da ich von meinen eigenen Abenteuern moralisch geschwächt war , so kamen mir selbst Tränen in die Augen .
Das rührte hinwieder die Witwe , daß auch sie anfing , wobei sich ihr Gesicht so stark verzerrte , wie man es nur an flennenden kleinen Kindern sieht .
Es war ein ganz merkwürdiger , unbehaglicher Anblick , über welchem sich meine Augen schnell trockneten .
Aber auch bei der Frau war der Gewitterschauer wie bei Kindern rasch zu Ende , und mit ganz veränderter Stimme lud sie mich erst jetzt zum Sitzen ein .
Zugleich fragte sie , wer eigentlich der Fremde gewesen , der Agnesen in der Frühe heimbegleitet habe ?
Ob der die Unglücksgeschichte nicht noch weiter verbreiten werde ?
Keineswegs , antwortete ich ; denn das sei ein gutbestellter braver Mensch ; und ich säumte nun nicht , mit anscheinend gleichgültigen Worten und mit der nötigen Vorsicht diejenige Beschreibung des Gottesmachers und seiner Verhältnisse anzubringen , die seinen Wünschen entsprechen mochte .
Nur bei der Schilderung der Tante und ihrer Ausstattungssucht , welche es einer dereinstigen Frau des Neffen fast unmöglich mache , außer ihrer Person etwas im Hause unterzustellen , zu legen , aufzuschichten oder zu hängen , wurde mein Vortrag belebter , weil er mich selber belustigte .
Übrigens , schloß ich , werde Herr Reinhold mit der Erlaubnis der Frauen heute abend seinen Besuch abstatten , um der Anstandspflicht zu genügen und sich nach dem Befinden des erkrankten Fräuleins zu erkundigen , und weil er wisse , daß ich die Ehre hätte , im Hause eingeführt zu sein , so habe er mich ersucht , die Erlaubnis auszuwirken und ihn alsdann vorzustellen .
Diese höfliche Ankündigung gab der Frau einen Teil ihres Selbstvertrauens zurück .
" Kind ! " rief sie auffahrend , " hörst du ?
Wir bekommen Besuch ; gehe , zieh dich an , mache dein Haar auf , du siehst ja aus wie eine Hexe ! "
Aber Agnes regte sich nicht , und auch als die Mutter hinging und sie sanft rüttelte , wehrte sie ab und bat wimmernd , sie ruhig zu lassen , oder das Herz breche ihr entzwei .
In ihrer Verzweiflung begann jene den Tisch zu decken und Tee zu bereiten ; sie holte ein paar Schüsseln mit kalten Speisen und eine Torte herbei und setzte alles auf den Tisch .
Schon für gestern abend , klagte sie , habe sie ein Tütchen des feinsten Tees gekauft und etwas zum Knuspern bereitgehalten , da sie auf die frühzeitigere Rückkunft der jungen Leutchen gehofft habe ; jetzt möge die kleine Mahlzeit uns doch noch dem erwarteten Besuch zu Ehren nützlich werden ; verdorben sei nichts .
Wir saßen , und das Wasser kochte in dem blanken , wenig gebrauchten Teekesselchen seit geraumer Zeit , und noch meldete sich kein Besuch , weil es überhaupt noch zu früh war .
Die gute Frau wurde ungeduldig ; sie fing an zu zweifeln , ob Reinhold wirklich kommen werde ; ich suchte sie zu beruhigen , und wir warteten wieder eine gute Weile .
Endlich wurde sie Wartens satt und machte den Tee fertig ; wir tranken eine Tasse , aßen etwas weniges und harrten wieder , plauderten mit zerstreuten Worten und Gedanken , bis die ermüdete Frau über meiner Einsilbigkeit einnickte .
So trat jetzt eine tiefe Stille ein , und nach einiger Zeit merkte ich an den sanften regelmäßigen Atemzügen , die ich vom Ofenwinkel her vernahm , daß auch Agnes schlummerte .
Da ich selbst keineswegs genug geschlafen hatte , fielen mir die Augen ebenfalls zu , und ich schlief zur Gesellschaft mit , während die kleine Lampe das Zimmer schwach erleuchtete .
Wir mochten ein Stündchen einträchtig geschlummert haben , als wir durch eine volltönige , aber sanfte Musik geweckt wurden und gleichzeitig das Fenster von rotem Glanze erhellt sahen .
