Seehäfen des Weltverkehrs
Häfen Europas sowie der asiatischen und afrikanischen Küsten
des Mittelmeerbeckens.
Volkswirtschaftlicher Verlag Alexander Dorn
1891.
[]
Alle Rechte vorbehalten.
Druck von Johann N. Vernay.
[]
VORWORT.
Prachtvolle Ausblicke und lebhaft anregende Einzelnheiten ent-
zücken und fesseln zugleich das Auge des Wanderers, der auf
vorspringender Höhe einen Ruhepunkt gefunden und von da
hinabsieht auf einen schön gelegenen und von regem Verkehrsleben
erfüllten Hafen.
Das unendliche Meer in seiner bei ewig wechselndem Bilde
dennoch bewahrten erhabenen Ruhe, das geschäftige Treiben der in
Erwerbshast eilenden, Ameisen vergleichbaren Menschen, der mit der
unermesslichen Wasserfläche in Eins verschwimmende Horizont, die
qualmenden, rasch hingleitenden Dampfer (Kolosse für den Insassen,
Nussschalen für den entfernten Beschauer!) — all dies gibt eine Summe
von Gegensätzen, die in ihrer Wechselwirkung alles Sinnen des Beob-
achters gefangen nehmen und fast berauschend auf seine Denkorgane
einwirken. Und bei aller ehrfurchtsvollen Scheu vor der unausfüllbaren
Grösse und unerreichbaren Macht der allgewaltigen Natur vermag er
sein Herz nicht der Bewunderung für den Geist des Menschen zu verschliessen,
der doch schon so Vieles in dieser Natur sich unterthan gemacht.
Wer es aber vermag, mit seinem geistigen Auge dem Wege zu
folgen, den jener zum Hafen steuernde schwerbeladene Schiffskörper —
Spuren harter Kämpfe mit Sturm und Wogen aufweisend — zurück-
gelegt, oder das Ziel sich zu vergegenwärtigen, dem der eben die Anker
lichtende stattliche Dreimaster zustrebt, der wird sich bald bewusst
werden, dass die Stadt da unten, so gross sie auch sei, ihre wahre
[] Bedeutung nicht in ihrer eigenen Ausdehnung hat, sondern in ihrer
Eigenschaft als Glied eines über den ganzen Erdenraum ausgebreiteten
Organismus, welcher den der gesammten Menschheit gemeinsamen In-
teressen zu dienen berufen ist.
In der That bilden die Seehäfen des Weltverkehrs eine Art von
Verein, dessen Aufgabe es ist, den alle Völker umfassenden Bestre-
bungen der Weltwirtschaft nach möglichst rascher und möglichst
leichter Ausgleichung von Ueberfluss und Bedarf, Angebot und Nach-
frage als ausführendes Organ zu dienen und in naturgemässer Folge
hievon dem allgemein menschlichen Interesse an Fortschritt und Cultur-
entwicklung über die trennenden Besonderheiten hinweg förderlich zu
sein. Es geht somit ein einheitlicher Charakterzug durch Geschichte
und Leben dieser wichtigen Werkstätten und Knotenpunkte der inter-
nationalen Beziehungen jeder Art, und dieser Umstand legte den Ge-
danken nahe, dass einem vielleicht noch nicht ausgesprochenen, gewiss
aber bestehenden und immer stärker werdenden Bedürfnisse entgegen-
gekommen würde, wenn alle Hafenplätze, welchen in der Lösung jener
gemeinsamen Aufgabe ein gewichtiger Antheil zufällt, in einem systematisch
angelegten Werke zur Darstellung kämen. Diese Erwägung gab die
Anregung zu dem Buche, dessen erster Band nunmehr fertig hier vorliegt.
Der Grundgedanke dieses Werkes besteht, wie schon seinerzeit
in dem Prospecte hervorgehoben worden, darin, dass dem Leser eine
Serie von Monographien geboten werden soll, welche durch die beson-
deren Beziehungen, in welchen die Seehäfen des Weltverkehres zu
einander stehen, zu einem abgeschlossenen Ganzen aufgebaut ist.
Mühe und Arbeit, deren die Lösung dieser Aufgabe bedurfte,
waren keineswegs gering. Schon allein die Beschaffung des nöthigen
Materiales sowohl für den beschreibenden Theil als auch für die Dar-
stellung der commerziellen Bedeutung und der wirklichen Handels-
thätigkeit der einzelnen Häfen erheischte die Anknüpfung vieler Be-
ziehungen und machte eine umfangreiche Correspondenz nöthig. Das-
selbe gilt bezüglich der Sammlung der Ansichten und der Pläne sowie
der nöthigen Daten, um die letzteren auf den neuesten Stand richtig-
zustellen. Die dem Leser kaum erkennbaren Hindernisse, welche bei
[] der Materialiensammlung mitunter zu überwinden waren, können aber
auch in sich selbst als Beweis dafür gelten, in wie hohem Grade die
vorliegende Arbeit Demjenigen Nutzen zu bringen vermag, welcher aus
dem Buche, sei es aus Wissbegierde, sei es im Dienste seines Berufes,
die so reichlich gebotene Belehrung schöpfen will.
Da die Bearbeitung sämmtlicher in dem Werke behandelten Häfen
nach denselben Principien vorgenommen wurde, so genügt die Durch-
sicht eines einzigen Abschnittes, um den Leser über Plan und
Anlage des ganzen Werkes zu orientiren; überall werden die Situation,
die topographische Lage der Stadt und ihre Merkwürdigkeiten ge-
schildert, eine kurze Skizze ihrer historischen und commerziellen Ent-
wicklung gegeben, sodann Handel und Verkehr unter gleichzeitiger
Berücksichtigung der wichtigsten Industriezweige des Ortes nach ihren
massgebendsten Momenten erörtert und durch die neuesten statistischen
Daten illustrirt; ausserdem ist auf die Charakterisirung der betreffenden
Küstenstriche und Meerestheile sowie auf die Beziehungen der einzelnen
Häfen untereinander im Texte Rücksicht genommen. Rechnet man dazu
noch, dass die Vorstellungsgabe des Lesers durch trefflich ausgeführte
Illustrationen (durchwegs Originalholzschnitte) und fachmännisch ge-
zeichnete Pläne in wirksamer und gewiss willkommener Weise unter-
stützt wird, so wird man wohl gerne zugestehen, dass hier ein eigen-
artiges, nach Anlage und Ausführung ganz neues Werk geschaffen ist,
welchem nicht nur wissenschaftlicher Werth und die Eigenschaft einer
angenehm belehrenden Lectüre innewohnt, sondern welches auch einem
eminent praktischen Bedürfnisse unserer, auf die stets steigende Ent-
wicklung des internationalen Verkehres mit Recht so stolzen Zeit entspricht.
Es drängt mich, an dieser Stelle den Verfassern für den regen
Eifer und die ungemein mühevolle Arbeit, welche sie dem gemein-
samen Werke widmeten, den wärmsten Dank auszusprechen. Nur ihrer
unermüdlichen Thätigkeit im Aufsuchen und Ausnützen des Quellen-
materials und dem collegialen Zusammenwirken, durch welches sie sich
gegenseitig unterstützten und ergänzten, ist es zu danken, dass die
Schaffung einer so stattlichen Reihe von gleichwerthigen Einzelndar-
stellungen möglich wurde. Zu den ursprünglich am Werke betheiligten
[] Kräften, den aus früheren Arbeiten auf diesem Gebiete bereits rühmlich
bekannten Herrn Linienschiffscapitän Ritter von Lehnert (unter dessen
bewährter Leitung auch sämmtliche Planzeichnungen angefertigt wurden),
Corvettencapitän Holeczek, Prof. Dr. Zehden und Prof. Dr. Cicalek,
traten im Laufe der Zeit im Interesse der Beschleunigung der Arbeit
noch neue Genossen, welche sich ihnen würdig an die Seite stellen, so
Ministerialrath Becher, Referent für die Angelegenheiten der Handels-
marine im k. k. österreichischen Handelsministerium, Linienschiffslieute-
nant v. Pajér und Secretär Schwarz des österreichisch-ungarischen
Exportvereines.
Den Dank, welcher in erster Linie den genannten Herrn in so
hohem Masse gebührt, muss ich aber auch noch auf jene namhafte
Zahl von Männern ausdehnen, welche in liebenswürdigster und uneigen-
nützigster Weise der an sie gestellten Bitte um Förderung des Werkes
entsprochen haben. Einerseits war es nothwendig, für die Beschaffung
des Quellenmaterials an die Gefälligkeit von Fachmännern des Aus-
landes, namentlich kaiserlichen und königlichen Consularfunctionären
und Angehörigen fremder Marinen zu appelliren, welche alle in bereit-
willigster Weise ihre Mithilfe gewährt haben; andererseits habe ich es,
um allfällige Irrthümer nach Möglichkeit zu vermeiden, für nothwendig
erachtet, jene Abschnitte, welche Hafenplätze von hervorragender
Wichtigkeit behandeln, vor ihrer Drucklegung an in den betreffenden
Städten ansässige, sachkundige Männer mit der Bitte um Durchsicht
und Richtigstellung zu senden; auch hier waren es in erster Linie die
österreichisch-ungarischen Consularfunctionäre, dann vorzugsweise Handels-
kammersecretäre, an welche ich mich diesbezüglich wendete; alle
diese Herren haben sich ohne Ausnahme der erbetenen, mitunter nicht
mühelosen Arbeit unterzogen, darunter auch solche, mit welchen mich kein
Band persönlicher Bekanntschaft verbindet. Allen diesen Herren gebührt
also für ihr freundliches Entgegenkommen der wärmste Dank nicht nur
des Herausgebers, sondern auch des Lesers.
Das Werk fand schon im Beginne seines Erscheinens allenthalben
eine freundliche Aufnahme, da bereits aus den ersten Lieferungen
zu erkennen war, dass durch die untereinander in die entsprechende
[] Beziehung gebrachten Darstellungen so wichtiger Stätten menschlicher
Culturarbeit eine Fülle von interessanten Gesichtspunkten der Ver-
gleichung geboten ist; namentlich musste der grosse Zug frappiren,
der durch die steigende Vervollkommnung der Verkehrsmittel zu Land
und zur See in die Entwicklung der internationalen Handelsbeziehungen
gebracht ist, und die den neuesten statistischen Ausweisen entnommenen
Daten der commerziellen Thätigkeit geben in ihrem Zusammenhalte
ein imposantes und überraschendes Bild des mächtigen Anwachsens
des Weltverkehres.
Als die erfreulichste und werthvollste Anerkennung der Tendenz
des Werkes darf ich wohl hier den Umstand hervorheben, dass auch
ihre k. und k. Hoheit die durchlauchtigste Frau Kronprinzessin-Witwe
Erzherzogin Stefanie in gnädiger Weise gestattet hat, einige Höchst-
ihrem Reisetagebuche entnommene charakteristische und lebensvolle
Schilderungen als besondere Zierden dem Buche einzufügen.
Der vorliegende Band umfasst alle wichtigeren Handelshäfen Europas
sowie auch der asiatischen und afrikanischen Küsten des Mittelmeerbeckens
und bildet somit ein in sich abgeschlossenes Ganzes. Von der ursprünglichen
Absicht, demselben als Einleitung eine Geschichte der Entwicklung
der Seeschiffahrt voranzustellen, musste Umgang genommen werden,
weil der Band sonst gar zu umfangreich geworden wäre.
Bezüglich des Zeitpunktes, welchem die Pläne der einzelnen Häfen
entsprechen, möchte ich nur noch hervorheben, dass sich diese Pläne im
Allgemeinen auf den Zustand beziehen, wie er zu Anfang des Jahres 1890
war, und dass in denselben zumeist auch alle Projecte Aufnahme fanden,
welche eben damals zur Durchführung bestimmt waren. Bei dem raschen
Tempo, in welchem gegenwärtig die Entwicklung des Verkehrs —
namentlich in Häfen von aufsteigender Bedeutung — vor sich geht, ist
es natürlich, dass seither schon manche Aenderung eingetreten, manches
neue Project in Sicht gekommen ist. Soweit dies zur Zeit der Druck-
legung der einzelnen Bogen den Verfassern bekannt geworden, ist im
Texte hievon Erwähnung gethan — eine wesentliche Aenderung des
Bildes ist jedoch dadurch nirgends bewirkt. Auch die statistischen Ver-
[] öffentlichungen, sowie die Consularberichte — unter denen sich namentlich
die der österreichisch-ungarischen Consuln als ganz vorzügliches Infor-
mationsmateriale erwiesen haben — wurden bei der Arbeit bis zum
Momente der Drucklegung zur Ergänzung und Vervollständigung der
Darstellung benützt, so dass wohl mit Recht behauptet werden darf,
es existire dermalen kein Werk, welches über die Verhältsisse der
Seehäfen neuere Daten enthielte als das vorliegende.
Mit einiger patriotischer Befriedigung darf darauf hingewiesen
werden, dass hier von bewährten österreichischen Kräften ein Werk von
internationaler Bedeutung geschaffen wurde, das dem weltumfassenden
Geiste unserer Zeit entpricht und allen billigen Anforderungen, die an
eine solche Arbeit gestellt werden können, Rechnung trägt.
Der zweite Band, von dem bereits vier Lieferungen erschienen
sind, wird im Laufe des Jahres 1891 fertiggestellt werden, und es wird
Sorge der Verfasser und des Herausgebers sein, dass er in seinem Werthe
hinter dem ersten Bande nicht zurückbleibe.
Möge dem in mühevoller Arbeit entstandenen, aber mit Freude,
Eifer und Hingebung vollendeten Werke die Gunst der Gebildeten
lächeln!
Wien, im November 1890.
Dorn.
[]
Inhalts-Verzeichniss.
- Seite
- Das Mittelmeerbecken1
- Triest (1 Ansicht, 2 Pläne) 5
- Fiume (1 Ansicht, 1 Plan) 21
- Venedig (2 Ansichten, 1 Plan) 31
- Ancona (1 Ansicht, 1 Plan) 51
- Brindisi (1 Ansicht, 1 Plan) 55
- Corfù (2 Ansichten, 1 Plan) 59
- Patras und der Canal von Korinth (1 Ansicht, 3 Pläne) 69
- Piräus (1 Ansicht, 1 Plan) 80
- Syra (1 Ansicht, 1 Plan) 88
- Salonich (2 Ansichten, 1 Plan) 93
- Constantinopel (4 Ansichten, 1 Plan) 108
- Varna (1 Ansicht, 1 Plan) 136
- Die Donauhäfen (2 Ansichten, 3 Pläne) 143
Sulina, Galatz, Braila. - Odessa (1 Ansicht, 1 Plan) 166
Hiezu: Cherson, Nikolajew, Taganrog, Rostow. - Batum (2 Ansichten, 1 Plan) 184
- Trapezunt (2 Ansichten, 1 Plan) 191
Hiezu: Samsun. - Smyrna (1 Ansicht, 1 Plan) 200
Hiezu: Samos, Kreta. - Rhodos (1 Ansicht, 1 Plan) 216
Hiezu: Mersina, Cypern, Alexandrette, Tarabulus. - Beirut (1 Ansicht, 1 Plan) 229
Hiezu: Jaffa. - Der Suez-Canal (2 Ansichten, 4 Pläne) 254
Hiezu: Port-Saïd, Ismaïlia, Suez. - Alexandria (2 Ansichten, 1 Plan) 275
- Tunis (1 Ansicht, 3 Pläne) 296
Hiezu: Tripolis, Benghasi. - La Valetta (2 Ansichten, 1 Plan) 313
- Palermo (1 Ansicht, 2 Pläne) 323
- Seite
- Messina (1 Ansicht, 1 Plan) 333
Hiezu: Riposto, Catania, Syrakus, Marsala. - Neapel (1 Ansicht, 2 Pläne) 341
Hiezu: Castellamare, Torre Annunziata, Gragnano, Torre del Greco. - Livorno (1 Ansicht, 1 Plan) 355
- Genua (1 Ansicht, 1 Plan) 363
Hiezu: Savona. - Marseille (1 Ansicht, 2 Pläne) 386
- Cette (1 Ansicht, 1 Plan) 414
Hiezu: Port Vendres. - Algier (1 Ansicht, 1 Plan) 420
Hiezu: Oran, Philippeville, Bona. - Barcelona (1 Ansicht, 1 Plan) 438
Hiezu: Tarragona. - Valencia (1 Ansicht, 1 Plan) 463
Hiezu: Alicante. - Málaga (1 Ansicht, 1 Plan) 474
- Gibraltar (1 Ansicht, 2 Pläne) 483
- Der atlantische Ocean491
- Cádiz (1 Ansicht, 1 Plan) 495
- Sevilla (1 Ansicht, 2 Pläne) 507
- Huelva (1 Ansicht, 2 Pläne) 521
- Lissabon (1 Ansicht, 2 Pläne) 528
- Porto (1 Ansicht, 2 Pläne) 544
Hiezu: Vigo, Coruña. - Santander (1 Ansicht, 1 Plan) 553
- Bilbao (1 Ansicht, 3 Pläne) 560
- Bordeaux (1 Ansicht, 1 Plan) 569
- Nantes (1 Ansicht, 2 Pläne) 586
- Saint-Nazaire (1 Ansicht, 1 Plan) 595
- Le Hâvre (1 Ansicht, 1 Plan) 603
Hiezu: Rouen. - Boulogne-sur-Mer (1 Ansicht, 1 Plan) 622
- Calais (1 Ansicht, 1 Plan) 630
- Dünkirchen (1 Ansicht, 1 Plan) 637
- Antwerpen (1 Ansicht, 3 Pläne) 647
Hiezu: Vlissingen. - Rotterdam (1 Ansicht, 2 Pläne) 671
- Amsterdam (1 Ansicht, 5 Pläne) 688
- Bremen (1 Ansicht, 4 Pläne) 712
Hiezu: Bremerhaven. - Hamburg (2 Ansichten, 2 Pläne) 736
Hiezu: Altona, Cuxhaven, Helgoland. - Der Nord-Ostseecanal (1 Plan) 769
- Kopenhagen (1 Ansicht, 2 Pläne) 774
- Kiel (1 Ansicht, 1 Plan) 794
- Seite
- Lübeck (1 Ansicht, 2 Pläne) 800
Hiezu: Travemünde, Rostock, Warnemünde. - Stettin (1 Ansicht, 2 Pläne) 812
Hiezu: Swinemünde. - Danzig (1 Ansicht, 3 Pläne) 822
Hiezu: Neu-Fahrwasser. - Königsberg (1 Ansicht, 2 Pläne) 833
Hiezu: Pillau, Memel. - Libau (1 Ansicht, 1 Plan) 844
- Riga (1 Ansicht, 3 Pläne) 849
Hiezu: Reval. - St. Petersburg (1 Ansicht, 2 Pläne) 861
Hiezu: Kronstadt, Wiborg, Helsingfors, Hangö, Åbo. - Stockholm (1 Ansicht, 2 Pläne) 882
Hiezu: Malmö. - Göteborg (1 Ansicht, 2 Pläne) 896
- Christiania (1 Ansicht, 2 Pläne) 903
- Bergen (1 Ansicht, 1 Plan) 911
Hiezu: Trondhjem. - London (3 Ansichten, 5 Pläne) 916
- Dover (1 Ansicht, 1 Plan) 969
Hiezu: Folkstone, Harwich, Ipswich, Yarmouth. - Hull (1 Ansicht, 1 Plan) 979
Hiezu: Grimsby, Goole. - Newcastle (1 Ansicht, 2 Pläne) 989
Hiezu: Sunderland, Hartlepool, Middlesborough. - Edinburgh-Leith (1 Ansicht, 1 Plan) 999
Hiezu: Grangemouth, Dundee, Aberdeen. - Glasgow (1 Ansicht, 1 Plan) 1012
Hiezu: Govan, Dumbarton, Port Glasgow, Greenock. - Liverpool (1 Ansicht, 3 Pläne) 1024
Hiezu: Birkenhead, Manchestercanal. - Cardiff (1 Ansicht, 1 Plan) 1048
Hiezu: Milford Haven, Swansea, Newport. - Bristol (1 Ansicht, 2 Pläne) 1055
- Southampton (1 Ansicht, 1 Plan) 1063
Hiezu: Dartmouth, Plymouth, Newhaven. - Cork-Queenstown (1 Ansicht, 1 Plan) 1073
- Dublin (1 Ansicht, 2 Pläne) 1080
Hiezu: Kingstown. - Belfast (1 Ansicht, 2 Pläne) 1088
- Reykjavik (1 Ansicht, 1 Plan) 1096
Das Mittelmeerbecken.
Nicht bloss die Länder und Staaten, auch die Meere haben ihre
Geschichte. Und wie es bevorzugte Festlandsräume gibt, denen
sozusagen eine providentielle Mission für die Entwicklung der
Menschheit zutheil geworden ist, so kann man auch von ge-
wissen Meeren sagen, dass sie auserwählt worden sind, die
Gesittung der Menschen zu wecken, zu erhöhen, zu stützen, von
Anbeginn der geschichtlichen Ueberlieferung durch alle Wechselfälle
der Zeiten, bis zum gegenwärtigen Augenblicke und wohl auch in
alle Zukunft. Jener Meerestheil nun, dem im vorderster Reihe der
Name eines Culturmeeres, einer Wiege des Völkerverkehres, eines
Trägers geschichtlicher Erinnerungen, eines Werthbesitzes der Gegen-
wart, eines Menschheitserbes der Zukunft gebührt, ist das Mittelmeer,
die markanteste Individualität unter allen Salzwasserräumen mit der
feinst ausgearbeiteten und verständlichsten aller Physiognomien.
Unwillkürlich reproduciren wir mit der Vorstellung dieses
Meeres, seiner Buchten, Strassen und fein gegliederten Festlands-
küsten die Vorstellung seiner Hinterländer. Allmälig tritt das Natur-
bild immer mehr in den Hintergrund, wird zum Schauplatze stre-
bender Menschen, zum Cultur- und Geschichtsbilde.
Die Geschichte des Mittelmeeres beginnt mit den nautischen
Thatversuchen der Phönikier. Wie dieses hamito-semitische Volk
selbst auf dem Landwege an die seewärts gekehrten Abhänge des
cedernreichen Libanon gelangt war, so fand es die Küsten des Mittel-
meeres — die Festlandsinseln mit eingerechnet — gleichfalls schon
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 1
[2]Das Mittelmeerbecken.
durch continentale Einwanderung besetzt. Es fängt mit dem Auftreten
der Phönikier eine neue Aera der Besiedlung und Völkerberührung an.
Individuen eines Culturvolkes, das sich zum Colporteur der Erzeugnisse
aller schon bestehenden, meist an wasserreichen Strömen entstandenen
Culturländer emporgeschwungen hat, dringen in die homogenen, un-
entwickelten Massen begabter Naturvölker ein, und beschleunigen
deren Entwicklung. Es gibt eine Epoche, in der die Phönikier
die ausschliesslichen Herren des Mittelmeeres und damit des Welt-
handels sind, in welcher Epoche alle Länder bis nach Centralasien
und Indien, bis zur Nord- und Ostsee (Bernstein!) zu den Hinter-
ländern des Mittelmeeres gehören. Was sich an selbständigen Kräften
am indischen Oceane regen mag, wird durch die Verbindungen mit
dem persischen Golfe, mit Arabien und dem rothen Meere zu einer
Dépendance der jeweiligen Oberherren des Mittelmeerhandels. Ja, als
auf einem unermesslich weiten Umwege die Seide Chinas und das
Gold in den Welthandel gelangen, so wird auch der äusserste Osten
Asiens in den Anziehungskreis dieser commerciellen Centralstellen der
alten Welt hineingezogen.
Den Phönikiern folgen die Hellenen, diesen die Römer, ohne
dass sich dieses Ur- und Grundverhältniss anders gestalten würde.
Gerade zur Römerzeit, als die Cäsaren über die civilisirte Welt geboten
und den Barbaren das Joch der eigenen Cultur auferlegten, da wurde
die Idee der Mittelmeer-Monarchie erst Wirklichkeit und Wahrheit.
Die Römer, die Italiker und in der Kaiserzeit wohl noch andere An-
wohner des Mittelmeeres haben die Hinterländer im weitesten Sinne
des Wortes nicht bloss mit dem Schwerte unterworfen, sondern auch
ausgekauft und ausgewuchert, um Eigenthum, Freiheit und Fortexistenz
gebracht.
Der Vorhang fällt über die Ruinenstätte der wirthschaftlich zu-
grunde gerichteten Mittelmeerwelt, und die Culturarbeit einer neuen
Zeit fängt auf materiellem, wie auf ideellem Gebiete, wenn auch nicht
von vorne, so doch von neuem an. Lange, öde Zeiträume gehen dahin,
bis wir an den Küsten des Mittelmeeres zwei feindlichen Religions- und
Völkersystemen begegnen, durch deren Kämpfe sich die Idee der
Herrschaft über das Mittelmeer und dadurch über den Welthandel
hindurchzieht.
Zur Zeit der Kreuzzüge vollzieht sich eine Art von Ausgleich
der ringenden Kräfte, von denen aber die eine der anderen nicht Herr
zu werden vermag. Noch ist der Mittelmeerhandel, den man jetzt
nach seinem wichtigsten Emporium Levantehandel nennen kann, das
[3]Das Mittelmeerbecken.
Hauptstück des Welthandels. Die wiederbelebten oder neu entstandenen
Handelsmetropolen liegen noch immer am Mittelmeere, allen voran
sind Venedig und Genua, deren Macht und Einfluss von Indien
bis zur Nordsee reicht.
Jedoch gegen das Ende des historischen Mittelalters mehrten
sich die Anzeichen, dass die commercielle Alleinherrschaft des Mittel-
meeres zur Neige gehe. Im XIII. und XIV. Jahrhundert hatte sich an
den Küsten des baltischen und des deutschen Meeres die Hansa ge-
bildet, die über ein primäres, unabhängiges, selbstgenügendes Handels-
gebiet die Herrschaft führte.
Was an ähnlichen Vorgängen in den Gewässern des indischen
Oceans stattgefunden haben mag, entzieht sich nach wie vor unseren
Blicken. Kurz, die Welt gewöhnte sich an die Emancipation von den
mediterranen Handelsplätzen und machte sich an die Depossedirung
des Mittelmeeres. Da traten die grossen Ereignisse des Entdeckungs-
zeitalters ein: Der Seeweg nach Ostindien ward gefunden, und eine
neue Welt hob sich aus den Fluten des Westmeeres. In gleicher Zeit
wurden durch das Umsichgreifen der Türken die christlichen Abend-
länder aus den Häfen der Levante hinausmanöverirt und ihrer tausend-
jährigen Verbindungen mit den ältesten Culturländern der Erde beraubt.
Diese Thatsachen zusammengenommen bilden die Peripetie in der
Geschichte des Mittelmeeres. Der Welthandel bewegt sich in neuen
Bahnen und concentrirt sich in Handelsplätzen, welche nicht in Winkeln
eines winkeligen Binnenmeeres gelegen sind, sondern durch ihre Lage
am Weltmeere dem Seefahrer und dem Kaufmanne günstigere Chancen
darbieten. Doch folgte den Zeiten des Verfalls bald eine Periode von
hoffnungs- und erfolgreichen Versuchen, der veränderten Sachlage
die möglichst günstige Seite abzugewinnen und in den Weltverkehr
ohne jede Herrschaftsprätention als dienendes Glied einzutreten. Schon
im XVIII. Jahrhundert nach den Siegen Oesterreichs über die Pforte
begann der Orienthandel in mässigen Dimensionen die Mittelmeerge-
genden zu beleben; auch das Vordringen Russlands an das Schwarze
Meer blieb nicht ohne Folgen, ebenso die Zersetzung des türkischen
Staatengefüges.
Mühselig und nicht gerade übermässig lohnend waren nament-
lich anfangs diese Versuche, sich über die Ungunst der Verhältnisse
durch eigene Anstrengung hinweg zu helfen. Indessen nahte die Epoche
einer wenigstens theilweisen Rehabilitirung, einer commerciellen Restau-
ration des Mittelmeeres heran. Schon die Verbindung der Mittelmeer-
häfen mit den Hinterländern durch die neuen Verkehrsmittel des
1*
[4]Das Mittelmeerbecken.
XIX. Jahrhunderts brachte in den localen Handel Schwung. Auch gelang
es der Politik, die Levante und die Nordküste Afrikas den Europäern
immer zugänglicher zu machen, wo nicht gar in deren Hände zu
bringen. Das letzte und entscheidende Moment aber war die Erneuerung
eines Gedankens, der schon zu den Zeiten der Pharaonen und Ptolomäer
Leben gewonnen hatte und noch zuletzt bei der Napoleon’schen Ex-
pedition nach Aegypten wieder aufgetaucht war: Die Durchstechung
des Isthmus von Suez, die Schaffung eines ungeheuer abgekürzten
Weges nach den Hauptländern des Welthandels, nach Indien, den
Sunda-Inseln, Ostasien und Australien. Als sich im Jahre 1869 die
Fürsten und Völker der gesitteten Welt bei dem Schauspiele der Er-
öffnung des Suezcanales einfanden, ratificirten sie auch die Wieder-
einsetzung des Mittelmeeres in seine commerciellen Herrschaftsrechte.
Zum Heile der in den letzten Jahrhunderten neu entstandenen
Handelsstaaten kann diese Herrschaft nicht mehr eine Alleinherrschaft,
wie sie es im Alterthume und Mittelalter gewesen, werden; die neueste
Zeit hat eben nur das im XVI. Jahrhundert aus dem Welthandel aus-
geschaltete Mittelmeer in denselben wieder eingeschaltet.
Indem wir nun an die Schilderung der wichtigsten Häfen des
Mittelmeeres und seiner Nebenmeere gehen, beginnen wir mit jenem
Hafen, der dem Centrum des europäischen Festlandes am nächsten
liegt, mit Triest.
[[5]]
Triest.
Der Siegeszug der morgenländischen Cultur erreichte frühzeitig
die sonnigen Gestade des heutigen adriatischen Meeres, das — worauf
die ältesten Quellen hinweisen — von dem Reize einer erlauchten
Urzeit umflossen ist.
Nach den altgriechischen Sagen, in welchen schon der Name
Illyrien erklingt, das ist jener der indo-germanischen Bewohner der
adriatischen Küstenländer, dürfen Kadmos, Herakles, ja selbst Jason,
der gefeierte Argonautenführer, für den geschichtlichen Hintergrund
des Adriameeres in Anspruch genommen werden. Immerhin kann fest-
gestellt werden, dass mehr als drei Jahrtausende verflossen sind, seit-
dem die Phönikier an diesen Küsten erschienen und den Seeverkehr
dahin ausdehnten. Zunächst folgten die Pelasger, jene ältesten Be-
wohner Griechenlands, die als Erbauer der kyklopischen Mauern
gelten; dann kamen in späteren Jahrhunderten die Etrusker, Japiden
und Liburnier, bis Illyrien, durch die Legionen des Kaisers Augustus
28 v. Chr. nach langen Kämpfen erobert, unter römische Herrschaft
gerieth.
Die Erinnerung an die römische Zeit ist in den meisten Küsten-
städten der Adria durch herrliche Baudenkmale erhalten. Auch
Triest ist eine Gründung der Römer. Die Stadt hiess Tergeste und
wurde aus strategischen Gründen an dem Punkte, wo sie noch steht,
angelegt. Hätten die Römer eine Handelsstation gründen wollen, so
hätten sie wohl die Bucht von Muggia gewählt. Ihr Handelshafen
war Aquileja.
In den folgenden Jahrhunderten gelangten die Städte Aquileja,
Ravenna und Venedig zu geschichtlicher Bedeutung; die beiden erst-
genannten unterlagen den Hunnen und Herulern, während die grossen
Umwälzungen in Italien nach dem Sturze des weströmischen Reiches
zur Gründung der glanzvollen Republik Venedig führten, die während
[6]Das Mittelmeerbecken.
eines vierzehnhundertjährigen Bestandes den grössten Einfluss auf die
Schicksale der Küstenbewohner des adriatischen Meeres — damals
Golfo Veneziano genannt — ausgeübt hatte.
Triest, das Tergeste der alten Römer, kam erst im XVIII. Jahr-
hunderte zu einiger Bedeutung. Von der übermächtigen Republik
Venedig unablässig bedrängt, suchte und fand die Stadt allerdings
schon Hilfe und Schutz bei dem Herzoge Leopold von Oesterreich,
der 1382 Triest seinem Reiche zugesellt; durch diesen Act der Staats-
klugheit hatte das Haus Habsburg den Zugang zur See sich gesichert.
Indess blieb Triest bis Ende des XVII. Jahrhundertes ein bedeutungs-
loser Küstenplatz, dessen Hauptreichthum nur im Weinbaue bestand,
denn Venedig wusste die durch Tractate verbriefte freie Schiffahrt in
und durch die Adria mit allen Mitteln zu hintertreiben, bis Kaiser
Karl VI. in seinem denkwürdigen Patente vom 2. Juni 1717 die Adria
für den Schiffsverkehr frei erklärte und jede seinen Unterthanen zu-
gefügte Belästigung so zu ahnden erklärte, als ob sie einer seiner
Provinzen selbst widerfahren wäre.
Karl VI., welcher der Hebung des Seehandels die vollste Be-
achtung widmete, erklärte 1719 Triest und Fiume zu Freihäfen und
stattete diese mit vielen commerciellen und nautischen Einrichtungen
aus. Zugleich fand der unter so günstigen Verhältnissen aufblühende
Seehandel durch die Gründung einer Kriegsmarine Schutz und Auf-
munterung. Kaiserin Maria Theresia, die Pläne ihres Vaters sorgsamst
fördernd, erbaute zu Triest ausgedehnte Hafenanlagen und Molen, von
welch letzteren der ihren Namen führende und mit einem Leucht-
thurme an seiner Spitze versehene noch heute besteht und die soge-
nannte Sacchetta des Hafens gegen die offene See abschliesst.
Während der gewaltigen, den europäischen Continent verheeren-
den Kämpfe, welche die französische Revolution entfesselt hatte, fiel
Triest zu wiederholtenmalen in französischen Besitz, bis die Stadt,
1813 nach viertägiger erfolgreicher Belagerung des von den Franzosen
mit Bravour vertheidigten Castells wieder dem Banner der Habsburger
gewonnen ward. Unter der segensreichen Herrschaft dieses Kaiser-
hauses hatte Triest, seit 1849 zum reichsunmittelbaren Gebiete erhoben,
allmälig zum reichen, handelsmächtigen Emporium und zum Haupt-
hafen der Monarchie sich aufgeschwungen, und als 1857 die Eisen-
bahnverbindung mit dem Inlande hergestellt war, genügten die un-
vollkommenen Einrichtungen des damaligen allen äusseren Winden
ganz ausgesetzten Hafens — eigentlich Rhede — nicht mehr, um
den gesteigerten Schiffahrtsverkehr bewältigen zu können. Deshalb
[7]Triest.
wurde 1862 die Umwandlung des offenen Hafens in einen geschlossenen
projectirt und die Arbeiten nach den Plänen des französischen Ingenieurs
Paulin Talabot im Jahre 1867 begonnen. Der gänzliche Ausbau
der prächtigen Hafenanlagen ist noch nicht vollendet. Die letzteren
nehmen den nordöstlichen Theil des alten Hafens in der Länge von
1200 m ein. Vier breite Molen, welchen ein 1100 m langer Wellen-
brecher vorgelagert ist, bilden drei grosse geschützte Bassins, die
eine Quai-Entwicklung von 2800 m bei 39·5 ha Fläche und 8·5 m
Wassertiefe besitzen. Dem nördlichsten Bassin zunächst gelegen ist
der Petroleumhafen, der mit den neuesten Einrichtungen für die ge-
fahrlose Ausladung des Steinöles ausgestattet ist. Auf den 80 m breiten
Hauptmolen erheben sich geräumige Hangars, die gleichwie die aus-
gedehnten Lagerhäuser auf der mehr als 21 ha messenden An-
schüttungsfläche nächst des Bahnhofes mit dem Schienenstrange
der Südbahn und der bei Sta. Andrea ausmündenden Staatsbahn
verbunden sind. Die glänzende elektrische Beleuchtung des neuen
Hafens gestattet auch bei Nacht die Verladung und Löschung der
Frachten.
Die Herstellungskosten der ganzen Hafenanlage, die eine Material-
bewegung von 6,000.000 m3 erforderte, belaufen sich auf mehr als
20 Millionen Gulden. Neuester Zeit wird beabsichtigt, auch den süd-
lichen Theil des Hafens von Triest umzubauen, einen Holzhafen nach
St. Andrea und den Petroleumhafen nach Sta. Sabba zu verlegen. Nach
dem Ausbau der Lagerhäuser wird die bereits beschlossene Aufhebung
des Freihafenpatentes stattfinden, von welcher Massregel eine weitere
Belebung des Handelsverkehrs von Triest mit Recht zu erwarten ist.
Der Golf von Triest zählt zu den landschaftlich reizendsten Partien
der Adriaküsten.
Im Norden senken die steilen Abfälle des felsigen Karstplateaus,
dessen Rand die Ortschaften Prosecco und Sta. Croce schmücken,
schluchtenreich zum Strande sich herab. Das malerische Duino, auf
hohen senkrecht zum Meere abstürzenden Felsen erbaut, von dem aus
der Blick über das weite Lagunenfeld von Grado und Aquileja schweift,
ist der westlichste Markpunkt im Bilde des Golfes. Gegen Triest zu fesseln
das in majestätischer Ruhe auf trotzigen Felsen emporragende Schloss
von Miramar und die herrlichen Terrassen seines immergrünen Parkes
die Aufmerksamkeit des Beobachters. Villen, Gärten und an waldige
Schluchten gelehnte Ortschaften, von welchen Barcola ein beliebter
Ausflugsort der Triester, geleiten nun den Küstensaum in form- und
farbenreicher Abwechslung bis zum Weichbilde der Stadt.
[8]Das Mittelmeerbecken.
Im Süden des Golfes ragt gegenüber von Duino die reizende
Silhouette des Domes von Pirano wie ein Wegweiser über den Horizont
empor und die sanften Terrainwellen des istrischen Hügellandes, das
hier in vollem Schmucke seiner reichen Olivenhaine und Rebenculturen
prangt, vereinigen sich, die weiten Buchten von Muggia und Zaule
umschliessend, mit den felsigen Hängen des Karstes. Auch hier lagern
anmuthige Ortschaften oder Villegiaturen längs des buchtenreichen
Strandes.
Völlig einladend blinken weiter westwärts die schmucken Ge-
bäude der ausgedehnten Lazarethanlage in der Bucht von St. Barto-
lomeo. Die Anstalt ist bestimmt, alle nach Triest und Istrien mit un-
reinem Patente anlangenden Schiffe unter strengster Aufsicht zu halten
und für die Zeit der Quarantaine den Verkehr mit denselben zu
verhindern.
Westlich von der Spitze Ronc erblickt man die Baulichkeiten
der Werfte S. Rocco, welche der durch den Bau grosser Schlacht-
schiffe rühmlichst bekannten Schiff- und Maschinenbau-Gesellschaft
„Stabilimento tecnico triestino“ zugehört. Aus kleinen Anfängen stieg
dieses Etablissement zum Range einer grossartigen Unternehmung
empor und liefert nun seit Jahren sowohl für die österreichisch-
ungarische Flotte, wie für fremde Marinen im vollen Sinne des Wortes
prächtige Meisterwerke der Schiff- und Maschinenbaukunst.
Die pittoresk gelegenen Gebiete von Muggia und Zaule schliesst
das auf schroff zur See abfallendem Hügel gelegene Servola mit seiner
weithin sichtbaren Kirche ab.
Von der ganzen Küstenstrecke der Adria vermögen nur die
Bocche di Cattaro mit ihrer grossartig trostlosen Gebirgswelt an male-
rischen Effecten mit dem Golfe von Triest zu wetteifern, in dessen
herrlichem Bilde die Stadt Triest selbst den gebührenden vornehmsten
Platz einnimmt. Ihr weitläufiges Häusergewirre bedeckt in einer Er-
streckung von 3 km die dem Meere abgewonnene Strandniederung und
sendet wohlgeschlossene Colonnen schöner Baulichkeiten weit hinein
in die tief eingeschnittenen, von grünen Höhen begleiteten Thalsohlen.
Ueber der durch Monumentalbauten gezierten Quaifront gewahrt
man die dunklen Bastionen des Castells, das so recht die Rolle eines
unwirschen Stadtwächters einzunehmen scheint. Am Fusse dieser alten
Befestigung, von der gegenwärtig nur mehr die Abgabe von fried-
lichen Salutschüssen erfolgt, war im Alterthume das römische Tergeste
gruppirt; heute nimmt die sogenannte Altstadt mit ihren schmalen,
lichtscheuen Gässchen diesen ehrwürdigen Stammsitz ein und krabbelt
[[9]]
Triest.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 2
[10]Das Mittelmeerbecken.
in anscheinend tollkühnem Unterfangen hinan bis zu den Castellmauern.
Im Gegensatze zum Winkelwerke der Altstadt trägt die in regel-
mässigen, senkrecht sich schneidenden Gassenzügen erbaute Neu- oder
Theresienstadt ein durchaus vornehmes Gepräge, ohne indes auf eine
besondere Charakteristik Anspruch erheben zu können.
Ueber der Stadt gegen Norden zu ragt auf der Höhe des Karstes
der schlanke Obelisk von Opcina empor, und da er an den Ausbau
der grossen Handelsstrasse erinnert, die seit Karl VI. berufen war, die
Verbindung der Reichs-Haupt- und Residenzstadt Wien auf der Route
über den Semmering, Graz und Laibach mit dem Meere zu verbinden,
so verdient dieser Gedenkstein als Wahrzeichen der Verkehrsentwick-
lung von Triest hier genannt zu werden. Von seinem Fusse aus, der,
354 m über der Meeresfläche gelegen, um Weniges höher über dem
Pflaster von Triest sich befindet, als die Spitze des Eiffelthurmes über
dem Pariser Marsfelde, geniesst man einen unvergleichlich schönen
Rundblick über die Stadt und deren reizende Umgebung.
Eine Promenade längs der Quais des neuen Hafens zeigt uns
die gewaltigen Verkehrsmittel und Anstalten der Gegenwart. Da liegen
sie, die riesigen Dampfer, welche die kostbarsten Producte der uner-
schöpflichen Tropenwelt in ihren mächtigen Stahlleibern bergen, um
sie mittelst Dampfkraft direct auf die ihrer harrenden Lastzüge zu
verladen. Wie schnell ist eine Ladung von einigen tausend Tonnen
gelöscht und wie rasch füllen sich im lebhaften Handelsverkehr des
Hafens die weiten Räume der Schiffe! Im alten Hafen, besonders in
dem dort mündenden Canale grande, scheint hingegen das geflügelte
Wort von Zeit und Geld noch nicht zur Geltung gekommen zu sein, denn
er entbehrt durchwegs der modernen Einrichtungen und die Verlade-
operationen vollziehen sich daher mit einer auffallenden Bedächtigkeit.
Selbstverständlich ist Triest der Hauptsitz aller maritimen Be-
hörden und Anstalten der cisleithanischen Reichshälfte. Von grosser
Wichtigkeit für die Heranbildung eines Nachwuchses für Schiffahrt
und Handel ist die Handels- und nautische Akademie mit Sternwarte und
einem reichen Museum. Ein gut ausgestattetes Aquarium in Verbindung
mit einer zoologischen Versuchsstation ist berufen, das Studium der Fauna
und Flora des Meeres zu fördern. An den Hafen gebunden ist gleich-
falls die grosse Dampfschiffahrts-Gesellschaft des österreichisch-unga-
rischen Lloyd, deren palastähnliches Directionsgebäude die Quaifront
ziert. Die weitläufigen Werften, Docks und Etablissements dieser Gesell-
schaft, die zu den grössten navalen Verkehrsunternehmungen der Erde
zählt, wurden am nördlichen Strande der Bai von Muggia erbaut.
[11]Triest.
An sehenswerthen öffentlichen Bauwerken ist Triest im Grunde
genommen arm, doch besitzt es in seiner auf dominirender Höhe ge-
legenen Kathedrale von St. Giusto ein ehrwürdiges Denkmal der alt-
christlichen Architektur. Beachtung verdienen auch einzelne originell
und luxuriös angelegte Paläste reicher Kaufherren.
Die Hauptverkehrsstrasse von Triest ist der Corso, längs dessen
die vornehmsten Verkaufsgeschäfte etablirt sind. Der Corso verbindet
die Piazza grande, den Börsenplatz und den Holzplatz und bildet die
Abgrenzung zwischen der Alt- und Neustadt. Zwei Denkmale zieren
den Börsenplatz: eine schöne Neptunsgruppe und das 1660 errichtete
Monument Kaiser Leopold I.
In den Gartenanlagen vor der weitläufigen Südbahnstation ward
1888 ein geistvoll gedachtes Denkmal zur Erinnerung an die Ein-
verleibung Triests unter das Scepter des Hauses Oesterreich errichtet.
Künstlerisch am hervorragendsten ist jedoch das Erzbild des
unglücklichen Erzherzogs Ferdinand Maximilian, des Kaisers von
Mexico, der 1867 zu Queretaro den Opfertod starb. Dieses auf der
Piazza Giuseppina am Quai des alten Hafens stehende Monument ist
gegen das in der Ferne schimmernde Feenschloss Miramar gewendet.
Der fürstliche Glanz und die kunstsinnige Pracht, die das Innere dieses
Schlosses auszeichnen, wie nicht minder die romantische Anlage des
mancherlei Ueberraschungen bietenden herrlichen Parkes zeugen von
der Prunkliebe des geistvollen Prinzen. Miramar ist ebenso sehr einer
der lohnendsten Ausflugsorte der Triester, wie es auf die Fremden
eine mächtige Anziehungskraft ausübt.
Während der Wintersaison ist die hübsch gelegene Promenade
nächst der Spitze St. Andrea das beliebte Stelldichein der Stadt-
bevölkerung, wohingegen in der schönen Jahreszeit der Boschetto
(Wäldchen) mit seinen zur Höhe des Ferdinandeums führenden schatti-
gen Wegen bevorzugt wird.
Wer Studien über Volkstypen betreibt, wird in Triest, wie es
dem Charakter einer Stätte des Welthandels entspricht, sein Interesse
befriedigt finden. Einem jeden Besucher dieser Stadt dürfte das liebens-
würdige Wesen und der frohe Sinn der Bewohner in angenehmer Erin-
nerung verbleiben. Diesen Eindruck vermittelt das lebhafte Treiben der
rührigen, in den Typen, oft auch in der farbigen Kleidung den Süden
verrathenden Menge, die bis in späte Nachtstunden auf Strassen und
Plätzen wogt, und wer in klarer Sommernacht an den Marmortischen
des prächtigen Café Orientale vor dem Lloydpalaste geweilt und
2*
[12]Das Mittelmeerbecken.
den Blick in die ahnungsvollen Fernen des von funkelnden Sternen
beschienenen Meeres senkte, wird Triest im Fluge liebgewonnen haben.
Betrachten wir nun Triest als Handelsplatz, so stehen wir in
einem der grössten mitteleuropäischen Häfen (circa 150.000
Einwohner), dessen Entwicklung namentlich durch die geographische
Lage bestimmt ist und durch das Mass, in welchem diese wieder
durch entsprechende Communicationsmittel ausgenützt wurde und wird.
Der Golf, an dem die Stadt liegt, bildet den am meisten nach Norden
vorgeschobenen Winkel des adriatischen Meeres; er ist zugleich der End-
punkt jener wichtigen, von der Natur gegebenen Verkehrslinie, welche die
fruchtbaren Tiefländer an der Oder und Weichsel auf dem kürzesten Wege
mit dem Mittelländischen Meere verbindet. Diese Strasse führt längs der
March an die Donau, überschreitet die Alpen in dem niedrigen Passe
des Semmering, und, den meist breiten Thälern der Flüsse folgend, ge-
langt man bis in die Nähe des Meeres, wo dann kurz vor dem Ziele die
wasserarmen Hochflächen des Karstes den unmittelbaren Abstieg nach
Triest verhindern und uns zwingen, sie zu umgehen. Aus dieser be-
sonderen Lage von Triest, das eine bequeme Verbindung mit dem
Hinterlande in der nächsten Umgebung nicht besitzt, erklärt sich der
Verlauf der Geschichte seines Handels und dessen Eigenart. Triest ist
nicht einer jener Hafenplätze, welche selbstthätig die im Innern ge-
legenen Gebiete erschliessen, es musste vielmehr einem Dornröschen
gleich von dem mächtigen Beherrscher des Hinterlandes aus seinem
Traumleben erweckt worden.
Als Karl VI. daran ging, Triest zu einem Handelsemporium seiner
deutschen Erblande zu machen, wohnte hier eine begabte, lebhafte
Bevölkerung, welche einen dem venetianischen nahe verwandten Dialekt
sprach, die aber bis dahin wenig Gelegenheit gehabt hatte, sich
am Handel zu bethätigen. Diese war nicht genügend geschult für
die weitaussehenden Pläne des Herrschers, dem als Handelsgebiet
für sein Triest die Levante zu klein schien. Er suchte die Griechen,
das erste Handelsvolk des östlichen Theiles des Mittelmeeres, her-
einzuziehen, und das damals streng katholische Oesterreich, welches
die Protestanten seiner Alpenländer nach Ungarn und Siebenbürgen
schickte, gestattete in Triest den orientalischen Griechen das Recht
der freien Uebung der Religion lange vor dem Toleranzpatente Josef II.
Man rief auch Belgier, Holländer, Deutsche aus dem Reiche herbei;
aber unter all den verschiedenartigen Elementen erlangten im Laufe
der Zeit die Italiener das Uebergewicht, denen sich die aus der Ferne
Gekommenen zum Theile sprachlich assimilirten.
[[13]]
A Rhede von Triest, B Wellenbrecher des neuen Hafens von Triest, C Castell, D Obelisk von Opcina,
E Seilerei bei Servola, F Leuchtfeuer, G Projectirter Holzhafen bei S. Andrea-Spitze, H Arsenal der
Lloyd-Gesellschaft, J Petroleummagazine in der Valle Zaole, K Salinen, L Schlachthaus, M Friedhöfe
von S. Anna, N Werfte S. Rocco des Stabilimento Tecnico, O Bahnhof der Südbahn-Gesellschaft,
O1 Bahnhof der Staatsbahn bei S Andrea, P Altes Petroleumbassin, Q Hafencapitänat.
[14]Das Mittelmeerbecken.
Mehr als in mancher anderen Hafenstadt zeigt in Triest der Gang
der Geschäfte eine Wellenlinie. Auf Zeiten grosser Prosperität und
leichten Geldverdienens folgten Tage voller Schwierigkeiten und Stag-
nationen, unter denen heute noch Oesterreichs grosser Handelsplatz an
der Adria leidet. Vier Momente sind es, welche diese ungünstige Ver-
änderung zur Folge haben. Heute überbrücken sechs Schienenwege
die lange Alpenkette, früher that dies bloss die österreichische Süd-
bahn; heute concentrirt Ungarn seinen überseeischen Handel mit
aller Kraft in Fiume; ein Drittes ist der Umstand, dass die export-
fähige österreichische Industrie, in den Nordsudeten und Nieder-
österreich vor allem angesiedelt, dem billigen Wasserweg der Elbe
folgend, nach Hamburg gravitirt, und endlich, last not least, leidet
Triest, wie alle Hafenplätze der Erde, unter dem Bestreben der neuesten
Zeit, den Zwischenhandel, welchem gerade die alten Triester Häuser
ihren Ruf und ihre Millionen verdanken, zu umgehen. Je mehr sich
Producent und Consument selbst über Weltmeere hinweg die Hände
reichen, desto mehr wird Triest zu einem Transitoplatze herabgedrückt.
Daraus erklärt sich die scheinbar widersprechende Erscheinung, dass
der Verkehr zu-, der Gewinn aber abnimmt. Ein Differentialzoll sucht
Hamburgs Einfluss auf Oesterreich-Ungarn abzuschwächen; auch die
Schweiz bedient sich seit Eröffnung der Arlbergbahn in steigendem
Masse der Vermittlung des Triester Hafens, und dieser Theil des Handels
ist so gross, wie der, welcher zu Lande von Triest aus nach dem be-
nachbarten Italien betrieben wird.
Um den Werth des Triester Handels in der Ein- und Ausfuhr nach der
Seite des Landes und nach der See hin zu zeigen, bringen wir folgende Tabelle:
| [...] |
Bei Beurtheilung dieser Ziffern muss man sich jedoch gegenwärtig halten,
dass heutzutage die Mehrzahl der Waaren nur im reinen Transit durch Triest ge-
leitet wird.
Gross ist der Antheil, welchen die fremden Flaggen an dem Werthe des
Seehandels von Triest nehmen. Sie brachten 1888 in der Einfuhr Güter im Werthe
von 84·4 Millionen Gulden, die nationalen Schiffe solche im Werthe von 110·5 Mil-
lionen Gulden, und in früheren Jahren waren die Verhältnisse noch weit ungün-
stiger. Nur in der Ausfuhr übt die nationale Flagge ein gewaltiges Uebergewicht
[15]Triest.
aus; von der Gesammtziffer von 156·8 Millionen Gulden entfielen 1888 auf sie
117·4 Millionen Gulden, also nahezu drei Viertel.
Von den Schiffen fremder Nationen vermittelten den grössten Handelswerth
die der Engländer; auf sie folgen die Italiener, und seit die Dampfer des Nord-
deutschen Lloyd Triest nicht mehr anlaufen, stehen die Griechen an dritter Stelle.
Es ist überhaupt interessant, zu beobachten, wie das griechische Element in der
Vermittlung des Triester Handels energisch vordringt.
Was die Bestimmungs- und Herkunftsländer der im Triester Seeverkehre
zur Verstauung kommenden Waaren betrifft, so hat dieser Hafenplatz — abgesehen
von den Transporten nach und von österreichischen und ungarischen Häfen — den
stärksten Verkehr in absteigender Reihenfolge mit Italien, der Türkei, Ostindien,
Griechenland, Grossbritannien, Aegypten und Brasilien.
Wir werden nun jene Waaren einzeln besprechen, welche für den Handel
von Triest von besonderer Bedeutung sind, und dieser Schilderung die Resultate
des Jahres 1888 zugrunde legen; dabei werden wir die Einfuhr und die Ausfuhr
nicht immer streng gesondert behandeln, da es sich ja hier nur darum handelt,
ein anschauliches Bild des Triester Handels zu entwerfen.
Unter den zur See eingeführten Artikeln kommen hauptsächlich Colonial-
waaren, Baumwolle, Früchte u. s. w. in Betracht, und unter den ersteren spielt
Kaffee eine bedeutende Rolle: Triest ist einer der ersten Kaffeemärkte Europas.
Die höchste Einfuhr fand 1886 mit 427.757 q statt, 1888 erreichte sie 327.588 q.
Der grösste Theil kam aus Brasilien (1888 160.929 q), dann aus Grossbritannien
(auch überwiegend brasilianischer Abkunft) und aus den Niederlanden. Versorgt
werden von Triest aus mit Kaffee Oesterreich, dann Ungarn, ferner die Türkei,
Griechenland, dessen nordwestliche Märkte ihren Kaffeebedarf fast ausschliesslich
aus Triest beziehen, und das Venezianische.
Die im Hafen von Triest gelandete Baumwolle (1888 603.723 q) stammte
aus Ostindien, Aegypten und der Levante. Eine Ausfuhr zur See fand nur nach
dem Venetianischen statt; von der Ausfuhr zu Lande (518.090 q) gingen ansehn-
liche Mengen auch nach Deutschland und der Schweiz. Die Einfuhr von ostindischer
Jute fand meist direct statt; 1888 117.512 q.
Für den Handel mit Südfrüchten, deren ältestes Productionsgebiet ja das
östliche Becken des mittelländischen Meeres bildet, ist Triest sehr günstig ge-
legen. Von Agrumi, das sind Orangen, Cedern und Citronen, wurden zur
See 288.265 q zugeführt und grösstentheils zu Lande in das heimische Zollgebiet,
dann nach Deutschland und Russland verschickt. Dasselbe gilt für Johannisbrot,
das aus Neapel kommt, für trockene Feigen, aus Griechenland, Neapel und
der Türkei stammend, für Mandeln, welche Neapel und Sicilien liefern; ferner
für Nüsse und Haselnüsse, Ursprungsländer die Türkei und Unteritalien mit
Sicilien. Von Korinthen und Rosinen, die heute auch für die Bereitung des
Weines steigend Wichtigkeit erlangen, wurden im Ganzen 153.492 q, davon
121.460 aus der Türkei, 28.941 aus Griechenland eingeführt. Von diesen geht nach
Deutschland über Triest fast soviel wie nach Oesterreich. Zu erwähnen wären
noch verschiedene Oele (etwa 100.000 q), besonders Olivenöl, und auch Wein.
Die Einfuhr aus dem Pflanzenreiche wollen wir mit dem ziemlich bedeu-
tenden Getreidehandel (circa 700.000 q Umsatz) schliessen. Die stärksten Zu-
fuhren kommen aus Südrussland. Italien ist das Hauptziel des Exportes von
Getreide aus Triest.
[16]Das Mittelmeerbecken.
Bei den Producten aus dem Thierreiche überrascht der geringe Umfang
des Handels mit Fischen. Schafwolle, Lamm- und Ziegenfelle werden zumeist
aus der Türkei und Griechenland bezogen; von den rohen Ochsen-, Büffel- und
Kuhhäuten (1888 57.596 q) kommt weit über die Hälfte aus Indien und China.
Beinahe ebenso kurz können wir uns bei Besprechung der Artikel des
Mineralreiches fassen. Die markanteste Erscheinung auf diesem Gebiete ist,
dass jetzt Rohpetroleum und Naphtha meist aus Russland (Baku über Batum)
kommen; die Einfuhr von dort ist 1888 auf 414.133 q gestiegen, die aus Nord-
amerika auf 9646 q gesunken, denen man auch die 3000 q zurechnen darf, die aus
Grossbritannien und Hamburg eingingen.
In der Einfuhr von Steinkohlen nach Triest sehen wir Grossbritannien
in einem erfolgreichen Wettbewerbe mit Oesterreich-Ungarn. Zur See gingen 1888
691.756 q ein, davon aus Grossbritannien 625.036 q, aus Oesterreich-Ungarn
65.990 q; zu Lande kamen von Oesterreich-Ungarn 608.279 q. Die Einfuhr englischer
Kohle würde noch grösser sein, wäre nicht der Oesterreichisch-ungarische Lloyd
vertragsmässig verpflichtet, 30.000 t Kohle aus inländischen Werken zu beziehen.
Klein ist gegenüber der Anzahl der Rohproducte, die zur See nach Triest
gebracht werden, die Reihe der Fabricate, die auf demselben Wege dahin gelangen.
Russland und Rumänien bringen Alkohol (1888 10.250 q), Grossbritannien Eisen,
Eisenwaaren und Maschinen, Zündhölzchen [und] Zündwachskerzchen kommen
aus Italien.
Was die wichtigsten Ausfuhrartikel anbelangt, so sei zuerst der Zucker
genannt; bei diesem zeigt sich, wie mächtig die Concurrenz Frankreichs, Russ-
lands und Aegyptens ist. Die Ausfuhr des raffinirten Zuckers betrug 1886
714.805 q, 1888 nur mehr 450.079 q, welche in die Türkei, nach Aegypten, Bulgarien
und Tunis gingen.
Neben Zucker nehmen aus der Gruppe der Nahrungs- und Genussmittel im
Exporte von Triest noch folgende Artikel eine hervorragende Stelle ein:
Mehl, 250.000 q nach Grossbritannien, Brasilien, der Türkei, Griechenland,
Ostindien, Zanzibar.
Bier wurde in einer Menge von 107.061 q ausgeführt, die namhaftesten
Absatzgebiete im Auslande waren Aegypten (34.081 q), die Türkei, Italien, Ost-
indien, Griechenland, wo sich Biergattungen aus Wien und Graz grosser Beliebt-
heit erfreuen.
Wein (1888 circa 300.000 q) geht zumeist nach Frankreich.
Wir müssen auch über die getrockneten und zubereiteten Früchte
berichten, deren Haupttheil die getrockneten Pflaumen aus Slavonien und Bosnien
bilden. Die Vereinigten Staaten von Amerika nahmen 1888 von den exportirten
179.494 q fünf Sechstel in Empfang. Als Gewürzmarkt ist Triest nicht bedeutend.
Beim Holzexport hat der Handel noch tiefer einschneidende Veränderun-
gen erfahren als bei Zucker; Triest ist wegen der Concurrenz Fiumes fast allein auf
die Zufuhren aus Oesterreich angewiesen. Dessenungeachtet erreichte die Gesammt-
ausfuhr 1888 34,418.763 Stück Hölzer, 7651 m3 gezimmerte Balken und 52.026 q
andere Holzgattungen. Bei Betrachtung der Einzelnheiten sehen wir, dass der
Export der Fassdauben auf 17,154.417 Stück beschränkt ist, von denen Frankreich
8·5 Millionen, Italien 5·7 Millionen, Griechenland 1·8 Millionen und Algier, dessen
[17]Triest.
Weinhandel kräftig aufblüht, 0·3 Millionen Stück aufnahmen. Auch Gibraltar und
England sind mit ansehnlichen Ziffern betheiligt. Für die übrigen Gattungen
beschränken wir uns auf die Angaben, dass Griechenland, Italien, Aegypten und
auch die Türkei einen grossen Theil ihres Holzbedarfes aus Triest beziehen;
Parquetten gehen bis England.
Von grosser Wichtigkeit ist Papier, von dem ein kleiner Theil aus Italien
zugeführt wird. Die Ausfuhrziffer erreichte allmälig steigend 1888 die Höhe von
162.195 q; davon gingen 62.641 nach der Türkei, 47.535 nach Ostindien, bedeu-
tende Mengen nach Aegypten und Griechenland.
A Bahnhof der Südbahn-Gesellschaft, Bo, B I, B II, B III, Bassins des neuen Hafens, C Lagerhäuser
längs des Quai, D festgesetzter Umbau des alten Hafens von Triest, E Rhede.
Der Rückgang des Exportes von Zündhölzchen (1888 50.168 q) ist eine
Folge der Concurrenz Italiens und Deutschlands. Die Abnehmer des meist öster-
reichischen Fabricates sind China, die Türkei, Aegypten, Griechenland.
Von den übrigen Fabricaten ist besonders die Ausfuhr von Leder und
Lederwaaren, von Wollwaaren, die meist einheimischen Ursrpunges, hervor-
zuheben. Daneben benützen auch Deutschland und die Schweiz Triest als Export-
hafen für die Levante.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 3
[18]Das Mittelmeerbecken.
Triest ist keine Industriestadt. Die wichtigsten Etablissements,
die berühmten Werften, Maschinenfabriken des Lloyd und des Sta-
bilimento tecnico dienen dem Seeverkehr. Merkwürdigerweise liess
sich Triest in Bezug auf die industrielle Verarbeitung der eingebrachten
überseeischen Rohproducte von Fiume überflügeln. Eine Specialität
von Triest ist die Steinmetzerei, welche die wunderbaren Gesteins-
arten Istriens verarbeitet.
Nachdem wir den Handel von Triest so ausführlich behandelt
haben, können wir uns bei der Besprechung der Schiffsbewegung
kürzer fassen. Ueber die Grösse des Verkehres und die daran be-
heiligten Flaggen bringen wir folgende Tabelle:
| [...] |
Das Gebiet des Seehandels von Triest ist in erster Linie das
östliche Becken des Mittelmeeres mit dem Schwarzen Meere. Die Segel-
schiffe besorgen einen grossen Theil des Handels mit Holz, mit Süd-
früchten und Wein.
Im Segelschiffverkehre von Triest steht nach der Anzahl der
Tonnen die nationale Flagge hinter den fremden zurück, im Verkehre-
der Dampfschiffe hat sie das Uebergewicht. Die nationalen Dampfer sind
zum grössten Theile die Schiffe einer einzigen Gesellschaft, nämlich des
Oesterreichisch-ungarischen Lloyd, denn ganz Oesterreich-Ungarn
besass anfangs 1889 163 Handelsdampfer mit 94.371 t, wovon auf den
Lloyd 79 Dampfer mit 81.620 t und 87.500 Pferdekräften entfielen, so
dass dieser unter den zehn grössten Schiffahrts-Gesellschaften der Erde
rangirt. Er ist eine Schöpfung des genialen Freiherrn von Bruck.
Seine Gründung 1833, respective 1836 fiel zusammen mit der
politischen Erschliessung der Levante und mit der Einführung der
Seedampfer; beide Conjuncturen nützte der Lloyd, durch ein Privi-
legium geschützt, Jahrzehnte hindurch in bequemer und lucrativer
Weise aus. Heute kämpft er, wie fast alle Seedampfer-Gesellschaften, den
[19]Triest.
schwersten Concurrenzkampf auf den meisten Linien. Vom Staate bezieht
er die geringe Subvention von 1·3 Millionen Gulden. Seit 1870 macht
er seine Fahrten via Suez nach Indien und China und neuester Zeit
sechs Fahrten jährlich nach Brasilien. Den Verkehr nach dem west-
lichen Mittelmeerbecken und den atlantischen Häfen haben die öster-
reichischen Rheder nie stark betrieben, daher haben ihn auch, so
weit er für Oesterreich-Ungarn überhaupt in Betracht kommt, fast
ganz die Italiener und Engländer und nur zum geringen Theile Deutsche
(Hamburg) in Händen. Von allen grossen Linien ist am einträglichsten
die von Bombay und Calcutta nach Triest, auf welcher der Tonnen-
zahl nach die österreichische Flagge (Lloyd) der englischen das
Gleichgewicht hält. Für die Ausfahrten fehlen allerdings auch dieser,
wie fast allen österreichischen überseeischen Linien, die genügenden,
regelmässigen Exporte.
Triest ist auch Kopfstation eines Zweiges der „Eastern Telegraph
Company“, die England mit Bombay durch ein Kabel verbindet.
Wie schon erwähnt, besass Triest in der 1857 vollendeten
Südbahn durch Jahre die einzige Eisenbahnverbindung nach
den Hinterländern der Adria und des thyrhenischen Meeres. Heute
hat Triest drei Eisenbahnverzweigungen über die Alpen und sogar
Concurrenzbahnen zur Verfügung, allein die Wunden, welche der Bau
der Brenner- und der Pontebba-, noch mehr aber jener der Gotthard-
bahn dem Triester Handel schlug, kann die Linie Herpelje-Divacca
nicht heilen; darum begehrt man in Triest die Erbauung einer Tauern-
bahn, welche direct nach München gravitirt und welche einen grossen
Theil des mitteleuropäischen Verkehres wieder von Genua und Venedig
ab nach Triest leiten soll.
Ein andere, die Handels- und selbst Preisverhältnisse von Triest
vollkommen umgestaltende Neuerung ist die bereits erwähnte Auf-
hebung des Freihafens, welche am 1. Juli 1891 vorgenommen
werden soll. Um das Gefährliche dieser Massnahme abzuschwächen,
werden in dem dann noch erübrigenden Zollausschlussgebiete (Punto
franco) vierzehn Lagerhäuser und Hangars (Güterschoppen) mit einem
Fassungsraum von 124.000 m2 Lagerfläche errichtet, so dass selbst
gewisse Triest eigenthümliche Sortirungen mancher Waaren ausser-
halb des Zollgebietes vorgenommen werden können.
Triest besitzt in seiner Geld- und Waarenbörse, die am 21. Juni
1775 gegründet wurde, die älteste Börse Oesterreichs. Der Verkehr
erstreckt sich auf Kauf und Verkauf von Waaren und Schiffen, Versiche-
rungs- und Transportverträge, dann auf Effecten, Devisen und Valuten.
3*
[20]Das Mittelmeerbecken.
Das Bankwesen von Triest beschränkte sich bis zum Jahre 1853,
wo die Oesterreichische Nationalbank, jetzt Oesterreichisch-ungarische
Bank, eine Zweigniederlassung daselbst errichtete, auf private Bank-
firmen. Jetzt haben ausser der genannten die Oesterreichische Credit-
anstalt für Handel und Gewerbe, die Unionbank und die Anglo-
österreichische Bank, deren Sitz Wien ist, Filialen in Triest. Ein-
heimische Unternehmungen sind die Banca Commerciale Triestina, die
Banca Popolare Triestina für die Bedürfnisse der Kleinindustrie und
die Triester Sparcasse.
In Triest ist der Ursprung des heutigen Versicherungswesens
von Oesterreich-Ungarn zu suchen. Das war das Verdienst der vor
ungefähr 60 Jahren gegründeten „Azienda Assicuratrice“, dann der
„Assicurazioni Generali“ und der nachfolgenden „Riunione Adriatica
di Sicurtà“, welche ausser der Feuerversicherung auch die Hagel-,
Transport- und Lebensversicherung einführten.
Zum Schlusse führen wir eine Reihe staatlicher und öffentlicher Institu-
tionen an, welche berufen sind, auf den Handel Triests Einfluss zu nehmen. Triest
ist Sitz der Statthalterei für das Küstenland, eines besonderen Handels- und See-
gerichtes, eines Zolloberamtes, der k. k. Seebehörde, welcher sämmtliche Hafen-
und Seesanitätsämter der Küsten Oesterreichs unterstehen, einer Handels- und
Gewerbekammer. Dem Zwecke der Schiffsvermessung und Classification dient das
„Ufficio Veritas austro-ungarico“, 1858 gegründet. Der jeweilige Präsident der
Handelskammer ist Vorsitzender desselben. Von Handelslehranstalten sind zu nennen
die Handelshochschule „Stiftung Revoltella“ und die k. k. Handels- und nautische
Akademie mit eigener Sternwarte. Triest ist reichsunmittelbare Stadt;
sein Stadtrath ist zugleich Landtag.
Folgende Staaten haben Consulate in Triest: Vereinigte Staaten von
Amerika, Argentina, Belgien (Generalconsulat), Bolivia, Brasilien (G. C.), Chile,
Columbia, Costarica, Dänemark, Deutsches Reich (G. C.), Dominicanische Re-
publik, Frankreich (G. C.), Griechenland (G. C.), Grossbritannien, Italien (G. C.),
Japan, Monaco, Niederlande, Persien, Peru, Portugal (G. C.), Rumänien, Russ-
land, S. Marino, Schweden und Norwegen (G. C.), Schweiz, Serbien (G. C.),
Spanien, Türkei (G. C.), Uruguay, Venezuela.
[[21]]
Fiume.
Am Ende des 40 Seemeilen in nördlicher Richtung sich er-
streckenden Quarnero-Golfes liegt an der Mündung des Flüsschens Fiume,
auch Reka oder Recina genannt, die aufblühende freundliche Hafenstadt
Fiume (circa 30.000 Einw.), die uralte liburnische Tersattica, dann Vito-
polis, hierauf St. Veit am Pflaumb und slavisch Rieka genannt. Die
spärlich bebauten Ausläufer der julischen Alpen überragen den frucht-
baren Küstenstrich, der gegen Westen zu, einem grünen Bande ver-
gleichbar, die Strandlinie bis weit in das Gebiet von Istrien umsäumt.
Die landschaftliche Schönheit der duftigen Küstenscenerien schil-
dert uns die geistvolle Dichterin Ada Christen in nachfolgenden
schwungvollen Versen, die sie im Fremdenbuche der Villa Angiolina
bei Abbazia als Tribut der Bewunderung improvisirte:
Das ist die österreichische Riviera mit ihren in Lorbeerhainen
eingebetteten, von einer reichen subtropischen Vegetation umgebenen
Städtchen, deren Ruf als klimatische Curorte und Seebäder in kurzer
Zeit weit über die Grenzen des Kaiserstaates gedrungen ist.
[22]Das Mittelmeerbecken.
In der That lässt sich kaum eine reizendere Lage denken, als
jene von Abbazia, dem immergrünen Nizza Oesterreichs, oder der
malerisch am Küstensaume zu Füssen des 1450 m hoch aufsteigenden
Gebirgsstockes Monte Maggiore gelegenen Nachbarstädtchen Volosca,
Ika, Lovrana und Moschenizze, die sämmtlich gegen die stürmi-
schen und rauhen Nordwinde geschützt, den Segen eines äusserst
milden Klimas geniessen.
Im Osten von Fiume herrscht hingegen der Charakter einer
rauhen Steilküste vor.
Der Quarnero-Golf führte im Alterthume mehrere bezeichnende
Namen. Man nannte ihn unter anderen auch Sinus Canarius, aus
welcher Bezeichnung wohl der heutige Name entstammen dürfte, an
den die Vorstellung verheerender Seestürme sich knüpft. In der That
gelten dieser Golf und der in denselben einmündende Meerescanal
längs der croatischen Küste (Canale di Maltempo) im Volksmunde als
Geburtsstätten der gewaltigen Bora-Orkane, gegen deren Wuth die
wettergeübten Seeleute dieses Gebietes, die auch als Polarfahrer
unter Weyprecht sich bewährten, muthig anzukämpfen haben.
Dem Golfe von Fiume wird ein grosser Fischreichthum nachgerühmt;
leider ist aber auch der Menschenhai ein ständiger Gast dieser Ge-
wässer geworden. Dagegen bildet der äusserst schmackhafte rosa-
färbige Scampo (Nephrops Norregiensis), ein Seekrebs, der nur in
Quarnero und in den Scherren Norwegens vorkommt, eine kostbare
Eigenheit der hiesigen Seefauna.
Schon im Alterthume beschäftigte die Küstenbevölkerung sich
mit Schiffahrt und Schiffbau, zur Zeit der Uskoken allerdings auch
mit Piraterie. Die Seetüchtigkeit und die gefälligen Formen der libur-
nischen Fahrzeuge standen in bestem Rufe, und bekannt dürfte es
sein, dass Cȧsar Augustus in dem Kriege gegen Marcus Antonius
solcher sich bediente. Noch vor zwei Jahrzehnten waren Fiume und
die östlich in einem herrlichen Becken gelegenen Städtchen Buccari
und Porto Ré im Besitze einer aus alter Zeit stammenden blühenden
Rhederei und durch ihre prächtigen Segelschiffbauten in maritimen
Kreisen sehr angesehen, allein die Ausbreitung der Dampfschiffahrt
hat seither der Werftenindustrie dieser Gegend den Todesstoss
versetzt.
Indes erfuhr die Stadt Fiume unter der Begünstigung der unga-
rischen Regierung gleichwohl eine völlige Umwandlung und vortheil-
hafte Verjüngung. Aus dem unbedeutenden Küstenorte erstand baldigst
eine Seestadt, welche, indem sie das aufstrebende Reich Ungarn in
[23]Fiume.
directe Verbindung mit dem Welthandel setzte, im Fluge zur Con-
currentin von Triest sich aufschwingen konnte.
Schon der äussere Anblick der Stadt zeigt ein aufblühendes
Gemeinwesen und trägt die Merkmale des Wohlstandes an sich.
Die prächtige Häuserfront der unteren Stadt ziert den geräumigen,
durch Anschüttungen dem Meere abgewonnenen Quai. Breite und
gerade laufende Strassen, Parkanlagen, Alleen und durch eine ge-
fällige Architektonik auffallende öffentliche Gebäude lassen diesen
Stadttheil als eine Schöpfung der neuesten Zeit erkennen.
Die obere oder alte Stadt bildet dagegen ein malerisches Ge-
wirre ehrwürdiger Baulichkeiten; kleine Häuser mit Freitreppen, enge
Gässchen, niedliche Gärten bedecken hier den Abhang bis zur Höhe
des aus dem XIII. Jahrhunderte stammenden Domes von St. Veit
(San Vito). Die Höhe krönte ehemals ein Castell, der Ausgangspunkt
der durch Thürme flankirt gewesenen Ringmauer der Stadt. Gegen-
wärtig sind kaum noch Spuren der erwähnten Befestigung zu sehen. Aus
späterer Zeit sind zumeist einige kirchliche Denkmale zu verzeichnen,
unter welchen die 1453 von den Grafen Nicolaus und Martin Frangepan
an geweihter Stelle erbaute und gegenwärtig besonders von den
Seeleuten in Ehren gehaltene Votivkirche der Madonna di Tersatto
Beachtung verdient. Mehr als 500 Stufen führen aus der Vorstadt
Susak von der Brücke über die Reka ausgehend hinauf nach Ter-
satto, von wo aus der Besucher einen herrlichen Rundblick über
den ganzen Golf von Fiume und die hochaufragenden quarnerischen
Inseln geniesst.
Das heutige Fiume erstand auf den Trümmern der durch Karl
den Grossen im Jahre 799 zerstörten liburnischen Tersattica, wurde
später ein Lehen der Patriarchen von Aquileja, dann der Grafen von
Duino und der Herren von Görz, bis es im Jahre 1471 an Kaiser
Friedrich III. als Domäne des Hauses Oesterreich gelangte. Kaiser
Karl VI. und Maria Theresia verliehen der Stadt mancherlei Privi-
legien, Ersterer unter anderem 1719 das Freihafenpatent, und statte-
ten den Hafen mit Schutzvorkehrungen aus.
Auch an dieser von den grossen Ereignissen ferne gelegenen
Küste liess das blutige Ringen gegen die von der französischen Revo-
lution decretirte neue Weltordnung tiefe Spuren zurück und wiederholt
erdröhnten Kanonendonner und Waffengeklirre in Stadt und Hafen.
Nach dem Friedensschlusse von Schönbrunn 1809, welcher die
österreichischen Erbländer vom Meere abschnitt, gelangte Fiume für
[24]Das Mittelmeerbecken.
mehrere Jahre in französischen Besitz, bis der Wiener Congress 1814
die alte Angehörigkeit zu Oesterreich wieder bestätigte.
Im Jahre 1822 wurde Fiume, das schon von 1779—1809 reichs-
unmittelbares Gebiet der ungarischen Krone (Separatum corpus Sacrae
regni Hungariae Coronae) gewesen war, diesem Königreiche wieder
einverleibt, und nach mancherlei Wandlungen wurde die Reichs-
unmittelbarkeit durch das Diplom vom November 1868 endgiltig be-
siegelt.
Sogleich nach dem sogenannten politischen Ausgleiche, welcher
1867 aus der österreichischen Monarchie ein „Oesterreich-Ungarn“
geschaffen hatte, war es eine der ersten national-ökonomischen Auf-
gaben der neuen ungarischen Regierung, den Seeverkehr von Fiume
zu beleben und aus diesem Hafen ein wichtiges Handelsemporium zu
gestalten. Nach den Plänen des durch ähnliche Werke hervorra-
genden französischen Hydrotechnikers Pascal wurde 1872 der Bau des
neuen Hafens begonnen.
Wie aus dem Plane zu ersehen, ist durch einen nahezu 1000 m
langen Wellenbrecher ein grosses gegen den Seegang vollkommen ge-
schütztes Bassin gewonnen worden, in welchem die drei breiten zur
Anlage von Magazinen geeigneten Molen Zichy, Rudolf und Nr. IV
am Bahnhofquai eingefügt sind. Ausserdem blieb der alte Molo Adamich
erhalten. In dieser Anordnung verfügt der Hafen über eine innere
Quaientwicklung von 3000 m bei 36 Hektaren Fläche.
Einen besonderen Annex der Anlage bildet der westlich von
Fiume erbaute Petroleumhafen, dessen Pumpwerke es gestatten, das
ankommende rohe Steinöl direct in die zunächst gelegene Raffinerie,
die täglich 1000 Fässer Petroleum verarbeitet, zu leiten.
Ein kleinerer Hafen ist an der Ausmündung des Fiumeracanales
in Ausführung begriffen. Letzterer war ehemals der eigentliche Binnen-
hafen für kleinere Schiffe.
Von den grossen Hafenbauten sind zur Zeit nur noch ein Theil
des Wellenbrechers und der Molo IV zu vollenden. Als Mangel könnte
das bisherige Fehlen eines Trockendocks in Fiume hervorgehoben
werden.
Die für einen so wichtigen Hafen wie Fiume unentbehrliche
Quarantaineanstalt ward in der östlich der Stadt liegenden freundlichen
Bucht von Martinschizza belassen, wo Kaiser Franz I. 1833 ein gross-
artiges Pestlazareth gegründet hatte.
Die k. k. Kriegsmarine unterhält westlich der Stadt die 1857
eröffnete Marine-Akademie, ein herrliches, für 130 Zöglinge berechnetes
[[25]]
Fiume.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 4
[26]Das Mittelmeerbecken.
Gebäude, das, in einem prächtigen Parke gelegen, eine Musteranstalt
für die Heranbildung des Officiersnachwuchses der k. k. Flotte ist.
Auf dem Gebiete der maritimen Kriegstechnik hat Fiume durch
die unübertroffenen Erzeugnisse der Whitehead’schen Fisch-Torpedo-
fabrik, welche ihre äusserst zerstörenden submarinen Angriffswaffen
allen Seemächten der Erde liefert, einen Weltruf sich geschaffen.
Ueberhaupt besitzt das nur 20 km2 umfassende reichsunmittelbare
Gebiet von Fiume eine verhältnissmässig bedeutende Zahl industrieller
Etablissements grösserer Art, von welchen hier noch die Reisschäl-
mühle, die königliche Tabakfabrik, die Fabrik chemischer Producte
und die grosse, in der tief eingerissenen, wildromantischen Schlucht der
Recina gelegene Papierfabrik Smith \& Meynier erwähnt seien.
Die Bewohner von Fiume sind Italiener, Croaten und Magyaren,
der meiste Verkehr vollzieht sich aber in italienischer Sprache. Es
ist eine betriebsame und liebenswerthe Bevölkerung, welche die uralte
Stätte der Tersattica bewohnt.
Was die commercielle Bedeutung Fiumes betrifft, so besteht
sie hauptsächlich darin, dass dieser Hafen das einzige Ausfallsthor
Ungarns zur See bildet; die Länder der Stefanskrone, sowie die im
Süden angrenzenden Gebiete von Bosnien und Serbien sind sein
natürliches Handelsgebiet. Betrachten wir nun, wie durch das mo-
derne Verkehrsmittel der Eisenbahnen das Hinterland für Fiume
nutzbar gemacht wurde.
Seine erste Eisenbahnverbindung erhielt der Hafen durch
den Flügel der Südbahn nach St. Peter, der auf die Linie Wien-
Triest ausmündet. Bei der überlegenen Stellung, welche Triest in jeder
Beziehung besass, war diese Bahn für Fiume von keinem zu grossen
Nutzen. Es musste erst eine unmittelbare Verbindung nach Ungarn
erhalten, um in seinem ureigenen Handelsgebiete mit Triest in Con-
currenz treten zu können, und das seit 1867 wieder selbständige
Ungarn nahm die Lösung dieser Angelegenheit sofort in die Hand.