Die überraschte Witwe und ich eilten zum Fenster .
Auf dem kleinen Platze standen acht Musizierende vor einigen Musikpulten , vier Knaben hielten brennende Fackeln empor , und am Eingange des Platzes gingen zwei Polizeimänner auf und ab , welche die rasch sich sammelnden Zuhörer in Ordnung hielten .
Zu den Geigern hatte Reinhold noch einige Bläser mit Horn , Oboen und Flöte angeworben ; er selbst saß auf einem Feldstühlchen und handhabte das Violoncello .
" Jesus Maria !
was ist das ? " sagte die erstaunte Mutter Agnesens .
" Zünden Sie Lichter an ! " erwiderte ich ; " das ist eben der Herr Reinhold mit seinen Freunden , der Ihrer Tochter eine Serenade bringt !
Ihr gilt die Musik , um ihr vor der Welt und dieser Stadt eine Ehre zu erweisen ! "
Ich öffnete einen Flügel des Fensters , indessen die Frau nach ihren Staatsleuchtern eilte und die rosenroten Kerzen entflammte , welche jetzt trefflich zustatten kamen .
Das Adagio aus einem älteren Italiener floß mit dem lauen frühzeitigen Lenzhauche gar prächtig herein .
" Kind ! " flüsterte die Mutter dem aufhorchenden Mädchen zu , " wir haben ein Ständchen , wir haben ein Ständchen !
Komme , sieh nur hinaus ! "
Ich hörte ihre Stimme zum ersten Mal so herzlich erfreut und wirklich beseelt zu dem Kinde reden , so erlösend wirkte der musikalische Vorgang auch auf sie , und Agnes wandte ihr bleiches Gesicht stumm nach dem Fenster .
Dann erhob sie sich langsam und ging heran .
Sowie sie aber die vielen Gesichter auf der Straße und unter allen Nachbarfenstern im Fackellichte erblickte , floh sie wieder nach ihrem Sitze , legte die gefalteten Hände in den Schoß und neigte das Haupt leise zur Seite , um keinen Ton der schönen Musik zu verlieren .
So blieb sie , bis die drei Stücke , welche die Männer aufführten , zu Ende waren und die Musik mit einer melodisch heiteren , fast reigenartigen Wendung geschlossen hatte , die Musikanten aufbrachen und still hinweggingen , während das Volk auf der Gasse lauten Beifall klatschte .
Auch die sauberen Kästchen und Futterale , in welchen sie ihre Instrumente trugen , erhöhten beim Publikum den Eindruck des Außergewöhnlichen und Vornehmen ; die Leute betrachteten , indem sie sich langsam zerstreuten , neugierig das merkwürdige Haus , und die am Fenster stehende Frau genoß alles bis zum letzten Momente ; selbst das Forttragen der Pulte dünkte ihr das Feierlichste und Großartigste , was sie erleben konnte .
Als sie endlich das Fenster zumachte und sich umwandte , stand Reinhold in der Stube und begrüßte sie ehrerbietig , und ich nannte zugleich seinen Namen .
Dann entschuldigte er sich wegen der Freiheit , die er sich genommen , eine so aufdringliche Störung zu bringen , welche sie der allgemeinen Karnevalsstimmung zu gut halten wolle ; und sie erwiderte ihm mit großen Komplimenten und Danksagungen , wobei sie in einen so glückselig singenden Ton geriet , daß es beinahe klang , wie wenn einer in Flageoletttönen auf der Geige spielen würde .
Plötzlich unterbrach sie sich , um die Tochter herbeizurufen , die ihr ungebührlich lang im Winkel zu säumen schien .
Diese war aber unbemerkt hinausgeschlüpft und kam jetzt wieder herein .
Sie hatte über ihr Morgenkleid , in welchem sie den Tag über getrauert , einen weißen Schal geschlagen und die Enden auf den Rücken gebunden .
Das schwarze Haar hatte sie einfach Zusammengefaße und im Nacken in einen mächtigen Knoten geschlungen , alles in einer Minute und wahrscheinlich ohne in den Spiegel zu sehen .
In Haltung und Gesichtsausdruck schien sie um zehn Jahre älter ; selbst die Mutter sah sie mit großen Augen an , wie wenn sie einen Geist erblickte .
Aufrechten Ganges trat Agnes dem Gottesmacher entgegen , richtete mit ruhigem Ernste die Augen auf ihn und gab ihm die Hand .