Heute gravitiren, dank der Erbauung eines wohldurchdachten
Eisenbahnnetzes, alle Comitate von Oedenburg bis in das getreidereiche
Alföld, sowie das holz- und pflaumenreiche Slavonien und Nord-
bosnien nach Fiume. Auch die Save und ein Theil der Donauschiff-
fahrt dienen Fiume, und ist deren Ausnützung noch einer bedeutenden
Steigerung fähig.
So erscheint Fiume als ein wirklich unglaublich rasch erblühender
Handelsplatz.
[27]Fiume.
Im Jahre 1878 umfasste der Schiffsverkehr Fiumes 5463 Schiffe
von 427.513 t, 1888 10.266 Schiffe mit 1,555.327 t, und mit Recht
wird diese Steigerung der Handelsthätigkeit gerühmt. Allein man
darf diese Erscheinung nicht überschätzen: viel ist geschehen, aber
Alles ist im Entstehen. Fiume, dessen Import und Export neben Triest
klein sind, hat nur Transito und überwiegenden Exporthandel, und
dieser Export concentrirt sich auf die Monate September bis März,
welcher Umstand fast den vierten Theil der Schiffe nöthigt, unter
Ballast nach Fiume zu gehen und auf die Tarifbildung sehr nach-
theilig wirkt.
Ueber die Grösse des Verkehres von Fiume liegen folgende Angaben vor:
| [...] |
Diese Zahlen sind seit 1884 ziemlich constant.
Von dem oben ausgewiesenen Seeverkehre entfielen 1887 in der Ausfuhr
612.062 q im Werthe von 9·3 Millionen Gulden, in der Einfuhr 598.062 q im
Werthe 6·3 Millionen Gulden auf den Verkehr mit den einheimischen Häfen.
Diese Ziffern ändern sich wenig im Verlaufe der Jahre, und wir müssen sie von
dem oben angegebenen Verkehre zur See abrechnen, da wir jetzt den Verkehr
mit dem Auslande ins Auge fassen wollen. Bei diesem ist der Export nach dem
Westen gerichtet; denn die wichtigsten Exportländer sind England (1887
16·8 Millionen Gulden), Frankreich (13·8 Millionen Gulden), die Vereinigten
Staaten von Amerika (3·9 Millionen Gulden), Italien (3·5 Millionen Gulden), Bra-
silien, Holland und im Osten die Türkei, die nur mit einer kleinen Ziffer bethei-
ligt ist. Dagegen erhalten wir ein ganz anderes Bild von der räumlichen Verthei-
lung des Fiumaner Einfuhrhandels; die stärkste Einfuhr findet statt aus Ost-
indien und England, dann aus den russischen Häfen am Schwarzen Meere und
der Türkei.
Durch die eingehendere Besprechung der wichtigsten Stapelartikel Fiumes
werden diese Angaben die nothwendige Ergänzung erfahren. Bei der Ausfuhr zur
See ist vor Allem Weizenmehl zu nennen aus den weltberühmten Mühlen von
Budapest, den Provinzmühlen und der Fiumaner Dampfmühle stammend. Die letz-
tere verarbeitet bei entsprechenden Preisen auch russischen Weizen. Der Export
betrug 1885 996.867, 1886 964.513, 1887 905.325 q und 1888 1,188.091 q. Die
Hauptabnehmer sind England (1887 594.943 q), Frankreich mit 93.944 q, Brasilien
mit 78.456 q.
Im Getreidehandel ringen Weizen und Gerste um den Vorrang, von jedem
werden mehr als 400.000 q exportirt.
Der Weinexport ist jetzt im allgemeinen kleiner als in früheren Jahren, er
richtet sich nämlich nach dem Bedarfe Frankreichs. Export 1886 145.848, 1887
91.165 hl.
4*
[28]Das Mittelmeerbecken.
Den wichtigsten Artikel des Fiumaner Exportes bildet Holz. In Triest und
Fiume ist die Ausfuhr von Nutz- und Werkholz in einer beständigen Steigerung
begriffen, doch findet insoferne ein Unterschied statt, als Triest in der Vermitt-
lung des Exportes an weichem Schnittmaterial obenan steht, während sich der
Verkehr mit harten Hölzern, insbesondere mit Fassdauben, immer mehr nach
Fiume zieht. An Eichendauben wurden 1886 27,627.600, 1887 38,178.700, 1888
bei 42 Millionen Stück ausgeführt; davon gehen bis auf 1 bis 2 Millionen alle
nach Frankreich, der Rest nach Algier, England, Italien u. s. w. Die Ausfuhr
von Buchendauben erreichte 1887 über 3 Millionen, 1888 fast 4 Millionen Stück.
Im Ganzen wurden 1887 59.811 m3 und über 51 Millionen Stück Hölzer
exportirt.
Weit kleiner ist die Zahl der wichtigen Artikel, welche Fiume zur See
einführt. Kaffee (1887 10.598 q) geht zum Theile wieder weiter in die Levante;
ostindische Jute (1887 31.612 q) ist bestimmt für die Fabriken des gemeinsamen
Zollgebietes. Allen voran aber stehen Petroleum und Reis, die Grundlagen
zweier grossartiger Zweige der Fiumaner Exportindustrie.
Fiume ist im Gegensatze zu Triest auch eine Fabriksstadt
mit starker Arbeiterbevölkerung.
Die Mineralöl-Raffinerie ist gegenwärtig das grösste und
bedeutendste Unternehmen dieser Gattung in Europa. Die Fabrik
erzeugt durchschnittlich im Jahre 451.600 q raffinirten Petroleums,
ausserdem ein entsprechendes Quantum an Nebenproducten. Sie hat
an den wichtigeren Verkehrspunkten Reservoirs angelegt, ihr Absatz
beschränkt sich auf das Inland.
Auch die Reisschäl- und Stärkefabrik trägt wesentlich
dazu bei, den überseeischen Verkehr des Hafens zu beleben. 1887
wurden 265.057, 1886 290.563 q ungeschälten Reises meist aus Ost-
indien bezogen. Das fertige Product geht in die Monarchie, nach Ita-
lien, Griechenland, der Türkei, die Reiskleie nach England, Holland,
Portugal und Frankreich.
Andere Unternehmungen sind die bereits früher erwähnte Tor-
pedofabrik, eine chemische Fabrik, eine Fabrik für Erzeugung
von Bugholzmöbeln mit starkem Absatz ins Ausland u. s. w.
Die Grösse des Schiffsverkehres haben wir bereits oben ange-
geben. Betrachten wir denselben nach den Flaggen, so sehen wir,
dass unter den Dampfschiffen die Flaggen Oesterreich-Ungarns und
Englands den weitaus grössten Theil des Verkehres vermitteln; unter
den Segelschiffen ist neben der nationalen Flagge die italienische sehr
wichtig. Die Dampfer vermitteln den auswärtigen Verkehr, die Segel-
schiffe meist den inländischen und den mit Italien. Die Vertheilung
nach Flaggen ist (1888) folgende:
[[29]]
A Rhede von Fiume, B Reisschalfabrik, C Parkanlagen, D Marineakademie, E Kaserne, F Leuchtfeuer, G Tabakfabrik, H Papierfabrik, J Louisenstrasse in der
Rekaschlucht, K Hafenbassin der Fiumera, L Bahnhof, M Fiumeracanal.
[30]Das Mittelmeerbecken.
| [...] |
Der Seehandel von Fiume ist überwiegend nach Westeuropa,
nach Nordamerika und Brasilien gerichtet; im Osten ist nur der Hafen
von Batum wichtig.
Nach den Küsten des östlichen Mittelmeeres und des Schwarzen
Meeres besorgt der Oesterreich-ungarische Lloyd den regelmässigen
Verkehr; die Linien nach dem Westen besorgt in erster Linie die
ungarische Seeschiffahrts-Actiengesellschaft Adria, welche von der
ungarischen Regierung eine regelmässige Subvention bezieht. Sie unter-
hielt in den ersten Jahren ihrer Thätigkeit insbesondere nach den eng-
lischen, schottischen und französischen Häfen Fahrten, in den letzten
Jahren hat sie auch Nordafrika, Spanien, Portugal und Brasilien in
ihr Itinerär aufgenommen, und trägt nicht wenig bei zu dem grossen
Aufschwung, welchen der Verkehr Fiumes im letzten Quinquennium
aufzuweisen hat.
An dritter Stelle ist die englische Dampfschiffahrts-Gesellschaft
„Anchor-Line“ hervorzuheben, welche jährlich 18 Fahrten von
Fiume nach New-York unternimmt.
Kleinere Unternehmungen besorgen den Verkehr nach Cette und
Marseille, nach Venedig und neben dem Lloyd nach den inländischen
Küstenplätzen.
Für die Aufhebung des Freihafens, die in Fiume und Triest
gleichzeitig erfolgen wird, ist der Platz heute schon zum Theile ge-
rüstet. Die von der k. ungarischen Seebehörde erbauten grossen
Magazine und die der k. ungarischen Staatsbahn können zusammen
die Ladung von 7060 Waggons einlagern.
Die wichtigsten Banken sind die Filiale der Oesterreichisch-
Ungarischen Bank und die Fiumaner Creditbank, eine Commissions-
bank in grossem Style.
Fiume ist der Sitz eines königlich ungarischen Guberniums, dann der
königlich ungarischen Seebehörde, einer Handels- und Gewerbekammer, der eines
Hauptzollamtes, einer königlich ungarischen Handels-Akademie, eines Staats-
Gymnasiums und einer nautischen Schule.
Consulate haben in Fiume: Die vereinigten Staaten von Amerika, Argen-
tina, Belgien, Brasilien, Dänemark, das Deutsche Reich, Frankreich, Griechenland,
Grossbritannien, Italien, die Niederlande, Portugal, Russland, Schweden und Nor-
wegen, Serbien, Spanien, das Türkische Reich.
[[31]]
Venedig.
Wir sind aus dem Quarnero wieder in das nördlichste Gebiet
der Adria eingedrungen. Das dunkle Azur des Meeres, die undurch-
dringliche Decke über dem Geheimnisse der Tiefe, ist allmälig einer
gründlichen Färbung gewichen. Algenbüschel und Gräser, hin und
wieder der laublose Zweig eines Baumes schwimmen träge auf der
endlosen Wasserfläche. Ueber uns in ätherklaren Lüften tummeln sich,
das Schiff geleitend, kreischende Möven in lustigem Spiele.
Alle Anzeichen des nahen Landes sind vorhanden und mehren
sich, je weiter wir westwärts vordringen; ja selbst kühne Fischer
auf eigenthümlich gebauten Fahrzeugen, über welchen roth und gelb
bemalte Segel in gefälligem Schwunge sich blähen, erblicken wir,
allein noch immer kein Land.
Doch plötzlich schimmert und leuchtet es am westlichen Hori-
zont. Im Sonnenscheine erglänzende Kuppeln und Thürme, grosse
palastähnliche Bauwerke mit geheimnissvoll bewegten Formen tauchen
dort, von magischem Lichte umflossen, wie eine trügerische Fata Mor-
gana auf.
Seitlich und davor scheinen dunkle, wie aus dem Buschwerke
hoher Bäume geformte Gebilde sich zu drängen.
Ernst und gross und doch so luftig und zart blicken die zackigen
Höhen der fernen Alpen — rechts der vielbesungene Triglav, links
die aus gottgesegneten Fluren aufsteigenden vulkanischen Colli Euganei
und Monti Berici — herab zu uns, und von dem Hauche sanfter Meeres-
lüfte erfrischt, erhält die Phantasie weiten Raum, das zaubervolle Bild
auszugestalten.
Die Stadt der Paläste, das gold’ne Venedig, liegt vor uns, und
es ist, als leuchte eine glänzende geistige Corona über den fernen
Umrissen der altehrwürdigen Metropole eines entschwundenen, mehr
als tausendjährigen Staatsgebildes.
[32]Das Mittelmeerbecken.
Der Gegenwart entrückt, taucht der Gedanke gern zurück in
die Tiefe der Vergangenheit, in völlig classische Räume der unend-
lichen Zeit. Der Blick fällt unwillkürlich auf die euganeischen Hügel,
die mit dem rundlich geformten Monte Venda am meisten gegen Süden
vorspringen.
Dort lag an der Stelle des heutigen Padua das uralte Patavium,
dessen Gründung der Mythe nach dem trojanischen Antenor zuge-
schrieben wird, jenem bei Homer zum Frieden drängenden Greise, den
eine spätere Sage zum Verräther an Troja werden und nach dem
grauenvollen Untergange der Feste fluchbeladen weit hinweg nach
Italien wandern lässt. Wie drängt diese Erinnerung eine andere näher-
liegende auf, nämlich an den Sturz der alten Republik Venedig, den
ebenfalls Verrath herbeiführte. So finden hier graues Alterthum und
neue Zeit einen wenig anmuthenden Berührungspunkt. Wie entehrend
der Vaterlandsverrath immerdar gebrandmarkt ist, er schleicht doch
als eine bleibende Erscheinung durch die Geschichte der Menschheit.
Der Anblick der euganeischen Hügel erweckt den Gedanken an
Livius, den classischen Historiker, dessen Wiege die dunklen Wälder
der Fons Aponi, des heutigen Badeortes Abano, beschatteten, und
über den Monti Berici erscheint uns das geistige Bild eines der be-
rühmten Führer des Cinque Cento, Andrea Palladio’s, der nicht nur
seine Vaterstadt Vicenza durch seine besten Prachtbauten schmückte
und ihr ein einheitliches, festliches Gepräge verlieh, das Goethe’s Be-
wunderung errang, sondern dessen herrliche Werke auch zu reichen
Zierden der italienischen Kunstmetropolen geworden sind.
Mit Palladio entrollt sich wie eine herrliche Vision das gestalten-
reiche Bild der Geistesheroen, die als Söhne der jungfräulichen Dogen-
stadt die Welt der Farben belebten und den Ruhm Venedigs häuften.
Voran Tizian, der unerschöpfliche geniale Hauptmeister der venetia-
nischen Schule, Tintoretto, der unübertroffene Prunkmaler, Paolo
Veronese, die beiden Palma u. a., deren Werke eine Glanzepoche
der Kunst bezeichnen.
Neben den Vertretern des Cinque Cento erscheinen die Tiepolo,
Canale und Canaletto als Repräsentanten der Kunstrichtung des XVIII.
Jahrhunderts.
Wie erweitert die Nennung solcher Namen die einstige Bedeu-
tung der Lagunenstadt, wie gross und gewaltig stellt das Dominium
des gold’nen Markuslöwen allein schon am Massstabe seiner Kunst-
grösse sich dar! Es glänzen denn auch neben den Meistern der Kunst
die grosse Zahl hervorragender Regenten, Heerführer, bewährter
[[33]]
Venedig.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 5
[34]Das Mittelmeerbecken.
Diplomaten, berühmter Reisenden (Marco Polo!) und Männer der
Wissenschaft.
Die Macht Venedigs konnte nur bei einem grossen Aufwande an
Intelligenz emporblühen.
Die bezaubernde Eigenart der Stadt, die noch heute ihresgleichen
sucht, liegt so recht in der historischen Entwicklung des Dogenreiches
selbst. Während die Stürme der Völkerwanderung den Continent ver-
heeren und das mächtige weströmische Reich vernichten, krystallisiren
sich die Flüchtlinge der zerstörten Städte Patavium, Altinum, Aqui-
leja u. a. auf den Lagunen zu einem Freistaat; wir finden die römische
Gesellschaft mit ihren gewaltigen Traditionen in diesem Verbande.
Den Lagunen haben die Colonisten zu danken, dass die Invasion der
Gothen, die Eroberung Italiens durch die Longobarden und Griechen
die Entwicklung ihres Staatswesens nicht zu stören vermochten und
ihr meerumgebenes Gebiet in der Zeit der grössten Bedrängniss das
einzige Asyl bildete, wo Friede, Sicherheit und Freiheit herrschten.
An der Wende zum VIII. Jahrhundert wird schon der erste
Doge genannt.
Die staatliche Ordnung ist gesichert und ein neues Culturleben
beginnt Glanz und Wärme auszustrahlen.
Aus Rialto, wohin 819 der Sitz der Regierung verlegt wurde,
entsteht, die inneren Wirren besiegend, das aufstrebende Venedig. Die
Heldenzeit der Kreuzzüge begünstigt den Aufschwung der Republik,
die unter dem Dogen Enrico Dandolo (1192—1205) nach der Eroberung
von Constantinopel und Theilung des byzantinischen Reiches einen
reichen Länderzuwachs, darunter die Ostküste der Adria, die Insel
Candia und anderen Besitz erhält.
Der fast zweihundertjährige erbitterte Kampf gegen die Schwester-
republik Genua bildet eine blutige Episode in der Geschichte Venedigs.
Die Demüthigung der Rivalin (1380) ist das Werk der tapferen
Flotte des Dogen Andrea Contarini.
Im XV. Jahrhundert feierte Venedig nicht nur unerwartete
politische Triumphe, auch sein Handel blüht, und die Metropole wächst
unter dem Betriebsfleisse von 200.000 Einwohnern zum Mittelpunkt
des Welthandels auf.
Catarina Cornaro, die schöne Gemahlin des Königs Jakob von
Cypern, die uns Meister Makart so blendend in Erinnerung brachte,
darf hier genannt werden, denn durch ihre Verzichtleistung erwirbt
Venedig die reiche Insel.
[35]Venedig.
In den folgenden Jahrhunderten steigt die Republik langsam,
aber stetig von dem Höhepunkte ihrer Macht herab. Dank ihrer aus-
gezeichneten Flotte vermag sie während der Periode der türkischen
Invasion in Europa der enormen ottomanischen Macht zwar die Stirne zu
bieten, allein in demselben Masse als durch das Aufleben des oceanischen
Verkehres der Portugiesen und Spanier die aus Handel und Industrie
fliessenden Hilfsquellen eine immer grössere Einbusse erleiden, sinkt
auch die militärische und politische Stellung Venedigs. Dazu gesellen
sich Verluste an Landbesitz in der Levante, ein verhängnissvoller
Müssiggang aller Bevölkerungsschichten, Abnahme des Rechtsgefühles,
kurz, eine Zahl von Ursachen, unter deren Einflusse die Republik mit
Beschleunigung ihrem Untergange zueilte, bis sie 1797, von den Ba-
jonnetten Bonaparte’s eingeschüchtert, ruhmlos erlosch. Der letzte Doge,
der schwache Ludovico Manin, hatte den Gedanken Marino Falieri’s
durchgeführt.
Von da an war das ehemalige Dominium des Markuslöwen zur
Beute der Grossstaaten geworden, deren Schicksale es theilte. Venedig,
die Mutterstadt, und deren Terra ferma aber schmücken schliesslich
als glanzvolle Perlen den Busen der zu Leben und That erwachten
jugendlichen Italia.
Während der Blick zurück in die Vergangenheit schweift,
kommen wir dem Lande näher. Die langgestreckten und niedrigen
Dünen-Inseln, Lidi, die wie ein Schutzwall das Lagunengebiet von
der offenen See abschliessen, liegen vor uns. Man gewahrt dort, zum
Theile durch die 10 m hohe Aufböschung der berühmten Murazzi
gedeckt, Ortschaften, Gärten, Festungswerke. Dahinter bauen sich die
Häusermassen Venedigs auf.
In das Labyrinth der Lagunen führen die vier Einfahrten von
Lido, Treporti, Malamocco und Chioggia. Die vorletzt genannte ist
die Passage der grossen Schiffe; sie wird durch einen 2100 m frei in
das Meer gebauten Damm, der 1825 unter der Regierung des Kaisers
Franz I. entstand, vor Versandung geschützt. Die Zufahrt von Mala-
mocco wird bei stürmischem Wetter auch von den kleinen Schiffen
benützt, denn bei Lido, wo ausgedehnte Sandbänke vorgelagert sind,
bilden sich bei hohem Seegange infolge der geringen Wassertiefe
schwere Brechen und Sturzseen, welche die Schiffahrt ernstlich ge-
fährden.
Die Ebbe und Flut treibt eine beachtenswerthe Strömung durch
die Lagunen-Canäle zu den genannten Einfahrten und bewirkt Ver-
änderungen des Meeresspiegels bis zu einem Meter Höhe. Zur Flut-
5*
[36]Das Mittelmeerbecken.
zeit ist das ganze weitausgedehnte Lagunengebiet in einen grossen
See verwandelt, dessen ruhige Fläche Venedig, seine Vorstädte sowie
die zahlreichen in der Umgebung zerstreut liegenden Klöster, Kirchen
und andere Baulichkeiten als Inseln und Eilande höchst malerisch
beleben; den Lauf der zahlreichen Canäle markiren aber dunkle oft
seltsam gruppirte Holzpfähle, die eine auffallende Charakteristik des
fesselnden Lagunengebildes sind. Bei Ebbe erscheinen hingegen die
trockengelegten, von den Wasserstrassen durchzogenen Sandbänke des
Lagunenplanes (Paludi) als dunkelbraun gefärbte Flächen.
Seit den ältesten Zeiten waren die Venetianer bemüht, das La-
gunengebiet nicht nur gegen die äusseren Sturmfluten zu schützen,
sondern auch die Versandung durch die einmündenden Flüsse abzu-
wenden. Grossartige Canalbauten, wie jene der Brenta, des Bachilione,
Sile u. a., dann eine Anzahl von Schleusenwerken bezweckten die
Ableitung der Hochwässer zu ausserhalb der Lagunen gelegenen
Punkten.
Mit der Canalisation gewann die Republik natürliche Verbindungs-
wege für ihren Handel mit fast allen Provinzen von Oberitalien, wo-
durch in jener sonst so wegearmen Zeit die rasche Ausdehnung und
das Gedeihen seines Handels mit dem Binnenlande erklärt werden kann.
Die Lagunen füllten im Leben der Republik eine ganz besondere
Stellung aus, sie gehörten überhaupt zum Weichbilde der Hauptstadt,
denn auf den Lidi und den anderen Inseln, wie in Venedig selbst
wussten die weitblickenden Lenker des Dogenstaates die grösstmög-
liche Bevölkerung, Reichthum und Behaglichkeit zu vereinigen.
Dorthin strömten die Handelsschätze aus dem reichen Oriente,
und es entstanden in gegenwärtig fast verödeten Orten, wie Oriago,
Mestre, Compalto, Porto Buffoledo, Porto Gruario, bedeutende Stapel-
plätze, wohin Schiffe aller Nationen kamen. So häuften sich fabel-
hafte Reichthümer zu einer Zeit, in der Europa noch in tiefe Barbarei
versunken war, in der Dogenstadt an.
Die äussere Handelspolitik Venedigs bezweckte, die fremden
Völker in ein Abhängigkeitsverhältniss zu drängen. Ein besonderes
Pressionsmittel bildete bis zum Jahre 1500 der Salzhandel. Das in
den strenge bewachten Salinen von Comacchio und Cervia gewonnene
Salz durfte nur dorthin ausgeführt werden, wohin der Senat es be-
stimmte. In ihrem Bestreben, durch den Salzbesitz dominirend aufzu-
treten, vermochten die Venetianer 1381 die Ungarn zur Schliessung
der Salzbergwerke in Croatien gegen eine Entschädigung von jährlich
7000 Goldducaten zu bewegen, und ähnlich verfuhren sie im Frieden
[37]Venedig.
von Chambery mit den Genuesen. Im XIII. und XIV. Jahrhunderte
florirten in Venedig viele Gesellschaften, die sich Salinari nannten.
Diese kauften die Salzernten der Saracenen, Barbaresken, Sicilianer
und Calabresen unter äusserst günstigen Bedingungen auf und konnten
infolge dessen das Salz zu so niedrigen Preisen verkaufen, dass nicht
einmal die findigen Genuesen zu concurriren vermochten.
Die Einfahrt bei Lido wird nebst anderen Batterien hauptsächlich
durch das äusserst geräumige Fort S. Nicolò di Lido beherrscht.
Venedig. (Dogenpalast und Piazzetta.)
Diese grösstentheils aus alter Zeit herstammende Befestigung erfüllte
bis zur Einführung der Panzerschiffe vollkommen den Zweck einer
fortificatorischen Sperre der wichtigen Zufahrt nach Venedig. Heutigen-
tags ist sie allerdings veraltert; allein andere kräftigere Vertheidigungs-
mittel, wie Seeminen und Torpedos, werden jeden feindlichen Einfall
in das Lagunengebiet vereiteln können. Die Venetianer verwendeten
das Fort S. Nicolò als Sammelort für die grossen Truppentransporte
nach ihren überseeischen Provinzen und Besitzungen. Die Baulich-
keiten innerhalb der ausgedehnten Umwallungen boten Unterkunft für
[38]Das Mittelmeerbecken.
10.000 Mann. Nebstdem konnte man dort grosse Herden Schlachtvieh
(bis 2500 Ochsen) zur Approvisionirung der Hauptstadt in Bereitschaft
halten.
Ein eigenthümliches unvergleichlich anziehendes Leben entfaltet
sich vor unseren Blicken, wenn wir aus dem Engpass des Lido die
inneren Lagunen erreichen und längs der Canalpfähle gegen Venedig
dampfen. Jetzt erst gewahrt man die bedeutende Zahl von Eilanden, deren
fast jedes ein oder mehrere grössere Bauwerke trägt. Der grüne
Schmuck des Laubwerkes tönt das Bild vortheilhaft ab. Man sieht,
dass das spärliche Lagunenterrain vorzüglich ausgenützt ward. Auf-
fallend ist die Menge der Thürme und Glockengiebel, die indes eine
wohlthuende festliche Stimmung vermitteln. Venedig hatte von jeher
der Entfaltung der katholischen Kirche, deren volle Unterstützung seine
Dogen häufig genossen, den freiesten Spielraum gewährt, und die zahl-
reichen prachtvollen kirchlichen Bauten, worin die Eigenart der
venetianischen Kunst verkörpert ist, sind und waren auch die ergie-
bigsten Quellen seines Glanzes. Der gleichen religiösen Stimmung der
Bevölkerung entsprechend, fand das Klosterleben einen günstigen
Boden zur Entwicklung, und wir wissen, dass beim Sturze der Republik
123 Klöster in Venedig und auf den Laguneninseln bestanden. Die
Hochhaltung der katholischen Kirche hinderte die Republik aber
keineswegs, in der Levante den staatsklugen Grundsatz der Duldung
zu bethätigen und schonend sich zu benehmen.
Zu den stabilen Objecten des Lagunenbildes gesellen sich nun
auch die behenden Gestalten der Fahrzeuge des venetianischen Ge-
bietes. Flinke, flachgebaute Batelli, dann wieder die pfeilschnell vorbei-
schiessenden Vipere kreuzen, von zwei bis vier Ruderern bewegt, das
Fahrwasser, während der eigentliche Beherrscher des Lagunenplanes
das leichtbeschwingte Fischerboot des Chioggioten, das auch weit
draussen in hoher See Bewunderung erregt, wie ein Schmetterling rechts
und links und selbst am fernen Horizonte seine farbigen Flügel zeigt.
Die schwarz gedeckte Gondel erscheint in Gesellschaft ihrer fröhlichen
Genossen, noch mehr aber neben den raschen und lärmenden Local-
dampfern, welche zu den Seebädern am Lido verkehren, wie ein Ana-
chronismus; man ist versucht, an ein geheimnissvolles „Vermächtniss
der Ahnfrau“ zu denken, das den Blicken der Profanen entzogen
werden soll. So düster schleicht das Fahrzeug einher, und fast dro-
hend blitzt das hellebardenartig gezackte Eisen seines Buges. Ohne
Gondeln ist jedoch Venedig fast undenkbar. Da keine Wagen in der
Stadt verkehren können, so schuf man sich gedeckte, mit schwellen-
[39]Venedig.
den Kissen ausgestattete Fahrzeuge, um Schutz zu finden gegen die
Unbill der Witterung und wohl auch gegen die Neugierde der lieben
Mitmenschen. Ein grosser Theil der venetianischen Romantik hat die
geheimnissvolle Gondel zur Unterlage. Unsere ganze Umgebung lässt
sich in reizende Einzelbilder auflösen, deren jedes dem Künstler ein
prächtiges Motiv entgegenhält. Der monumentale Hintergrund von ge-
waltigstem Eindrucke ist aber die Stadt Venedig selbst. Die Ansicht
der prächtigsten Metropolen der Erde wird den Besucher kaum mit
solcher Ueberraschung erfüllen, wie der erste Anblick der Dogenstadt.
Da liegt sie vor uns mit ihren Prachtbauten und unschätzbaren
Meisterwerken wie ein reich ausgestattetes Museum! Paläste und Dome
entsteigen, mit Aphrodite vergleichbar, herrlich dem Schaume des
Meeres; jedes Bauwerk ein Stück versteinerter Poesie, und alle zu-
sammen eine vom Hauche ehrwürdiger Zeiten getragene Harmonie.
Unzähligemale hat der Künstler das Bild uns dargestellt, jetzt aber
erscheint es uns verjüngt, ja neu, wir wähnen nichts Aehnliches früher
geschaut zu haben. Der säulengetragene Dogenpalast, der berühmte
Palazzo ducale, ein Prachtbau in venetianisch-gothischem Style, in
dessen Räumen einstens Serenissimus, der fürstliche Doge, und der grosse
Rath die Staatsgeschäfte leiteten, wird sogleich zum Mittelpunkt un-
seres Interesses, wie er ehemals das Herz der Republik gebildet
hatte. Gewaltig sind die Erinnerungen, die an ihn sich knüpfen. Er
sah die Vaterstadt auf dem Gipfel ihrer Macht, auf der Höhe ihres
Glanzes, umworben und beneidet von allen Culturvölkern der Erde;
allein er sollte auch Zeuge werden ihres schmählichen Falles, der am
12. Mai 1797 sich vollzog.
Die Westfront des Dogenpalastes flankirt die sogenannte Piazzetta,
ein in den Marcusplatz einmündender, gegen die Lagune offener Platz,
den die zwei berühmten syrischen Granitsäulen des Dogen Michiel
(1120) zieren. Hier, wo heute ein lebhafter Verkehr froher Menschen
flutet, wurden ehemals die Todesurtheile vollzogen. Gegenüber dem
Dogenpalaste bewundern wir den jetzt zum königlichen Palais gehö-
renden Prachtbau der Bibliothek (Antica libreria di S. Marco), eines
Meisterwerkes Sansovino’s (1536), gleichzeitig eines der schönsten
Bauwerke des Cinque cento und vielleicht der herrlichste Profanbau
Italiens. Die Bibliothek findet in dem grossartigen Palast der Procura-
zien, welcher den mit Trachyt- und Marmorplatten belegten Marcusplatz
auf drei Seiten umschliesst, eine natürliche Fortsetzung. Unter den
reich gegliederten Bogengängen haben elegante Kaffeehäuser und Kauf-
läden sich etablirt und dadurch ohne Zweifel beigetragen, den Mittel-
[40]Das Mittelmeerbecken.
punkt des venetianischen Lebens an den Marcusplatz zu fesseln.
Hier hält die elegante Welt, umflattert von der lustigen Schar der
Marcustauben, ihren täglichen Corso, der zu reizender Lebhaftig-
keit sich steigert, wenn die Klänge der concertirenden Militärmusik
den weiten Raum des Platzes durchrauschen. Bei heller Mondnacht
aber, wenn die edlen Formen der von Zeit und Wetter geschwärzten
Monumentalbauten durch den milden Lichtstrom in ihrer wundervollen
Plastik hervortreten und die phantastischen Profile der uralten Basi-
lika des heiligen Marcus aus ihren reichen Ornamenten tausende von
Reflexen uns zusenden, da geniesst man den vollen Reiz der vene-
tianischen Poesie.
Die Marcuskirche und der vor ihr freistehende Glockenthurm,
vollenden so recht den eigenthümlichen Charakter des Marcusplatzes.
Die Basilika selbst zählt zu den ältesten und reichsten Gottes-
häusern der Erde. Dem Schutzpatrone der Stadt, dessen Gebeine im
Jahre 828 von Alexandrien nach Venedig überführt wurden, geweiht,
währte ihr Bau vom Jahre 976 bis 1071. Er zeigt den Venedig an-
gehörenden gemischten romanisch-byzantinischen Styl, der mit seinen
Kuppeln und hunderten von Säulen, dann mit den gothischen Zuthaten
und der verschwenderischen Pracht der ganzen Ausstattung im Laufe
der Jahrhunderte zum kostbarsten Juwel der Dogenstadt sich heraus-
gebildet hat. Ebenso herrlich ist das Innere der Kirche. Mehr als
4000 m2 der prächtigsten Mosaikmalerei, darunter die ältesten Darstel-
lungen aus der ersten Bauperiode der Basilika, bedecken die mit Gold,
Bronze und orientalischem Marmor überreich ornamentirten Wandun-
gen. Einen eigenthümlichen Schmuck erhielt die Hauptfront der Marcus-
kirche durch die berühmte Bronze-Quadriga, welche altrömischen Ur-
sprunges — man vermuthet, sie entstamme der neronischen Kunst-
epoche — und, als einziges tadellos erhaltenes antikes Viergespann, von
unschätzbarem Werthe ist. Die Grossen der Erde stritten um den Besitz
des Kunstwerkes. Constantin brachte die Quadriga nach Constantinopel,
der Doge Dandolo im Jahre 1204 nach Venedig, Buonaparte entführte
sie 1797 nach Paris und schmückte damit den Triumphbogen am
Carrousselplatz, bis Kaiser Franz I. sie im Jahre 1815 wieder der
Dogenstadt zurückgewann und an der geweihten Stelle aufrichten
liess. Auffallend sind auch die drei hohen, in ehernen Fussgestellen vor
der Marcuskirche aufgerichteten Flaggenmasten, auf welchen einst die
Banner der Königreiche Cypern, Candia und Morea flatterten. Ent-
sprechend den wechselvollen Schicksalen Venedigs nahmen dann die
französiche Tricolore, das habsburgische Banner und die Flaggen des
[41]Venedig.
napoleonischen und jetzt savoischen Italiens zu verschiedenen Zeiten
den Platz am Top der schlanken Cedernmasten ein.
Von der herrlichen Centralgruppe der eben skizzirten ehrwür-
digen Monumente, die an den Dogenpalast sich anschliessen, fällt der
Blick zunächst auf den von Hunderten von Fahrzeugen belebten Canal
grande, der die Stadt in einer Doppelwindung als breite Verkehrs-
strasse durchzieht. Linker Hand auf dem Thurme des Zollamtes weiset
eine goldene Fortuna, auf gewaltiger Kugel schwebend, den Eingang
zum Canale. Den breiten Wasserweg, die grossartige Pulsader, zieren
die herrlichen Patricierpaläste der einstigen Venezia felix.
Die erlauchtesten Namen der venetianischen Geschichte sind hier
durch hervorragende, den verschiedenen Kunstperioden angehörende
Monumentalbauten verewigt. Der Canal grande ist dadurch zu einer
reichen Gallerie architektonischer Meisterwerke geworden, welche durch
den prächtigen Marmorbogen der Rialto-Brücke in räumlich gleiche
Theile geschieden wird.
Wie die überwiegende Mehrheit der venetianischen Gebäude, ruht
auch die Rialto-Brücke auf einem Fundament von eingerammten Pfählen;
12.000 Eichenstämme tragen die ungeheuere Last des stolzen Bau-
werkes, das 1588—1591 entstanden ist. Unter den 378 meist stei-
nernen venetianischen Brücken, welche die 117 Inseln der Stadt mit-
einander verbinden, haben die Rialto-Brücke (Ponte di Rialto) und die
Seufzerbrücke (Ponte dei sospiri), welch letztere aus dem Dogenpalast
in die Gefängnisse führt, einen unverlöschbaren Weltruf erlangt, und
die Volksmuse war und ist unerschöpflich, beide zu besingen; diese
im tragischen, jene im romantischen Sinne.
Im Süden des mächtigen Stadtkernes von Venedig lagern, durch
den breiten Canal della Giudecca von ihr geschieden, die beiden Inseln
S. Giorgio Maggiore und Giudecca; auf ersterer erhebt sich gegenüber
der Piazzetta in edlen majestätischen Formen das classische Bauwerk
der Kuppelkirche S. Giorgio Maggiore, eines der imposantesten Meister-
stücke des Andreo Palladio (1580). In der mit Kunstschätzen ausge-
statteten, und zum anstossenden Benedictinerkloster gehörenden Kirche
tagte im Jahre 1800 das Conclave, in welchem Pius VII. zum Papste
erwählt wurde.
Die überwältigende Fülle der prächtigen altehrwürdigen Bau-
werke, welche von hieraus mit einem Blicke zu überschauen sind, und
in welchen ausnahmslos noch immer der frische Pulsschlag des Lebens
wogt, drängt unwillkürlich den Gedanken wieder in die Vergangen-
heit der Stadt zurück, die von keiner zerstörenden Katastrophe zu
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 6
[42]Das Mittelmeerbecken.
berichten weiss. Die Stürme des Meeres und des Krieges hinterliessen,
dank der vortheilhaften Lage der Dogenstadt, keine Spuren zurück,
und vierzehn Jahrhunderte hindurch bis zu ihrem Falle schmückte der
Myrthenzweig der fortificatorischen Jungfräulichkeit die Befestigungen
der Lagunen. Selbst die Belagerung im Jahre 1849, als Radetzky
nach fünfzehnmonatlichen Anstrengungen die Republik des zweiten
Manin stürzte, verursachte den Kunstschätzen Venedigs keinen Schaden
und so steht die Stadt vor uns prächtig und glanzvoll wie in ihren
schönsten Tagen.
Als anmuthiges heiteres Element im Rundbilde Venedigs, wie es
vom Hafen aus dem Beschauer sich bietet, erscheinen ausser den
Thürmen der zahlreichen herrlichen Kirchen auch die grünen Laub-
kronen der südöstlich in die Lagune vorgeschobenen Giardini pubblici.
Die mässig ausgedehnten Anlagen sind eines der wenigen Geschenke,
mit welchen Napoleon 1807 die zehn Jahre vorher durch ihn ge-
demüthigte und gebrandschatzte Stadt bedacht hatte. Das heute in
den Baumalleen der Anlage lustwandelnde fröhliche Volk weiss aller-
dings nicht, dass die Freundschaft des übermüthigen Eroberers ausser
mit dem politischen Tode des Freistaates auch noch mit mehr als
40 Millionen Ducaten an Kriegsmateriale und Kunstobjecten gesühnt
werden musste.
Von den Giardini bis zum Beginn der breiten Quai-Promenade,
der Riva degli Schiavoni dehnt sich der in maritimer Hinsicht be-
merkenswerthe Stadttheil S. Pietro aus, in welchem das äussert geräu-
mige Seearsenal eingeschlossen ist. Gegenwärtig im Betriebe sehr
eingeschränkt, war es zur Zeit der Republik ein Ort rührigsten und
grossartigsten Schaffens, wo bis zu 16.000 Arbeiter Beschäftigung
fanden. Sowohl die Zahl der Arbeitskräfte wie die Weitläufigkeit der
ganzen Anlage, die selbst einer grossen Seemacht unserer Zeit genügen
würden, entsprachen indes völlig dem Bedürfnisse der venetianischen
Machtstellung. Man muss, in die Geschichte zurückgreifend, der enormen
Kriegsflotten gedenken, welche Venedig während der Bekämpfung der
byzantinischen Kaiser entsendete. Mit Stolz erwähnt die Tradition, dass,
als im XII. Jahrhunderte Kaiser Emanuel alle Venetianer in seinem
Reiche verhaften liess und alle Kerker und zahlreiche Klöster mit den-
selben anfüllte, das Arsenal in der Zeit von 100 Tagen nicht weniger
als 100 gewaltige Galeeren, 30 Transportschiffe und 20 andere Fahr-
zeuge wohlgerüstet in den Kampf entsenden konnte. Ebenso bethei-
ligte sich Venedig bei der Eroberung von Constantinopel (1201) mit
220 Schiffen, unter denen 100 riesige Dromonen und Uscieri waren,
[43]Venedig.
die wie „Il Mondo“, „La Pellegrina“, „Il Paradiso“ bis zu je 1000
Mann Besatzung führten und mit gewaltigen, eisenbeschlagene Balken
schleudernden Kriegsmaschinen ausgestattet waren. Der grösste Theil
der mächtigen Kreuzfahrerheere ward durch venetianische Flotten nach
Syrien gebracht.
Auch in den folgenden Jahrhunderten glänzte Venedig durch die
Tüchtigkeit seiner Flotten. Solche Leistungen konnte nur ein eminent
maritimer Staat vollbringen, und in der That sehen wir den venetia-
nischen Schiffbau schon im VI. Jahrhundert ausgebildet; in der Folge
errichtete die Republik neben den Schiffbauschulen noch eine Lehr-
kanzel für Schiffbau an der Universität zu Padua.
Ebenso gelangte die Kriegstechnik frühzeitig zur Reife, denn durch
den Contact der Venetianer mit den Völkern des Ostens lernten sie weit
früher als die übrigen Staaten Europas das Schiesspulver und seine
Anwendung kennen. Noch vor Anbruch des XIII. Jahrhunderts erdröhnen
im Kampfe gegen Genua die ersten Kanonenschüsse von ihren Galeeren.
Die Grösse Venedigs gipfelte in der ungeheueren Ausdehnung
seines Handels und fusste in der unversiegbaren Quelle seiner mari-
timen Hilfsmittel. Holz und geschulte Arbeitskraft war in Ueberfluss
vorhanden. Tüchtige Seekriegsleute lieferten zum grössten Theil Istrien
und Dalmatien, mit deren Küstenbevölkerung die Venetianer eine gegen-
seitige Interessengemeinschaft verband.
Gegenwärtig bildet Venedig eines der Departements der mächtig
angewachsenen italienischen Flotte und ist ein wichtiges Glied in dem
Systeme der Küstenvertheidigung.
Am nordwestlichen Ende der Stadt liegt die Eisenbahnstation,
mit breiten, während der letzten Jahre hergestellten Quaianlagen.
Zum Festlande führt die 3600 m lange und 222 Bogen zählende
Steinbrücke nach Mestre — wohl die längste der Erde.
Gerade in unseren Tagen verdankt die „Markusstadt“ den
Schienensträngen, welche sie mit den reichen Hinterländern verbinden
eine erneuerte Blüte. Venedig ist auch heute eine der grössten Städte
Italiens, denn es zählt 129.445, als Gemeinde 134.810 Einwohner. Aber
sein Handel ist verhältnissmässig kaum ein Schatten jenes Verkehres,
der hier herrschte, als Venedig der Vermittler der tausendfältigen
Beziehungen und Verbindungen des Mittelmeeres, oder, was damals
dasselbe bedeutet, der Mittelpunkt des Welthandels war. Es ist be-
kannt, dass die kluge Benützung der durch die Kreuzzüge geschaffenen
Steigerung des Personen- und Gütertransportes die Hauptursache der
grossen Blüthe Venedigs war, und man pflegt die Errichtung des
6*
[44]Das Mittelmeerbecken.
lateinischen Kaiserreiches in Byzanz (1204) als den Höhepunkt des
Einflusses der „bella Venezia“ zu bezeichnen — allein mit Unrecht.
Zunächst erscheinen die alten Venetianer den heutigen Briten
auch darin vergleichbar, dass sie es verstanden, noch im XIII. Jahr-
hunderte ihre Vaterstadt zum Capitale für einträgliche Industrien zu
erheben. In den 1204 erworbenen Theilen Griechenlands und den um-
liegenden Inseln blühten die Production und die Verarbeitung der
Seide. Die Venezianer versetzten griechische Arbeiter in ihre Vater-
stadt, und an Stelle Constantinopels wurde Venedig der Hauptsitz der
Seidenindustrie am Mittelmeere. Man war damit in einem der wich-
tigsten Zweige des Handels unabhängig von der alten Metropole.
Neben den Seidenfabriken erhoben sich bald weltbeherrschende Eta-
blissements für Papier, Glas, Leder, geschmackvoll gearbeitete Waffen,
für Schmuck, Holzarbeiten; kurz Venedig wurde die Heimat einer
durch die wahre Kunst getragenen und getriebenen Kunstindustrie.
Um unbehindert in das Innere Osteuropas und Asiens zu ge-
langen, umging man einfach Constantinopel, von wo aus seit 1265
die Rivalin Genua den Handel des schwarzen Meeres und Central-
asiens zu monopolisiren bestrebt war. Einen Theil der Don- und Wolga-
Artikel bezog man durch die Hanseaten über Brügge und Antwerpen,
und nach Innerasien verfolgte man einen neuen Weg, die grosse
armenische Handelsstrasse, welche von Lajazzo (Ajas) an der Süd-
küste von Kleinasien ausging.
Diesen Weg schlugen die beiden edlen venezianischen Kaufleute
Nicolò und Maffio Polo ein, als sie ihre zweite Reise in das Reich
der Mongolen antraten, diesmal begleitet von Marco, Nicolò’s Sohn.
Durch 24 Jahre, 1271—1295, blieben sie im Morgenlande.
Marco Polo stieg in den Diensten des Mongolenkaisers Kublai Chan
zum Präfecten auf, wurde sogar Admiral und durchzog, dem Hoflager
oder den erobernden Heeren folgend, alle chinesischen Provinzen
innerhalb der grossen Mauer, ausgenommen die beiden südöstlichen
Kuangsi und Kuangtung. Er betrat als erster Europäer das östliche
Tibet, ja selbst das nördliche Birma, das gerade in unseren Tagen durch
die Engländer vollständig erschlossen wird. Zu der Heimkehr wählten
die Polos den südlichen Seeweg über Tschiampa (Cochinchina), Sumatra,
Ceylon, die Malabarküste und Ormus am Eingange in den persischen
Golf und kreuzten Vorderasien über Täbris und Trapezunt. Die glän-
zenden Schilderungen, welche Marco Polo von den chinesischen Sitten
machte, seine Beschreibung Quinsays (jetzt Hangtscheufu), der prächti-
gen Hauptstadt Südchinas mit ihren meilenlangen Strassen und zwölf-
[[45]]
A Hafen von Venedig, B Rhede von Malamocco, C Eisenbahnbrücke, D Steindämme Murazzi, E Sand-
barren, F Leuchtfeuer, G Quarantäne-Anstalt Poveglia, H Badestrand von Lido.
[46]Das Mittelmeerbecken.
tausendmal überbrückten Canälen, seine Erzählungen von dem reichen
Pfeffermarkte Zeiton an der Strasse von Fu-Kien und von der im Osten
Asiens gelegenen Inselgruppe Zipangu (Japan), wo der königliche
Palast mit goldenen Tafeln gedeckt war, erregten unendliches Aufsehen.
Die Bedeutung der kühnen Wanderungen der venetianischen
Reisenden wird von Dr. Sophus Ruge sehr treffend in folgenden
Worten charakterisirt: „Fassen wir einmal die Resultate dieser epoche-
machenden Reise zusammen, so war Marco Polo der erste Reisende,
welcher ganz Asien der Länge nach durchzog und die einzelnen Län-
der beschrieb. Er sah die Wüsten Persiens und die grünen Hoch-
flächen und wilden Schluchten Badachschans, die jadeführenden
Flüsse Ost-Turkestans und die Steppen der Mongolei, die glänzende
Hofhaltung in Cambalu und das Volksgewimmel in China. Er erzählte
von Japan mit seinen goldbedeckten Palästen, von Birma mit seinen
goldenen Pagoden, schilderte zuerst die paradiesischen Eilandfluren der
Sundawelt mit ihren aromatischen Gewürzen, das ferne Java und
Sumatra mit ihren vielen Königreichen, mit seinen geschätzten Er-
zeugnissen und seinen Menschenfressern; er sah Ceylon mit seinen
heiligen Bergen, besuchte viele Häfen Indiens und lernte dieses im
Abendlande noch immer von Sagen verhüllte Land in seiner Grösse
und seinem Reichthum kennen. Er gab zuerst im Mittelalter einen
klaren Bericht von dem christlichen Reiche in Abessynien und drang
mit seinem Blick einerseits bis nach Madagaskar vor, andererseits zog
er im Innern Asiens Erkundigungen über den höchsten Norden, über
Sibirien ein, über das Land der Finsterniss, wo weder Sonne, noch
Mond, noch Sterne scheinen und ein ewiges Zwielicht herrscht, wo
man auf Hundeschlitten fährt oder auf Renthieren reitet, ein Land,
hinter welchem endlich ein eisiger Ocean sich ausdehnt.“
Aber gerade die Reisen Polo’s, welche bisher ungeahnte Dinge
zur Kenntniss des Abendlandes brachten und der königlichen Repu-
blik eine Quelle neuer Reichthümer, den Ausgangspunkt für unermess-
liche Ausdehnung ihrer Machtsphäre bieten zu sollen schien, tragen
den Keim tragischer Wendung in sich. Seine Berichte liessen in
Venedigs Rivalen den Wunsch reifen, auf anderem Wege in jene Ge-
biete märchenhafter Fülle zu gelangen; je verlockender die Schilde-
rungen waren, desto stärkeren Ansporn mussten sie bieten, den grossen
Schritt ins Unbekannte zu wagen, und eben die Länder und die Schätze,
welche Polo im fernen Ostasien geschaut hatte, waren die Ziele,
welche Christobal Colon zu erreichen hoffte, als er 1492 über den
Atlantischen Ocean steuerte.
[47]Venedig.
Während Marco Polo im fernen Osten weilte, wurde Armenien
von den Venezianern wirthschaftlich vollständig beherrscht; Kaufhäuser
in Beiruth, Damaskus und Aleppo vermittelten den Verkehr mit Persien
und Indien, durch Verträge mit der Mameluckendynastie, welche seit
dem XIII. Jahrhunderte in Egypten mit Kraft herrschte, wurde Ale-
xandrien eine wichtige Station ihres Handels, wohin die Araber auf
dem Seewege durch das rothe Meer und den Nil abwärts die Ge-
würze Indiens brachten, unter denen Pfeffer das wichtigste war.
So fällt der Höhepunkt der Macht Venedigs nicht in den
Anfang des XIII., sondern in das Ende des XIV. Jahrhunderts, wo das
ganze östliche Becken des Mittelmeeres das Colonialreich der Vene-
zianer bildet.
Der Tag, an dem die Portugiesen den Seeweg nach Indien ums
Cap fanden, war der Wendepunkt in der Geschichte Venedigs, denn
er verlegte den Sitz des Gewürzhandels nach Lissabon, und die kürzere
Route über die Landenge von Suez kam nicht weiter in Betracht, weil
es den Portugiesen in kurzer Zeit gelungen war, die Seeherrschaft der
Araber im indischen Ocean zu brechen.
Wohl ist heute die Route über Suez als Seeweg wieder eröffnet,
aber die Handelsstellung von Triest und Genua ist durch günstigere
Eisenbahnverbindungen bedeutender geworden, als die Venedigs. Auch
schwand in Venedig der ehemalige traditionell gewordene Handelsgeist,
der die Grösse der Stadt begründet und durch Jahrhunderte glänzend
aufrecht erhalten hat. Die neueren Generationen der Venezianer nehmen
wenig Interesse am Handel. Sie wenden sich nach Mailand und Florenz
und legen ihr Vermögen in landwirthschaftlichen Unternehmungen an,
die wohl weniger Gewinn abwerfen, dafür aber bei dem in Italien
herrschenden Pachtsysteme auch wenig Arbeit machen. Dem Handel
werden so die nothwendigen Capitalien entzogen, und die Anzahl der
echt venetianischen leistungsfähigen Handelsfirmen vermindert sich
andauernd.
Das heutige Handelsgebiet von Venedig umfasst nur die vene-
tianischen Provinzen und die Romagna; alle Landschaften weiter im
Westen gravitiren nach Genua. Auf die Producte dieses Gebietes
allein aber lässt sich ein belangreicher Ausfuhrhandel nicht gründen.
Bei den geänderten Verhältnissen unserer Zeit, welche sich mit allen
Kräften anstrengt, den Zwischenhandel zu umgehen, musste Venedig
ebenso wie Triest, Genua, Hamburg, kurz alle Continentalhäfen seine
volle Kraft dem Transitohandel zuwenden. Sein Transitohandel leidet
aber zunächst unter den mangelhaften Eisenbahnanschlüssen nach den
[48]Das Mittelmeerbecken.
anderen Städten Oberitaliens; die „Magazzini Generali“ und der „Punto
Franco“, also Lagerhäuser, von denen das letztere ausschliesslich dem
Transitohandel dienen soll, nähern sich nur sehr langsam der Vollendung.
Die Stazione Marittima ist unpraktisch angelegt und der Raum für das
Anlegen der Schiffe sehr beschränkt. Das sind Hindernisse der Entwick-
lung des Handels von Venedig, die mit gutem Willen und einiger Voraus-
sicht schon lange aus dem Wege geräumt sein könnten. Schwieriger
zu schaffen sind neue Eisenbahnverbindungen, die Venedig wieder zu
einem Stapelplatze für den Verkehr der Länder nördlich der Alpen
machen könnten; denn die heute bestehenden Verbindungen von Venedig-
Mestre-Verona-Innsbruck, dann Mestre-Udine-Cormons und Udine-
Pontebba genügen nicht. Nach Süden führt die Linie Mestre-Monselice-
Bologna-Rom mit der neuen Abzweigung Monselice-Mantua, welch
letztere die Verbindung Venedigs mit den Po-Gegenden erheblich
verbessert. Venedig hat bis heute auch keine eigenen Schiffahrts-
verbindungen, es ist nicht Kopfstation selbständiger Schiffahrtslinien;
sein Ein- und Ausfuhrhandel wird von Dampfergesellschaften versehen,
die den Hafen bloss im Cumulativdienste, das ist als Zwischenstation
unter andern Escalen des mittelländischen und adriatischen Meeres an-
laufen lassen. Man darf endlich auch begierig sein, wie die neue
Einrichtung der Schleppschiffahrt auf dem Po und dessen Nebenflüssen
den Handel von Venedig beeinflussen wird.
Unter diesen Verhältnissen bildet die Einfuhr über die Seegrenze
den Kernpunkt der commerciellen Bedeutung Venedigs.
Handel zur See in Lire:
| [...] |
Der wichtigste Artikel für die Einfuhr zur See ist Getreide (1887 für
18·5 Millionen Lire), insbesondere Weizen, welcher nur zum Theile für den Consum
in den venezianischen Provinzen bestimmt ist; die grossen Dampfmühlen von
Venedig und Treviso verschicken Mehl bis Süditalien. Diese mächtige Mühlen-
industrie verwendet mit Vorliebe Weizen aus Südrussland, der sich ausgezeichnet
zu Mischungen mit italienischem eignet. Der Bezug des ungarischen Weizens ist
auffallend zurückgegangen, er entspricht nicht den Wünschen der italienischen
Müller; dagegen erscheinen indische Weizensorten in der Einfuhr. Die Einfuhr
des Maises ist vollständig abhängig von dem Ergebnisse der Ernte im Vene-
zianischen.
Ueber Venedig geht Reis aus Birma und Japan durch Vermittlung engli-
scher Häfen ein, der in den Reismühlen des östlichen Oberitaliens, von welcheu
die grössten in Treviso sind, verarbeitet und mit italienischem vermischt wird.
Die früher bedeutenden Zufuhren aus Bremen und Fiume haben seit 1887, wo
der Zoll auf gemahlenen Reis doppelt so hoch bestimmt wurde, wie der auf
[49]Venedig.
rohen, aufgehört. Der Reis, welcher über Venedig exportirt wird, stammt aus der
Romagna.
Bedeutend ist die Einfuhr von Kaffee, wobei man bemerkt, dass Venedig
sich bestrebt, in directen Verkehr mit den Ursprungsländern zu treten. Es ist
dies die einzige Lichtseite im Handel Venedigs. So bezieht man Kaffee aus Bra-
silien direct, aber mittelst Umladung in Liverpool und Marseille. Westindische
Sorten werden über die Kaffeeplätze Westeuropas und über New-York bezogen.
Der grösste Theil des eingeführten Zuckers, der in Italien raffinirt wird,
stammt aus Oesterreich-Ungarn.
Venedig ist ein Hauptort des Handels mit Oelen. Dem Werthe nach
nehmen sie in der Einfuhr die zweite (1887 16·8 Millionen Lire), in der Ausfuhr
die dritte Stelle (13·5 Millionen Lire) ein. Besonders gesucht sind hier die mittel-
feinen Gattungen des Olivenöls aus Bari. Viel Olivenöl kommt gemischt mit
Baumwollsamenöl aus Triest auf den hiesigen Markt. Oelsaaten werden aus Indien
eingeführt.
Wein wird aus Griechenland gebracht. Die Gattungen von Sta. Maura und
Corfù sind beliebt zum Mischen. Ungarische und dalmatinische erscheinen zumeist
nur dann auf diesem Markte, wenn die Ernte im Lande missrathen ist.
Branntwein ist in den Einfuhrlisten für 1887 mit 10·6 Millionen Lire
ausgewiesen, daneben findet ein rentabler Schmuggel statt.
Bekanntlich ist die Lederindustrie Italiens bedeutend, und der Hafen von
Venedig spielt in der Versorgung derselben mit Häuten eine wichtige Rolle. Man
bezieht diese vor allem aus Shanghai, dann auch aus Calcutta, Aegypten und Bahia.
Baumwolle wurde 1887 für 13·7 Millionen Lire, Rohseide für 6·1 Millionen
Lire und Schafwolle für 2 Millionen Lire eingeführt und in den Fabriken des
Inlandes verarbeitet.
Steinkohlen kommen aus England, Petroleum aus Amerika und Russ-
land. Das russische Petroleum verdrängt das amerikanische, obwohl dieses viel
beliebter ist, weil man gute Einrichtungen für das Ausladen und Lagern des
russischen getroffen hat.
Von Industrieartikeln werden Manufacturen (7·2 Millionen Lire) und ver-
arbeitete Metalle eingeführt.
Die Ausfuhr ist wie gesagt von untergeordneter Bedeutung und überdies
im Rückgange begriffen. In erster Linie stehen Manufacturen für etwa 13 Mil-
lionen Lire. Der Holzexport (1887 3 Millionen Lire), der noch vor kurzem sehr
bedeutend war, ist heute auf die Zufuhren aus Pieve di Cadore und der Romagna
angewiesen. Triest verdrängt Venedig aus einem Handelsplatze nach dem andern.
Anständigen Gewinn lässt die Ausfuhr des berühmten Hanfes der Romagna, des
besten der Welt, dessen Absatzgebiet übrigens durch den Verbrauch der Jute
sehr eingeschränkt ist, und der jetzt fast nur mehr für die Zwecke der Marine
Verwendung findet. Exportwerth 1887 6·9 Millionen Lire.
Die Ausfuhr des Papieres geht zurück, weil die Concurrenz der französi-
schen Waaren in der Levante zu mächtig ist. Die venezianische Specialität der
Glas- und Emailwaaren behauptet sich nur mit Opfern im Auslande. Das gilt
namentlich von den Emailglasperlen, deren Hauptmarkt Calcutta ist. Wie anders
stand die Glasindustrie Venedigs im Anfange des XVIII. Jahrunderts da, als Colbert
Arbeiter aus Murano entführen liess, um die Erzeugung der berühmten venetiani-
schen Spiegel in Frankreich einzuführen.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 7
[50]Das Mittelmeerbecken.
Ueber Venedig exportiren ferner die leistungsfähigen Stearinkerzenfabriken
des Venezianischen nach Süditalien und dem Auslande.
Es ist natürlich, dass bei diesem grossen Ueberwiegen der Einfuhr gegen-
über der Ausfuhr ein grosser Theil der Schiffe den Hafen Venedig in Ballast ver-
lassen muss. Von den englischen Dampfern, welche im Hafenverkehre Venedigs
an der Spitze stehen, geht fast die Hälfte unbeladen aus. Nach der englischen
zeigen die stärkste Frequenz die italienische und dann die österreichisch-ungari-
sche Flagge. Von Segelschiffen erscheinen in Venedig neben italienischen nur
österreichisch-ungarische.
Schiffsverkehr von Venedig:
| [...] |
Dazu kommen 1888 10 Segler mit 86 t, welche der grossen Fischerei
angehörten.
Von den Schiffahrtsgesellschaften, welche Venedig regelmässig anlaufen,
versieht die „Società Navigazione Generale Italiana“ den Verkehr mit der Levante,
den Häfen des Schwarzen und des Mittelländischen Meeres. Der Oesterreichisch-
ungarische Lloyd verbindet Venedig mit Triest; man bedient sich seiner auch
nicht ungern für Frachten über Triest hinaus, obwohl die Waaren in letzterer
Stadt umgeladen werden müssen. Weniger beliebt ist die englische Peninsular
and Oriental. Cy, welche den Verkehr mit Indochina versieht.
Aber es muss nochmals hervorgehoben werden, dass Venedig nicht Kopfstation
einer Dampfschiffahrtslinie ist, dass daher die für Venedig bestimmten oder von
dort abgehenden Waaren umgeschifft werden müssen, was eine Verschlechterung
der Güter und Verzögerungen in der Spedition zur Folge hat.
Consulate: Vereinigte Staaten von Amerika, Argentina, Belgien, Bolivia,
Chile, Columbia, Costarica, Dänemark, Deutsches Reich, Dominikanische Republik,
Frankreich, Japan, Monaco, Niederlande, Oesterreich-Ungarn, Peru, Portugal,
Russland, Schweden und Norwegen, Schweiz, Spanien, Türkei, Uruguay, Venezuela.
[[51]]
Ancona.
Auf der weiten Küstenstrecke zwischen Venedig und Brindisi
ist Ancona, das einstige Dorica Ancon der dorischen Griechen aus
Syracus, der einzige Hafen, der grösseren Schiffen vollkommen Schutz
zu bieten vermag, ein Umstand, dem im Vereine mit der hier aus-
mündenden Abruzzenbahn einige Wichtigkeit beigemessen werden mag.
Die nordwestliche Abdachung des 572 m hohen Monte Conero,
auch Monte d’Ancona genannt, dessen Massiv an klaren Tagen von
der dalmatinischen Küste aus erblickt werden kann, bildet eine
mässige, gegen südliche Winde geschützte Bucht, die schon unter
Kaiser Trajan durch Kunstbauten zu einem prächtigen Hafen gestaltet
worden war.
Der römische Senat liess 112 n. Chr. zum Danke für dieses
Werk dem Imperator einen heute noch gut erhaltenen marmornen
Triumphbogen am Hafendamme errichten. Papst Clemens XII., der
1532 in den Besitz von Ancona gelangte, erweiterte die Hafenanlagen
und umgab die Stadt mit Festungswerken, wofür die dankbaren Be-
wohner ihm ebenfalls einen gegen das Meer gekehrten Triumphbogen
widmeten. Sie ahnten nicht, wie sehr die Bauten des Gepriesenen zu
einem Danaer-Geschenk für spätere Generationen werden sollten!
Die Kriegsgeschichte erzählt uns denn auch von sechs Bela-
gerungen und Blocaden Anconas, und rechnet man die im Mittelalter
vorgekommenen mehrfachen Zerstörungen der Stadt hinzu, so mag
Ancona als eine schwergeprüfte menschliche Wohnstätte betrachtet
werden.
Der Anblick des Hafens bietet ein recht malerisches Bild. In
dem auf gewelltem Terrain ansteigenden Häusergewirre sind im Osten
die hochgelegene mit einer prächtigen Kuppel gezierte alte Domkirche
von St. Ciriaco, im Westen aber die Citadelle auf dem Berge Astagno
die dominirenden Punkte. Der breite Quai längs des inneren Hafens,
7*
[52]Das Mittelmeerbecken.
ehemals durch Bastionen verbaut, dient gegenwärtig als ein wichtiger
Verkehrsweg, in welchem der schöne Corso Vittorio Emanuele, der
die neue Stadt durchzieht, einmündet. Die letztere ist eine Schöpfung
der neuesten Zeit und wurde durch die Auflassung des ehemaligen
Hornwerkes der Festung ermöglicht.
An der Stelle der ehrwürdigen Domkirche stand zu dorischer
Zeit, wie Invenal erzählt, ein Venustempel.
Ancona.
Der innere Hafen bietet Schiffen bis zu 8 m Tauchung gegen
alle Winde vortrefflichen Schutz und kann bei jedem Wetter anstandslos
angelaufen werden.
Die Umgebung Anconas ist reizend. Ein herrlicher Strand, dem
zahlreiche Gebirgsflüsschen in malerischen Thälern und Schluchten
zueilen, zieht sich, von Villeggaturen eingefasst. nordwärts gegen das
betriebsame Städtchen Sinigaglia, das einstens seiner grossen Märkte
wegen oft genannt wurde. Rebenculturen und Olivenhaine decken das
Hügelland, durch welches angenehme Spazierwege führen.
[53]Ancona.
Gegen Süden der Stadt stürzt der Höhenrücken des Monte Co-
nero und dessen Abdachung in steilen Abgründen zur See. Hier ge-
schah es, dass bei der Belagerung von Ancona im Jahre 1799 durch
die Milizen des Insurgentengenerals Lahoz Hunderte derselben durch
A Innerer Hafen von Ancona, B Hafen-Capitanat, C Citadelle aut Mte. Astagno mit dem angeschlossenen
Hornwerk (Trincerato), D Thurm der Präfectur, E Castell, gegenwärtig Zollamt, F Leuchtfeuer,
G Semaphor, H Werfte, J Arsenal, K Neuer Stadttheil, L Triumphbogen des Papstes Clemens,
M Triumphbogen des Trajan, N Canale del Lazzaretto.
die aus der Festung herausgebrochenen Franzosen zurückgeworfen
wurden und in der gähnenden Tiefe den Tod fanden.
Der Wohnplatz Ancona hat ungefähr 30.000, die Gemeinde
50.000 Einwohner. In früherer Zeit concentrirte sich hier der See-
verkehr eines grossen Theiles der Ostküste Italiens, denn Ancona ist
seit den Tagen der Päpste der Ausgangspunkt der Strassen, welche
[54]Das Mittelmeerbecken.
die Marken mit Rom verbinden. Seit dem Ausbaue des italienischen
Eisenbahnnetzes vertheilt sich der einst durch diesen Umstand von
Ancona monopolisirte Handel auf eine ganze Reihe von neuen Hafen-
plätzen, unter welcher Aenderung die Stadt natürlich leiden muss.
Anconas früher blühender Holzhandel ist zurückgegangen, weil die für Rom
bestimmten Holzsendungen aus Oesterreich-Ungarn häufig in dem etwas nördlicher
gelegenen Falconara gelandet werden. Dieses ist nämlich der Ausgangspunkt der
Eisenbahn, welche die Küstenlinie des adriatischen Eisenbahnnetzes, die Ancona
berührt, über Spoleto mit Rom verbindet. Auch Ortona bei Pescara hat einen
grossen Theil des Holzhandels von Ancona an sich gezogen.
Die grossen Zuckerraffinerien von Ancona und Sinigaglia beziehen auf dem
Seewege Rohzucker (1887 145.380 q) meist aus Südrussland, dann aus Frankreich
und aus Oesterreich-Ungarn; indischer Reis wird in der Reismühle des nahege-
legenen Jesi bearbeitet. Getreide, u. zw. Weizen (1887 272.000 q) wird aus Süd-
russland, Valonea (9 bis 10.000 q) aus Griechenland und der Türkei, Häute werden
aus Oesterreich-Ungarn und Calcutta eingeführt. Oesterreich-Ungarn liefert Holz-
kohlen (1888 21.967 q), Steinkohlen schicken England und Frankreich. Im Aus-
fuhrhandel wird kein nennenswerther Umsatz erzielt.
Der Schiffsverkehr von Ancona betrug:
| [...] |
An der Küstenschiffahrt ist die italienische Flagge mit mehr als der Hälfte,
an dem internationalen Verkehre mit mehr als einem Drittel der Tonnenzahl
betheiligt. Der grösste Theil der Segelschiffe sind italienische. Bei den Dampfern
folgt die italienische Flagge erst auf die englische; die dritte Stelle nehmen die
Dampfer Oesterreich-Ungarns ein. Ancona wird von den Dampfern der Naviga-
zione Generale Italiana, der Peninsular und Oriental Company und des öster-
reichisch-ungarischen Lloyd regelmässig angelaufen.
Consulate haben in Ancona: Argentina, Belgien, Chile, Columbia, Co-
starica (G. C.), Dänemark, das Deutsche Reich, Ecuador, Quatemala, die Nieder-
lande, Oesterreich-Ungarn, Paraguay, Peru, Portugal, San Marino, die Schweiz, die
Türkei, Urugnay, Venezuela.
[[55]]
Brindisi.
Die Bedeutung von Brindisi ruht mehr in der Vergangenheit, als
in seiner heutigen Stellung im Weltverkehr, die den Rahmen einer
gewissen theoretischen Wichtigkeit kaum zu überschreiten vermag.
Der Durchstich von Suez (1869) erhob Brindisi zwar zur europäischen
Endstation auf der Route nach Indien, allein dieses „Mandat“ konnte
ohne Begünstigung durch andere vortheilhafte handelsgeographische
Verhältnisse, die dem Platze abgehen, das Emporblühen desselben
bisher nicht nennenswerth fördern.
Im Alterthume lagen die Verhältnisse viel günstiger. Das schon
im dritten Jahrhundert v. Chr. unter die Herrschaft Roms gelangte
Brundusium war bald darauf zur wichtigsten Endstation für den über-
seeischen Verkehr auf der Route über Dyrrhachium (früher Epidamnos,
jetzt Durazzo) nach Griechenland und dem industriereichen Orient
geworden. Die von Horaz beschriebene herrliche Kunststrasse Via
Appia verband Capua mit dem volkreichen und blühenden Emporium
am Adria-Meere. Den wohlgeschützten Hafen, der die Stadt mit zwei
Wasserarmen umfasst, belebten zahlreiche mit den kostbarsten Er-
zeugnissen des prunkliebenden Ostens beladene Kaufmannsschiffe und
trotzige römische Triremen boten dem Handel Schutz und Schirm.
Hier sammelten sich die Kaufherren und ihre Trosse zur gefahrvollen
Reise nach Griechenland, Rhodus, Antiochia oder Alexandria, und
häuften so den Wohlstand der betriebsamen Bevölkerung.
In die Glanzzeit von Brundusium fiel der Kampf Cäsar’s
mit Pompejus ernüchternd ein, und die von letzterem besetzte Stadt
bestand (49 v. Chr.) eine denkwürdige Belagerung.
Brundusium ist auch die Todesstätte Virgil’s, des ruhmgekrönten
Sängers der Aeneis, der hier (19 v. Chr.), auf der Reise von Griechen-
land nach Rom, nachdem er kaum den heimatlichen Boden betreten
hatte, starb.
[56]Das Mittelmeerbecken.
Die Herrlichkeit des berühmten Hafenortes, in dessen Kathedrale
1225 die Vermählung Kaiser Friedrichs II. mit Jolantha erfolgte,
verblasste im Mittelalter langsam, weil der Handel nach Griechenland
reiner Seehandel geworden, der von Venedig betrieben wurde; Ludwig
von Ungarn zerstörte 1348 die Stadt, und hundertzehn Jahre später
bereitete ein furchtbares Erdbeben, das den grössten Theil der Ein-
Brindisi.
wohner unter den Trümmern begrub, der römischen Gründung ein
entsetzliches Ende.
Erst während der französischen Revolutionskriege spielte wieder
Brindisi als Stützpunkt des gegen die parthenopäische Republik
kämpfenden Cardinals Ruffo vorübergehend eine Rolle.
Die Stadt liegt in einer fruchtbaren, allein durchaus nicht
malerischen Gegend und rettete aus ihrer prunkvollen Vergangenheit
keine Sehenswürdigkeiten. Die sanften Terrainwellen sind mit Wein-
gärten und Olivenhainen bebaut, zwischen welchen Landhäuser zer-
streut liegen.
[57]Brindisi.
Den für einen grossen Dampferverkehr eingerichteten Hafen
schützen veraltete Befestigungen.
Die Einfahrt in das innere Hafenbecken ist, obgleich sehr enge,
doch von grosser Tiefe. Schiffe von jeder Grösse vermögen mit einiger
Vorsicht hier zu verkehren. Der räumlich beschränkte Hafen macht
jedoch das Aus- und Einlaufen zu einer umständlichen Operation. Im
A Rhede von Brindisi, B Castell, gegenwärtig Gefängniss, C Eisenbahn-Station, D Steinbrüche, E Fried-
hof, F Leuchtfeuer, G Kloster, H Castell und Semaphor S. Andrea.
Vorhafen, der grossen Schiffen nur bei günstigem Wetter einen sicheren
Ankerplatz gewährt, finden kleinere Fahrzeuge zwischen dem Castell
S. Andrea und dem Festlande guten Schutz.
Im Winter treiben die häufig einsetzenden Nordoststürme eine
sehr hohe See gegen die Küste.
Brindisi zählt etwa 14.000 Einwohner.
Sein Schiffsverkehr ist der Postabgabe wegen verhältniss-
mässig sehr bedeutend; der eigentliche Handelsverkehr dagegen
ist kaum nennenswerth.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 8
[58]Das Mittelmeerbecken.
| [...] |
Der Hafen wird von regelmässig verkehrenden österreichisch-
ungarischen, italienischen, griechischen, englischen und deutschen
Postdampfern angelaufen und steht durch diese mit Triest und Fiume,
mit den wichtigeren Häfen Italiens, mit Griechenland, Constantinopel,
Smyrna und Alexandrien, mit Süd- und Ostasien und endlich mit
Australien in Verbindung.
Hier werden nur Postsäcke und Passagiergut der Reisenden
ein- und ausgeladen, und immer nur wenige Stunden herrscht reges
Leben.
Zwei von den Postlinien Brindisis wollen wir besonders hervorheben. Zu-
nächst die Zweiglinie Brindisi — Port Saïd des Norddeutschen Lloyd, welche den
Verkehr der Briefschaften und Reisenden mit den nach Ostasien und Australien
laufenden Hauptlinien herstellt, dann die Linie der Peninsular and Oriental Cy.,
welche die englische Ueberlandspost aufnimmt. Diese geht bei der Ausreise jeden
Freitag 8 Uhr 5 Minuten Abends von London ab, wird von Calais aus über Paris,
den Mont Cenis und Bologna mit einem Sonderzuge befördert und trifft in der
Nacht vom Sonntag zum Montag um 1 Uhr 10 Minuten am Hafen zu Brindisi ein.
Auf zweispännigen, offenen Packwagen werden die centnerschweren Brief-
säcke, deren manchmal bis 1200 sind, an den Quai gebracht und an Bord des
Schiffes übernommen, wo sich die Reisenden mit ihrem Gepäck bereits unterge-
bracht haben. Von dem nahen Glockenthurme schlägt es 4 Uhr, das Abfahrts-
signal ertönt, langsam schwimmt das Schiff im Morgengrauen durch die enge
Ausfahrt des Hafens an der Glockenboje und dem alten, düsteren Fort vorüber
hinaus ins Adriatische Meer, und im Hafen von Brindisi herrscht wieder tiefe Ruhe.
Diese würde wohl für immer an dem Tage eintreten, wo die Ueberlandspost den
Weg über Salonichi-Port-Saïd einschlagen würde.
Consulate: Belgien, Chile, Griechenland, Grossbitannien, Monaco, Oester-
reich-Ungarn (V. C.), Peru, Türkei, Venezuela.
[[59]]
Corfù (Kerkyra).
Auf dem von dichterischer Mythe umworbenen Strande von
Corfù betreten wir wahrhaft classischen Boden.
Eine der herrlichsten Küstenlandschaften umgibt uns. Ausge-
dehnte Olivenhaine und Gärten überziehen Hügel, Berge und Thäler
und Ortschaften, Gehöfte, Villen und bescheidene Hütten liegen da in
behaglicher Ruhe an schimmernden Buchten.
Die alte Doppelburg auf den Zwillingsklippen von Corfù, den
berühmten „Koryphäen“ der Byzantiner, erscheint im Süden mit ihrem
scharf geschnittenen Profile über einer Front palastähnlicher, von
Thürmen überragten Baulichkeiten, und westlich davon breitet die
Stadt Corfù an der Lehne eines Höhenzuges bis zum Strande sich
aus. Noch etwas weiter gegen Norden glitzern die Wässer des zwischen
grünen Matten sanft dahinfliessenden Potamo, an dessen einladendem
Ufer die lilienarmige odysseische Nausikaa und ihre Freundinnen durch
Spiel sich vergnügten.
Badeten dann und salbten mit glänzendem Oele sich alle,
— — — — — — — — — —
Als sie darauf sich am Mahle gelabt, sie selbst und die Jungfrauen,
Warfen sie alle die Schleier sich ab, mit dem Balle zu spielen;
Und mit dem Spiele begann Nausikaa, strahlend in Anmuth.
— — — — — — — — — —
Und leicht wird sie vor Allen erkannt, von den Schönen die Schönste:
So strahlt unter den Mädchen hervor die gefeierte Jungfrau!“’
So schildert Homer die reizende Idylle am Potamo.
Mehrere Eilande tauchen malerisch aus der Flut, über der
manch weisses Segel oder der dunkle Umriss eines qualmenden
Dampfers in der Lichtung des Canales von Corfù sichtbar wird.
Auf der Festlandseite bauen von Butrinto bis weit nach Süden
die dunklen zackigen Gebirgsmassen von Epirus schroff und ernst aus
8*
[60]Das Mittelmeerbecken.
dem Meere sich auf. Welch ein Gegensatz zu dem lachenden Sommer
der zaubervollen Insellandschaft!
Den geistigen Hintergrund zum Gesammtbilde aber schuf Homer,
indem er Corfù und den jonischen Sund poetisch belebte.
„Man nehme einmal“, sagt Ferd. Gregorovius, der glanzvolle
Historiograph und begeisterte Schilderer von Corfù, „das unsterbliche
jonische Märchen, welches Odyssee heisst, von diesen Inseln und
Küsten hinweg, und man wird sie zu einem Theil entgeistern und
entzaubern. Man nehme aus Corfù Odysseus, Alkinoos und Nausikaa
und man wird der Insel mehr Reiz entziehen, als zerstörte man ihre
prachtvollen Olivenwälder“.
Das nationale Bewusstsein der heutigen Griechen griff wieder
zurück in das poesievolle Alterthum und brachte, unbekümmert darum
ob Corfù wirklich der Schauplatz der Odyssee gewesen oder nicht,
das ehrwürdige Kerkyra, den gegenwärtig officiellen Namen der Insel
und Stadt, wieder zur Geltung.
In der alten Geschichte ist Corfù und den jonischen Inseln ein
durchaus bevorzugter Platz angewiesen. Nach einer glänzenden
Mythenzeit, die Herakles, Jason und Medea, den göttlichen Odysseus
und die flüchtenden Trojaner auf den Inseln sieht, erscheint um 734
v. Chr. die Flotte der mächtigen Korinther und gründet die Colonie
Korkyra, die, als sie zur Blüthe gelangt, sich und die jonischen Inseln
von Korinth losreisst. Im peloponnesischen Kriege, den Korkyra mit-
verschuldet, steht die Insel auf Seite Athens und erlangt dann nach
harten Kämpfen und Drangsalen die Selbständigkeit. So endet die
erste griechische Epoche der Insel. Schon um 229 v. Chr. tritt Kor-
kyra in die Machtsphäre Roms, in der sie, von den Kaisern begün-
stigt, ein halbes Jahrtausend festgebannt bleibt.
Korkyra und Illyrien sind die Schlüssel zum Oriente; ersteres
wird durch seine seegeübten Flotten besonders werthvoll für Rom.
Bei Actium (31 v. Chr.), wo Octavianus im heissen Seekampfe
gegen den Liebesbund des Antonius und der Kleopatra Sieger bleibt
und die Alleinherrschaft in Rom erringt, betheiligen sich auch Schiffe
der Korkyräer. Durch die Theilung des römischen Reiches (395 n. Chr.)
wird die Insel byzantinisch und tritt in ihre zweite griechische Periode,
die einen Zeitraum von acht Jahrhunderten umfasst, ein Abschnitt, in
welchem die barbarische Flut der Völkerwanderung mit allen Schrecken
die jonischen Inseln überschäumt.
Es kommen die Kreuzzüge und mit diesen der Kampf um
die Levante. Corfù ist wieder ein Schlüsselpunkt für den Besitz
[[61]]
Corfù.
[62]Das Mittelmeerbecken.
des Orientes und wird deshalb für Jahrhunderte zum Zankapfel der
Mächtigen.
Nach dem Falle von Byzanz wird die Insel für kurze Zeit ve-
netianisch, dann bemächtigt sich ihrer der Despot von Epirus Michael I.,
der sie seiner schönen Enkelin Helena, der Braut des Heldenkönigs
Manfred als Mitgift verleiht.
1267 wurde Karl von Anjou durch die Eroberung des Epirus auch
Herrscher über Corfù. Die reiche Insel blieb bei dem Hause Anjou
bis zu dessen Verfall.
Dann erst boten die Corfioten der mächtigen Republik Venedig
die Herrschaft an. Vom 28. Mai 1386 flatterte das Banner des Mar-
cuslöwen über der Stadt und auf den jonischen Inseln, bis 1797 der
Dogenstaat selbst in Trümmer fiel.
Corfù sah während dieser seiner italienischen Periode die mäch-
tigen Flottenzüge der Türken und schlug 1573 die Belagerung der-
selben ab; Don Juan d’Austria führte von hier aus 1571 die grosse
Christenflotte nach Lepanto. 1716 versuchen die Türken eine zweite
Belagerung von Corfù, aber die Tapferkeit und Umsicht des Marschalls
Schulenburg rettet die Insel.
Nach Venedig ist Frankreich der nächste Erbe der jonischen
Inseln, aber schon im Frühjahre 1798 fallen sie nach harten Kämpfen,
insbesondere Corfù nach dreimonatlicher Belagerung durch eine rus-
sisch-türkische Flotte in die Hände des russischen Admirals Uschakoff
und erhalten dann eine Selbstverwaltung. Der Friede von Tilsit bringt
sie wieder an Frankreich und der Wiener Congress unter den Schutz
Englands, dessen Vicekönige den Wohlstand der Bevölkerung zu heben
wussten. Endlich wird das vielumstrittene Jonien am 1. Juni 1864
mit Hellas vereinigt.
Man könnte Corfù, an dessen Küsten seit Jahrtausenden die
mächtigsten Flotten aller Reiche und Staaten Europas zum Streite
kampfgerüstet erschienen, mit dem Beinamen einer historischen Flotten-
warte auszeichnen. „Es ist Weltgeschichte zu Schiff“, sagt Gregoro-
vius in seiner fesselnden jonischen Idylle, „was da an unserem Auge
vorüberzieht. Von hier herab durch das Fernrohr der Geschichte zu
sehen ist fast so lohnend, als am goldenen Horn bei Byzanz. Denn
dieser schöne Sund ist die alte Wasserstrasse zwischen Italien und
Griechenland, zwischen Europa und Asien, durch welchen die Flut
der Völkerwanderung sich Jahrhunderte hindurch hin und her gewälzt
hat. In lauter Flottenzügen auf diesem Canal lässt sich nicht nur
[63]Corfù.
das Schicksal der Insel Corfù, sondern ein grosser Theil der Welt-
geschichte darstellen.“
Die bewegte Vergangenheit der Insel liess merkwürdigerweise
nur spärliche Erinnerungszeichen zurück. Aus dem Alterthume sind
nur die Fundamente eines Tempels und das Grabmal des Menekrates
(VI. Jahrh. v. Chr.), das 1843 blossgelegt ward, erhalten geblieben,
so gründlich vertilgten hier Zerstörungsgeist und wieder aufbanende
Wohlhabenheit jede Spur früherer Culturepochen.