Wäre sie in Samt und Seide gehüllt gewesen , so hätte sie den Blick Reinholds nicht so bannen können , wie sie jetzt mit ihrer einfachen Erscheinung tat , und ich selbst mußte sogleich denken Gott sei Dank , daß Lys fort ist und sie nicht mehr sieht , sonst ginge das Unheil von neuem an !
Reinhold aber betete mit stummer Anschauung sein eigenes Werk an ; denn , buchstäblich zu sagen , hatte er die geknickte Blume aufgerichtet , daß sie wieder leben konnte .
Die Ehren , die er ihr gegeben , leuchteten so rein von ihrer Stirn und um die stillen dunklen Augensterne , daß er demütig betreten nicht zu Worten zu kommen wußte , auch als wir nun am Tische saßen und die Mutter neuen Tee machte .
Es ging etwas verlegen und einsilbig zu , bis die Alte auf die rheinische Heimat des Gastes zu reden kam und ihn fragte , ob es wahr sei , daß sein hiesiger Aufenthalt nicht mehr lange dauere und er dorthin zurückkehre ?
Das löste ihm die Zunge , indem er dartat , wie Kirchen und Prälaten mit ihren Bestellungen seiner harrten und auf die gewonnenen Fortschritte in der Arbeit zählten .
Dann freute er sich des Lobes der schönen Heimat .
" Mein Haus " , sagte er , " liegt außerhalb des alten Städtchens am sonnigen Abhang , wo man den Rheingau hinauf und hinunter schaut ; Türme und Felsen schwimmen in bläulichem Dufte , durch welchen das breite Wasser zieht .
Hinter dem Garten legt sich der Wein an den aufsteigenden Berg , und oben steht eine Kapelle unserer lieben Frau , die weit über das Land hinschaut und sich ins letzte Abendrot taucht .
Dicht daneben habe ich ein kleines Lusthäuschen gebaut und unter demselben ein Kellerchen in den Stein gehauen , wo stets ein Dutzend Flaschen klaren Weines liegen .
Wenn ich nun einen neuen Kelch fertig habe , so steige ich , ehe ich die innere Vergoldung anbringe , hier hinauf und leere das Gefäß drei- oder viermal auf das Wohl aller Heiligen und aller frohen Leute .
Denn ich will nur gestehen , meine Silberarbeit , etwas Musik und der Wein sind meine einzige Freude gewesen und meine besten Tage die sonnigen Feiertage der Mutter Gottes , wenn ich zu ihrem Preise in den benachbarten Kirchen spielte , während unten auf bekränztem Altare meine Gefäße glänzten ; und ich muß bekennen , daß nachher ein Räuschchen an heiterer Pfaffentafel mir als der Gipfel des Daseins erschien .
Das wird freilich nicht mehr so sein , ich weiß jetzt etwas Besseres - "
Er stockte bei diesen Worten , die er mit wachsender Wärme gesprochen , ermannte sich aber sogleich , erhob sich vom Stuhle und wendete sich an die Frauen :
" Was soll ich längere Umschweife machen ?
Ich bin hier , um dem Fräulein ein redliches Herz anzubieten , mit allem Zubehör von Hand , Haus und Hof ; kurz , ich bin gekommen , einen Heiratsantrag zu machen !
Ich bitte um gütiges Gehör und bitte , sofern meine Handlungsweise allzu rasch und verwegen erscheint , zu bedenken , daß gerade solche Festivitäten , wie die soeben beendigte , nicht selten mit derartig unvorgesehenen Ereignissen abschließen ! "
Die gute Witwe , an die äußerste Sparsamkeit gewöhnt , hatte soeben ein Stückehen Zucker , das ihr wider Willen in die Tasse gefallen , mit dem Löffelchen herausgefischt und im stillen auf die Untertasse gelegt , um zu retten , was noch nicht geschmolzen war .
Sie leckte das Löffelchen schnell und zierlich ab und begann darauf , vor Vergnügen errötend , in ihren schönsten Tönen von der großen Ehre zu singen , aber auch von der nötigen Bedenkzeit und Überlegung , die man sich gestatten müsse .
Allein die Tochter unterbrach sie , womöglich noch blasser als bisher :
" Nein , liebe Mama !
Auf die Frage des Herren Reinhold muß nach allem , was wir erlebt und was er für mich getan , sogleich die Antwort folgen , und mit deiner Erlaubnis sage ich ja !
Ich habe das Mißgeschick nicht verdient , das mich betroffen ; um so williger muß der Dank für meinen Retter sein , der mich aus Verlassenheit und Verachtung emporhebt ! "
Mit Tränen der Rührung , die ihr aus den Augen quollen , schritt sie dicht an den glücklichen Freier heran , legte die Arme um seinen Hals und drückte die sehnend geöffneten Lippen , die noch nie geküßt , auf die seinigen .
Er streichelte mit schüchterner Zärtlichkeit ihre Wangen , verwandte aber kein Auge von ihr .
Erstaunt und ratlos sah die Witwe zu , und Agnes rief : " Sei nur ruhig und zufrieden , Mutter !
Gestern noch habe ich zur Heiligsten Jungfrau gebetet , sie möchte meinem Herzen geben , was ihm gebührt ; heute habe ich den ganzen Tag geglaubt , sie habe mich unerhört gelassen , und jetzt halte ich es doch im Arm , was mir gehört und mir besser zum Heile dient als das , was ich meinte ! "
Jetzt schien mir der Zeitpunkt gekommen , wo ich mich schicklich als überflüssig entfernen konnte ; denn ich wußte nicht , wo ich hinblicken sollte .
Schnell gab ich allen die Hand und eilte davon , ohne mich halten zu lassen oder gehalten zu werden .
Auf der Straße sah ich nochmals an das Haus hinauf , wo das Mondlicht auf dem schwarzen Madonnenbilde über der Haustüre lag und den goldenen Halbmond sowie die Krone schwach beglänzte .
" Himmel , welch katholische Wirtschaft ! " sagte ich zu mir selbst und schüttelte den Kopf über das krause Leben .
Beim Morgengrauen dieses Tages hatte ich den spitzigen Degen auf einen Gottesleugner gezückt , und nun , da es Nacht war , lachte ich wieder über diese Heiligenanbeter .
Am nächsten Morgen war es mir weniger lächerig zu Mut , als es galt , die unterbrochene Arbeit wiederaufzunehmen .
Während die Künstlerschaft wohl in ihrer großen Mehrheit fest und unbekümmert auf der gewohnten Bahn weiterschritt , fand ich mich unschlüssig , was zunächst zu tun sei .
Als ich mich umsah , hatte ich die Empfindung , als ob ich monatelang nicht in dem Zimmer gewesen , meine halbfertigen Sachen Denkmäler einer verschollenen Zeit wären .
Eines nach dem anderen zog ich hervor , und alles dünkte mich schal und unnötig , wie eine bloße Liebhaberei .
Ich grübelte und grübelte , konnte aber dem grauen Wesen , das mich beschlich , nicht auf den Grund kommen .
Dazu kam das Gefühl der Vereinsamung ; Lys war fort und verloren , wahrscheinlich auch für die Kunst , da er in letzter Zeit hatte durchblicken lassen , daß er bei der ersten geringen Erschütterung das Glas fallen lassen werde .
Aber auch Erikson hatte mir gestern in einem flüchtig der Freude abgewonnenen Augenblick anvertraut , er beabsichtige gleich nach der Hochzeit seine verzwickte Malerei an den Nagel zu hängen und mit den großen Mitteln seiner Frau das Seefahrtsgeschäft seines heimatlichen Hauses wiederaufzunehmen und in Flor zu setzen .
Die Zeit sei günstig , und in mäßiger Frist wolle er selbst reich sein .
Und nun wackelte ich auch , und alle drei Peripherie-Germanen , die wir uns in gewissem Sinne besser geschienen hatten als die feste große Heerschar des Binnenvolkes , fielen ab wie Feilenspäne , fahren auseinander , um keiner den anderen wahrscheinlich jemals wiederzusehen !
Fröstelnd schleppte ich , um eine Zuflucht zu suchen , einen neuen , kaum angefangenen Karton hervor , eine auf den Rahmen gespannte graue Papierfläche von mindestens acht Schuh Breite und entsprechender Höhe .
Es war nichts darauf zu sehen als ein begonnener Vordergrund mit je einem verwitterten Fichtenbaum zu beiden Seiten des künftigen Bildes , dessen Idee ich damals vor Monaten aufgegeben und die mir gänzlich aus der Erinnerung geschwunden ist .