Diesem Umstande ist es zuzuschreiben, dass die Stadt Corfù
einen durchaus neueren Charakter aufweist. In ihren Bauten und
Denkmälern herrscht vornehmlich die Erinnerung an die venetianische
und englische Herrschaft vor.
Die Esplanade, la Spianata, ist der vornehmste, von Alleen durch-
zogene Platz von Corfù. Im Grunde genommen ist dieser eigentlich
das Glacis der alten Befestigung der Koryphäen, zu welchen eine
Brücke über den natürlichen tiefen Wassergraben führt.
An der Nordseite ist mit prächtigem Ausblick auf den Hafen
der gut stylisirte königliche Palast gelegen, und die Südseite schmückt
ein zu Ehren des ersten Lord-Obercommissärs Sir Thomas Maitland
errichteter Rundtempel, in dessen Nähe ein Obelisk an Sir Howard
Douglas (1843) erinnert, der die beengenden venetianischen Bastionen
an jener Seite abbrechen und den reizenden Fahrweg, der als Via
Marina nach Castrades hinabführt, herstellen liess.
Auch die verdienstvolle Thätigkeit Sir Frederic Adams, der von
1823 bis 1832 hier residirte, ist durch ein Erzstandbild vor dem
Königs-Palais ausgezeichnet worden.
An die venetianische Zeit erinnert das Monument des helden-
müthigen Marschalls Grafen Schulenburg, das 1717 dem berühmten
Vertheidiger von Corfù noch bei Lebzeiten errichtet worden war. Die
Bildsäule fand vor dem Eingange in die Festung einen bezeichnenden
Platz. Der Marcuslöwe, der sonst in den ehemaligen Besitzungen
des Dogenstaates noch so manchen Thorbogen ziert, ist in Corfù nahe-
zu ganz verschwunden, denn hier wie in der venetianischen Ebene
ward 1797 der Befehl Bonapartes, das Wappen Venedigs zu ent-
fernen, mit sklavischem Gehorsam durchgeführt. Nur einzelne In-
schriften haben sich aus der Dogenzeit erhalten.
Das moderne Hellenenthum ist durch das Marmorstandbild des
unglücklichen ersten Präsidenten von Griechenland, des Corfioten
Capodistria, das den Platz südlich des Rundtempels seit 1887 ziert,
vertreten.
[64]Das Mittelmeerbecken.
So führt die Gallerie der Monumente auf der Spianata der dort
lustwandelnden Menge den letzten Act aus der Geschichte Corfùs vor.
Von der Spianata aus führt eine breite Fahrstrasse, die früher
erwähnte Via Marina, abwärts zur malerischen Bucht von Kastrades,
auch Garitza genannt, einem langgestreckten Vororte der Stadt. An
dieser Stelle dürfte das alte Korkyra, die Stadt des Alkinoos, ge-
standen sein, und die nahe, mit fruchtbarem Boden bedeckte Halbinsel,
auf der die königliche Villa Monrepos (Villa Reale) in dunklem Grün
erscheint, trug vielleicht einst die Akropolis der Stadt.
Es ist eine viel besuchte Promenade, die von Kastrades längs
des mit Villen und Gärten geschmückten Abhanges südwärts gegen
das Rondell al Canone hinführt.
Den schönsten Platz nimmt in diesem Paradiese unstreitig die
von ausgedehnten Gartenanlagen umgebene Villa Reale ein, von der
uns ein herrliches Panorama über die malerische Küstenscenerie und
den Canal von Corfù zu schauen ist. Dort hatte Elisabeth, Kaiserin
von Oesterreich und Königin von Ungarn, einst Genesung gefunden
und besucht seither wiederholt die gottgesegnete Stätte, wo ihr zart-
besaitetes Wesen, vom poetischem Hauche der Mythe umweht, stets
Befriedigung und Stärkung fand; jetzt ist für die hohe Frau an
einem der schönsten Punkte der Insel ein eigenes Heim erbaut.
Seitlich der Strasse zum Rondell schimmert die blendende Fläche
der traumhaftstillen Kalikiopulo-Lagune durch das Laubwerk uns ent-
gegen. Es ist eine tiefeingeschnittene Bucht, wahrscheinlich der Kriegs-
hafen des alten Korkyra, das bis hieher sich erstreckt haben dürfte.
Der Name Paläopolis oder Altstadt, den die Gegend bis heute führt,
scheint darauf hinzuweisen.
Die Einfahrt in die Lagune verlegen zwei Eilande, von welchen
das nördliche ein Miniaturkloster trägt und durch einen Steindamm
mit dem Strande verbunden ist. Die südlichere höhere Klippe Ponti-
konisi, die Mausinsel, spiegelt den düsteren Schmuck ihres Cypressen-
saumes, der ein kleines Klösterlein beschattet und der Welt verbirgt,
in der Meeresflut. Das Eiland, dessen Bild wir bringen, gilt wegen
der Aehnlichkeit seines Profils mit der Form eines segelnden Schiffes
als das vom zürnenden Poseidon versteinerte Schiff der Phäaken, dessen
Schicksal uns Homer vermeldet. Dieser Mythe entstammt auch die
Bezeichnung Ulysses-Insel.
Odysseus erreichte, nachdem der Erderschütterer Poseidon sein Floss im
Sturme zertrümmerte, schwimmend die Gestade der Phäaken-Insel Scheria, wo er
alsbald die herrliche Nausikaa beim Ballspiel überrascht und ihre Freundschaft
[65]Corfù.
erfleht. Mit ihrem Beistand gelangt er zu König Alkinoos, der ihn als Gast auf-
nimmt und mit reichen Geschenken, wie auch mit einem Schiffe zur Heimreise
nach Ithaka bedenkt. Odysseus geht am Abende zu Schiffe und wird schlafend
nach Ithaka, seiner Heimat, entführt.
Das war aber nicht nach dem Geschmacke Poseidons; empört darüber, dass
der von ihm so lange Verfolgte ihm nun durch Hilfe der Phäaken endlich doch
heil entkommen, beklagte er sich bei Zeus; dieser lieferte, um ihn zu besänftigen,
in der beliebten Manier der homerischen Götter ihm die phäakischen Retter als
Opfer der Rache aus und rieth dem erbosten Erderschütterer, das heimkehrende
Schiff angesichts der Stadt zu versteinern. Poseidon liess sich dies nicht zwei-
mal sagen.
Ulysses-Insel bei Corfù.
Anlässlich ihrer Besuche von Corfù pflegte Kaiserin Elisabeth
oftmals das stille Kloster auf der düsteren Ulysses-Insel zu besuchen,
woran eine der Inschriften erinnert, die an der Aussenseite der Kirche
angebracht sind. Die Widmung lautet:
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 9
[66]Das Mittelmeerbecken.
„Elisabetta d’Austria — qui riposando, — per Lei — spira-
ron le aure più miti — e lo scoglio che — per Lei — dava fiori
— ama serbarne memoria. — MDCCCLXI.“
In deutscher Uebersetzung besagt die artige Gedenktafel: „Elisa-
beth von Oesterreich ruhte hier; für sie hauchten die Lüfte milder und
gerne bewahrt dieser Fels, der ihr Blumen bot, die Erinnerung an sie.“
Der heutige Hafen von Corfù erhält durch die Insel Vido einigen
Schutz gegen Nordwinde, und da er gegen Süden vollständig gedeckt
ist, so finden dort Schiffe jeder Grösse einen guten Ankerplatz.
Die Insel Vido trug ehemals bedeutende Festungswerke, welche
den Hafen und dessen Zufahrten sicherten. Als im Jahre 1864 die
Engländer die ionischen Inseln räumten, sprengten sie — angeblich
über Verlangen der Grossmächte — sowohl die Befestigungen auf
Vido wie auch einen Theil der Fortezza nuova und das starke Fort
Abraham; bloss die uralte Citadelle blieb erhalten.
So gestaltete sich der Abschiedsgruss der Engländer, für dessen
Sportsmen die 1107 km2 umfassende und von etwa 106.000 Seelen
bewohnte Insel Corfù Jahrzehnte hindurch ein wahres Paradies für jede
Art von Vergnügungen bildete, ziemlich unfreundlich, allein kein
Ionier wird verkennen, dass die Protectoral-Herrschaft Albions eine
Periode der Ordnung und Wohlfahrt wie des Wohlstandes gewesen
war. Der Fremde ist den Briten wohl vor allem verbunden für die Er-
bauung der vielen ausgezeichneten Landstrassen, dank deren Existenz
lohnende Ausflüge in die reizenden Gegenden der Insel überallhin zu
Wagen ausführbar sind; gegen Süden zum 567 m hohen Monte S. Deca,
einem herrlichen Aussichtspunkte, gegen Westen nach dem Orte Pelleka,
oder in nördlicher Richtung nach den wildromantischen Schluchten
des Gebirgsstockes S. Salvatore, von dessen nahezu 1000 m hohem
Gipfel die Insel in ihrer ganzen Erstreckung von 59 km überblickt und
nordwärts der akrokeraunische Höhenzug bis Valona erschaut wird.
Die Hauptquelle des Reichthums der Insel liegt in ihren gross-
artigen Olivenwäldern, die einen Bestand von 4 Millionen Bäumen
erreichen. Das prächtige Klima — die Festung Corfù liegt unter
39° 37′ nördl. und 20° 3′ östl. v. Gr. — begünstiget die Entfaltung
einer üppigen, wahrhaft subtropischen Vegetation. Unter diesem Natur-
segen blühte die Insel — die reichste von Hellas — zu einem einzigen
grossen und fruchtbaren Garten auf.
Mit ihren Vorstädten Kastrades und Mandukio zählt die Stadt
Corfù beiläufig 25.000 Einwohner, unter welchen das griechische
[67]Corfù.
Element zwar vorherrscht, ohne dass es jedoch den kosmopolitischen
Zug, der das Strassenleben der interessanten Stadt so reizvoll ge-
staltet, zu verwischen im Stande wäre.
Corfù ist der Sitz eines griechischen und eines römisch-katholischen
Erzbischofs und besitzt an Stelle der 1865 aufgelassenen Universität
ein nächst der Spianata gelegenes Lyceum. An der vom Hafen
zur Spianata führenden sehr belebten Nikephoros-Strasse ist die
S. Spiridion-Kirche mit dem reichen Grabmal des Märtyrers gleichen
Namens, eines cyrischen Bischofs, sehenswerth.
Die Corfioten sind ein ebenso origineller versprengter Volks-
splitter wie die Malteser. Die ungeheuere Blutmischung, welche der
Wechsel der Herrschaft mit sich brachte, erzeugte ein Völkchen, das
griechisch spricht, aber das weit entfernt vom reinen Hellenenthum ist.
Ihnen fehlt vor allem der kühne Unternehmungsgeist, welcher sonst
den Griechen eigen ist. Sie sind nicht Seefahrer, wie die übrigen
Bewohner Griechenlands, und lieben ihre Heimat dermassen, dass
sie nicht in der Ferne ihr Glück versuchen, sondern es vorziehen,
daheim ihr Dasein kärglich zu fristen. Auch von den geschäftlichen
Unternehmungen, welche den Verkehr über die Insel hinaus zum
Zwecke haben, ziehen sie sich immer mehr zurück; im günstigsten Falle
verbinden sie sich mit Firmen aus Patras, dem Piräus und Syra.
Die Haupterzeugnisse der Insel sind Wein und Oel, welche in den letzten
Jahren öfter schlechte Ernten lieferten und daher den Corfioten nur spärliche
Einnahmen brachten. Von Wein wurden 1888 65.000 hl, 1887 46.000 hl ins Aus-
land geführt, und zwar meist nach Frankreich und Triest, 1887 auch nach Dalmatien.
Die Ausfuhr des Olivenöls erreichte 1888 7059, 1887 16.640 q. Corfù-Oel ist in
Venedig als Speiseöl sehr beliebt, dorthin wendet sich der grösste Theil der Aus-
fuhr; kleinere Mengen gehen nach Triest und Fiume. Unter den Ausfuhrartikeln
ist noch das einzige Industrieproduct der Insel, Seife aus Olivenöl hergestellt, zu
nennen. Der grösste Theil geht in die übrigen Gebiete Griechenlands, 5000 q ins
Ausland, vorab in die Türkei; 1300 q übernimmt Montenegro. Die Ausfuhr von
frühreifen Kartoffeln und Gemüsen hält sich noch in engen Grenzen.
Im Ganzen befindet sich Corfù in einem wirtschaftlichen Rückgange, und
deshalb sinkt auch die Kaufkraft der Insel fortdauernd. Die in Corfù eingeführten
Waaren haben einen Werth von 57 Millionen Drachmen. Die Hälfte entfällt auf
Hartweizen und Mais, denn die Insel liefert nur in seltenen Fällen den vierten
Theil des Bedarfes an Getreide. Die Ergänzung liefert Russland, welches daher
im Einfuhrhandel die erste Rolle einnimmt. Mehl, aus russischem Weizen herge-
stellt, schickt Patras. Ihm reihen sich zunächst an: England, dann mit den Erzeug-
nissen der Textilindustrie Oesterreich-Ungarn, und endlich die Türkei. In Colonial-
waaren ist Corfù vielfach von Triest abhängig. Die Bedeutung Corfùs für den
Handel der gegenüberliegenden Küste von Albanien geht zurück und damit auch
der Entrepôtverkehr, der im Eingange 5 Millionen Drachmen erreicht.
9*
[68]Das Mittelmeerbecken.
Der Schiffsverkehr von Corfù betrug:
| [...] |
Corfù ist Station der Linien Triest—Brindisi—Constantinopel und Triest—
Smyrna des österreichisch-ungarischen Lloyd; alle Postdampferlinien, welche Brin-
disi mit Patras verbinden, berühren seinen Hafen, der von Brindisi 116, von Patras
A Rhede von Corfù, B Bucht von Kastrades, C Maitland-Thurm auf der Insel Vido, D Citadelle auf
dem Zwillingsfelsen Koryphaioi, E Griechischer Friedhof, F Leuchtfeuer, G Jonisches Strafhaus,
H Rennplatz, J Salinen, K See Kalikiopulo, der antike Hafen Paläopolis, L Park la Spianata, M Mühle,
N Stratia Casino, O Alte russische Batterie auf Insel Vido.
135 Seemeilen entfernt ist. Auf die Flagge Oesterreich-Ungarns entfällt die Hälfte
der Tonnenzahl des Dampfschiffverkehres, auf die Griechen ein Viertel, die Italiener
und Engländer folgen.
In Corfù legt das Kabel Triest—Alexandrien der Eastern Telegraf Cy. an,
auch nach Otranto besteht ein Anschluss.
Der Schiffsverkehr ist also verhältnissmässig ansehnlich, weil eben der
Hafen von vielen in der Adria fahrenden Schiffen angelaufen wird. Corfù ist der
Sitz der Ionischen Bank, welche das Recht der Notenausgabe besitzt.
Consulate haben in Corfù: Belgien, Dänemark, das Deutsche Reich,
Frankreich, Grossbritannien, Italien, die Niederlande, Oesterreich-Ungarn, Portugal,
Rumänien, Russland (G.-C.), Spanien, die Türkei und Venezuela.
[[69]]
Patras und der Canal von Korinth.
Der Golf von Patras ist durch die starkbefestigte Meerenge der
Castelli (Rhion) mit dem langgestreckten korinthischen Binnenmeere
verbunden und bildet einen wichtigen Vorraum desselben.
Der Golf von Korinth, der von den Mittelmeerbewohnern häufig
auch Golf von Lepanto genannt wird, liegt zwischen 37° 56′ und
38° 27′ nördl. Breite und zwischen 21° 46′ und 23° 13′ östl. Länge von
Greenwich.
Im strengsten Sinne des Wortes ein Binnengolf, wie einen ähn-
lichen das Mittelmeer nur noch im Marmara-Becken aufweist, ver-
dankte er schon im Alterthume seine Wichtigkeit als die kürzeste
Wasserstrasse zwischen Brundusium (Brindisi) und Athen hauptsäch-
lich dem Umstande, dass die Terrainbeschaffenheit des Isthmus einen
leichten Verkehr zur nahen Küste des ägäischen Meeres ermöglichte.
Ueber die vier Seemeilen breite, leicht gewellte Landenge wurden auf
dem Diolkos, einer Schleifbahn en miniature, wie sie im Grossen der
geniale Eads über der Landenge von Tehuantepec plant und deren
Spuren noch heute zu sehen sind, kleinere Fahrzeuge von einer Küste
zur anderen befördert.
In dem prächtigen Werke: „Eine Spazierfahrt im Golfe von
Korinth“ sagt der erlauchte Verfasser Erzherzog Ludwig Salvator:
„Kein Busen des Mittelmeeres hatte in der antiken Welt eine
so grosse Bedeutung wie der Golf von Korinth. Als Seestrasse im
Herzen von Griechenland, als der gewöhnliche Verbindungsweg zwi-
schen Ost und West, war derselbe das Emporium antiker Civilisation.
Reiche Städte zierten seine Ufer, vor allen Korinth als die herrlichste
von Hellas. Aber auch gegenwärtig noch könnte der korinthische Busen
durch den Durchstich des Isthmus seine einstige Wichtigkeit er-
langen.“
Der letztausgedrückte Gedanke ist seither nahezu verwirklicht,
denn hoffentlich bald wird der internationale Verkehr auf der neuen
[70]Das Mittelmeerbecken.
Wasserstrasse die ehrwürdige Landenge durchqueren und dadurch ein
uraltes Project ausgeführt sein. Wie der Canal von Suez, erbringt
auch jener von Korinth den Beweis für die Geistescontinuität der
Menschheit.
An der Route nach Korinth gelegen, strebt Patras einer schönen
Zukunft entgegen, und es ist wahrscheinlich, dass die Stadt, die schon
heute die zweitgrösste von Griechenland ist, zu höherer Bedeutung
gelangen werde, als jene war, die sie in ihrer Glanzperiode im Alter-
thum gewonnen hatte.
Ionier waren die Gründer von Patras, wurden aber von den Achäern ver-
drängt. Die Stadt schloss im peloponnesischem Kriege dem mächtigen Athen sich
an und war 281 v. Chr. eine der Stützen des achäischen Bundes. Zu Bedeutung
gelangte Patras aber erst unter Augustus als römische Colonie. Frühzeitig fand
dort das Christenthum Schutz und Verbreitung, und im IX. Jahrhunderte blühte
die Stadt zu seltenem Wohlstande auf. An der Wende zum XIII. Jahrhundert
ist Patras die Hauptstadt des Herzogthums Achaia, dann nach Eroberung des
Peloponnes (1204 und 1205) des Fürstenthums Morea; sie gelangt hierauf wie
alle Küstenstädte Griechenlands für kurze Zeit unter die Herrschaft Venedigs,
dann unter Byzanz und versinkt dann unter der Macht des Halbmondes.
Der grosse Freiheitskampf der Hellenen brach am 4. April 1821
hier aus; Patras unterlag und ging in Flammen auf. Aber erst als
die heldenmüthige Vertheidigung und der am 22. April 1826 erfolgte
entsetzliche Fall der Feste Missolunghi die Sympathie Europas der
griechischen Sache zugewendet hatten, konnte Hellas das Glück der
Unabhängigkeit erlangen. Von da an datirt wie für das schwer-
geprüfte Land, so auch für Patras der Beginn einer neuen Epoche,
die eine lebhafte und stete Entwicklung aller Verhältnisse kenn-
zeichnet.
Das heutige Patras ist eine durchwegs neue Schöpfung; von
dem classischen Paträ, das Pausanius besucht, sind kaum mehr als
vereinzelte Trümmer vorhanden.
Mit ihren geradlinigen, von Arkaden begleiteten Strassen, die
unter rechten Winkeln sich schneiden, lastet auf der an antiken wie
modernen Sehenswürdigkeiten armen Stadt das Gepräge der Nüch-
ternheit.
Die Platia ágios Georgios ist der Hauptplatz, den das Theater,
die Post, das Justizgebäude und die Demarchie flankiren. Vor
letzterem Gebäude haben zwei antike Sarkophage einen Ruheplatz
gefunden.
In der Nähe der grossen St. Andreas-Kirche am Westende der
Stadt soll einstens der Demeter-Tempel gestanden sein, für dessen
[71]Patras und der Canal von Korinth.
Reste einige dort aufgefundene Marmorplatten und Säulentrümmer ge-
halten werden. Die zunächst rieselnde Quelle gilt als das berühmte
Orakel derselben Göttin.
Von den einstigen Befestigungswerken ist gegenwärtig nur das
alte venetianisch-türkische Kastell, wenngleich in verwahrlostem Zu-
stande, erhalten.
Patras ist der Sitz des Nomarchen von Achaia-Elis und eines
griechischen Erzbischofs.
Seitdem der Ausbau und die Erweiterung der peloponnesischen
Bahnen in Angriff genommen wurde, hat die griechische Regierung
in den grösseren Handelsplätzen, wie in Patras, Katakolo u. a., nicht
unbedeutende Hafenanlagen geschaffen, welche dem Seeverkehre sehr
zu Nutzen kommen. Patras erhielt, wie unser Plan zeigt, einen
schönen Hafen von ausreichender Quaientwicklung und vollkommenen
Schutz gegen äussere Winde. Die Herstellungskosten derselben be-
ziffern sich auf mehr als 6 Millionen Francs.
Unter den circa 25.000 Einwohnern der Stadt herrscht natürlich
das Griechenthum vor, doch haben sich viele Deutsche und einige
englische Kaufherren dort niedergelassen.
Patras ist die zweitgrösste Stadt Griechenlands und gleichzeitig
einer der ersten Handelsplätze dieses Staates, weil auf den umliegen-
den Theilen des Festlandes und auf den benachbarten Inseln die Ab-
art der kernlosen Rebe wächst, deren getrocknete Früchte als kleine
Rosine oder Korinthe (in Süddeutschland und Oesterreich „Weinberl“
genannt) in den Handel kommen. Die Korinthen liefern mehr als die
Hälfte des Werthes der gesammten Ausfuhr Griechenlands, das ganze
Wohl und Wehe des Handels von Patras hängt von dem Ertrage der
Korinthenernte und von dem Preise dieses Artikels auf dem Welt-
markte ab.
Von Patras wurden 1888 413.380 q (oder 41.338 t) direct ins Ausland ver-
schifft, welche einen Werth von 15,783.401 Drachmen (= Francs) hatten. Aber im
Korinthenhandel herrscht seit 1888 eine schwere Krisis, weil Frankreich, ein Haupt-
abnehmer dieser Frucht, zum Schutze seines Weinbaues den Einfuhrzoll auf
Korinthen bedeutend erhöht hat. Dadurch stockt auch der Einfuhrhandel, denn
die anderen Ausfuhrartikel von Patras, die das Capital zum Ankaufe fremder
Waaren liefern müssen, treten hinter den Korinthen vollständig zurück. Man
exportirte 1888 aus Patras 10.200 q (Werth 256.870 Drachmen) Valonea nach
England und Triest und um 108.180 Drachmen Wein.
In der Einfuhr ist am wichtigsten Getreide, wovon 1888 im Specialhandel
285.000 q im Werthe von 6,521.205 Drachmen nach Patras gelangten. Das Ge-
treide stammt aus Russland; es wird in den zahlreichen Mühlen des Hafens zu
Mehl verarbeitet, und dieses wird nach anderen Gebieten Griechenlands ausgeführt.
[72]Das Mittelmeerbecken.
Garne wurden 1888 um 374.420 Drachmen meist aus England, Webewaaren
um 4,366.889 Drachmen eingeführt. Die Baumwollgewebe (2·3 Millionen Drach-
men) kommen aus England, kleinere Mengen aus Oesterreich-Ungarn und Frank-
reich, Schafwollgewebe aus denselben Ländern. Der Holzimport, meist Bauholz
umfassend, hatte einen Werth von 1·9 Millionen Drachmen. Letzteres kommt
überwiegend aus Triest und Fiume, zum Theile auch aus Galatz. Wichtig ist noch
die Einfuhr bearbeiteter Metalle (Werth 423.969 Drachmen), conservirter Fische
aus Nordeuropa, von Zucker und Kaffee aus Triest, von Seilerwaaren und Kohlen.
Patras.
Die Handelsstatistik von Patras zeigt folgende Ziffern:
| [...] |
Im Entrepôtverkehr repräsentirt Getreide den Hauptwerth, ansehnliche
Ziffern entfielen noch auf Gewebe und Producte des Fischfanges.
Durch die Vollendung der 229 km langen Eisenbahn Piräus-Athen-Korinth-
Patras hat letzteres in der Jetztzeit eine ähnliche Bedeutung erlangt, wie sie
Dyrrhachium im Alterthume hatte. Denn gegenwärtig bestehen zwischen Patras
und Brindisi in jeder der beiden Richtungen wöchentlich 4 Postverbindungen,
welche durch griechische, italienische und österreichisch-ungarische Dampfer be-
sorgt werden. Patras steht auch mit Triest, Fiume, Salonich und Constantinopel
[73]Patras und der Canal von Korinth.
in regelmässiger Dampfschiffverbindung, und wegen des Korinthenexportes gehen
Schiffe nach Frankreich, England, Belgien und Holland, Hamburg und in die Union.
Der Schiffsverkehr von Patras betrug:
| [...] |
A Rhede von Patras, B neuer Hafen, C Kastell, D englische Kirche, E Sanitätsamt, F Leuchtfeuer,
G Zollamt, H Platia Agios Georgios, J Fabriken, K Bahnhof.
Consulate: Belgien, Dänemark, Deutsches Reich, Frankreich, Gross-
britannien, Italien, Niederlande, Oesterreich-Ungarn, Rumänien, Russland, Schweiz,
Spanien, Türkei.
Der Isthmus von Korinth bot in den letzten Jahren ein Bild
lebhaften Schaffens dar.
Tausende von Händen und gewaltige Grabe-Maschinen waren
thätig, den Durchstich der sanften Bodenwelle zu vollenden, welche
die Natur als Scheidewand zwischen zwei Meere hingelagert hat.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 10
[74]Das Mittelmeerbecken.
Gleichzeitig entstanden wie von unsichtbarer Macht hingezaubert
neue kleine Städte mit schönen Häfen an den Ausmündungen der wer-
denden Wasserstrasse, wohl die Erben des einst so stolzen Korinth.
Das historische Panorama, welches die uralte Burg Akrokorinth erschaute,
sucht fürwahr seinesgleichen.
Die Blüthezeit von Korinth fällt weit zurück in das vorchristliche Alter-
thum. Der Sage nach von Ephira, einer Fürstentochter 1900 v. Chr., nach anderen
Ueberlieferungen aber von dem schlauen Sisyphos 1350 v. Chr. gegründet (die
überaus günstige Lage der Stadt bestätigt seinen Scharfsinn) und dreihundert
Jahre später von den Doriern genommen, wurde Korinth, die älteste Culturstätte
auf europäischem Boden, dank dem stärkeren phönikischen Elemente in seiner
Bevölkerung frühzeitig der Ausgangspunkt grossartiger Unternehmungen. Handel
und Industrie, besonders die Purpur- und Teppich-Industrie, waren bereits im
IX. Jahrhundert v. Chr. hoch entwickelt. Korinth war der Mittelpunkt des grossen
Verkehres zwischen Asien, Italien und Griechenland geworden und seine Bewohner
ihres Erfindungsgeistes und Kunstsinnes wegen ausgezeichnet.
Die überflutende Lebenskraft des üppigen Emporiums am Isthmus äusserte
sich durch die Gründung zahlreicher Colonien, von welchen Syrakus, Potidäa und
die bereits erwähnte Insel Kerkyra die hervorragendsten waren.
In der ganzen griechischen Welt vermochten bis zur Zeit der Perserkriege
nur Aegina und das kleinasiatische Milet mit Korinth sich zu messen, das als
grösstes Handelsemporium des Ostens galt.
Unter der Herrschaft der Tyrannen (657 bis 582 v. Chr.) war Korinth am
mächtigsten, sein Volk am glücklichsten.
Am Kampfe wider die persische Macht betheiligte sich Korinth, dessen
Bewohner wenig kriegerischen Ehrgeiz hatten, nur in bescheidenem Masse.
Sein Stern begann zu erbleichen, und selbst die Demüthigung der grossen
Nebenbuhlerin Athen im Kriege gegen Sparta (404 n. Chr.) konnte den erlöschenden
Glanz nicht wieder beleben. Zehn Jahre später erkämpft es in einem blutigen K[ri]ege
gegen das mächtig gewordene Sparta (394—387) das Uebergewicht in Griechen-
land, allein um 335 erstürmen die Makedonier unter Alexander dem Grossen, der
hier mit Diogenes, dem genügsamen Philosophen, zusammentrifft, die Burg; sie
werden im Jahre 243 vertrieben und es folgt für 21 Jahre die Blüthezeit des
achäischen Bundes.
Schon lange ist aber Griechenland in die Machtsphäre Roms gelangt und
im Jahre 196 verkündet T. Quinctius Flaminius in Stadion am Isthmus den
Griechen die ihnen von den Römern geschenkte Unabhängigkeit. Am selben Orte
hatte Alexander der Grosse (336) vor dem Kriege gegen Persien zum Heerführer
aller Griechen sich ausrufen lassen. Korinth trat an die Spitze des neuen achäi-
schen Bundes, der sich gegen Rom auflehnte, letzteres besiegelte den Untergang
der Gegnerin.
Die Legionen des siegreichen Consuls Lucius Mummius erschienen 194 vor
Korinth, legten die ehrwürdige Kunststätte in Schutt und trieben die Einwohner
in die Sclaverei. So endete das alte Korinth.
Nach anderthalb Jahrhunderten gründet Cäsar (46) auf den Trümmern eine
neue Colonie, die wieder zu grosser Blüthe gedeiht und zur glänzendsten Handels-
stadt von Griechenland sich aufschwingt.
[75]Patras und der Canal von Korinth.
Das üppige materielle Leben und die Sittenlosigkeit der Stadt, an welche
Apostel Paulus, der dort eine christliche Gemeinde gründete, seine Briefe gerichtet,
sind bekannt.
Auch die Herrlichkeit des cäsarischen Korinth verblasst nur allzu bald. Noch
sieht der Isthmus das römische Scheusal Nero auf dessen phantastischem Zuge
nach Griechenland.
Der kaiserliche Schauspieler schreitet hier zur Schaffung eines Culturwerkes,
indem er den der ganzen antiken Welt schon in der Zeit des Periander vorge-
schwebten Gedanken eines Canalbaues durch den Isthmus ins Werk setzt. Vom
westlichen Ufer aus ward die Arbeit begonnen und 1100 m des 60 m breiten Canales
fertiggestellt. Die Empörung des Vindex in Gallien zwang plötzlich, das Unter-
nehmen aufzugeben.
Korinth sinkt nun immer tiefer herab und bleibt mehr als ein Jahrtausend
nur als unbedeutender Ort bekannt. In dieser Verlassenheit wird es eine Beute
der Ottomanen, und 1458 weht nach furchtbarem Kampfe das Banner des Halb-
monds auf der Burg Akrokorinth; 1682 ist dort das Banner mit dem Markuslöwen
und 1715 wieder die Flagge des Propheten entfaltet, allerdings nur über den
Trümmerhaufen der alten Feste.
Die jüngste Ansiedlung am Isthmus, das kleine Städtchen Neu-
Korinth, ist vor kaum 30 Jahren entstanden, als 1858 ein Erdbeben
die bescheidenen Ueberreste des alten Korinth fast ganz zerstört hatte.
Die Bewohner gründeten hierauf an der Meeresküste ein neues Heim.
Umgeben von dem Zauber uralter Erinnerungen, in welche der
Pfiff der Locomotive als Echo der neuen Zeit sich mengte, blickt das
aufstrebende Städtchen froh hinaus auf das herrliche Bild des Golfes,
der, nördlich von den mächtigen Gebirgsmassen von Böotien an bis
Aetolien begleitet, wie ein grosser geschlossener See erscheint. Noch
imposanter ist das Panorama von der Burghöhe Akrokorinth (575 m). Da
treten der Helikon mit den jetzt baumlosen Abhängen und besonders der
dem Apollo und den Musen geweihte Parnass mit seinem im Frühlinge
bis tief hinab zum grünen Gelände schneebedeckten Abhängen scharf
hervor.
Das alte Korinth war reich an weltberühmten Heiligthümern;
von der Pracht einzelner derselben erzählen die erhaltenen Ueberreste.
Ihres strengen frühdorischen Styles wegen hervorragend sind besonders
die prächtigen Säulen eines uralten grossen Tempels, der der Astarte
oder der Pallas Athene geweiht war, worüber die tiefe Gelehrsamkeit
der Archeologen nicht einig ist.
Von dem bedeutenden Cultus, dessen die schaumgeborene Göttin
in Korinth sich erfreute, ist heute nur eine vormals schön gefasste
Quelle, „das Bad der Aphrodite“, zu sehen.
10*
[76]Das Mittelmeerbecken.
Das alte römische Amphitheater deckt vielleicht den Schutt des
Stadium, in welchem der Sage nach die Eumeniden an den hart-
herzigen Mördern des Ibykos Rache übten.
Dagegen kann die berühmte Isthmos-Mauer, das grossartige Vor-
werk, mit dem die antike Kriegskunst den ganzen Isthmus abschloss,
wiewohl an einzelnen Strecken kaum über den Boden reichend, noch
gut erkannt werden. In Osten schliesst sich an diese Befestigung die
Umfassungsmauer der alten isthmischen Heiligthümer an, in welcher
jetzt eine dem heiligen Johannes geweihte Kapelle steht.
Nördlich davon sind noch Ueberreste der antiken Schleifbahn
(Diolkos) erkennbar.
Von durchaus actuellem Interesse stellt sich hingegen der seiner
Vollendung entgegensehende Canal von Korinth uns dar. Wir haben
oben angedeutet, wie der Gedanke, den Isthmus zu durchstechen, seit
dem Alterthume als ein Vermächtniss von Generation zu Generation
fortlebte, ohne dass seine Verwirklichung erreicht worden wäre.
Was aber selbst dem Machtworte von Herrschern spottete, die
über ganze Sclavenheere verfügten, das kann das associirte Capital
der Neuzeit allerdings unter Mitwirkung der hochentwickelten tech-
nischen Hilfsmittel zuwege bringen, und mit Recht wird die Gegen-
wart die Vollendung der neuen Wasserstrasse hoffentlich bald als
einen ihrer grossen Triumphe feiern dürfen.
Die Vortheile des Canales für den Seeverkehr nach der Levante
liegen auf der Hand. Für die adriatischen Häfen werden auf dem
neuen Wege die levantinischen Emporien um rund 140 Seemeilen und
für das westliche Mittelmeer noch immer um 90 Meilen näher ge-
rückt. Ausser der Kürzung des Weges erwächst aber noch der weitere
Vortheil, dass die Umschiffung von Morea, die namentlich im Winter
der stürmischen Witterung wegen nicht nur beschwerlich, sondern für
kleine Schiffe auch gefährlich ist, mit einer navigableren Route ver-
tauscht werden kann.
Die Vorgeschichte des neuen Canales reicht in das Jahr 1870
zurück. Am 28. Jänner des genannten Jahres schloss die griechische
Regierung mit den Banquiers Piatt und Chollet eine Convention, be-
treffend den Durchstich des Isthmus, ab, wonach die Arbeiten in 18
Monaten begonnen und in 10 Jahren bei einem Kostenaufwande von
20 Millionen Francs durchgeführt werden sollten. Die Länge des Ca-
nales war dem Plane gemäss auf 6120 m bei einer oberen Breite von
42, der Sohlenbreite von 32 m und 6·5 m geringster Wassertiefe be-
messen. Den höchsten Terraineinschnitt berechnete man auf 60 m für
[77]Patras und der Canal von Korinth.
eine Länge von 600 m und die ganze Materialbewegung war mit
9 Millionen Cubikmeter abgeschätzt worden.
Das Unternehmen scheiterte indes, noch bevor an die Arbeit
geschritten werden konnte.
Es zeigte sich später, dass die Arbeitsvoranschläge den That-
sachen durchaus nicht entsprachen.
Im Jahre 1881 trat General Stefan Türr mit einem neuen
Canalprojectc an die griechische Regierung heran und erhielt 1882
die Baubewilligung, die er sodann der Actiengesellschaft Société
A Hafenbassin von Posidonia, B Hafenbassin von Isthmia, C Bahnhöfe, D antike isthmische Mauer,
E isthmisches Heiligthum, F Leuchtfeuer, G antikes Amphitheater, H Steinbrüche, J Wasserleitungs-
Ruine, K Bad der Aphrodite, L Quelle, M Friedhof, N Arbeits-Eisenbahn, O antike Gräber, P Golf
von Korinth, Q Golf von Aegina, R Ruinen, S Eisenbahn- und Strassenbrücke über den Canal.
internationale du Canal maritime de Corinthe, die über ein Capital
von 30 Millionen Francs verfügte, übertrug.
Noch im Jahre 1882 erfolgte der erste Spatenstich und waren
bis zum Schluss des Jahres 1888 ohne Unterbrechung 1700 bis 2000
Arbeiter an dem Werke beschäftigt.
Nach dem Plane des Generals Türr durchschneidet der Canal,
wie unsere Karte zeigt, den Isthmus in einer Länge von 6300 m bei
einer Breite von 22 m an der Sohle und 8½ m Wassertiefe. An den
beiden Ausmündungen erweitert sich der Canal zu 100 m Breite. Aus-
weichstellen im Verlaufe des Canales sind nicht projectirt worden.
[78]Das Mittelmeerbecken.
Zwischen dem zweiten und dritten Kilometer von der westlichen Aus-
mündung entfernt, überschreitet den Canal auf einer 47 m hohen
Eisenbrücke von 80 m Spannweite die nach Athen führende pelopon-
nesische Eisenbahn.
Die Brücke dient auch für gewöhnliche Fuhrwerke.
Eine Querbahn (transisthmique) wurde für Arbeitszwecke in Be-
trieb gesetzt.
Die Trace des Canals führt von der korinthischen Seite aus-
gehend über das Bett des Neronischen Canaltheiles gegen den Golf
von Kalamaki.
Auf der Strecke des ersten Kilometers erreicht die Terrain-
erhebung nur 3 m, sie steigt jedoch schon beim zweiten Kilometer
auf 41 m, beim dritten auf 60 m. Vor dem vierten Kilometer erreicht
die Terrainwelle die grösste Höhe mit 80 m, senkt sich beim fünften
auf 42 m, um im letzten Theile am Golfe von Kalamaki auf 3 m über
den mittleren Stand des Meeresniveau herabzusinken.
Neben der bedeutenden Materialbewegung, welche der tiefe
Einschnitt verursacht, stellte sich ein unvorhergesehener Umstand ein,
der ebenso die Durchführung der Arbeiten verzögerte, wie die Kosten
derselben bedeutend erhöhte.
Unter der Kruste von hartem Gestein besteht nämlich das Innere
der isthmischen Terrainwelle gerade dort, wo der Canal läuft, aus
Mergel, so dass zur Verhütung einer Unterwaschung durch das von
den Dampfern bewegte Wasser beiderseits des Canales Schutzmauern
errichtet werden müssen, die bei 10 m Höhe gegen 3 km Länge
messen dürften. Durch diesen Uferschutz wird eine Kostenerhöhung
von etwa 12 Millionen Francs verursacht.
Von der präliminirten Materialbewegung von ungefähr 12 Mil-
lionen Cubikmeter waren vom Jahre 1882, in welchem die Arbeiten
begannen, bis zum Schlusse des Jahres 1888 bereits 8 Millionen
Cubikmeter bewältigt und ist zur Stunde der Terraineinschnitt auf
2 km Länge des Canales bis zur Sohle und auf der erübrigenden
Strecke bis zur Cote des Meeresniveaus durchgeführt.
An den Ausmündungen des Canales wurden durch Dammbauten
geräumige Hafenbassins gewonnen, an deren Quais die vorne erwähnten
Städtchen entstanden, und zwar Poseidonia an der korinthischen und
Isthmia an der ägäischen Seite.
Da infolge der oben erwähnten unvorhergesehenen Arbeitsein-
stellung auch eine bedeutende, die ursprünglichen Voranschläge weit
überschreitende Erhöhung der Baukosten eingetreten ist, konnte mit
[79]Patras und der Canal von Korinth.
dem Actiencapitale das Auslangen nicht gefunden werden. Durch den
Zusammenbruch des Comptoir d’Escompte in Paris, welches die Finan-
zirung des Unternehmes übernommen hatte, entstanden Schwierig-
keiten für die Geldbeschaffung, und so stockt gegenwärtig (Ende 1889)
auch die Fortsetzung der Arbeiten. Es ist aber zu hoffen — und
auch im Interesse des Verkehres dringend zu wünschen — dass die
dermalen bestehenden Hemmungen der Weiterführung dieses nütz-
lichen Werkes bald beseitigt werden.
Das Unternehmen hat jedenfalls den Vortheil, dass es zu seiner
Rentabilität nicht erst auf einen zu schaffenden Verkehr angewiesen
ist, sondern dass ein ganz bedeutender Verkehr bereits existirt, wel-
cher unbedingt auf die Benützung des abgekürzten Weges reflectiren
wird. Auch darf hier beigefügt werden, dass eine heute allerdings
noch nicht zu berechnende Summe von Verkehrsbeziehungen erst
durch die Eröffnung des Canales möglich werden und infolge dessen
auch entstehen wird.
[[80]]
Piräus.
Cap Sunion in Sicht! Je mehr wir dem hellenischen Boden uns
nähern, desto mächtiger fühlen wir den Zauber, der in diesen Ge-
filden jeden Gebildeten bestrickt. Die Erinnerung an das uralte Staats-
wesen, das hier zu hoher Bedeutung gediehen war, an die glanzvolle
Culturepoche, die Edles schaffend von hier aus ihren Bannkreis zog,
dem selbst die Gegenwart noch nicht entrückt ist, tritt so mächtig
in den Vordergrund unserer Einbildung, dass uns im Anblicke des
classischen Bodens der Mangel an landschaftlichen Reizen kaum be-
wusst wird.
Der Hafen von Piräus ist durch eine felsige Landzunge gebildet,
auf der die beiden Hügel Akte (57 m) und Munychia (86 m) deutlich
hervortreten. Im Alterthume umzog die ganze Halbinsel eine weit-
läufige Befestigung, deren Ueberreste noch erhalten sind.
Ostwärts dehnt sich der flache Strand von Phaleron, über dem
die sanft geneigte attische Ebene bis zu den im Hintergrunde auf-
steigenden, über 1000 m hohen Berggruppen Pentelikon und Hymettos
wie eine Schaubühne zum Vorschein kommt.
Mit ihren feingeschnittenen Umrissen bildet dort die ehrwürdige
Akropolis, umgeben von dem zu ihren Füssen lagernden Athen, den
mächtigen Anziehungspunkt eines wahrhaft historischen Bildes, dessen
Verständniss zum Gemeingut der gebildeten Menschheit geworden ist,
denn Athen war das geistige Centrum nicht allein Griechenlands,
sondern der antiken Welt.
„Von Athen“ — sagt Gregorovius —, „einem Gemeinwesen
freier Bürger, klein an territorialem Umfange und gering an staat-
licher Macht, sind unermessliche Wirkungen in das Weltleben ausge-
gangen. Sie haben sich nicht in der Form grosser geschichtlicher Hand-
lungen und Völkerbeziehungen und jener kaum unterbrochenen Reihe
von politischen und socialen Schöpfungen dargestellt, wie sie Rom
hervorgebracht hat. Die an der Menschheit bildenden Kräfte der Stadt
[[81]]
Piräus.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 11
[82]Das Mittelmeerbecken.
Athen gehören dem Reiche der zeitlosen Ideen an. Denkgesetze, allseitige
Welterkenntniss, Wissenschaften, Sprache, Literatur und Kunst, Ge-
sittung, veredelte Humanität: das sind die unsterblichen Thaten
Athens gewesen. Das Verhältniss der Menschheit zur Stadt der Pallas
— und nur als solche, als die Metropole des hellenischen Heiden-
thums, war sie die Quelle alles Schönen und die Mutter der Weis-
heit, wie man sie selbst noch in den dunklen Jahrhunderten des
Mittelalters mit traditioneller Ehrfurcht genannt hat —, dies Verhält-
niss der Pietät wurde zu einem einzigartigen Cultus von idealer
Natur. Er setzte immer das Bewusstsein des unvergänglichen Werthes
der attischen Bildung voraus. Man darf sagen: Nur wer die Weihen
des Geistes genommen hatte, konnte den Genius Athens verstehen;
nur die Aristokratie der Geister hat Athen verehrt. Auch Barbaren
konnten die weltbeherrschende Grösse und Majestät Roms bewundern;
aber was hätte einem Alarich oder Attila die Stadt des Plato und
Phidias zu sein vermocht? Zur Zeit, als sie den Gipfel ihres bürger-
lichen Lebens erstiegen hatte, nannte sie Perikles die Schule des
ganzen Griechenlands. Isokrates bezeichnete ihre Bedeutung mit diesen
Worten: dass sie durch ihre Weisheit und Beredsamkeit alle anderen
Völker übertroffen habe, dass ihre Schüler die Lehrer Anderer ge-
worden seien, dass es der Geist sei, der die Griechen kennzeichnet,
und dass diese weniger die gemeinsame Abstammung, als die ethische
Bildung zu Hellenen mache. Die wahrhaft schöpferische Epoche Athens
umfasste nur einen kleinen Zeitraum, und doch genügte derselbe zur
Hervorbringung einer kaum zu übersehenden Fülle von ewig giltigen
Meisterwerken der Cultur, die in mancher Richtung kein folgendes
Zeitalter mehr zu erreichen vermocht hat.“
Westlich von Piräus gewahrt man zwischen der bergigen Insel
Salamis und den kahlen, steil zum Meere abfallenden Skaramanga-
höhen die nach dem Golf von Eleusis führende berühmte Enge von
Salamis, an deren Westseite die Ambelakibucht, der Schauplatz der
am 20. September 480 v. Chr. heldenmüthig geschlagenen Befreiungs-
schlacht, liegt, in welcher die übermächtige Flotte des Xerxes von
der griechischen völlig vernichtet worden war. Xerxes soll, die Nieder-
lage der Griechen voll Siegeszuversicht erwartend, auf einer gegen-
wärtig „Thron des Xerxes“ genannten Höhe nächst der Küste dem
Kampfe beigewohnt und laut aufgejammert haben, als er den Unter-
gang seiner Flotte sich vollziehen sah Aeschylos, der selbst in der
Schlacht mitkämpfte, hat in seinen „Persern“ eine lebendige Schil-
derung des Kampfes auf uns vererbt.
[83]Piräus.
Das heutige Piräus ist eine Schöpfung der neuesten Zeit. Seit
seiner einstigen Glanzperiode gerieth in der tiefen Nacht der Bar-
barei, die auf das Land sich gesenkt hatte, selbst der Name des
berühmten athenischen Hafens gänzlich in Vergessenheit. Bis zum
Jahre 1835, in welchem der Sitz der griechischen Regierung nach
Athen verlegt wurde, war die nur von Fischern bewohnte Bucht von
Piräus als Porto Leone bekannt, welcher Name von den Venetianern
herstammte und auf den 1687 dort gefundenen und nach Venedig
überführten Marmorlöwen (vor dem Seearsenale daselbst aufgestellt)
sich bezog.
Das alte Piräus durchlebte als glanzvolle Hafenstadt eine Periode von nahe-
zu vier Jahrhunderten, und zwar von 474 bis 86 v. Chr. Der Hafen war eine
Schöpfung des Themistokles, des Begründers der griechischen Seemacht, dessen
Standhaftigkeit der Sieg von Salamis, welcher die persische Macht gebrochen
hatte, zu verdanken war. Ja, Themistokles soll sogar geplant haben, die Haupt-
stadt Athen nach dem Piräus zu verlegen.
Bis zu den Perserkriegen war Phaleron der bescheidene Hafen von Athen;
dann erst trat die vorzüglich gelegene Bucht von Piräus an seine Stelle. Dort
entstanden grosse Hafenanlagen und Befestigungen und die neue Schöpfung war
nicht nur ein bedeutender Handelsplatz, sondern auch ein gewaltiger Kriegshafen.
Perikles vollführte den Ausbau der Hafenstadt nach dem einheitlichen Plane des
Hippodamos aus Milet und bald zählte sie ihrer prächtigen Bauwerke wegen zu
den schönsten Städten Griechenlands. Berühmt waren ihre Schiffshäuser, welche
die Athener mit den Propyläen und dem Parthenon verglichen.
Die „langen Mauern“, welche die Verbindung Piräus’ mit Athen für alle
Zeiten sichern sollten, wurden in den Jahren 460—456 aufgeführt. Allein nach
dem Siege Spartas über Athen (404) mussten die Mauern, sämmtliche Befesti-
gungen und die Schiffshäuser niedergerissen werden. Zehn Jahre später erstanden
diese Bauten neuerdings, und Piräus sowie Athen traten in eine neue Epoche der
Blüthe, die aber nur von kurzer Dauer war, denn zu lange hatte Athen und ganz
Hellas gezögert, den Kampf gegen Philipp von Makedonien kraftvoll aufzunehmen.
Die Schlacht bei Chäroneia (338) versetzte der griechischen Freiheit den Todes-
stoss. Nach dem unglücklichen Aufstande im Jahre 322 erhielt Athen sowohl
wie die Burg Munychia bei Piräus eine makedonische Besatzung. Die Occupation
währte fast ein Jahrhundert.
Dann kamen als Beherrscher die Römer, die nach Niederwerfung des
achäischen Bundes und der Zerstörung von Korinth (146 v. Chr.) Griechenland
und Makedonien zu einer römischen Provinz erklärten. Als aber die Athener an
die Seite des pontischen Königs Mithridates getreten waren, der den Kampf gegen
die Römer um die Herrschaft in Asien auf griechischem Boden entscheiden wollte,
ward die Stadt am 1. März 86 n. Chr. durch die Legionen unter Sulla gestürmt
und geplündert. Die Befestigungen des Piräus wurden abgetragen und erstanden
nie wieder.
Von dem berühmten Kantharos, dem Kriegshafen, wo Kriegs-
schiffe den Hafeneingang bewachten, und dem unter Lykurgos ent-
11*
[84]Das Mittelmeerbecken.
standenen Arsenal des Philon sind nur noch einzelne Grundmauern
erhalten. Ein gleiches Schicksal erreichten die anderen glanzvollen
Bauten von Piräus.
Das heutige, von circa 35.000 Einwohnern bevölkerte Piräus wurde
in den vergangenen Jahrzehnten in die antike Rolle der Hafenstadt von
Athen wieder eingesetzt und geht der Entwicklung rüstig entgegen.
Der von stattlichen Quais umgebene Hafen ist mit Schiffen aller
Nationen gefüllt und bildet den Hauptknotenpunkt der griechischen
Dampfschiffahrtsverbindungen. Der Hafen bietet den grössten See-
schiffen vorzüglichen Schutz.
Die Stadt selbst ist regelmässig angelegt, verfügt jedoch mit
Ausnahme eines hübschen Antikenmuseums im Gymnasion am Karais-
kakisplatz über keine nennenswerthe Sehenswürdigkeit.
Am belebtesten ist die längs des Quais ziehende Miaulisstrasse.
Nach Athen führen neben einer Kunststrasse noch zwei Eisen-
bahnen, nämlich die Athener und die peloponnesische Bahn, sowie
eine Tramwaylinie.
Die Eisenbahnstationen liegen am nördlichen Ende der Stadt.
Wegen der Nähe der 9 km landeinwärts gelegenen Hauptstadt
ist der Piräus der wichtigste Einfuhrhafen Griechenlands und ent-
wickelt sich dank dem energischen Zusammenwirken griechischer
Häuser in den russischen Plätzen des Schwarzen Meeres und auf dem
hiesigen Platze als Ordrehafen für russisches Getreide. Unterstützt
wird dieses Bestreben durch die 14 Dampfmühlen des Piräus, welche
den Bezug fremden Mehles überflüssig gemacht haben. Erfreulich ist
auch die andauernde Steigerung des Entrepôtverkehres. Dagegen hat
der Piräus wegen des Mangels eines productiven Hinterlandes als
Ausfuhrhafen keinerlei Bedeutung. Die Vollendung der Eisenbahn
Athen-Korinth-Patras hat den Verkehr des Piräus geschädigt, weil
die Reisenden jetzt mit der Bahn nach Athen kommen und den
Piräus nicht mehr berühren. Seitdem verkehren auch keine Personen-
schiffe mehr nach Kalamaki, das an der Ostseite der Landenge von
Korinth liegt. Doch erwartet man von der seinerzeitigen Eröffnung
des Canals von Korinth eine ausgiebige Steigerung des Schiffsverkehres
und damit auch des Handels. Der Piräus ist ja schon jetzt der wich-
tigste Knotenpunkt der Dampfschiffahrt im ägäischen Meere.
Der Handel des Piräus betrug in Drachmen:
| [...] |
Der wichtigste Einfuhrartikel des Piräus ist Getreide. Im Jahre 1888 wurden
(im Specialhandel) 602.500 q im Werthe von 13·2 Millionen Drachmen eingeführt,
fast ausschliesslich aus Russland. 1887 war die Einfuhr aus Russland bedeutend
grösser als 1888, es konnte eben Thessalien, die Kornkammer Griechenlands, in
dem letzteren Jahre bedeutend grössere Ueberschüsse an die übrigen Provinzen
des Königreiches abgeben.
A Hafen von Piräus, B Bucht von Ambelaki, C Bahnhöfe, D antike Grundmauern, E Signalstation,
F Leuchtfeuer, G moderne Ruinen, H antikes Arsenal. J Gräber, K Kalköfen, L Ruinen mit Säulen,
M Petroleummagazin, N Ruinen eines Theaters und Tempels, O Friedhof, P der antike Kantharos,
Q antike Steinbrüche, R Xerxes-Thron, S Enge von Salamis, T attische Ebene, U Monument des
Miaulis.
Reis kommt zum grossen Theile aus Triest und zu einem Fünftel aus
Fiume, neuerer Zeit beginnt Holland die Häfen der Adria zu verdrängen. Einfuhr
1888 16.500 q.
Auch der Kaffeeimport aus Triest wird durch die directe Einfuhr aus
Amerika bedroht.
Auch in Zucker hat der Piräus die stärkste Einfuhr unter allen grie-
chischen Häfen. Oesterreich-Ungarn beherrscht den Markt, der Artikel richtet sich
ganz nach den Verhältnissen und Preisen von Triest. Die Einfuhr betrug 1888
21.770 q im Werthe von 1,033.659 Drachmen, wofür 1,467.074 Drachmen Zoll
erlegt wurden.
[86]Das Mittelmeerbecken.
Lebende Thiere kommen aus der Türkei und Russland. Einfuhr 1888
103.028 Stück im Werthe von mehr als einer Million Drachmen.
In allen griechischen Plätzen werden bedeutende Mengen conservirter Fische
und Caviar verbraucht. Die Einfuhr im Piräus erreichte in Fischen 1888 9700 q,
in Caviar 2100 q.
Griechenland ist ein wichtiges Absatzgebiet für Holz. Im Piräus wurden
1888 für 1·4 Millionen Drachmen Holz, vornehmlich Bauholz, eingeführt. Die
Hölzer aus Steiermark und Kärnthen finden Concurrenz an der Schnittwaare Gali-
ziens und der Bukowina, die über Galatz zur Ausfuhr gelangt. Zur Einfuhr ge-
langen ferner schwedisches Fichtenholz, Fassdauben aus Samsun und Trapezunt,
Eisenbahnschwellen aus Thessalien.
Im Piräus wurden 1888 um etwa 1 Million Francs Spinnstoffe importirt,
wohl meist für den Bedarf der dortigen Fabriken und jener von Athen, unter
denen die Seilereien zu nennen sind.
Die griechische Statistik kennt rohe Mineralien im Gegensatze zu unbe-
arbeiteten Metallen. Wir haben unter den ersteren der Hauptsache nach wohl
Kohlen zu verstehen. Petroleum, welches ein Monopol der Regierung bildet, ist
ausgeschlossen. Von rohen Mineralien wurden 1888 893.600 q im Piräus eingeführt.
Andere wichtige Einfuhrartikel des Piräus sind chemische Producte,
zubereitete Häute und Erzeugnisse der Textilindustrie, darunter Baumwoll-
gewebe (Werth 1888 1·9 Millionen Drachmen) und Schafwollgewebe (1888
1·4 Millionen Drachmen) und gemischte Stoffe (1888 1·3 Millionen Drachmen).
Ansehnliche Ziffern erreichen in der Einfuhr fertige Kleider, Hüte, Glas und
Porzellan, Papier. In all diesen Artikeln spielt Oesterreich-Ungarn eine beden-
tende Rolle. Zum Schluss nennen wir Metallwaaren, für die der Piräus der
erste Einfuhrplatz Griechenlands ist.
An der Einfuhr der Industrieartikel sind Grossbritannien, Oesterreich-Ungarn
und Frankreich in hervorragender Weise betheiligt. In der Einfuhr aus Oester-
reich-Ungarn ist ein ansehnlicher Theil deutschen Ursprungs. Auch die Einfuhr
Belgiens, das an vielen Unternehmungen in Griechenland betheiligt ist, ver-
grössert sich.
Im Export sind in erster Reihe rohe Häute zu nennen. Der grössere Theil
der Ausfuhr wurde nach österreichisch-ungarischen Häfen verschifft. Die Producte
des Bergbaugebietes von Laurion kommen nicht über den Piräus zur Ausfuhr.
Der Piräus ist — wie bereits erwähnt — ein Centrum der Schifffahrtslinien
des ägäischen Meeres. Die für diesen Platz wichtigste Dampfschiffahrts-Gesellschaft
ist die des Oesterreichisch-ungarischen Lloyd. Durch diesen steht der Piräus in
Verbindung mit Triest-Fiume, Salonich, Constantinopel, Smyrna.
Durch die levantinischen Linien der Messageries Maritimes ist der Piräus mit
Marseille, durch die der Navigazione Generale Italiana mit Genua und Venedig,
durch eine dänische Gesellschaft mit Antwerpen verbunden. Der Piräus ist Station
egyptischer Postdampfer und selbstverständlich der nationalen Gesellschaften
„Elleniki Atmopliki Eteria“ und „Panhellenion“.
Der Piräus ist Endpunkt der für den internationalen Verkehr wichtigen
Eisenbahnlinie Patras-Korinth-Piräus. Sollte der Plan der Griechen gelingen, eine
Eisenbahnverbindung zwischen Athen und Salonich herzustellen, so würde der
Piräus bestimmt mit der Zeit der Einschiffungshafen für die europäisch-indische
Post an Stelle von Brindisi werden.
[87]Piräus.
Der Schiffsverkehr mit dem Auslande umfasste 1888 1171 einlaufende
Schiffe mit 897.408 t und 1282 auslaufende Schiffe mit 979.120 t. Von den aus-
laufenden Schiffen waren 417 mit 120.489 t in Ballast, was sich aus dem ungün-
stigen Verhältnisse des Ausfuhrhandels zum Einfuhrhandel ergibt.
Für das Jahr 1887 liegen Angaben über die allgemeine Schifffahrt des
Hafens Piräus vor, welche zeigen, wie grossartig der Küstenhandel in diesem
Theile Griechenlands ist. Es liefen ein 2508 Dampfer mit 1,531.563 t und 5746
Segler mit 471.687 t, zusammen 8254 Schiffe mit 2,003.240 t. Den Hafen verliessen
2509 Dampfer mit 1,532.310 t und 5748 Dampfer mit 472.380 t, zusammen 8257
Schiffe mit 2,004.690 t.
Im Verkehre des Piräus ist die wichtigste Flagge die griechische; diese
führen mehr als ein Viertel der Dampfschiffe und fast alle Segelschiffe. Es folgen
nach der Zahl des Tonnenverkehres die österreichisch-ungarische, die italienische
die französische, die englische und die türkische Flagge.
In Athen und Piräus sind folgende Consulate: Vereinigte Staaten, Bel-
gien, Costarica (G. C.), Dänemark (G. C.), Deutsches Reich, Dominikanische Re-
publik, Frankreich, Grossbritannien, Italien, Liberia, Niederlande (G. C. in Athen,
C. in Piräus), Oesterreich-Ungarn, Portugal (Athen C., Piräus G. C.), Rumänien,
Russland, Schweden und Norwegen, Serbien, Spanien, Türkei (G.-C). Venezuela.
[[88]]
Syra.
In der Inselgruppe der Kykladen hat seit dem Beginne dieses
Jahrhunderts die felsige und baumlose Insel Syra (Syros) einen nicht
unbedeutenden Theil des levantinischen Verkehrs an sich gezogen.
Die Gunst der Lage an der Dampferroute nach Piräus, Constantinopel
und Smyrna verschaffte ihrer Hauptstadt Hermupolis oder Nea-Syra
einen hervorragenden Platz unter den griechischen Hafenstädten, und
es gab eine Zeit, in der sie den ersten Rang unter denselben einnahm.
Wenngleich der Verkehr neuestens unter der Anziehungskraft Athens
nach Piräus abgelenkt und Hermupolis bereits überflügelt wurde, so
verdient der Platz dennoch hier genannt zu werden.
Unter 37° 25′ nördl. Breite und 24° 56′ östl. Länge von Greenwich
gelegen, besitzt die bergige Insel eine Längserstreckung von 23 km
bei einer grössten Breite von 9 km. Der nur gegen Nordosten und Osten
offene Hafen von Hermupolis liegt nächst der Felseninsel Gaidaro, die
einen schönen Leuchtthurm trägt, an der Ostseite der Insel.
In der alten Geschichte ist Syra keine nennenswerthe Rolle zu-
gefallen; Pherekydes, der Lehrer des Pythagoras, soll hier geboren sein.
Am griechischen Befreiungskriege betheiligte sich Syra gar
nicht, sondern bewahrte nur eine strenge Neutralität. Doch fanden
1821 die Flüchtlinge der verwüsteten Inseln Chios und Psara dort
gastliche Aufnahme, und diesem Bevölkerungszuwachse verdankt die
am Hafenquai liegende Stadt Neu-Syra ihre rasche Entstehung. Das
alte Syra (Paläo-Syros), welches fast ausschliesslich von katholischen
Abkömmlingen der venetianischen Ansiedler bewohnt ist, breitet sich
hoch über der neuen Stadt, und von dieser durch eine häuserlose
Zone getrennt, an der Berglehne aus.
Der Anblick der Doppelstadt ist ein höchst malerischer. Amphi-
theatralisch baut sich die untere Stadt an der Rundung des Hafen-
quais auf, hoch überragt von Alt-Syra, dessen zu einer Spitze auf-
gethürmte Häusergruppen das Bild einer bunten Pyramide gewähren.
[[89]]
Syra.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 12
[90]Das Mittelmeerbecken.
Am Hafenquai, wie überhaupt in der Neustadt herrscht ein sehr
lebhaftes, ja sogar recht lärmendes Treiben. Nahe dem Quai liegt
der mit schönen Platanen bepflanzte Leotsakos-Platz, der einzige
Ort auf der Insel, der in heisser Tageszeit kühlenden Schatten bietet.
Des Abends wogt dort die promenirende Menge.
Eine prächtige Illumination bieten des Abends, besonders wenn
irgend ein Fest gefeiert wird, die zahllosen Lichter der Stadt.
Syra ist arm an Sehenswürdigkeiten. Ausser der griechischen
Metropolitankirche Hag. Metamorphosis (Verklärung Christi) ist in der
unteren Stadt noch die stattliche Kuppelkirche Hag. Nikolaos be-
achtenswerth. In Alt-Syra, das auf steilen Treppen erreicht wird,
nimmt die katholische Kirche St. Georgios den höchsten Punkt ein.
Der Kirchenplatz ist seiner herrlichen Aussicht wegen ein Anziehungs-
punkt für schaulustige Touristen, aber noch lohnender ist der Ausblick
von der Höhe des weiter nördlich bis 492 m über das Meeresnivean
ansteigenden Pyrgos-Berges. Von da aus überblickt man die ganze
Kykladen-Gruppe und einen grossen Theil des griechischen Festlandes.
Hermupolis ist der Sitz des Nomarchen des Kykladen-Bezirkes,
eines römisch-katholischen Bischofs und eines griechischen Erzbischofs.
Die Einwohnerzahl von Neu-Syra ist in Abnahme begriffen, welche
Erscheinung mit dem Schwanken oder Niedergehen des Verkehres
in Zusammenhang steht. Gegenwärtig hat die Stadt etwa 21.000 Ein-
wohner.
Hermupolis ist der Mittelpunkt des Handels der Kykladen und Centrum
der Kabellinien des ägäischen Meeres. Zwei Stränge der Eastern Telegraph-Com-
pany gehen nach Piräus-Athen, einer nach Candia und einer nach Chio-Smyrna.
Die Bevölkerung ist thätig und wohlhabend; Schiffahrt, Handel und Fabrikswesen
sind die Quellen des Wohlstandes.
Der Handel von Syra betrug in Drachmen:
| [...] |
Verhältnissmässig hoch ist also der Entrepôtverkehr, klein der Ausfuhr-
handel. Die Einfuhr wird dadurch wesentlich gefördert, dass Hermupolis einer
der ersten Industrieplätze Griechenlands ist. Es werden hier Gerberei, Seilerei
und Schiffbau betrieben. Die Gerberei beschäftigt 3000 Arbeiter. Die griechische
Handelstatistik zieht leider rohe Häute mit einer Reihe anderer thierischer Pro-
ducte in Eins zusammen. Bei Syra machen offenbar rohe Häute den grösseren
Theil dieser Einfuhr-Post (1888 Specialhandel) von 16.600 q im Werthe von
1·7 Mill. Drachmen aus. Im Jahre 1887 wurden unter diesem Titel 21.055 q ein-
geführt. Auch von zubereiteten Häuten findet eine ansehnliche Einfuhr statt. Ein
Theil der Häute stammt aus Südamerika und kommt über Antwerpen und Marseille.
[91]Syra.
Russisches Getreide ist auch hier der wichtigste Einfuhrartikel; 1888
wurden 130.000 q, 1887 279.000 q Getreide eingeführt. In Syra bestehen fünf
Dampfmühlen.
Von Reis wurden 1888 5000 q, 1887 15.600 q importirt.
In keinem Hafen Griechenlands werden so viele Garne und so viele Baum-
wollgewebe eingeführt, wie hier. Die letzteren erreichten 1888 eine Höhe von
8010 q im Werthe von 3·3 Mill. Drachmen, 1887 eine solche von 10.997 q im
A Innerer Hafen von Hermupolis, B Telegraphenkabel, C Sanitätsamt, D Windmühlen, E Bäder,
F Leuchtfeuer, G Friedhöfe, H Werfte, J Alt-Syra, K Hermupolis oder Neu-Syra.
Werthe von fast 5 Mill. Drachmen. In der Einfuhr gemischter Stoffe kommt Syra
knapp hinter dem Piräus.
Wichtig sind noch Zucker, meist aus Oesterreich-Ungarn stammend (1888
7000 q), Rohproducte des Waldes, Bauholz, rohe Mineralien, vornehmlich Kohle
aus Cardiff und Newport, rohe Metalle, conservirte Fische und Caviar.
Die Hauptartikel des Exportes sind Tabak (1888 6200 q), für Egypten be-
stimmt, Cocons (1888 69.832 k) und Schmirgel, der auf Naxos von privilegirten
Arbeitern gewonnen und gegen einen fixen Satz an die Regierung abgeliefert wird.
Schmirgel wird allein über Syra ausgeführt; 1888 27.160 q im Werthe von
585.720 Drachmen.
Der Entrepôtverkehr umfasst in erster Linie Producte des Ackerbaues, in
zweiter Linie Gewebe.
12*
[92]Das Mittelmeerbecken.
Früher war Syra Kreuzungspunkt einer Reihe von Schiffahrtslinien, die jetzt
vom Piräus ausgehen.
Der gesammte Schiffsverkehr von Syra betrug:
| [...] |
Die Segelschiffe sind meist griechischer Nationalität; ein Achtel führen die
türkische Flagge. Auch unter den Dampfern überwiegt die griechische Flagge,
welche, Segler und Dampfer zusammengerechnet, fast die Hälfte des Verkehres
vermittelt. Ihr folgen in absteigender Ordnung die französische, die britische und
die österreichisch-ungarische Flagge.
Die Handelsflotte von Syra betrug Ende 1888 716 Schiffe mit 94.582 Tons,
das sind zwei Fünftel der Handelsflotte Griechenlands; 24 Schiffe mit 11.453 Tons
waren Dampfer.
Syra ist Station des österreichisch-ungarischen Lloyd, der Messageries
Maritimes und der russischen Dampfschiffahrts- und Handels-Gesellschaft (Sitz
Odessa), und wird von Bell’s Asia minor Cy. angelaufen. Durch englische Dampfer
steht Syra in directer Verbindung mit London, Liverpool und Malta.
Consulate: Belgien, Dänemark, Deutsches Reich, Frankreich, Niederlande,
Oesterreich-Ungarn, Portugal, Russland, Spanien, Türkei (G.-C.)
[[93]]
Salonich.
Nur wenige Handelsplätze der Levante vermögen heutigentags
mit der uralten Hauptstadt von Makedonien rücksichtlich der com-
merciellen Bedeutung im Weltverkehr in die Schranken zu treten.
Was diesbetreffend in Salonich (türkisch Selanik) in aller Stille
bereits sich vollzogen hat, und die hoffnungsvollen Bedingungen für
die zukünftige Entwicklung, die gewonnen wurden, sind in der That
staunenswerth. Bis in die jüngste Zeit auf den Seeverkehr und land-
einwärts nur auf den ebenso kostspieligen wie schwerfälligen Kara-
wanenweg angewiesen, ist Salonich durch die Anlage des neuen
Schienenweges, welcher dem Hafen das Herz Europas erschlossen hat,
zu einer der massgebenden Handelsstädte der ganzen Balkanhalbinsel
zwischen der Adria und dem Schwarzen Meere erblüht.
Salonich hat wie Athen, Korinth und das weit jüngere Byzanz
eine Geschichte höheren Styles, die weit in die vorchristliche Zeit
hineinreicht.
Wegen der zahlreichen warmen Quellen in ihrer Umgebung hiess die erste
dortige griechische Ansiedlung Therme, und der an der thessalischen Küste mächtig
aufragende Felsengrat des heiligen Olymps wies den Weg nach dem thermischen
Meerbusen, an dessen nördlichem Ende die berühmte Badestadt lag. Xerxes lagerte
in ihr und von hier aus zog er südwärts nach Griechenland. Dann erschienen zu
Beginn des peloponnesischen Krieges die Athener und bemächtigten sich der Stadt.
Perdikkes II. von Makedonien entriss sie ihnen wieder, worauf Pausanias die
Stadt eroberte.
Nun kam 315 v. Chr. Kassandros, der Schwager Alexanders des Grossen,
nachdem er Makedonien unterworfen, als Befreier vor die Thore von Therme. Er
baute die halbzerstörte Stadt wieder auf, erweiterte sie und gab ihr den Namen
seiner schönen Frau Thessalonika. Dieser sollte als kostbarer Talisman sich be-
währen. Gewiss hat die geographische Lage und der Handelsgeist der Bewohner
der Stadt viel zu ihrer Blüthe beigetragen, aber gleichwohl darf angenommen
werden, dass die Gunst der hohen Frau, deren Namen die neue Schöpfung führte,
und gewiss auch das Interesse ihres allmächtigen Bruders Alexander nicht ohne
Einfluss auf die Entwicklung der Stadt geblieben waren, die alsbald zur wichtigsten
an der makedonischen Küste emporstiegen. Auf dieser Höhe fiel Tessalonike
[94]Das Mittelmeerbecken.
nach der Schlacht bei Pydna 168 v. Chr. in die Hände der Römer und wurde
die Hauptstadt der Provinz Macedonia.
Die grosse römische Heer- und Handelsstrasse, die Via Egnatia, welche
von Dyrrhachium (Durazzo) aus die Balkanhalbinsel bis Byzanz durchquerte und
über See mit der Strasse Brundusium-Rom in Verbindung stand, führte durch das
Centrum von Thessalonike, und noch heute ist der antike Name dort erhalten.
Dieser Verbindung entsprang der ungeheure Aufschwung, den die Stadt in
der Folge genommen hatte und Jahrhunderte hindurch genoss. In den drei ersten
Jahrhunderten unserer Aera wuchs die Bevölkerung von Thessalonike auf 220.000
Einwohner und als Handelsstadt hatte sie weit und breit keine Nebenbuhlerin.
Die drohende Invasion der Barbaren veranlasste im dritten Jahrhunderte n. Chr.
Rom zur Gründung einer Militär-Colonie in Thessalonike.
In das friedliche Schaffen der Stadt mengten sich plötzlich die Schrecknisse
der Grausamkeit. Kaiser Theodosius der Grosse (379—385) liess 7000 Bürger der
Stadt, weil die Bewohner gegen die römische Besatzung sich empört hatten, er-
barmungslos hinrichten. Wohl übte der Mächtige im Jahre 390, um dem Bann-
fluche zu entgehen, die ihm vom heil. Ambrosius, Bischof von Mailand, auferlegte
Kirchenbusse, allein das Entsetzen seiner Greuelthat lebt in der Geschichte fort.
In der Zeit vom VI. bis zum VIII. Jahrhundert erwehrte sich die Stadt
in mehreren blutigen Kämpfen slavischer Horden, und im Jahre 904 unterlag
sie den raubgierigen Saracenen, welche in der reichen Stadt mordeten und plün-
derten.
Hier erst endete die zwölf Jahrhunderte umfassende erste Blüthezeit von
Thessalonike. Obgleich sie sich wieder aufrichtete, mussten doch wieder lange
Zeiträume verfliessen, bis die Stadt zu einiger Bedeutung gelangte.
Taukred, der Held des ersten Kreuzzuges erschien dort (1185) mit seinen
Normannen und wurde durch seine Gewaltthätigkeit zum Schrecken der Stadt, in
der schon damals viele Kaufleute der mittelländischen Handelsrepubliken lebten.
Nach der Einnahme von Constantinopel (1204) gelangte Thessalonike unter die
Herrschaft des Markgrafen Bonifacius Montferrat, dem die Stadt und deren Umgebung
als Königreich zufiel. Sein Nachfolger Demetrios wurde durch Theodoros Angelos
Komnenos vertrieben, der 1222 Thessalonike eroberte und sich daselbst zum Kaiser
krönen liess.
Die Herrschaft war nur von kurzer Dauer. Von den Bulgaren bekämpft,
blieb der Nachfolger Theodoros’, sein Sohn Johann, bald auf die Stadt allein be-
schränkt, und auch diese fiel dann in die Hände des nikäischen Kaisers Valaces.
Im XV. Jahrhundert fiel Thessalonike dem ungeheuren Eroberungsdrange
der Osmanen zum Opfer. Als Sultan Murad 1422 die Stadt hart bedrängte, sahen
die Einwohner in der Macht Venedigs ihre einzige Rettung und luden die Repu-
blik ein, die Stadt in Besitz zu nehmen. Dem entsprach der kluge Dogenstaat
sogleich und zahlte auch den Kaufpreis von 50.000 Ducaten, welchen Andronikos,
der Befehlshaber von Thessalonike, im Namen des griechischen Kaisers ausbedungen
hatte. Die Venetianer installirten in der Stadt einen Duca (auf den Inseln des
Archipels residirten auch Arciduca oder Erzherzoge der Venetianer) und einen
Capitanio, aber ihre Herrschaft nahm ein unerwartet rasches Ende. Acht Jahre
nach dem Kaufe erschien zum zweitenmale ein türkisches Herr vor Salonich und
am 29. März 1430 fiel die feste Stadt in seine Gewalt. Seit jener Zeit weht die
Fahne des Halbmondes auf den Wällen von Salonich.
[95]Salonich.
Thessalonike beherbergte in seinen Mauern 58 v. Chr. Cicero, der hier im
Exil lebte.
In der Kirchengeschichte erinnert der Name Thessalonike an Apostel Paulus,
der hier zur Zeit der Regierung Nero’s das Christenthum predigte und zwei Epistel
an seine christliche Gemeinde richtete.
Thessalonike ward als die Hauptstadt der Christenheit im Oriente angesehen
und galt als orthodoxe Stadt.
Unter ihren Kirchenfürsten steht Erzbischof Eustathius, der Tankred ge-
sehen, als berühmter Rhetoriker und Commentator der Homer’schen Werke in
glänzendem Rufe.
Grossartig und reich an Abwechslung wie ihre Geschichte ist
auch das Bild der Stadt und deren Umgebung.
Schon längst ist Salonich aus den Ringmauern herausgequollen,
welche die alte, an der Berglehne amphiteatralisch aufgebaute Stadt
umgeben. Nördlich und südlich sind Vorstädte aus dem Boden ge-
wachsen, und an Stelle der 1869 geschleiften Hafenbefestigung, welche
der Stadt den Ausblick auf das weite offene Meer raubte, entstand
ein 2 km langer und 10 m breiter mit grossen Lavaplatten belegter
Quai, längs dessen eine neue Häuserfront von modernem Aussehen
freundlich sich erhebt.
Die Neubauten gestalten das Bild von Salonich sehr wirkungs-
voll. Sie bilden den grellen Gegensatz zu den von Thürmen flan-
kirten erenelirten Mauerwerk der die Stadt dominirenden Citadelle
und den düsteren Cypressenpflanzungen; sie drängen das Chaos der
alten Häuser, die wie Wespennester aneinander zu kleben scheinen,
in den Hintergrund, wetteifern als belebende Elemente mit den elegant
aufstrebenden Minarets, welche mehr als alles andere der Stadt den
orientalischen Typus aufprägen. Dazu tritt noch ostwärts der herr-
liche Hintergrund des Kortač, eines mächtigen Gebirgszuges, und
westlich die weite und fruchtbare Niederung der Kampania, durch
welche der Vardar seine Fluten dem Meere zuwälzt, und in duftiger
Ferne das wild zerrissene Hochgebirgsland von Albanien; also eine
Fülle landschaftlicher Effecte, welche das Bild von Salonich imposant
und malerisch ausgestalten. Das Innere der Stadt entspricht aber,
wie in allen türkischen Städen, keineswegs der äusseren Herrlichkeit.
Ausser der Quaifront und der mit ihr parallel gezogenen breiten Via
Egnatia (grande), sowie dem Frankenviertel im Westen und der aus-
gedehnten Vorstadt Kalemaria, wo recht hübsche und solide Stein-
bauten entstanden, besteht das Gros der alten Stadt aus unansehn-
lichen Holzhäuschen und schmutzigen Strassen, diese sind leider nur
von wenigen der in der Türkei bekanntlich als Strassensäuberer thätigen
Hunde bevölkert.
[96]Das Mittelmeerbecken.
Ueberraschend ist das Anwachsen der Bevölkerungszahl. Die
Ausbreitung der Stadt liess allerdings die Annahme zu, dass die Ein-
wohnerzahl von Salonich eine höhere sein müsse, als selbe bisher ge-
schätzt worden war. Da versetzte eine Nachricht der „Turquie“ vom
4. Mai 1889 die Statistiker dennoch in helles Staunen, denn darin
war für Salonich eine Zahl von 195.000 Bewohnern nachgewiesen
worden, also ungefähr das Doppelte der bisherigen Schätzungen.
Von den Bewohnern sind:
Juden 75.000, Griechen 36.000, Türken 25.000, katholische
Albanesen 15.000, Makedonier und Serben 13.000, Bulgaren 11.000,
Italiener 5000, Albanesen 4000, Franzosen 1500, Deutsche 1200,
Engländer 800, Armenier 1000, Zinzaren 5000, Zigeuner 5000.
Die Juden, welche der Zahl nach dominiren, sind, wie die
meisten Israeliten auf der Balkanhalbinsel, von spanischer Abkunft,
welche sie durch Beibehalt der spanischen Sprache auch bekunden.
Ihre Vorfahren wurden zu Ende des XV. Jahrhunderts aus Spanien
in grossen Massen vertrieben und fanden in der Türkei eine zweite
Heimat. Wie überall, sind sie fleissig und betriebsam; sie besor-
gen alle Dienste des öffentlichen Verkehres, des Handels und Gewer-
bes und scheuen auch die schwere Lastarbeit nicht, wenn es gilt,
sich und die Familie zu erhalten. Sie bilden daher auch das Gros der
gewerbetreibenden Bevölkerung der Stadt. Einige Familien sind zu
Wohlstand und Reichthum gelangt und entfalten viel Luxus. Berühmt
wegen ihrer classischen Schönheit ist die jüdische Frauenwelt von
Salonich. Mit ihren Traditionen sind die Juden das interessanteste
Element der dortigen Bevölkerung.
Abseits des Aussenhandels, auf den wir zurückkommen werden,
dominiren unter den Seeleuten des Handelsplatzes die Griechen, und
die Bulgaren stehen als Landwirte und Pferdezüchter in Ansehen.
Die malerische Tracht der Bulgarinnen mit ihrem Münzenschmuck
im Haare und der weissen, färbig umsäumten Tunica tritt sehr wirksam
in den bunten Strassenbildern der völlig kosmopolitischen Stadt hervor
und findet ein anmuthiges Pendant im Costume der Walachinnen, das
an die Tracht der Bäuerinnen in der Umgebung von Neapel lebhaft
erinnert.
In Salonich residirt der Generalgouverneur, Vali, des gleich-
namigen Vilajets; hier ist der Sitz eines griechischen Metropoliten und
des Gross-Chacham (Grossrabbiner) der Juden.
Die Stadt hat 41 Moscheen, 16 dem christlichen Cultus ge-
weihte Kirchen, worunter die Kathedrale St. Theodoro, 4 Syna-
[[97]]
Salonich.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 13
[98]Das Mittelmeerbecken.
gogen, ein griechisches und ein bulgarisches Gymnasium, dann eine
Handelsschule, endlich, den Bedürfnissen der zahlreichen Nationali-
täten ihrer Bevölkerung entsprechend, griechische, bulgarische, ita-
lienische, französische, israelitische und türkische Volksschulen.
An Humanitätsanstalten bestehen drei Spitäler (je ein [türkisches],
griechisches und französisches).