Um nur etwas zu tun und vielleicht meine Gedanken zu beleben , machte ich mich daran , den einen der zwei mit Kohle entworfenen Bäume mit der Schilffeder auszuführen , gewärtig , was dann weiter werden wollte .
Aber kaum hatte ich eine halbe Stunde gezeichnet und ein paar Aste mit dem einförmigen Nadelwerke bekleidet , so versank ich in eine tiefe Zerstreuung und strichelte gedankenlos daneben , wie wenn man die Feder probiert .
An diese Kritzelei setzte sich nach und nach ein unendliches Gewebe von Federstrichen , welches ich jeden Tag in verlorenem Hinbrüten weiterspann , sooft ich zur Arbeit anheben wollte , bis das Unwesen wie ein ungeheures graues Spinnennetz den größten Teil der Fläche bedeckte .
Betrachtete man jedoch das Wirrsal genauer , so entdeckte man den löblichsten Zusammenhäng und Fleiß darin , indem es in einem fortgesetzten Zuge von Federstrichen und Krümmungen , welche vielleicht Tausende von Ellen ausmachten , ein Labyrinth bildete , das vom Anfangspunkte bis zum Ende zu verfolgen war .
Zuweilen zeigte sich eine neue Manier , gewissermaßen eine neue Epoche der Arbeit ; neue Muster und Motive , oft zart und anmutig , tauchten auf , und wenn die Summe von Aufmerksamkeit , Zweckmäßigkeit und Beharrlichkeit , welche zu der unsinnigen Mosaik erforderlich war , auf eine wirkliche Arbeit verwendet worden wäre , so hätte ich gewiß etwas Sehenswertes liefern müssen .
Nur hier und da zeigten sich kleinere oder größere Stockungen , gewisse Verknotungen in den Irrgängen meiner zerstreuten gramseligen Seele , und die sorgsame Art , wie die Feder sich aus der Verlegenheit zu ziehen gesucht , bewies , wie das träumende Bewußtsein in dem Netze gefangen war .
So ging es Tage , Wochen hindurch , und die einzige Abwechslung , wenn ich zu Hause war , bestand darin , daß ich , mit der Stirn gegen das Fenster gestützt , den Zug der Wolken verfolgte , ihre Bildung betrachtete und indessen mit den Gedanken in der Ferne schweifte .
So arbeitete ich eines Tages wieder mit eingeschlummerter Seele , aber großem Scharfsinn an der kolossalen Kritzelei , als an die Türe geklopft wurde .
Ich erschrak und fahre zusammen ; aber schon war es zu spät , den Rahmen wegzuschaffen .
Reinhold und Agnes treten herein , und kaum hatten wir uns begrüßt , so erschien Erikson mit seiner nunmehrigen Frau Rosalie , und ich sah mich von Geräusch , Leben und Schönheit wachgerüttelt .
Beide Paare hatten nämlich die Hochzeit bereits hinter sich und in der Stille abgetan , Reinhold aus Ungeduld , um seine Liebesbeute rasch zu bergen , Erikson aber , weil die Verwandten Rosaliens und die Geistlichen erst nachträglich konfessionelle Schwierigkeiten zu machen versuchten .
Allein Rosalie war , im geheimen und von einflußreicher Seite gefördert , schnell zu Eriksons Glaubenspartei übergetreten , behauptend , wie Paris seinerzeit eine Messe , sei ihr Schatz eine Beichte wert und noch eher , und die Trauung war alsobald gefolgt .
" Wir sind demnach schon auf der Hochzeitsreise ! " schloß Erikson seinen kurzen Bericht ; " einstweilen nur auf den Gassen dieser Stadt , morgen aber auf der Landstraße und bald , so hoffe ich , schon im eigenen Schiff ! "
Seine Gattin hatte inzwischen das andere Paar begrüßt und sich mit der ganz glücklichen und wohlaussehenden Agnes unterhalten .
Erikson aber stand vor der Staffelei und beschaute höchst verwundert meine neuste Arbeit .
Dann betrachtete er mich mit bedenklichem Gesichte , und wie ich verlegen und rot wurde , und sagte , erst den Kopf schüttelnd , dann mit demselben schalkhaft nickend :
" Du hast , grüner Heinrich , mit diesem bedeutenden Werke eine neue Phase angetreten und begonnen , ein Problem zu lösen , welches von größtem Einflusse auf die deutsche Kunstentwicklung sein kann .