Mit dem Aufblühen der Stadt hat auch die industrielle Thätig-
keit derselben sich gehoben. Es bestehen gegenwärtig 7 Dampf-
mühlen, 2 Baumwollspinnereien mit Dampfbetrieb, die zusammen
500 Arbeiter beschäftigen, 5 Seifensiedereien, eine Gerberei, eine
Spiritusfabrik u. a. m.
Am nördlichen Ende des Stadtquais sind in nächster Nähe zahl-
reiche Lagerhäuser errichtet worden, von welchen Salonich mehr als
150 besitzt.
Leider entbehrt aber der Hafen der modernen Hilfsmittel für die
schnelle Erledigung der Verkehrsoperationen. Das Löschen und Laden
erfolgt mittelst Lichterbooten (maone), was ebenso kostspielig wie
namentlich zeitraubend ist; auch können grössere Schiffe am Quai
nicht anlegen, weil sie dort nur 1—3 m Wassertiefe finden. Manch-
mal müssen Schiffe 8 Tage zuwarten, bis sie die nöthigen Lichter-
boote zur Verfügung haben.
Die Hafenbucht bietet zwar unter gewöhnlichen Umständen aus-
reichenden Schutz und hat bei 13—24 m Tiefe einen recht guten
Ankergrund, allein bei steifen NNW- und Südwinden ereignet es sich
oft, dass der Verkehr mit dem Lande ganz eingestellt werden muss.
Die Durchführung eines entsprechenden Hafenbaues wird daher
auf die Länge der Zeit kaum zu vermeiden sein; ein solches Werk
wäre eine Wohlthat für den Verkehr des regen Platzes. Projecte für
Hafenbauten in Salonich liegen übrigens vor. Nebst der Schaffung
von durch einen äusseren Wellenbrecher geschlossenen Bassins be-
zwecken sie auch die Erweiterung der Quaifläche und die Verlänge-
rung des Schienengeleises bis zum südlichen Ende derselben.
Salonich hat seiner Alterthumsschätze wegen schon lange die
Aufmerksamkeit der Archäologen auf sich gelenkt, und man könnte
fast sagen, dass die archäologische Erschliessung der Stadt noch nicht
vollzogen ist.
Die 6—8 m hohen und 2 m dicken Befestigungsmauern der Stadt
stammen aus dem Mittelalter und sind aus Resten antiker Bauten auf
kyklopischen Fundamenten aufgeführt. Die Ringmauer endet im Westen
an einer geschlossenen Bastion, der Fortezza, im Südosten aber an
[99]Salonich.
dem fünf Stockwerke hohen Thurm Kam Kule (der Blutthurm), der
jetzt als Gefängniss dient.
Die von der Stadt isolirte Citadelle Jedi Kuleler Kalessi, d. i.
Schloss der sieben Thürme, liegt unter 40° 37′ nördl. Breite und 22° 58′
östl. Länge von Greenwich und stammt in ihrer heutigen Gestalt wohl
aus venetianischer Zeit, doch muss der Ursprung der Befestigung weit
in die vorchristliche Aera versetzt werden. Jedenfalls war die Feste
einstens die Akropolis von Thessalonike. Innerhalb der halbverfallenen
Mauern, dort wo ehemals die Janitscharen Unterkunft hatten, haben
sich arme türkische Familien angesiedelt.
Am westlichen Ende der bereits oben erwähnten Via Egnatia
erhebt sich beim Vardar-Thor ein römischer Marmorbogen mit schönem
Fries und figuralem Basrelief; im östlichen Theile derselben Strasse
ist diese von dem 25 m hohen Triumphbogen des Constantin über-
wölbt, einem mit Marmorplatten bekleidet gewesenen imposanten Bau-
werke, das zur Verherrlichung des Sieges über Licinius (323 n. Chr.)
errichtet worden war. Heute gähnt nur mehr der rohe Ziegelbau dem
Besucher entgegen; nur einige hübsche Friese an der Bogenwölbung
sind von der einstigen Herrlichkeit erhalten.
Nächst der Via Egnatia zwischen den Quartieren der Juden und
Griechen stehen vier in die Façade eines Privathauses eingebaute,
als Propyläen des Hippodroms bezeichnete antike korinthische Säulen.
Berühmt ist das grosse Gebäude des Karawanserai, das von
Murad II. (1421—1451) gegründet sein soll, wahrscheinlich aber von
den byzantinischen Kaisern stammt.
Noch wäre ein schöner antiker Porticus korinthischer Ordnung
zu erwähnen, der in der Residenz des griechischen Metropoliten, einem
Kloster nächst der unterhalb der Citadelle gelegenen griechischen
Kirche, erhalten blieb.
Eine weit höhere Beachtung als die eben aufgezählten Bauwerke
beanspruchen die kirchlichen Monumente der ersten Christenzeit, die
allerdings gegenwärtig als Moscheen dem mohammedanischen Cultus
dienen. Sie bilden eine Gruppe von Bauwerken, die jenen von Con-
stantinopel an die Seite gestellt werden können, ja diese in gewisser
Hinsicht sogar übertreffen, denn diese Kirchen weisen alle Stylvaria-
tionen der damaligen Kunstperiode auf und besitzen selbst die Rotunde,
die den Bauten in Stambul mangelt und nur in Italien vorgefunden wird.
Eine der ältesten Kirchen der Stadt ist der St. Georgios oder
Rotunda genannte, in eine Moschee (Horta-Sultan Osman Dschami,
gewöhnlich Hortadschi-Effendi) verwandelte interessante Rundbau, der
13*
[100]Das Mittelmeerbecken.
wahrscheinlich von Constantin errichtet wurde und prächtige, voll-
ständig erhaltene byzantinische Mosaiken enthält.
Die aus dem V. Jahrhundert stammende Eski-Dschami (alte
Moschee), die erste Kirche von Thessalonike, die unter Murad als
Moschee eingerichtet wurde, soll an der Stelle eines Tempels der
Thermäischen Venus erbaut sein und enthält jonische Säulencapitäle in
der von den Türken verbauten Vorhalle. (Zwischen 11 und 12 d. Pl.)
Die Aja Sophia genannte alte Kathedrale Santa Sophia von
Thessalonike, welche jetzt die Hauptmoschee der Stadt ist, soll an-
geblich unter Justinian vom Architekten Anthemius nach den Plänen
des Domes gleichen Namens in Constantinopel, aber in kleineren
Dimensionen mit Marmorverkleidung, erbaut worden sein.
Die Kuppelwandung enthält auf einer Fläche von 157 m2 ein
merkwürdigerweise von den Mohammedanern nicht überklekstes Mosaik-
gemälde auf Goldgrund, welches die Himmelfahrt Christi darstellt.
Nur die Figur des Heilands übertünchten die Türken mit Kalk, so
dass die Füsse des Erlösers allein sichtbar geblieben sind.
Von grosser Bedeutung ist die St. Demetrios-Kirche, die jetzige
Kassimieh Moschee, die im V. Jahrhundert auf dem Grabe des
h. Demetrios erbaut wurde und seit 1497 (Sultan Bajazid I.) zur
Moschee umgewandelt ist. Die Türken üben an dieser Stätte die höchste
Toleranz, indem sie den Besuch des Grabes den Griechen gestatten.
Noch seien die altchristlichen, jetzt ebenfalls als Moscheen dienenden
Kirchen Santi Apostoli, St. Elias und St. Bardias als sehenswerthe
Bauwerke hier erwähnt.
Das Klima von Salonich ist trotz der Nähe des Meeres im Winter
rauh, im Sommer heiss und wegen der ausgedehnten Sümpfe an der
Vardarmündung ungesund. In der warmen Jahreszeit zieht denn auch
ein grosser Theil der Bevölkerung hinaus in die Vorstadt Kalamaria,
wo überdies ein besseres Trinkwasser als in der Stadt vorhanden ist.
Obgleich Salonich die Wohlthat einer Eisenbahnverbindung ge-
niesst und in seiner Nähe der bis Köprülü, also auf eine Entfernung
von 160 km, schiffbare Vardar mündet, hat der Karawanenhandel noch
nicht aufgehört, und langen noch immer solche Handelszüge von 100
bis 120 Thieren aus Monastir und Serres in der Stadt an.
In Salonich concentrirt sich im Allgemeinen der Seehandel
Makedoniens. Denn die übrigen Rheden von der griechischen Grenze
bei Platamona bis Porto Lagos vermitteln bloss den Localhandel und
Küstenschiffahrt. Eine Ausnahme machen nur Orfano, der Hafen von
[101]Salonich.
Serres, und Kawala, über welches der grössere Theil des türkischen
Pfeifen- und Cigarettentabaks zur Ausfuhr kommt.
Der Tabakexport Kawalas erreichte 1888, in welchem Jahre die Ausfuhr
der feineren Sorten sehr erschwert war, 42.791 q im Werthe von 2·9 Millionen
Goldgulden. Doch die feinsten Sorten werden noch weiter östlich gebaut. Der
Ghiubek und die etwas mindere Sorte Sirà Pastal wachsen an der Yakà, dem
„Kragen der Berge“, das heisst an den Abhängen der Bergketten, welche sich zu
beiden Seiten des unteren Karasu ausdehnen. Ausfuhrplatz ist das unbedeutende
Salonich (Hafenquai).
Porto Lagos, und der Werth des Exportes erreicht für eine Menge, die um ein
Viertel kleiner ist, als die eben genannte Ausfuhr Kawalas, manchmal die Höhe
von mehr als 16 Millionen Goldgulden.
Orfano und Kawala zeigen das Bestreben, in directe Verbindung
mit dem Auslande zu treten und so die Vermittlung Salonichs zu um-
gehen. Aber nach dem Baue des Landes haben beide Plätze nur ein
beschränktes Hinterland. Salonich wird daher der wichtigste Handels-
platz Makedoniens bleiben, dessen werthvollstes Gebiet das reiche
und fruchtbare Thal des im Westen der Stadt mündenden Vardar
ist. Auch der Handel des wirthschaftlich bedeutenden Gebietes
[102]Das Mittelmeerbecken.
von Bitolia oder Monastir geht über Salonich. Dagegen erwarten vor
allem die Engländer, dass Nisch, der Vorort des südlichen Serbiens,
und Üsküb, wo von der makedonischen Hauptlinie die Bahn über das
Amselfeld nach Mitrowitza abzweigt, gewisse Artikel von Norden her
auf dem Landwege und nicht mehr über Salonich beziehen werden. Aus
Mähren gehen bereits Zuckersendungen über Belgrad nach beiden Städten.
Mit dieser Thatsache ist der Beweis geliefert, dass man Unrecht hatte,
wenn man von der 1888 eröffneten Verbindung der ägäischen Hafenstadt
mit Eisenbahnnetze Westeuropas sofort einen grossartigen Fortschritt
des Handels von Salonich erwartete. Die Eröffnung der Eisenbahn
Salonich-Mitrowitza hat eine Vergrösserung des Verkehres gebracht,
weil dadurch neue Gebiete dem Meere näher gebracht wurden; der
Anschluss an die serbischen Bahnen erleichtert den Zugang der
Waaren ins nördliche Makedonien von Belgrad her, und Salonich
büsst damit einen Theil der alten Vermittlerrolle ein. Man kann bei
den hohen Tarifen der dortigen Eisenbahnen auch nicht darauf
rechnen, dass man Massenartikel aus Serbien und dem nördlichen
Makedonien an die Küste bringen werde. Abgesehen von dem Per-
sonentransporte, der aber nicht viel Geld in Salonich lässt, hat also
dieser Hafen durch den Ausbau der Orientbahnen zunächst an Be-
deutung kaum gewonnen.
Eine Besserung der Verhältnisse kann nur allmälig und nach
langer Zeit erfolgen, wenn es gelingt, die Exportfähigkeit des Hinter-
landes von Salonich zu heben und damit dessen Kaufkraft zu stärken.
An die Hauptbahn müssen sich Zweiglinien anschliessen, welche die
Hauptlinie mit Frachten versorgen, denn heute noch wird der vierte
Theil des Verkehres zwischen Monastir und Salonich statt auf der
Eisenbahn mit Tragthieren auf dem Karawanenwege über Vodena
besorgt, und in grösserer Entfernung von der Bahn lässt man wegen
der schlechten Communicationsmittel den Ueberschuss der Getreide-
ernte einfach liegen.
Der Seehandel Salonichs erreichte in den letzten Jahren folgende Höhe:
| [...] |
Zu dieser Tabelle müssen wir vor Allem bemerken, dass die hohe Einfuhr-
ziffer des Jahres 1886 nicht allein die Einfuhr Makedoniens zum Verbrauche re-
präsentirt. Damals waren bei Salonich grössere Truppenmassen concentrirt, und
auch für den Bau der Eisenbahn wurden Materialien zugeführt.
Die Grundlagen des Reichthums von Makedonien sind Getreide und Tabak.
[103]Salonich.
Die Ernten Makedoniens hatten in den letzten Jahren wiederholt durch
Dürre zu leiden; nur 1887 war ein etwas glücklicheres Jahr. Aus ihm stammte
fast vollständig die Getreideausfuhr des Jahres 1888, welche eine Höhe von
454.616 q und einen Werth von 6·5 Millionen Francs erreichte. Wenn wir von
der Ausfuhr in die Türkei absehen, welche zu dem Localverkehre in weiterem
Sinne gehört, so geht das Getreide regelmässig nach England, Frankreich, Italien
und Griechenland, in manchen Jahren auch nach Deutschland und Holland.
Von Tabak wurden 1888 aus Makedonien mit Einschluss der Districte
von Kawala und Yenidjé 35.000 q im Werthe von 12·2 Millionen Francs, 1887
solcher im Werthe von 11·5 Millionen Francs ausgeführt. Die Hälfte geht
nach Oesterreich-Ungarn, grössere Mengen auch nach Russland, Rumänien und
England. Es ist dies meist Tabak von Kawala und Yenidjé. Die minderen Sorten
der Umgebung kauft die türkische Tabakregie.
In den Ebenen, welche Vardar und Struma in ihrem Unterlaufe durchfliessen,
wird ein lohnender Anbau von Baumwolle betrieben, doch ist das Product für
den einheimischen Verbrauch wichtiger als für den Export. Die aus amerikanischen
Samen gezogenen Sorten bleiben im Lande. Der Export leidet unter der Con-
currenz der mittleren Sorten von Bombay, die den hiesigen Qualitäten roulé und
battu sehr ähnlich sind. Um Salonich wurden 1888 15.000 q geerntet, davon
9000 q im Lande verarbeitet, 6000 q im Werthe von 745.000 Francs exportirt. Die
Provinz Serres exportirte im selben Jahre 14.000 q. Hauptabnehmer ist Frank-
reich, ausser diesem sind zu nennen Italien, die Türkei, Oesterreich-Ungarn. In
Salonich bestehen zwei, in Nïausta eine Baumwollspinnerei. Die in Salonich ge-
legenen haben 1888 25 % des Capitals als Reinerträgniss abgeworfen.
Bedeutend ist der Export von Producten des Waldes, er erreichte 1888,
wo nur um 50.000 Francs Bauholz ausgeführt wurde, 2,150.000 Francs. Bauholz
geht nach Smyrna, Brennholz nach Smyrna, Constantinopel und Alexandrien. Der
wichtigste Artikel dieser Gruppe sind aber Holzkohlen; ausser den 8000 t, welche
für den örtlichen Consum bestimmt waren, wurden noch 10.000 t im Werthe von
1,450.000 Francs ausgeführt. Alle diese Producte waren für die Türkei bestimmt,
gehören also zum Localhandel im weiteren Sinne.
Opium (1888 150 q im Werthe von 490.000 Francs) geht nach England,
Fenchel nach Frankreich, Italien, Oesterreich-Ungarn, gedörrte Pflaumen nach
Amerika und Deutschland.
Von den Producten des Thierreichs werden Felle ausgeführt; 1888 um
2,509.500 Francs. Von Schaffellen kamen nur etwa 80.000 Stück zur Ausfuhr, es
wurden viele im Lande verbraucht, dagegen ist die Ausfuhr von Lamm- und Kitz-
fellen bedeutend.
Die einheimische Schafwolle wird meist im Lande verarbeitet, und zwar
in Salonich und Monastir. Monastir hat eine ansehnliche Hausindustrie in Tuch-
und Schafwollstrümpfen, die bis Egypten gehen. Bei Salonich macht man grobes
Tuch und Teppiche. Der Export vermindert sich von Jahr zu Jahr und umfasste
1888 5000 q, die nach Amerika und Frankreich gingen.
In den Jahren 1887 und 1888 wurden je 3500 qCocons geerntet; der
Export geht meist nach Mailand, zum Theil auch nach Brussa, und erreichte 1888
3350 q im Werthe von 2,100.000 Francs.
Die Einfuhr von Salonich leidet naturgemäss unter den ungünstigen Ernte-
verhältnissen der letzten Jahre, sie hat in keinem derselben den Umfang erreicht,
[104]Das Mittelmeerbecken.
welchen sie in guten Jahren hatte. England, Oesterreich-Ungarn und die Türkei
sind dabei am stärksten betheiligt.
Zucker kommt hier, wie überall am ägäischen Meere, über Triest aus
Oesterreich-Ungarn; die Einfuhr übersteigt den Werth von 3 Millionen Francs. Die
Stellung von Triest als Hafen für den Zuckerhandel nach Salonich wird bedroht
zunächst von der Eisenbahnlinie über Belgrad, auf welcher, wie erwähnt, mährischer
Zucker bis Üsküb vordringt; bald dürfte ungarischer Zucker denselben Weg ein-
schlagen. Auf dem Seewege treten nun auch Marseille und Odessa in Concurrenz
mit Triest. Von Kaffee (1887 13.000 q) kommt das meiste über England und
Triest, Reis direct aus Rangoon oder über England, als Ergänzung der einhei-
mischen Ernte. Holz und Salz liefert die Türkei, Steinkohlen England. Petro-
leum wurde bisher aus Amerika und Russland gebracht, 1889 kamen in der ersten
Jahreshälfte aus Amerika keine Sendungen mehr.
Den Haupttheil der Einfuhr bilden Baumwollfabricate (um 6 Millionen
Francs), die ebenso wie Säcke und Sackleinwand überwiegend aus England stam-
men; Oesterreich-Ungarn hat den stärksten Antheil an der Einfuhr von Schafwoll-
waaren, Papier, Holzwaaren, Quinçaillerien, Goldfäden und fertigen Kleidern.
Wirkwaaren liefert Deutschland. Den Ledermarkt beherrschen Frankreich und
Griechenland, Metallwaaren kommen aus England, Seife aus der Türkei und
Griechenland, Seidenwaaren aus der Schweiz, Oel aus Griechenland und Italien,
Alkohol aus Russland. Bemerkenswerth ist, dass Belgien in einer Reihe von
Artikeln England zurückdrängt.
Der Schiffsverkehr von Salonich hatte in den letzten zwei Jahren fol-
gende Grösse:
| [...] |
Aber man darf sich durch die hohen Ziffern des Tonnenverkehres nicht
täuschen lassen. Was insbesondere die Dampfschiffahrt betrifft, so sind nur selten
ganze Schiffsladungen für diesen Platz bestimmt, ausgenommen die Fahrzeuge,
welche Petroleum, Kohle oder Reis bringen. Directe Rückfrachten kommen bei
Dampfern nur dann vor, wenn diese Getreide nach nordischen Häfen führen. Als
Echelle laufen Salonich an: der Oesterreichisch-ungarische Lloyd (thessalische Linie),
die Messageries Maritimes aus Marseille mit 2 Linien, Fraissinet \& Cie. aus Mar-
seille mit 2 Linien; die Navigazione Generale Italiana; ausser diesen 2 türkische,
1 griechische und 2 englische Unternehmungen. Die eigentlichen Frachtdampfer
sind fast ausschliesslich britischer Nationalität.
An der Spitze des Tonnenverkehres steht die französische Flagge, an sie
reihen sich die britische, die österreichisch-ungarische und die türkische Flagge.
Unter letzterer fahren auch die meisten Segelschiffe.
Wir haben schon erwähnt, dass dem Handel Salonichs durch die
Eröffnung des Bahnanschlusses nach Belgrad das nördliche Makedonien,
wenigstens für Zucker und Mehl, verloren gegangen ist. Den Handel
nach Serbien über Salonich zu leiten, ist für die allernächste Zeit auch
wenig Aussicht, da der ganze Export Serbiens nach Norden, hauptsäch-
[[105]]
A Rhede von Salonich, B Zollamt und Sanität, C Waarenhäuser, D Bahnhof, E Arsenal an der Fortezza, F Leuchtfeuer, G Gefängnissthurm, H Seebäder, I Kaserne, J Mili-
tärspital, K Volksgarten Bekjinar, L Gaswerke, M Alkohol-Fabrik, N Wollspinnerei Issaïa, O Wollspinnerei Modiano, P Fabrik, Q Vardar-Thor, R Kalemaria-Thor, S Thurm-Thor,
T Jeni Kapu-Thor, U Citadelle, V Hissarstrasse, W Via Egnatia, X griechisches Kloster Tschausse, Y Giodschick-Moschee, Z türkisches Bad Isthané. — 1 Muhidi, Alaedin-
Moschee, 2 Suksu-M. (Apostel-K.), 3 Saatly-M. (S. Elias-K.), 4 Gouverneursgebäude, 5 Justizgebäude, 6 Kassimieh-M. (S. Demetrios-K.), 7 Gemeindehaus, 8 Handelsschule, 9 Hor-
tadschi-M. (S. Georg-K), 10 Constantin-Bogen, 11 S. Athanasius-K., 12 St. Mikolaos-K., 13 italienisches Theater, 14 französisches Theater, 15 Ayos Minas-K, 16 Tulmud Tera-
Synagoge, 17 griechisches Gymnasium, 18 Aya Sophia-M., 19 Metropolitan-K., 20 Karsaly-M. (S. Bardias), 21 Bezesten (Bazar), 22 Fabrik, 23 Baugrund des österr.-ungar. Lloyd.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 14
[106]Das Mittelmeerbecken.
lich nach Oesterreich-Ungarn und Deutschland gerichtet ist, was bis zu
einem hohen Grade die Lieferung von Gegenwerthen aus diesen Län-
dern erleichtert. Russland rüstet mit allen Mitteln, Serbien auf dem
Wege über Odessa-Sulina zu einem Absatzgebiete für seine erstarkte
Industrie zu machen. Auch die Concurrenzfähigkeit Fiumes für den
Norden Serbiens ist seit Eröffnung der Eisenbahn Sunja-Brod mächtig
gestiegen. Die Tarife auf der Bahn Salonich-Belgrad müssten unge-
wöhnlich erniedrigt werden, wenn sich Salonich als Transitoplatz für
den Import nach den Donaugebieten entwickeln sollte. Ueberdies
müsste die türkische Regierung vorher in Salonich einen Zollausschluss
errichten und einen Quai bauen, der den Schiffen gestatten würde,
unmittelbar am Ufer anzulegen und die Benützung der Lichterfahr-
zeuge zu ersparen. Das letztere ist in Salonich nothwendiger als in
einem anderen Hafen, weil sich namentlich in den Sommermonaten
täglich der Imbatto, ein Südwind, erhebt, der das Ausladen oft durch
Stunden unmöglich macht. Dadurch erleiden auch die Waaren wäh-
rend des kurzen Transportes von den Schiffen in das hiesige Zollamt
viel grössere Gefahr, havarirt zu werden, als während der ganzen
übrigen Dauer der Reise. Es scheint, dass dieses vielleicht in ab-
messbarer Zeit geändert werden wird, weil der Civilliste des Sultans
eine Concession für den Bau des Hafens und eines Quais ertheilt
wurde. In den ottomanischen Häfen wird ferner den nach Sonnenunter-
gang eintreffenden Schiffen erst am nächsten Morgen die Libera pratica
ertheilt, und speciell in Salonich müssen Schiffe, welche am Freitag
Abends anlangen, 36 Stunden lang vor der Rhede liegen bleiben.
Keine Hand rührt sich, um die Ladung ans Land zu bringen, die
Bootsleute sind Juden und halten ihren Sabbath.
Gross also ist die Zahl der Schwierigkeiten, die beseitigt werden
müssen, bevor Salonich ein bedeutender Hafen werden kann.
In einem Theile der europäischen Presse, vor allem in der
deutschen, wird mit Vorliebe der Plan besprochen, an Stelle Brin-
disis Salonich zum Umschiffungshafen der europäischen Post nach
dem Süden und Osten Asiens und nach Australien zu machen. Man
lässt sich dabei von der Erwägung leiten, dass die Entfernung Salo-
nich-Port-Saïd um 205 Seemeilen kürzer sei als die Linie Brindisi-
Port-Saïd. Es wäre entschieden ein grosser Triumph der Verkehrs-
politik des Deutschen Reiches, wenn es dieser gelänge, wenigstens
einen Theil des Brief- und Personenverkehrs, der nach dem äussersten
Osten geht, von Brindisi abzudrängen und über Salonich zu leiten.
Aber die oben aufgeführten Hindernisse fallen bei dem Postverkehre, wo
[107]Salonich.
es vor allem auf Pünktlichkeit der Anschlüsse ankommt, noch stärker
ins Gewicht als bei dem Frachtenverkehre. Eines ist bereits erreicht, die
Eisenbahnanschlüsse sind für Salonich günstiger geworden, die Züge
bleiben nicht mehr an der serbischen Grenze liegen, sondern werden
direct expedirt.
Nun könnte man behaupten, dass sich auch die anderen Uebel-
stände beseitigen lassen. Gewiss! Aber ebenso sicher ist, dass auch der
Eisenbahnanschluss Salonich-Piräus in wenigen Jahren vollendet sein
wird. Es scheint uns, dass erst der Piräus berufen sein wird, für den
grossen Postverkehr die Rolle zu spielen, welche man heute Salonich
wünscht.
Nach alle dem kann man mit Sicherheit sagen, dass Salonich
für den grossen ostasiatischen Verkehr nur ein Uebergangsposten ist,
nämlich für die Zeit, bis der erste Eisenbahnzug direct Wien mit
Athen verbindet.
Die Handelswelt hat begreiflicherweise in der letzten Zeit Salonich
eine erhöhte Aufmerksamkeit zugewendet. Als Folgen derselben sehen
wir die Gründung der Banque de Salonique (Sommer 1888) durch
die Länderbank in Wien, welche den Verkehr Oesterreich-Ungarns
nach Salonich sehr gefördert hat; ferner die Errichtung einer öster-
reichisch-ungarischen Handelskammer in Salonich (30. December
1888), die einer türkischen Handelskammer und endlich die Consti-
tuirung der „Deutschen Levante-Linie“ (6. December 1889) in Ham-
burg, welche von diesem Hafen ausgehend den Piräus, Salonich, Syra,
Smyrna, Constantinopel und Braila in regelmässigen Fahrten be-
rühren soll.
Salonich ist ein wichtiger Punkt im Telegraphennetze der
Levante. Hier münden in die Linie Otranto-Vallona-Constantinopel
die Linien von Sarajevo und Belgrad her, die ab Üsküb vereinigt
sind. Salonich ist ferner durch Kabel der Eastern Telegraph Cy. mit
Constantinopel, Smyrna und Syra verbunden.
Consulate haben in Salonich folgende Staaten: Belgien, Deutsches Reich
Frankreich, Griechenland (G. C.), Grossbritannien (G. C.), Italien (C.), Nieder-
lande, Oesterreich-Ungarn (G. C.), Rumänien (G. C.), Russland (G. C.).
14*
[[108]]
Constantinopel.
Wie ein Zauberbild von bestrickender Grossartigkeit und mär-
chenhafter Pracht entsteigt Constantinopel, die „Weltmutter“ der
orientalischen Dichter, in unzähligen phantastischen Formen den Fluten
des Bosporus. Wie ein wogendes Meer überflutet die regellose Häuser-
masse weit und breit die leichtbewegten Bodenwellen des europäischen
Küstensaumes, endlos über Höhen und Niederungen ziehend. Dazwi-
schen fesseln die Grossbauten der herrlichen Moscheen mit souveräner
Gewalt den Blick des Beschauers, hunderte hoher und schlanker
Minarete ragen da und dort, einzeln oder in auffallenden Gruppen
gesondert, in die Lüfte, und die prunkvollen Marmorpaläste des Padi-
schah spiegeln die gleissenden Fronten im Meere. Dazu die herrlichen
Gärten an der Serailspitze und gleich daneben als Gegenstück die
düsteren halbverfallenen Festungsmauern von Stambul mit dem ge-
heimnissvollen Cypressenwalde im Westen, wo die Todtenstadt das
ewige Reich des Jenseits verkörpert, dann gegen Osten hin das zu
Glanz und Reichthum aufstrebende Pera, die volkreiche Frankenstadt
mit dem zu ihren Füssen lagernden Geschäftsviertel von Galata, an
dessen Quais der lebensvolle Hafenverkehr pulsirt, und darüber wie
ein Wahrzeichen aus alter Zeit die dunkle robuste Gestalt des ge-
nuesischen Thurmes, der weit hinausblickt gegen Marmara und über
die ganze vielfach gewundene Wasserstrasse des ehrwürdigen Bos-
porus, an dessen lachenden Ufern Ortschaft an Ortschaft sich drängt;
fürwahr ein majestätisches Bild der wunderbaren Metropole des
Islams, die in nahezu eintausend Moscheen das Lob Allahs singt.
Ueberrascht und entzückt empfangen wir im Anblicke des viel
besungenen und viel geschmähten Byzanz einen der mächtigsten Ein-
drücke, deren die Menschenseele fähig ist, denn hier an der classi-
schen Route der Argonauten haben nicht allein Natur und Menschen-
hand zur Schaffung einer Fülle von Reizen sich vereinigt, die unsere
Sinne umfangen, sondern es durchdringt uns an dieser Stätte mit
[109]Constantinopel.
heiligen Schauern auch der unvergängliche Geist der uralten, tief in
der griechischen Sagenwelt wurzelnden Geschichte der wechselvollen
frohen und entsetzlichen Schicksale der Bewohner dieses Erdentheiles.
Eine solche Empfindung mag Lord Byron beherrscht haben, als
er von der Schönheit der Residenzstadt am Bosporus begeistert aus-
rief: „Ich sah Athens heilige Räume, ich sah die Tempel von Ephesus
und war in Delphi, ich habe Europa durchstreift von einem Ende
zum anderen und die schönsten Länder Asiens besucht, aber nirgends
erfreute mein Auge ein Anblick, dem von Constantinopel vergleichbar.“
Am Kreuzungspunkte der Landroute von Europa nach Asien
mit der zum Schwarzen Meere führenden Wasserstrasse gelegen, nahm
Byzanz-Canstantinopel, dessen Gründung in das Jahr 658 v. Chr.
fällt, zu allen Zeiten eine vornehme commercielle und politische Stell-
lung ein; allein gerade die Früchte der natürlichen Begünstigung:
Reichthum und Macht wurden wiederholt zu Ursachen der furcht-
barsten Katastrophen für die Einwohnerschaften der Stadt, denn ab-
seits der Anziehungskraft, welche ein reiches Gemeindewesen in
Kriegszeiten ausübt, waren Bosporus und Hellespont vielbefahrene
und günstig beschaffene Wasserstrassen, über welche die ungeheueren
Kriegermassen der Darius, Xerxes und Alexander, die Heere der fana-
tischen Kreuzfahrer und einer Revanche gleich die Völkerwanderung
der Osmanen von einem Continente zum anderen hinübersetzten und
wie eine vernichtende Sturmflut allen auf ihrem Wege gelegenen
Wohnstätten den Untergang brachten. Auch die thätige Antheilnahme
Byzanz’ an den Kämpfen der Perser, Athener und Spartaner, der
Makedonier und Römer hatte zur Folge, dass die Stadt wiederholt
als Opfer zu Füssen des jeweiligen Eroberers lag und vergeblich
um Erbarmen flehte.
So kam es, dass, als Byzanz für den Gegner des Kaisers Septimus
Severus Partei ergiff, die Stadt auch vor dem „Vae victis“ der Römer er-
bebte, der Römer, deren eifrigste Verbündete die freie Stadt einst gewesen.
Nach dreijähriger heldenmüthiger Belagerung stürmten die Legionen
(196 n. Chr.) über die Breschen in die besiegte Stadt. Wie alle alten
Völker, übten auch die Römer gegen den Besiegten die härteste Grau-
samkeit. Eroberte Städte verfielen den Flammen, und die Bewohner-
schaft wurde meist ohne Rücksicht auf Alter oder Geschlecht erbar-
mungslos niedergemetzelt. Vae victis! Wehe den Besiegten!
Die Römer zerstörten Byzanz bis zu den Fundamenten und liessen
nur rauchende Trümmer zurück. Selbst der uralte Name Byzanz sollte
vernichtet bleiben, allein die Tradition siegte, und er lebte weiter.
[110]Das Mittelmeerbecken.
Zum Theile wieder aufgebaut, ward Byzanz eine römische Pro-
vinzstadt ohne besondere Bedeutung, bis Constantin der Grosse nach
Besiegung des Licinius bei Adrianopel es (330) an Stelle von Rom
zur Hauptstadt des römischen Reiches und zu seiner Residenz erhob.
Nach des Kaisers Absicht sollte Byzanz als Neu-Rom (Roma
nova) die Hauptstadt eines christlichen römischen Reiches werden,
die er deshalb um mehr als das Doppelte erweiterte und mit den
herrlichsten Bauten schmückte. Ihm zu Ehren hat die Nachwelt der
Stadt den Namen Constantinopel verliehen.
Indes wurde Neu-Rom erst unter Constantin II. (337—361) voll-
endet, aber auch die nachgefolgten Kaiser mehrten die Zierden der
überaus prächtigen Stadt, die, als Theodosius I. das römische Reich
im Jahre 395 unter seine Söhne Honorius und Arcadius theilte, die
Hauptstadt des oströmischen Reiches wurde.
In dieser Zeit erhob sich bereits unter dem Missbrauch des zu
verwerflicher Scheinheiligkeit ausgearteten Christenthums die mit der
Bezeichnung Byzantinismus gebrandmarkte Gesinnungslosigkeit zu
Macht und Einfluss. Dieser Theil der Geschichte des morgenländischen
Kaiserthums ist so traurig wie die gleichzeitige der Völker des Abend-
landes.
Unter dem prunkliebenden Kaiser Justinian (527—565), der als
zweiter Gründer von Constantinopel gilt, entartete die Bevölkerung
nach dem Vorbilde des sittenlosen Hofes, dem Theodora, die zur
Würde einer Kaiserin emporgestiegene Buhldirne, Ton und Richtung
gab. Die leidenschaftliche Parteinahme für die im Hippodrom sich
bekämpfenden Wagenlenker steigerte sich zu tödtlichem Hass und
war die Veranlassung zu dem furchtbaren Nika-Aufstand (Jänner 532),
den Belizar nach Niedermetzlung von 30.000 Menschen im Cirkus
unterdrückte. Ein grosser Theil der Stadt ging in Flammen auf, und
Justinian wäre entthront worden, wenn die Festigkeit Theodora’s ihn
nicht davor bewahrt hätte.
Unter dem Machtworte Justinian’s erhoben sich auf den Brand-
stätten bald wieder prächtige Gebäude und entstanden herrliche
Grossbauten, von welchen die berühmte Sta. Sophia und die gleich-
namige von Theodora erbaute kleinere Kirche noch gegenwärtig zu den
kostbarsten Monumenten aus der ersten Christenzeit zählen. Des Kai-
sers neuerbauter Palast und viele andere Prunkbauten sind aber in
der Zeiten Flucht verschwunden.
Während der folgenden Jahrhunderte brandete die Hochflut der
Völkerwanderung neunmal an den starken Mauern der Stadt. Das
[111]Constantinopel.
Kaiserreich eilte unterdessen dem Verfalle entgegen, und Verbrechen,
Elend, Feuersbrünste und Hungersnoth, Bürgerkriege, theologische
Streitigkeiten und Metzeleien füllen bis zur Zeit der Kreuzzüge die
Intervalle zwischen den erbitterten Angriffen der Barbaren.
Nun marschirten die gewaltigen Heere der Kreuzfahrer durch
die Stadt, die kaum mehr sich selbst und dem von Fremden über-
fluteten sowie von den Bulgaren und anderen Nachbarn bedrängten
Reiche angehörte. In dieser Verfassung fällt Constantinopel im Jahre
1203 in die Gewalt des blinden Dogen Enrico Dandolo, eines erbit-
terten Feindes der Byzantiner. Von Dandolo wird erzählt, dass, als
er 30 Jahre vorher während eines Krieges als Gesandter den Audienz-
saal des Kaisers betrat, er durch einen Hohlspiegel, welcher die
Sonnenstrahlen scharf reflectirte, ruchlos geblendet worden sei.
Neun Monate hatte die Belagerung durch 40.000 Kreuzfahrer
und 300 venetianische Galeeren gewährt, worauf die eroberte Stadt
unter furchtbarem Gemetzel der Plünderung und Zerstörung anheim-
fiel. Die meisten Prachtwerke aus den Kunstepochen Constantin’s,
Justinian’s und anderer Kaiser wurden — auch der Occident hatte
Barbaren — dabei vernichtet.
Das nun begründete lateinische Kaiserthum hatte nur eine
Lebensdauer von 57 Jahren und endigte 1261 mit der Eroberung
Constantinopels durch den kühnen Handstreich der von Strategopulos
geführten Scharen des zu Nikäe thronenden Kaisers Michael Paläologos.
Bald sollte die steigende Macht der Osmanen, deren Sultane
seit 1360 in Adrianopel residirten, mit eiserner Gewalt in das Schicksal
Constantinopels greifen. Nach einer erfolglosen Belagerung durch
Murad II. im Jahre 1422 erschien 1453 sein Sohn, der ruhmsüch-
tige Mohammed II., mit seinem ganzen Heere und starker Flotte vor
der Stadt, die nur von 8000 Mann vertheidigt war. Zuvor hatte der
Sultan die Feste Rumili Hissar am europäischen Ufer des Bosporus
erbaut, wodurch er letzteren beherrschte.
Während der 50tägigen heldenmüthigen Vertheidigung liess der
Sultan, weil der Eingang zum goldenen Horn und in das Marmara-
Meer durch eine schwere Kette gesperrt und nicht zu erzwingen war,
seine Galeeren auf einer Schleifbahn vom heutigen Top-hane über
den jetzigen Stadttheil Kassim-Pascha in das goldene Horn ziehen
und winden. Am 29. Mai fand der Hauptsturm gegen das Charisius-
Thor — dort wo der Lykus-Bach (19) die Mauern der Stadt durch-
schneidet — statt. Trotz des Muthes der Verzweiflung unterlagen die
Christen gegenüber der Tapferkeit der Janitscharen. Constantin, der
[112]Das Mittelmeerbecken.
letzte Kaiser, fiel dort im dichten Kampfgewühl, und als dann sein
Kopf dem Sultan gebracht wurde, liess er ihn an der herrlichen Säule,
die Justinian’s Kolossal-Reiterstandbild trug — ein schrecklich Rache-
bild — ausstecken. Drei Tage währte die Plünderung und fast ebenso
lang die Metzelei. Mehr als 60.000 Menschen, meist Frauen und
Kinder, ereilte das entsetzliche Los der Sclaverei.
Mohammed sicherte jenen Christen, welche in der Stadt wohnen
wollten, zwar die Freiheit des Gottesdienstes, verwandelte jedoch
gleichzeitig acht der schönsten Kirchen, darunter die Aya Sophia, in
Moscheen und bereicherte die Stadt durch grosse Bauten. Constanti-
nopel wurde nun der Hort des Islams, dem die Sultane Bajazid, Soli-
man der Glänzende, Selim II., Ahmet, Osman u. a. prächtige Tempel
weihten.
Nahezu fünf Jahrhunderte währt nun die Herrschaft der Osmanen
am goldenen Horn, eine Zeitperiode, die, wenngleich sie manchen
Blutfleck enthält, doch für die Weltstadt Constantin’s eine Epoche
ruhiger Entwicklung von einer Dauer und Stabilität bedeutet, wie
solche dort an der Stätte so vieler Gräuelscenen niemals zuvor er-
lebt worden sind.
Aber schon drängt das neuerwachte Griechenthum mächtig zu
den Pforten der Aya Sophia und fordert das kostbare Erbe der christ-
lichen Vorfahren.
Die Frage um die Zukunft von Constantinopel, der, wie Gre-
gorovius sagt, gegenwärtig geheimnissvollsten und wichtigsten aller
Städte der Erde, von deren dämonischem Fatum nicht nur das
Schicksal Athens und Griechenlands, sondern vielleicht die künftige
Gestaltung zweier Welttheile abhängig ist, wird zur Lösung aufge-
worfen.
Ein Blick auf unseren Plan von Constantinopel erleichtert uns
wesentlich die Orientirung in der ausgedehnten Stadt und deren
Nachbargebieten.
Die Hauptstadt des türkischen Reiches wird von denkenden
Türken mit dem Namen Islambol, Stadt des Islams, bezeichnet, ge-
wöhnlich aber wird sie Stambul oder Istambul genannt; allein in
topographischer Hinsicht bezieht sich dieser Name nur auf das in
Dreiecksform zur Serailspitze vorspringende, im Osten durch das gol-
dene Horn begrenzte Stadtgebiet des alten Byzanz. Die Stadt führt
auch den Namen Der-i-Seadet, die Pforte des Glücks, türkisch heisst
sie Konstantinije, griechisch Konstantinupolis und slavisch Zarigrad.
Gegen die Landseite ist Stambul durch die aus dem V. Jahr-
[[113]]
Constantinopel (mit Bosporus und Skutari).
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band 15
[114]Das Mittelmeerbecken.
hundert herstammenden Doppelmauern geschützt; zwischen diesen
und der unter Constantin I. aufgeführten Mauer befand sich das mit
dem Namen Exokionion bezeichnete Lager der gothischen Kohorten,
welchen die Sicherheit der Stadt anvertraut war.
Der südliche Theil der Mauer stützt sich an das Schloss der
sieben Thürme (Jedi Kule), wo ehemals jene fremden Gesandten ein-
geschlossen wurden, deren Staaten die Sultane den Krieg erklärten.
Heute ist zwischen den düsteren Mauern, die manche geheimnissvolle
Execution sahen, eine Industrieschule für Mädchen errichtet.
Von hier aus führt die Doppelmauer bis zum Mermer-Kule-Thurm
(Marmara-Thurm), dessen Fuss die See bespült und der die Verbin-
dung mit der zur Serailspitze führenden Seemauer herstellt.
Zwischen Stambul und dem gegenüberliegenden Galata krümmt
sich das tief eingeschnittene goldene Horn (Chrysokeras), der ehe-
malige Hafen von Byzanz. Der Name erinnert nicht nur an die Form
der Einbuchtung, sondern auch an den Reichthum ihrer Ufer. In das
goldene Horn münden an dessen äusserstem Ende die Flüsschen Cydaris
und Barbyzes, die ein grünes Thal durchziehen, in welchem sich der
beliebte Vergnügungsort „die europäischen süssen Wässer“ (Kiaat-
hane = Papierfabrik) befindet.
Die Vorstadt Galata ist mit Stambul durch zwei grossartige
Pontonbrücken verbunden, über die ein ausserordentlich lebhafter Ver-
kehr wogt. Besonders fesselnd ist das Leben auf der neuen Brücke
der Sultanin-Valide (Mutter des Sultans), wo die schönen schnell-
fahrenden Dampfer des Localverkehres anlegen, um Tausende von
Passagiere nach allen Punkten des Bosporus zu befördern.
An der Stelle von Galata lag einst die grosse Nekropole der
ersten Byzantiner; sie wurde durch die Vorstadt Sykae (Feigendorf)
verdrängt, welche Justinian erweiterte. Unter den Paläologen errangen
die Genuesen dort grossen Einfluss und dehnten Galata bis zur Spitze
des kegelförmigen Hügels aus, den der vorne erwähnte, 1348 erbaute
Galata-Thurm (Torre di Genova) als Theil der bestandenen Befesti-
gung krönt. Von der Höhe des massiven runden Thurmes ist eine der
prächtigsten Rundsichten über ganz Constantinopel zu geniessen.
Galata ist der Sitz der Handelsthätigkeit von Constantinopel; dort
sind die Börse, das Zollamt, die Bureaux des österreichisch-ungarischen
Lloyd, der französischen Messagerie und anderer Schiffahrtsgesell-
schaften. Tramway-Linien haben zur Erweiterung und Verjüngung
einiger Strassenzüge geführt und auch sonst sind die alten engen
Strassen unter dem Hauche der Civilisation vielfach verschwunden.
[115]Constantinopel.
Ein unbeschreibliches Gedränge herrscht längs der neuen Ver-
kehrsadern, wo von frühem Morgen bis zum späten Abend Menschen-
massen, allen Nationen des Ostens und Westens angehörend, sich be-
gegnen und kreuzen.
Höher hinauf am Rücken des Höhenzuges entfaltet das weit
nach Nordosten ausgreifende Pera seine amphitheatralisch aufsteigen-
den Häuserzeilen. Diese Vorstadt, in der die meist herrlichen Palais
der Botschafter liegen, ist gegenwärtig zu einem bedeutenden Platze
aufgewachsen. Die Grande Rue de Pera durchzieht die Stadt vom
Galata-Thurme an bis an ihr äusserstes Ende als belebteste und
fashionabelste Pulsader. Dort sind die elegantesten Geschäfte für
Luxusartikel, die Theater, Clubs und Hôtels; an der Perastrasse liegt
das gartenumgebene grosse kaiserliche Lyceum Galata-Serai und die
griechische und armenische Kirche. Die katholische Marienkirche und
eine katholisch-armenische Kirche liegen in der Nähe derselben Strasse.
Pera hat einige hübsche, aber kleine öffentliche Gärten und
dürfte, wenn die inmitten der Stadt noch bestehenden ausgedehnten
türkischen Friedhöfe einstens beseitigt sein werden, noch manch
schattigen Park hinzufügen.
Im Osten von Pera wurden in den letzten Jahren einige gross-
artige Militärbauten, wie: Artillerie-Kaserne, Kriegsschule, Waffen-
dépôt u. a., aufgeführt.
Nach Galata führt eine Tunnel-Drahtseilbahn herab, und besteht
auch eine Tramway-Verbindung zwischen den beiden Nachbarstädten.
Angrenzend an Pera liegen östlich die Vorstädte Top-hane mit
schönen Moscheen, dem Artilleriearsenale und Stückgiessereien, Fün-
dükly mit der Dampfschiffstation Kabatasch und weiter östlich der
prächtige Neubau des grossherrlichen Palastes Dolma-Bagdsche, un-
mittelbar an mit Treppenfluchten ausgestatteten Quais.
Das Palais von Beschiktasch (Tschiragan Serai) liegt noch
weiter ostwärts, und darüber auf den grünen Abhängen des Höhen-
zuges lagert in einem weiten bis hinab zum Tschiragan reichenden
und mit diesem durch eine Marmorbrücke verbundenen Parke Jildis
Kiosk (Sternenkiosk), die Residenz des herrschenden Sultans Abdul
Hamid II. Es ist dies eigentlich eine kleine Stadt für sich, mit zahl-
reichen den verschiedensten Zwecken des Hoflebens und des Staats-
dienstes gewidmeten Gebäuden.
Unter den zahlreichen am europäischen Ufer des Bosporus lie-
genden Ortschaften seien noch die fashionablen Sommerfrischen von
Therapia und Böjükdere ihrer reizenden Lage wegen hier erwähnt.
15*
[116]Mittelmeerbecken.
Im Westen ist an Pera die Vorstadt Kassim Pascha und an
diese Ters-hane angeschlossen. Zu letzterer gehört das am goldenen
Horn gelegene weitläufige See-Arsenal (E) und die Marine-Schule der
türkischen Flotte. Weiter nordwärts sind die Quartiere von Piri-
Pascha, Hasskiöi und Kalidschi Oglu. Gegenüber der letztgenannten
breiten sich auf der Stambul-Seite die Vorstädte Ejub und Ortak-
schilar aus.
Die Moschee von Ejub ist für den Mohammedaner die heiligste
Stätte von Stambul, denn sie deckt das Grab des Abu Ejub Khalid-
Ansari, eines Gefährten des Propheten Mohammed. Dort wird bei jeder
Thronbesteigung der Sultan mit dem Schwerte Osmans umgürtet.
Wir haben bisher von der asiatischen Küste des Bosporus nicht
gesprochen. Auch dort umsäumen dicht aneinander gereihte Ortschaften
den von malerisch bewegten Höhenzügen begleiteten Strand.
Skutari oder Üsküdar (Schild), das alte Chrysopolis (Goldstadt),
ist die bedeutendste Vorstadt Constantinopels mit ungefähr 50.000,
fast ausschliesslich mohammedanischen Einwohnern. Mit ihren zahl-
reichen Minareten, den grossartigen Militärbauten am Strande und den
amphitheatralisch am Abhange der Bulgurlu-Höhe aufgebauten Häuser-
massen bietet Skutari einen fesselnden Anblick. Die Stadt hat präch-
tige Moscheen, unter welchen die Büjük Dschami (R) mit einer
schönen Fontaine, die Yeni Dschami (der Sultanin Valide) (S), welche
durch zwei Minarets mit Doppelgallerien auffällt, sehenswerth sind.
Im Süden der Stadt, in welcher das Erhabene mit dem Dürf-
tigen um den Vorrang streitet, liegt in einem ausgedehnten Cypressen-
walde der grossartige Friedhof von Skutari, der grösste des Orients,
mit zahllosen Grabsteinen, deren Alter weit bis in die byzantische
Zeit zurückreicht. Sultan Mahmud wagte es, in dieser Nekropole ein
Grabmal für sein Lieblingspferd zu errichten. Eines der interessante-
sten, der Stadt Skutari vorgelagerten Objecte ist der auf einer kleinen
Felsenklippe erbaute Leander-Thurm (Kis Kalessi, Mädchenthurm),
der gegenwärtig ein Leuchtfeuer trägt und als Signalstation ver-
wendet wird.
Der Name Leander ist von den Franken willkürlich gewählt worden, da ja
der Schauplatz der Sage von Hero und Leander am Hellespont zwischen Sectos
und Abydos gelegen war. Der Thurm hat eine uralte Geschichte. Im Alterthume
hiess die Klippe Damalis, ein althellenischer Name, der an die zu Skutari ver-
storbene Gemahlin des gegen Philipp von Makedonien entsendeten [athenischen] Feld-
herrn Chares erinnert. Dieser errichtete seiner Gemahlin auf der Klippe ein Mauso-
leum. Die Byzantiner schmückten dasselbe mit einer hohen Säule, die auf Damalis
(Kalb) anspielend das Bildniss einer jungen Kuh trug. Das Denkmal sollte gleich-
[117]Constantinopel.
zeitig die mit der Gründung von Byzanz verknüpfte Sage von dem Raub der
Europa, die hier von dem als Stier erscheinenden Zeus über den Bosporus ge-
tragen wurde, versinnlichen. Auch wird damit die Sage von der Gründung von
Byzanz verknüpft, indem angeblich die in eine Kuh verwandelte Io im Thal des
Barbyses die Keroessa, nachherige Mutter des Byzas, des Gründers der Stadt,
gebar. Der türkische Name Mädchenthurm ist dagegen mit einer anderen aller-
liebsten Sage in Verbindung gebracht.
In byzantinischer Zeit war am Fusse des Leanderthurmes die
schwere Kette angelegt, welche zur Spitze Serai Burnu und von dort
zum jetzigen Zollamt in Galata führte und den Bosporus und das
goldene Horn für die Schiffahrt absperrte.
Südlich von Skutari ist noch die bedeutende Vorstadt Kadikiöi
(Dorf des Richters) zu nennen, welche nach zwei verheerenden Feuers-
brünsten neu aufgebaut, einen durchaus europäischen Charakter er-
halten hat, wie sie denn auch fast nur von Franken aller Nationen
bewohnt ist.
An der Stelle von Kadikiöi lag das 18 Jahre vor der Gründung
von Byzanz entstandene Chalkedon, die älteste Niederlassung am
Bosporus. Kadikiöi steht mit Constantinopel im regsten Dampferver-
kehr, und viele reiche Kaufleute haben in der mit breiten Strassen
und schönen Gärten gezierten Stadt ein trauliches Heim aufgeschlagen.
Kadikiöi ist an Zahl der Kirchen und christlichen Bildungs-
anstalten beachtenswerth, es besitzt unter anderen auch ein griechi-
sches Lyceum, das an der Stätte der alten Basilika der St. Euphemia,
wo 451 und 507 Kirchenconcilien abgehalten wurden, liegen soll.
Noch eine Dependenz von Constantinopel sei hier erwähnt; es
ist die im Marmara-Meere gelegene Gruppe der hohen und maleri-
schen Prinzen-Inseln, die in byzantinischer Zeit der vielen dort
bestandenen griechischen Klöster wegen auch Pfaffen-Inseln (Papa-
donisia) hiessen. Prinzessinnen- oder Prinzen-Inseln nannte man sie,
weil die Eilande ein Verbannungsort für byzantinische Kaiser und
Kaiserinnen (Irene, Regentin von 780 bis 803), Prinzen und Prin-
zessinnen war. Prinkipo, die grösste und höchste der Inseln, ist ein
beliebter Ausflugsort der griechischen Bevölkerung von Constantinopel
und besitzt bei herrlichem Klima, reicher Vegetation und reizenden
Villen auch vielbesuchte Seebäder.
Nach der Rundschau, die wir in der unvergleichlich schönen
Umgebung von Constantinopel gehalten haben, sei nun auch dem ehr-
würdigen Stambul und seinen herrlichen Bauwerken ein Raum in
der Schilderung eingeräumt.
Die weltberühmte Aja Sophia, der uralte mit Recht bewunderte
[118]Das Mittelmeerbecken.
Kunstbau, fällt dem zu Schiff von Westen ankommenden Beschauer
unwillkürlich auf. Mit vier hohen Minarets geschmückt, ist die Mo-
schee auf einem dominirenden Punkte jenes Höhenrückens aufgeführt,
den auch die alten grossherrlichen, an geschichtlichen Traditionen
reichen Marmorpaläste des Top Kapu-Serai und andere staatliche
Bauten krönen. Südwestlich von Aja Sophia und von dieser überragt,
liegt der durch sechs Minarets schon von weiter Ferne erkennbare
Prachtbau der Moschee Ahmedieh des Sultans Ahmed I., und in
derselben Frontrichtung gewahrt man noch zwei Moscheen, von wel-
cher jene knapp am Eisenbahngeleise die kleine Aja Sophia (Küt-
schük Aja Sophia) ist.
Es ist ein überaus wirkungsvolles Bild, das dieser mit so vielen
bewunderungswürdigen Bauten reich ausgestattete, von tausendjährigem
Gemäuer eingefasste Stadttheil mit seinen Gärten und den dunklen
Nadeln seiner Cypressenhaine bietet. Sein Gebiet war zu byzantini-
scher Zeit der prunkvollste Theil der Kaiserstadt; dort lag (nächst
der jetzigen Ahmed-Moschee) das aus dem II. Jahrhunderte stam-
mende, von Constantin vollendete arkadengezierte Hippodrom (gegen-
wärtig türkisch: Atmeidan, Rossplatz), das bis in das XIII. Jahr-
hundert der Centralpunkt des byzantinischen Hof- und Volkslebens
war. Gegenwärtig ist von der stolzen Pracht des Bauwerkes nichts
anderes übrig geblieben als drei Denksäulen, die zu den kostbarsten
Erinnerungen an die Glanzperiode der ersten Kaiserzeit gezählt wer-
den müssen. Constantin und andere Kaiser hatten nämlich im Hippo-
drom mehrere Säulen errichtet, die aus allen Provinzen herbeige-
schleppt werden mussten. So ward dort auch der goldene Dreifuss,
ein Siegesdenkmal aus dem Apollon-Tempel von Delphi, aufgestellt,
dessen ehernes Postament, die sogenannte Schlangensäule, heute noch
erhalten ist. Am Atmeidan steht noch der kahle, einst mit Relief-
platten von vergoldeter Bronze belegt gewesene Obelisk, den die
Kreuzfahrer seines Schmuckes beraubten, und der 30 m hohe Obelisk
Theodosius des Grossen, den dieser Kaiser aus Aegypten überführen
und im Jahre 390 aufstellen liess. Die wohlerhaltenen Hieroglyphen
des Obelisken weisen nach, dass letzterer um das Jahr 1600 v. Chr.
durch Pharao Thutmes III. zu Heliopolis errichtet worden war.
Constantin erbaute in dem vorgenannten Stadttheile das prächtige
Hauptforum (Forum Constantini), das unter andern eine 53 m hohe
Porphyrsäule, deren Ueberreste unter der Bezeichnung „verbrannte
Säule“ noch heute bestehen, zierte. Unter dem aus dem Apollo-
Tempel zu Rom stammenden Denkmale soll das alte trojanische Pal-
[119]Constantinopel.
ladium, das der Kaiser gleichfalls aus Rom herbeischaffen liess, als
schützender Talisman der Stadt, begraben sein. Constantin erbaute
(325), als er noch nicht den christlichen Glauben angenommen hatte,
die ursprüngliche, der heiligen Weisheit (Hagia Sophia) geweihte
Kirche und errichtete gleichfalls dem Frieden (Irene) — noch heute
bestehend — und der Auferstehung (Anastasia) geweihte Tempel.
Von demselben Kaiser wird berichtet, dass die Siebenzahl für ihn einen
mystischen Werth besessen habe; er wollte für die Sonne gelten, um welche die sieben
Planeten sich bewegen. Sein Standbild auf der vorne erwähnten Porphyrsäule
stellte ihn als Apollo-Sol mit der Inschrift „Soli invicto“ (der unbesiegten Sonne)
dar; er hatte sieben hohe Würdenträger aus Rom mitgebracht, und die von ihm
errichtete Befestigungsmauer erhielt sieben Thore. In seinem Palaste war die
Wache in sieben Abtheilungen gesondert, und sieben Lampen zierten den Haupt-
saal desselben. Ebenso musste Neu-Rom gleich wie die ewige Stadt an der Tiber
sieben Hügel haben, wenn es auch etwas schwer fällt, dieselben heute heraus-
zufinden.
Zu den noch heute erhaltenen constantinischen Bauten zählen
auch die grossartigen Cisternen, worunter die nächst der heutigen
Sophien-Moschee befindliche Cisterne der 1001 Säulen (Binbirdirek)
die bedeutendste ist.
Byzanz war frühzeitig ein Hort des Christenthums gewesen, denn
dort erschien der Apostel Andreas und predigte das Evangelium. Die
von ihm begründete Christengemeinde war der Kern, aus dem das
spätere christliche Leben dort zu herrlicher Aeusserung sich entfaltete.
Die Stadt besass denn auch eine grosse Zahl schöner Kirchen,
und die Kaiser wetteiferten, selbe durch prächtige Bauten zu erhöhen.
Die Aja Sophia Justinian’s blieb aber unerreicht. Dieser Kaiser wollte,
dass dieses Bauwerk das dauerhafteste und prächtigste aller Zeiten
wäre. Die Schätze des ganzen Reiches wurden zur Ausschmückung
geplündert. Dem Dianentempel von Ephesos, den Tempeln von Athen,
Delos, Kyzikos, Heliopolis u. a. entnahm man Kostbarkeiten, den
Riesenbau zu schmücken, dessen kühn gedachtes neues System von
imposanten, völlig schwebenden Kuppeln ihn zu einem Meisterwerk
aller Zeiten erhebt und den Ruhm seiner Erbauer (Anthemius von
Tralles, Isidor von Milet und Ignatius) sichert.
Unbeschreiblich war die Pracht und der verschwenderische
Reichthum an Kostbarkeiten im Innern des Tempels, bei dessen Ein-
weihung (26. December 537) Justinian mit Stolz ausrufen durfte:
„Salomon, ich habe dich besiegt.“
Während der Plünderung Constantinopels durch die Türken war
die St. Sophia, in welcher Massen von Flüchtigen jeden Geschlechtes
[120]Das Mittelmeerbecken.
und Standes Schutz gesucht hatten, der Schauplatz einer grässlichen,
durch die entmenschte Soldateska verbrochenen Metzelei. Dethier tritt
aber der Darstellung einiger Historiker entgegen, welche erzählen,
Mohammed II. selbst sei zu Pferde in den Münster bis zum Hauptaltar
eingedrungen, dort vom Pferde gesprungen und habe ausgerufen: „Es
gibt keinen Gott als Gott und Mohammed ist sein Prophet!“ womit
er das Signal zum Niedermetzeln und Plündern gegeben.
Von den frommen Legenden, die über die Aja Sophia berichtet
werden, hat besonders eine beigetragen, die Aufmerksamkeit der Chri-
stenwelt dem herrlichen Gotteshause lebhaft zu erhalten. Diese Le-
gende berichtet, dass beim Eindringen der Türken in dasselbe der
gerade die Messe lesende Priester mit dem heiligen Buche durch
eine geheime Thüre in der Mauer verschwand, und den gestörten
Gottesdienst fortzusetzen einst wieder erscheinen wird.
Mohammed II. verwandelte die Aja Sophia und sieben andere
Kirchen in Klissa-Dschami (in Moscheen verwandelte Kirchen), und
erst Murad III. setzte auf der Spitze der Kuppel einen Halbmond
von so brutaler Grösse auf, dass dessen Vergoldung allein 50.000
Ducaten gekostet haben soll.
Eines der reizendsten Denkmäler türkischer Kunst ist in dem
östlich der Sophienmoschee gelegenen und 1728 erbauten Brunnen
Ahmed III. verkörpert. Eine Copie dieses Bijous schmückte 1873 den
Park der Wiener Weltausstellung.
Die Zahl der Moscheen in Stambul und seinen Vororten wird
mit 891 angegeben, an grossen Dschamis zählt man 227, von wel-
chen 13 als die kaiserlichen hervorgehoben werden. Zu diesen ge-
hören: die Sta. Sophia, Ahmedieh, Süleimanieh, Osmanieh, Mehe-
medieh, Bajazidieh, Selimieh, Jeni Dschami, Laleli, Shah-zade,
Mahmudieh und Dschehangir in Top-hane, Ejub und Abdul-Hamid
in Skutari. Ausserdem bestehen 260 mohammedanische Klöster (Tekke)
und Klausen, 177 mit den Moscheen verbundene theologische Schulen
(Medresse) und 368 türkische Elementarschulen. 188 höhere türki-
sche und christliche Lehranstalten sind geöffnet.
Auch die Zahl der christlichen Kirchen ist hervorragend. Es
bestehen deren 143, wovon 60 dem griechisch-orthodoxen, 38 dem
armenisch-gregorianischen, 12 dem armenisch-katholischen, 26 dem
römisch-katholischen, 5 dem protestantischen Gottesdienste ge-
weiht sind.
Sehenswerth ist der Platz des Seriaskierats (Kriegsministerium),
auf dem der hohe Seriaskier-Thurm sich erhebt und als höchster
[[121]]
Constantinopel (Serailspitze und goldenes Horn).
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 16
[122]Das Mittelmeerbecken.
Punkt Stambuls ein grossartig ausgedehntes Panorama über die ganze
Umgebung bietet.
Interessant sind die Bazare, worunter der sogenannte grosse
Bazar mit seinem unentwirrbaren Labyrinth von gedeckten engen
Gassen, Durchgängen, Hallen und Kreuzwegen, in welchen Geschäft
an Geschäft sich reiht und die Schätze der glänzenden und koketten
orientalischen Industrie zur Schau liegen, ein dankbarer Anziehungs-
punkt für jeden Fremden ist.
Die navigatorischen Verhältnisse im Bosporus sind im Allge-
meinen günstig, nur erfordert die aus dem Schwarzen Meere ziehende
scharfe Strömung einen hohen Grad von Vorsicht beim Ein- und Aus-
laufen. Für die grossen Passagierdampfer bestehen in dem gut ge-
schützten Hafen eine Zahl von Ankerbojen, die einzige Vorkehrung,
welche Constantinopel dem Handelsverkehre überhaupt bietet. Bei
aller Pracht und Herrlichkeit, welche den wunderbaren Hafen um-
geben, vermisst man die Sorgfalt für die Hauptquelle alles höheren
Reichthums, den Seehandel.
Wie das echt orientalische Strassenleben von Constantinopel durch
die malerischen Trachten seiner allen Nationen angehörenden Einwohner,
das lärmende Getriebe der Händler, die vermummten Gestalten der Frauen-
welt und hundert andere fremdartige Erscheinungen fesselt, ebenso
überrascht das Wasserleben des Hafens durch seinen rasch pulsirenden
Verkehr. Die flinken scharfgebauten Kaiks sind hier als Ueberbleibsel
uralter Zeiten zwar noch zahlreich in Verwendung, allein der Local-
verkehr der Dampfer entzieht denselben immer mehr Gebiete der
Thätigkeit.
Nach der amtlichen Statistik des Jahres 1885 zählt Constanti-
nopel 873.565 Einwohner, darunter 384.910 Mohammedaner, 152.741
Griechen, 149.590 gregorianische und 6442 katholische Armenier,
4377 Bulgaren, 44.361 Juden, 819 Protestanten, 1082 sogenannte
Lateiner (Katholiken als türkische Unterthanen) und 129.243 fremde
Unterthanen, unter letzteren ungefähr 50.000 griechische. Constanti-
nopel ist Sitz der türkischen Regierung und der Centralbehörden des
Reiches, des Hauptes der mohammedanischen Geistlichkeit Scheich-ül-
Islam, eines römisch-katholischen Erzbischofes, zugleich apostolischen
Vicars, eines griechischen und armenischen Patriarchen, eines arme-
nisch-katholischen Patriarchen und eines Grossrabbiners. Aus der
Statistik von Constantinopel ist noch erwähnenswerth, dass die Stadt
169 öffentliche Bäder, 54 Druckereien, 45 mohammedanische Biblio-
theken mit mehr als 70.000 meist ungedruckten Werken arabischer,
[123]Constantinopel.
persischer und türkischer Autoren besitzt. Unter den 71.000 Häusern
ist nur eine Minderzahl für mehr als je eine Familie bestimmt.
Gross ist die Zahl von Aussprüchen, in welchen heidnische,
christliche und mohammedanische Historiker, Geographen, Redner und
Dichter die selten günstige Handelslage Constantinopels gefeiert haben.
Man nennt die Stadt mit Recht „die auf sieben Bergen thronende
Beherrscherin Asiens und Europas“, „die Herrin der beiden Continente
und Meere“. Aber man erfährt durch diese schwungvollen Worte
doch nicht mehr, als ein ganz oberflächlicher Blick auf die
Karte zeigt.
Erst vor wenig mehr als einem Jahre wurde die Eisenbahnlinie
Belgrad-Constantinopel vollendet, welche einem uralten Handelswege
und Kriegspfade folgt. Dieser zweigt bei Belgrad von der Donau-
strasse ab, folgt einem merkwürdigen Systeme von Flussthälern,
Bergpässen und Ebenen. Längst der Morava und Nischava, des Isker
und der Maritza führt der Weg nach Adrianopel, dem Mittelpunkte
zahlreicher Strassen. Hier wendet sich die Maritza nach Süden, aber
eine einladende Bodensenkung gestattet der Eisenbahn einen leichten,
wenn auch gekrümmten Zugang nach dem südöstlich gelegenen Con-
stantinopel. Und jenseits des Bosporus liegt in Skutari, das zum
Polizeibezirke Constantinopel gehört, die Kopfstation der 93 km
langen Eisenbahn Skutari-Ismid, welche gegenwärtig durch deutsches
Capital und deutsche Ingenieure um mehr als 300 km nach Süd-
ost bis Angora verlängert wird. Diese Strecke ist ein wichtiger Theil
jener seit Jahrtausenden benützten Karawanenstrasse, welche in ihrem
Verlaufe sich in zwei Aeste spaltet. Der eine führt nach Syrien und
Aegypten und hat als „Hadj“, das ist als Pilgerstrasse nach Mekka,
noch heute Bedeutung für die Millionen der Mohammedaner Klein-
asiens. Als Handelsweg kann sie mit der Seeverbindung von Con-
stantinopel nach Syrien umsoweniger in Wettbewerb treten, als dort
die grösseren Küstenplätze gute Verkehrswege nach den Stapelplätzen
des Innern besitzen. Aber von Angora nach Südosten fortschreitend
kommt man in die fruchtbaren Länder des Euphrat und Tigris, die
heute wegen unzureichender Verbindung dem Handelseinflusse Con-
stantinopels mehr und mehr entrückt werden und über Bassorah und
den persischen Meerbusen mit Europa in directem Verkehr stehen.
Wir sehen also auf zwei alten Völkerstrassen den Verkehr neu-
belebt durch das moderne Mittel der Eisenbahnen. Die Via Egnatia,
der dritte alte Zugang zu Lande nach Constantinopel, welcher
im südlichen Theile des adriatischen Meeres, in Durazzo, dem alten
16*
[124]Das Mittelmeerbecken.
Dyrrhachium, begann, bei Salonich das ägäische Meer erreichte und
längs der Küste bis Byzanz führte, wird kaum je wieder belebt werden,
denn Rom und Italien haben heute für die Balkanhalbinsel nicht mehr
die Bedeutung wie in den Tagen des römischen Imperiums, und
der Handel folgt der Richtung Nord-Süd und nicht West-Ost. Aber
auf einer Karte der telegraphischen Verbindungen Constantinopels
tritt sie nicht minder scharf hervor wie die beiden anderen Ver-
kehrswege.
Bei Beschreibung der zahlreichen Seeverbindungen Constanti-
nopels können wir uns viel kürzer fassen. Zunächst müssen wir her-
vorheben, dass Constantinopel für alle minder werthvollen Güter in
der Donaustrasse über Sulina eine billige Verbindung mit dem Herzen
Europas besitzt.
Die Getreidemengen Südrusslands, die dort in zahlreichen
Häfen, vorab in Odessa, gesammelt werden, haben keinen billigeren
Weg nach Westeuropa, als den durch die Strasse von Constantinopel.
Derselben Richtung folgt der Petroleumexport aus dem Kaukasus.
Die fruchtbaren Landschaften an der Nordküste Kleinasiens er-
warten nur gute Verbindungen mit ihrem Hinterlande, und sie werden
dem Handel Constantinopels reichliche Beschäftigung geben.
Ja Trapezunt, das am Schwarzen Meere so günstig für den Verkehr
mit Persien gelegen ist, braucht sogar dringend eine Verbesserung des
alten Karawanenweges nach Täbris, sonst geht sein Handel mit Persien
und dadurch auch der Constantinopels an Bushir am persischen Meer-
busen verloren. Auf die Seeverbindung Constantinopels mit dem
Westen und Süden des Näheren einzugehen, ist wohl nicht noth-
wendig, um zu verstehen, woher „der strahlende Kranz“ stammt, der
Constantinopel durch Jahrhunderte und unter so verschiedenen Ge-
bietern als einen Mittelpunkt des Handels erscheinen lässt.
In unseren Tagen ist viel von diesem Glanze geschwunden;
vieles durch die Schuld der indolenten Türken, das meiste aber durch
politische Umwälzungen und die geänderten Verkehrsverhältnisse. Wohl
liegt die Stadt noch immer an einer der wichtigsten Handelsstrassen;
gegen 20.000 Schiffe mit fast 11 Millionen Tons belebten 1888 seinen
Hafen, aber nur ein kleiner Theil derselben diente seinem Handel. Constan-
tinopel ist nicht mehr der Angelpunkt für den Verkekr zweier Welt-
theile; es hat keine nennenswerthe Industrie; es ist nicht mehr der
Stapelplatz für die ganze Balkanhalbinsel und die gesammte ausser-
europäische Türkei, es beherrscht nicht mehr ausschliesslich den Ver-
kehr nach dem wichtigsten Theile Persiens. Neben Bushir, über
[125]Constantinopel.
welches meist englische Waaren nach Persien gelangen, gewinnt die
Einfuhr Russlands durch Kaukasien und über das kaspische Meer stets
höhere Bedeutung. Russlands Handel mit Persien wird von einem
niedrigen Rubelcourse und von guten Strassen, die sich an die Bahn
Batum-Baku anschliessen, begünstigt. Centralasien steht ganz unter
russischer Herrschaft. Die Grosshandlungshäuser, welche das Geschäft
mit Persien und Centralasien pflegten und zwischen den Fabrikanten
Constantinopel (Palast von Dolma Bagdsche).
Europas und den Kaufleuten dieser Länder vermittelten, sind in den
letzten Jahren allmälig aus Constantinopel verschwunden.
Der Handel des türkischen Reiches selbst ist gegenwärtig de-
centralisirt.
Die Häfen Salonich, Smyrna, Mersina, Beirut und andere haben
sich von der Vermittlung Constantinopels befreit, und nur die Plätze
des Schwarzen Meeres versorgen sich, wenigstens zum grösseren Theile,
noch von hier aus, weil noch in einigen von ihnen Filialen beden-
tender constantinopler Firmen bestehen.
Durch die grossen Verluste, welche die Türkei 1878 infolge des
für sie unglücklichen Krieges mit Russland erlitten hatte, musste natur-
[126]Das Mittelmeerbecken.
gemäss auch Constantinopels Handelsbedeutung sinken, und schon 1885
erlitt diese einen neuen Stoss, indem damals Ostrumelien thatsächlich
aus einer autonomen Provinz, welche innerhalb der Zollgrenze des
türkischen Reiches lag, ein Theil des Vasallenfürstenthums Bulgarien
wurde. Im September 1885 brach in Ostrumelien der Aufstand aus;
von da an waren die Verbindungen und alle Beziehungen mit dieser
Provinz unterbrochen, nach welcher etwa 30 % des gesammten in
Constantinopel eingeführten Waarenquantums gegangen waren. Nicht nur
die Bestellungen, auch die Zahlungen seitens der rumelischen Kunden
blieben vollständig aus, und wegen der Zollschwierigkeiten errichteten
die grossen Firmen Constantinopels für Baumwollgarne Waarenhäuser
in Philippopel.
Als dann im Februar 1886 der Verkehr mit Ostrumelien wieder
eröffnet wurde und man in Constantinopel auf die Erneuerung der
alten geschäftlichen Beziehungen wartete, da traf die überraschende
Nachricht ein, die bulgarische Regierung habe an der Grenze von
Ostrumelien einen Zollcordon errichtet. Sie verlangte von Waaren,
welche schon bei der Einfuhr in die Türkei den dort gesetzlichen
Einfuhrzoll von 8 % vom Werthe erlegt hatten, bei ihrem Eintritte nach
Ostrumelien neuerdings die Erlegung eines Zolles von 8 % ad valorem.
Im April 1886 wurden die Handelsbeziehungen der Türkei und
Ostrumeliens geordnet; aber Ostrumelien blieb für die Türkei Zoll-
ausland.
Die Vollendung der im Bau begriffenen Eisenbahn Jamboli-
Burgas (Fortsetzung der Linie Tirnova-Semenli-Jamboli) wird Ost-
rumelien auch für den Verkehr nach dem Süden von der Türkei ganz
unabhängig machen und zunächst das türkische Dedeagatsch schä-
digen. Dieses liegt im Osten der Mündung der Maritza ins ägäische
Meer, ist Ende einer Zweigbahn von Adrianopel her und daher Ex-
portplatz für ostrumelisches Getreide.
Auch die Stellung Constantinopels als vermittelnden Platzes für
Ostrumelien dürfte durch die neue Bahnlinie geschwächt werden.
Einen neuen Aufschwung kann Constantinopol nur nehmen, wenn
die Communicationsmittel Kleinasiens verbessert und damit neue Ver-
kehrsgebiete dem Welthandel erschlossen werden.
Die Vollendung des Eisenbahnanschlusses nach Belgrad hat den
Handel Constantinopels bis jetzt nur indirect gefördert, indem sich
dadurch der Zuzug von Reisenden bedeutend gehoben hat. Aber die
Tarife sind auf dieser Bahn zu hoch; Constantinopel kann daher als
Importplatz gegen die Provenienzen aus dem Norden nicht weit hinein
[127]Constantinopel.
aufkommen, wenn man auch zugeben muss, dass die Gesellschaft der
Orientbahnen Constantinopel gegenüber Salonich begünstigt.
Auch müsste Constantinopel als Hafen billiger werden; die
Schiffahrtsabgaben sind zu hoch, die Schiffe können nicht am Ufer
anlegen, und müssen sich der Lichterboote bedienen. Die Hamals
(Lastträger) gestatten nicht, dass man den Dampfkrahn der Eisenbahn-
station an der Serailspitze benütze.
In der Einfuhr Constantinopels spielen Getreide und Mehl eine grosse
Rolle. Weizen wird ihm von allen Seiten zugeführt, hauptsächlich aber aus Russ-
land und Ostrumelien. In den letzten Jahren dominirte Russland; das Bild ändert
sich aber sofort, wenn Eis die Schiffahrt in den russischen Häfen schliesst.
Reis bringt seit zwei Jahren eine arabische Firma direct aus Bombay und
Saïgon und hat darin ein Monopol erreicht. Zufuhren von indischem Reis 1888
96.000, 1887 88.800 Säcke.
Von Zucker wurden 1888 139.000 q eingeführt, das sind um 40.000 q
weniger als die mittlere Einfuhr der Vorjahre, weil die Kaufkraft der Bezirke
Kleinasiens, welche sich über Constantinopel versorgen, durch Missernten gesunken
ist. Auch die Hauptstadt consumirt jetzt weniger. Von der obigen Einfuhrziffer
des Jahres 1888 entfallen auf Oesterreich (Pilé) 80.626 q, auf Russland (Sand-
zucker) 30.343 q, auf Frankreich (Pilé) 21.054 q, auf Aegypten (Rohrzucker) 5585 q.
Seit dem Anfange der Siebzigerjahre beherrschte Oesterreich über Triest den
Zuckerhandel Constantinopels. Jetzt muss es das vermehrte Angebot von vier Con-
currenten durch eine ausgiebige Herabsetzung des Preises abwehren. Eine neue
Concurrenz droht Triest und Constantinopel von Ungarn, das seinen Zucker mit
der Bahn über Belgrad nach Rumelien zu schicken versucht.
Kaffee kommt seit zwei Jahren direct aus Rio Janeiro, die Ankünfte aus
Triest und Marseille sind daher kleiner als früher.
Neben den Colonialwaaren bilden die Gegenstände der Textilindustrie
den wichtigsten Theil des Importes. In Baumwollgarnen, in rohen, gebleichten
und bedruckten Kattunen beherrscht England den Markt, neben ihm in feinster
bedruckter Waare der Elsass und Frankreich, Frankreich auch in buntgewebten
Baumwollstoffen (Toile de Vichy), welche zur Anfertigung von Feredsches (Frauen-
mäntel) für die ärmere Bevölkerung dienen. In Flanellen, Strumpf- und Wirkwaaren
dominirt Deutschland, Tücher kommen aus England, Deutschland und Oesterreich
(Bielitz), bedruckte Wollstoffe aus Oesterreich, Leinenwaaren und Jutestoffe über-
wiegend aus England, Seidenwaaren aus Deutschland und Frankreich und Italien.
Von einzelnen Artikeln verdienen hervorgehoben zu werden Shawls für den Hals
und lange Shawls als Leibbinden (Kuschak), welche meist aus Oesterreich und
Deutschland bezogen werden, und Fez und fertige Kleider aus Oesterreich.
An der Einfuhr des Eisens sind England, Belgien und Schweden betheiligt.
In diesem Artikel hat Constantinopel durch die Zollgrenze gegen Ostrumelien einen
grossen Theil seiner dortigen Clientel verloren. Stahl kommt nur aus Oesterreich und
Deutschland (1888 4600 Kisten), Zinn und Schwarzblech fast ausschliesslich
aus England. In die Einfuhr von Werkzeugen, Schlosserwaaren, Haus- und
Küchengeräthen theilen sich Deutschland, Belgien, Frankreich, England und
Oesterreich.
[128]Das Mittelmeerbecken.
In Glas haben Belgien und Lothringen eine bedeutende Stellung, der
Glasimport aus Böhmen (1888 5200 q) ist im Rückgange.
Porzellan schickten Oesterreich, Deutschland und Frankreich, Steingut
Deutschland und Belgien, Thonwaaren Böhmen.
Von Bier wurden 1888 8000—9000 hl über Triest eingeführt, meistens
österreichischer Erzeugung; von Flaschenbieren kommt schon viel aus Deutschland.
Die constante Verschlechterung der österreichischen Zündhölzchen kommt
der Einfuhr fremder Waare zu statten.
In den meisten Sorten des Papiers steht Oesterreich noch in erster Linie,
nur Cigarettenpapier, an dessen Import früher Oesterreich in hervorragender
Weise betheiligt war, ist jetzt zu neun Zehnteln in Händen Frankreichs, und
Strohpapier liefern jetzt die Italiener.
Holz kommt aus Anatolien und vom Auslande über Galatz aus Oesterreich
und Rumänien, Russland erscheint nicht immer auf dem Markte.
Wir schliessen die Reihe der Einfuhrartikel mit Steinkohlen, welche bis
auf die Zufuhren aus den staatlichen Lignitbauen von Bender Eregli am Schwarzen
Meere aus England kommen. Zufuhr 1888 8·2 Millionen q, davon 5 Millionen q
bestimmt für die Häfen des Schwarzen Meeres.
Von der kleinen Reihe der Ausfuhrartikel sind Erzeugnisse der Industrie
nur Teppiche. Jährlich gehen etwa 160.000 Stück im Werthe von 250.000 Livres
turques nach England und Amerika, ferner nach Oesterreich und Deutschland. Sie
kommen aus Kleinasien, dann aus Turkestan, Persien und Afghanistan. Die Zoll
behörden fördern diesen Handel in jeder Beziehung.
Der wichtigste Ausfuhrartikel dieses Marktes ist Mohair, das Haar der
Angoraziege, welches England, die Union und Russland verbrauchen. Dann folgt
Schafwolle 1888/89 7·4 Millionen kg, das sind ungefähr 43 % des Gesammt-
exportes der Türkei. Steigende Bedeutung erlangen Lamm- und Schaffelle.
Für Dragant-Gummi war Constantinopel einst das Centrum des Handels,
jetzt wird derselbe zum grossen Theile von Bagdad, Beirut und Mersina direct ver-
schifft. Von Kreuzbeeren werden 80.000—90.000 kg versendet, von Opium
1887/88 nach einer guten Ernte in Kleinasien 157.500 kg, meist für die Union
bestimmt.
Von untergeordneter Bedeutung in Bezug auf die Werthsummen, aber
doch nennenswerth wegen der localen Eigenart sind noch Stickereien, Fili-
granarbeiten und Rosenöl.
Die Türken geben über den Handel Constantinopels zur See keine amt-
liche Statistik heraus, die Finanzbehörde erstattet nur Ausweise über den Verkehr
sämmtlicher Häfen der Türkei zusammengefasst. Alle Angaben, welche wir ge-
bracht haben, sind nur Schätzungen. Das türkische Finanzjahr umfasst die Zeit
1./13. März bis 28. Februar/12. März (1888/89 = 1304).
Ueber die Einfuhr zu Lande liegen die Ausweise der rumelischen Eisen-
bahnen vor, welche 1887 aus Ostrumelien nach Constantinopel 305.285 q Güter im
Werthe von 39,436.000 Goldpiaster brachten, dagegen aus Constantinopel nach
Ostrumelien nur 90.450 q im Werthe von 55.621 Goldpiastern führten. Auf diesem
Wege waren die wichtigsten Einfuhrartikel Constantinopels Aba (Schafwollgewebe),
Getreide (17·7 Millionen q), Käse und Rosenöl, die wichtigsten Ausfuhrartikel
Baumwolle, roh und gesponnen, Manufacturwaaren, Leder und Lederwaaren, Dro-
guen, Colonialwaaren, Eisen und Eisenwaaren, Quincaillerien.
[129]Constantinopel.
Der Handel Constantinopels ist zum kleinsten Theile in den Händen der
Türken. Im Verkehre mit dem Auslande ist die Stellung der Engländer eine
so dominirende, dass das Yard (0·91 m) die Basis für alle Waaren bildet, deren
Länge durch ein Längenmass festzustellen ist. Grossen Einfluss haben auch Oester-
reich-Ungarn (nationale Handelskammer) und Frankreich (Handelskammer). Die
Bedeutung Deutschlands, welches eben eine directe Dampferlinie von Hamburg aus
einrichtet, und die Belgiens, welches dort ein Musterlager besitzt, entwickeln sich
günstig. Im inneren Handel sind die Armenier, welche die Banquiers der
Osmanen sind, zurückgetreten, da ja das herrschende Volk verarmt; dafür ist der
Einfluss der Griechen und spanischen Juden gestiegen.
Constantinopel (Böjük Dere).
Der Schiffsverkehr Constantinopels ist in den letzten Jahren überaus
gestiegen wegen der grossartigen Getreideausfuhr der russischen Häfen des Schwarzen
und Azow’schen Meeres. Er betrug 1887 17,344 Schiffe mit 8,666.012 Tons, 1888
19.445 Schiffe mit 10,829.991 Tons. Von diesen waren 1888 im
| [...] |
[130]Das Mittelmeerbecken.
Davon waren
| [...] |
Stark betheiligt sind ferner die russische, die französische, die italienische
und schwedisch-norwegische Flagge.
Die grosse Steigerung des Schiffsverkehres von 1888 wurde fast ausschliess-
lich von der britischen Flagge besorgt. Bemerkenswerth ist die zunehmende Thä-
tigkeit der deutschen Flagge schon vor der Errichtung der Linie aus Hamburg.
Die in Constantinopel regelmässig verkehrenden Dampfergesellschaften sind:
der österreichisch-ungarische Lloyd, die Messageries maritimes, die Compagnie
Fraissinet \& Co. (Marseille, französisch), die Compagnie Russe de navigation à
vapeur (Odessa), welche englische Massengüter von Constantinopel nach Trapezunt
befördert und directe Fahrten nach Alexandrien unternimmt, Navigazione Generale
Italiana (Genua), Compagnie Mahsoussé (türkisch, hat 32 Schiffe), Compagnie
Khédivié (egyptisch), Compagnie l’Egée Courtgi \& Comp. (griechisch).
Constantinopel ist auch ein Centrum der Telegraphenleitungen der
Levante. Hier geht durch eine der Verbindungen zwischen Europa und Indien, an
welche sich auf der europäischen und der asiatischen Seite zahlreiche Nebenlinien
anschliessen. In diesem Hafen landet das Kabel der Black Sea Telegraph Cy., das
von Odessa ausgeht. Von dem nahegelegenen Kartal geht ein Kabel der schon
öfter genannten Eastern Telegraph Cy. durch die Dardanellen nach Tenedos, von
wo eine Fortsetzung nach Salonich, die andere nach Chios (Smyrna) Syra führt.
Constantinopel ist der einzige Ort der Türkei, in welchem das
Bank- und Creditwesen besser entwickelt ist. Die wichtigste Bank ist
die Banque Impériale Ottomane, welche das Privilegium der Noten-
ausgabe besitzt. An sie reiht sich die Banque de Constantinople. In
Galata befindet sich eine Börse.
Für die Bedürfnisse der kleinen Leute sorgen die Geldwechsler,
„Sarafi“, welche in zwei Zünfte zerfallen. Die Zunft der „Keuchè
Saraf“, der Geldwechsler, die unter Umständen auch auf der Strasse
ihren Wechslertisch aufschlagen, steht unter strenger Aufsicht, denn
ihre Mitglieder sind nur zu sehr geneigt, denjenigen, der ihre Ver-
mittlung in Anspruch nehmen muss, zu übervortheilen.
Die misslichen Geldverhältnisse sind überhaupt das wichtigste
Hinderniss des Aufschwunges der Türkei und Constantinopels insbe-
sondere, trotz der wunderbaren Handelslage dieser Hauptstadt. Allge-
mein herrscht hier der Zinsfuss von 12 % für sichere Pfandschaften.
In diesem capitalsarmen Lande fällt es daher keinem Einheimischen
ein, sein Geld in gewerblichen Unternehmungen, in Landgütern anzu-
legen, die als erste Bedingung ihrer Rentabilität einen Grossbetrieb
[131]Constantinopel.
verlangen. Er leiht auf Pfänder und vermehrt sein Vermögen ziemlich
rasch, ohne etwas zu riskiren.
Wie im Kleinen, ist es auch im Grossen. Die grossen Banken
sind mit fremdem Gelde ins Leben gerufen. Aber Handel und Indu-
strie wurden durch sie nur wenig befruchtet.
Die Concessionirung gemeinnütziger Arbeiten, wie die der Aus-
trocknung der sumpfigen Strecken bei Ismid, am Marmara-Meere und
der Bahn nach Angora, führt nur in seltenen Fällen zur Vollendung
dessen, was man sich vorgenommen.
Es wäre zu wünschen, dass der eben jetzt in den Vordergrund
gerückte Plan französischer Ingenieure den Bosporus an seiner schmal-
sten Stelle zu überbrücken, nicht auch an den herrschenden Zuständen zu
Grunde gehe. Die Verbindung der rumelischen und der anatolischen Bahn
würde dem Handel Constantinopels einen neuen Aufschwung geben. Das
Absatzgebiet der sogenannten Constantinopler Waaren, die einst die
ganze Balkanhalbinsel bis an die Grenzen Croatiens und Bessarabiens
beherrscht haben, würde in Kleinasien neu aufleben. Nicht weit von
der Stelle, wo der Grieche Mandrokles die Schiffbrücke gebaut, über
die 700.000 persische Krieger, unter den Augen ihres Königs Darius,
über den Bosporus gezogen, soll die neue stabile Brücke errichtet
werden, 800 m lang und in der Höhe von 17 m über dem Spiegel
des Wassers, das hier jene vorerwähnte gewaltige Strömung zeigt,
welche die Griechen die „grosse“, die Türken die „teuflische“ nennen.
Nördlich von den Anlegepunkten der Brücken erheben sich auf der
europäischen Seite die grossen Thürme von Rumili-Hissar, umgeben
von den Ueberresten zinnengekrönter Mauern und kleinen Thürmen,
die in malerischer Unordnung sich bis zum Ufer hinabziehen. Und
auf dem asiatischen Ufer leuchten von einer Höhe die schlanken
Thürme von Anadoli-Hissar, dem Castelle des Sultans Bajazid, herab.
Die Bahn würde von hier aus die entzückende Au der „asiatischen
süssen Wässer“ durchschneiden, um Scutari, den heutigen Kopf der
anatolischen Linien, zu gewinnen.
Empfindsam angelegte Naturen werden den Bau der Eisen-
bahnen bedauern; er wird ein schönes Stück der Poesie, welche die
Ufer des Bosporus umgibt, hinwegräumen, aber zugleich dem Handel
und Verkehr Constantinopels neues Blut zuführen.
So würden auch für die bestehenden türkischen Bahnen in stei-
gendem Masse die Bedingungen geschaffen werden, unter denen sie ihrer
wirtschaftlichen Aufgabe in vollem Umfange gerecht werden könnten.
17*
[132]Mittelmeerbecken.
Bis jetzt sind sie noch weit davon entfernt — aber die Umstände sind
eben widrig. Es gibt wohl kaum ein zweites Beispiel in der Ge-
schichte des Eisenbahnwesens, welches einen ähnlichen Umschlag von
den höchsten Erwartungen zur deprimirtesten Ernüchterung zeigte, wie
dies seit der Eröffnung der türkischen Linien der Fall ist. Hunderte
von Artikeln und ebenso viele passende oder auch nicht passende
Gelegenheitsreden in allen Sprachen Europas verkündeten den voll-
ständigen Umsturz aller bestehenden Handelsverhältnisse auf der Bal-
kanhalbinsel und in deren Nachbargebieten, sobald das Dampfross
erst einmal den Bosporus und die Stadt Thessalonikes mit Wien ver-
binden würde. Heute ziehen jeden Tag Eil-, Post- und Lastzüge
diesen langen Weg hin und her, doch der Umsturz ist nicht ein-
getreten; allein man kann sich allenfalls über den hochgehenden
Enthusiasmus früherer Tage wundern oder über die Fülle von Illu-
sionen, welche zur Zeit der Gründung der türkischen Bahnen weite
Kreise zur finanziellen Betheiligung verleiten konnten, keineswegs aber
darüber, dass der Erfolg bis heute jene frohen Hoffnungen noch nicht
zu erfüllen vermochte. Ein Blick auf die Dimensionirung dieser Bahnen,
und noch mehr ein Blick auf die menschen-, geld- und culturarmen Pro-
vinzen, welche die Schienenstränge südlich der Save-Donaulinie durch-
ziehen, zeigt jedem nüchternen, sachverständigen Beobachter, was man
heute von diesen Bahnen erwarten, was man von ihnen verlangen
kann. Sie sind nicht berufen, sofort Träger eines mächtigen Verkehres
zu sein, sie sind Pionniere der Cultur, und zwar Pionniere der Cultur
bei einer Bevölkerung, welche arm, Jahrhunderte lang durch elende
Steuer- und Verwaltungsgesetze gedrückt, apathisch dahin lebt, jede
Neuerung misstrauisch beschielt und nur durch den Baargewinn lang-
sam vorwärts geschoben werden kann. Wir sind auf dem Balkan und
nicht am Mississippi. Das darf man bei Beurtheilung dieser Pionnier-
bahnen nie vergessen.
Legende zu Hafen von Constantinopel.
A Bojen der Passagierschiffe, B Goldenes Horn, B1 Kriegshafen am Goldenen Horn, C neue Brücke Sul-
tanin Valide, D alte Brücke Mahmud, E See-Arsenal, F Leuchtfeuer, G Armee-Arsenal, H Zollamt und
Quarantaine in Galata, H1 Zollamt in Stambul, J Bahnhöfe in Stambul, K Ankerplatz der fremden
Stationsschiffe, L Palais Dolma Bagdsché Serai, M Palais Beylerbey-Serai, N Garde-Kaserne Selimieh,
O Militär-Spital und englischer Friedhof vom Krimfeldzug, P Eski-Valide-Moschee, Q Selimieh-Moschee,
R grosse Moschee Büjük, S neue Moschee Jeni Valide, T Bahnhof Haidar-Pascha, U Landungsplatz
in Kadikiöi, V grosse Friedhöfe, W makadamisirte Strassen, X Landungsplatz bei Kis Kalessi, Y Der-
wisch-Klöster, Z Kaserne, [...] Moscheen, ♁ Kirchen. — 1 Aja Sophia, 2 hohe Pforte, 3 mil.-medicin.
Schule, 4 Top Kapu-Serai (altes Serail), 5 Marmor-Kiosk, 6 Sultan Ahmed-Moschee, 7 Sultan Valide-
Moschee und egyptischer Bazar, 8 Süleimanieh Moschee, 9 Seriaskierat, 10 Bajazid-Moschee, 11 grosser
Bazar, 12 Justiz-Ministerium, 13 Moschee Mohammed II. des Eroberers, 14 Sultan Selim-Moschee, 15 Shah
Zade-Moschee, 16 Laleli-Moschee, 17 Vlangu Bostani-Ga[r]ten, 18 Spital Hastahaneh, 19 Wiesen, 20 grie-
chische Schule und Kirche in Phanar, 21 Kaserne von Ramis Tschiftlik, 22 Ziegelbrennerei, 23 Kriegs-
dépôts, 24 Kaserne, Militär-Schulen, 25 alte Giesserei, 26 Marineschule, 27 Gärten von Pera, 28 Artillerie-
Kaserne, 29 Medschidieh-Kaserne, 30 Kriegsschule, 31 kaiserliches Lyceum von Pera, 32 neues grie-
chisches Spital, 33 Thurm Marmarakule.
[[133]]
(Legende siehe auf Seite 132.)
[134]Das Mittelmeerbecken.
Aber ebensowenig darf man vergessen, dass auch am Balkan die
Geschichte des XIX. und XX. Jahrhunderts von Tag zu Tag schneller
rollt, und dass auch für den Balkan die Stunde der Entscheidung
nahe gerückt erscheint. Wie nun auch diese Entscheidung ausfallen
möge, soviel steht fest, sie bedeutet für diese einstmals blühenden,
dann lange zertretenen Länder eine Epoche neuer Blüthe.
In erster Linie scheinen für Constantinopel, diesen Welt-
handelsplatz ersten Ranges, der geographischen Lage nach, Tage neuen
Glanzes im fernen Osten zu dämmern, seit die europäische Politik ihr
Interesse mit dem Ausbau der kleinasiatischen Bahnen verwebt hat.
Wieder wird das unverwüstliche Byzanz der Angelpunkt des
Handels zweier Welttheile werden, in seinem unvergleichlichem Hafen
werden die Güter der Hinterländer gegen Seefrachten aller Nationen
Umtausch finden, am goldenen Bosporus in Böjük Dere und den
anderen reizenden Plätzen, wo so lange Muselmanen in verschwie-
genen Harems ihr eigenes und das Glück der Balkanvölker ver-
träumten, werden reiche Kaufherren den wohlverdienten Lohn schwerer
Arbeit geniessen, dann werden aber auch die Balkanbahnen das
sein, was unsere Zeitgenossen schon jetzt von ihnen verlangten, die
Schlagadern der reichen, cultivirten Balkanstaaten und die inter-
nationale Verbindung zwischen Westeuropa und dem fernen Asien.
Denn die verkehrschaffende und culturfördende Kraft, welche in allen
Bahnen liegt, ist eine ewige nationalökonomische Wahrheit, die nur
in verschiedenen Ländern verschieden lange Zeit braucht, ehe ihre
Blüthen sprossen und ihre Früchte reifen.
An Constantinopel schliessen wir einige Bemerkungen über die
Bedeutung des schon genannten Dedeagatsch, in dessen Hafen der
von der Station Kuleli-Burgas ausgehende, 112 km lange Flügel der
rumelischen Eisenbahnen endet.
Dedeagatsch ist eine Gründung der Neuzeit, 20 km westlich
von der Mündung der schiffbaren Maritza ins Meer geschaffen, denn
das uralte Enos, welches in dem sumpfigen Delta des Flusses liegt,
gleich schwer zugänglich von der See wie vom Lande, ein Herd
böser Fieber, war ungeeignet zum Endpunkte einer Eisenbahn. Dieser
verdankt auch die Stadt Dedeagatsch, welche etwa 10.000 Einwohner
hat, ihre Entstehung.
Leider wurde der Hafen seit seiner Errichtung im Jahre 1872 nicht
mehr gereinigt und seine Wassertiefe wird von Jahr zu Jahr schlechter.
[135]Constantinopel.
Der Handel erreichte 1887 in der Ausfuhr fast 8 Millionen Francs, dar-
unter 245.000 q Weizen im Werthe von 5,320.000 Francs. Wichtig sind noch
Seidencocons (850.000 Francs), Kanariensamen (430.000 Francs), Wein (325.000
Francs), Schafwolle und Tabak.
Fast ebenso gross wie die Ausfuhr war 1887 in den vorangehenden Jahren
die Einfuhr. Die wichtigsten Posten derselben, Eisenwaaren und Maschinen werden
mit der Vollendung der dortigen Eisenbahnen (1888) wohl beträchtlich sinken.
Andere Artikel sind Zucker aus Oesterreich-Ungarn, Kaffee von Triest und Mar-
seille, Reis, Petroleum, Olivenöl, Seife und Glaswaaren.
Der Schiffverkehr von Dedeagatsch betrug:
| [...] |
Heute ist Dedeagatsch für den Export Ostrumeliens und des Vilajets Adria-
nopel von grösserer Wichtigkeit, wie die Linie nach Constantinopel.
Die Bahn Yamboli-Burgas, welche die bulgarische Regierung baut, wird
einen grossen Theil des Getreideverkehres von Dedeagatsch nach Burgas ab-
lenken, die Ausfuhr von Seidencocons nach Genua, von Wein und Tabak fördern.
Summe der Ausfuhr 1888 5,150.000 Francs. Der Import (2 Millionen Francs) besorgen
England, Belgien, Frankreich, die Türkei, Oesterreich-Ungarn und Russland, welch
letzteres die grössten Fortschritte macht. Hier landen regelmässig die Dampfer
der Messageries maritimes und die Dampfer der Gesellschaft Courtgi aus Con-
stantinopel.
Consulate: Vereinigte Staaten von Amerika (G. C.), Belgien, Deut-
sches Reich (G. C.), Frankreich, Griechenland (G. C.), Grossbritannien (G. C.),
Italien (G. C.), Oesterreich-Ungarn (G. C.), Persien (G. C.), Portugal (G. C.), Ru-
mänien (G. C.), Russland (G. C.), Spanien. Bei den anderen Staaten, welche auch
in Constantinopel Gesandtschaften haben, besorgen diese zugleich die Consulats-
geschäfte.
[[136]]
Varna.
Das Schwarze Meer ist durch die thrakischen Meerengen Dar-
danellen und Bosporus mit dem Mittelmeere verbunden und bildet,
mit der Abzweigung des Azow’schen Meeres, ein weit zwischen die
Continente Europa und Asien vordringendes Wasserbecken von theil-
weise binnenseeischem Charakter.
Seine zwischen 40° 55′ und 47° 15′ nördl. Breite und zwischen
27° 21′ und 41° 48′ östl. Länge von Greenwich gelagerte Wasser-
fläche nimmt ein Areal von 381.545 km2 ein.
Das Schwarze Meer wechselte in der Flucht der Zeiten wiederholt den
Namen. Die ältesten Griechen nannten es Pontus Axenos, das unwirtbare Meer,
aus welcher Bezeichnung dann infolge der Veränderung der Culturverhältnisse
durch die zahlreichen griechischen Colonien Pontus Euxinos, ein wirtbares
Meer, entstand. Im II. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung tritt der Name
Schwarzes Meer zum erstenmale in den Schriften Appians von Alexandrien auf;
für die alten Venetianer war es das Mare Major, das die Türken und Tartaren
mit Kara Deniz benennen.
Die Bedeutung der am Schwarzen Meere liegenden Länder gehört der Zu-
kunft an. Aus diesen Gebieten ergossen sich in grauer Vorzeit, so weit nur Mythe
und Vermuthung zu dringen vermögen, die Völkerströme in unseren Continent.
Die Griechen und Milesier, namentlich die letzteren, hatten hier seit dem VIII.
und VII. Jahrhundert v. Chr. blühende Colonien. Die Milesier nahmen das assy-
rische Sinope, dann auch Trapezus. Odessos, an der Stelle des heutigen Varna,
war wohl die berühmteste thrakische Colonie der Griechen. Sie war mit den
anderen nahegelenen Colonien, worunter auch Tomi, der spätere Verbannungsort
Ovid’s, zu einem angesehenen Städtebunde vereinigt. In der Römerzeit erhielt
Odessos den Namen Tiberiopolis und bildete später eines der mächtigsten Boll-
werke der Byzantiner gegen den Ansturm der Bulgaren, welche es zu wieder-
holten Malen eroberten, um es schliesslich gleichzeitig mit dem Untergange ihrer
Unabhängigkeit an die Türken zu verlieren.
Die Nordküste des Pontus Euxinos bewohnten mehrere Völkerschaften,
unter denen die mit den Griechen in Handelsverbindung gestandenen Skythen
hervorragten. In der Folge blühte dort das 500 v. Chr. gegründete Bospora-
nische Reich, besonders unter Mithridates dem Grossen, der auch Herr von Klein-
[137]Varna.
asien wurde. Seine glänzende Residenz lag in Pantikapäon nächst dem heutigen
Kertsch. Auch in der Folge spielten sich am Schwarzen Meere wichtige historische
Ereignisse ab, welche die hohe wirtschaftliche Wichtigkeit desselben bezeugen.
Dieses Meer war seit Jahrtausenden der Schauplatz eines lebhaften Handels
und Schiffsverkehrs, den nacheinander die erwähnten Reiche, dann die Makedonier,
Römer, Byzantiner, die Handelsrepubliken und seit der Eroberung Constantinopels
durch die Türken auch die Osmanen beherrschten. Als Herren der Meerengen ver-
schlossen die Sultane den christlichen Nationen drei Jahrhunderte hindurch den
Bosporus und schufen aus dem Pontus Euxinos ein türkisches Meer. Katharina II.,
der Schöpferin der russischen Seemacht, gebührt das Verdienst, im Friedensschlusse
Varna.
von Kütschük Kainardschi die Meerengen dem Verkehr wieder geöffnet zu haben;
im Traktate von Adrianopel (1829) wurde dann die volle Freiheit der Handels-
schiffahrt durch die Engen von der hohen Pforte erzwungen.
Spätere Verträge bestätigen das Passagerecht der Handelsschiffe aller
Staaten. Nur fremden Kriegsschiffen ist die Durchfahrt oder der Aufenthalt inner-
halb der Engen ohne fallweise und specielle grossherrliche Genehmigung nicht
gestattet.
Das Schwarze Meer ist sehr arm an Häfen, welcher Umstand in Verbin-
dung mit den besonders zur Winterszeit häufig auftretenden rauhen meteorologi-
schen Erscheinungen die Schiffahrt in allen seinen Theilen zu einer beschwerlichen
und oft mit Gefahren verbundenen gestaltet.
Die Seehäfen des Weltverkehrs I. Band. 18
[138]Das Mittelmeerbecken.
Die NNO-Stürme brechen oft plötzlich ohne Anzeichen herein. Am unge-
stümsten und häufigsten sind die NO-Winde. Der Zeit nach wehen Winde zwischen
NW und NO reichlich viermal so oft als solche aus westlichen Quadranten. Die
Süd- und SO-Winde wälzen die längsten und schwersten Wogen heran, wohingegen
Winde aus Nord-Ost die kürzesten, aber bewegtesten und dadurch zerstörendsten
Wellen erzeugen. Dichte Nebel sind häufig.
An der Westküste besteht nur ein natürlicher, gegen alle Winde
geschützter Hafen in der Bucht von Burgas (das alte Pyrgos), dem
Hafenplatze Südbulgariens, der aber erst nach dem 1890 stattfindenden
Ausbau der Eisenbahnlinie von Jamboli an die Küste durch den
directen Verkehr mit Constantinopel und Sophia Bedeutung erlangen
wird. Allein wenn auch Burgas geschützter ist als Varna, so man-
geln demselben ebenso wie letzterem alle Einrichtungen, deren Vor-
handensein zur Prosperität der beiden Echellen erforderlich ist.
An einer mässigen Einbuchtung unter 43° 12′ nördl. Breite
und 27° 57′ östl. Länge von Greenwich (Evalar Tab.) gelegen, verdankt
Varna seine internationale Bedeutung nur dem Umstand, dass es
lange Zeit hindurch an der Postroute nach Constantinopel lag. Der
Ankerplatz ist bei äusseren Winden, die oft zu grosser Wuth sich
steigern und eine sehr hohe See heranwälzen, ein unhaltbarer.
Für den Verkehr vom Lande zum Schiffe wurden ein langer
Pfahldamm mit Eisenbahngeleise und drei kleinere Rostwerke in See
geführt, an welchen jedoch der geringen Wassertiefe wegen nur Boote
anzulegen vermögen. Indes besteht noch aus türkischer Zeit das Pro-
ject, den nahe zur Küste tretenden, genügend tiefen Devno-See durch
einen Canal mit dem Meere zu verbinden und dadurch einen Hafen
für Schiffe von mässigem Gehalte zu gewinnen. Die Kostspieligkeit
einer solchen Anlage und manche mit derselben verbundene Nach-
theile haben die Ausführung des Projectes verhindert. Im Sommer
1890 sollen indes die Vorstudien für Hafenbauten in Burgas und
Varna an Ort und Stelle vorgenommen werden.
Die Stadt lagert, wie unsere Illustration zeigt, anmuthig auf
einem hart zum Meere tretenden und steil abstürzenden Felsplateau.
Aus dem Gros der zwischen grünem Laub gebetteten weissblinkenden
kleinen Häuser erhebt sich hie und da die schlanke Säule eines
Minarets neben unscheinbaren Moscheen, darüber aber erscheinen als
dominirendes Object des ganzen Bildes die majestätischen Formen der
mit sechs Kuppeln geschmückten neuen bulgarischen Kathedrale,
welche unmittelbar nach der Erlangung der Unabhängigkeit Bulgariens
erbaut worden war.
Während der letzten Jahre verschwand durch die Anstrengungen
[139]Varna.
der bulgarischen Stadtverwaltung der ehemals türkische Charakter
der Stadt nahezu gänzlich. Ein grosser Theil der Strassen wurde
nach einem einheitlichen Plane regulirt und an Stelle eines ehemaligen
türkischen Friedhofes steht jetzt ein blühender Garten, in welchem
die Militärmusik mehrmals in der Woche concertirt und die Be-
völkerung promenirt.
Varna, das im Krimkriege als Sammelplatz der verbündeten
Streitkräfte eine wichtige Rolle spielte, besass starke Festungswerke,
die seither zufolge der Bestimmungen des Berliner Vertrages vom
13. Juli 1878 aufgelassen und zum Theile demolirt wurden. Seitdem
entwickelten sich an der Stadtperipherie allerliebste cottageartige
Stadttheile.
Ausser der bereits erwähnten imposanten Kathedrale ist unter
den Neubauten das grosse bulgarische Gymnasium und das Zollamt
erwähnenswerth. Gegenwärtig ist ein kleines Theater mit Unterhaltungs-
localen im Entstehen begriffen. So sehen wir denn Varna in der
neuen Epoche seiner Entwicklung rüstig vorwärts schreiten.
Ungefähr eine Wegstunde nördlich der Stadt erhebt sich auf
einem Ufervorsprunge, weithin sichtbar, das durch seine Lage etwa
an das Schloss Miramar bei Triest erinnernde, vom Fürsten Alexander
erbaute und nach ihm benannte parkumgebene Schloss Sándrowo,
welches nach der Resignation des Fürsten in das Eigenthum des
Staates überging. Leider ist dasselbe im Innern noch nicht weit genug
ausgebaut, um bewohnbar zu sein, so dass Fürst Alexander in einem
unmittelbar neben dem Schlosse gelegenen ehemaligen Kloster das Ab-
steigquartier zu nehmen pflegte, so oft er nach Varna kam. Auch Fürst
Ferdinand wohnt anlässlich seiner häufigen Ausflüge nach Varna in
demselben Kloster. Der hohe Schlossthurm ist bei klarem Wetter
über 20 Seemeilen vom See aus sichtbar.
Die Stadt ist Sitz eines Präfecten und eines bulgarischen und
griechischen Metropoliten. Ein Zollamt erster Classe liegt nördlich
des grossen Pfahldammes am Meere.
Die interessanten Bevölkerungsverhältnisse von Varna verdienen
hier in Kürze festgehalten zu werden.
Die 25.256 Einwohner zählende Bevölkerung Varnas ist eine
äusserst buntfarbige. Die herrschende Classe bilden jetzt die Bul-
garen, welche jedoch an Zahl den Griechen und Türken nachstehen.
Die Bulgaren, deren Sprache vor zehn Jahren in Varna so gut als
unbekannt war, wissen durch Gründung von Schulen, durch die Ein-
führung ihres Idioms als alleiniger Commando- und Amtssprache ihrer
18*
[140]Das Mittelmeerbecken.
Sprache immer weitere Verbreitung zu geben. Den Bulgaren in jeder
Beziehung bei weitem überlegen ist das griechische Element, welches
in commercieller und socialer Beziehung in Varna die erste Stelle
einnimmt. Die Griechen besitzen seit langem in Varna gute Schulen,
sowohl für Mädchen als auch für Knaben; ebenso unterhalten sie ein
gutes Spital. Die Türken sind infolge von Auswanderung in Abnahme
begriffen, wenn auch ihre Zahl noch immer eine recht ansehnliche
ist. Sie wohnen in einem getrennten Stadttheil, welcher die türkischen
Eigenthümlichkeiten noch gänzlich bewahrt hat und an manchen
Punkten eine Localfarbe trägt, wie dieselbe prägnanter selbst in den
entlegensten Strassen Stambuls nicht gefunden werden kann. Ausser-
dem gibt es noch Zigeuner, Armenier, krimische Tartaren und Juden,
letztere in spanischen, rumänischen, polnischen und persischen Varia-
tionen. Hiezu tritt noch die europäische Colonie, deren Hauptvertreter
ausser den Griechen Oesterreicher und Russen sind. Italiener, Fran-
zosen, Engländer und Deutsche gibt es nur sehr wenige.
Ueber die Griechen wäre noch zu erwähnen, dass Varna auf
der Ostseite der Balkanhalbinsel beinahe der nördlichste Punkt ist,
wo Griechen in compacten Massen wohnen. Als nördlichster Punkt
gilt das circa eine Stunde von Varna entfernte Städtchen Kavarna.
Man kann also sagen, dass die ganze Küste der Hämushalbinsel von
Durazzo im Westen bis nach Kavarna im Osten in überwiegender Zahl
von Griechen bewohnt ist.
So lange die Verkehrsmittel Bulgariens nicht eine völlige Um-
gestaltung erfahren, wird Varna der wichtigste Handelsplatz und der
erste Hafen des Landes bleiben. So bewegten sich 1888 47 % der
Einfuhr und 37 % der Ausfuhr Bulgariens über Varna.
Bulgarien ist ein Ackerbaustaat, daher sind die Getreidegat-
tungen Weizen und Mais die wichtigsten Ausfuhrartikel des Hafens.
Neben den Eisenbahnwaggons bringen jeden Monat hunderte, ja
tausende von Ochsenkarren Getreide naeh Varna. Um endlich der
Concurrenz der Wagen zu begegnen, hat man Ende 1888 auf der
Bahn Rustschuk-Varna die Getreidefrachten erheblich herabgesetzt.
Die Ausfuhr geht nach England, nach Marseille, Genua und Constantinopel.
1887 579.109 q im Werthe von 9,449.265 Francs, 1888 555.777 q im Werthe von
10,503.389 Francs.
In Varna hat eine Mühlenindustrie ihren Sitz, welche Mehl untergeord-
neter Qualität (1888 10.468 q) nach Constantinopel, Kleinasien und dem griechi-
schen Archipel ausführt. Es leidet unter der Concurrenz des besseren rumänischen
und russischen Mehles. Aus dem Pflanzenreiche werden ferner Tabak und Holz
ausgeführt.
[141]Varna.
Unter den Ausfuhrartikeln des Thierreiches stehen obenan Hühner und
Eier (1888 12.030 q im Werthe von 877.474 Francs), welche die arme moham-
medanische Landbevölkerung nach Varna bringt. Auf der Eisenbahn ist die letzte
Station, die mit Lieferungen auftritt, Razgrad. Richtung der Ausfuhr: Frankreich,
Griechenland, Türkei. Wichtig ist Schafkäse in runden Laiben („Kaschkawalj“)
A Ankerplatz von Varna, B Eisenbahndamm aus Holz, C Blockhäuser, D Devno-See, E Bahnhof,
F Leuchtfeuer, G Zollamt. — 1 Kadir Baba Tabia, 2 Ildiz T., 3 Islam Oglu T., 4 Narrid T., 5 Meji-
dieh T., 5 Evlar Burnu T.
und in Bottichen (1888 7219 q, Werth 513.080 Francs), für die Türkei und die
griechischen Inseln bestimmt.
Zu nennen sind ferner lebende Schafe, ungefähr 10.000 Stück für die
Türkei, Felle und Häute (2283 q, Werth 255.557 Francs).
Ist die Ernte gut gewesen, so ist eine günstige Einfuhr zu erwarten, und zwar in
erster Linie in den billigen Massenartikeln, bestimmt für den Gebrauch der Land-
bevölkerung, denn diese allein besitzt eine gewisse Kaufkraft; die Lage der Städte-
bevölkerung ist weit weniger günstig. Die stärkste Einfuhr findet aus England
[142]Das Mittelmeerbecken.
statt, das in den Waaren der Textilindustrie (Gesammteinfuhr 6·7 Millionen
Francs) dominirt, unterstützt durch billige Seefrachten. In zweiter Linie rangiren
die Schweiz und Deutschland und erst in dritter Oesterreich-Ungarn.
In Confectionswaaren ist zuerst Oesterreich-Ungarn zu nennen.
Ansehnlich ist der Lederhandel von Varna.
In Eisen und Eisenwaaren behaupten England und Belgien den ersten
Rang; mit Papier versieht Oesterreich-Ungarn den hiesigen Markt, ebenso mit
Zündhölzchen. Glaswaaren liefern Belgien und Oesterreich-Ungarn, Porzellan- und
Thonwaaren Oesterreich-Ungarn und das Deutsche Reich, Kurzwaaren meist Oester-
reich-Ungarn.
Eine wichtige Gruppe der Einfuhr bilden die Colonialwaaren. In Zucker
(1888 15.637 q, Werth 952.400 Francs) beherrscht bis jetzt Oesterreich den Markt.
Kaffee, meist die Sorte Rio, wird aus London bezogen. Ein bedeutender Einfuhr-
artikel ist Olivenöl, welches als Speiseöl und zur Seifenfabrication verwendet
wird. Südfrüchte (1888 12.479 q, Werth 450.692 Francs) kommen aus Sicilien,
Syrien und Bagdad (Datteln) und gehen zum Theile nach Rumänien weiter.
Wichtige Einfuhrartikel sind Fische (3310 q, Werth 413.485 Francs) als
Ergänzung des bedeutenden localen Fischfanges, Spirituosen (Bier braut man im
Orte), Petroleum aus Batum, Salz aus Sicilien.
Die Handelsbewegung betrug:
| [...] |
Die Länder, aus welchen die Einfuhr erfolgt, sind dem Range nach Eng-
land, die Türkei, Oesterreich-Ungarn, Frankreich; auch auf diesem Platze steigt
die Bedeutung Belgiens. Die Länder, für welche die Ausfuhr bestimmt ist, sind:
die Türkei, England, Frankreich, Italien.
Seit der Eröffnung der Eisenbahn Belgrad-Constantinopel ist Varnas Bedeu-
tung für die internationale Postbahn zu Ende. Doch findet jetzt wieder einmal in
der Woche eine Expedition der Post durch den österreichisch-ungarischen Lloyd
über Varna-Rustschuk statt. (Varna-Constantinopel 14 Stunden.)
In regelmässiger Fahrt berührt Varna auch die unter türkischer Flagge
fahrende griechische Gesellschaft „Navigation à vapeur Egée T. M. Courtgi \& Comp.,
siégeant à Constantinople“. Ausserdem erscheinen ziemlich häufig englische und
italienische Dampfer, wohingegen russische derzeit sehr selten eintreffen.
Für Verbesserung und Ausbau des Hafens hat die Sobranje Anfangs 1889
eine grössere Summe bewilligt.
Der Schiffsverkehr betrug 1888:
| [...] |
Der Küstenverkehr ist unbedeutend.
Consulate: Deutsches Reich (C.), welchem auch die Wahrung der
Interessen der dort ansässigen Russen obliegt, Frankreich (V.-C.), Griechenland
(C.), Grossbritannien (V.-C.), Oesterreich-Ungarn (V.-C.), Türkei (Handelsagentur),
Belgien, Italien, Niederlande, Persien, Schweden-Norwegen, Spanien, sämmtlich
Vice-Consuln.
[[143]]
Die Donauhäfen.
Unter den in das Schwarze Meer mündenden Strömen bean-
sprucht die im Herzen Mitteleuropas entspringende Donau die grösste
culturelle und wirtschaftliche Bedeutung. Ein Stromgebiet von 804.000 km2
umfassend und bei 2485 km Erstreckung des Laufes, ist die Donau
von Donauwörth bis Sulina in einer Länge von 2556 km mit Dam-
pfern befahrbar. Mit den grossen Stromarmen und den schiffbaren
Nebenflüssen Inn, Drau, Theiss, Save und deren befahrbaren Neben-
flüssen Kulpa, Bosna u. a., dann Szereth und Pruth treten noch
schiff bare Strecken von 2400 km Länge hinzu, so dass im Strom-
gebiete der Donau ein Netz von Wasserstrassen in der imposanten
Gesammtlänge von nahezu 5000 km enthalten ist.
Die Wassermächtigkeit der Donau blieb denn auch seit jeher von tief
greifendem Einfluss auf die Entwicklung der Verhältnisse aller in ihrem Gebiete
sesshaften Völker. Männer der Wissenschaft, Monarchen und Feldherren aller
Zeiten widmeten dem Strome eine berechtigte Aufmerksamkeit, und nicht zuletzt
flocht die Muse manch zarte Blüthe an seinen grünen Ufern.
Herodot nennt bereits die Donau; Hesiod bezeichnet sie als den „schön
fliessenden Strom“. Julius Cäsar nennt die Donau den Danuvius; bei römischen
und griechischen Historikern wird sie vom Ursprung bis Carnuntum mit Danubius
bezeichnet, welchen Namen wieder andere Historiker auch auf den Lauf bis zum
Eisernen Thor bei Orsowa anwenden. Von da an bis zur Mündung in das Schwarze
Meer hiess sie Ister. Napoleon I. gab dem Strom die Bezeichnung „König aller
Flüsse“, und mit Recht, denn keinem der Flüsse Europas war eine so denkwürdige
Rolle in der Kriegsgeschichte zugefallen wie der Donau, deren Beherrschung den
Sieg bedeutete, daher jederzeit angestrebt wurde. So kam es, dass die Donau-
gebiete und der Strom selbst bei nahezu allen grossen Kriegsereignissen am euro-
päischen Continente in vorderster Reihe mit betheiligt waren.
Die Welteroberer und Weltbeherrscher Sesostris, Dareius, Alexander, Trajan,
Attila, Karl der Grosse, Soliman, Napoleon u. A. kämpften an der Donau und ver-
wertheten deren hohe strategische Eigenschaften zum Siege. Wenn aber der
Heldenmuth der Krieger, dessen Zeuge die Donau seit Jahrtausenden ist, ihren
Namen in die goldenen Blätter der Geschichte eingrub, so hat andererseits die
Heimatliebe der deutschen Uferbewohner ihr den anmuthigen Beinamen „die
schöne blaue Donau“ eingetragen, der ebenso einen Weltruf erlangte.
[144]Das Mittelmeerbecken.
Bevor wir zur Darstellung der Donauhäfen schreiten, sei hier
Küstendsches, eines Handelsplatzes, gedacht, der, obgleich nicht un-
mittelbar an der Wasserstrasse der Donau gelegen, doch vermöge
seiner Beziehungen und seiner Lage nächst dem Delta des Stromes
zu den Donauhäfen im weiteren Sinne gerechnet werden darf.
Küstendsche (das antike Constantia), liegt in der seit 1878
rumänischen Dobrudscha und ist eine im Aufblühen begriffene Küsten-
stadt. Nächst derselben tritt der sogenannte Trajanswall, das ver-
fallene Bollwerk der alten Römer gegen die Einfälle der nordischen
Barbaren, an die See. Der Ort besitzt ein Hafenbassin mit 6 m Wasser-
tiefe. Hier besteht eine Lootsenstation für jene Schiffe, welche auf der
Fahrt nach Sulina oder Odessa einen Piloten aufzunehmen wünschen.
Die Rumänen, welche sich als Nachkommen der romanisirten
Daker betrachten, haben den türkischen Namen des Ortes fallen ge-
lassen und nennen ihn Constanţa. Er ist der Endpunkt einer Eisen-
bahn, die in Cernavoda an der Donau beginnt und 64 km lang ist.
Leider fehlt noch eine Verbindung mit dem links von der Donau lie-
genden Feteşti, der letzten Station eines Bahnflügels von Bukarest
her; das viele Kilometer breite Ueberschwemmungsgebiet der Donau
macht den von den Rumänen projectirten Bau verbindender Brücken
über den Arm Borcia und das Hauptbett der Donau zu einer der
schwierigsten Unternehmungen. In den Wintermonaten, wenn das Eis
der Flüsse nicht fest ist, bleibt oft durch längere Zeit die Post von
Bukarest aus, dann fehlt auch die Versorgung des Handels von Con-
stanţa von der Donau her. Den Bau dieser nothwendigen Brücke hat
die rumänische Regierung im Jänner 1890 vergeben. Es muss be-
merkt werden, dass von hier auch donauaufwärts über Cernavoda
Handel getrieben wird.
Rumänien thut viel für Constanţa, seinen einzigen von der Con-
trole der europäischen Mächte freien Hafen. So wurde 1887 in dem
2½ km entfernten Dorfe Anadolkiöi der Bau eines Viehmarktes be-
gonnen, für den die Kammern eine Million Leï bewilligt haben, um
dadurch die Viehausfuhr der Dobrudscha zu heben. Geleise verbinden
den Markt mit der Eisenbahn. Die Rumänen setzen grosse Hoffnun-
gen auf diesen Markt, der zugleich als Kontumazanstalt dienen wird.
Man hofft, mit der Zeit von hier aus zunächst den Markt von Con-
stantinopel zu erobern, der bisher meist aus Russland versorgt wird.
Der wichtigste Exportartikel ist Getreide, und zwar Mais, Gerste und
Weizen. Aus dem Donaugebiete wurden auf der Bahn 1888 805.124 q, 1887
478.048 q Getreide für den Transit zugeführt, aus dem Hafen unmittelbar 1888
614.750 q, 1887 525.998 q exportirt.
[[145]]
Sulina.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 19
[146]Das Mittelmeerbecken.
Das Getreide geht meist nach England und Frankreich, das Mehl aus den
hiesigen Dampf- und Windmühlen in die Türkei und nach Griechenland. Ausser-
dem werden ausgeführt Zigaywolle, Schafkäse, Schafhäute, lebende Schafe und
Lämmer (1888 12.682 Paar, 1887 14.265 Paar) und Ochsen.
Die aus diesem Hafen mit voller Ladung auslaufenden Dampfschiffe nehmen
fast durchgehends die Richtung nach Gibraltar, wo sie erst die Ordre für den zur
Ausladung bestimmten Hafen einholen, um die Weiterreise fortzusetzen.
Die Einfuhr hat ungefähr den Werth des dritten Theiles der Ausfuhr. Sie
beschränkt sich auf die Artikel, welche unumgänglich für die Bevölkerung von
Constanţa und Umgebung nothwendig sind. Von ihm kommen 36 % aus England,
35 % aus Deutschland, 10 % aus Frankreich und das Uebrige aus Oesterreich-
Ungarn, Belgien etc.
| [...] |
| [...] |
Den Frachtenverkehr vermitteln meist englische Dampfer, regelmässig laufen
Constanta an: der Oestereichisch-ungarische Lloyd, Messageries maritimes und
Fraissinet \& Co.
Consulate: Belgien, Deutsches Reich, Oesterreich-Ungarn, Türkei.
Sulina.
Im nordwestlichen Theile des Schwarzen Meeres tritt der nie-
drige, weithin mit dichtem Schilf, hie und da auch mit Wald be-
wachsene Sumpfboden des Donaudeltas als mächtiges Anschwem-
mungsgebiet aus der gerade laufenden Küstenlinie hervor.
Dieses flache von See aus nur auf kurze Entfernung wahrnehm-
bare Terrain nimmt einen Flächenraum von ungefähr 2600 km2 ein. Die
Donau theilt sich nächst Tultscha in die drei Hauptarme St. Georg,
Sulina und Kilia. Von diesen entsendet der erstgenannte einige Zweige
zu dem grossen Küstensee von Razim, welcher durch die Portitz-
mündung zum Meere ausfliesst.
Das Anlaufen des Donaudeltas wird durch die kleine, dem-
selben auf 25 Seemeilen vorgelagerte 40 m hohe, einen Leuchtthurm
tragende Schlangeninsel (antik Leuca) wesentlich begünstigt.
Von den drei Armen ist der Kilia-Arm zwar der mächtigste, da
17/27 der Donauwassermenge durch ihn ausmünden, allein für den
grossen Verkehr besitzen die Barren an seinem Ausflusse noch eine
zu geringe Wassertiefe, indes hat die russische Regierung die Ver-
tiefung des Fahrwassers in Aussicht genommen. Der Arm hat eine
[147]Die Donauhäfen.
Gesammtlänge von 112 km und zwar von Tchatal d’Ismail bis Ismail-
hafen 22 km, Kilia (Hafen) 46 km, Vilkov (Hafen) 29 km, Kilia-Mün-
dung 15 km.
Der Georgsarm, welcher 8/27 der Wassermenge befördert, ist
für die Schiffahrt von Tultscha abwärts bis Kedriles bei 3—4 m Tiefe
geeignet. Die Regulirung der Barren würde an diesem Arme leichter
herzustellen sein als bei der Kilia-Mündung. Dagegen besitzt der wohl
regulirte Sulina-Arm, obgleich er nur 2/27 des Donauwassers entführt, alle
Eigenschaften eines für die grössten Seeschiffe prakticablen Wasser-
weges. Die infolge einer Bestimmung des Pariser Friedens vom Jahre
1856 zur Durchführung der Regulirungsarbeiten eingesetzte euro-
päische Donaucommission hat, wie aus unserem Plane zu ersehen ist,
bei Sulina ein System von grossartigen Steindämmen aufgeführt und
durch die Einengung der Strommündung eine grössere Wasserströ-
mung erzielt, wodurch die seichten in See gelagerten Sandbarren
weggeschwemmt wurden. Dieser Arm war vor der Regulirung der
seichteste und für die Schiffahrt ungeeignetste Wasserweg; seine Wahl
im Pariser Vertrage dankte er allein der neutralen Lage. Gegenwärtig
können Schiffe bis zu 7 m Tauchung in Sulina einlaufen und bis
Galatz und Braila verkehren. Seitdem nahm die Frequenz des Sulina-
Hafens bedeutend zu und wurde eine ansehnliche Verminderung der
früher so zahlreichen Schiffbrüche erzielt.
Das unter 45° 9′ nördl. Br. und 29° 40′ östl. L. v. Gr. (Leucht-
feuer in der Stadt) liegende Städtchen Sulina besteht aus einer am
rechten Ufer gelagerten langen Reihe von bescheidenen Häuschen. Im
Osten sind die Gebäude der Donaucommission, die hier ihren Haupt-
sitz hat; dort ist auch das Hafencapitanat, das Telegraphenamt, die
Sanität mit dem Lootsengebäude und die Rettungsbootstation.
Am linken Donauufer sind die Werkstätten der Donaucommission
im Betriebe.
Die Hochwasserperioden der Donau fallen in das Frühjahr und in den
Herbst. Der Wasserstand erreicht zuweilen, wie 1875, die Höhe von 6 m über Null, ge-
wöhnlich aber nur 4 m. Bei einer durch mehrere Tage anhaltenden Kälte von
6 bis 8°C. bildet sich auf der Donau die Eisdecke.
Die Umgebung von Sulina ist trostlos. Während der heissen
Jahreszeit werden die Myriaden blutdürstiger Mosquitos der Sumpf-
gegend zu einer gefürchteten Landplage, und die grosse Kälte der
rauhen Winter, die, wie 1829, die Donau zuweilen mit einer 2 m
dicken Eisdecke überzieht, vollendet das wenig beneidenswerthe Los
der in Sulina exilirten Menschen.
19*
[148]Das Mittelmeerbecken.
Das kleine Städtchen Sulina mit 3200 Einwohnern ist das Thor,
durch welches der ganze Seeverkehr der rumänischen Häfen Sulina,
Tultscha, Galatz, Braila und eines Theiles der russischen Plätze
Reni, Ismail und Kilia passiren muss. Sein Verkehr ist vollständig
abhängig von den Verhältnissen, welche in dem ganzen Gebiete des
Unterlaufes der Donau herrschen, denn der ganze Bezirk Sulina hat
nur 7940 Bewohner, die grösstentheils aus Fischern, Seeleuten und
Taglöhnern bestehen. Hier müssen wir also in erster Linie den Schiffs-
verkehr ins Auge fassen.
Der gesammte internationale Schiffsverkehr an der Sulinamündung betrug:
| [...] |
Wir schicken voran, dass der grösste Theil der einlaufenden Schiffe unbe-
laden ist.
An der Steigerung des Tonnenverkehres der Dampfschiffe hat die englische
Flagge den Löwenantheil, und im Jahre 1888 waren die englischen Dampfer an
dem gesammten Schiffsverkehr der obengenannten Donauhäfen mit 46 % der An-
zahl der Schiffe und 71 % des Tonnengehaltes betheiligt, dagegen die übrigen
Flaggen, Dampfer und Segler zusammengenommen mit 54, respective 29 %. Es
ist überdies zu bemerken, dass von den Engländern nur Dampfschiffe auf der
unteren Donau verkehren und dass die englischen Schiffahrts-Unternehmungen meist
die Fracht des Getreides vermitteln, die ihnen und den Schiffen anderer Nationen,
die diesen Theil des Handels betreiben, meist volle Ladung sichert, während die
Schiffe der regelmässigen Linien, die bei Galatz aufgezählt sind, sich mit Theil-
ladungen begnügen müssen. Ueberdies drücken sie gegenseitig die Frachtsätze
zu sehr herab, vor allem die Gesellschaft Navigation à vapeur Egée, Eigenthümer
Courtgi \& Co. in Constantinopel, welche 1888 wieder in der Sulina erschienen ist.
Neben England, doch weit zurück, stehen Oesterreich-Ungarn, diesem fast
gleich Griechenland, dann Frankreich, Italien, Russland und die Türkei; letztere
überwiegend mit Segelschiffen.
Nur ein kleiner Theil der obigen Dampfer ist in Sulina handelsthätig. Die
Ziffer erreichte 1888 1172 Dampfer mit 1,035.890 Tonnen, 67 Segler mit 6125
Tonnen, also zusammen 1239 Schiffe mit 1,042.015 Tonnen im internationalen
Verkehre; der selbständige Küstenverkehr Sulinas erreichte 1888 1454 beladene
Segler mit 377.397 Tonnen im Einlaufe und dieselbe Zahl unbeladener Schiffe im
Auslaufe. Diese Schiffe sind nämlich die Schleppschiffe, welche von den oberen
Häfen Getreide bringen und bedeutenden Gewinn abwerfen; sie sind meist in den
Händen von Griechen. In Zukunft will sich auch die Erste k. k. priv. Donau-
Dampfschiffahrtsgesellschaft mit eigens in Budapest gebauten Dampfern mehr als
bisher an dem Transporte des Getreides auf der unteren Donau betheiligen. Im
Jahre 1887 umfasste der Schleppverkehr im Einlaufe 1208 Schiffe mit 306.542
Tonnen.
Rumänien und auch die beiden anderen Donauuferstaaten Russland und
Bulgarien sind Ackerbaustaaten und wichtig für die Versorgung des industrie-
[149]Die Donauhäfen.
reichen Westens von Europa mit Getreide. Getreide und andere Bodenfrüchte sind
daher die Ausfuhrartikel der unteren Donau, zu denen freilich Russland nur etwa
ein Zwanzigstel, Bulgarien sogar viel weniger liefert. Der Donauweg ist der
billigste für den Aussenhandel Rumäniens und daher folgt ihm abwärts und auch
aufwärts ein so grosser Theil desselben.
Die Waarenausfuhr über die Sulinamündung betrug:
| [...] |
A Glockenboje vor der Mündung, B Piloten- und Rettungsbootstation, C Amtsgebäude der Commission,
D Werkstätten der Commission, E Stadthaus, F Leuchtfeuer, G Mühle, H Schutzdämme.
Nach Getreide ist Holz der wichtigste Artikel; die unbearbeitete Waare
kommt zum grossen Theile aus der Bukowina den Pruth abwärts. 1888 wurden
drei Flösse, 4,117.103 Stück Bretter, 51.270 m3 Bauholz, 73.874 Stück Eisenbahn-
schwellen und 1,077.064 Stück Fassdauben über Sulina ausgeführt.
Auch Käse, lebendes Vieh und Spiritus nimmt seinen Weg über die Sulina
ins Ausland.
Die Importartikel für den eigenen Bedarf des Platzes hatten 1888 einen
Werth von 850.000 Francs, 1887 einen solchen von 819.500 Francs. Grösseren
Absatz finden nur Colonialwaaren und Artikel für den Schiffsgebrauch, ferner
Lebensmittel. Wichtige Waaren, welche hier nur durchgehen, sind russisches Petro-
leum (1888 112.855 Kisten, 1887 214.007 Kisten) und englische Steinkohlen
(1888 176.768 Tonnen).
[150]Das Mittelmeerbecken.
Zum Schlusse sei erwähnt, dass aufwärts von Sulina, in Tultscha, ein
grossartiger Fischfang besteht, der 12.000 q liefert, welche zum grössten Theile
nach Galatz, Braila, Bukarest und Bulgarien abgesetzt werden.
Aber, wie schon erwähnt, Sulina ist nur das Ausfallsthor, der Hauptsitz
des Donauhandels dieser Gegenden ist Galatz, welches 90 km oberhalb Sulina liegt.
Ihm ist der nächste Abschnitt gewidmet.
Consulate: Grossbritanien (V. C.), Oesterreich-Ungarn, Türkei (V. C.).
Galatz.
Die Stromverhältnisse der unteren Donau bieten der Schiffahrt
unter gewöhnlichen Verhältnissen keinerlei wesentliche Beschwerden.
Das Fahrwasser ist von Sulina an genügend tief, die Strömung
mässig, so dass die Schiffe jeder Grösse bei Führung durch die ver-
lässlichen Flusslootsen schnell und sicher die bedeutenden rumäni-
schen Handelsstädte Galatz und Braila, die Endpunkte der grossen
Seeschiffahrt in der Donau, erreichen können.
Die vortheilhafte Lage von Galatz am linken Donauufer zwi-
schen den Mündungen der beiden schiffbaren Nebenflüsse Pruth und
Szereth (rumänisch Sǐretu) unter 45° 25′ nördl. Br. und 28° 5′
östl. L. v. Gr. (neuer Hafen), charakterisirt die Stadt sowohl in mili-
tärischer als commercieller Hinsicht zum Schlüsselpunkt der unteren
Donau. Derselben Ursache ist die schon zu Römerzeiten bestandene
Befestigung, die gleichzeitig auf den Bestand einer Handelsnieder-
lassung an jener Stelle hinweist, zuzuschreiben.
Galatz, rumänisch Galaţi, bedeckt das westlich des Bratisch-Sees
(Lacul Bratǐş) befindliche Terrain, auf dem, wie unser Plan zeigt,
eine gegen Osten steil abfallende Terrainwelle bis hart an die Donau
tritt. Dadurch erhält die Stadt eine natürliche Theilung in ein oberes
und unteres Gebiet.
Der äussere Anblick von der Flussseite ist recht malerisch; denn
die unregelmässig zwischen grünen Gärten vertheilten, von Thürmen
und Kuppeln überragten Gruppen luftig gebauter weisser Häuser, die
am Ufer sich zu verdichten scheinen, geben dem Stadtbilde viel Be-
wegung und Reiz. Auch die Hafenpartien am Quai, wo Dampfer und
Segelschiffe anlegen, um Ladungen zu löschen oder zu laden, fesseln
unser Interesse.
Die untere Stadt (Mahala) lagert längs des breiten ge-
mauerten Donauquais und schiebt sich ostwärts keilförmig zwischen
den Bratisch-See und die Donau. Durch einen Damm, auf dem die
gegenwärtig aufgelassene Eisenbahn nach Reni führte, ist die Vorstadt
[151]Die Donauhäfen.
gegen Ueberschwemmungen durch den genannten sumpfigen See
geschützt.
In Mahala ist das eigentliche Handelsquartier von Galatz, hier
liegen längs der Strada Portuluǐ (deutsch: Hafenstrasse) die Bureaux
der Dampfschiffahrts-Gesellschaften, die Börse, die Comptoirs der grossen
Firmen, die königlich rumänischen Handels- und Schiffahrtsämter und
andere dem Verkehr gewidmete Anstalten. Auch die königliche Marine-
schule hat dort einen Platz gefunden.
Im östlichen Theile der unteren Stadt ist, wie der Plan zeigt,
ein neuer Handelshafen im Bau, auf dessen Details wir zurückkommen
werden. Hieran schliesst sich das kleine Arsenal der rumänischen
Donauflotille und weiters bis nahezu an die Mündung des Pruth wird
das Ufergelände zur Lagerung der aus dem Innern geschwemmten
grossartigen Holzmassen verwendet. Flussaufwärts der Stadt knapp
unterhalb der Szereth-Mündung besteht ein Winterhafen, der, nach
dem Plane des englischen Ingenieurs Sir Charles Hartley erbaut, aus-
schliesslich der königl. rumänischen Flotille dient. Handelsschiffen ist
dort keine Zuflucht geboten.
In der oberen Stadt bemerkt man zwei auffallend unter-
schiedene Theile; der südliche weitaus volkreichere besteht aus meist
einstöckigen Häusern in engen, jedoch gepflastersten Strassen, wohin-
gegen der nördliche und neueste Theil eigentlich ein ausgedehntes
elegantes Cottagegebiet mit schönen, in blühenden Gärten einge-
schlossenen Hochparterregebäuden und regelmässigen Strassen bildet.
Dort fanden denn auch der besitzende Theil der Bevölkerung, die
Consuln, die Donaucommission u. A., sehr verlockende Heimstätten.
Auch die Aemter, Schulen, Hôtels und Cafés sind dort an-
zutreffen.
Die Trajanstrasse und die Strada Domnesca (Herrenstrasse), beide
in nördlicher Richtung laufend, sind die Hauptverkehrsadern der
oberen Stadt. Von den Querstrassen sind die Strada Braila und nördlich
die Strada Zimbrului erwähnenswerth.
Unter den freien Plätzen sind das hübsche Poligon des Tărgu
de fen şi vite, der Tărgu Cercale, Tărgul nou und der Volksgarten
(Gradina Publica) die grössten.
Von den 25 Kirchen ist die griechisch-orientalische Kathedrale
die hervorragendste.
Der Pruth wird von Reni bis Nemtzeni mit Dampfern von höchstens 1·2 m
Tiefgang, mit Segelfahrzeugen aber gar nicht befahren. Bis zu dem letzteren Orte
ist der Fluss regulirt; die Arbeiten werden bis zur österreichischen Grenze fort-
[152]Das Mittelmeerbecken.
gesetzt. Die Wassertiefe des Pruth beträgt bei Reni bei mittleren Wasserstand
4 m, bei niedrigsten Wasserstand — Nullwasser — jedoch nur 2¼ m.
Der Bezirk von Galatz zählte 1886 eine Landbevölkerung von
65.048 und eine städtische von 60.788 Seelen. Das engere Stadtgebiet
von Galatz wird jedoch einschliesslich der nächstgelegenen Vororte auf
höchstens 50.000 Einwohner, welche verschiedenen Nationalitäten an-
gehören, geschätzt. Besonders stark ist die österreichisch-ungarische
Colonie mit 4000 Seelen vertreten.
Galatz ist durch eine 7 km lange Zweigbahn mit der rumäni-
schen Haupt-Bahnlinie Roinau-Bukarest-Verciorova verbunden. Mit
Reni, der russischen Endstation, besteht gegenwärtig, wie vorne erwähnt,
keine Eisenbahnverbindung.
Bis zum Jahre 1883 war Galatz ein Freihafen.
Der Bahnhof liegt im östlichen Theile der unteren Stadt und
führt seine Geleise zum nächstgelegenen neuen Hafen- oder Dockbassin.
Wie unser Plan dieses interessanten und grossartigen Werkes zeigt, besteht
der Hafen aus einem Bassin von 500 m Länge und 120 m Breite, am Boden ge-
messen. Das Bassin steht vermittelst eines Canales mit der Donau in Verbindung.
Der Canal, dessen Axe mit der Axe des Bassins einen Winkel von 34° 30′
bildet, hat an der Donau eine Breite von 30 m und an der Stelle des Anschlusses
an das Bassin eine solche von 321 m.
Die Nordseite des Bassins wird von einem 500 m langen Quai begrenzt,
die anderen Bassinseiten und die Canalufer sind nur mit Steinwurf und Steinpflaster
versehen.
Die Canalmündung an der Donau wird an der Westseite durch eine 50 m
lange Mauer, an der Ostseite durch eine ebenso lange, mit dem Ufer parallel
laufende Holzbrücke gebildet.
Hinter dem Quai sind zwei grosse Getreidespeicher A und B mit Silo-Anlagen
projectirt, in welchen das Aufspeichern, Ausputzen, Abwägen und Einladen des
Getreides in die Seedampfer durch Maschinen stattfindet. Von diesen Speichern
wird vorläufig nur A gebaut.
Ferner sind zwei grosse Magazine C und D zum Aufnehmen von Colonial-
waaren etc. projectirt; jedoch wird vorläufig nur das Magazin C gebaut.
Das Gebäude E ist das Maschinenhaus; es enthält die Dampfkessel und
Triebmaschinen, welche die maschinellen Anlagen der Getreide-Elevatoren treiben.
Vor den Getreidespeichern werden mehrere eiserne, zur Aufnahme von Waaren
bestimmte Baracken F errichtet.
In dem Gebäude G auf der Westseite des Bassins werden die Bureaux für
Douane, Polizei etc. installirt werden.
Die Tiefe des Bassins beträgt 5 m unter dem niedrigsten Wasserstand der
Donau, und da das Terrain durchschnittlich eine Höhe von 4 m über diesem Wasser-
stand hat, so beträgt die Tiefe der Ausgrabung durchschnittlich 9 m. Dieselben
Maasse gelten auch für die Mündung. Mit der ausgeschachteten Erde (950.000 m3)
ist das Terrain um das Bassin bis zu 6 m über den niedrigsten Wasserstand der
Donau angeschüttet worden.
[[153]]
Galatz.
Die Seehäfen des Weltverkehr. I. Band. 20
[154]Das Mittelmeerbecken.
Der mittlere Wasserstand der Donau ist 3 m und der höchste 5·74 m über
dem niedrigsten, indem die Donau beim niedrigsten Wasser gewöhnlich 1·50 m höher
als der angenommene niedrigste Wasserstand steht.
Der Quai. Die Nordseite des Bassins wird von einem [Quai], gleich lang wie
das Bassin selbst, begrenzt. Die Construction desselben ist folgende:
Der Platz, auf welchem sich der Quai befindet, ist bis zum Boden des
Bassins, also bis 5 m unter dem niedrigsten Donaustand, ausgeschachtet und
alsdann mit zusammengebundenen Faschinen bis zu 50 cm unter dem niedrigsten
Wasserstande angefüllt (H). Quer durch die Faschinen sind Piloten eingerammt.
Die Pilotenreihen stehen 1 m von einander entfernt. Jede Reihe hat 10 Piloten,
wovon 4 Stück eine Steigung aus der Verticale von 0·25 haben (J), was ungefähr
mit der Richtung der Resultante vom Erddruck übereinstimmt. Eine Pilote hat
eine Steigung von ⅛ (K), die 5 hinteren, welche die Verankerung der Mauer
darstellen, stehen vertical (L). Die Länge der Piloten ist 15 m, der mittlere Durch-
messer der 5 vorderen 35 cm, der 5 hinteren 30 cm. Das Material ist Tannenholz
aus der Bukowina.
Die in einer Reihe stehenden Pfähle sind durch ein 35 cm breites, 30 cm
hohes Kantholz verbunden. In der Längsrichtung des Quais sind über die 30/35
Kanthölzer Hölzer von 20/25 angebracht. Die obere Seite der letzteren Hölzer
liegt genau auf der Höhe des niedrigsten bekannten Wasserstandes. Hier fängt
die Mauerarbeit vom Quai an. Der Quai wird durchwegs aus Beton mit einer Ver-
kleidung von Quadersteinen gemacht. Die Zusammensetzung des Betons ist folgende:
12 Schiebkarren Schotter, 6 Schiebkarren Sand und 10 Schiebkarren Cement.
Im Quai sind viele cylinderförmige Ersparungen (M) zu dem Zwecke ange-
bracht worden, um ein mehr stabiles Querprofil zu erhalten. Das letztere ist nicht
auf die ganze Länge darstellbar; es ist ein verschiedenes gegenüber den Getreide-
speichern, beziehungsweise den Dampfkrahnen etc.
Der Steinwurf und das Pflaster.
Die Bassinufer sind mit Ausnahme der Quaiseiten durch Steinwurf und
Pflaster gegen das Wasser geschützt.
Der Steinwurf schützt die Ufer vom Boden bis zu 1 m über dem niedrigsten
Wasserstand; die Steigung der Böschung an dieser Stelle ist 1·5 auf 1. Der Stein-
wurf hat am Boden 3 m, oben 1 m Breite; seine Höhe ist 6 m. Jeder Quadrat-
meter Wurffläche deckt also durchschnittlich 12 m3 Stein.
An den Steinwurf schliesst sich als Uferschutz ein 40 cm dickes Pflaster
aus unbehauenen [Quadersteinen], 4 m hoch an; die Steine liegen ohne Mörtel in einer
15 cm dicken Schotterschicht. Auf dem Niveau dieses Pflasters ist ein 2 m breites
Banquet hergestellt. Oberhalb dieses Pflasters wird der Uferschutz durch Gras-
anpflanzungen gebildet.
Wie der Verbindungscanal zwischen Bassin und Donau construirt werden
soll, ist zur Zeit (Anfang November 1889) noch nicht des Näheren bekannt.
Die Erbauungskosten der geschilderten Anlagen sollen mit 18 Millionen Francs
veranschlagt worden sein.
Wie wir vernehmen, soll noch ein schwimmender Getreide-Elevator die
Anstalten des Bassins bereichern.
Die Industrie von Galatz ist nur mässig entwickelt; es stehen
nur zwei grosse Dampfmühlen, eine Dampfsäge und zwei Seifen- und
Kerzenfabriken im Betriebe.
[155]Die Donauhäfen.
Galatz ist das Centrum des Einfuhrhandels an der unteren
Donau, für die auf dem Seewege eingeführten Waaren. In dieser
Beziehung steigt die Bedeutung des Platzes seit Ende 1886 unaus-
gesetzt, weil seit diesem Zeitpunkte Oesterreich-Ungarn und Rumä-
nien sich gegenseitig in einem Zollkriege befinden. Die Waaren aus
Oesterreich-Ungarn sind den hohen Sätzen des autonomen rumä-
nischen Zolltarifes unterworfen, die Vertragsstaaten geniessen für eine
grosse Reihe von Artikeln den Vortheil von Zollsätzen, welche oft
um ein sehr Bedeutendes niedriger sind als die autonomen. Daher
treten jetzt häufig Waaren aus Deutschland, Belgien, Frankreich,
England, Italien und Holland, welchen der Seeweg zur Verfügung
steht, dann auch aus der Schweitz an die Stelle solcher aus Oesterreich-
Ungarn, welche meist mit der Bahn über Verciorova, Predeal oder
Itzkany kamen und bis Ende 1886 den rumänischen Markt beherrscht
hatten. Auch die Frachtverhältnisse, welche beispielsweise billigere
Sätze von Antwerpen nach Galatz als von Wien nach Galatz auf-
weisen, wirken dahin, dass besonders für voluminösere Waarengattungen
der hiesige Hafen gegen das westliche und nördliche Rumänien im
Consum der Provenienzen aus Oesterreich-Ungarn zurückstehen muss
und dass diese Waaren aus Westeuropa bezogen werden.
Im Exporthandel, der zumeist Cerealien umfasst, steht Galatz weit
zurück gegen das an der Donau weiter oben gelegene Braila, indem von diesem
Hafen ungefähr viermal soviel Cerealien zur Ausfuhr kommen wie von Galatz.
Wegen der ungünstigen Eisenbahnverbindung über Barbosi hat Galatz allmälig
den grössten Theil seiner alten Bedeutung an Braila verloren. Auch Odessa con-
currirt mit Galatz; die Zufuhren aus der oberen Moldau wenden sich alle dem
russischen Hafen zu. Dieses Handelsgebiet wird aber durch Eisenbahnen, deren
Bau von der rumänischen Regierung betrieben wird, in Zukunft dem Einflusse von
Galatz zufallen. Die älteren Eisenbahnen der Moldau, welche die Bukowina mit
Galatz verbinden, gehen in ziemlicher Nähe von den Grenzen Siebenbürgens. Das
dicht bevölkerte, mit Naturschätzen gesegnete und gut cultivirte Gebiet auf der
Seite gegen Russland wurde nur in seinem nördlichen Theile von einer Eisen-
bahnlinie durchzogen, welche von Pascany über Jassy und den Grenzort Critesti
nach Odessa geht. Eine Eisenbahnverbindung von Galatz nach dem genau im
Norden gelegenen Berlad würde Galatz gegen Braila begünstigen, nachdem die
Fortsetzung derselben, die Linie Berlad-Vaslui-Jassy, Galatz in directe Verbindung
mit der untern und obern Moldau setzen würde. Auch der Bezirk von Dorohoiu,
der nördlichste Rumäniens, ist durch einen Flügel, der seinen Hauptort mit Lewida
an der Bahn Czernowitz-Jassy verbindet, dem Verkehre erschlossen. Für Rumänien
und Galatz ist aber viel wichtiger die bereits concessionirte Bahn von Jassy durch
das Thal der Jijia nach Dorohoiu; denn dann ist der Verkehr der östlichen Moldau
dauernd an Rumänien gefesselt. Die von Oesterreich-Ungarn, Russland und Rumä-
nien beschlossene Fortsetzung der Regulirung des Pruth bis in die Nähe der öster-
reichischen Grenze wird auch viel zur Belebung des Handels von Galatz beitragen.
20*
[156]Das Mittelmeerbecken.
Der Handel von Galatz betrug:
| [...] |
Aus Galatz wurden in dem für Rumänien so überaus günstigen Erntejahre
1888 976.273 q Roggen, 614.251 q Weizen, 366.776 q Gerste, 364.940 q Mais,
81.982 q Hafer, dann 28.980 q Weizenmehl und 12.430 q Kleie aller Art exportirt.
Die Ausfuhr von Oelsaaten erreichte 18.111 q, die von Bohnen 10.598 q; die
letztere war 1888 ungewöhnlich niedrig.
Der grösste Abnehmer rumänischer Bodenproducte ist England (1888
1,527.672 q); von dem bedeutenden Exporte nach Belgien (243.027 q) und Holland
(203.545 q) nahm sicher ein grosser Theil über Antwerpen und Rotterdam seinen
Weg nach Deutschland Die nach Italien (139.770 q) transportirte Waare ist zum
Theile auch nach der Schweiz bestimmt gewesen, die überdies 25.187 q direct be-
zogen hat. Die anderen Absatzländer sind Norwegen (110.250 q), Frankreich
(76.972 q), Deutschland (64.328 q) und Spanien (44.565 q).
Bohnen gehen nach England, Frankreich, Italien und der Türkei; Mehl
regelmässig in die Türkei, unter günstigen Verhältnissen auch nach England,
Italien und Belgien.
Die Ausfuhr rumänischer Weine ist 1888 auf 82.722 q gegen 41.630 q im
Jahre 1887 gestiegen, sie waren fast alle nach Südfrankreich bestimmt.
Die einst so bedeutende Ausfuhr von Hornvieh hat fast ganz aufge-
hört; 1887 wurden noch 5024 Stück, 1888 nur mehr 544 Stück, davon das meiste
nach Italien, ausgeführt. Die Viehzucht Rumäniens hat durch die Grenzsperre,
welche Oesterreich-Ungarn gegen die Einfuhr des Rindviehes errichtet hat, einen
empfindlichen Schlag erlitten. Die Preise sanken so, dass den Bauern kein Ge-
winn mehr blieb, und die geringe Hoffnung, welche man auf den Export zur See
setzte, wurde 1887 durch den Zollconflict zwischen Frankreich und Italien ver-
nichtet. Denn da Frankreich nicht mehr Rindvieh aus Oberitalien einführt, so
treten die werthvollen Rinder dieses Gebietes in Süditalien, dem bisherigen Ab-
satzgebiete des rumänischen Hornviehes, mit dem minderwerthigen Vieh Rumäniens
in Concurrenz. Die Erzielung besseren Rindviehes wird überdies auch durch den
Rückgang der Spiritusproduction vereitelt, mit welcher regelmässig Viehmastung
verbunden ist. Die Aufhebung der bis Ende October 1887 gewährten Exportprämie
ist die Ursache der Verminderung dieser Production.
Von grosser Wichtigkeit ist für Galatz auch der Export von Bauholz,
welches in dem bedeutendsten industriellen Unternehmen Rumäniens, in der zu
Galatz etablirten „Actiengesellschaft für Holzgewinnung und Dampfsägebetrieb,
vormals Götz \& Comp.“ bearbeitet wird. Diese Gesellschaft hat sich den Bezug
von Holz aus den Waldungen der Bukowina gesichert, konnte aber das dort ge-
fällte Rundholz nach dem für österreichische Provenienzen bestehenden Zollsatze
von 15 Francs per Cubikmeter nicht nach Galatz einführen. Das rumänische
Rundholz wieder ist unvermischt zur Ausfuhr nicht geeignet.
Die Regierung musste die erste Fabrik des Landes in ihrem Bestande
schützen, und die Kammern bewilligten 1889 auf 15 Jahre die Rückerstattung des
Einfuhrzolles für Rundholz, welches aus der Bukowina eingeführt ist, unter der
[157]Die Donauhäfen.
Bedingung, dass die Unternehmung sich ausweise, mindestens 80 % von der Brutto
eingeführten Quantität als in Rumänien verarbeitetes Holz exportirt zu haben. Dadurch
wird die Gesellschaft genöthigt, auch rumänisches Holz zu verarbeiten, da der
Abfall des eingeführten Holzes nach dessen Verarbeitung im exportfähigen Zustande
A Donau-Strom, B neuer Hafen, C Agentien der Dampfschiffahrts-Gesellschaften, D Börse, E neuer
Quai, G Seiten- und Kerzen-Fabrik, H Bahnhof der rumänischen Eisenbahn, J Stationsgebäude,
K Bratesch-See, L Sumpf, M Platz Tergu de Fén si Vite, N Spital, O Garten, P Platz Cercale,
Q Kaserne, R Tergul nou, S Meidanu Strajescu, T Damm und Strasse nach Reni, U Braila-Strasse,
V Trajan-Strasse, W Domnesca-Strasse, X Zimbrului-Strasse, Y Bessaraiei-Strasse, Z Militär-Spital,
I untere Stadt, II obere Stadt.
bedeutend mehr als 20 % beträgt. Nur durch diese Begünstigung bei der Einfuhr
wurde das Sägewerk wieder in Stand gesetzt, die Ausfuhr seiner Producte zu be-
treiben und neue Absatzgebiete aufzusuchen. Der Export von Bauholz aus Ru-
mänien betrug 1888 237.462 q, 1887 291.150 q, und war nach der Türkei, Russland,
[158]Das Mittelmeerbecken.
Griechenland, Bulgarien, Spanien, Massaua und Frankreich bestimmt. Der Export
von Brettern nach Batum zur Herstellung von Petroleumkisten, welcher im Früh-
jahre 1889 eingeleitet wurde, verspricht eine bedeutende Einnahmsquelle der Ge-
sellschaft zu werden. Die übrigen vier Holzsägen, welche in Galatz bestehen, ver-
arbeiten nur rumänisches Holz und haben fast keinen Antheil am Exporte.
Die übrigen Exportartikel von Galatz, wie Guss- und Schmiedeeisen, Eisen-
und Stahlschienen, Eisenstangen, Eisenplatten (1888 zusammen 116.036 q), sind
fast durchwegs Transitwaaren nach Bulgarien und Bessarabien.
Das wichtigste über die Einfuhr wurde schon vorangestellt, hier ist nur
nachzutragen, dass eine Zeitlang ein gewisser Theil der Waaren von Oesterreich-
Ungarn, besonders solche der Textil- und Lederindustrie in der Schweiz und im
Deutschen Reiche, durch Erlegung des Einfuhrzolles naturalisirt wurde und auf diesem
Umwege nach Rumänien unter dem Zollsatze gelangte, den die Handelsverträge
Rumäniens mit diesen Staaten festsetzen; doch wurde die Fortdauer dieser Praxis
durch eine Ende 1889 erlassene Verfügung der rumänischen Regierung verhindert.
Was Oesterreich-Ungarn jetzt nicht mehr liefern kann, bringen England und Deutsch-
land, die in erster Linie an die Stelle Oesterreich-Ungarns getreten sind. Wir
stellen nun die wichtigsten Einfuhrartikel von Galatz zusammen.
Bis zum 1. Juni 1886 beherrschte der österreichische Zucker vollständig
den Markt in der Moldau und in Galatz. Seitdem dominirt in der unteren Moldau
nach Norden hinauf bis Jassy der französische Zucker und deckt in diesem Ge-
biete 70 % des gesammten Verbrauches; er geniesst den Vortheil einer billigen
Seefracht. Höher hinauf finden wir deutschen Zucker aus Oberschlesien, der auf
dem Landwege zugeführt wird. Kleinere Mengen Zucker kommen nach Galatz
aus Belgien und Russland. Einfuhr 1888 23.730 q, Werth 2·1 Millionen Francs,
1887 23.826 q.
Weil für Kaffee jedweder Provenienz der gleiche Zoll gilt, so hat Triest
in diesem Artikel eine Einfuhr, die nahezu gleich ist der aus England. Einfuhr
1888 5484 q, 1887 4559 q. Dasselbe gilt von dem Handel mit Gewürzen.
Reis wird direct aus Rangoon bezogen. Einfuhr 1888 51.492 q.
Südfrüchte kommen aus der Türkei und Griechenland (Einfuhr 1888
33.111 q), Harz, Pech und Colophonium aus England, Italien und Frankreich
(1888 4562 q im Werthe von mehr als zwei Millionen Francs), Speiseöl aus Frank-
reich und Italien, Olivenöl aus der Türkei und Griechenland, Leinöl aus England.
Die Einfuhr von roher Baumwolle ist gering, die von Baumwollgarnen und
Geweben sehr bedeutend. Von den 16.527 q im Werthe von 6,563.200 Francs
(1888) entfällt der weitaus grösste Theil auf England, der Rest auf die Schweiz
und das Deutsche Reich; doch stammt die Einfuhr des letzteren Landes ursprüng-
lich aus Oesterreich-Ungarn. Wollwaaren liefern England, Deutschland und
Oesterreich-Ungarn, Hanfwaaren Russland, Jutefabricate England. In vielen Gat-
tungen von Papier und Glaswaaren ist Oesterreich-Ungarn, trotz der riesigen Zölle,
die auf seine Artikel gelegt sind, concurrenzfähig geblieben.
Auch in Eisen- und Stahlwaaren dominirt England, neben ihm treten Bel-
gien, Deutschland und Frankreich als Lieferanten auf (Einfuhr 1888 141.398 q im
Werthe von 7,353.600 Francs). Chemische Producte kommen meist aus England,
Stearin- und Stearinkerzen aus Belgien und Holland, gegerbte Häute aus England,
Frankreich, Deutschland und Italien.
[159]Die Donauhäfen.
Wie schon erwähnt, wird Bauholz aus der Bukowina zugeführt, Kohlen
bringt England auf nationalen Schiffen (1888 744.245 q), auch Oesterreich ist mit
einer kleinen Einfuhr betheiligt; endlich Mineralöl aus dem russischen Kaukasien.
Bemerkenswerth ist endlich die steigende Einfuhr von Maschinen, speciell von
Ackerbaumaschinen; 1888 wurden in Galatz die Vorräthe erschöpft. In dieser
Thatsache liegt eine Bürgschaft für die zunehmende Entwicklung des Ackerbau-
staates Rumäniens, das trotz aller Veranstaltungen seiner Regierungen es zu einer
nennenswerthen Industrie kaum jemals bringen wird. Denn der Rumäne ist zum
Fabriksarbeiter durchaus ungeeignet, dagegen verdient die Hausindustrie der
Rumänen vielfach Anerkennung. Leider geht sie mit der fortschreitenden Ent-
wicklung der Communicationsmittel durch die Fabriksindustrie zugrunde.
Die Träger der Industrie sind in Rumänien aus der Fremde eingewanderte
Arbeiter, Rumänien müsste daher zunächst die Einwanderung fördern, wenn es
aus seinem Industriegesetze vom 24. Mai 1887 ausreichenden Gewinn ziehen soll.
Dann erst kann Rumänien darauf rechnen, die grossartige Einfuhr, welche meist
Industrieartikel umfasst, herabzumindern und zu einer activen Handelsbilanz zu ge-
langen. Denn in dem günstigen Erntejahre 1887 führte Rumänien für 265·5 Mil-
lionen Leï Waaren aus, für 314·7 Millionen Leï ein. Das Motiv des vielbesprochenen
Industriegesetzes Rumäniens, das seitdem auch in anderen Ländern Nachahmung
gefunden hat, ist, das Land durch Unterstützung der bestehenden und Schaffung
neuer Industrien soviel wie möglich vom Auslande unabhängig zu machen.
Bei 50 Unternehmungen wurden auf Grundlage dieses Gesetzes geschaffen,
manche sind aber seitdem wieder eingegangen, viele haben aus dem oben ange-
gebenen Grunde trotz der grossartigen Unterstützungen, welche ihnen das Gesetz
gewährt, nicht die Entwicklung genommen, welche man gehofft hatte; sie sind
eben nur schwer im Stande, auf die Dauer der billigen und regen ausländischen
Concurrenz zu widerstehen.
Die grosse Menge des rumänischen Volkes hat wenig Bedürfnisse, sie ver-
braucht daher nur gewöhnliche Erzeugnisse.
Gerade diese Artikel wurden aus Oesterreich-Ungarn geliefert, und daher
ist das Industriegesetz ebenso wie der autonome Zolltarif in erster Linie gegen
Oesterreich-Ungarn gerichtet, und wenn auch in der Nähe der Grenze dieses
Staates seine Artikel bis auf Zucker noch den grösseren Theil des Marktes ver-
sorgen, so sind schon zahlreiche Besitzer kleinerer industriellen Unternehmungen,
zumal aus Siebenbürgen, nach Rumänien übersiedelt, um nicht erwerbslos zu werden.