Es war in der Tat längst nicht mehr auszuhalten , immer von der freien und für sich bestehenden Welt des Schönen , welche durch keine Realität , durch keine Tendenz getrübt werden dürfe , sprechen und räsonieren zu hören , während man mit der gröbsten Inkonsequenz doch immer Menschen , Tiere , Himmel , Sterne , Wald , Feld und Flur und lauter solche trivial wirkliche Dinge zum Ausdrucke gebrauchte .
Du hast hier einen gewaltigen Schritt vorwärts getan von noch nicht zu bestimmender Tragweite .
Denn was ist das Schöne ?
Eine reine Idee , dargestellt mit Zweckmäßigkeit , Klarheit , gelungener Absicht .
Die Million Striche und Strichelchen , zart und geistreich oder fest und markig , wie sie sind , in einer Landschaft auf materielle Weise placiert , würden allerdings ein sogenanntes Bild im alten Sinne ausmachen und so der hergebrachten gröblichsten Tendenz frönen !
Wohlan !
Du hast dich kurz entschlossen und alles Gegenständliche , schnöd Inhaltliche hinausgeworfen !
Diese fleißigen Schraffierungen sind Schraffierungen an sich , in der vollkommenen Freiheit des Schönen schwebend ; dies ist der Fleiß , die Zweckmäßigkeit , die Klarheit an sich , in der reizendsten Abstraktion !
Und diese Verknotungen , aus denen du dich auf so treffliche Weise gezogen hast , sind sie nicht der triumphierende Beweis , wie Logik und Kunstgerechtigkeit erst im Wesenlosen ihre schönsten Siege feiern , im Nichts sich Leidenschaften und Verfinsterungen gebären und sie glänzend überwinden ?
Aus Nichts hat Gott die Welt geschaffen !
Sie ist ein krankhafter Abszeß dieses Nichtses , ein Abfall Gottes von sich selbst .
Das Schöne , das Poetische , das Göttliche besteht eben darin , daß wir uns aus diesem materiellen Geschwür wieder ins Nichts resorbieren , nur dies kann eine Kunst sein , aber auch eine rechte ! "
" Aber , liebster Mann , wo willst du hin ! " rief Frau Erikson , die , aufmerksam geworden , sich zu uns gewendet hatte .
Der Gottesmacher sperrte Mund und Augen auf ; denn die schnurrigen Redensarten waren seinem einfachen Gemüt in Scherz und Ernst unverständlich und fremd .
Ich selbst fühlte mich etwas erheitert durch Eriksons Munterkeit , stand jedoch verlegen am Fenster .
" Aber mein Lob " , fuhr er feierlich fort , " muß sogleich einen Tadel gebären oder vielmehr die Aufforderung zu weitem energischen Fortschritt !
In diesem reformatorischen Versuch liegt noch immer ein Thema vor , welches an etwas erinnert ; auch wirst du nicht umhinkönnen , um dem herrlichen Gewebe einen Stützpunkt zu geben , dasselbe durch einige verlängerte Fäden an den Ästen dieser alten , verwetterten , aber immer noch kräftigen Fichten zu befestigen , sonst fürchtet man jeden Augenblick , es durch seine eigene Schwere herabsinken zu sehen .
Hierdurch aber knüpft es sich wiederum an die abscheulichste Realität , an gewachsene Bäume mit Jahrringen !
Nein , braver Heinrich , nicht also ! nicht hier bleibe stehen !
Die Striche , indem sie bald sternförmig , bald in der Wellenlinie , bald mäandrisch , bald radial sich gestalten , bilden ein noch viel zu materielles Muster , welches an Tapeten oder gedruckten Kattun erinnert .
Fort damit !
Fange oben an der Ecke an und setze einzeln nebeneinander Strich für Strich , eine Zeile unter die andere ; von zehn zu zehn mache durch einen verlängerten Strich eine Unterabteilung , von hundert zu hundert eine Oberabteilung , von tausend zu tausend einen Abschluß durch einen dickeren Sparren oder Sperling .
Solches Dezimalsystem ist vollkommene Zweckmäßigkeit und Logik , das Hinsetzen der einzelnen Striche aber der in vollendeter Tendenzfreiheit , in reinem Dasein sich ergehende Fleiß .
Zugleich wird dadurch ein höherer Zweck erreicht .
Hier in diesem Versuche zeigt sich immer noch ein gewisses Können ; ein Unerfahrener , Nichtkünstler hätte die Gruselei nicht zustande gebracht .