Auch in Galatz ist eine Localindustrie für feinere Schuhwaaren und Herren-
kleider entstanden, welche immer mehr Ausdehnung gewinnt und die Einfuhr aus
Oesterreich-Ungarn entbehrlich macht. Sie wird zum grössten Theile von Staatsan-
gehörigen Oesterreich-Ungarns betrieben.
Von Fabriken bestehen ausser der schon genannten Unternehmung für
Holzindustrie die „Erste rumänische Seifen- und Kerzenfabrik (Konzelmann)“,
die ebenfalls das Privilegium der steuerfreien Einfuhr der zu ihrem Betriebe be-
nöthigten Rohmaterialien geniesst. Ihre ordinäre Seife hat das Product von Kreta
fast gänzlich verdrängt; sie concurrirt in Stearinkerzen mit Erfolg gegen Belgien
und Holland.
Ferner bestehen vier Dampfmühlen, die zwei grösseren waren 1888 nicht im
Betrieb, die zwei kleineren können sich nur mit Mühe der Concurrenz des Mehles
aus Botuschan erwehren, wo man in der Moldau das feinste Mehl erzeugt.
[160]Das Mittelmeerbecken.
Im Bezirke Covurlui, dessen Hauptort Galatz ist, bestehen drei Spiritus-
brennereien. Von den kleineren Etablissements ist nur eine Bierbrauerei hervorzu-
heben, welche den ziemlich beträchtlichen Localconsum vollständig beherrscht.
Der Schiffsverkehr von Galatz hat sich wegen der grossen Getreideausfuhr
Rumäniens, die sich immer mehr dem billigen Seewege zuwendet, im Jahre 1888
gegen 1887 bedeutend gehoben und ist auch 1889 sehr ansehnlich, weil ein
grosser Theil der Ernte des Vorjahres wegen Mangels an Arbeitskräften im Lande
erst in diesem Jahre zur Ausfuhr gelangen konnte.
Der Schiffsverkehr betrug:
Seeschiffahrt:
| [...] |
Wie die Beschaffenheit des Verkehrs von Galatz ergibt, läuft ein grosser
Theil der Seeschiffe unbeladen ein, um hier Getreide aufzunehmen. Den bedeutendsten
Antheil haben immer die englischen Dampfer, welche im Jahre 1888 drei Viertel
der Getreideausfuhr und drei Fünftel des Importes fremder Industrie-Erzeugnisse,
überdies den von Reis, Pech und Kohle besorgten. Natürlich entfielen auf sie auch
48 % des Tonnengehaltes des gesammten Hafenverkehres, auf Oesterreich-Ungarn
und Frankreich nur je 18 %, obwohl beide Staaten regelmässige Schiffahrtsver-
bindungen mit Galatz unterhalten. Auf die türkische Flagge kamen 11 %, auf die
griechische 4·5 %.
In Galatz verkehren die nachfolgenden Dampfschiffahrts-Gesellschaften:
Oesterreichisch-ungarische Donau-Dampfschiffahrts-Gesell-
schaft mit Passagier- und Güterverkehr stromaufwärts, sowie jeden zweiten Tag
nach Reni, Tultscha und Ismaila nebst gelegentlichen Fahrten nach Odessa und Batum.
Oesterreichisch-ungarischer Lloyd mit dem Verkehr nach Constan-
tinopel, Braila, Küstendsche und Varna sowie nach den Mittelmeerhäfen.
Russische Schwarze Meer- und Donau-Dampfschiffahrts-Ge-
sellschaft, vormals Fürst J. Gagarin \& Comp., versieht die Verbindung zwischen den
russischen Häfen des Schwarzen Meeres und der Donau bis nach Sistovo. Dieselbe
Gesellschaft steht im Begriffe, einen Dampfschleppverkehr auf dem Pruth zu orga-
nisiren.
Französische Messageries Maritimes.
Französische Gesellschaft Fraissinet \& Comp.
Navigazione generale italiana Florio \& Rubattino.
Englische Gesellschaft Agentia Watson \& Yonell.
Türkische Gesellschaft Navigation à vapeur Egée P.M. Courtgi \& Comp.
Ausserdem erscheinen zahlreiche englische und griechische Dampfer in
unregelmässigem Verkehr.
Die Flussschiffahrt von Galatz hängt wie die Seeschiffahrt nicht allein
von der Menge des ins Ausland zu führenden Getreides ab, sondern auch von dem
Wasserstande der Donau. Im Jahre 1888 hatte die Donau von der Eröffnung der
Schiffahrt am 21. März bis Mitte Mai an den seichtesten Stellen eine Tiefe von 6 m;
Dampfer von 2000 Tonnen Gehalt konnten bis Braila aufwärts fahren und brauchten
nicht in Sulina auf die Getreideschlepper zu warten, um dort erst die Ladung zu
vervollständigen. Auf dem Pruth war dagegen in diesem Jahre der Wasserstand so
[161]Die Donauhäfen.
ausnehmend niedrig, dass sämmtliche auf diesem Flusse zum Getreidetransporte
bestimmte Tschonns (Barken) nicht nach Galatz kommen konnten und die Hoch-
wässer des Frühjahres 1889 abwarten mussten. So erklärt sich der Rückgang der
Flussschiffahrt in Galatz bei einer gleichzeitig starken Getreideausfuhr.
Der Verkehr in der Flussschiffahrt betrug:
| [...] |
niedrigsten Wasserstand der Donau reducirt).
A und B Getreidespeicher mit Silo-Anlagen, C und D grosse Magazine für Colonialwaaren, E Ma-
schinenhaus, F Eiserne Baracken, G Bureaux. — Profil des Quais von F bis D: H Faschinen-Fütterung,
J äussere Piloten mit ¼ Neigung, K Pilot mit ⅛ Neigung, L senkrechte Piloten, M Materialaus-
sparung, N Boden des Bassins, O niedrigster Wasserstand der Donau, P höchster Wasserstand.
Die meisten Schiffe führten 1888 die Flagge Oesterreich-Ungarns, hierauf
folgten griechische Schiffe, meist Segler, welche wie die griechischen Kaufleute in
dem Getreidehandel auf der unteren Donau eine hervorragende Stellung einnehmen;
den Schluss bilden rumänische, russische und türkische Schiffe.
Den regelmässigen Personen- und Güterverkehr besorgt auf der unteren
Donau die Erste k. k. privilegirte Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft. Die
bestehende Absicht, eine rumänische Dampfschiffahrt mit staatlicher Unterstützung
zu schaffen, wurde bisher nicht ausgeführt. Die auch auf der unteren Donau
verkehrende russische Dampfschiffahrts-Gesellschaft (vormals Gagarin) hat den Zweck,
den Absatz russischer Producte in die Donaustaaten zu fördern und zugleich den
Einfluss der russischen Politik zu stützen. Aus diesem Grunde zahlt die russische
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 21
[162]Das Mittelmeerbecken.
Regierung der Gesellschaft für die Schiffahrt auf der Donau, welche jetzt bereits bis
Widdin ausgedehnt ist, und für die Befahrung des Pruth eine ansehnliche Subvention,
von welcher das Unternehmen in der Hauptsache lebt. Denn mit den Frachten
ging man aus Concurrenzrücksichten gegen die k. k. Donau-Dampfschiffahrts-Ge-
sellschaft auf einen Stand hinunter, der keinen Nutzen mehr abwirft. Aber auch
die österreichische Gesellschaft befindet sich in einer keineswegs beneidenswerthen
Lage; sie muss den theuren Personenverkehr aufrecht erhalten, der seit dem Aus-
baue des ungarischen und rumänischen Bahnnetzes in diesen beiden Staaten nicht
mehr rentabel ist; er kann höchstens für das bulgarische Ufer als unentbehrlich
bezeichnet werden und ist sehr wichtig für den Localverkehr zwischen Galatz
und Braila.
Sowie Eisenbahnen parallel mit den Flüssen gebaut sind, hat für die Schiffs-
gesellschaften der Personenverkehr nur in Gegenden Werth, welche, wie der Rhein
auf der Strecke Mainz-Köln, sich eines ausnehmend reichen Verkehres von Touristen
zu erfreuen haben. Man muss auch bedenken, dass seit dem Zollkriege zwischen
Oesterreich-Ungarn und Rumänien der Verkehr auf dem oberen Theile der
rumänisch-bulgarischen Donau in beiden Richtungen wesentlich beschränkt ist.
Alles drängt von den mittleren und unteren Theilen des rumänischen Gebietes
zum Schwarzen Meere hinaus, aber es fehlen bis auf kaukasisches Petroleum die
umfangreichen Gegenfrachten von Naturproducten, welche ein Weltmeer, wie der
atlantische Ocean, dem Rheine oder der Schelde zuführt. Auch die Vertiefung des
eisernen Thores unterhalb Orsova wird die Dinge für die Flussschiffahrt nicht
besonders bessern, wenn nicht die Schranke beseitigt wird, welche heute zwischen
Oesterreich-Ungarn und Rumänien aufgerichtet ist. Dann wird die Donaustrasse
aufwärts besser ausgenützt werden können und diese Verkehrsrichtung durch die
heute schon eingerichtete Beförderung kaukasischen Petroleums, für welches die
österreichische und die russische Gesellschaft die Errichtung von Reservoirs an
passenden Orten planen, eine wesentliche Förderung erhalten. Für russisches
Petroleum kann die Donau in Mitteleuropa eine ähnliche Stellung einnehmen, wie
die Wolga in Russland. Man hat bisher die Donaustrasse zu sehr in ihrer Be-
deutung für den Verkehr nach dem Osten beachtet, ihre Zukunft liegt in der
Entwicklung des Handels nach dem Westen.
Galatz im Besonderen erwartet mit Sehnsucht die Vollendung
der staatlichen Docks und die Entwicklung eines Waarenverkehres.
Die zahlreich entstandenen Privatmagazine sind kein vollwerthiger
Ersatz derselben. Dann wird sich Galatz wieder aus dem materiellen
Niedergange erheben, in welchem es seit 1883 (Aufhebung des Frei-
hafens) begriffen ist.
Dem Handel dienen vor allem die Getreidebörse und die rumä-
nische Bank.
Um den Verkehr auf der unteren Donau aufrecht zu erhalten, besteht
seit dem Pariser Vertrage (30. März 1856) eine von der rumänischen
Regierung unabhängige Europäische Donau-Commission mit
dem Sitze in Galatz. Mitglieder waren ursprünglich die Vertreter der
Mächte, welche den Pariser Vertrag unterzeichnet hatten. Seit dem
[163]Die Donauhäfen.
Berliner Vertrage ist auch Rumänien in der europäischen Donaucom-
mission durch einen Delegirten vertreten. Die Aufgabe derselben
besteht in der Beseitigung der Schiffahrtshindernisse im Arme der
Sulina und an der Mündung, sowie in der stetigen Verbesserung des
Fahrwassers und in der Instandhaltung der ausgeführten Arbeiten.
Der europäischen Donau-Commission steht das Recht zu, fixe,
durch Stimmenmehrheit festzustellende Gebühren einzuheben, sowie
die Schiffahrts- und Flusspolizei auf Grund der im eigenen Wirkungs-
kreise zu erlassenden Reglements auszuüben. Infolge der Bestimmun-
gen des Londoner Vertrages vom 10. März 1883 (Art. I) erstreckt
sich die Jurisdiction der europäischen Donau-Commission gegenwärtig
auf den Stromlauf von Braila bis zur Mündung des Sulina-Armes
einschliesslich des Hafengebietes von Sulina.
Die Einnahmen der Commission erreichten 1888 2,077.110 Francs,
die höchste Ziffer seit deren Bestande, obwohl seit 1865 die Tarife
wiederholt herabgesetzt wurden, so 1881, 1883, 1885, 1888. Seit
1881 sind Schiffe von 100 Tonnen und darunter, seit 1885 solche
von 200 Tonnen und darunter von den Abgaben befreit.
Consulate: Belgien, Dänemark, Deutsches Reich, Frankreich, Griechen-
land, Grossbritannien, Italien, Niederlande, Oesterreich-Ungarn, Russland, Schweden
und Norwegen, Schweiz, Türkei.
Braila.
Braila, türkisch Ibrahil genannt, ist neben Galatz der wichtigste
Handelsplatz an der unteren Donau, und da nur die geringe Entfernung
von 22 km die beiden Häfen trennt, so stehen dieselben in vielfachen
Beziehungen unter dem Drucke einer lebhaften Rivalität. Diesem Um-
stande ist es wohl zuzuschreiben, dass Braila ebenfalls ein mit den-
selben Anstalten ausgestattetes Hafenbassin von denselben Dimensionen
als Geschenk der Regierung erhält, wie wir selbes bei Galatz be-
schrieben haben. Die Stadt zählt 28.000 Einwohner und zeichnet sich
durch hübsche geregelte Strassen nach westländischem Begriffe aus.
Längs des Quais findet man den ganzen Apparat eines emsig be-
triebenen Handels vereinigt.
Braila, oberhalb der letzten Strombeuge der Donau gelegen, ist
Rumäniens erster Exporthafen und hat unter allen Hafenstädten des
Landes durch die Ableitung des Eisenbahnverkehres von den Grenzen
der österreichisch-ungarischen Monarchie am meisten gewonnen. Dies
verdankt die Stadt hauptsächlich ihrer günstigen Lage als letzter für
grosse Seeschiffe erreichbarer Donauhafen, dann den Verbesserungen
21*
[164]Das Mittelmeerbecken.
des Hafens, welche, wie erwähnt, durch ausgedehnte Regierungsdocks
vervollständigt werden.
Diese Stadt blüht seit der Aufhebung des Freihafens (1883)
mächtig auf, wofür die lebhafte Baulust und das Steigen des Werthes
aller Immobilien unzweifelhafte Beweise sind.
Gross ist die Zahl der Speculanten und Händler, aber auch die der Fuhr-
leute, Lastträger und Taglöhner, welche in dem Hauptartikel der Ausfuhr, Getreide,
Beschäftigung finden. Ein Theil des letzteren wird auch aus Bulgarien und Serbien auf
der Donau zugeführt. Zur Vermittlung des Verkehres besteht eine Getreidebörse. Im
Jahre 1887 wurden 12,053.621 q, 1888 14,554.041 q Getreide ausgeführt. Von den
letzteren waren 8,804.098 q mit Schiffen von den oberen Stationen, 5,750.041 q
mit der Eisenbahn hier angelangt, und wurden mit Dampfern nach England,
Frankreich, Holland, Belgien, Schweiz, Deutschland und Italien exportirt. Der
grösste Absatz fand nach England und Antwerpen statt. In der obigen Ziffer sind
enthalten (1888) 206.907 q Reps und 88.158 q Bohnen. Ansehnlich ist auch die
Ausfuhr von hier erzeugtem Mehl, 1888 113.965 q, 1887 64.689 q, der grösste
Theil geht in die Türkei, dann die von Spiritus, welche 1888 16.300 q (Werth
1,793.000 Francs), 1887 21.800 q betrug. Von hier versendet man Gemüse in be-
deutenden Quantitäten nach Galatz und anderen Donaustationen. Bulgaren sind
hier wie überall auf der Balkanhalbinsel und auch in vielen Orten Ungarns die
Pflanzer der Gemüse. Exportirt werden ferner russisches Petroleum, englische Stein-
kohlen, Colonialwaaren und eine Reihe von Industrieartikeln fremden Ursprungs.
Die wichtigsten Artikel der Einfuhr sind: Reis, Oele aller Art, Zucker,
Kaffee und Colonialwaaren, Hölzer, Petroleum und Steinkohlen. Den Haupttheil der
Einfuhr bilden aber Industrieartikel jeder Art. Bei vielen derselben ist eine Abnahme
bemerkbar, weil sich die einheimische Production durch eingewanderte Gewerbsleute
hebt. Hervorzuheben sind Pflaster- und Ziegelsteine für mehr als 1 Million Francs.
Von der Einfuhr in Braila gilt dasselbe, was bei Galatz erwähnt wurde, nur ist
die Einfuhr aus Oesterreich-Ungarn verhältnissmässig bedeutender. Deutschland ist
bemüht, seine Producte mit der Eisenbahn auf den hiesigen Markt zu bringen und
auch den bisher zur See importirten Artikeln Concurrenz zu machen.
Der Seehandel von Braila betrug:
Der Schiffsverkehr umfasste ohne Schleppschiffe, von denen 1888 2409
mit 423.250 Tonnen zumeist unter griechischer und rumänischer Flagge hier an-
kamen, ferner ohne die Passagierdampfer der Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft,
welche von den oberen Donaustationen kamen, und ohne die Localdampfer zwischen
Galatz und Braila:
| [...] |
[165]Die Donauhäfen.
An diesen Summen ist die englische Flagge am stärksten betheiligt, auf
sie entfallen (1888) 65 % der Dampfer und 72 % des Tonnengehaltes. An sie reihen
sich die französische, die griechische, die österreichisch-ungarische, die russische,
die italienische und die türkische Flagge.
Ausser der schon genannten Börse dient wesentlich zur Hebung des Handels
die hiesige Filiale der rumänischen Nationalbank und indirect die rumänische Bank
in Galatz.
Consulate: Belgien, Griechenland, Niederlande, Oesterreich-Ungarn,
Schweden und Norwegen, Türkei.
Die Donauhäfen oberhalb Braila gelten nicht mehr als See-
häfen, aber namentlich die gegen die Mündung der Donau zu gelegenen
liefern viele Producte in den Ausfuhrhandel der in den früheren Ab-
schnitten breiter behandelten Städte Galatz und Braila.
In dieser Hinsicht ist zunächst wichtig das schon genannte
Cernavoda, der Donauhafen Constanţas, wo bald der Bau einer
herrlichen Brücke in Angriff genommen werden wird.
Der Bau einer Eisenbahnbrücke bei Cernavoda, welche die ununterbrochene
Verbindung von Bukarest mit dem Schwarzen Meere bei Constanţa herstellen soll,
wurde von der rumänischen Regierung im Jänner 1890 vergeben. Die Strombrücke
allein ohne Inundationsbrücken erhält eine Gesammtlänge von 750 m, die in fünf
Oeffnungen getheilt ist. Die mittlere hat eine Spannweite von 190 m, die andern
jede von 140 m. Die Donau hat hier eine Tiefe bis zu 9·5 m, wenn ihr Wasser-
stand auf dem Nullpunkte des Pegels steht; bis 7·0 m über den Nullpunkt steigt
das Hochwasser und die Unterkante der Eisenconstruction ist 30 m über Hoch-
wasser angeordnet, damit Segelschiffe ungehindert verkehren können. Mit Ein-
schluss der Inundationsbrücken und der Uebersetzung des Donauarmes Borcea
wird der Bau bei 25 Millionen Francs kosten.
Erwähnenswerth sind ferner die bulgarischen Städte Silistria und
Rustschuk, letzteres am Beginn der einst international so wichtigen
Eisenbahn Rustschuk—Varna, der wichtigste Hafen Bulgariens an der
Donau.
Ein Localboot bringt den Reisenden in einer halben Stunde auf
das rumänische Ufer nach Giurgewo (Giurgiu), dem Endpunkte
einer Eisenbahn und dem Donauhafen von Bukarest (Bucuresci).
Ein Schiffahrtscanal ist der Vollendung nahe; mit seiner Hilfe werden
die Schiffe in der nächsten Nähe der Stadt anlegen, statt wie früher
in dem donauabwärts gelegenen Smarda.
[[166]]
Odessa.
Im nordwestlichsten Theile des Schwarzen Meeres, 150 km nörd-
lich der Donau-Mündungen, bildet die Küste den prächtigen Golf von
Odessa mit der gleichnamigen, an dessen Ostseite liegenden Bai, auf
welche die malerischen Bauwerke des südrussischen Haupthafens
von stolzer Höhe herabblicken. Die nahen Mündungen der mächtigen
schiffbaren Flüsse Dnjepr, Bug und Dnjestr erheben Odessa zum
Ausbruchshafen eines weiten bis nach Central-Russland reichenden
Productionsgebietes.
Die Küstenformation ist eigenthümlich. An den zahlreichen Mündungen der
Haupt- und Küstenflüsse bildeten sich seichte seenartige Salzwasseransammlungen
(Limane), welche meist durch einen niedrigen, von den Wellen angeschwemmten
Sand- oder Schotterstreifen (Nehrung, Peresyp) vom Meere getrennt sind. Nur bei
den Mündungen der grösseren Flüsse bleibt der Liman geöffnet, wogegen bei
kleineren die Verdunstung auf der Oberfläche des Limans den Zufluss aufzehrt
und keine Wasserzuströmung in das Meer stattfindet.
Zwischen den erwähnten Salzseen tritt ein mässig hohes, schluchtenreiches
Hügelland, die letzten Ausläufer eines Plateaus, das in die Karpathen übergeht,
hart an die Küste und bildet hier steile Böschungen. Jedoch ist die Meerestiefe
in diesem Theil des Schwarzen Meeres keine bedeutende, denn selbe überschreitet
an keinem Punkte das Mass von 20 m, beträgt aber an der bessarabischen Küste
auf 2 km Abstand vom Lande noch immer nur 7 m.
In der halbmondförmigen, 7·5 km breiten und 4 km eingebogenen Bai von
Odessa überschreitet die Wassertiefe bei gleichmässig verlaufendem Grunde an
keiner Stelle 15 m, und am Wellenbrecher des Hafens findet man nur eine solche
von 10 m.
Starke Südostwinde erzeugen im Golfe von Odessa durch die Rückstauung
und Reflexion der schweren Wellen an der Küste sowie durch die entgegen-
stehende Strömung der Wasserzuflüsse eine hochgehende, für kleinere Fahrzeuge
mitunter gefährliche, aber auch grösseren Schiffen lästige Widersee.
Odessa bietet dem zur See Ankommenden ein überraschendes
Panorama dar. Von einem gegen 50 m hoch gelegenen Plateau, das
mit steilen, oft senkrechten und zerrissenen Rändern zum Meere ab-
[167]Odessa.
fällt, blickt uns eine imposante Front von anscheinend herrlichen
Monumentalbauten entgegen; darüber glänzen und glitzern die hoch-
aufragenden Thürme und Kuppeln zahlreicher Kirchen.
Das ist die Oberseite des fesselnden Bildes. Aus dem grünen
Saume schattiger Parkanlagen, welche die Häuserreihen begleiten,
senkt sich, einer genialen Theaterdecoration vergleichbar, zwischen
Blumenparquetten eine grossartige breite Freitreppe mit 200 Stufen
und 20 Ruheplätzen hinab in das Centrum des weiten Hafens.
Mit seiner reichen Quaientwicklung, den hunderten Schiffen aller
Nationen, die sich hier vereinigten, den vielen allen Zwecken dienen-
den Gebäuden, dem lebensvollen Treiben am Lande und zu Wasser
offenbart das Hafengebiet den kräftigen Pulsschlag seines Verkehrs-
lebens und stellt eine Stadt für sich und den Urquell all der schim-
mernden Herrlichkeit des Oberbildes dar.
Odessa ist eine Schöpfung der neueren Zeit. Das rasche Auf-
blühen der Stadt erweist, dass nicht allein die Kriegführung, sondern
auch der Handel strategisch wichtige Punkte kennt. Ein solcher ist
denn durch die glückliche Wahl Katharina’s II. in Odessa enstanden.
Der schöpferische Geist dieser weitblickenden Monarchin und die
wirksamen Impulse ihres verlästerten Rathgebers Potemkin schufen
im südlichen Russland eine Zahl gegenwärtig volkreicher und wohl-
habender Hafenstädte, die sämmtlich dank ihrer vortheilhaften Lage
einer immer weiteren Entwicklung entgegengehen.
Potemkin ist der Gründer von Cherson (1778) an der Dnjepr-
Mündung, das gegenwärtig 67.000 Einwohner zählt; er schuf am
selben Strome 1784 Ekaterinoslaw, das heute 47.000 Einwohner hat.
Auch Nikolajew, heute eine Stadt von 67.000 Bewohner und zum
Kriegshafen geworden, entstand 1792 durch Potemkin.
An der Stelle des heutigen Odessa lag zu Ende des vorigen
Jahrhunderts der kleine befestigte türkische Ort Hadschi-Bey, der
1789 durch den russischen Admiral de Ribas erobert wurde. Fünf Jahre
später, und zwar am 22. August 1794, verlieh Katharina II. dem
Platz den Namen Odessa, der an die alte in der Nähe gelegene
griechische Colonie Ordesos erinnern sollte. Wenngleich die Kaiserin
nur die zwei letzten Jahre ihres Lebens die Entwicklung ihrer neuen
Schöpfung mit allen Mitteln fördern konnte, so fand die Stadt in der
Folge doch so mächtige Beschützer, dass sie dadurch und vermöge
der Vortheile ihrer Lage rasch zu einem in der Handelswelt ange-
sehenen Rang emporblühte.
Der erste Gouverneur von Odessa, Admiral de Ribas (1795), dann
[168]Das Mittelmeerbecken.
Herzog von Richelieu (1803—1814), Prinz Michael von Worontzoff
(1823), ebenso die Gouverneure General Langeron, Graf A. Strogonoff
und Kotzebue haben unvergessliche Verdienste um die rasche Ent-
wicklung des Handels-Emporiums sich erworben.
Odessa liegt unter 46° 29′ nördl. und 30° 44′ östl. v. Gr.
(Kathedrale), auf einem fast ebenen, von einigen jetzt überbrückten
Einschnitten durchzogenen Plateau und ist, wie unser Plan zeigt, sehr
regelmässig gebaut.
Seine breiten schöngepflasterten Strassen werden häufig mit den
Pariser Boulevards verglichen. Unter denselben ist der die ganze
Stadt an der Landseite umspannende äussere Boulevard, eine Fahr-
strasse, welche die Vorstädte abgrenzt, seiner grossen Ausdehnung
wegen bemerkenswerth. Dagegen blickt der herrliche Boulevard Nicolas
hinab in das bewegte Leben des Hafens. Von den schattigen Anlagen
dieser einzig schönen Promenade geniesst man einen weiten Ausblick
auf den Hafen und die See. Das 1827 errichtete Standbild Richelieu’s,
in der Richtung der hier mündenden monumentalen Freitreppe gelegen,
dann seit 1887 am südlichen Ende des Boulevards eine mit der
Bronzebüste des russischen Dichters Puschkin gezierte Fontaine, und
der säulengetragene Bau der Börse, welcher den Hintergrund ein-
nimmt, schmücken diesen vielbesuchten reizenden Platz.
Von der Freitreppe aus gelangt man über den Richelieu-Platz
zum Katharinen-Platz, und nach kurzer Strecke zu dem mit schönen
Parkanlagen gezierten Theater-Platz. Hier erhebt sich das imposante
und formenprächtige Theatergebäude — ein Werk österreichisch-
ungarischer Kräfte.
Nach den Plänen der Wiener Architekten Fellner und Helmer vollführte
die Wiener Unternehmung Donat Zifferer den Bau, dessen Sculpturen Friedl aus
Wien in würdigster Weise schuf. Die herrlichen Plafondgemälde und der Vorhang
entstammen dem Atelier des Wiener Malers Leffer. Ganz \& Comp. in Budapest
tauchten aber das prächtige Werk in ein Meer elektrischen Lichtes.
Das am 15. September 1887 eröffnete Theater erforderte einen Kostenauf-
wand von 1·1 Million Rubel.
Auch der Alexander-Park, dann die von hin und wieder
grösseren Gebäuden flankirten Strassen Richelieu, Deribas, Preobra-
schenska, Puschkin (früher italienische Strasse), die zu den belebtesten
der Stadt gehören, endlich der neue Bazar seien hier genannt.
Unter den öffentlichen Gebäuden sind die kirchlichen Bauten
beachtenswerth. Odessa besitzt 21 in verschiedenen Stylarten erbaute,
mitunter ansehnliche Kirchen, mehrere Klöster und Synagogen.
Das geistige Leben ist sehr entwickelt, das Unterrichtswesen
[169]Odessa.
wohl gepflegt. Nebst der 1862 gegründeten Universität, dem Lyceum
Richelieu sind abseits zahlreicher Volksschulen noch mehrere
Gymnasien und Privatinstitute vorhanden, unter letzteren das in einem
schönen Parke gelegene Institut der adeligen Fräulein.
Es bestehen mehrere gelehrte Gesellschaften neben Vereinigungen,
welche der Pflege der schönen Künste gewidmet sind.
Von der Steppenlandschaft im Westen trennt Odessa ein breiter
Gürtel hübscher Landhäuser und ergiebiger Weingärten. Dort gewahrt
Odessa.
man das mehrere Windmühlen zählende Mühlenviertel (Melnyey).
Ehemals zählte man in der Umgebung von Odessa mehrere hundert
Windmühlen. Seit der Entwicklung der Dampfmühlen sind erstere
grösstentheils verschwunden.
Am Suchvy Liman, 16 km südlich des Hafens, liegen die
deutschen Colonien Liebenthal und Lustdorf (Ljustra), sowie die
griechische Ansiedlung Aleksandrowka, welche selbständige Ver-
waltungen besitzen.
Zum Stadtgebiet zählen dagegen die am Strande nördlich des
Hafens liegende Vorstadt Peresyp und die Viertel Tiraspol und
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 22
[170]Das Mittelmeerbecken.
Woroncowka im Südwesten der Stadt mit dem Waarenbahnhof, auf
welchem sich neben anderen Anlagen die Hauptwerkstätten der Süd-
westbahn befinden. Von letzterem aus führt eine Eisenbahnlinie zum
neuen grossen Personenbahnhof am Siennaja-Platz, ein anderer
Zweig geht zu dem 7 km nördlich liegenden Liman des Kujalnik (für
den Salztransport) und die dritte Linie führt an der Hafenfront vor-
bei auf den Quarantäne-Molo und über einen 7 m hohen Holzviaduct
hinaus zur südlichen Hafeneinfahrt, so dass ein directer Waaren-
verkehr zwischen den Schiffen und Waggons hergestellt ist. Ueber-
haupt sind die Bahnhofanlagen den Verhältnissen einer grossen See-
stadt entsprechend beschaffen.
Grossartig ist die Gesammtanlage des Kunsthafens. Wie unser
Plan zeigt, lagert der Hafenfront ein 1300 m langer Wellenbrecher
vor und gegen den Ansturm der hochgehenden Südostwellen schützt
der 1650 m lange Quarantäne-Molo (Karantinnaja-Molo), welcher mit
dem Platonsky-Molo den 17 ha grossen Quarantäne-Hafen einschliesst.
Dieser hat an der schmalen Einfahrt 7½ und im Inneren 7 m
Wassertiefe.
Am nördlichen Ende des Hafensystems ist das 13 ha umfassende
und für 400 Schiffe ausreichende Bassin des Verkehrshafens
(Prakticzeskaja Gawan), der bei 4·2 m Wassertiefe als Regierungs-
hafen nur russischen Schiffen gewidmet ist.
Den ausgedehnten Quai zwischen diesem Bassin und dem
Quarantäne-Hafen nannte man vormals den Kriegshafen; gegenwärtig
ist hier ein grosser breiter Molo (neuer Molo, Novoi mole) in See
geführt und dadurch die Quaientwicklung des Hafens beträchtlich
erweitert.
Bisher gebricht es dem nördlichen Theile des Hafens an ge-
nügender Wassertiefe, welcher Umstand hier besonders deshalb nach-
theilig gefühlt wird, weil bei einsetzenden Landwinden, je nach der
Stärke derselben, ein Fallen des Wasserstandes bis zu einem Meter
Niveau-Unterschied stattfindet, welche Erscheinung die Schiffe oft
zwingt, entweder den Ankerplatz zu verlassen oder auf Grund liegen
zu bleiben.
Bis März 1892 sollen übrigens der Verkehrs-Hafen, welcher der
Küstenschiffahrt dient, und der Quarantäne-Hafen bedeutend vertieft
werden.
Der Hafen von Odessa ist von Natur kein wirklich guter Hafen
und kann folgerichtig trotz mancher Verbesserungen nur mit Mühe den
grossartigen Anforderungen genügen, die jetzt an ihn gestellt werden.
[171]Odessa.
Aber noch ein Nachtheil wirkt hier auf den Seeverkehr störend
ein. Es ist die in manchen Jahren eintretende grosse Winterkälte,
welche dann das Meer mit einer Eiskruste bedeckt und die Schiffahrt
unterbricht. Das Zufrieren des Hafens ist jedoch keine regelmässige
Wintererscheinung. Länger als 6 Wochen ist nicht erinnerlich, dass
derselbe zugefroren geblieben sei. Bei starkem Froste und Nordost-
winde sind Jänner und Februar die kritischen Monate.
Odessa ist Russlands wichtigster Hafen am Schwarzen Meere,
der Brennpunkt des südrussischen Getreidehandels, neben welchem
die anderen dort gelegenen Häfen, wie Nikolajew, Sewastopol und das
neu entstandene Noworossisk nur eine secundäre Rolle spielen. Auch
die Concurrenz auswärtiger Häfen, wie Königsberg und Danzig, die
sich namentlich im Anfange der Achtzigerjahre geltend machte, ist
nach der natürlichen Lage der Dinge nicht auf die Dauer besorg-
nisserregend. Denn die Bedeutung Odessas liegt in seiner geographi-
schen Lage und in seinen getreidereichen Hinterländern, aus welchen
der Ueberschuss von Körnerfrüchten zur Deckung des Bedarfes ver-
schiedener Theile Europas zur Ausfuhr hieher gelangt. Durch eine
geschickte Tarifpolitik der Eisenbahnen des westlichen Russlands ist
wohl in dem letzten Jahre die Ausfuhr eines Theiles des Tschernö Sem
nach dem Norden abgelenkt worden, aber dem Handel Odessas bleibt
unter allen Umständen ein umfangreicher Getreiderayon gesichert.
Der Bau einer Küstenbahn, die heute noch dem Süden Russlands
fehlt, würde Odessas Verkehr auf Kosten der anderen Plätze am
Schwarzen Meere heben; denn auch hier würde der Verkehr des
grösseren Platzes den der kleinen Concurrenten erdrücken.
Russlands Bedeutung als Agriculturstaat ist durch eine Reihe
guter Ernten seit 1887 neuerdings zu ungeahnter Höhe gestiegen.
Auf dem englischen Markte, der die grössten Mengen Getreides unter
allen Ländern der Erde aufnimmt, trat 1888 Russland als erster Lie-
ferant auf, und die südrussischen Häfen schickten ebensoviel dahin,
wie in früheren Jahren die atlantischen Häfen der Union. Alles zeigt
den ungemein grossen Aufschwung des Ausfuhrhandels in Russ-
land, welcher in dem steigenden Rubelcourse einen unzweideutigen
Ausdruck findet.
Mit dem Stande des Goldagios müssen in einem Lande des
Zwangscourses Exporteur und Importeur beständig rechnen. Nun
erhöhte wohl das Steigen des Rubelcourses für den ausländischen
Käufer den Preis des russischen Getreides, vermochte aber den
Export der grossartig reichen Ernte nicht zu hindern. Denn allent-
22*
[172]Das Mittelmeerbecken.
halben war Mangel an Unterkunftsräumen, Mangel an Transport-
mitteln. Für die Benützung der Lagerhäuser in Odessa und die
längs der Bahnen errichteten wurden hohe Preise gefordert, und die
Bauern halfen sich in ähnlicher Weise, wie die Bewohner Floridas,
welche in einem sumpfigen Lande die Todten bestatten sollen. Im
Lande der schwarzen Erde findet sich unter diesem humusreichen
Boden fester Lehm. Der Bauer hebt den Humusboden aus, füllt die
Höhle mit Stroh, zündet dieses an, und durch die Wirkung des Feuers
werden die Lehmwände festgebrannt. Sodann werden die Gruben
mit Getreide gefüllt und gut gedeckt.
Im ganzen Lande zeigte sich das Bestreben, durch Verbesserung
der Verkehrsmittel den Abfluss des Getreides zu erleichtern. Noch
mehr dringend aber erweist sich die Nothwendigkeit, den Getreide-
handel Russlands zu organisiren, wobei man das mustergiltige Vor-
bild der Union vor Augen hat. Russland gebührt unter allen durch
die Union schwerbedrängten Agriculturstaaten Europas das Verdienst,
dass es zuerst dem gefährlichen Gegner trotzig ins Gesicht zu sehen
wagte und ihn jetzt mit seinen eigenen Waffen zu bekämpfen be-
ginnt. Amerikas Uebergewicht liegt nicht so sehr in der billigen
Production des Getreides — Russland producirt nicht viel theurer —
als vielmehr in der grossartigen Organisation des Getreidehandels bis
in die letzten Fasern. Diese Organisation sucht nun Russland zu
copiren. Ein grosses schweres Unternehmen gegenüber den beste-
henden corrupten Verhältnissen, aber ein Unternehmen, das bei star-
kem Willen der Regierung gelingen kann, ja gelingen muss, soll Russ-
land der überseeischen Concurrenz nicht erliegen. Gegen das häufig
unreelle Gebaren des Zwischenhandels helfen die Elevatoren, deren im
Innern Russlands eine ganze Reihe errichtet sind, allein nicht. Man muss
gleichzeitig eine strenge Classification des Getreides, welches von öffent-
lichen Lagerhäusern übernommen wird, einführen, auf dass wenigstens
von dem Augenblicke, wo das Getreide daselbst eingelagert ist, weitere
Verschlechterungen nicht mehr vorkommen können. Um Verfälschungen
zu entgehen, hat man auch die Errichtung einer englisch-russischen
Gesellschaft geplant, welche das Getreide direct vom Producenten
kaufen soll. Allerdings kann die Regierung bei der einheimischen,
weitverbreiteten Erzeugung des Getreides nicht in ähnlicher Weise direct
eingreifen, wie bei dem Handel des Thees, der ausschliesslich aus dem
Auslande stammt; wir lesen, dass die Regierung mit dem Plane um-
geht, allen Thee auf den Zollämtern und Rentnien pfundweise auszu-
wiegen und in Paketen abzusetzen, welche mit der amtlichen Ban-
[173]Odessa.
derole verschlossen sind. Jedenfalls müssen vor allem Lagerhäuser,
insbesondere Elevatoren gebaut werden. Die Entwicklung des War-
rantsystems muss sich nothgedrungen anreihen und schon sind die
Vorbereitungen energisch getroffen. Durch ein Gesetz vom 30. März
1888 wurde die rechtliche Basis für die Lagerhäuser geschaffen. Der
russischen Südwestbahn, auf welcher sich der grösste Theil der
Getreidefrachten nach dem Hafen Odessas bewegt, wurde von der
Regierung gestattet, aus dem Pensionsfonde ihrer Angestellten die
nothwendigen Gelder für die Errichtung von Elevatoren zu entnehmen.
Der grösste wird 3 km ausserhalb Odessa errichtet und soll 262.000 q
fassen. Auf dem Quai von Odessa soll ebenfalls ein grosser Elevator
erbaut werden und kleinere, ausreichend für die Ladung von
50 Waggons, werden in allen grösseren Orten Südrusslands entstehen.
Dass Odessa schon 1888 solche Mengen von Getreide an das Ausland
abgeben konnte, ist nur durch die Magazine längs der Südwestbahn
und durch die ausgedehnten Lagerhäuser Odessas selbst ermöglicht
worden, welche durch Geleise mit dem Hafen verbunden sind. Seit
1888 sind die russischen Bahnen auch ermächtigt, das bei ihnen ein-
gelagerte Getreide zu belehnen, und im October 1889 hat die russische
Reichsbank die russische Südwestbahn durch die Bewilligung eines Cre-
dits von 2 Millionen Rubeln in den Stand gesetzt, eine Erweiterung ihres
Belehnungsgeschäftes vorzunehmen. Gegenwärtig erhält der Producent
bereits an den Verladestationen gegen die Frachtbriefe über das
verladene Getreide einen angemessenen Vorschuss, und zwar zu dem
niedrigen Zinsfusse von 5 % für das Jahr. In Odessa selbst wird das
in solcher Weise belehnte Getreide von einem eigens zu diesem Zwecke
errichteten Bureau der Südwestbahn in Empfang genommen, welches
sich mit dem Verkaufe des Getreides zu einem von dem Eigenthümer
vorher festgesetzten Preise oder nach freiem Ermessen gegen die Pro-
vision von 1 % beschäftigt oder dasselbe gegen eine Gebühr von
½ Kopeke per Pud und Monat für Rechnung des Eigenthümers
lagert. Dieses neu errichtete Bureau steht unter der Controle der
russischen Regierung. Auch die Odessaer Filiale der russischen Reichs-
bank belehnt Getreide. Was in Amerika die Energie der Yankees
selbstthätig geschaffen, muss hier die Regierung durchführen; dort
arbeiten Kaufleute, hier Beamte.
Es ist unzweifelhaft, dass Russland als Getreideproducent noch
eine grosse Zukunft vor sich hat, von der Odessa in erster Linie
Nutzen ziehen wird; aber mancher Uebelstand muss vorher noch
beseitigt werden. Wir wollen hier nicht von dem Wirtschafts-
[174]Das Mittelmeerbecken.
betriebe, nicht von der mangelhaften Düngung reden, wodurch die
Entwicklung des Unkrautes begünstigt ist. Näher liegt uns der Hin-
weis auf die theueren Arbeitskräfte zur Zeit der Ernte. Wegen dieser
hohen Löhne haben im Jahre 1888 die Arbeiter die Kohlenbergwerke
am Donetz verlassen und sind in die Getreide bauenden Theile Süd-
russlands gezogen.
Die reichen Ernten lieferten den Russen die Mittel, Ackerbau-
maschinen anzuschaffen, um die menschliche Arbeitskraft wenigstens
zum Theile entbehren zu können. Alles dies wird beitragen, im Laufe
der Zeit seine Production zu heben. Aber der Ertrag des Getreide-
baues könnte unmittelbar bedeutend steigen, wenn der Russe die ge-
naue Arbeit des Amerikaners beim Verladen des Getreides sich zu-
eigen machte. Es ist unglaublich, welche Mengen von Getreide in
Russland durch die sehr nachlässige Verladung des Getreides verloren
gehen. Von dem Arbeiter, der es aus der Kleete nachlässig in einem
Sack füllt, angefangen, bis zu dem Lastträger in dem Verschiffungs-
hafen, alle bemühen sich, Getreide zu verstreuen. In den südlichen
Häfen Odessa, Rostow u. s. w. rechnet man den Verlust auf 3—6 %.
Nach dieser Schilderung ist Getreide die Grundlage der Ausfuhr Odessas;
nicht weniger als 117·6 Millionen Rubel, das sind 72 % der Gesammtausfuhr
Odessas, entfielen 1888 auf Erzeugnisse des Ackerbaues. Unter diesen ist Weizen
besonders hervorragend, wie die unten folgende Tabelle zeigt, da sein Anbaugebiet im
Süden Russlands liegt, während Roggen und Oelsaat die ihnen günstiger liegenden
baltischen Häfen aufsuchen. Dass sich die Weizenausfuhr jetzt mehr auf die Herbst-
monate concentrirt, während früher das Frühjahr die Handelssaison war, ist die
Folge der fortschreitenden Besserung der Verkehrsmittel, welche gestattet, die
Getreidemassen schneller in das Ausland abzustossen, als dies früher der Fall war.
Die wichtigsten Bezugsländer für Weizen und die anderen Brotfrüchte sind Gross-
britannien, Holland, Frankreich, Italien, Belgien, Griechenland und die Türkei: von
Gerste und Roggen gehen ansehnliche Ladungen direct nach Deutschland ab.
Die Ausfuhr Odessas betrug in Metercentner:
| [...] |
In Odessa bestehen 14 Dampfmühlen, welche Mehl in das Innere Russ-
lands und ins Ausland schicken.
Die Ausfuhr zur See erreichte 1888 303.630 q (Werth 3,653.839 Rubel),
1887 347.730 q (Werth 4,205.096 Rubel), meist Weizenmehl umfassend. Somit be-
sorgt Odessa auch fast die ganze Mehlausfuhr Russlands, welche vornehmlich nach
der Türkei und nach Egypten gerichtet ist. Der allmälige Rückgang der Mehl-
ausfuhr Odessas ist durch die starke Concurrenz Nordamerikas verursacht.
Die Production Russlands von Rübenzucker ist durch die Exportprämie,
welche die Regierung gewährte, und durch die Verbindung des grössten Theiles
der Fabriken zu einem Cartelle, welches genau normirt, was jede Fabrik erzeugen
darf, in den Stand gesetzt, auch in der Ausfuhr aufzutreten. Ueber Odessa werden
vor allem Sandzucker und Raffinade aus dem südlichen Productionsgebiete aus-
geführt, dessen Mittelpunkt Kiew ist, die älteste und heute die dritte Hauptstadt
Russlands. Im Gebiete des Schwarzen Meeres und auf den Strassen nach Persien
dominirt heute russischer Zucker. Die Ausfuhr erreichte 1888 460.210 q (Werth
11,293.591 Rubel), 1887 443.846 q (Werth 10,838.000 Rubel). Die Ausfuhr Odessas
repräsentirt mehr als ⅔ der ganzen russischen Ausfuhr. Bei dem grossen Wett-
bewerbe, welcher auf dem Zuckermarkte herrscht, müssen wir uns auch bei den
Einzelnheiten auf das letzte Jahr beschränken. In diesem gingen Sandzucker und
Raffinade nach Italien und England, Stückzucker nach dem fernen Osten und
Ostsibirien, für den englischen Markt concurrirt die Route über Königsberg mit
der über Odessa.
Die Ausfuhr von Spiritus aus den Gebieten südlich von Kiew sank 1888 auf
94,758.475 Grade gegen 108,472.122 Grade im Jahre 1887, und ist 1889 noch
weiter zurückgegangen. Die Spiritusindustrie Odessas ist unbedeutend.
Auch Holz und Bauholz verdienten unter den Ausfuhrartikeln Odessas
Erwähnung; der Export hievon hatte 1888 einen Werth von 2,912.850, 1887
von 602.435 Rubeln. Neben der aus russischen Wäldern stammenden Waare, welche
meist dem Localconsum dient, spielt hier österreichisches Holz aus Galizien und
der Bukowina eine Rolle, aber meist nur als Transitogut, bestimmt für Egypten,
Algier, Constantinopel und einige griechische Häfen.
Der Ausfuhrhandel Odessas mit Horn- und Kleinvieh geht zurück und dürfte
von der rumänischen Concurrenz auf seinem wichtigsten Markte Constantinopel
noch weiter herabgedrückt werden. Die Ausfuhr von Federvieh, für Italien und
Frankreich bestimmt, zeigt dagegen in den letzten Jahren eine bedeutende Zunahme. Im
Jahre 1888 wurden ausgeführt 20.852 Stück Hornvieh, 83.650 Stück Kleinvieh und
243.693 Stück Federvieh (à 1 Rubel), zusammen im Werthe von 2,233.661 Rubel.
Auch im Wollhandel büsst Odessa seine Bedeutung langsam ein, auch die
Qualität der Wolle geht zurück, selbst die der Merinoschafe vom Don, wo sie
1803 aus Spanien eingeführt wurden. Die Preise werden übrigens auch hier von
den Verhältnissen in den La Plata-Staaten und in Australien bestimmt. Die besseren
Sorten übernehmen England für Bradford über den Hafen Hull (1888 für 2·7 Mill.
Rubel), welches der beste Käufer für russische Wolle ist, dann Italien, Belgien
und Deutschland. Günstig für die einheimische Schafzucht ist der Aufschwung
der russischen Schafwollindustrie. Ausgeführt wurden 1888 34.677 q (Werth
3,438.867 Rubel), 1887 62.810 q, meist ungewaschene Wolle.
Die Ausfuhr von Häuten erreichte 1888 noch 324.000 Rubel, die von Talg,
einst für Odessa so wichtig, betrug im selben Jahre nur 7.570 q. Von Producten
[176]Das Mittelmeerbecken.
der Fischerei wurden 44.882 q im Werthe von 1,055.435 Rubel zum grössten
Theile nach Rumänien exportirt.
Ein neuer Stern ist dem Handel Odessas in Petroleum, das in Cisternen-
dampfern von Batum hieher gelangt, aufgegangen. Es geht von Odessa an der
Donau aufwärts und nach den adriatischen Plätzen. Cisternendampfer brachten
1888 471.590 q, 1887 397.720 q Petroleum nach Odessa. Die Befürchtungen, welche
die Einführung einer Accise von 40 Kopeken pro Pud (15. Jännar 1888) für die
Zukunft des Petroleumhandels von Odessa erweckte, sind also nicht in Erfüllung
gegangen.
Verhältnissmässig klein ist noch die Ausfuhr von Fabrikserzeugnissen; sie
betrug 1888 14·5 Millionen Rubel, 1887 aber nur 8·9 Millionen Rubel. Die
Steigerung entfällt auf Wäsche, Kleider, Pelze und Baumwollwaaren. In diesen
Artikeln ist also Russland in der Levante schon concurrenzfähig.
Die Einfuhr Odessas ist klein gegenüber der Ausfuhr und hat
noch lange nicht den tiefsten Stand erreicht, weil Russland in jeder
Weise bemüht ist, Fabricate und Rohproducte möglichst im Lande
zu erzeugen. Die südlichen Provinzen Russlands, welche von den
Centren der einheimischen Industrie weit entfernt sind, müssen bei
den theuren Eisenbahnfrachten ihre Bedürfnisse an Industrieerzeug-
nissen um 60 %—100 % theurer bezahlen, als wenn sie dieselben aus
England beziehen würden. Concurrenzfähig sind nur jene Staaten,
welche aus Odessa und den andern Häfen des Schwarzen und Asow-
schen Meeres Getreide beziehen, deren Schiffe also überwiegend
in Ballast dort einlaufen und daher mit jedem Frachtsatz zu-
frieden sind.
Der grössere Theil der Einfuhr aber besteht aus Rohproducten,
die in der russischen Industrie Verwendung finden.
Die erste Stelle mit mehr als einem Drittel der gesammten Einfuhr nimmt
rohe Baumwolle ein.
Bis 1886 war der Baumwollimport Odessas in Zunahme, seitdem sinkt er
constant, er kann mit den nördlichen Einfuhrplätzen nicht concurriren. Die Ein-
fuhr erreichte 1888 159.155 q (Werth 10,238.287 Rubel), 1887 222.456 q (Werth
12,905.225 Rubel).
Kaffee kommt hieher direct aus Indien und Brasilien; in kleineren Partien
über London und seit einiger Zeit auch aus Triest. Einfuhr 1888 15.716 q (Werth
1,092.812 Rubel), 1887 10.270 q, (Werth 743.700 Rubel.)
Die Einfuhr von Thee nach Russland auf dem Seewege über Königs-
berg und Odessa, wird auf Schiffen fremder Flaggen aus London vermittelt. Erst
in den letzten Jahren brachten die Schiffe der „Freiwilligen Kreuzerflotte“ direct
kleine Mengen aus Ostasien. Durch Schaffung eines bedeutenden Differentialzolles,
mit welchem Thee, der über Europa kommt, belegt ist, wurde die Einfuhr des so-
genannten Karawanenthees über den sibirischen Grenzort Kiachta wieder gehoben
und den fremden Schiffen ein Gegenstand der Fracht entzogen.
Dadurch sank Odessas Theeimport von den 3,695.388 Rubeln des Jahres
1886 plötzlich herab und erreichte 1888 nur 762.880 Rubel für 6248 q.
[[177]]
A Rhede von Odessa, B Wellenbrecher, C Petapowski-Molo, D Androsowsky-M, E Militär-M., F Leucht-
feuer, G neuer Molo, H Quarantäne-Hafen, J Platanov-M., K Rheden-M., L Quarantäne-M., M Ver-
kehrshafen, N neuer Hafen, O Prachttreppe, P Dampfschiff-Agentie, Q Quarantäne-Grund und Gebäude,
R Gouverneurs-Pal., S kaiserliche Bank, T Börse, U Zollamt, V Gaswerke, W griechischer Bazar,
W, Alexander-Platz in Peresyp, X Personenbahnhof, Y Militär-Spital, Z Grenze des bestandenen Frei-
hafens. — 1 Kathed. Christi Himmelfahrt, 2 katholische Kirche, 3 Stadthaus des II Bezirkes, 4 Michaels-
Kirche, 5 Allerheil.-Kirche, 6 alter Bazar. 7 Spiritus-Fabrik, 8 äusserer Boulevard, 9 Michaels-Kirche,
10 adelige Fräulein, 11 Christi Geburt-Kirche, 12 Maria Geburt, 13 Lyceum, 14 Katharinen-Platz,
15 Theater-Platz, 16 Lutheranische Kirche, 17 Waggonfabrik, 18 Friedhof, 19 Asyl der weiblichen
Wohlthätigkeits-Gesellschaft, 20 Alexander-Prospect, 21 Genie-Kaserne, 22 Presbrazensky-Strasse,
23 Deribazow-Str., 24 Ekatherinen-Str., 25 städtisches Spital, 26 Stadt-Teich, 27 Schlachthaus, 28 Zoll-
gebäude, 29 Siennaja-Platz, 30 Waarenbahnhof.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 23
[178]Das Mittelmeerbecken.
Blättertabak, meist aus der Türkei stammend, zeigt in der Einfuhr einen
ähnlichen Rückgang.
Russland fördert ja in seinen südlichen Gebieten den Bau des türkischen
Tabaks in glücklicher Weise. Die Ziffern der Einfuhr waren 1888 447.086 Rubel,
1887 1,069.600 Rubel, 1886 4,296.447 Rubel.
Reis kommt nur noch aus Patea in Vorderindien, die gewöhnlichen Sorten,
wie ähnliche Hinterindien liefert, werden im Lande gebaut.
Wichtige Einfuhrartikel aus dem Pflanzenreiche sind ferner frische und ge-
trocknete Früchte, Olivenöl aus Italien, Speiseöl aus Bari und Nizza, Cocosnuss-
und Palmöl theils direct aus Indien, theils über London und Marseille.
Russland hat somit glücklich eine Reihe von fremden Waaren aus dem
Lande gedrängt. Auch mit den Kohlen, dem wichtigsten Einfuhrartikel Englands;
schien es zu gelingen. Russland legte 1884 einen Zoll von 2 Kopeken Gold auf
das Pud fremder Kohle und erhöhte ihn 1886 auf 3 Kopeken. Die Einfuhr der
Kohlen sank von den 2,657.900 q des Jahres 1883 im Jahre 1886 auf 1,025.000 q,
1887 auf 486.700 q.
Der Ersatz kam aus den Kohlengruben am Donetz, die wohl eine minder-
werthige Kohle lieferten, damals aber wohlfeile Arbeiter hatten, die Frachten
waren mässig hoch, der niedrige Rubelcours war ein Hinderniss des Ankaufes aus-
ländischer Erzeugnisse. Die englische Kohle blieb auf Odessa beschränkt, auf An-
lagen, welche ein gutes Feuerungsmateriale verlangen. Da kam das Jahr 1888,
ein Theil der Donetzgruben wurde durch Fluten unter Wasser gesetzt. Die hohen
Löhne, welche Südrussland den Feldarbeitern zahlte, zog die Arbeiter dahin und
die Gewinnung der Kohle im Donetzbecken ging zurück. So konnte England mit
seinen Kohlen wieder in das Innere vordringen und die Importziffer stieg 1888
auf 1,964.000 q im Werthe von 1,685.227 Rubeln.
Odessa führt Blech ein aus England zur Erzeugung von Petroleumkisten.
Den Zwecken der Landwirtschaft dienen Sensen aus Oesterreich-Ungarn und die
landwirtschaftlichen Maschinen aus England; von dort kommen auch Locomobile
und andere Maschinen. Von den Erzeugnissen der Textilindustrie haben nur Zwirn
und Garne aus Baumwolle, ferner Jutesäcke und Wollwaaren einige Bedeutung.
Wir geben nun im Folgenden eine Uebersicht des Handels von Odessa in
den letzten Jahren, welche den grossen Aufschwung des gesammten Ausfuhr-
handels seit 1887 und den Rückgang der Einfuhr seit 1886, wo sie 53,748.075 Rubel
betrug, als eine Folge der Zollerhöhungen, zeigen.
| [...] |
Und trotz Allem sind die Kaufleute von Odessa nicht zufrieden. Wir hören hier
wieder die Klage so vieler Hafenplätze. Die Ausfuhr ist gestiegen, aber nicht der
Ausfuhrhandel. Fast die ganze Ausfuhr passirt den Platz als Transitogut.
Auch die Entwicklung der Industrie Odessas, in welcher sich erst seit
den Siebzigerjahren grössere Capitalien engagirten, zeigt in den letzten Jahren
einen gewissen Stillstand, wenigstens was die Zahl der Unternehmungen betrifft,
welche Waaren im Werthe von 32 Millionen Rubel liefern. Die wichtigsten
Fabriken sind 14 Dampfmühlen, die meisten von ihnen mit Walzen eingerichtet:
[179]Odessa.
lie grosse Zuckerfabrik von Brodski, welche 1888 286.000 q Zucker im Werthe
von 10.437.916 Rubeln erzeugte, zwei Bierbrauereien mit einer Production von
33.000 hl im Werthe von 324.009 Rubeln. Seife und Lichter wurden früher
nur aus russischem Talg hergestellt, der aber jetzt wegen des Rückganges
der Schafzucht in Südrussland umsoweniger für die gesteigerte Production hin-
reicht. Man verarbeitet auch Cocosnuss- und Palmöl, wahrscheinlich wird man im
Laufe der Zeit auch zu österreichischem und australischem Talg greifen müssen.
Die Erzeugnisse finden Absatz im Inlande, kleinere Mengen gehen auf Schiffen
ler freiwilligen Flotte nach Ostsibirien.
Hier besteht ferner eine grosse Farben- und Lackfabrik, Tabakfabriken,
Fabriken für Seile und Taue, Maschinenfabriken mit einem Productionswerthe
von 1½ Mill. Rubeln, Eisengiessereien, Wagenfabriken, Gärbereien u. s. w.
Bei Odessa wird Seesalz gewonnen und von 500 Arbeitern ein guter
Baustein gebrochen, welcher die Ausführung monumentaler Bauten in Odessa
wesentlich fördert. Diese Steine gehen nach Cherson und Nikolajew, ja sogar bis
Sewastopol.
Das Trinkwasser bringt eine Röhrenleitung vom Dnjestr aus
einer Entfernung von 40 km. Mit ihrer Vollendung haben sich auch
die sanitären Verhältnisse der Stadt gebessert.
Ein anderer Uebelstand, die grosse Theuerung des Holzes, mit
dem in Russland fast ausschliesslich Wohnungen geheizt werden
liess sich bisher leider nicht beseitigen, und man zahlt im Winter
für eine Klafter Brennholz mindestens 25 Rubel.
Das gesammte Stadtgebiet zählt einschliesslich der flottanten
Bevölkerung des Hafens und der Fremden rund 280.000 Einwohner.
Die Umgangssprache ist das Russische, auch deutsch wird viel-
fach gesprochen. Die Juden, welche ein Drittel der Bevölkerung aus-
machen, reden unter einander den deutsch-russischen Jargon. Für den
Handel haben noch Bedeutung die Griechen und Italiener.
Der Schiffsverkehr des Hafens ist natürlich in dem letzten Jahre mit dem
Ausfuhrhandel ungemein gestiegen.
Der auswärtige Schiffsverkehr umfasste:
| [...] |
Auch der Cabotageverkehr ist sehr lebhaft, in ihm wurden 1888
219.942 Personen von und nach Odessa befördert.
Mehr als zwei Drittel des auswärtigen Handels besorgen die britischen
Dampfer, nach ihnen sind die russische Flagge und jene Oesterreich-Ungarns her-
vorragend betheiligt.
Odessa ist der Centralpunkt der grossen russischen Dampfschiffahrts-
Gesellschaften für den Verkehr im Schwarzen, Asowschen und Mittelländi-
schen Meere, sowie für jene nach China. Zu ihnen gehören die russische
Dampfschiffahrts- und Handels-Gesellschaft, die im Schwarzen Meere
23*
[180]Das Mittelmeerbecken.
regelmässige Linien nach Constantinopel hat, an die sich Fahrten
nach Sewastopol und an die Nordküste Kleinasiens anschliessen.
Im Mittelländischen Meere werden Smyrna, Syra, Beirut, Alexandria
regelmässig angelaufen. Die russische Schwarze Meer- und Donau-
Dampfschiffahrts-Gesellschaft geht die Donau aufwärts bis Widdin,
die freiwillige Flotte von Südrussland unterhält den Verkehr mit
Sachalin, Ostsibirien und Indien.
Von fremdländischen Gesellschaften sind hier vertreten der
Oesterreichisch-Ungarische Lloyd (Triest), die österreichische Donau-
Dampfschiffahrt-Gesellschaft (Galatz), die Messageries maritimes (Mar-
seille), Fraissinet \& Co. (Marseille), die Navigazione generale italiana
(Genua). Nicht regelmässigen Dienst haben die englischen Dampfer
und die dänische Linie der Gesellschaft „Forende Dampskibs-Selskab“,
die den Verkehr mit Antwerpen herstellt.
Odessa ist eine Hauptstation der indo-europäischen Telegraphenlinie.
Von Banken bestehen in Odessa drei Hypothekenbanken, die Vereinsbank,
die Bank für Handel und Industrie und eine Filiale der russischen Staatsbank.
Consulate haben in Odessa folgende Staaten: Deutsches Reich (G.-C.)
Vereinigte Staaten von Nordamerika, Grossbritannien (G.-C.), Oesterreich-Ungarn
(G.-C.), Belgien (G.-C.), Chile, Dänemark, Spanien, Frankreich, Griechenland (G.-C.),
Italien (G.-C.), Niederlande (G.-C.), Persien, Portugal, Rumänien (G.-C.), Schweden,
Schweiz, Türkei (G.-C.), Venezuela.
Als Russland im Frieden von Kütschük-Kainardschi (1774) das
Recht der freien Schiffahrt auf dem Schwarzen Meere erhielt, besass
es dort keinen Hafen. Schon vier Jahre später gründete man auf
Befehl Katharina II. Cherson am Dnjepr. Man erinnerte sich an die
alte „griechische Strasse“, auf der im Mittelalter durch Jahrhunderte
Kiew und Constantinopel ihre Handelsproducte ausgetauscht hatten.
Aber Stromschnellen hemmen den freien Verkehr mit dem Meere;
das später gegründete Odessa wird das Handelsemporium Russlands am
Schwarzen Meere, und Cherson, heute noch ohne Eisenbahnverbindung,
hat nur eine locale Bedeutung. Doch gelang es einer Reihe kleinerer
Plätze an den Küsten des Schwarzen und Asowschen Meeres neben
Odessa für die Ausfuhr von Getreide eine angesehene Stellung zu erringen.
Von Odessa ostwärts gehend treffen wir zunächst den stark be-
festigten Hafen Nikolajew an der Mündung des Bug mit 67.249 Ein-
wohnern.
Die Eisenbahn, welche von Nikolajew nach Kiew und Poltowa
führt, die Barken, welche auf dem Bug und Dnjepr verkehren, können
nicht die Mengen des Getreides bewältigen, welche in guten Ernte-
jahren über Nikolajew den Weg ins Ausland suchen.
[181]Odessa.
Der Hafen Nikolajews wird gegenwärtig umgebaut, ein Quai von mehr als
1000 m Länge errichtet, für die Lichterschiffe, welche von Odessa und Cherson
kommen, soll ein eigener Hafen erbaut werden. Aber vom November bis März
schliesst Eis den Hafen.
Nikolajew ist für den inländischen Verkehr ein Stapelplatz des kaukasischen
Petroleums mit Reservoirs und Röhrenleitungen zu den Schiffen.
Nikolajew und Cherson stehen im Sommer in Dampfschiffs-
verbindung mit Odessa. Eine dritte Linie führt uns in die Krim an
langgestreckten, flachen Nehrungen vorüber, die hier so charakteri-
stisch Peresyps, d. h. Aufschüttungen (der Flüsse nämlich), genannt
werden. Der Dampfer wendet sich gegen Eupatoria oder Koslow. Wir
aber lassen uns erzählen, dass in nicht zu langer Zeit das Schiff
streng nach Osten halten werde, wo im innersten Winkel des Todten
Meeres das unbedeutende Perekop liegt und ein nur schmaler Land-
streifen die Krim an das grosse Russland knüpft. Ein 119 km langer
Canal wird die Landenge und das Lagunengebiet im Osten derselben
durchschneiden und eine kurze, ungefährliche Verbindung von Odessa
ins Asow’sche Meer bilden.
Wir müssen also noch um die Krim herum und berühren
nach Eupatoria südwärts haltend die herrliche Bucht von Sewastopol,
berühmt durch die heldenmüthigen Kämpfe des Krimkrieges, welche
um den Besitz des grossen Kriegshafens geführt wurden.
Als Getreidehafen blühte Sewastopol auf, nachdem es Endpunkt einer Eisen-
bahn geworden war; die Einfuhr beschränkt sich auf englische Steinkohlen und
amerikanische Baumwolle. Sewastopol soll neuerdings Kriegshafen werden.
Reizende Ufer bespült die „smaragdne Meeresflut“ an der Süd-
seite der Krim, wo die steilen Abhänge des Jaila Dagh den rauhen
Winden den Zugang wehren. Von ferne begrüssen wir das kaiser-
liche Lustschloss Livadia, den Lieblingsaufenthalt des Kaisers Ale-
xander II.
Die Berge werden niedriger, die Ufer flach, und wie es gegen
Kertsch am Eingange ins Asow’sche Meer geht, heisst es sehr vor-
sichtig fahren. Die Meeresstrasse hat an ihren tiefsten Stellen nur 4 m
Tiefe. Hier ist ein wahrer Kirchhof der Schiffe. Die Venezianer
und Genuesen wagten sich mit grösseren Schiffen erst im XIV. Jahr-
hunderte von Vosporo, wie Kertsch noch heute im Volksmunde heisst,
durchs Asow’sche Meer an die Mündung des Don. Auch die Russen
wollen Dämme aufführen, um das Fahrwasser der Meerenge wenig-
stens in dem heutigen Zustande zu sichern. Die 150 Seemeilen lange
Route von hier bis zu den Donmündungen führt durch ein schwierig
zu befahrendes Wasser mit dürftigen Orientirungspunkten. Auf dieser
[182]Das Mittelmeerbecken.
Strecke beträgt die grösste Tiefe nicht mehr als 15 m; im Golfe von
Asow lothet man bei Taganrog nur 3—5 m.
Genau nördlich von der Einfahrt ins Asow’sche Meer liegt der
Getreidehafen Berdiansk, ohne Eisenbahnverbindung mit dem Hinter-
lande. Nach Mariupol, weiter im Osten, bringen Bahnzüge Getreide
und Kohle vom Dnjepr und Donetz, sein Hafen wird vertieft.
Die eigentlichen Stapelplätze des Asow’schen Meeres liegen
in dessen innerster Bucht, am Meere selbst nur das schöne, wohl-
habende Taganrog mit 56.000 Einwohnern.
Von hier geht Getreide nach Griechenland, Italien, Spanien, nach England
und die Staaten an der Nordsee; Steinsalz, das in der Nähe gewonnen wird, nach
Russland bis Polen. Eine Eisenbahn führt nach Norden zum Donetz, eine zweite
um das Delta des Don herum.
Consuln haben hier: Belgien, Frankreich, Italien und Spanien.
Rostow, am rechten Ufer des Don mit mehr als 60.000 Ein-
wohnern, ist heute der wichtigste Platz für die Ausfuhr der frucht-,
fisch- und wollereichen Uferländer des Don. Wenige Kilometer
abwärts am linken Ufer des Flusses, wo heute Asow steht, erhob
sich im XIV. Jahrhundert der Welthandelsplatz Tana, eine Besitzung
der Venezianer; sie wetteiferte damals mit Alexandrien an Bedeutung.
Denn über den schmalen Isthmus zwischen Don und Wolga, den
heute die 78 km lange Eisenbahn Kalatsch—Zarizyn überschreitet und
über welchen schon lange ein Canal geplant ist, gelangte man ins
Caspische Meer und bezog auf diesem Wege die Seide Persiens und
Chinas, die Gewürze von Vorder- und Hinterindien.
Rostows ansehnlicher Handel beschränkt sich auf Getreide, auf Wolle für
Amerika, England, Frankreich und die russischen Tuchfabriken. Man betreibt hier
von altersher starke Fischerei und präparirt in 150 Werkstätten die Producte des
Meeres. Wichtig ist hier die Erzeugung von Ackerbaumaschinen. Der Hafen ist so
seicht, dass Schiffe von grösserer Tauchung in Taganrog bleiben müssen. An
Banken gibt es in Rostow: eine Filiale der kaiserlichen Bank, dann die städtische
Bank und die Handelsbank.
Consuln haben hier: Deutsches Reich, England, Dänemark, Türkei.
Den Don befährt bis Eletz aufwärts eine Dampfschiffahrts-
gesellschaft. Die Eisenbahnen, welche von Norden und Westen ein-
münden, finden eine Fortsetzung durch die Linie Rostow—Wladikaw-
kas, die in die Vorberge der Mitte des Kaukasus führt. Die Zweig-
bahn Tichorezkaia—Noworossisk bringt uns über die westlichen Aus-
läufer des Kaukasus wieder ans Schwarze Meer. Das Asowsche Meer,
welches sammt der Strasse von Kertsch jedes Jahr mindestens von
December bis März durch Eis gesperrt ist, wird durch sie umgangen.
Noworossisk, dessen Hafen im Winter eisfrei bleibt und am Quai
[183]Odessa.
6—7 m tief ist, hat eine grosse Zukunft als Getreideplatz während der
Wintermonate, wie der Aufschwung des Handels im Jahre 1889
beweist.
Ein Wellenbrecher von 1000 m Länge, der im Bau ist, wird die Gewalt des
heftigen, boraähnlichen Nordostwindes brechen, die heute manchmal durch zwei
bis drei Tage jede Handelsthätigkeit unterbricht. Grosse Lagerhäuser für 66.000 t
sind bereits fertig, der Hafen wird elektrisch beleuchtet. Die Petroleumwerke der
französischen Compagnie „Standard“, die grossartigen Cementwerke, welche ihr
Product bis Sewastopol und Odessa verschicken, im Vereine mit dem blühenden
Handel werden bald die Bevölkerung dieser modernen Hafenstadt, welche jetzt
4000 Einwohner zählt, verdoppeln.
Die Stadt Noworossisk (d. i. Neurussland) wird auch durch eine Küstenbahn
mit Nowosenek an der transkaukasischen Eisenbahn verbunden, deren Endpunkte
am Schwarzen Meere Poti und Batum sind; dies ist eine neue Bürgschaft für
das Wachsthum dieses Schosskindes Russlands, das damit auch eine grosse mili-
tärische Bedeutung erlangt. In dieser Beziehung wird es vielleicht an die Stelle
Batums treten, wie dieses Poti in den Hintergrund gedrängt hat.
Der Werth der Handelsbewegung in den vorstehend erwähnten kleineren
Häfen war folgender:
| [...] |
Seit Eröffnung der Eisenbahnverbindung von Samtredi nach Batum
hat Poti seine Handelsbedeutung als Transitstation des Verkehres aus
dem asiatischem Russland und Persien sowie als Petroleumhafen völlig
eingebüsst.
Die Stadt zählt nur 5300 Einwohner. Die Ausfuhr betrifft Mais, der auf
dem Rion nach Poti gebracht wird, und Manganerze für England. Reguläre Dampf-
schiffahrtsverbindung mit Odessa und Constantinopel.
Consulate haben hier: das Deutsche Reich, England, die Vereinigten Staaten,
Frankreich, Persien, Türkei.
[[184]]
Batum.
Seit dem Berliner Vertrag (1878) unter russische Herrschaft
gelangt, nahm Batum unter der Gunst der Regierung einen raschen
Aufschwung. Im östlichsten Theile des Schwarzen Meeres gelegen, be-
sitzt es zwar keinen natürlichen Hafen im strengen Sinne, wohl aber
einen der besten Ankerplätze an der ganzen kaukasischen Küste. Dieser
Umstand und die militärische Wichtigkeit Batums als geeigneter Basis
für Operationen nach Transkaukasien und Armenien haben offenbar
die Bevorzugung der Stadt gegenüber Poti, dem uralten Einbruchs-
thore nach Transkaukasien, veranlasst.
Die Verlegung des commerciellen und militärischen Schwer-
gewichtes nach Batum fiel in eine Zeit, in welcher die Petroleum-
production in Baku, wie wir zeigen werden, einen ungeahnten Auf-
schwung genommen hatte, der sogleich auf den Seeverkehr des neuen
Platzes eine ungeheuere Wirkung ausüben müsste. Den plötzlich so
hoch gestiegenen Anforderungen war das alte Batum nicht gewachsen.
In aller Eile entstanden daher längs der Stadtfront hölzerne
Rostwerke für die Zufuhr der Handelsgüter. Vor diesem Ufer liegen
die Dampfer vertäut, jedoch ist der Raum sehr beschränkt. Südlicher
ist der Ladeplatz der Segelschiffe. Es ist beabsichtigt, die Uferstrecke
mit einem steinernen Quai auszustatten. In der ganzen Bucht können
im besten Falle 30 Schiffe gleichzeitig vor Anker liegen.
Diese Verhältnisse drängten zur Anlage eines künstlichen Hafens,
dessen Bassin nördlich und westlich des alten türkischen Forts (L des
Hafenplanes) im Entstehen begriffen ist und im Jahre 1893 vollendet
sein soll.
Der äussere Damm ist gegenwärtig so weit fortgeschritten, dass
bereits Petroleum-Cisternenschiffe (Tanksteamer) daselbst anlegen
können. Er wird für drei solcher Schiffe Raum bieten. Zur Erweite-
rung der Hafenanlage und Gewinnung von Uferraum ist die Demolirung
des vorne erwähnten türkischen Forts projectirt.
[[185]]
Batum. (Hafenansicht).
Batum. (Rothschild’sches Petroleum-Etablissements).
Die Seehäfen des Weltverkehrs, I. Band. 24
[186]Das Mittelmeerbecken.
Von der Hauptlinie der Eisenbahn nach Tiflis-Baku zweigen
zum Hafen und allen denselben umgebenden Etablissements zahlreiche
Nebengeleise ab, auf welchen die eigenthümlichen cylindrischen
Petroleumcisternen, ihrer Form nach auch Kessel-Waggons genannt,
in langen Zügen verkehren. Ihr Inhalt wird in dickleibige, cylindrische
Reservoirs von mit unterenormer Gehaltfähigkeit mittelst Dampfpumpen
gefüllt, um seinerzeit nach Bedarf weiter verladen zu werden. Hafen
und Stadt tragen den Typus der grossen Umwälzung an allen Ecken
und Enden zur Schau, alles ist unfertig, vieles grossartig, aber zu
dem alten gar nicht passend. Auch die Menschen dieser früher so
tief verschlafenen Türkenstadt modernisiren sich durch Einwanderung;
nur die Natur bleibt sich ewig gleich.
Batum ist die Hauptstadt des gleichnamigen Districtes im reichen
Gouvernement Kutais. Nördlich der Mündung des reissenden, aber
nicht schiffbaren Tscharuch-Flusses, unter 41° 39′ nördl. Br. und
41° 37′ östl. L. v. G. (Kirche J) gelegen, geniesst die Stadt alle Reize
einer wildromantischen Umgebung. Bis zur Küste herab tragen Höhen
und Thäler den Schmuck einer immergrünen Pflanzendecke; Lorbeer
und Buxbaum gedeihen hier zu ansehnlicher Höhe.
Batum zählt gegenwärtig bereits 10.000 Einwohner. Die ur-
sprüngliche Bevölkerung war mohammedanisch-grusinischer Abstam-
mung; ein grosser Theil wanderte nach der Besitzergreifung durch
die Russen nach der Türkei aus, den russischen Unterthanen Grund
und Boden überlassend. Die gegenwärtige Bevölkerung ist grössten-
theils aus den verschiedenen Theilen des Kaukasus, aus Russland und
dem Auslande eingewandert und setzt sich zusammen aus: Grusinern
mohammedanischer und christlicher Religion (das sind Mingrelier,
Imerotiner und Gurier), ferner aus Armeniern, einigen Abchasen,
Russen, den fremden Colonien und endlich aus einigen Israeliten.
Die Stadt ist Sitz eines Vice-Gouverneurs und eines Hafen-
Commandanten.
Batum besitzt je eine griechische, katholische und armenische
Kirche und zwei Capellen. Unter den staatlichen Anstalten sind das
Civil- und Militär-Spital erwähnenswerth. Neuester Zeit wurde ein
schöner Park angelegt.
Batum war die Jahre 1878—1886 hindurch Freihafen und hat wäh-
rend dieser Periode einen grossen Aufschwung genommen. 1886 verfiel es
der russischen Prohibitiv-Zollpolitik. Mit der Sperrung des Hafens sank
der Import aus dem Auslande der hohen Zölle halber ganz enorm.
Der [ausländische] Import beschränkt sich auf Weissblech und kaustische
[187]Batum.
Soda aus England und auf Fichtenbrettchen, welche vornehmlich aus
Galatz und auch aus Odessa kommen und zum grössten Theile öster-
reichischen Ursprungs sind. Nicht weniger als 6000 Arbeiter stellen
täglich 30.000 bis 35.000 Holzkisten und die doppelte Zahl von
Petroleum-Blechdosen her (zwei Dosen für jede Kiste); von diesen
entfällt fast die Hälfte auf die Rothschild’sche Fabrik allein. Die
exclusive Wirtschaftspolitik vermochte die junge Blüthe Batums
nicht zu knicken, Batum verwandelte sich vielmehr in einen der
ersten Petroleumhäfen der Erde.
Das rasche Aufwachsen der Stadt und der zahlreichen dem
Petroleumhandel dienenden Etablissements ist staunenswerth. West-
wärts der Stadt breitet sich das von vielen Schienensträngen durch-
zogene Gebiet des Petroleumgeschäftes aus, das den Eindruck eines
riesigen Laboratoriums bietet. Unzählige eiserne Reservoirs, die von
der Ferne wie hübsche Zuckertorten aussehen, Wohnhäuser, Fabriken,
Maschinenschoppen und zahllose eiserne Schlote bezeichnen ein ganzes
Königreich fleissiger Arbeit und Thätigkeit.
Die kaukasische Petroleumproduction mit all ihren Schicksalen und
Schwankungen ist längst nicht mehr eine Sache, welche Russland speciell
interessirt, sie ist von höchster Bedeutung für ganz Europa und für das früher
den Handel dieses so wichtigen Leuchtstoffes monopolisirende Nordamerika ge-
worden, darum scheint es gewiss angezeigt, hier einige Worte über die kaukasi-
schen Petroleumminen einzuflechten.
Von der Gegend bei Lüneburg in Hannover zieht sich nach Südosten durch
Galizien, Rumänien, die Krim, den Kaukasus und jenseits des Caspischen Meeres
weit nach Innerasien ein Streifen petroleumführenden Terrains, dessen ergiebigste
Gebiete an den beiden Enden des Kaukasus liegen. Bisher ist die Hauptthätigkeit
auf die flache Halbinsel Apscheron concentrirt, welche ostwärts von dem Hafen
Baku weit ins Caspische Meer hinausragt. Einst berühmt durch die heiligen Feuer
von Baku, ist die „schwarze Stadt“ bei Baku der einzige ernstliche Concurrent
der Union in Petroleum. Die Eröffnung der transkaukasischen Bahn im Mai 1883
von Baku über Tiflis nach Poti mit der später gebauten Abzweigung nach Batum
erweckte die schönsten Hoffnungen. Baku blieb nicht mehr auf Russland als
Absatzgebiet beschränkt, sondern konnte auch auf den europäischen und indischen
Märkten in Wettbewerb treten. Die Production von Rohnaphtha, welche 1880
4 Millionen q betrug, stieg 1885 auf 16 Millionen q, 1888 auf 27 Millionen q,
1889 soll sie gegen das Vorjahr wieder um 4 % gestiegen sein; den Anstoss
zu dem Aufschwung des letzten Jahres gab die Firma „Caspische und Schwarze
Meer-Naphtha-Productions- und Handelsgesellschaft“ (Rothschild Frères, Paris),
welche sowohl in Baku als auch in Batum Zweigniederlassungen gründete, in
der Absicht, gleich der „Standard Oil Company“ in Amerika, den grössten
Theil der Petroleumproduction Russlands in die Hand zu bekommen. Die
Gesellschaft hat durch Anschaffung von eigenen Cisternenwaggons die Transport-
fähigkeit des kaukasischen Petroleums bereits wesentlich erhöht. Die Errichtung
24*
[188]Das Mittelmeerbecken.
einer bei 660 km langen Röhrenleitung nach amerikanischem Muster bis an den
Ostabhang des Surampasses wurde ihr bisher nicht gestattet, und man bleibt daher
auf den Transport mit der Bahn nach Batum angewiesen, deren Leistungsfähigkeit
mit der im Mai 1890 erwarteten Fertigstellung des Tunnels unter dem schwierigen
Surampasse wesentlich gesteigert werden wird.
Im Jahre 1888 wurden nach Batum mittelst Bahn 50.703 Waggonladungen
oder der Waggon zu 98·28 q (600 Pud) gerechnet, 4,983.100 q Naphthaproducte
gebracht.
Verschifft wurden von hier 1888 5,275.500 q Naphthaproducte, von diesen
waren 4,166.400 q Petroleum. Seit Mitte 1889 wird ohne Unterlass geklagt, dass
die Petroleumquellen von Baku versiegen, oder besser gesagt weniger ergiebig
werden. Immer tiefer müssen die Bohrlöcher geführt werden, immer kleiner werden
die Ergebnisse. In früheren Zeiten drang aus den frischen Bohrlöchern das Petro-
leum durch 8—10 Tage oft mit solcher Gewalt heraus, dass es wie bei der
Druschba-Fontaine bis 100 m Höhe emporschnellte, und dass zur Aufnahme der
Tausende von Tonnen, welche jeden Tag heranströmten, als Reservoirs grosse
Teiche gegraben wurden. Aber manchmal barsten die Dämme der Teiche und
die Petroleummassen bahnten sich den Weg zum Caspischen Meere. Diese
Zeiten, in welchen das Pud Petroleum am Bohrloch nur 1½—2 Kopeken kostete,
scheinen vorbei zu sein. Doch diese Klagen scheinen für jeden mit der Ge-
schichte der amerikanischen Petroleumproduction Vertrauten jedenfalls verfrüht.
Denn erstens kamen in Amerika schon hundertemale derartige Erschöpfungs-
erscheinungen vor, denen jedesmal wieder neue erfolgreiche Anbohrungen folgten
(Ende 1889 wurde in Pennsylvanien ein Bohrloch eröffnet, welchem eine 372 eng-
lische Fuss hoch springende Fontaine entstieg), und zweitens gibt es erwiese-
nermassen sowohl längs des Kaukasus als auch jenseits des Caspischen Meeres
in der turkmenischen Steppe noch so viele nicht ausgebeutete Petroleumgebiete,
dass ein dauernder Rückgang in diesem Hauptexportartikel Batums nicht zu
fürchten ist.
Die grosse Schwierigkeit, mit welcher die russische Petroleumproduction
wirklich schwer kämpft, ist die Transportfrage; da die caspischen Petroleumfelder
25 m unter dem Spiegel des atlantischen Oceans, die amerikanischen bis
250 m über demselben liegen, ist an eine automatische Zuleitung zum Schwarzen
Meere durch einfache Röhrenleitungen nicht zu denken, und selbst den Eisen-
bahntransport vertheuert der 1000 m hohe, in seiner technischen Anlage durchaus
nicht entsprechende Surampass ganz ausserordentlich. Soll das kaukasische Petroleum
ebenso Welthandelsartikel werden, wie das amerikanische, so müssen diese
Transportschwierigkeiten behoben werden. Bisher geht das meiste Petroleum
die Wolga hinauf in die russischen Cisternenplätze bis Warschau; nach den
europäischen Hafenplätzen wird Petroleum meist in riesigen, in England ge-
bauten Tanksteamern verschifft, deren 1888 22 in Verwendung waren, gegen 9
im Jahre 1887. In die Levante und den äussersten Orient geht es in Blechdosen,
welche in Batum gefertigt werden. Auf diese Weise wurden 1888 1,861.000 q
befördert.
Neben Petroleum treten die anderen Exportartikel Mais und Weizen,
kaukasische und persische Wolle und Süssholz ganz in den Hintergrund; da Handel
und Schiffsverkehr des hiesigen Hafens ganz ausschliesslich abhängig sind von
[189]Batum.
dem Verkehre in Petroleum, so genügt die Angabe der Ziffern des Jahres 1888.
Der Export erreichte 24,475.033 Rubel, der Import 6,952.240 Rubel, der Schiffs-
verkehr umfasste 1324 Schiffe mit 1,065.866 t, davon 858 Dampfer mit 947.313 t.
Die meisten Schiffe führten die britische Flagge, dann kommen Frankreich,
Oesterreich-Ungarn und Russland. Den Russen gehört ferner der ganze Küstenver-
kehr (1888) mit 303 Schiffen und 94.950 t. In Baku laufen regelmässig russische
A Rhede von Batum, B Arsenal, C Moscheen, D Friedhöfe, E Thürme, F Leuchtfeuer, G Wassermühle,
H Kaserne, J Kirche, K Sturmsignal, L altes türkisches Fort (aufgelassen).
Dampfer an, von Odessa und Constantinopel ausgehend, die Messageries maritimes
und der österreichisch-ungarische Lloyd, ferner dänische und griechische Dampfer.
In Batum besteht eine Zweigniederlassung der russischen Reichsbank.
Daran, dass Batums Verkehr nicht die Höhe erreicht, die seiner
Handelsstellung gebührt, trägt die russische Politik die Schuld. Batum
ist Kopfstation für die 899 km lange transkaukasische Bahn nach Baku.
Dampfer bringen von dort in 22 Stunden Reisende und Güter nach
[190]Das Mittelmeerbecken.
Usun Ada, der heutigen Kopfstation der merkwürdigen transcaspischen
Eisenbahn, die hunderte von Kilometern durch Wüsten eilt und erst
1437 km vom Meere entfernt in Samarkand ihr vorläufiges Ende
findet. Nur wenige hundert Kilometer fehlen noch von Merw, dem
südlichsten Punkte der transcaspischen Bahn nach dem Ende der
indischen Bahnen bei Kandahar. Aber dieser riesige Verkehrsweg ist
durch Verordnungen allen Waaren aus dem nichtrussischen Europa
versperrt, der Importhandel Batums ist somit künstlich unterbunden
und wird es wohl noch lange bleiben.
Vielleicht könnte Batum ein wichtiger Hafen für den europäisch-
indischen Verkehr werden, wie dies im Mittelalter Tana und Trapezunt
waren.
Consulate: Deutsches Reich, England, Oesterreich-Ungarn, Belgien, Frank-
reich, Italien, Türkei (G.-C.).
[[191]]
Trapezunt.
Eine grossartige Gebirgswelt ohne weite Querthäler, ohne gang-
bare Pässe schliesst das pontische Küstenland wie ein unübersteig-
barer Wall von den fruchtbaren Thälern Armeniens ab. So tief hat
Mutter Natur die Abgeschiedenheit der herrlichen Landschaften an
der Südküste des Schwarzen Meeres gestaltet, dass Armenien in seiner
alten Epoche weit mehr mit den östlichen Nachbarländern, selbst mit
dem schwer zugänglichen Kurdestan im Handelsverkehre stand, als mit
seinem eigenen Küstenlande. Der gegenwärtig viel benützte Karawanen-
weg von Trapezunt nach Erzerum ist der einzige, der von der pontischen
Küste nach dem centralen Armenien führt. Derselbe entstand bald nach
Gründung von Trapezus (756 v. Chr.), einem Werke der Milesier
von Sinope. Xenophon benützte diese Strasse, als er mit seinen 10.000
griechischen Söldnern aus dem Innern Asiens sich rettete und nach
Byzanz zog. Zwei Reiche sah das Küstenland entstehen und vergehen:
das bosporanische Reich der Skythen und die Romantik des komne-
nischen Kaiserthums von Trapezunt.
Das letztere war im Grunde genommen nur ein kleiner Ableger des byzan-
tinischen Monarchenstammes, als dieser 1204 nach Aufrichtung des lateinischen
Kaiserthums in Constantinopel zu Falle kam. Damals ward der erst vierjährige
Thronerbe Alexis durch die letzten Komnenen nach Kolchis gerettet und dort bis
zur Erlangung der Grossjährigkeit zurückgehalten. Nun erfolgte die Aufrichtung,
des Kaiserthums Trapezunt, das, ein Küstengebiet von beschränkter Ausdehnung,
mit den alten Traditionen auch alle Gebrechen und Erbsünden der Byzantiner in
sein träumerisches Dasein aufgenommen hatte.
Zu den Persern und Seldschuken unterhielt man die besten Beziehungen
um der offenen Feindschaft des aufstrebenden Osmanenthums ein Gegengewicht
zu schaffen. Nicht wenig begünstigte die Schönheit der Prinzessinnen die Richtung
dieser Politik, und mächtige Fürsten, wie Uzun Hassan, der Turkmene, und andere
traten in nahe Verwandtschaftsverhältnisse zum Kaiserhaus der Komnenen.
Das Hofleben war glänzend und der Handel — allerdings in genuesischen
und venetianischen Händen — häufte Reichthum in Trapezunt an.
[192]Das Mittelmeerbecken.
Auf der die Stadt dominirenden Mythrashöhe (heute Bostepeh genannt),
deren Name wohl an Mithridates erinnert, erhoben sich von mächtigen Festungs-
werken umgeben die glanzvollen Marmorhallen des in Prachtgärten gelagerten
Kaiserpalastes; dort stand auch die Kathedrale. Wohl sahen die gleissenden Säulen-
hallen, durch welche würzige Lüfte strichen, viele blendende Festlichkeiten im
Vereine mit der Poesie stillen Menschenglückes, allein sie wurden auch Zeugen des
furchtbaren Unterganges, des entsetzlichen Endes der Kaiserpracht, als Mohammed II.,
der Eroberer von Constantinopel, mit brutaler Macht in das Schicksal der Komnenen
eingriff. Trapezunt fiel 1462, nach 250jährigem Bestande des Kaiserthums, in die
Gewalt des Sultans. Das Blutgericht war barbarisch. Der letzte Kaiser David und
dessen ganze Familie wurden nach Stambul geschleppt und dort in den Kerkern hin-
gerichtet. Das Griechenthum ward ausgerottet und die Kirchen wurden zu Moscheen
umgewandelt. Von diesen bestehen noch die ehemalige Kathedrale und die Aja
Sophia am Weststrande nächst der Stadt. Die rauchenden Trümmer der Kaiserstadt
wurden bald durch die neuen Wohnstätten der Muselmanen verdeckt, aber das
geborstene Gemäuer der gewaltigen Zinnen und Wälle, die, über tiefe Abgründe und
Felsen setzend, dem Angreifer manche fortificatorische Ueberraschung bereitet haben
mochten, krönt noch heute die Stadt.
Es wird berichtet, dass Mohammed II., von dem landschaftlichen Reize der
Umgebung derselben bestrickt, den Winter nach der Katastrophe dort zubrachte.
In der Folge wies er Trapezunt dem erstgeborenen Prinzen als Regierungssitz an.
Die Stadt war den späteren Sultanen ein Stützpunkt bei deren Vordringen in den
Kaukasus und von hier aus wussten die Herren des Bosporus den persisch-armenischen
Handelsverkehr zu unterbinden.
Das heutige Trapezunt (Trébisonde, türkisch Tarabosan, vor-
mals Tarabusun) ist die Hauptstadt des türkischen Vilajets gleichen
Namens und erblühte wieder zu ihrer einstigen Bedeutung als wich-
tiger Stapelplatz für den Handel zwischen Persien und Europa.
Die Stadt bedeckt die zu Füssen der Mythras-Höhe liegende
Uferterrasse und bietet mit ihren luftig gebauten Häusern, zahlreichen
Gärten, in welchen Lorbeer und Myrthe, Orangen und Citronen ge-
deihen, mit ihren schlanken Minareten und dem idyllischen Sandufer
des Hafens, an dem in ewigem Spiele die See sich bricht, ein an-
muthiges Bild, dem die gewaltige pontische Gebirgswelt einen male-
rischen Hintergrund geschaffen hat.
Vom Zollamt bei der Kalmekspitze (41° 1′ nördl. Br. und 39° 46′
östl. L. von Greenwich) führt die Hauptstrasse der Stadt zum Hauptplatze
Meidan und weiter hinauf über eine die erste Schlucht übersetzende
Brücke in die alte Festung der Komnenen, zu dem Gouvernements-
gebäude und der Klissa Dschami, der alten griechischen Kathedrale.
Innerhalb der Festungsruinen sind die Gefängnisse, eine Mittel- und
eine Militärschule untergebracht. Ueber eine zweite Schlucht erreicht
man die Militärbaraken am Kawak-Meidan und die Zufahrt zum
Militärspitale. Vom Hauptplatze Meidan zweigt die Marktstrasse Tschar-
[193]Trapezunt.
schi ab und von dieser in östlicher Richtung gegen die Küste der
Bazar mit seinen bunten Kaufläden. Am Meidan stehen das Gebäude
der Muncipalität, die türkische Post und das Telegraphenamt.
Der grosse Stadttheil oberhalb dem Meidan ist vorwiegend von
Türken bewohnt. Allen Theilen von Trapezunt ist aber der echt tür-
kische Charakter der Gegenwart, also jene bauliche Styllosigkeit
aufgeprägt, die als Architektur in Hemdärmeln nur der orientalischen
Trapezunt.
Bequemlichkeit Rechnung zu tragen versteht. Unter den 6000 Ge-
bäuden sind nur ungefähr 100 in Stein bis zu zwei Stockwerken
hoch aufgeführt, alle anderen aber Holz- und Riegelwandbauten. Die
Stadt ist indes von einer Wasserleitung durchzogen. Mit Eintritt der
Dunkelheit hört das Strassenleben der spärlichen Beleuchtung wegen
auf, und wer seinen Weg durch das Gewirre der Gässchen finden
muss, benützt die Handlaterne. Dessenungeachtet soll die öffentliche
Sicherheit in der Stadt zufriedenstellend sein; ausserhalb derselben
aber treiben freche Banden um so ärgeres Spiel.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I Band. 25
[194]Das Mittelmeerbecken.
Die Stadt ist Sitz eines Generalgouverneurs (Vali), einer Han-
delskammer, eines griechisch-orientalischen Bischofs, eines armenisch-
gregorianischen Erzbischofs, eines armenisch-katholischen Bischofs,
eines römisch-katholischen Präfecten und einer nordamerikanischen
protestantischen Mission. Hier bestehen ein Appellationsgerichtshof für
Civil- und Strafsachen sowie mehrere Tribunale erster Instanz. Neben
zahlreichen Moscheen besitzt die Stadt auch eine griechische Kathe-
drale und eine katholische Kirche.
Trapezunt zählt 45.000 Einwohner, von welchen 27.000 Tür-
ken und 18.000 griechische und armenische Christen sind. Hiezu
wären noch an fremden Elementen ungefähr 50 Europäer und eine
persische Colonie von Kaufleuten, Mäklern, Pferdevermiethern (unge-
fähr 200 Personen) beizufügen. Eine höchst auffallende Eigenthüm-
lichkeit ist hier das Fehlen der Juden.
Verkehrssprachen sind die türkische, armenische und grie-
chische. Das Italienische, vormals die Handelssprache, ist gegenwärtig
gänzlich dem Verkehre entrückt. Dagegen beginnt die französische
Sprache, welche 5 % der armenischen und griechischen Bevölkerung
verstehen, an Boden zu gewinnen.
Der Mangel eines geschützten Hafens ist für Trapezunt von
grossem commerziellen Nachtheile. Die eigenthümlichen Wetterverhält-
nisse des Schwarzen Meeres zwingen die ankommenden Dampfer, auf
der unsicheren Rhede mit stillem Dampf zu liegen, um bei einem
der plötzlich ohne frühere Anzeichen losbrechenden Stürme oder
überhaupt bei Zunahme des Windes nach dem westlich von Tra-
pezunt befindlichen Platana, wo die Quarantäneanstalt besteht, zu
flüchten.
An der pontischen Küste herrschen während des Winters häufig stürmische
WNW- und Nordwinde, die eine hohe See und häufig Schnee und Regen bringen,
aber meist von kurzer Dauer sind. Südwinde drehen gewöhnlich über West nach
Nord, von wo es dann stürmisch weht. Während des Sommers setzen veränderliche
Winde ein, allein der ONO-Wind mit hohem Seegang ist vorherrschend. Nebel-
wetter erscheinen im Frühjahre, am häufigsten im April (zwei bis drei Tage).
Die Jahreszeiten treten sehr unregelmässig ein; der Winter beginnt nicht
vor December und ist milde. Nach dem kalten regnerischen Frühling folgt der sehr
heisse und feuchte Sommer mit oft umwölktem Himmel. Der Herbst ist hier die
angenehmste Saison.
Die Hafenfront säumt ein flaches sandiges Ufer ein, und besteht
dort nur bei der Kalmekspitze ein Steinmolo, an welchen Boote anlegen
können. Die Waarenmanipulation geschieht mittelst Lastbooten von
30 bis 40 Tonnen Gehalt.
[195]Trapezunt.
Um den Calamitäten der offenen Rhede abzuhelfen, beabsich-
tigt die türkische Regierung die Erbauung eines geschlossenen
Hafenbasins.
Nach dem ausgearbeiteten, aber noch nicht genehmigten Projecte, das in
unserem Hafenplane aufgenommen wurde, soll ein 400 m langer Steindamm von
der Kalmekspitze in ONO-Richtung und ein 940 m langer Damm von der Eleusa-
spitze gegen NNO geführt werden. Das durch die Dämme eingeschlossene Bassin
müsste bis zu einer Tiefe von 8·6 m ausgebaggert und an der Südseite ein Quai
von 71.500 m2 für den Bau von Häusern oder Magazinen angeschüttet werden.
Trapezunt ist von Natur das bequemste Thor, durch welches
Persien mit Europa in Verbindung treten kann, seit Russland die
günstigen Verkehrswege über Batum-Baku und den über das caspische
Meer ausschliesslich dem Handel seiner Unterthanen vorbehalten hat.
Der Handel Trapezunts zerfällt daher in den kleinasiatischen und in
den Transitoverkehr von und nach Persien. Aber auch beide zusammen
erreichen heute keine bedeutende Ziffer. Der Transitoverkehr mit
Persien geht aber immer mehr zurück, weil der Weg über Trapezunt
viel Zeit erfordert und die Frachten hoch und ganz je nach der
Anzahl der vorhandenen Kameele äusserst variirend sind. Im Winter,
Frühjahr und Herbst ist dieser Weg wegen der Schneemassen, Lawinen
und Ueberschwemmungen sehr schwierig, im Sommer wieder leiden
die Saumthiere Mangel an Futter, so dass die durchschnittliche Trans-
portdauer von Trapezunt nach Täbris 55—60 Tage beträgt. Gleichzeitig
befestigt sich Russlands commerzielle Stellung in Persien, und England
begünstigt die Strassen, welche von Buschir, Bender Abbas und Moha-
merah am persischen Meerbusen in das Innere Persiens führen. Der
anatolische Handel aber zieht sich nach Samsun. Die Binnenvilajete
Kharput und Diarbekir werden wegen der besseren Strassen, die von
Samsun ausgehen, jetzt von dort aus mit europäischen Waaren ver-
sehen. Trapezunt ist heute nur für die Gebiete, die an der per-
sischen Karawanenstrasse nach Erzerum und Täbris liegen, vermitteln-
der Hafen.
Die türkische Regierung müsste, um den Verkehr über Trape-
zunt zu beleben, die schwierigsten Stellen der Strasse Trapezunt—Tä-
bris umlegen. Dadurch liessen sich Transportdauer und Frachtsatz
dieser Route, auf welcher übrigens im Sommer auch Fourgons, mit vier
Pferden bespannt, verkehren, mit Leichtigkeit auf die Hälfte des
gegenwärtigen Ausmasses herabsetzen, und die Route über Trapezunt
könnte mit den Routen über den persischen Golf erfolgreich in Wett-
bewerb treten.
25*
[196]Das Mittelmeerbecken.
Anderseits verarmt das kleine Handelsgebiet Anatoliens, welches
Trapezunt geblieben ist, zusehends. Täglich sieht man Schaaren von
Landleuten in die Stadt ziehen, welche wegen Mangel an Zugvieh
Säcke mit Kohlen und Bündel mit Holz auf dem Rücken tragen, da-
mit sie aus dem Erlöse ihrer Noth wenigstens auf einige Tage ab-
helfen. Das Nutz- und Arbeitsvieh ist bereits ins Ausland geführt,
und auch der Wald wird bald aufhören, eine Quelle des Unterhaltes
zu sein, weil er rücksichtslos ausgerodet wird.
A Ankerplätze auf der Rhede, B Zollamt, C Hafenamt, D Vorstadt Tschemlekschi, E griechische
Kathedrale, F Leuchtfeuer, G Burg des Kaisers von Trapezunt, H Meidan-Platz, J projectirter Hafen,
K Molo bei Kalmek, L Molo bei Eleusa, M Anschüttungsterrain.
Der Handelsverkehr von Trapezunt betrug in Gulden Gold:
| [...] |
Die wichtigsten Einfuhrartikel für Anatolien und Persien sind: Zucker aus
Triest und Marseille, der wegen der hohen Fracht, welche bis Täbris 71—76 % des
[197]Trapezunt.
Werthes ausmacht, aus Nordpersien verdrängt wird (1888 23.144 q im Werthe von
455.344 fl.), Stahl und Sensen für das getreidereiche Hocharmenien, ferner Tuch
(1888 2409 q, Werth 1,098.240 fl.) aus Oesterreich-Ungarn und England, Baumwoll-
garne und Manufacte (1888 49.360 q, Werth 6,388.560 fl.) meist aus England; be-
merkenswerth sind ausserdem die Importe an Thee (1888 Werth 850.560 fl.),
Metallen und Mais. Letzterer wird meist im Wege des Küstenhandels aus der Um-
gebung hieher gebracht.
Von anatolischen Producten werden aus Trapezunt ins Ausland geführt:
Haselnüsse, die an der ganzen Nordostküste Kleinasiens gedeihen und nach
Samsun.
Russland, Rumänien und Egypten gehen (1888 33.865 q, Werth 541.840 fl.), Bohnen;
der Tabakbau bei Trapezunt und Platana ist infolge Einführung des Tabakmonopols
auf 12.000 q gesunken; die Ausfuhr (1888 10.035 q, Werth 300.744 fl.) geht
hauptsächlich nach Egypten. Die Ausfuhr von lebenden Hammeln und Rindern
(1888 55.411 Stück, Werth 472.000 fl.) ist ein Beweis des sinkenden Wohlstandes;
Verkehrsrichtung: Constantinopel.
Die Ausfuhr persischer Producte, deren Hauptziel Constantinopel ist, ver-
mindert sich andauernd, denn die Kaufkraft der Türkei sinkt, die persische Industrie
geht zurück. Für Teppiche (Ausfuhr 1888 2850 q, Werth 304.150 fl.) und Shawls (1888
220 q, Werth 352.000 fl.) ist Täbris in Azerbaidschan eine uralte Productionsstätte.
Von der berühmten Tabaksorte Tombeki, die gewöhnlich in der Wasserpfeife ge-
[198]Das Mittelmeerbecken.
raucht wird, kamen 1888 über Trapezunt 12.825 q im Werthe von 1,026.000 fl.
zur Ausfuhr, von Seide und Seidenstoffen um 215.000 fl.
Gegenüber diesem geringen Umfange des Handels ist der Schiffsverkehr von
Trapezunt ungewöhnlich hoch.
| [...] |
Trapezunt besitzt wohl keine Kohlendépôts, dafür zu viele regelmässige
Schiffahrtsverbindungen, welche gegenseitig die Frachten drücken, alle von Con-
stantinopel kommen und meist in Poti das Ende ihrer Route finden. Es sind dies
der österreichisch-ungarische Lloyd, die Messageries maritimes und eine zweite
französische Gesellschaft, welche Getreide nach Marseille führen, die russische
Dampfschiffahrt- und Handelsgesellschaft, welche Thee und englische Massengüter
aus Constantinopel bringt und den Verkehr nach Egypten beherrscht; die türkische
Gesellschaft Mahsussié, die Gesellschaft Courtgi \& Cie., die bis Triest fährt, ohne
umzuladen, der Panhellenion, die dänische Unternehmung Forende Dampskisb
Selskab (via Antwerpen, Neapel, Smyrna) und die englische Linie Westcott-
Lawrence.
Die telegraphische Verbindung mit Europa wird durch die anatolische Linie
mit dem Endpunkte Scutari, und mit Russland via Batum hergestellt.
Consulate haben folgende Staaten: Oesterreich-Ungarn (G.-C.), Persien
(G.-C.), Russland, Frankreich, England, Italien, Griechenland, Belgien, Niederlande,
Dänemärk, Spanien, Vereinigte Staaten.
Samsun, westlich von Trapezunt gelegen, obwohl ebenfalls nur
eine ungünstige Rhede, hat Trapezunt an Capitalskraft und Wohl-
habenheit weit überflügelt, weil es mit seinem reichen Hinterlande
durch zwei gute Strassen verbunden ist. Eine endet nach 800 km in
Kaisarieh, die zweite, welche mit Frachtwagen befahren wird, in
Diarbekir am Tigris. Zahlreiche schöne Neubauten, der steigende
Consum von Luxusartikeln und wachsende Credit seines Handels-
standes im Auslande bezeugen die Blüthe Samsuns, welches auch mit
der Bahnlinie Scutari—Angora durch eine Zweiglinie in Verbindung
gesetzt werden soll. Es scheint, dass sich Samsun, getragen von
modernen binnenländischen Verkehrswegen, zum grössten Handels-
platze des türkischen Küstengebietes am Schwarzen Meere entwickeln
werde, obzwar eine derartige Entwicklung eines türkischen Platzes
ohne die Initiative des europäischen Capitales schwer denkbar ist.
Zwischen den Mündungen des Kysyl-Irmak (im Alterthume Halys genannt)
und des Jeschil-Irmak wächst der beste Tabak Kleinasiens; 1888 wurden 30.070 q
(Werth 1,113.026 fl.), 1887 52.170 q nach Oesterreich-Ungarn, Frankreich, Russ-
land und Egypten ausgeführt, 20.000 q mögen in der Türkei Verwendung finden.
Andere Artikel sind Getreide, namentlich Weizen, Opium (1888 932 q, Werth
[199]Trapezunt.
746.000 fl.) und Mohnsamen (411.880 fl.), Gelbschotten (1888 6480 q, Werth
388.850 fl.), Schafwolle (1888 5720 q, Werth 425.128 fl.) und Kupfer.
Der Export geht vornehmlich nach Grossbritannien, Frankreich und in
die Türkei.
Von der Einfuhr kommen vier Fünftel auf Manufacturen.
| [...] |
Schiffsverkehr 1888:
| [...] |
Die regelmässigen Linien, welche nach Trapezunt gehen, legen in Samsun
an. Hier ist der Sitz einer türkischen Handelskammer.
[[200]]
Smyrna.
Im Gegensatze zur hafenarmen Nordküste Kleinasiens ist die
Westküste überaus reich gegliedert. Mehrere imposante Golfe mit vor-
trefflichen Häfen schneiden hier tief ins Land und finden in langge-
streckten Thälern, den uralten Handelswegen nach dem Innern, einen
natürlichen Verkehrsanschluss; zahlreiche fruchtbare Inseln, die Spo-
raden, sind der Küste vorgelagert und bilden mit dieser ein System
wohlgeschützter Wasserstrassen, ebenso wie das Gros der Kykladen
ein solches für den Verkehr im Aegäischen Meere geschaffen hat. Durch
diese Vortheile war die kleinasiatische Westküste auserkoren, schon
frühzeitig Handel und Schiffahrt und als deren Folge eine höhere
Entwicklung des Culturlebens in allen seinen Erscheinungen an sich
zu fesseln und eine dominirende Stellung gegenüber den anderen Ge-
bieten Kleinasiens zu erringen.
Diese Suprematie, deren Schwerpunkt im Laufe der Jahr-
tausende nach Sardes, Pergamos, Ephesos und Smyrna zu liegen kam,
blieb der Küste bis zum heutigen Tage gewahrt. Seit nahezu zwei
Jahrtausenden ist Smyrna der Centralpunkt dieses Gebietes und da-
durch auch der wichtigste Platz in ganz Kleinasien, wie denn über-
haupt das ganze Vilayet Smyrna (Aïdin ist der officielle Name dieses
Gourvernements) alle anderen türkischen Provinzen Kleinasiens, wenn
auch nicht an Flächeninhalt, so doch durch seine volkswirtschaft-
liche Bedeutung überragt. Zutreffend charakterisirt Dr. Karl v. Scherzer
in seinem Werke „Smyrna“ die Ueberlegenheit des Vilayets mit den
Worten: „Was sich des Guten, Schönen, Nützlichen, Lehrreichen und
Interessanten in Kleinasien findet, ist in der Provinz Smyrna reprä-
sentirt und potenzirt; von den herrlichen Denkmälern des Alterthums
bis zu den Eisenbahnen und Fabriken, vom leichten Zelt der No-
maden und dem ‚Schiff der Wüste‘ bis zu den Panzerfregatten, die
sich auf der Rhede schaukeln.“ Smyrna, von den Orientalen „Blume
[[201]]
Smyrna.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 26
[202]Das Mittelmeerbecken.
der Levante, Perle des Morgenlandes, Auge Anatoliens“ u. s. w. ge-
nannt, gehört zu jenen Plätzen, welche, dank einer ganz besonders
bevorzugten geographischen Lage, aus allen von aussen kommenden
Schicksalswandlungen, dem Phönix gleich, sich in neuer Lebenskraft
erheben, immer wieder zu einer handelsbeherrschenden Stellung
erblühen.
Smyrna, das türkische Ismir, liegt unter 38° 26′ nördl. B. und
27° 9′ östl. L. von Gr. (Hafenbecken) am Ende eines der präch-
tigsten Golfe der Erde. Von dem Cap Kara Burun an über 68 km
tief in das Land eingeschnitten, ist das Becken bei einer wechselnden
Breite von 3—18 km vielfach von malerischen Höhen mit fruchtbaren
Thalläufen und anmuthigen Ortschaften umrahmt. Im Norden gewahrt
man die Bergwände des Sipylos, im Osten den Jonischen Olymp und
im Süden die Gebirgsgruppe des Mimasmu.
Die Einfahrt in den Golf markirt das steile Cap Kara Burun, dem
gegenüber am Festlande der Hafenort Phokia (türkisch Fotscha) liegt.
Hier lag das antike seemächtige Phokäa, die Mutterstadt von Mas-
silia (Marseille). Die fruchtbare Insel Chio, die mit Smyrna in regster
Verbindung steht, bleibt im SW des genannten Cap. Im Smyrna-
Golfe lagert südöstlich des Caps die nahezu 13 km lange Insel
Makronisi (türkisch Usun Ada, lange Insel). Ausgebreitete Feigen-
und Olivenhaine bezeichnen den kleinen Ort Vurla (das alte
Klazomenä) an der Südküste, dessen gute Rhede sehr oft von
Schiffen besucht wird. Von hier aus nimmt der Golf eine völlige Ost-
richtung an und wird durch die sich vorschiebende Alluvialebene und
das Delta des hier mündenden Gedis-Tschai (des alten Hermos), der
seine Ablagerungen mit jedem Jahre weiter seewärts absetzt, so be-
deutend eingeengt, dass die Gefahr einer gänzlichen Abschliessung
des Hafens von Smyrna zu befürchten ist, wenn nicht energische
Massregeln zur Beseitigung derselben ergriffen werden.
Das Fahrwasser in der Enge des Schlosses Sandjak-Kalessi hat
bei einer Längserstreckung von 7 km eine Minimalbreite von nur mehr
einen Kilometer und sind die grossen Schiffe gezwungen, ganz nahe
an der Südküste sich zu halten.
Die Rhede von Smyrna ist nur gegen Westen ungeschützt; allein
das am Hafenquai erbaute Bassin vermag eine bedeutende Zahl von
Schiffen aufzunehmen und gestattet diesen selbst bei stürmischer Wit-
terung die Verkehrsoperationen vorzunehmen, wohingegen die auf der
Rhede liegenden Schiffe bei Eintritt schlechten Wetters zur Un-
thätigkeit verurtheilt sind. Das heutige Smyrna lagert, wie unser
[203]Smyrna.
Plan zeigt, weitgestreckt zu Füssen des 202 m hohen Berges Pagos
(Pagus), den die Ruinen des alten genuesischen Kastells, der einstigen
Akropolis, krönen. Im Osten der Stadt, hart an den steilen Abhängen
des Pagos vorbei, rieselt das meist wasserarme Flüsschen Meles dem
Meere zu. An seinen Ufern sollen Homer’s unsterbliche Gesänge ent-
standen sein, denn Smyrna gilt als die Geburtsstadt und Heimat
des Dichters. Man darf jedoch nicht vergessen, dass das damalige
Smyrna ungefähr vier Kilometer nordöstlich der heutigen Stadt an
der östlichsten Einbuchtung des Golfes lag. Die dort aufgefundenen
Ruinen eines Felsenschlosses werden als die Ueberreste der Akro-
polis von Alt-Smyrna gedeutet.
Auch die uralten Gräberanlagen in der Nähe von Burnabat
scheinen diese Annahme zu bestätigen. Die bedeutendste derselben,
welche deutliche Spuren der den ältesten griechischen Grabgemächern
eigenthümlichen spitzbogigen Gewölbe zeigt, gilt als das Grab-
mal des lydischen Königs Tantalos, dessen Gestalt in der griechischen
Mythologie Aufnahme gefunden hat und uns durch Homer geistig über-
liefert wurde.
Die Gründung von Alt-Smyrna verliert sich in mythische Zeiten, doch wird
sie den Aeolern aus Kyme (am Golf von Eläa gelegen) unter Theseus zugeschrieben.
Die älteste Geschichte weist der Stadt keine besonders hervorragende Rolle an.
Neben der Handelsthätigkeit der Phönikier und dem regen Schaffen der Schwester-
städte Milet und Phokäa konnte das von den Lydiern angefeindete Smyrna als
Seehandelsplatz zu keiner Geltung gelangen und verblieb grossentheils auf den
Verkehr mit dem Binnenlande angewiesen.
Die Stadt hatte sich zwar dem Aeolischen Bunde angeschlossen, fiel aber
688 v. Chr. durch Verrath in die Gewalt der Ionier, deren 13. Bundesstadt sie nun
wurde. Allein ohne nachhaltige Unterstützung der Verbündeten erlag sie im Jahre
627 dem lydischen Könige Alyates (616 bis 560 v. Chr.), der ihre Mauern schleifen
und die Bevölkerung in offene Ansiedlungen zerstreuen liess.
Jahrhunderte lang währte dieser Zustand. Nach der Zertrümmerung des
persischen Reiches soll Alexander der Grosse, in den Besitz Kleinasiens gelangt,
den Befehl zum Wiederaufbau Smyrnas ertheilt haben, allein dessen frühzeitiger
Tod verzögerte die Ausführung des Planes. Erst Antigonos, der einäugige Feldherr
Alexander’s, dem die Verwaltung Lykiens zugefallen war, baute Smyrna an der
Stelle auf, wo es heute sich befindet. Nach dessen Tode, 301 v. Chr., führte
Lysimachus, der auch die Akropolis am Berge Pagos erbaute, das Werk zu Ende.
Die Stadt blühte rasch zu einem der schönsten und wohlhabendsten Plätze Klein-
asiens auf; ihr Handel nahm einen lebhaften Aufschwung. — Die römische Herr-
schaft brachte keine Veränderung in die beneidenswerthen Verhältnisse, nur ein
starkes Erdbeben verursachte 178 n. Chr. bedeutende Zerstörungen, die Marc Aurel
(161 bis 180 n. Chr.) wieder beheben liess. Auch die Theilung des römischen
Reiches beeinträchtigte keineswegs das Wohl der Stadt. Erst die späteren Schick-
sale des oströmischen Reiches griffen, nachdem Ephesos den politischen Schlägen
26*
[204]Das Mittelmeerbecken.
unterlegen und Constantinopel unter dem Andrange der Völkerwanderung von seiner
Höhe als Handelsmetropole herabgestürzt war, auch in das Schicksal Smyrnas
hemmend ein. Gross waren die Leiden der Stadt während der furchtbaren Periode
der Völkerwanderung und in der Zeit der Seldschukenfürsten. Smyrna theilte nun
die weiteren Schicksale des Byzantinischen Reiches, von jeder Phase derselben rege
berührt. Die anarchischen Verhältnisse jener Zeit und die grosse Abhängigkeit der
Herrscher am Bosporus von den Venetianern und Genuesen erklären es genügend,
dass wie die einzelnen Inseln und Küstenstriche Griechenlands auch die kleinasiatische
Küste unter den Einfluss und daher auch Schutz der Handelsrepubliken gelangte;
dessenungeachtet fiel die Stadt 1402 nach vierzehntägiger Belagerung in die Ge-
walt des Länderstürmers Tamerlan (Timur), der sie verwüstete. Bald darauf, 1424,
pflanzte Sultan Murad den Halbmond auf der Burg des Pagosberges auf. Seither
verblieb Smyrna unter der Herrschaft der Ottomanen. Die grossen politischen Ver-
änderungen in der Levante blieben nahezu ohne Rückwirkung auf die Verhältnisse
der Stadt, die immer mehr an Bedeutung gewann. Die Stadt hatte wiederholt
durch Erdbeben, zuletzt im Jahre 1880, und durch Feuersbrünste (1840 und
1845) zu leiden.
Das heutige Smyrna zeigt gegen den Golf zu eine völlig mo-
derne Quaifront, und wo noch vor wenigen Jahren verwahrloste Bret-
terbuden und Holzstege eine idyllische Staffage des Ufers bildeten,
da dehnt sich jetzt die breite Quaipromenade la Marina längs der
ganzen Erstreckung der Stadt. Dort pulsirt denn auch, begünstigt
durch eine Tramwaylinie und zahllose für den Verkehr mit den Schiffen
bestimmte Kaïks, der Hauptstrom des geschäftlichen und socialen
Lebens.
Ein überaus buntes Bild gewährt das bewegte Treiben im
Hafen, wo der Umsatz der Landesproducte gegen die Erzeugnisse
fremder Völker in seiner letzen Form sich vollzieht. In ganzen Schiffs-
ladungen werden hier Teppiche, Seidenstoffe, Südfrüchte jeder Art,
darunter die berühmten Smyrna-Feigen, Baum- und Schafwolle, Ge-
treide, Wein, Oele und Tabak, Opium u. a. zur Ausfuhr verfrachtet
und ebenso gelangen aus Europa ungeheuere Mengen Industrieartikel
in die Magazine, um nach den Innern Anatoliens versendet zu werden.
Durch Grösse und Weitläufigkeit fallen die Residenz des Gou-
verneurs mit der grossen nächstliegenden Kaserne, an die das Zellen-
gefängniss sich schliesst, sowie die am neuen Hafen erbauten Zoll-
und Hafendienstgebäude auf. Wenngleich der grösste Theil der Stadt
auf ebenem Terrain liegt, so bietet Smyrna mit seinen zahlreichen
Minarets und Kirchthürmen, mit dem herrlichen, farbensatten Cypres-
senhaine am Südende, der malerischen Burgruine des Pagos und dem
am Abhange zu ihr emporklimmenden Türkenviertel der Stadt, endlich
mit seinem von hunderten Schiffen aller Nationen belebten Hafen ein
überaus fesselndes Städtebild voller Leben und Farbe.
[205]Smyrna.
Aber gleich wie in anderen orientalischen Städten verbirgt sich auch
in Smyrna hinter dem imposanten Aeusseren die abstossende Nüchternheit
des Innern. Arm an Erinnerungszeichen ihres uralten Bestandes und
ohne hervorragende Bauwerke, trägt die Stadt daher vorwiegend den
Charakter eines Handelsplatzes.
Die Eintheilung Smyrnas entspricht den grossen Bevölkerungs-
gruppen der Levante. Im nordöstlichen Theile zunächst des Quais liegt
das Frankenviertel, hinter diesem das Griechenviertel, weiter
südlich in der Umgebung des Bahnhofes nach Cossaba ist das Ar-
menierviertel. Das zum Theile die Abhänge des Pagos bedeckende
Türkenviertel bildet den südlichsten Theil der Stadt und umschliesst
das schlechtgebaute Judenviertel.
Mit Ausnahme weniger Strassen besteht das Gros der Stadt aus
einem völligen Labyrinth vielverzweigter enger und krummer Gäss-
chen, in denen sich zurechtzufinden ohne Führer kaum möglich ist.
Oede und verlassen sind infolge der muselmanischen Sitten und reli-
giösen Einrichtungen die Gässchen der Türkenstadt. Dort herrscht
kein nachbarlicher Verkehr, kein Strassenleben und kaum eines jener
dichtvergitterten Fenster, wie man solche an Haremsgebäuden wahr-
nimmt, blickt melancholisch hinab auf den schmalen Weg. Der min-
der wohlhabende Türke ist nämlich gezwungen, sein ganzes Haus in
einen Harem zu verwandeln, da er nicht die Mittel besitzt, abgeson-
derte Frauengemächer zu unterhalten. Deshalb sind die Gassenzüge
durch lange hohe Mauern gebildet, welche in der Regel die Woh-
nungen von der Aussenwelt abschliessen. Hier ist für die Poesie des
Orients kein Raum.
Anziehend ist dagegen das Gassenleben im Griechenviertel, be-
sonders während der frühen Abendstunden, wenn Jung und Alt vor den
Hausthüren gemüthlich zum Plaudern sich niedergelassen und lebhaft
die Tagesereignisse bespricht. Hier ist das Hauptquartier der levan-
tinischen Frauenschönheit. Manch feurigem Blick einer graziösen Frau
begegnet unser Auge oder taucht in das unergründliche Dunkel der
Gazellenaugen eines blühenden Mädchenantlitzes. Allein honni soit qui
mal y pense, bei aller natürlichen Munterkeit, die uns hier erfreut,
herrscht die lobenswertheste Sittsamkeit.
Nahezu parallel mit der Marina durchzieht die langgestreckte
Frankenstrasse das Viertel der Franken. An ihren Häuserzeilen liegen
unter anderem die katholische Kirche St. Policarpo mit dem anstossenden
Kapuzinerkloster und die griechische Kathedrale Aja Photini mit der Resi-
denz des griechischen Erzbischofs. Den religiösen Bedürfnissen ist durch
[206]Das Mittelmeerbecken.
zahlreiche Kirchen und Bethäuser Rechnung getragen. Ausser den
genannten Kirchen haben die Katholiken noch 4, die Griechen 12
Kirchen, die Armenier eine Kathedrale, die Protestanten 3 Kirchen,
die Juden 5 Synagogen und die Muselmanen beten in 42 Moscheen
zu Allah.
Die Bevölkerung Smyrnas wird auf 186.510 Einwohnern ange-
geben, davon sind 147.200 Unterthanen der Pforte und zwar 89.000
Mohammedaner, 40.200 Griechen, 17.000 Juden, 4000 Armenier und
39.210 Ausländer. Hellenen, das sind Unterthanen des Königreiches
Griechenland, sind darunter 25.000, Italiener 6800; ausser diesen
finden wir in Smyrna starke Colonien von Oesterreichern und Ungarn,
von Franzosen, Engländern, Deutschen und Holländern.
Smyrna ist der Sitz des Generalgouverneurs der Provinz Aïdin,
eines Appellationshofes, eines Handelsgerichtes, einer türkischen und
einer französischen Handelskammer, eines griechischen, eines katho-
lischen und eines armenischen Erzbischofs, einer schottischen und einer
anglicanischen Judenmission.
Es bestehen hier einige von den Europäern gegründete Spitäler,
Hospize und Waisenhäuser, wie denn auch das Schulwesen durch
den Eifer der Franken sehr entwickelt wurde. Wir führen hier an
eine Gewerbeschule, eine griechische und eine englische Handelsschule.
Wie in allen grösseren Städten des Orients sind auch hier die
Bazare förmliche Labyrinthe mit gewundenen, düsteren und oft ge-
deckten Gässchen.
Von einigem Interesse ist die über den Meles führende alte
Karawanenbrücke, über welche die aus dem Landesinnern ankommenden
oder dahin reisenden Kameelkarawanen tagsüber ziehen und in deren
Nähe sie zu rasten pflegen. Die Karawanen sind gewöhnlich aus 15 bis
20 Kameelen gebildet, die an Stärke und Grösse die ägyptische Rasse
übertreffen. Die bisherige Entwicklung des Eisenbahnwesens vermochte
das Wüstensaumthier noch nicht wesentlich von seiner uralten Mis-
sion zu verdrängen. Verfolgt man die von der Brücke nach Khalkar-
bunar führende Strasse, so gelangt man zu einem mauerumfassten
grossen Wasserbassin, welches von mehreren Quellen gespeist und
mit Schilf bewachsen ist. Die anmuthige Lage mag diesem Wasser-
becken den Namen Dianabad verschafft haben.
Am lohnendsten ist unstreitig der Aufstieg auf den Berg Pagos.
Die Ruinen des genuesischen Castells ruhen grösstentheils auf den
Fundamenten der altgriechischen Akropolis, während die weitläufige
zum Theil geöffnete Cisterne der byzantinischen Zeit anzugehören
[207]Smyrna.
scheint. Die nahen Ruinen eines antiken Theaters (Stadion) liegen am
westlichen Abhange des Berges, sind aber ohne Interesse. Von den
Höhen des Castells geniesst man eine prachtvolle Aussicht auf Golf
und Stadt. Namentlich an sonnenhellen Abenden ist der Ausblick in
die Weite und Tiefe von überraschender Schönheit, denn die über
dem Meere und den üppigen Pflanzungen des Landes ruhende feuchte
Luft überzieht die Gegend mit den wunderbarsten Farbentönen, die
von hellem Violett durch zartes Rosenroth in sattes Purpurroth schwe-
ben und dem Auge ein märchenhaftes Naturspiel vorzaubern.
Smyrna ist nach Constantinopel die wichtigste Station der Le-
vante. Es gewinnt von Jahr zu Jahr grössere Bedeutung, weil es
der einzige modern ausgerüstete Hafen der Türkei ist, der einzige
Platz an den Küsten Kleinasiens, von welchem längere Eisenbahnlinien
in die fruchtbaren Gelände und auf die Hochebenen des Innern
führen. Seinen Quai begleiten normalspurige Schienengeleise, welche
die beiden Bahnhöfe verbinden, bei Tage von Tramwaywaggons be-
fahren werden und von Mitternacht bis 8 Uhr Früh dem Waaren-
verkehre dienen.
Das Hinterland erschliessen zwei Eisenbahnen; sie führen mit
ihren Zweiglinien die Producte der reichen Thäler des Mäander, Hermos
(Gedis-Tschai) und Kaikus nach Smyrna. Die südliche geht über Ephesos
(Ayasoluk) bei Scalanova vorbei nach Aïdin und weiter im Mäanderthale
über Seraikiöï nach Kizil Kaklik (283 km). Die Fortsetzung nach
Dineïr, von wo man näher nach Konia als nach Smyrna hat, ist
concessionirt. Eine Zweiglinie geht im Thale des Caystros nach
Oedemisch. Die nördliche Eisenbahn führt über Manissa (das alte
Magnesia), Kassaba, Sart (das alte Sardes) nach Alaschehr (169 km
Länge). Eine Abzweigung dieser Linie geht nach Burnabat, der
fashionablen Sommerfrische der besitzenden Classen von Smyrna,
welche dort ihre Villen und Gärten haben. Ein zweiter Flügel Manissa-
Kirkagatsch-Soma ist im Bau und findet seine Fortsetzung in einer Fahr-
strasse mit steinerner Unterlage von Soma nach Bergama (Pergamum),
wo als Schmuck der Seiten eines Altars jene wundervolle Giganto-
machie aufgestellt war, deren Reste in dem Museum zu Berlin das
Staunen des Betrachtenden erwecken. Schon nähern sich die Schienen-
wege der Landschaft von Troja; man plant eine Eisenbahn an den
Grabhügeln des Achilles und Patroklus vorbei zur schmalsten Stelle
des Hellespont, um dort durch eine Brücke den Anschluss an das
Bahnnetz Europas zu suchen. Dem Handelsstande Smyrnas wird
Kleinasien zu eng.
[208]Das Mittelmeerbecken.
Die von Smyrna ausgehenden Bahnen wurden von Engländern
gebaut und ausgerüstet, Engländer leiten auch deren Betrieb.
Mit Ausschluss der grösseren Städte und der an der Küste ge-
legenen Stapelplätze bildet die Landwirtschaft den überwiegend wich-
tigsten Erwerbszweig der consumfähigen Bevölkerung, deren Wohl-
stand leider zurückgeht; die einheimischen Naturproducte müssen baar
bezahlt werden, für die europäischen Importe erhält man selbst nach
Monaten nur schwer sein Geld. Geldarmuth ist ein Hauptmerkmal des
hiesigen Platzes. Daher gehören wirklich reiche Geschäftshäuser im
europäischen Sinne des Wortes bereits zu den Seltenheiten, während
noch vor wenigen Jahrzehnten die hiesigen Kaufleute durch ihren
Reichthum bekannt und im ganzen Mittelmeere hochangesehen waren.
In dem herrlichen Klima des westlichen Kleinasiens gedeihen Wein und
Südfrüchte in ausgezeichneter Weise. Sultaninen und Rosinen sind dem Werthe
nach Smyrnas erste Ausfuhrartikel mit weit über eine Million q (Werth 27·6 Mil-
lionen Francs) im Jahre 1888 und 434.500 q (Werth 16·6 Millionen Francs) im Jahre
1887. In dem erstgenannten Jahre herrschte ein wahrer Ueberfluss an Rosinen,
dass man sie vielfach zu Destillationszwecken, zur Bereitung von Petmes und selbst
zu Viehfutter verwendete. Von den Sultaninen geht das meiste nach England und
wird von hier auch nach der Union und Canada versendet. Die Hälfte der rothen
Rosinen bezieht Deutschland und versorgt damit auch die nordischen Plätze. Die
schwarzen Rosinen kauft Frankreich zur Weinbereitung. In den letzten Jahren
wurden um Smyrna viele neue Weingärten angelegt.
Feigen kommen mit der Bahn aus der Ebene von Aidin. Hauptexport
nach England, Fabriksfeigen (Hordas) nach Oesterreich-Ungarn zur Erzeugung von
Surrogatkaffee. Ausfuhr 1888 um 8·3 Millionen Francs, 1887 121.000 q, Werth
9·1 Millionen Francs. Mit Eröffnung der Bahn nach Dineïr wird der Export steigen.
Um Smyrna hat man in den letzten Jahren auch grosse Pflanzungen von
Orangen und Citronen angelegt.
Olivenöl ist eines der ergiebigsten Producte des Handelsgebietes von
Smyrna. Zur Ausfuhr gelangten 1888 2028 Fässer im Werthe von 406.000 Francs,
bestimmt für Frankreich und Russland zu technischen Zwecken, in Russland ins
besondere auch für Kirchenlampen.
Nach den Südfrüchten ist Vallonea, die Becherhülle der Knoppereiche,
der wichtigste Artikel der Ausfuhr. Diese betrug 1888 987.624 q, Werth 15·8 Mil-
lionen Francs, davon ging die Hälfte nach England, der Rest nach Triest. Ansehnlich
ist auch die Ausfuhr von Galläpfeln.
Legende zu Hafen von Smyrna.
A Ankerplatz von Smyrna, B Eisenbahn-Molo, C Bahnhof der Bahn nach Aïdin, D Hafen-Bassin, E Kaserne,
F Leuchtfeuer, G Diana’s Bad, H Mosaikboden, vermuthlich des Diana-Tempels, J antike Wasserleitung,
K Ruinen des Apollo-Tempels, L englischer Militär-Friedhof, M Mühlen, N Friedhof und Ruinen,
O Karawanenbrücke, Q Quarantäne-Anstalt, R Homer’s Höhle, S Kastell, T Ruinen des 1736 zum
Schutze der Stadt gegen den rebellischen Soleh-Bei erbauten Walles, U Ort des alten Hafens,
V Wasserleitung des Vezirs Achmed vom Jahre 1674, W türkische Friedhöfe, X Dampfmühle,
Y Gouverneurs-Palais, Z Schlachthäuser, 1 Bahnhof der Bahn nach Kassaba.
[[209]]
Höhen in Metern).
(Legende siehe auf Seite 208.)
Die Seehäfen des Weltverkehrs. Band. I. 27
[210]Das Mittelmeerbecken.
Von den Getreidearten ist besonders Gerste hervorzuheben. Ausfuhr 1888
15.681 t, Werth 2·5 Millionen Francs, für England und Portugal bestimmt. Auch
Bohnen (1888 10.101 t, Werth 1·5 Millionen Francs) gingen nach Portugal.
Ueber Smyrna kommen ferner zur Ausfuhr Kanariensaat, Anis, Sesam
(1888 für eine Million Francs), für welches Turin der Hauptmarkt ist, und Mohn-
saat (1888 8269 t, Werth 1·9 Millionen Francs), deren Preise von der Mohnernte
Vorderindiens abhängig sind. Viel bedeutender ist die Ausfuhr der Mohnsamen in
Form der werthvollen Drogue Opium. Die holländische Colonie Smyrnas hat am
Ende des vorigen Jahrhunderts in Kleinasien die Cultur der Mohnpflanze eingeführt,
und die holländische Regierung bezieht noch heute den grössten Theil der Ernte
durch die Handels-Maatschappij für den Bedarf der Monopolverwaltung Javas.
Ausfuhr 1888 3023 Kisten à 60 kg, Werth 6 Millionen Francs.
Smyrna ist ferner einer der ersten Märkte für Süssholzwurzel und
Lakritzensaft, der in der Nähe des alten Ephesus aus der Wurzel bereitet wird,
um die Fracht zu ersparen. Ausfuhr 1888 zusammen 5 Millionen Francs, 1887
2·5 Millionen Francs. Das Geschäft, welches beinahe ein Monopol eines Hauses
bildet, ist also in Aufschwung.
Die Ausfuhr der Baumwolle erreichte 1888 25.473 Ballen im Werthe
von 5·1 Millionen Francs, 1887 57.750 q im Werthe von 6·9 Millionen Francs.
Smyrna ist auch der Hauptmarkt für Wolle aus Adana im Süden Kleinasiens. Die
levantinische Baumwolle ist etwas kurzstapelig, aber sehr schön weiss und fein-
seidig, und wird am stärksten in Barcelona verarbeitet; Abnehmer sind aber
auch Griechenland, Süddeutschland und Oesterreich. Von Baumwollsamen wurden
1888 3001 t im Werthe von 2·1 Millionen Gulden fast ausschliesslich nach England
geschickt.
Tabak wird in verschiedenen sehr geschätzten Sorten gepflanzt, hievon
wurden 1888 14.628 Ballen im Werthe von 1·5 Millionen Francs nach Rumänien,
Italien und England ausgeführt. Vor Einführung der Tabakregie war die Aus-
fuhr viel bedeutender, sie erreichte regelmässig 40—50.000 Ballen.
Hervorzuheben sind noch der Export von Gummi-Traganth und Gelbbeeren;
die für Smyrna nicht wichtige Krappwurzel (Alizari) wird nur mehr auf Bestellung
für den Export ausgegraben.
Von den Producten des Thierreiches ist zu erwähnen, dass die Ausfuhr von
Rindshäuten sich stetig vermindert, weil die Bauern die Kälber sehr früh schlachten,
um für die Thiere nicht die Kopfsteuer entrichten zu müssen.
Häute, Schaf-, Ziegen- und Hasenfelle gehen meist nach Triest, davon ist
wohl viel im Transito für Deutschland bestimmt.
Der Hauptabnehmer der ausgeführten Schafwolle (1888 8321 Ballen,
Werth 2·5 Millionen Francs) ist Amerika für seine Teppichfabrication.
Auch als Stapelplatz für die Ausfuhr von Schwämmen, die an der
Küste im Süden Smyrnas gefischt werden, hat unser Platz Bedeutung. Von
Mineralien wurde früher nur Smirgel von ziemlich guter Qualität ausgeführt
(1888 11.722 t, Werth 1·2 Million Francs), der in der Nähe von Smyrna gewonnen
wird und meist nach Amerika und England geht. In neuerer Zeit ist auch die
Ausfuhr von Antimon und die von Chromerzen nach Glasgow rentabel geworden,
weil das gute Materiale unmittelbar am Meere gegraben wird.
[211]Smyrna.
In und um Smyrna treffen wir auch eine für orientalische Ver-
hältnisse ansehnliche Industrie, die freilich der Hauptsache nach
Handindustrie ist. Maschinenindustrie treffen wir nur in den von Grie-
chen bewohnten Landestheilen. In zwei Artikeln, in Leder, in den
Fabriken Smyrnas erzeugt, und in Teppichen, ist diese Industrie
exportfähig. Diese Teppichfabrication ist der wichtigste Industriezweig
der ganzen Türkei, der in zahlreichen Dörfern bis weit ins Innere
Kleinasiens hinein betrieben wird und Tausenden von Familien Unter-
halt gewährt; die Männer färben die Wolle, Frauen und Mädchen
knüpfen die Teppiche. Man ist in unseren Tagen wieder zu den alten
schönen Mustern zurückgekehrt, welche die Bewunderung aller Kenner
finden; man lässt die geschmacklosen Blumendessins der Europäer
sein. Die verschiedenen Teppichsorten haben ihre Namen von den Er-
zeugungsorten. Früher nahm man zur Herstellung dieser höchst halt-
baren Teppiche nur einheimische Lammwolle, jetzt verwendet man
auch Mohair. In dem Färben der Wolle liegt ein grosser Theil der
Schönheit dieser geknüpften Teppiche, und die Fabriksindustrie wird
diese Hausindustrie nicht wesentlich bedrohen, wenn man den glän-
zend leuchtenden, aber bald verblassenden Anilinfarben Deutschlands
und Englands ferne bleibt und nur Pflanzenfarben und Cochenille ver-
wendet. Der Jahreswerth der Teppichindustrie wird auf 4½ Millionen
Francs angegeben, 200.000 m2 im Werthe von 4 Millionen Francs werden
jährlich ausgeführt. Man rechnet bei feineren Sorten 25—28 Francs
für 1 m2, 2—2½ kg schwer. Hauptabnehmer sind England, die Union
und Frankreich, der Verkehr nach Deutschland und Oesterreich-Un-
garn ist zurückgegangen, weil dort die sogenannten türkischen Tep-
piche vielfach und mit grossem Geschick nachgeahmt werden.
Auf die Höhe der Einfuhr haben Einfluss die Baumwollfabriken
von Kassaba und Smyrna und die Mahlmühlen von Smyrna.
Der Einfuhrhandel Smyrnas ist durchaus nicht blühend, denn
die wirtschaftliche Lage der bäuerlichen Bevölkerung ist seit Jahren
eine sehr gedrückte. Die grosse Masse der Bevölkerung, die Osmanlis
sind überdies äusserst genügsam; sie consumiren zumeist nur einzelne
Fabricate der europäischen Metall-, Leder- und Textilindustrie. Ausser
den hier ansässigen Fremden kommen nur die Griechen, welche die
Küstenstädte und die Kleinasien zahlreich vorgelagerten Inseln be-
wohnen, für den Import der Artikel in Betracht, welche der Befriedi-
gung feinerer Lebensbedürfnisse dienen. Die Griechen vermehren auch
ihr Vermögen durch Fleiss und Arbeit.
27*
[212]Das Mittelmeerbecken.
Der vierte Theil der Einfuhr entfällt auf Manufacturen und Gewebe.
Von diesen wurden 1888 um 18·5 Millionen Francs eingeführt, die Einfuhr von
Baumwollgarnen hat einen Werth von 1·5—2·8 Millionen Francs. In Baumwoll-
garnen und Geweben versieht England den grössten Theil des Smyrnaer Marktes.
Leinenwaaren kommen meist aus Belfast, Juteleinwand aus Dundee,
Modestoffe aus England, Frankreich und Böhmen. Die sogenannten „levantinischen“
Tuche liefern Bielitz und Rheinpreussen, Wirkwaaren Sachsen.
Mit Seidenwaaren wird der Markt zunächst aus Syrien versorgt; von den
europäischen Plätzen concurriren hier Lyon, Krefeld, Zürich und Como.
Von den Küsten dringt ins Innere der Gebrauch ein, europäische Kleider
zu tragen. Diese kommen aus Wien, Fez und Hüte aus Böhmen und Wien. Werth
der drei Artikel zusammen 1888 0·8 Millionen Francs.
In die Einfuhr von Kurzwaaren (1888 3·9 Millionen Francs) theilen sich
England, Frankreich und Oesterreich-Ungarn.
Feine Glas- und Porcellanwaaren werden aus Böhmen, gepresstes Glas aus
Belgien bezogen.
Von Möbeln werden nur mehr solche aus gebogenem Holze (von Wien
stammend) eingeführt, alle anderen Bedürfnisse deckt die gut entwickelte Möbel-
tischlerei Smyrnas. Papier (1888 0·6 Millionen Francs) kommt aus Oesterreich-Ungarn.
Von chemischen Producten werden eingeführt: aus England Soda (1888
für 1·6 Millionen Francs) für die Zwecke der Seifenfabrication, aus Deutschland
Pottasche, welche man in aufgelöstem Zustande mit etwas Oel vermengt zur
rascheren Trocknung der Weintrauben, respective der Rosinen verwendet. Anilin-
und Alizarinfarben aus Deutschland finden immer mehr Anwendung. Zündwaaren
kommen überwiegend aus Oesterreich-Ungarn.
Sehr wichtige Einfuhrartikel sind Leder- und Lederwaaren (1888 4·9 Mil-
lionen Francs) aus England, Frankreich, Oesterreich-Ungarn und Deutschland. Den
Handel in Droguen und Gewürzen besitzt zum grössten Theile London.
Von Genussmitteln ist wie überall Zucker hervorzuheben (Einfuhr 1888
4·5 Millionen Francs, 1887 4 Millionen Francs); neben Oesterreich-Ungarn tritt
in diesem Artikel Frankreich weit zurück. Mit Eröffnung der levantinischen Linie
Hamburgs wird auch Deutschland als Concurrent auftreten. Spirituosen liefert
Russland.
Der importirte Kaffee (1888 45.651 Säcke für 3 7 Millonen Francs) stammt
aus Brasilien und kommt zum grösseren Theile aus Marseille und Bordeaux mit
Dampfern der Messageries maritimes; London und Triest kommen in zweiter Linie.
Wirklicher Moccakaffe ist für Smyrna zu theuer.
In Getreide und Mehl (1888 1·4 Millionen Francs) dominirt Russland, mit
Käse (1888) versieht Kreta den grössten Theil des hiesigen Marktes. Rangoon-
Reis verdrängt auch hier den lombardischen. Sammt dem Hinterlande consumirt
Smyrna jährlich regelmässig 37—40.000 Säcke.
Von Eisen und Eisenwaaren wird in Kleinasien wenig erzeugt; die Bedürf-
nisse des Landes decken England, Rheinpreussen und Belgien, in Eisenwaaren tritt
auch Frankreich auf, in Kistenstahl Oesterreich-Ungarn. Werth 1888 2·5 Mil-
lionen Francs. Schwefel wird als Präservativ gegen Traubenkrankheiten aus
Sicilien eingeführt.
Ein ungewöhnlich grosser Posten der Einfuhr Smyrnas sind Baumaterialien,
wie Ziegelsteine, Dachziegel, Marmor aus Italien, Griechenland und der Türkei,
[213]Smyrna.
Cement aus Frankreich, Holz aus Galatz via Constantinopel, das aber aus der
Bukowina stammt, aus dem Kaukasus und von den Ufern des Marmarameeres.
Dass Kohlen (40—45.000 t) und Petroleum (1·6 Millionen Francs) über-
wiegend aus Russland kommen, ist selbstverständlich.
Die Angaben über die Grösse des Handels von Smyrna sind so verschieden,
dass wir schon oben Zahlenangaben möglichst vermieden haben. Für die Ueber-
sicht haben wir uns an die kleineren Ziffern gehalten. Diese umfassen den aus-
ländischen und den inländischen Verkehr.
| [...] |
Die grössten Geschäftsoperationen auf dem hiesigen Markte führt England
durch wegen der regen Schiffahrtsverbindungen, die es mit Smyrna hat und weil
London und Liverpool gute Umschiffungsplätze für den hiesigen Handel sind.
Wichtig ist ferner der Handel mit Oesterreich-Ungarn, das heute noch einen Theil
des deutschen Handels vermittelt; doch wird letzterer auch direct, dann über Hol-
land und Belgien betrieben. Bedeutend ist der Verkehr auch mit Frankreich
und Italien.
Smyrnas Schiffsverkehr betrug:
| [...] |
Die Schiffahrtsverbindungen von Smyrna sind sehr zahlreich; die russische
Dampfschiffahrts- und Handelsgesellschaft berührt den Hafen auf ihrer Linie
Odessa—Constantinopel; der Oesterreich-ungarische Lloyd auf den Linien Constan-
tinopel—Alexandrien, dann Smyrna—Pyräus und Triest. Verbindungen unterhalten
ferner: die Messageries maritimes, Fraissinet \& C. und zwei kleinere französische
Unternehmungen; die Navigazione Generale; die Khedivie, die Mahsussié, Courtgi
oder Egée und eine kleine türkische Gesellschaft; zwei griechische Gesellschaften,
welche mit starken Dampfern Rundreisen durch die griechische und kleinasiatische
Inselwelt veranstalten und von der eingeborenen Bevölkerung mit Vorliebe benützt
werden. Die fünf britischen Gesellschaften, von denen Bell’s Asia Minor-Cy. die
wichtigste ist, haben den grössten Werth für die Waarenbeförderung, ferner die
königlich niederländische Dampfschiffahrtsgesellschaft, die dänische Gesellschaft
Forened Dampfskibs Selskab. In unregelmässigen Fahrten laufen hier noch belgische,
schwedische und englische Dampfer an.
Die Einrichtung einer deutschen Linie von Hamburg in die Levante ist
im Werke.
Auch in Smyrna bietet die Segelschiffahrt das traurige Bild des Verfalles.
Smyrna hat telegraphische Verbindungen mit dem Innern Kleinasiens über
Angora und Konia, mit Constantinopel und Rhodos, ferner Anschluss an die Kabel
des Aegäischen Meeres von der fruchtbaren Insel Chios aus.
Von Banken sind hier vertreten die kaiserlich ottomanische Bank und der
Crédit Lyonnais.
Consulate haben hier: Vereinigte Staaten von Amerika, Belgien, Dänemark,
Deutsches Reich, Frankreich (G.-C.), Griechenland (G.-C.), Grossbritannien (G.-C.),
Italien (G.-C.), Niederlande, Oesterreich-Ungarn (G.-C.), Persien, Portugal, Rumänien,
Russland (G.-C.), Spanien, Schweden und Norwegen.
[214]Das Mittelmeerbecken.
Alle Dampfer, welche von Süden her den Verkehr mit Smyrna
vermitteln, laufen Chios (Scio) an, den gewerbefleissigen Hauptort der
gleichnamigen gebirgigen Insel, deren 70.000 Einwohner Griechen sind.
Die Waldbestände sind bis auf einen kleinen Rest vernichtet, nur Strauchwerk,
darunter namentlich Lentiscus, welcher Gummi-Mastik liefert, ist übrig geblieben.
Mastik, welcher für einen in der Levante sehr beliebten Branntwein ver-
wendet wird, ist auch ein charakteristisches Product der Insel, welche daher im
Türkischen den Namen Sakyz-Ada (Mastik-Insel) führt.
Mastik bildet natürlich einen wichtigen Ausfuhrartikel der Insel; ferner
werden ausgeführt: Branntwein, Agrumen, Mandeln und Anis; Wein und getrock-
nete Trauben kommen über Tschesmé, das gegenüber Chios auf dem Festlande
liegt, und über Smyrna zur Ausfuhr. Ueber drei Millionen Gulden der Ausfuhr,
welche fast fünf Millionen Gulden erreicht, entfallen auf Leder.
Für die Zwecke der Leder-Industrie werden jährlich ebenfalls um 3 Millionen
Gulden Felle und Häute eingeführt; ferner Getreide, Mehl, Reis, Bauholz und
getrocknete Fische. Die Einfuhr bewegt sich zwischen 5 und 5½ Millionen Gulden.
Der internationale Schiffsverkehr ist aus dem oben angeführten Grunde sehr
bedeutend und übersteigt 1·3 Millionen t.
Von Chios gehen Kabel nach Tschesmé, über Tenedos und Limni nach
Salonich und ein drittes nach Syra.
Von Chios geht eine Linie des österreichisch-ungarischen Lloyd
über das 468 km2 grosse Fürstenthum Samos, das der Pforte tributär
ist, nach Candia, eine zweite über Rhodos nach Cypern. Von des
waldreichen Samos rüstiger, arbeitsamer Bevölkerung kann die Hälfte
lesen und schreiben, was im Oriente etwas sagen will. Die 44.000 Be-
wohner der Insel sind Griechen, 14.000 Samier wohnen auf dem
kleinasiatischen Festlande.
Die Insel des Polykrates war im Alterthume berühmt durch
ihren Reichthum, die Samier waren die ersten, welche um 700 v. Chr.
Trieren bauten. Auch in der Gegenwart ist die Insel vermögend, hat
keine öffentliche Schuld und kann öffentliche Bauten unternehmen.
So haben die Samier bei ihrem Haupthafen Vathy einen Molo er-
richtet, welcher Schutz gegen die nördlichen Winde bietet.
Der Handel hat sich in den letzten sieben Jahren ziemlich stark entwickelt,
weil der ganze Wein und die getrockneten Beeren nach Frankreich zur Wein-
bereitung gingen. Das Jahr 1888 war für Samos ein Jahr des wirtschaftlichen
Rückschrittes, wie für Patras, aber die schlechte Weinernte Frankreichs von 1889
dürfte wieder Erleichterungen bringen.
Die Ausfuhr wird für 1887 mit 5·5, für 1888 mit 3·5 Millionen Francs an-
gegeben. Die Einfuhr 1887 4·4, 1888 4·3 Millionen Francs.
Den Abschluss des Aegäischen Meeres bildet das langgestreckte
Kreta, von den Türken Kirid, von den Italienern Candia genannt.
Eine 2400 m hohe, in vier Theile zertrümmerte Gebirgskette durch-
zieht die Insel. Häufig fallen die Berge nach Süden wandartig ab,
[215]Smyrna.
so dass das Ufer nur auf Stufen, die in die Felsen gehauen sind, zu
erreichen ist. Die grossen Orte liegen daher auf der Nordküste.
Kretas Geschichte ist mit der Europas verbunden. Von Osten her
kommen wir zuerst nach Candia (Megalo-Kastron), dann nach Ré-
timo, und endlich nach Canea (Chaniá), dessen Hafen noch weniger
entspricht als die früher genannten; bei schlechtem Wetter kann er
nicht angelaufen werden, und die Postschiffe gehen nach der östlich
gelegenen, wunderbaren Suda-Bai, welche schon öfter europäischen
Kriegsflotten als Versammlungsort gedient hat.
Mit seinen hafenreichen Steilküsten und bei seiner glücklichen Lage als
Angelpunkt dreier Welttheile wurde Kreta schon in sehr früher Zeit Sitz eines
regen Lebens und Verkehrs. Hier siedelten sich Phönikier, Karer, Pelasger,
Minyer an.
Der sagenhafte König Minos, nach Homer der Sohn des Zeus, galt als Be-
gründer der vortrojanischen Seeherrschaft der Kreter. Es folgte die Einwande-
rung des griechischen Stammes der Dorer, und allmälig erhielt die ganze Insel
dorischen Charakter in Sitte und Sprache. Noch heute lebt in den Schluchten von
Sphakia bei der rein griechischen Bevölkerung, den Sphakioten, die Sprache der
alten Spartaner.
Die Insel bildet ein eigenes Vilajet mit weitgehender Autonomie,
sie hat in der Generalversammlung einen gesetzgebenden Körper,
von dessen 80 Mitgliedern 49 Christen und 31 Mohammedaner sind,
welche Vertheilung nicht der Volkszahl der Bevölkerung entspricht,
da der weitaus grösste Theil der 250.000 Einwohner Griechen sind, welche
das Joch der Pforte abschütteln wollen und die Vereinigung mit dem
Königreiche Griechenland anstreben. Die vielgeprüfte Insel ist ein
Herd beständiger Unzufriedenheit.
Unter den Bodenerzeugnissen der Insel nimmt die Frucht der Olive den
ersten Platz ein, Olivenöl verleiht Kreta die wirtschaftliche Signatur. Das Oel geht
nach Grossbritannien, Russland und Egypten. In den Niederungen ist nach dem
Olivenöl die Rebencultur der einträglichste Zweig der Bebauung des Bodens.
Der Wein von Malevísi, dem alten Malvasia, geht in stetig wachsenden
Mengen nach Frankreich, um dort zur Erzeugung und Verschneidung von Bordeaux-
weinen verwendet zu werden. Ausgeführt werden noch Rosinen, Johannisbrot,
Mandeln und Südfrüchte, Valonea und Zwiebeln.
Den Hauptantheil an dieser Einfuhr hat Oesterreich-Ungarn durch seine
günstige geographische Lage und durch die directe Linie des österreich-ungarischen
Lloyd. Den zweiten Rang nimmt Grossbritannien durch seine bekannten Massen-
artikel ein, den dritten Deutschland.
Ausser dem österreichisch-ungarischen Lloyd laufen Kreta zwei griechische
Dampfschiffahrtsgesellschaften an.
Kabel der Eastern Telegraph Cy. laufen von Sitia nach Rhodos und nach
Alexandria, von Candia nach Syra und von Canea nach Zante.
[[216]]
Rhodos.
Nicht so sehr der gegenwärtigen Handelsbedeutung halber, als
vielmehr wegen seiner einstigen Seemächtigkeit und der wichtigen
Rolle, die ihm in der Culturgeschichte zugefallen, darf Rhodos in die
Reihe der vorliegenden Schilderungen einbezogen werden.
Die unermüdlich thätigen Phönikier gründeten hier eine Colonie, die sich
länger hielt als die auf den anderen Inseln des Aegäischen Meeres. Aber erst
dorische Einwanderer brachten Rhodos zu Glanz und Macht empor, und dieses ward
ebenso gross und reich durch seine Industrie, seinen Seehandel, wie mächtig durch
seine Kriegsflotte, die in den Kämpfen des Alterthums wiederholt entschieden aufge-
treten war.
Kunst und Wissenschaft hatten in Rhodos seit jeher eine sichere Pflege-
stätte gefunden.
Bekannt ist, dass die von dem Athener Aeschines (400 v. Chr.) hier ge-
gründete Rednerschule, die auch der redegewandte Cicero besuchte, noch zur Zeit
des Cäsar blühte. Von der Meisterschaft, zu welcher die bildende Kunst ge-
diehen war, gibt die bewunderungswürdige Laokoon-Gruppe im Vatican ein beredtes
Zeugniss; ihre Bildner waren Rhodiser.
Die berühmte Erzstatue des Sonnengottes (der Koloss von Rhodos), die
227 v. Chr. ein Erdbeben zertrümmerte, war 105 römische Fuss hoch. Nur starke
Männer konnten die Daumen des Kolosses von Rhodus umfassen.
Von 227—168 v. Chr. ist die Zeit des höchsten Glanzes von Rhodus; jäh
stürzt es durch die Macht Roms von seiner Höhe und spielt dann nur auf gei
stigem Gebiete eine bedeutende Rolle.
Während der ersten christlichen Jahrhunderte verfiel, wie nahezu in allen
Gebieten des römischen Reiches und jenen seiner Erben, auch die Cultur der Insel-
bewohner immer mehr, und erst als 1309 die Johanniter Rhodus eroberten, kehrte
für zwei Jahrhunderte wieder Glanz, Reichthum und edle Gesittung dahin zurück.
Der Halbmond trat aber das Erbe der heldenmüthigen Ritterschaft an. Das
vorgeschobene Bollwerk der Christenheit kam in seine Gewalt, und an derselben
Stelle, wo die Begeisterung des innigsten Christenglaubens zu den opferfreudigsten
Thaten drängte, gewann der Islam — sein erbitterster Gegner — festen Fuss.
Rhodos wurde für den Mohammedaner ein heiliger Ort; seine weisen oder auch
fanatischen Derwische waren berühmt, und manche derselben standen selbst im
Geruche der Heiligkeit.
[217]Rhodos.
Das gegenwärtige Rhodos, das nur mehr 10.000 Einwohner
zählt, ist nur ein Schattenbild der einstigen Grösse.
Von dem Charakter der Stadt können wir den Lesern eine
ungemein interessante Schilderung ganz jungen Datums bieten. Ihre
kaiserliche Hoheit die durchlauchtigste Frau Kronprinzessin
Stephanie hat nämlich im Jahre 1885 in Begleitung ihres hohen
Gemals auf der kaiserlichen Yacht „Miramar“ verschiedene Häfen
der Levante — darunter auch Rhodos — besucht. Die angenehmen
Erinnerungen, welche von dieser Reise zurückgeblieben waren, haben
Rhodos.
die hohe Frau veranlasst, dieselben durch eine Beschreibung in Form
eines Tagebuches zu fixiren; dieses Tagebuch ist zwar gedruckt, blieb
aber nur einem ganz engen Kreise vorbehalten. Jetzt hat jedoch Ihre
kaiserliche Hoheit gestattet, die in demselben enthaltenen Schilderungen
für das vorliegende Werk zu benützen. Indem wir nun — wohl auch
im Namen unserer Leser — unserer tiefsten Dankbarkeit für das gnä-
dige Zugeständniss Ausdruck geben, lassen wir aus dem an reizenden
Stimmungsbildern reichen Buche hier zunächst den Abschnitt folgen,
welcher in charakteristischen Contouren die Physiognomie des heuti-
gen Rhodos zeichnet.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 28
[218]Das Mittelmeerbecken.
Ihre kaiserliche Hoheit widmet dem Städtchen folgende Zeilen:
„12. März. — Während eine leichte Nebelmasse nach Osten zu
auf dem Wasser lag, neigte sich im Westen die Sonne in voller Pracht
ihrem Untergange zu, die kleinasiatische Küste in glühenden Duft
tauchend. Rhodus trat immer deutlicher aus den blauen Fluten empor,
auf dessen Rhede erst um 9 Uhr der Anker in die Tiefe sank. Leider
gestattete die vorgeschrittene Dunkelheit nicht mehr, die Stadt zu
sehen, aus welcher viele Lichter zu uns herüber leuchteten. Der
klaren Nacht aber hatten wir es zu verdanken, dass wir die Umrisse
der bergigen Ufer zu erkennen vermochten.
„13. März. — Ueber den weiten azurnen Spiegel der ungetrübten
See weht ein angenehmer warmer Lufthauch, am Horizonte erheben
sich Asiens Gebirge vom Morgenduft übergossen. Im Golde der Sonne,
von alten ehrwürdigen Mauern umringt, von schönen Palmen beschattet,
die ihre graziösen Blätterwedel über dieselben wiegen, von schlanken
blinkenden Minarets, glänzenden Kuppeln und Zinnen überragt, von
blauen Wogen umspült, von vielen Windmühlen umgeben, die sich
auf schön gefärbtem Sandboden am Ufer erstrecken, zwischen blühen-
den Gärten und dunklen Cypressen dehnt sich auf der flachen Küste
die schöngeformte Häusergruppe der berühmten Rosenstadt aus. Dies
war das entzückende Bild, welches sich unseren Blicken darbot, als
wir am Morgen des 13. März voller Erwartung das Verdeck betraten.
„Zwei mächtige Thürme, der von San Elmo, von einem Leucht-
thurme gekrönt, und der von San Angelo, schliessen rechts und links
den Eingang des Hafens ab und sind in Verbindung mit den Stadt-
mauern. Hier erhob sich im Alterthume das eherne Standbild des
Kolosses von Rhodus, eines der sieben Weltwunder.
„Da in unserem Reiseprogramm die Aufenthaltszeit für Rhodus
karg bemessen war, fuhren wir früh ans Land, um die interessante
Stadt zu durchwandern. Wir verliessen unser Boot am Zollamt-Anlege-
platze, gingen den Quai entlang und wurden von zudringlichen Ver-
käufern, die uns ihre eigenthümlichen, kleinen, von Gefangenen an-
gefertigten Holzgegenstände anboten, verfolgt. Durch einen gothischen
Thorbogen betraten wir den alten Stadttheil und glaubten uns in das
Mittelalter versetzt, denn auf Schritt und Tritt finden wir die Spuren
jener glänzenden Zeit des eisernen Jahrhundertes und alles mahnt an
die Herrschaft, an die Macht und an die Kämpfe der Johanniter. Auf
einem offenen Platze befindet sich das Johanniter-Castell, welches wir
zuerst besichtigen. Das Eingangsthor ist reich verziert und soll aus
Cypressenholz geschnitzt sein. Man gelangt durch dasselbe in einen
[219]Rhodos.
von Gewölben umgebenen grossen Hof, über welchem nach allen Seiten
Galerien angebracht sind, deren Arkaden auf ziemlich schweren
Säulen ruhen. Die inneren Räumlichkeiten dieses Gebäudes dienen
jetzt als Kaserne und zeitweise als Spital für die türkischen Truppen.
„Wir setzten unseren Weg durch die an architektonischem
Schmuck so reiche ‚Strada dei Cavalieri‘ mit den uralten Palästen der
Ritter verschiedener Zungen fort. Eine jede hatte ihre Herberge, auf
welcher die Wappen und Devisen der ältesten Adelsfamilien und Ge-
schlechter prangen, auch tragen sie die interessantesten Daten und
Inschriften. Dieselben sind noch unglaublich gut erhalten und recht
leserlich. Oefters sind sie über den spitzbogigen Thüren oder zwischen
den mit Leisten und Blumenguirlanden umrahmten Fenstern ange-
bracht. An den vielen eingefügten Wappenschildern erkennt man ihre
Abstammung. Am reichsten ist die französische Herberge ausgeschmückt.
Sie trägt über ihrem Haupteingange Inschriften und die Wappen des
Ordens. Die Façade ist mit Thürmchen und Zinnen gekrönt. Phanta-
stisch sind die steinernen Drachenköpfe, die als Regentraufen dienen.
Inmitten der Strasse steht die Steinkanzel, von welcher aus der je-
weilige Patriarch seine Zuhörer zur Theilnahme an den Kreuzzügen
ermahnte. Nicht weit hievon zeigte man uns einen Vorhof, von alten
Mauern eingeschlossen, in deren Mitte sich die Zweige eines in voller
Blüthe stehenden Orangenbaumes ausbreiteten, dessen frisches Grün
unter dem Schutt und Gerölle seltsam stimmte. Bedauernswerth ist es,
dass die später hinzugefügten Holzterrassen und Erker die alten Stein-
bauten so sehr entstellen; immerhin bleibt der Anblick der Strasse
ein höchst malerischer, besonders wenn die Sonne auf dem verwit-
terten Kalkstein spielt und Farbentöne vom Goldbraun bis ins Violette
hervorzaubert. Hie und da blickt man in engwinklige, überwölbte
Seitengässchen, wo tiefer, duftiger Schatten lagert, wie ihn nur der
kennt, der den Süden gesehen hat. Zeitweise bemerkt man einen
Türken, der nachlässig gegen seine Thür gelehnt ruhig raucht oder
die Strasse geschäftig hinunter eilt und dessen Erscheinung einen
eigenthümlichen Gegensatz zu dieser mittelalterlichen Welt bildet.
„Die Strasse mündet auf einen freien grossen Platz, welcher,
ehedem überwölbt, den Rittern bei besonderen Gelegenheiten als Ver-
sammlungsort diente. Wenig entfernt davon sehen wir nur mehr die
traurigen Ueberreste des Palastes des Grossmeisters und der alten,
dem heiligen Johannes geweihten Kirche, die von den Türken in eine
Moschee verwandelt wurde, jedoch ihren christlichen Namen bewahrte.
Die Türken benützten den Thurm der Kirche als Pulvermagazin; im
28*
[220]Das Mittelmeerbecken.
Jahre 1856 zündete ein Blitzstrahl die gefährliche Masse, und diese
Explosion vollendete die gänzliche Zerstörung der schönen Denkmäler
alter Baukunst, welche schon vorher durch Belagerung und Erdbeben
sehr gelitten hatten.
„In diesem Stadttheil erhebt sich ebenfalls die Citadelle mit
dem ehemaligen Hospital der Ritter, welches jetzt zum Theil als
Staatsgefängniss gebraucht wird. Wir stiegen eine bequeme Freitreppe
hinauf, zwischen deren starkem Gemäuer überall sprossendes Grün
und die verschiedensten Pflanzen sich hervordrängen, zu einer offenen
Galerie, auf welche die Wohnungsräume der Gefangenen münden.