Das Können aber ist von zu leibhafter Schwere und verursacht tausend Trübungen und Ungleichheiten zwischen den Wollenden ; es ruft die tendenziöse Kritik hervor und steht der reinen Absicht fort und fort feindlich entgegen .
Das moderne Epos zeigt uns die richtige Bahn !
In ihm zeigen uns begeisterte Seher , wie durch dünnere oder dickere Bände hindurch die unbefleckte , unschuldige , himmlischreine Absicht geführt werden kann , ohne je auf die finsteren Mächte irdischen Können es zu stoßen !
Eine goldschnittheitere ewige Gleichheit herrscht zwischen der Brüderschaft der Wollenden .
Mühelos und ohne Kummer teilen sie einige tausend Zeilen in Gesänge und Strophen ab , und wer kann ermessen , wie nahe die Zeit ist , wo auch die Dichtung die zu schweren Wortzeilen wegwirft , zu jenem Dezimalsystem der leichtbeschwingten Striche greift und mit der bildenden Kunst in einer identischen äußeren Form sich vermählt ?
Alsdann wird der reine Schöpfer- und Dichtergeist , der in jedem Bürger schlummert , durch keine Schranke mehr gehemmt , zutage treten , und wo sich zwei Städtebewohner träfen , wäre der Gruß hörbar :
» Dichter ? «
- » Dichter ! « oder :
» Künstler ? «
- » Künstler ! «
Ein zusammengesetzter Senat geprüfter Buchbinder und Rahmenvergolder würde in wöchentlichen olympischen Spielen die Würde des Prachteinbandes und des goldenen Rahmens erteilen , nachdem sie sich eidlich verpflichtet , während der Dauer ihres Richteramtes selbst keine Epen und keine Bilder zu machen , und ganze Kohorten verbildeter Verleger würden die gekrönten Werke in stündlich erfolgenden Auflagen über ganz Deutschland hin so tiefsinnig verlegen , daß sie kein Teufel wiederholen könnte ! "
" Mann , höre auf ! " rief Rosalie nochmals , " ich kenne dich nicht mehr ! "
" Laß es gut sein ! " sagte Erikson ; " dieses Geschwätz sei für einmal mein gerührter Abschied von der Kunst !
Von nun an wollen wir dergleichen hinter uns werfen und uns eines wohlangewandten Lebens befleißen ! "
Dann nahm er mich mit ernsterem Blicke bei der Hand , führte mich hinter die große Spinnwebe und sagte leise : " Lys kommt nicht mehr zurück ; ich habe seine Bilder zusammenrollen , in Kisten packen und ihm in die Heimat schicken müssen , ebenso seine Bücher und Möbeln .
Er hat mir geschrieben , er wolle als Kandidat für die Deputiertenkammer seines Landes auftreten und werde nie mehr malen , weil man die Augen dazu brauche , was ich nicht verstehe .
So fällt er aus einer Torheit in die andere , und ich möchte weinen über ihn .
Und nun komme ich daher und finde dich an einem abenteuerlichen Grillenfang stehen , wie die Welt vielleicht noch keinen zweiten geboren hat !
Was soll das Gekritzel ?
Frisch , halte dich oben , mache dich heraus aus dem verfluchten Garne !
Da ist wenigstens ein Loch ! "
Mit diesen Worten stieß er die Faust durch das Papier und riß es kreuz und quer auseinander Ich reichte ihm dankbar die Hand ; denn seine Worte und energische Bewegung bewiesen mir seine verstehende Teilnahme .
Nachdem wir hinter der Kulisse hervorgetreten und das Loch auch von vorn betrachtet hatten , wurde rasch Abschied genommen , natürlich mit dem Vorbehalte dereinstigen Wiedersehens , obgleich ich von den vier Personen keine einzige je wieder erblickt habe .
Eine Minute später war es wieder totenstill in meinem Gemache , und die weißgestrichene Türe , durch welche die schönen Frauen und Männer verschwunden , flimmerte mir vor den Augen wie eine Leinwand , von welcher mit einem Zuge ein Bild warmen Lebens weggewischt worden ist .
- Holder of rights
- Bildungsroman Projekt
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Korpus. Der grüne Heinrich: Teil 3. Der grüne Heinrich: Teil 3. Bildungsromankorpus. Bildungsroman Projekt. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0gq.0