Einige Stufen höher, und wir befinden uns auf einer weit vorspringen-
den geräumigen Plattform, deren äussere Mauern jäh in die unge-
heuere Tiefe des Festungsgrabens abstürzen. Von diesem Punkte ge-
niesst man ein prächtiges Panorama über die Stadt mit ihrem reichen
Kranz von Mauern, Schanzen, welche sie umziehen und ihr das An-
sehen von Alter, Grösse und Bedeutung verleihen, auf das Land und
die asiatische Küste. Tritt man an den inneren Rand, so gewahrt
man einen grossen Hof, der zur Verwahrung der Gefangenen dient,
dessen Mitte eine Cisterne einnimmt, um welche seltsame Gestalten
sich bewegen. Unter ihnen mit Ketten gefesselte, in Nationaltrachten
gekleidete Verbrecher, in deren verbissenen finsteren Gesichtern wir
nur Trotz und Hohn lesen; zwei Derwische, wahrscheinlich aus der
Gegend von Smyrna, und einige Mohren theilen das bittere Los der
Gefangenen.
„Von dieser schaurigen Scene wenden wir uns bald ab, ver-
lassen das Gebäude und gehen zur jetzigen Moschee Suleimanieh. Von
der alten Pracht der früheren Apostelkirche sind nur wenig Spuren
mehr übrig geblieben. Acht weisse Marmorsäulen bilden den Porticus,
reiche Sculpturen schmücken die zwei kleinen, aus dem XV. Jahr-
hundert stammenden Säulen zu beiden Seiten des inneren Einganges.
Dieselben sind mit Engelsköpfchen, färbigen Helmen und Streitäxten
zwischen plastischen Laubgewinden geziert. Im Tempel erscheint alles
kahl, nur einige alte Gebetteppiche und die Kanzel, von welcher die
Lehren des Koran verkündet werden, unterbrechen die Eintönigkeit. Ein
alter Brunnen von reicher Arbeit steht unmittelbar neben der Moschee.
„In der Ibrahim Pascha-Moschee, die sich wenig von der vor-
her erwähnten unterscheidet, uns nur kurz aufhaltend, gelangten wir
durch den südlichen Theil der Stadt, ein labyrinthisches Gewirre
enger dunkler Gassen, deren Häuser meist noch aus der Zeit der Jo-
hanniterherrschaft herrühren, ohne von Bedeutung zu sein, in den Ba-
[221]Rhodos.
zar. Dieser besteht, wie in allen Ländern des Halbmondes, aus höl-
zernen, baufälligen, dicht aneinandergereihten Buden mit vorspringenden
Dächern, die fast aneinander stossen; sie sind ausserdem mit zerfetzten
A Sommer-Ankerplatz für grosse Schiffe, B Liman oder Hafen, C Zollamt, D Bazar-Thor, E Arsenals-
hafen (Pto. Mandraki der Griechen; Porto delle Galere der Ritter), F Leuchtthurm St. Elmo (Standort
des Kolosses von Rhodos), G Ruine des arab. Thurmes (St. Nicolo der Ritter), H Gouverneurs-Palais,
J Harem des Pascha, K Waffenmagazin, L Kaserne, M Hospital, N Wächterhaus, O türkische Friedhöfe,
P jüdischer Friedhof, Q Lazareth, R Friedhof der Sträflinge, S Bazar-Viertel, T Juden-Viertel, U Ge-
fängniss, V Strada dei Cavalieri, X antiker Wall, Y Moschee (alte Kathedrale), [...] Moschee, [...] Wind-
mühlen. — Arab. Thurm 36° 26′ N., 28° 16′ O. L. v. Gr.
Teppichen überhängt, so dass man dort in vollkommener Dämmerung
wandelt. Er ist weder mit dem von Constantinopel, noch mit
dem von Damaskus zu vergleichen; aber auch hier fehlt es nicht
[222]Das Mittelmeerbecken.
an buntfärbigen Trachten, an eifrigem, fröhlichem Leben. Gebirgs-
bewohner aus Kleinasien, wohlhabende Israeliten, auffallend viele
Mohren, griechische Schiffer und Handwerker, Albanesen, die ihr
ganzes Vermögen an kostbaren Waffen und Stoffen am Körper tragen,
griechische Maulthiertreiber arbeiten sich mit ihren beladenen Thieren
schreiend, scheltend durch die Menge und drängen sich durch das
Gewimmel.
„Nach dem Besuche des Bazars blieb uns noch die Besichtigung
des Justizpalastes oder Casteliano übrig, welcher jedoch verschlossen
war. Wir warteten geduldig auf dem flachen Dache eines der an-
stossenden Häuser, von wo aus wir ungestörte Zeugen des Treibens
in dem Bazar sein konnten; bald wurde das Gebäude aufgesperrt.
Man gelangt über einige Stufen hinan zu dem Thore, oberhalb dem zwei
Engel das Wappenschild des Grossmeisters d’Amboise halten; gothische
Spitzbogenverzierungen schliessen sich daran an. Der Saal ist gross
und in schönen Verhältnissen gebaut, die Fenstereinfassungen sind
reich gearbeitet, an den Fensterkreuzen prangt wiederholt die fran-
zösische Lilie. Flüchtig besuchen wir eine alte christliche Kirche, die
erste katholische, welche in Rhodus gebaut und der heiligen Katha-
rina geweiht wurde. Jetzt ist sie in eine Moschee umgewandelt, Kan-
duri oder Enderum-Moschee, das ist ‚Blut, steh’ still‘, so benannt nach
dem Massacre der Türken. Im Innern macht man uns auf einige
Gräber und verwischte Inschriften aufmerksam.
„Während wir schon am Heimweg über den Platz gingen, be-
gann eine aus zerlumpten und blossfüssigen Individuen zusammen-
gestellte Musikbande mit wahrhaft betäubender Energie zu spielen,
zumeist fürchterliche, ohrenzerreissende Misstöne hervorbringend, aus
denen nur selten Anklänge an den türkischen Marsch herauszuhören
waren. Zum Schlusse gingen wir, von einer zahlreichen Bevölkerung
und den Schmuckverkäufern verfolgt, in das Lloydsecretariat, um die
berühmten, so selten gewordenen Fayencen und Porzellanteller von
Rhodus zu sehen. Ich hatte nichts Eiligeres zu thun, als mir zur Ver-
vollständigung meiner Sammlung die vier uralten Schüsseln mit gut
erhaltener Malerei zu erwerben, welche man uns vorwies. Gegen
12 Uhr, nachdem wir die interessante Stadt ganz durchzogen und alle
Sehenswürdigkeiten in Augenschein genommen hatten, schifften wir
uns ein.“
[223]Rhodos.
So sieht es heute auf Rhodos aus, diesem „verarmten Edel-
boden“, der einst das Herz des Welthandels war.
Als das grosse Erdbeben von 227 v. Chr. die Häuser von Rho-
dus in Trümmer gelegt, ihre Schiffslager verwüstet hatte, da stockte
der ganze Handel des östlichen Mittelmeeres, alle Staaten waren
finanziell in Mitleidenschaft gezogen und Fürsten und Städte des Ostens
und Westens wetteiferten, den Wiederaufbau der in den Staub ge-
sunkenen Stadt zu fördern. Grossartig sind die Gaben an Geld, Ge-
treide, Holz und Metallen gewesen, die von allen Seiten zuströmten,
sie machen uns klar, wie reich die damalige griechische Welt, wie riesig
der Handelsumsatz gewesen sein muss, den Rhodos vermittelte und den
die auswärtigen Fürsten um so hohes Geld sichern wollten.
Der heutige Handel von Rhodos ist bescheidener und betrug in dem gün-
stigen Jahre 1888 5,755.620 Francs in der Einfuhr und 3,205.550 Francs in der
Ausfuhr.
Schwämme bilden den Haupttheil der Ausfuhr (1888 2 Millionen Francs),
sie bestimmen die Höhe derselben und werden insbesondere nach Marseille und
Triest verschickt. Die Bodenproduction liefert namhafte Erträge, doch werden
nur Zwiebeln, Gemüse und Honig ausgeführt. Vallonea, Sesam, Koraköl und Zie-
genfelle kommen von den Küsten des benachbarten Anatolien.
Die Hauptartikel der Einfuhr: Manufacte (1888 1·8 Millionen Francs),
Eisenblech (0·9 Millionen Francs), Glaswaare, Zucker, Kaffee, kommen aus Oester-
reich-Ungarn.
Rhodos steht in telegraphischer Verbindung mit dem Festlande und mit
Kreta und wird von den Schiffen des österreichisch-ungarischen Lloyd auf der
Linie Constantinopel—Alexandria angelaufen.
Unter dem Meridian von Rhodos biegt die Küste Kleinasiens
nach Osten um. Vielfach reichen die Berge des Taurus bis hart ans
Ufer; auf ihnen findet man noch ganze Wälder der echten Ceder,
die im Libanon auszusterben scheint. Von dem Dampfschiffe aus, das
nach Mersina steuert, kann man mit dem Fernrohr deutlich alle Ein-
zelnheiten der interessanten Küstenstrecke, des alten Kilikiens er-
kennen, dessen Bewohner als kühne Seeräuber durch Jahrzehnte das
römische Weltreich in Athem hielten. Am zweiten Tage nach dem
Verlassen von Rhodos passirt man die herrlichen Ruinen von Pom-
pejopolis mit ihrem aus 50 korinthischen Säulen bestehenden Porti-
cus, der von der Stadt zum Meere herabführte, und erreicht gegen
Mittag die in einer niedrigen, zum Theile sumpfigen Ebene gelegene
Stadt Mersina, von deren Rhede uns eine 67 km lange Eisenbahn
in 2 Stunden 40 Minuten über Tarsus nach Adana bringt. Früher
ein unbekannter Ort, zählt jetzt Mersina 12—15.000 Einwohner. Eine
Verlängerung der Eisenbahn nach Aintab würde auch den Handel
[224]Das Mittelmeerbecken.
Südarmeniens, der heute über Alexandrette geht, nach Mersina ab-
lenken.
Im Jahre 1888 wurden Producte der kilikischen Ebene im Werthe von
7 Millionen Francs (1887 von 10 Millionen Francs) über Mersina exportirt,
darunter 12.688 Ballen (Werth 1·2 Millionen Francs) Baumwolle, welche früher nur
über Smyrna ging, ferner Sesam, Weizen, Gerste, dann Schafwolle und Thierhäute.
Das Jahr 1888 war wegen der lange andauernden heissen Südwinde ein schlechtes
Erntejahr.
Die Einfuhr, welche zum grösseren Theile über Constantinopel, Smyrna,
Beirut und Alexandrien erfolgt, erreichte 1888 4·6 (1887 10) Millionen Francs;
Tabak, Zucker, Mehl sind die wichtigsten Posten. Der Schiffsverkehr betrug
775 Schiffe mit 349.625 Tonnen, davon 322 Dampfer mit 328.736 Tonnen.
Der Südküste Kleinasiens vorgelagert liegt die fruchtbare, durch
einen gewissen grandiosen Schwung ihrer Bergzüge ausgezeichnete
Insel Cypern (Kypros), einst von üppigster Vegetation bedeckt und
nach den Schilderungen der Alten in südlichen Zauber getaucht. Hier
in dem wunderbaren Paradiese, in der Nähe des Cap Paphos, soll
die schaumgeborene Venus dem Meere entstiegen sein; dort und zu
Amathos und Salamis auf Cypern war ihr ein besonders heiliger
Cult geweiht. In spätgriechischer Zeit wird die Insel wegen ihres
Metallreichthums (feines Kupfer) erwähnt, und als die Römer dort Fuss
gefasst, erstaunten sie über den Reichthum an Producten, welcher es
gestatte, Schiffe vom Kiel bis hinauf zu den Segeln aus eigenen Er-
zeugnissen zu bauen und auszurüsten.
Wie überall, wo Reichthümer zu holen, waren die Phönikier auch auf
Cypern die ersten Bewohner. Bald erschienen auch die Griechen. Um 700 v. Chr.
war die Insel den Assyriern tributpflichtig; um 550 fiel sie an Egypten, dann 333
an das Reich Alexander des Grossen und hierauf unter Ptolemäus, endlich 58
v. Chr. an Rom, und bei der Theilung des römischen Reiches an Byzanz. Zur
Selbständigkeit gelangt, wurde die Insel 1191 von Richard Löwenherz erobert und 1193
durch diesen dem Guido von Lusignau als Lehen verliehen. 1489 gelangte Cypern
als Vermächtniss der schönen Venetianerin Katharina Cornaro an die Republik
Venedig und 1571 pflanzten die Türken dort den Halbmond auf, nachdem sie den
Besitz der Insel durch schwere Opfer an Gut und Blut erkauft hatten.
Die denkwürdige Vertheidigung von Famagosta, die zu den heldenmüthigsten
aller Zeiten gerechnet werden darf, erwarb den Venetianern die schönsten Lor-
beeren. Die Belagerung des genannten Platzes begann am 24. Juli 1570 und
am 16. August 1571 fiel das letzte Bollwerk desselben in die Gewalt der Türken.
Das Belagerungsheer der letzteren zählte 94.000 Türken und über 100.000 Krieger
aus Caramanien, Syrien, Arabien und Egypten, welche der für Venedigs Ruhm
begeisterte Mariti mit dem Beinamen „Canaglia asiatica“ belegte. Entsetzlich war
das Schicksal der Besiegten. Der tapfere Gouverneur Bragadino wurde von den
entmenschten Horden bei lebendigem Leibe geschunden, und die meisten der
8000 Einwohner und der im Ganzen 4000 Mann zählenden Besatzung verloren
das Leben. Wie bei grossen Ereignissen der Heldenmuth der Frauen zur höchsten
[225]Rhodos.
Entfaltung sich begeistert, so gab auch die Belagerung und der Fall von Fama-
gosta leuchtende Beispiele von Seelengrösse, die das schwache Geschlecht erfüllte.
Die Türken beabsichtigten nämlich, die schönsten Mädchen der unglück-
lichen Stadt in die Sclaverei des Harems zu schleppen. Doch die über ein solches
Schicksal entsetzten Opfer sprengten die Pulverkammer des Schiffes, das sie ent-
führte, in die Luft und starben den Heldentod. Es wird berichtet, dass die Türken
während der Belagerung von Famagosta gegen 75.000 Mann verloren haben.
Seit dem Vertrag vom 4. Juni 1878 steht Cypern unter englischer Ver-
waltung.
In diesem Vertrage verpflichten sich die Engländer, den Sultan in der Ver-
theidigung seiner asiatischen Länder gegen Russland zu unterstützen. Als Basis
für ihre militärischen Bewegungen tritt ihnen der Sultan die Insel Cypern ab;
nur wenn er von Russland die Festung Kars zurückerhält, müssen sie Cypern
räumen. Auch muss England aus den Einnahmen der Insel jährlich eine bestimmte
Summe an die hohe Pforte zahlen.
England hat in Cypern einen neuen Stützpunkt auf seiner Route
nach Indien gewonnen, es beherrscht mit Cypern den Weg durch
Syrien und den durch den Suez-Canal. Nur scheint es gegenwärtig,
wo seine Beamten und Soldaten Egypten wirksam controliren, auf
Cypern weniger Gewicht zu legen.
Ein werthvoller Besitz ist Cypern nicht. In den Gräbern der
heutigen Bewohner wird ein künftiger Cesnola nicht einmal vereinzelt
solche wunderbare Schmucksachen aus Gold finden, von denen
die grösste Sammlung das Metropolitan-Museum in New-York ver-
wahrt.
Die Berge sind entwaldet, die Ebenen versumpft, die Häfen ver-
schlammt. Heuschreckenschwärme vernichten die Ernten und bis
heute haben die Massregeln der Engländer, welche die gesammelten
Eier der Heuschrecken massenhaft um gutes Geld aufkaufen und ver-
nichten, noch keinen besonderen Erfolg. Aber der Einfluss ihrer
Strassenbauten spiegelt sich wieder in der Steigerung des Handels-
und des Postverkehres. Die Insel zählt 200.000 Einwohner, meist
Griechen.
Larnaka und Limasol, die wichtigsten Häfen der Insel, liegen
beide auf der Südseite. Larnaka (7833 Einwohner) im Südosten ist
wichtiger und wird von dem österreichisch-ungarischen Lloyd und
den Messageries maritimes angelaufen. Das durchaus nüchterne
Städtchen liegt etwa einen halben Kilometer von der Küste entfernt
und besitzt nur eine Rhede, die keine Vorkehrungen für den Handels-
verkehr aufweist.
Die Hauptartikel der Ausfuhr sind gemeine Weine (1888 50.000 q), Com-
manderiewein (5000 q) und Trauben, von Alters her berühmt, aber erst durch die
Engländer wieder auf den Weltmarkt eingeführt.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 29
[226]Das Mittelmeerbecken.
Die Einfuhr erfolgt aus denselben Staaten, die an dem Handel Syriens
betheiligt sind.
Von Larnaka geht ein Kabel nach Alexandrien, das andere an die syrische
Küste.
Westlich von Larnaka liegt Limasol (6000 Einwohner); die
Strassen und Plätze zeichnen sich durch grösste Reinlichkeit aus, der
Quai und die von ihm auslaufenden Molos befinden sich im besten Zu-
stande, letzterer wurde von den Engländern 1881 in einer Länge von
190 m aus Eisen erbaut.
Auch von hier wird schwarzer ordinärer Wein nach Egypten, Syrien und
Palästina, Commanderiewein nach Triest und Venedig ausgeführt, ferner Wein-
branntwein („Suma“), Johannesbrot und Sumach.
Bei Missernten muss man selbst Getreide und Olivenöl einführen. In
Limasol bestehen 2 Dampfmühlen.
Nur 63 Seemeilen östlich von Mersina liegt Alexandrette
(Iskanderum) an einer weiten tiefen Bai, welche hohe Berge wie eine
Riesenmauer umziehen und gegen Nord-, Ost- und Südwinde schützen.
In einer Höhe von 686 m führt von hier der berühmte Pass von
Beilan, die syrischen Pforten der Alten, in das Thal des obern Eu-
phrat, nach Haleb (Aleppo) und Antiochia. Aleppo hat 115.000 Ein-
wohner, von dort stammen die Abajas, die landesüblichen grossen
Mäntel von schwarzer oder weisser Farbe, die meist mit reicher
Stickerei in Roth und Gelb verziert sind, die einheimischen Baumwoll-
und Seidengewebe, die durch ihre Mannigfaltigkeit und Schönheit
die Besucher des Bazars von Alexandrette überraschen.
Vor wenigen Jahren verbanden die Türken Alexandrette und
Aleppo durch eine 165 km lange Strasse, die aber schon wieder
halb verfallen ist. Man benützt sie nur im westlichen Theile, im
Osten folgen die Kameele dem alten, viel kürzeren Karawanenweg.
Es spricht für die günstige Handelslage von Alexandrette, dass trotzdem
die Handelsbewegung Ziffern, wie die folgenden, erreicht:
| [...] |
Regelmässig ist die Einfuhr weit grösser als die Ausfuhr, ein Beweis, dass
von hier grosse Theile des Binnenlandes mit Baumwollstoffen (1888 21.909 q,
Werth 11·1 Millionen Francs) aus England, mit Tüchern aus England und Oester-
reich-Ungarn, mit Seide und Seidenstoffen, mit Metallen und Metallwaaren ver-
sorgt werden. Wichtig sind die Einfuhr von Zucker aus Egypten, Oesterreich-
Ungarn und Frankreich, von Kaffee aus Brasilien über Marseille, von Petroleum
aus Russland.
Die Wolle des Landes ist auf Hauptmärkten der Welt wohlbekannt, sie
steht in der Ausfuhr obenan (1888 17.775 q, Werth 2·7 Millionen Francs) und
[227]Rhodos.
geht jetzt nach Frankreich und England; bis 1887 wurde das Meiste in die Union
geschickt. Getreide (1888 119.000 q, Werth 1·6 Millionen Francs) wird nach
Frankreich und Italien ausgeführt, Rinder und Schafe (Werth 2 Millionen Francs)
gehen nach Malta, Egypten und Griechenland.
Wichtig sind ferner Galläpfel und Gelbbeeren, Butter und Oel. Eine ameri-
kanische Gesellschaft hat in Alexandrette eine mächtige Dampfpresse errichtet,
mit welcher die Süssholzwurzel, die im Inneren wild wächst, in Ballen von
geringem Umfange gepresst und so für die Ausfuhr hergerichtet wird. Diese
(1888 37.210 q, Werth 724.000 Francs) geht auf Seglern nach New-York; Lakritzen-
saft wird in der Union bei der Fabrication von Kautabak verwendet.
Wenn wir endlich lesen, dass mit Kameelen Kupfererze im Werthe von
1·8 Millionen Francs aus der Nähe von Diarbekir am Tigris kommen und auf
englischen Dampfern nach Liverpool gehen, und dass aus Aleppo, welches mit
Kameelen von hier in drei Tagen zu erreichen ist, Getreide nicht ausgeführt
werden kann, weil die Transportkosten 50 % des Werthes verschlingen, begreifen
wir die Trostlosigkeit der dortigen Verkehrsverhältnisse. Wie würden sich die
Verhältnisse ändern mit dem Ausbau der längst projectirten Bahn von Alexan-
drette an den Tigris und diesen abwärts bis Basra! Man käme von London um
10 Tage früher nach Indien als jetzt.
Die Schiffsbewegung umfasste 1888 323 Dampfer mit 301.555 t und
197 Segler mit 14.498 t, an denen die französische, die russische und die egypti-
sche Flagge den stärksten Antheil hatten.
An Latakieh vorbei, das berühmt ist durch seinen Tabak (Abu-
Riha, „Vater des Geruches“), gelangen wir an die Gestade Phöni-
kiens und laufen ein in die durch Klippen geschützte Rhede von El
Mina, der Hafenstadt von Tarabulus oder Tripoli di Soria
(Syrien).
Tripolis liegt inmitten der überaus fruchtbaren Alluvialebene,
am Ende einer Schlucht, des von der Natur gegebenen Verkehrs-
weges nach den Binnenstädten Horms und Hama, die durch eine
142 km lange Chaussée mit Tripolis verbunden sind. Diese trägt der
Gesellschaft, welcher der Betrieb ab 1882 auf 50 Jahre übertragen
ist, jährlich 10 % des aufgewendeten Capitals; auch eine Eisenbahn
würde auf diesem Wege nicht zu viele Hindernisse finden.
Von den 24.000 Einwohnern sucht ein grosser Theil Beschäfti-
gung bei der Schiffahrt.
Der Hafen hat einen bedeutenden directen Ausfuhrhandel, die Einfuhr euro-
päischer Artikel besorgt zum grossen Theile noch Beirut, doch kommen auch schon
Waaren direct aus Triest, Marseille und Liverpool. Beachtenswerth ist die Er-
zeugung von Seife und von Seidenwaaren.
Im Jahre 1888 wurden etwa 22.000 hl Mais nach Egypten, Dari nach
England, Malta und Egypten, 110.000 hl Gerste nach Smyrna und Frankreich,
Erbsen und Bohnen, die in der Umgebung gebaut werden, nach Malta, Marseille,
England und den einheimischen Küstenplätzen ausgeführt. Um Tripolis dehnen
sich grosse Haine von Oliven- und Orangenbäumen aus. Eine mittelmässige Oliven-
29*
[228]Das Mittelmeerbecken.
ernte ergibt 2·3 Millionen kg, die grossen Seifenfabriken des Ortes verbrauchen
jährlich bei 1·8 Millionen kg, der Ueberschuss der Ernte geht nach Frankreich
und Egypten. Von der erzeugten Seife (1888 2·8 Millionen kg) wird der grösste
Theil nach Egypten, Anatolien, Cypern verschifft.
Orangen und Citronen wurden in den letzten Jahren in grossem Mass-
stabe angepflanzt. Die Ausfuhr ist meist nach Odessa gerichtet.
Man erzeugt im Handelsgebiete von Tripolis 640.000—800.000 kg Seiden-
cocons; diese werden in einheimischen und Beiruter Filaturen, welche nach euro-
päischem Muster eingerichtet sind, abgesponnen.
Die exportirte Schafwolle kommt aus Homs und Hama, der Ertrag der
Schwammfischerei wird auf 400.000 Gulden geschätzt. Feine und mittelfeine
Sorten erhält Marseille, in die ordinären theilen sich Marseille und Triest.
Die Einfuhr umfasst Zucker, Mokkakaffee, Tombeki, Kochsalz, Natron,
Baumwollgewebe, Eisenwaaren, Quincaillerie, Glas- und Fayencewaaren.
Die Postschiffahrt besorgen der österreich-ungarische Lloyd, die Messageries
maritimes und die Khedivié. Der Schiffsverkehr umfasste 1888 im internationalen
Verkehre 380 Dampfer mit 409.266 t und 90 Segler mit 17.020 t, im Küstenver-
kehre 286 Dampfer mit 286.802 t und 1886 Segler mit 34.124 t.
Consulate haben hier: Dänemark, Deutsches Reich, Frankreich, Griechen-
land, Grossbritannien, Italien, Niederlande, Oesterreich-Ungarn, Rumänien, Russland,
Schweden-Norwegen, Spanien, Vereinigte Staaten.
[[229]]
Beirut.
Ernst und imposant ragen die Hochwarten Syriens aus den
mächtigen Gebirgsmassen des Libanon und Antilibanon empor und
schon von weiter Ferne her erblickt sie der ankommende Seefahrer,
wie die vom fernen Osten über die gelbe schweigsame Wüste daher
wandernde Karawane.
Die Grossartigkeit der Gebirgswelt, die ungeheuere Meerestiefe
zu ihren Füssen; der schroffe Wechsel zwischen trostloser Wildniss
und blumenbesäeten Paradiesen, zwischen fruchtbaren, von Flüssen
durchzogenen Thälern und wasserlosen Steinwüsten, wo, um mit
Wilbrandt zu empfinden, nur Adler kreisen und geräuschlos in der
meeresblauen Ferne unsichtbaren Ufern zuschweben; diese und andere
Gegensätze, die Syrien verschwenderisch bietet, wären bedeutend genug,
jeden Denkenden zu fesseln.
Aber zwei gewaltige Momente vereinigen sich überdies, die
ganze Glut tiefer Empfindungen in unserer Seele anzufachen. Das
syrische Land ist Stammsitz einer in unmessbare Zeitfernen reichenden
Culturwelt und war Schauplatz des weltbewegenden Ereignisses des
Erscheinens Jesus von Nazareth.
Wie dem Astronomen die irdischen Masseinheiten nicht mehr
ausreichen, um die Werthe der kosmischen Entfernungen darzustellen
und Sonnenweiten sein Grundmass bilden, ebenso müsste der Historiker
in der Geschichte Syriens das gewöhnliche Zeitmass bei Seite legen und
nach Jahrtausenden rechnen, nicht mehr Generationen des Individuums,
sondern Völkergenerationen zur Darstellung bringen, vorausgesetzt,
dass es jemals gelänge, deren Folgeschaft zu erforschen.
So weit in unfassbare Zeiträume reicht hier das Culturleben
zurück, dass die Glanzstätten der altgriechischen, punischen und
römischen Macht ihr gegenüber als Schöpfungen neuerer Zeit erscheinen,
denn Milliarden von Einzelschicksalen hatten sich auf asiatischem
[230]Das Mittelmeerbecken.
Boden vollzogen und gingen im tiefen Schweigen der Vergangenheit
unter, bevor die Namen Carthago, Athen oder Rom zum erstenmale
erklangen. Nur das alte Egypten und die vorassyrischen Reiche standen
der syrischen Culturwelt zur Seite.
Diese erblühte schon frühzeitig in den fruchtbaren Thälern des
Libanon und an den sonnigen Gestaden der Meeresküste, denn hieher
wälzte sich ein Arm des Völkerstromes aus dem Mutterlande Indien,
in jener fernen Vergangenheit, die uns selbst das älteste classische
Geschichtswerk, die heilige Schrift der Juden, nicht aufzuhellen
vermag.
Die Bibel nennt die Kanaaniter, das sind die handelsfähigen Phönikier
als Urbewohner des Küstenstriches zwischen dem Libanon und dem Meere.
Südwärts im heutigen Palästina lebten andere semitische, in viele Stämme
getheilte Völker, die mit den asiatischen und afrikanischen Reichen zwar in enger
Fühlung standen, aber, zu einem gemeinsamen Staatswesen nicht vereinigt, nur
geringe Macht besassen. Daher fiel das Land jedem Eroberer, der in Westasien
zur Herrschaft gelangte, als Beute zu Füssen. Die Assyrer, Babylonier, Meder,
Makedonier, Römer, Egypter und Araber, Saracenen und Osmanen, all diese
Völker wälzten ihre Heeresmassen in das einstmals gelobte Land, dessen Wohl-
stand vernichtend.
Zahllose, mitunter kolossale Trümmerfelder, die ehrwürdigen Ueberreste
mächtiger und glanzvoller Städte, deuten auf die entsetzlichen Schicksale fleissi-
ger, erwerbsamer Völkerschaften, die dort gelebt und gehofft. An welchem Punkte
des Landes wir die Erinnerung an seine Vergangenheit aufgreifen mögen, überall
begegnen wir den Spuren gewaltiger politischer Stürme, unter deren Macht selbst
grosse und gewaltige Reiche in Schutt und Trümmer sanken.
Gedenken wir der grossen phönikischen Zeit, so glänzen uns die Namen
Sidon und Tyrus als jene der damals reichsten Handels- und Industriestädte
Phönikiens entgegen, von wo aus die Colonisirung der Mittelmeerküsten stattge-
funden hatte; ja Schiffe dieser Emporien drangen selbst im Atlantischen Ocean
weit nach Norden und Süden vor.
Sidon, das heutige Saïda, war die ältere der beiden Königsstädte, die erst
um 1100 v. Chr. durch den Glanz von Tyrus verdunkelt wurde. Von grosser
Ausdehnung, mit herrlichen Bauwerken geschmückt, waren diese Metropolen die
Hauptsitze einer blühenden Industrie in Metallarbeiten, Glaswaaren, Bern-
stein, Purpurfärberei; die Kunstrichtung kam durch Bildhauerei in Elfenbein,
Ebenholz und Stein zur Geltung. Grossartige Tempel des Baal und Moloch, der
Astarte und anderer unheimlicher Gottheiten, welche Phönikien mit den Babylo-
niern gemeinsam verehrte, öffneten die weiten Hallen zu prunk- und geräusch-
vollen Festlichkeiten, bei welchen Liebeslust mit den Schauern des Todes sich
mengte. Moloch, der Feuergott, Astarte, die Göttin der verderblichen Naturkraft,
des Todes und Krieges, beide die schauerlichsten Götzen, welche die Phantasie
des Menschen jemals zu ersinnen vermochte, empfingen in ihren rauchgeschwärzten
Haupttempeln die oft sehr zahlreichen Kriegsgefangenen — zum qualvollen
Feuertode.
[231]Beirut.
Zu gleicher Zeit aber erklang im lichtvollen Wunderbau des salomonischen
Tempels zu Jerusalem der feierliche Choral zur Weihe Jehovah’s, des Einen wahren
Gottes der Liebe und Barmherzigkeit! Von Tyrus entstammte die schöne Prin-
zessin Dido, die geniale und vielbesungene Gründerin Karthagos. Da wälzte im
VI. Jahrhundert v. Chr. Nabukadnezar, der babylonische König, seine enormen
Heeresmassen nach Israel, Juda, Phönikien und Jerusalem, Sidon, Tyrus, letzteres
nach 13jähriger Belagerung, verfallen insgesammt der Zerstörung. Mit den
Residenzen theilten Tripolis, Berytos (das heutige Beirut) und andere blühende
Städte das gleiche Schicksal.
Aus der Verwüstung erstehen neue Wohnsitze, aber auch diese werden
zwei Jahrhunderte später durch den Perserkönig Artaxerxes III. und durch
Alexander den Grossen vernichtet.
Sidon (Saïda) spielte noch während der Kreuzzüge eine Rolle, allein heute
erinnert nichts mehr an den unvergleichlichen Glanz seiner Vergangenheit.
Tyrus, das heutige Sur, war aber für ewige Zeiten untergegangen, wie
Babylon und Ninive, deren gigantische Ruinenfelder das Geheimniss der Vergan-
genheit hüten. So fielen auch Baalbeck (Heliopolis) auf der Wasserscheide zwischen
Orontes und Leontes und sein weltberühmter Sonnentempel in Schutt und Asche,
um nie mehr aufzuerstehen.
Der Vernichtung einer ganzen Culturwelt folgten neue Schöpfungen, die
unter der Gunst der Lage und des natürlichen Bodenreichthums erblühten.
Seleukos Nikator war 300 v. Chr. der Begründer des prächtigen Antiochia im
Orontesthale, der Hauptstadt Syriens und des grossen Reiches der Seleukiden.
Fünfzehn Jahrhunderte lang behauptete die mächtige Residenz Ruhm und Glanz,
besonders zur römischen Kaiserzeit, in welcher Antiochia zu einer Bevölkerungs-
zahl von 500.000 Einwohnern anwuchs. Berühmt durch die Pflege antiker theolo-
gischer Wissenschaften, war die Stadt auch Sitz mehrerer Kirchenversammlungen.
Auch diese Stätte des Reichthums und der Kunst versank unter dem An-
sturm der Feinde. Die Perser (541 n. Chr.), die Saracenen, die Kreuzfahrer (1098),
dann neuerdings die Saracenen (1269), welche auch ganz Palästina unterjochten,
hatten den Untergang Antiochias besiegelt, und die Osmanen, die im XVI. Jahr-
hundert hier zur Herrschaft gelangten, hatten der Vernichtung nicht vorgebeugt.
Das heutige Antakijeh, eine Stadt von etwa 20.000 Einwohnern, inmitten
eines riesigen Ruinenfeldes, zeigt uns den Ort, wo einst die herrliche Königin des
Ostens, Antiochia Epidaphnes, sich erhob.
Aus der ältesten Zeit vererbte sich der schon zu Salomon’s Regierung ge-
nannte Name Damaskus unverändert auf die Gegenwart. Die in einem fruchtbaren
Thale glücklich gelegene Stadt erhob sich stets verjüngt aus hundert Stürmen
zu einer höheren Blüthe und mit Recht ist sie von den Morgenländern als die
„paradiesduftige“, als das „Muttermal an der Wange der Welt“ und als das
schönste der irdischen Paradiese gelobt. Dagegen bedeckt die Stätte der in völlig
mythischem Ruf bekannten Palmenstadt Tadmor (Palmyra) seit mehr als einem
Jahrtausend ein weites Trümmerfeld, das neuerer Zeit die Aufmerksamkeit der
Archäologen auf sich gelenkt hat.
Unter der türkischen Herrschaft lebten an Stelle der zu Grunde
gegangenen Emporien andere Städte auf, die, wenngleich sie den
Glanz und die Grösse der ersteren zu erreichen nicht im Stande waren,
[232]Das Mittelmeerbecken.
immerhin von hoher Bedeutung im Verkehrs- und Culturleben der Gegen-
wart sind und eine nähere Beachtung an dieser Stelle rechtfertigen.
Zu diesen Städten zählten neben Damaskus noch Aleppo (Haleb)
und Beirut, die wichtigste an der ganzen syrischen Küste und zu-
gleich Hafenstadt von Damaskus.
Berytus, „die Brunnen“, jetzt Beirut, hatte in der phönikischen
Zeit keine besondere Bedeutung. Gleich allen anderen Städten Phö-
nikiens nimmt sie ein hohes Alter für sich in Anspruch. Um 140
v. Chr. wurde sie von den Feinden, 528 n. Chr. durch ein grosses
Erdbeben zerstört. Augustus hatte sie zur Militärcolonie und zum Hafen
von Damaskus gemacht, damals war sie eine unbedeutende Ortschaft.
Erst im Beginne der Kreuzzüge wurde Beirut wieder zu einer blühen-
den Handelsstadt, eine Station der Venetianer und Marseiller, die sich
auch als muhammedanische Stadt, deren frühere christliche Bewohner
meist nach Cypern geflohen waren, trotz vieler vernichtender Schläge
behauptete, weil sie für Damaskus der am nächsten gelegene See-
hafen war.
In den letzten 30 Jahren erwuchs sie zu einer ungeahnten Be-
deutung. Keine grössere Stadt des türkischen Orientes hat in den
letzten Jahrzehnten eine so rasche Zunahme der Bevölkerung und
der Verkehrsbeziehungen aufzuweisen, wie Beirut. In den Sechziger-
jahren zählte die Stadt nur etwa 25.000 Einwohner. Sie verdankt ihr
rasches Anwachsen zunächst einem traurigen Ereignisse, der Christen-
verfolgung in Damaskus im Jahre 1860. Die Christen flüchteten aus
dem Innern Syriens in grosser Zahl nach Beirut und die Ein-
wohnerzahl der Stadt stieg bis auf 120.000. In demselben Jahre
wurde von Franzosen die Strasse von Beirut nach Damaskus gebaut.
Jetzt mag Beirut 85.000 Einwohner haben. Von diesen sind die
Hälfte Griechen.
Wir schalten nun hier wieder eine reiche Folge anmuthiger
und fesselnder Schilderungen von Beirut und Damaskus aus den
Reiseerinnerungen Ihrer kaiserlichen und königlichen Ho-
heit der durchlauchtigsten Frau Kronprinzessin Erzherzo-
gin Stephanie ein, deren meisterhafte Darstellung uns Land und
Leute in anschaulicher Plastik vorführt.
Die syrische Küste war (am 3. März 1885) bei Morgengrauen in
Sicht gekommen; die kaiserliche Yacht steuerte gegen Beirut.
Das Tagebuch Ihrer kaiserlichen Hoheit widmet den auf syri-
schen Boden empfundenen Eindrücken die nachfolgenden farbenschö-
nen Partien:
[233]Beirut.
3. März. — „Seit dem verflossenen Jahre, als ich zum erstenmale
asiatischen Boden betreten hatte, zog es mich mächtig nach dem
Orient hin. Nun konnte ich mich einer kaum zu beschreibenden Freude
hingeben, denn in wenigen Augenblicken sollte mein lang gehegter
Wunsch in Erfüllung gehen.
„Herrlicher Sonnenschein, tiefblauer Himmel, warmes Wetter,
spiegelglatte See erwarteten mich am Verdeck. Die Sonne beleuchtete
mit ihren ersten Strahlen die Gebirgskette des Libanon, dessen höchste
Spitzen, Djebel Makmal und Sannin, noch mit Schnee bedeckt waren.
In duftigen Nebelschleier gehüllt, begrüssen uns die Minarets von
Beirut.
Beirut; erst als wir auf der Rhede angelangt waren und vor Anker
gegangen, lichtete sich der Nebel, um uns ein herrliches Panorama
zu enthüllen. In prachtvoller Lage unmittelbar am Meeresufer zu Füssen
des Libanon amphitheatrisch an einem Bergeshange aufgebaut, dehnt
sich die dichte malerische Häusermasse der Stadt aus und bietet
unserem Auge ein überaus fesselndes Bild. Schlanke Minarets, echt
orientalische Dörfer mit runden Kuppeldächern, schöne Palmen, villen-
artige Gebäude, von blühenden Gärten umringt, unterbrechen das
gelbliche sandige Gestade der weiten Einbuchtung nördlich der Stadt.
„Bald nach unserer Ankunft umgaben zahlreiche türkische und
arabische Boote, deren Insassen uns ihre Waaren feilboten, unser
Schiff. Nach beendetem Frühstück kam der Consul Herr Schulz an
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 30
[234]Das Mittelmeerbecken.
Bord und um 8½ Uhr bestiegen wir unser Boot, um die Stadt zu
besuchen; bald hatten wir den Molo erreicht. Zwei verfallene Thürme,
auf vorspringende Felsen gebaut, erheben sich am Eingang des alten,
nur für Boote zugänglichen Hafens. Am Landungsplatz umringt uns
eine bunte Menschenmenge; türkische Truppen sind aufgestellt, der
Generalmarsch wird geblasen und ins Gewehr getreten. Nun gingen
wir einige steile Stufen hinauf, durch ein altes Thor in die erste Gasse
und befanden uns inmitten der Stadt, umgeben von dem anziehenden,
malerischen, echt orientalischen Leben und Treiben, welches Einige
von uns schon kannten, während die Anderen entzückt, aber doch
erstaunt die wunderbare Welt des Ostens betrachteten, besonders als
wir den Bazar durchschritten. Näselnde Derwische, feilschende Käufer
und Verkäufer in weiten Gewändern und bunten Turbanen, heulende
herrenlose Hunde, arabische Pferde, schwerbeladene Kameel- und
Maulthierkarawanen, Gesang, Geschrei, pechschwarze Neger, ver-
schleierte Frauen, viele Krüppel und Bettler, verschiedenartiges Völker-
gemisch, und das Alles übergossen von dem zauberhaft klaren Lichte
der Sonne des Südens, umgeben von der Vegetation des Ostens in
einem prächtigen Klima; das sind Bilder, wie sie nur der wahre Orient
in seiner malerischen Unordnung hervorbringen kann. Nach der Be-
sichtigung des Bazars unternahmen wir eine Fahrt zwischen Gärten
und dichten Hecken, Landhäusern und Feldern nach dem durch seine
Vegetation berühmten, am steilen Ufer eines Gebirgsflüsschens am
Fusse der Vorberge gelegenen Garten Rustem Pascha’s.
„Mit einem Umweg durch einen hübschen Pinienwald, dessen
dunkles Grün herrlich absticht von den röthlich-gelben Sanddünen,
gelangten wir wieder in die Stadt und besuchten noch einen im
Christenviertel, nahe der amerikanischen Schule gelegenen Aussichts-
punkt.
„Der Nachmittag ward zu einem zweiten Ausfluge benützt. Auf
der kurzen Strecke vom Schiffe zum Lande hatten wir mit vielen
Schwierigkeiten zu kämpfen; die Fahrt war keine der ruhigsten. An
der syrischen Küste pflegt bei schönem Wetter der „imbatto“ (Seebrise)
sich zu erheben, den wir auch kennen lernen sollten.
„Unsere Matrosen zeichneten sich durch unermüdliches Rudern,
grosse Ausdauer und Geschicklichkeit aus. Das Boot wurde von den
Wellen erfasst, welche es einen Moment hoch emporhoben, um es im
nächsten tief hinabzuschleudern. Nun hatten wir nach all dem Drang-
sal das Ufer erreicht, bestiegen die Wägen, und nochmals die Stadt
[235]Beirut.
durchfahrend, rollten wir dann inmitten reizender Gartenlandschaften
durch einige maronitisch-christliche Ortschaften, die sich sehr pitto-
resk am Fusse der Berge bis unmittelbar an die Dünen des Meeres-
ufers hinziehen. In Ab-Lias angelangt, an der Mündung des Nahr-
el-Eb, gingen wir am Strand spazieren; der starke Wellenschlag
daselbst fordert völlig zu einem Vergleich mit den Dünen der Nord-
see und des Atlantischen Oceans heraus. Für einen Badeort wäre hier
der geeignetste Platz.
„Wir sammelten Muscheln und ich erkannte dieselben Gattungen,
welche ich schon an der belgischen Küste gefunden hatte. Ich glaubte
mich dorthin versetzt, als eine Gruppe Kameele, von Arabern geführt,
durch den Sand einherziehend, mich erinnerte, dass ich in Syrien
mich befände. Einem der Führer liessen wir ein Backschisch reichen,
damit er das ‚Schiff der Wüste‘ in Trab versetze, doch diese Bewe-
gung schien das Thier sichtlich unangenehm zu berühren. Während
der Heimfahrt durch die von den Strahlen der untergehenden Sonne
in schöne Farben getauchten Gegend genossen wir die milde, aromatische
Abendluft und ergötzten uns an dem lebhaften Menschengewoge in
den Strassen von Beirut .....“
Die nächsten Tage waren einer Reise nach Damaskus ge-
widmet. Hierüber enthält das Tagebuch Ihrer kaiserlichen Hoheit die
nachfolgenden interessanten Erinnerungen:
„4. März. — Um 7 Uhr setzte sich die kleine, aus sympathi-
schen Elementen zusammengesetzte Reisegesellschaft in Bewegung. Der
herrlichste Frühjahrsmorgen entfaltete bald alle seine Reize, denn zu-
sehends sank der dichte Nebel, der die Gipfel des Libanon umhüllte.
Nun stieg goldig die siegreiche Morgensonne am wolkenlosen Himmel
empor. In Beirut angelangt, benützten wir die guten Wagen und
Pferde der französischen Libanon-Diligence-Gesellschaft, mit welchen
wir die zweitägige Fahrt nach Damaskus antraten. Zwischen von
Cacteenhecken umsäumten Feldern, an vielen grünenden Gärten und aus-
gedehnten Maulbeerpflanzungen vorbei, deren Eintönigkeit hohe Pal-
men wohlthuend unterbrechen, wendet sich der Weg durch einen Pi-
nienwald dem Gebirge zu. Auf der Strasse ist die Garnison von
Beirut aufgestellt, welche unter den Klängen des türkischen Marsches
die Ehrenbezeigungen leistet. Die bis zum Fusse des Libanon mitge-
kommene reguläre Cavallerie bleibt hier zurück, und dann bilden Li-
banon-Zaptiehs die Escorte.
„Unseren Blicken entschwindet nach einigen Minuten das culti-
virte Land, an dessen Stelle tritt eine steinige Einöde, von Zeit zu
30*
[236]Das Mittelmeerbecken.
Zeit unterbrochen durch tiefliegende Thäler, deren reizende Landschaften
hier unser Auge doppelt erfreuen und überraschen. Zwischen diesen
grossartigen Felsmassen erwartet man nicht, belebte, meist von Maro-
niten bewohnte Dörfer zu sehen, vor denen sich grüne Matten er-
strecken, durchzogen von sprudelnden Gebirgsbächen. Der Gouverneur
des Libanon scheint grosse Summen auf die Instandhaltung der Strasse
zu verwenden, denn letztere ist trotz der grossen Schwierigkeiten,
welche das steinige Terrain verursacht, mit vieler Sorgfalt gehalten.
Für den Handel ist sie sehr wichtig als eines der wenigen Verkehrs-
mittel zwischen den syrischen Hafenstädten und Damaskus.
„Nach den ersten Stationen, wo wir uns nur kurz aufhielten, um
Pferde zu wechseln oder sie ausruhen zu lassen, entfaltete sich das
Panorama bei jeder Biegung des immer mehr ansteigenden Weges
herrlicher. Tief unten schimmerte uns das blaue Meer und Beirut ent-
gegen, umsäumt von den im Nebel fast verschwindenden Ufern. Nach
einer fünfstündigen Fahrt liess uns der treffliche Reiseunternehmer
Howard an einem schönen Anssichtspunkte halten, um das gut be-
reitete Frühstück serviren zu lassen, welches wir in einem Zelte ein-
nahmen.
„Bald wurde aufgebrochen; wir nähern uns grossen Schneefel-
dern, die sich bis hart an die Strasse erstrecken, welche ziemlich
einsam ist. Nur selten ziehen schwer beladene Maulthier- und Kameel-
karawanen, gewöhnlich von Maroniten geführt und bewacht, an uns vor-
über. Diese Einwohner des Libanon sind Christen und gehören der katho-
lischen Kirche an. Eigenthümlich ist es, bei diesen in orientalischer
Tracht gekleideten Leuten blonde Haare, blaue Augen, gerade Züge
und trotzdem auffallend semitischen Ausdruck zu finden. Ihre Sprache
ist gegenwärtig die arabische, denn die maronitische ist nur mehr in
Kirchenbüchern anzutreffen. Mit den Drusen und Metualis bilden die
Maroniten die einzige Bevölkerung des Libanon, sind aber harmloser
als die ersteren, deren wildes Wesen allgemein gefürchtet ist.
„Wir hatten kaum den Kamm des Gebirges erreicht, als plötz-
lich eine interessante Erscheinung auftauchte. An uns vorbei schreitet
eine hohe Gestalt mit majestätisch erhobenem Kopfe, dessen wunder-
bare Züge uns mächtig anziehen. Man liest die Verachtung darin,
welcher der Träger derselben gegen die Christen hegt; aus dem
düsteren Ausdruck der dunklen Augen leuchtet der Fanatismus des
eingefleischten Moslims entgegen. Es ist Scheich Sali, ein frommer
Derwisch aus Damaskus, welcher im Jahre 1877 in den Reihen seiner
Glaubensgenossen tapfer gegen die Russen kämpfte.
[237]Beirut.
„Jetzt hatten wir die Passhöhe erreicht und befanden uns
1780 m über der Meeresfläche. Von hier überblickten wir den zurück-
gelegten Weg. Nach einer starken Wendung zwischen schön geformten
Felsen entrollte sich unserem erstaunten Blick ein neues wunderbares
Bild. Zu unseren Füssen liegt das fruchtbare breite Thal der Bekaa,
begrenzt von den Gebirgszügen des Anti-Libanon, überragt von der
grandiosen Gebirgsmasse des schneebedeckten Hermon. Zwischen nie-
deren Gebüschen, kleinen Laubwäldern rollen wir den grünen Fluren
des Thales entgegen, welches uns in dieser Steinwüste wie eine Oase er-
scheint und das wir um 5 Uhr Nachmittags erreichen. Die Zelte, welche
uns zum Nachtlager dienen sollten, waren schon aufgeschlagen. Nun ver-
liessen wir nach vielen Stunden die Wagen und begaben uns in das Lager.
„Wir hofften, uns in den Zelten erholen zu können, fanden
aber darin die Temperatur so hoch, dass wir es vorzogen, im Freien
zu verweilen. Mein Zeichenbuch war rasch zur Hand. Im Schatten
eines Zeltes mich bequem einrichtend, begann ich die malerischen
Punkte der schönen Gegend aufzunehmen. Eingeschlossen zwischen
den in prächtigsten Farbentönen prangenden Felswänden der mäch-
tigen Gebirgszüge, die in die tiefe Bläue des Himmels hineinleuchten,
bot die mit dem saftigen Grün frisch keimender Saat geschmückte
Ebene ein eigenartiges, überaus fesselndes Bild dar.
„Die Herren benützten den schönen Abend, um eine Streifung
in die nächste Nähe zu machen, wobei Rudolf einen Geier erlegte.
Wir Damen unterhielten uns während dieser Zeit, dem Treiben um
unsere Zelte zuzusehen; von den umliegenden Ortschaften hatten sich
einige Araber mit ihren Familien angesammelt. Wir fühlten uns voll-
kommen sicher, da unsere Escorte, die Tscherkessen, welche zur
Wache aufgestellt waren, uns vor jeder Zudringlichkeit schützten. Es
sind meist hohe schöne Männergestalten, vollkommen bewaffnet; zum
grossen Theile stammen diese Leute, die in Syrien sich angesiedelt
haben, aus der Dobrudscha und aus Bulgarien.
„Sobald die Sonne hinter den Bergen im Westen verschwunden
war, tauchten die Reflexe ihrer Strahlen die Bergspitzen in so dunkles
Roth, wie ich es bei dem Alpenglühen in unseren Heimatsgegenden
nie so intensiv gesehen hatte. Die Dämmerung und die rasch zuneh-
mende Kühle zwangen uns, den Schutz der gut eingerichteten Zelte
aufzusuchen, in welchen wir bald das Diner einnahmen, wobei es sehr
lustig zuging. Die Zusammenstellung des Menu war für die dortigen
Verhältnisse und die grosse Entfernung von jeder Stadt ganz bewun-
derungswürdig. Howard hatte das Unglaublichste geleistet. Wir liessen
[238]Das Mittelmeerbecken.
es uns gut schmecken, umsomehr als unser Appetit durch den viel-
stündigen Aufenthalt in der Bergesluft sich sehr geschärft hatte. Um
uns einen Begriff von der Weincultur des Libanon zu geben, hatte
der eingeladene Ingenieur Pschara Effendi ausgezeichneten ‚Vin d’or‘
serviren lassen. Nach beendeter Mahlzeit gingen wir alle in ein als
Rauchsalon eingerichtetes Zelt, um gemeinsam zu dampfen. Alle er-
denklichen Rauchrequisiten waren aufgestellt; auch ein Nargileh wurde
versucht. Später ward bei Fackelbeleuchtung ein eigenthümliches Spiel
aufgeführt. Zwei Türken tanzten auf die graziöseste Weise, indem sie
mit ihren Säbeln die merkwürdigsten Figuren hervorbrachten. Mit
eintretender Dunkelheit wurde es in unserem Lager ruhiger. Die Stille
der mondhellen Nacht unterbrach nur hin und wieder das Wiehern
der Pferde und das Heulen der Schakale.“
„5. März. — Freudig begrüssten wir den wiederkehrenden
Tag. Als wir erwachten, herrschte eisige Kälte. Frierend beendeten
wir unsere Toilette, um in Pelzen zu frühstücken. Um 7 Uhr wurde
die Weiterreise bei starkem Wind und umwölktem Himmel fortgesetzt.
Der Nahr el Litany, der Lcontes der Alten, wurde überschritten und
jetzt galt es, den Anti-Libanon zu erklimmen, der jedoch weit weniger
Schwierigkeiten bietet als sein höherer Vorgänger. An mehreren ma-
ronitischen Klöstern und Grabstätten vorbei zieht sich der Weg durch
die öden wilden Pässe des Anti-Libanon hin; nur spärliches Grün
gedeiht auf den gelbbraunen Felsen. Auch hier überholen wir Ka-
meelkarawanen, welche auf schmalem Pfade neben der Strasse in lan-
gen Reihen dahinziehen. Diesmal sind es Drusen, welche sie begleiten
und durch ihre grossen weissen Turbane auffallen. Die Gegend wird
einsam, nur in den kleinen Stationen Citernes, Khân Dimâs, in wel-
chen wir kurzen Aufenthalt nehmen, herrscht einiges Leben und Be-
wegung. Endlich als wir den gut gewählten Frühstücksplatz Khân
Meitheloûn erreicht hatten, war die Sonne aus dem Kampfe mit dem
Nebel und den Wolken siegreich hervorgetreten und senkte ihre
Strahlen unbarmherzig auf uns herab. Es that uns wohl, aus der
Hitze in einen Engpass zu gelangen, dessen hohe Wände der Sonne
nur selten Einlass gewährten. Während der ersten Nachmittagsstunden
durcheilen wir das Hochplateau von Sahra, von wo aus wir in der
Ferne die Wüstengebirge mit ihren eigenthümlich grellen Farben er-
blicken. Die Glut, mit welcher die Sonne während der mittleren
Tagesstunden auf die schattenlose Strasse niederbrannte, und das
blendende Licht, welches der gelbliche Kalkstein zurückstrahlt, wirkte
ermüdend und einschläfernd auf einige unserer Reisegefährten.
[239]Beirut.
„An die Hochebene schliesst sich ein tiefes Thal, begrenzt von
lothrechten Felsen; ein rauschender Bach durchschneidet mit seinem
klaren Gewässer die grünen Wiesen üppigster Vegetation. Es ist der
Barada, der im Gegensatze zu den meisten Flüssen des Orients nie
versiegt; er bildet in seinem reissenden Lauf viele kleine Wasserfälle.
Dem Flusse folgend, gelangen wir zum Dorfe Damar, dessen Lage
bezaubernd ist. Einen besonderen Reiz gewähren die mit Schling-
pflanzen bedeckten Landhäuser, welche inmitten blumenreicher Gärten
stehen. Die Schlucht, welche das Thal abschliesst, und die öden
Wüstengebirge verlassend, gelangen wir in die weite Ebene, von wel-
cher wir ein wunderbares Bild vor Augen haben. Ein blühender
Wall von Obstbäumen verbirgt uns noch die vielgepriesene Stadt.
Aus dem goldigen Duft, welcher darüber liegt, ragen die vielen
schlanken Minarets und die Kuppeln der Moscheen, welche uns die
Nähe von Damaskus verkünden. Mit Recht nennt der begeisterte
Dichter diese Stadt die ‚Perle des Orients‘. Nun durchfahren wir den
Wald, der leider noch nicht in seiner vollen Schönheit prangt, denn
noch fehlt den Bäumen der Schmuck des Laubes, aber aus dem dunklen
Geäste schimmern die Tausend und aber Tausend rosigen Blüthen
der Aprikosen, gemengt mit jenen der Mandelbäume. Je mehr wir
uns der Stadt näherten, desto belebter wurde die Strasse, auf welcher
eine bunte Menschenmenge wogte. Equipagen rollen an uns vorüber,
Reiter tummeln sich auf prächtigen Pferden und zahllose Fussgänger,
Männer wie Frauen, umgeben unsere Wägen und scheinen sich, an
den Ufern des Barada promenirend, des heiteren schönen Abends zu
erfreuen.
„Gegen 5 Uhr, an aufgestellten Truppen vorbei, durch das lär-
mende Gewühl der Menschenschaar hindurch, überschreiten wir den
Fluss und erreichen nach zweitägiger Fahrt unser Quartier, das Hôtel
Victoria, dessen Besitzer Pietro Paulovich aus Macarsca in Dalmatien
gebürtig ist. Das Hôtel ist ein einfaches, sauber gehaltenes zwei-
stöckiges Gebäude, welches bequeme Räumlichkeiten hat, darunter
einen grossen Saal, den gewöhnlichen Aufenthaltsort der Gäste. Von
diesem gelangt man auf einen Balcon, wo wir uns am ersten Abend
aufhielten, um das Leben auf Strasse und Brücke zu beobachten,
während die Herren noch einen Rundgang durch die Stadt machten.
Unter unseren Fenstern wogte und lärmte ein buntes Durcheinander
von Menschen verschiedener Nationen und Racen, deren fremdartiges
Aussehen den Abendländer immer von Neuem anzieht.
„So befanden wir uns also in der uralten Stadt Damaskus,
[240]Das Mittelmeerbecken.
welche ihren Namen von einem assyrischen König erhalten haben soll.
Erst im Jahre 64 v. Chr. kam sie unter römische Herrschaft, bald
darauf erfolgte innerhalb ihrer Mauern die Bekehrung des Apostels
Paulus. Zur grössten Blüthe gelangte die Stadt unter der Regierung
Moawiah’s, welcher Kunst und Wissenschaften lebhaft unterstützte und
den Handel derart hob, dass durch ihn viel Reichthum in das Land
gelangte. 1401 eroberte sie Timur Lenk, der grausame Mongolenfürst.
und liess sie zum grössten Theile zerstören. Die Türken gewannen
Damaskus im Jahre 1516 und behielten es bis auf die kurze Zeit
von acht Jahren, während welcher Ibrahim Pascha es in seiner Ge-
walt hatte.
„Um 7 Uhr nahmen wir das Diner in animirtester Stimmung ein.
Consul Bertrand war auch eingeladen und erklärte uns alle landes-
üblichen Gebräuche. Wir besichtigten die von Kaufleuten gebrachten
Geräthschaften und wählten einige schöne Stücke.“
„6. März. — Der 6. März, ein Freitag, welcher von den
Mohammedanern als ihr Sonntag gefeiert wird, brachte uns warmes
Wetter; aber schwere Wolken, deren baldiger Ausbruch zu befürchten
war, jagten, durch den seit den Morgenstunden herrschenden Wind
getrieben, dahin. Dieser Umstand verhinderte die Muselmänner nicht,
um allerwärts in bunten Gruppen durch die Strassen zu wandern oder
vor ihren Häusern Platz zu nehmen, wozu die hin und wieder zum
Vorschein kommenden Sonnenstrahlen einluden.
„Nach gemeinschaftlichem Frühstück wurde eine Fahrt durch
die Vorstadt Sabahijeh zum arabischen Friedhof unternommen. Zwi-
schen armseligen Häusern und einigen Gärten gelangten wir in das
öde Gebiet der steil abfallenden Wüstengebirge. Lohnend für die
Mühe des schlechten Weges ist der prachtvolle Blick auf die im
Golde der Sonne glänzenden Zinnen und Kuppeln der unvergesslichen
Stadt. Von dieser Anhöhe gesehen, begreift man, dass den Arabern
Damaskus als das Paradies auf Erden dünkt. Einige bunt durch-
einandergeworfene beturbante Grabsteine mit ihren Vergoldungen bil-
den die Staffage. Zu unseren Füssen aber dehnt sich die Metropole
innerasiatischen Lebens aus, deren Häusermeer schöne Moscheen, ele-
gante Minarets, winkende Palmen zieren und deren orientalischer
Charakter durch keine europäische Niederlassung gestört wird. Ein
zarter grüner Schimmer umgibt die eminente Karawanenstadt; tausende
von Aprikosen-, Mandel-, Pflaumen- und Kirschbäumen prangen im
vollen Blüthenschmucke. Eine ungeheure Ebene, welche bis zu den
Gestaden des Euphrat reicht, erstreckt sich jenseits der Stadt. Im
[241]Beirut.
Norden hingegen erhebt sich die Bergkette des Haurangebietes, be-
rüchtigt durch seine Beduinenstämme. Auch diese eigenthümliche
Landschaft besitzt einen unbeschreiblichen Farbenzauber.
„Nun kehren wir zur Stadt zurück, die einzelnen Viertel zu be-
sichtigen. Der erste Gang gilt dem Bazar, welcher den inneren Theil
derselben bildet. Obwohl er im Wesentlichen denen aller orientalischen
Städte gleicht, übertrifft er sie doch an Ausdehnung und Reichhaltig-
keit und gehört unstreitig zu den malerischesten. Die verschiedenen
Gewerbe und Fabricate, deren Auswahl grossartig ist, sind in be-
stimmte Gassen vertheilt, welche durch riesige alte Holzthore mit
antiken Eisenbeschlägen von einander geschieden sind. Die Buden
sind schrankartig gebaut, gegen die Gasse zu offen, so dass die
Handwerker ihre Arbeiten vor aller Augen verrichten. Die Werkzeuge,
deren sie sich dabei bedienen, sind grösstentheils sehr veraltet, desto
bewunderungswürdiger ist die Geschicklichkeit, mit der sie dieselben
handhaben. Holzgerüste, von denen schwere uralte Teppiche herab-
hängen, überdecken die Gassen. Es gibt einen prächtig magischen
Effect, wenn ein Sonnenstrahl verstohlen das Dämmerlicht durchdringt
und auf den bunten Waaren spielt. Fast alle Völker des Morgenlandes
sind hier vertreten und wogen rastlos und geschäftig in den engen
Gassen umher. Je weiter wir in diesem Labyrinth von Strassen und
Gässchen eindringen, desto dichter wird das Gewühl, so dass wir die
interessantesten Typen und verschiedensten Costüme genau beobachten
können. Neben einheimischen Arabern sehen wir Türken, Perser, in-
dische Pilger, echte Zigeuner, Derwische aus Bagdad, Leute aus Af-
ghanistan, Armenier, Kurden, Tscherkessen und Cirkassier, ferner
Araber aus Palästina und wundervolle Gestalten aus dem afrikanischen
Orient; ausserdem noch viele Mohren, blonde Maroniten mit fast nor-
dischem Aussehen, wilde Drusen, ganze Gruppen dunkelfärbiger Be-
duinen, jene lebhaften unheimlichen Gesellen aus dem Hauraugebiete
und der Umgebung von Damaskus, welche unsere Aufmerksamkeit
durch ihre herrlichen biegsamen Gestalten fesseln. Die Entschlossen-
heit, die gemessenen Bewegungen, das Selbstbewusstein, mit welchem
diese Söhne der Wüste herumwandeln, verleihen ihnen eine gewisse
unverkennbare Würde. Die meisten derselben sind hoch gewachsen, hager,
aber sehnig und musculös. Ihre schönen regelmässigen Gesichtszüge sind
scharf geschnitten und sie wären passende Modelle für Maler zu
Christusköpfen.
„Durch die breiteren Bazarstrassen schreiten gravitätisch lange
Reihen schwer beladener Kameele, eines an das andere gebunden,
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 31
[242]Das Mittelmeerbecken.
welche sich mühsam den Weg durch die Menge bahnen, ihr Nahen
durch kleine am Hals angeheftete Glocken verkündend. Ohne sich
von der lärmenden Umgebung beirren zu lassen, wandeln diese Thiere
zu einem der den Bazar umgebenden grossen Khane, wo sie ihre
Last ablegen; es sind dies mit aller Pracht arabischer Baukunst ge-
schmückte Höfe, welche als Waarenlager dienen. Der schönste, am
meisten Interesse bietende ist der Khan Assad Pascha’s. Man gelangt
in denselben durch ein reich verziertes Thor, ringsherum sind Galerien,
überwölbt von einer von vier Säulen getragenen Kuppel. Die Mitte
des Hofes nimmt ein Wasserbassin ein, um welches zwischen den
Gruppen eifrig handelnder Geschäftsleute Kameele am Boden lagern,
ernste Raucher auf niederen mit Teppichen bedeckten Holzestraden
kauern.
„Unser Weg führte weiter in die algierische Colonie, wo wir
zwei prachtvollen Gestalten begegneten. Sie waren auffallend durch
ihre classischen Züge und ihre weissen Gewänder; nachträglich er-
fuhren wir, dass es Verbannte seien, welche mit Abd-el-Kader kamen.
„Hierauf besuchten wir einige Wohnhäuser, ein christliches
‚Schamie‘, von Maroniten bewohnt, und ein jüdisches ‚Schâmaja‘,
dessen Inhaber sich noch nach der alten biblischen Tracht kleiden;
die Räumlichkeiten boten aber nichts Bemerkenswerthes. Einige Strassen
durchwandernd, an einer kolossalen Platane und an den Stadtmauern
vorbei, lenkten wir unsere Schritte dem Hôtel zu.
„Nach dem Déjeuner wurden uns zwei Mitbewohner vorgestellt.
Zu meiner Ueberraschung war es ein junges belgisches Ehepaar, wel-
ches auf der Hochzeitsreise begriffen war. Sie hatten Egypten be-
sucht, die Nilfahrt gemacht, waren nach Palästina gekommen und
von Jerusalem über Land auf guten Pferden nach Damaskus. Der
Gatte ist ein reicher Fabriksbesitzer aus Antwerpen, die jugendliche
Frau aus Lessines. Er war mir nicht unbekannt, da ich ihm wäh-
rend meiner Reise nach Spanien und Frankreich im Jahre 1874 in
Biarritz begegnet war. Ausserdem wohnten noch ein Deutscher aus
Leipzig und zwei höfliche Engländer im Hôtel Victoria.
„Wir fuhren hierauf abermals in den Bazar, um uns zu der
grossen Moschee El Amûjè zu begeben, welche an der Stelle der von
Kaiser Heraklius erbauten Kirche St. Johannes des Täufers sich erhebt.
Da es eben Sonntag war, bot die Moschee ein sehr bewegtes Bild;
wir durchschritten sie schleunigst, um die Gläubigen in ihrer Andacht
nicht zu stören, in die sie ganz vertieft waren. Die einen rollten
eifrig die Perlen ihrer Gebetschnur zwischen den Fingern, während
[243]Beirut.
die anderen aufmerksam den verkündeten Sprüchen des Korans
lauschten. Wir gelangten in den viereckigen mit Marmor getäfelten
Hof; die ihn umgebenden Arcaden sind zum Theil von korinthischen
Säulen, zum Theil nur von Pfeilern getragen. Einige Indier hockten
in den Ecken des länglichen Hofes. Während die Herren sich bei
den Dreh-Derwischen aufhielten, gingen wir Damen nochmals durch
den Bazar und zum Hôtel zurück, wo sich alle um 7 Uhr zum Diner
einfanden.
„Nach demselben harrte unser ein ganz besonderes Schauspiel,
welches einigen der Mitreisenden Grauen einflösste. Es traten in
unseren Kreis einige Türken, bekannt als Feuer- und Schlangenfresser
und Schlangenbändiger. Zur Production entledigten sie sich der Ober-
kleider. Sie hatten eigenthümliche, lang zugespitzte Waffen mit einem
Kolben am Ende, welche sie sich durch Magen, Wangen und Brust
stiessen. Nach dem Experimente des Durchstechens der Wange steckten
sie zu beiden Seiten des Spiesses brennende Kerzen. Nun legte sich
der eine mit dem Magen auf die Schneide eines krummen Schwertes,
während der andere sich auf dessen Rücken stellte. Einige der Waffen
erwarben wir als Erinnerung an die schaurige Stunde. Jetzt kam die
Reihe an die Schlangenfresser. Die Schlangen wurden entzweigeschnitten
und die noch zuckenden Stücke unter Beschwörungsformeln in den
Mund gesteckt. Unter Krämpfen und Zittern des ganzen Körpers
würgten und zerbissen sie die einzelnen Stücke, so dass die Fetzen
der Haut zu beiden Seiten des Mundes herunterhingen. Der Anführer
blies einige Schlangenfresser unter Gemurmel an, worauf sie sich
beruhigten. Einige steckten auch glühende Kohlen in den Mund und
behielten sie bis zum Erlöschen. Mit diesen unglaublichen Kunst-
stücken beendeten sie ihre unvergesslichen Productionen.
„Um 9 Uhr fuhren wir bei herrlichem Mondschein und funkeln-
dem Sternenhimmel durch die schlummernden Strassen des finsteren
Bazars, dessen einzelne Abtheilungen während der Nacht durch rie-
sige Thore geschlossen werden. Unheimliche Stille herrschte darin,
nur zeitweise unterbrochen durch das Geheul der herrenlosen Hunde.
Die Wächter, die in diesen Gängen sich bewegen, sind die einzigen
Menschen, denen man zu so später Stunde hier begegnet. Nach drei-
viertelstündiger Fahrt hatten wir das christlich-orientalische Haus des
österreichisch-ungarischen Consuls erreicht, in welchem ein von ihm
inscenirtes Fest stattfand. Bei demselben tanzten Frauen ganz eigen-
thümliche Tänze unter Begleitung von näselndem Gesang und ganz
urwüchsigen Instrumenten. Gegen 11 Uhr verabschiedeten wir uns und
31*
[244]Das Mittelmeerbecken.
traten den Heimweg an. Dieser Tag endete so schön als er begonnen
hatte, mit einer Fülle herrlicher Eindrücke.“
„7. März. — Die Stunden bis zu dem Diner benützten die
Herren zu einem Jagdausfluge, bei welchem sie von dem Wetter sehr
begünstigt waren. Wir Damen und einige der Herren als Begleitung
setzten die Besichtigung der Stadt fort. Zuerst frühstückten wir ge-
meinsam, dann beschäftigte sich jeder auf seine Art. Die Corre-
spondenzen wurden erledigt, jedoch mit vielen Unterbrechungen und
Zerstreuungen. Wir wurden dann auf den Balcon gerufen, um die vor-
überziehenden zwei Beduinenstämme zu sehen, welche eigens aus ihrer
Heimat gekommen waren. Auf kleinen, mageren, aber schnellen Pfer-
den waren sie beritten und begannen nun eine ‚Phantasia‘ aufzuführen,
welche allmälig einen leidenschaftlichen Charakter annahm. Während
sie gegen einander anrückten, stürzte plötzlich einer ihrer Anführer
und kurz darauf fiel ein Pistolenschuss. Dies genügte, um unter ihnen
einen lebhaften Streit anzufachen, welcher gewiss ernste Folgen nach
ich gezogen hätte, wenn nicht türkische Soldaten und Polizisten ein-
geschritten wären. Bei dergleichen Kampfspielen entwickeln Reiter
und Pferde eine bewunderungswürdige Geschicklichkeit. Im tollsten
Kampfe, von Zeit zu Zeit Schreie ausstossend, jagt einer von dem
anderen verfolgt über die unebene Fläche, durch kühne Manöver dem
nahenden Feinde ausweichend, ohne die Gangart des Pferdes zu
mässigen. Die Flinte von der Schulter reissend, um sie auf den Ver-
folgenden abzufeuern, aber von diesem eingeholt, wendet er sein Pferd
auf dem Fleck und greift nun seinerseits den Gegner an. Dann trennen
und ordnen sich die Reiter und von neuem beginnt das kühne Spiel.
Es war ein Vergnügen, die schönen Pferde zu beobachten, wie sie
schnaubend und mit weit geöffneten Nüstern dahinflogen. Die Klei-
dung dieser Beduinen besteht meistens in einem grauen, blauen oder
weissen Untergewande, das bis über die Knie reichend, in der Taille
durch einen Ledergurt gehalten wird und weite, lang herabhängende
Aermel hat. Bei dem Anführer ist dieses Gewand roth und weiss.
Darüber kommt eine Art Burnus, ‚Abâje‘ genannt, welche aus wolle-
nem, meist weiss und braun gestreiftem Zeug gefertigt und mit Ka-
puze versehen ist. Auf dem Kopfe ist ein einfaches dunkelfärbiges,
gelbes oder braunes Tuch, ‚Kuffieh‘, geworfen, welches mit einer dop-
pelten Schnur aus Kameelhaaren befestigt wird und die ernsten Ge-
sichter trefflich kleidet. Bewaffnet sind diese stets kampfbereiten Söhne
der Wüste mit einer langen Lanze, die sie mit ausserordentlicher Ge-
schicklichkeit, während sie im Galopp umhersausen, zu handhaben
[245]Beirut.
wissen. Der Schaft der Lanze besteht aus Rohr, unterhalb der Stahl-
spitze ist ein dickes Büschel Straussenfedern angebracht. Ausserdem
tragen sie noch einen Säbel sowie Pistolen und Dolchmesser im Gürtel.
„Rings um die Moschee, auch Omniadenmoschee genannt, ver-
zweigt sich das Gassennetz des Bazarviertels, welches wir gegen
10 Uhr durchwanderten, um an unser Ziel zu gelangen. An diese
Moschee, die grösste von Damaskus, schliessen sich drei Minarets
von verschiedenem Style an, deren ältestes durch den Khalifen Welid
errichtet worden ist. Das Thor, welches den Eingang bildet, ist wun-
dervoll und deutet auf eine einstige Blüthe der Baukunst, von der
leider wenig mehr geblieben ist. Hier erschien der Aufseher mit den
vorschriftsmässigen Pantoffeln, ohne welche man den geheiligten Raum
nicht betreten darf. So ausgerüstet, gingen wir zwei Reihen antiker
Säulen entlang, welche drei Schiffe bilden, immer auf den über die
Marmorfliesen ausgebreiteten kostbaren alten Teppichen. Viele Lampen
hängen herab und an den Wänden bemerken wir mit grossen Buch-
staben bezeichnet die Namen der vier ersten Khalifen, ferner Koran-
sprüche, die an den drei Seiten und den Knäufen der Säulen ange-
bracht sind. An der südlichen Mauer zeigt uns eine Reihe hoher
Rundbogenfenster schöne Glasmalereien. Unmittelbar darunter sind in
der Richtung gegen Mekka Gebetnischen angebracht. In einem der
Seitenschiffe erhebt sich ein hölzernes vergoldetes Kuppelgebäude, in
welchem sich das Haupt Johannes des Täufers befinden soll; über
der Kuppel prangt ein goldener Halbmond. In der Nähe macht sich
eine schöne Kanzel bemerkbar. Einen Blick werfen wir noch in den
Hof, wo nur wenig Menschen, meistens Krüppel und Kranke, sich
bewegen. Das Gebethaus verlassend, durchschreiten wir den Schreiner-
bazar mit seinen mit Perlmutter eingelegten Holzarbeiten, an dessen
Ende sich das schönste alterthümliche dreitheilige Thor ‚Bâb Djêrûn‘
befindet. Das Mittelportal ist mit reichen Arabesken geziert. Einige
Stufen tiefer ein aus dem Jahre 1020 stammender Springbrunnen mit
dichtem Strahl. In der Nähe zeigt man Saladin’s Grab, ein schönes
Mausoleum.
„Wir wollten Damaskus nicht verlassen, ohne das Innere eines
arabischen Privathauses gesehen zu haben. Die fast märchenhafte
Pracht wirkt um so überraschender, als sie sich von aussen durch
nichts verräth. Von dem Hausherrn freundlich empfangen, folgten wir
ihm in einen luftigen, weiten, ganz mit Marmor getäfelten Hof, dessen
Anblick meine Erwartungen übertraf. Von den gleichfalls mit weissem
Marmor bekleideten Gebäuden, welche den Hof umgeben, strahlte
[246]Das Mittelmeerbecken.
uns eine solche Lichtfülle entgegen, dass wir ganz geblendet waren.
Es lässt sich kaum etwas Anmuthigeres denken, als dieser Hof, der
zugleich der lieblichste Garten ist. Unter dem lachenden tiefblauen
Himmel blühten in marmorumrandeten Beeten die farbenreichsten Blu-
men, beschatteten fruchtbeladene Citronen- und Orangenbäume munter
plätschernde Fontainen und umrankten üppige Schlingpflanzen die
lauschigsten Raheplätzchen. Uns Damen war es gestattet, in den Ha-
rem einzutreten, in welchem zehn Frauen uns auf das liebenswür-
digste empfingen. Das Zimmer, welches sie bewohnen, liegt etwas
erhöht über dem Niveau des Hofes, bildet eine hohe geräumige Nische;
längs den Wänden sind schwellende Divans angebracht. Wir liessen
uns zu kurzer Rast nieder und wurden mit Kaffee, Limonade und
Cigaretten, orientalischer Sitte gemäss, bewirthet. Für die Gastfreund-
schaft dankend, gingen wir in einen Seitenflügel, dessen Räume leider
verfallen sind. Prächtige alte persische Teppiche bedecken den Boden,
hochgepolsterte Divans, vor welchen niedere Tische stehen, ziehen sich
an den Wänden hin, welche mit arabischen Sprüchen in Marmor-
mosaik geschmückt sind. Das Holzwerk der Möbel ist mit Perlmutter
ausgelegt. Chinesisches Porzellan, das hier ein sehr beliebter Schmuck
zu sein scheint, ziert die Ecken. Ein wundervolles Gemach wurde
uns gezeigt, inmitten dessen ein kristallklarer Wasserstrahl in einer
Marmorschale spielt. Die Wände sind theils mit bemalter, theils mit
vergoldeter Boiserie versehen, der Plafond ist reich cassettirt, gleich-
falls mit bunten Farben und Vergoldung geziert.
„Von hier aus durchwanderten wir verschiedene sehr belebte
Bazarstrassen; an vielen Kaufläden vorüber, bemerken wir auf offenen
Tischen die grünlich aussehende ‚Henna‘, womit die arabischen Frauen
ihre Fingernägel roth färben. Auch Rosenöl wird in kleinen Fläsch-
chen den Vorübergehen feilgeboten. Besonders Nachmittags drängen
sich viele Frauen heran, mysteriöse Gestalten, in weisse Tücher ein-
gehüllt, den dünnen, geblümten Schleier vor dem Gesichte, aus dem
manchmal ein paar grosse, schwarze, feurige Augen mit einem leisen
Zug der Wehmuth neugierig hervorschauen. Durch das Getümmel
bahnen sich Reiter und Reiterinnen, Träger mit Orangen, Citronen,
Datteln, Rosinen, Aprikosen oder mit anderen Erfrischungen den Weg.
Sie tragen einen zweihenkligen, weit- oder enghalsigen thönernen
Krug oder ein Glasgefäss auf dem Rücken; in den Händen halten sie
messingerne Tassen, mit denen sie klappern, dazu rufen sie ihre
Waaren aus; zu diesem Lärm gesellt sich noch der näselnde Gesang
der Bettler.
[247]Beirut.
„Aus dem Bazar an der alten Citadelle vorüber, gingen wir
nach Hause. Wir setzten uns auf den Balcon und bewunderten die
Abendbeleuchtung, als plötzlich von den in goldene Glut getauchten
Minarets die hohe Stimme der Gebetausrufer zum Glaubensbekenntnisse
ertönte. Um 6 Uhr kehrten die Herren zurück, wenig befriedigt von dem
jagdlichen Erfolge; jedoch der Ritt und die interessante Gegend
hatten ihnen den Mangel an Wild ersetzt.
„Nach dem Diner wählten wir zusammen unter den gebrachten
Waaren hübsche Gegenstände aus; werthvolle Teppiche, geschmack-
volle Goldstickereien, zierlich mit Perlmutter ausgelegte Tischler-
arbeiten und graziösen Filigranschmuck. Um 10 Uhr zogen wir uns
zurück, während wundervoller Mondschein unser Zimmer erhellte.“
„8. März. — In aller Frühe bei einem wahrhaft magischen
Sonnenaufgang weckte uns der Lärm auf der Strasse aus wohlthäti-
gem Schlummer. Nach dem Frühstück um 7 Uhr fuhren wir in die
Franziskanerkirche, um eine Messe mit Orgelbegleitung zu hören.
Nach Beendigung des Gottesdienstes traten wir die Rückreise nach
Beirut an. Damaskus zeigte sich heute im vollen Glanze seiner Schön-
heit und Grossartigkeit, als wollte es uns den Abschied erschweren.
Die milde Luft, der köstliche Duft, der den Blüthen entströmte, die
zarte Beleuchtung der hochragenden Minarets, die sich so scharf von
dem tiefblauen Himmel abgrenzten, die belebten Gassen, dies alles
liess mir einen tiefen, für immer unvergesslichen Eindruck zurück.
Meine Blicke verfolgten so lange als möglich die allmälig verschwin-
dende Stadt; die paar Tage, welche ich in ihr zugebracht hatte,
erschienen mir jetzt so recht wie ein Traum aus Tausend und einer
Nacht....“
Nur einen kleinen Abschnitt der Küste Syriens, etwa 350 km,
hatten die alten Phönikier in Händen. Auf der ganzen Strecke von
der Bai von Alexandrette bis zum Berge Karmell dringen die Rücken
mächtiger Bergwälle, der westliche Abfall des Libanon, bis ans Meer
vor, und zwischen ihnen sehen wir nur schmale Streifen Landes bogen-
förmig gegen die See hin eingebuchtet. Immer wieder erneuert sich dieses
Bild. Oft ist längs der Küste nicht Raum für eine Strasse, die Be-
wohner der verschiedenen kleinen Ebenen konnten ohne Zeitverlust
nur auf dem Seewege mit einander verkehren. Kleine, dem Festlande
vorgelagerte Inseln boten ihnen sichere Zufluchtstätten vor den Fein-
den, welche durch die flachen Einsenkungen im Kamme des Libanon
[248]Das Mittelmeerbecken.
eingedrungen waren. Das Meer war ihr Retter, seine Gestade bildeten
in der Folge den Schauplatz der Handelsthätigkeit, den Standplatz
ihrer Colonien, der „Menschen von röthlicher Farbe“, wie der Name
der Phönikier ausdrückt. Sie lenkten mit bewundernswerther Energie
den Handel der östlichen Culturstaaten, Babyloniens, Assyriens, Per-
siens und selbst den des damals sagenhaften Indiens über ihre Küsten.
Von den Gestaden des Mittelmeeres brachten sie in der ersten Zeit
Sklaven und Schafwolle und beschenkten die wenig entwickelten
Völker mit ihrer hochentwickelten Cultur. Eine grosse Fabriksthätig-
keit vermehrte neben dem Handel ihre Städte. In der That, die Phö-
nikier waren die Engländer des Alterthums. Sie waren das erste Volk,
welches sich von seiner Scholle freiwillig trennte, in der Ferne Colo-
nien gründete, die immer ein fremdes Element unter den umgebenden
Völkern bildeten, weil der Phönikier, wie der Engländer in unseren
Tagen, auch in der Fremde nie seine Eigenart aufgab.
Der veränderte Zug des Welthandels, welchen Alexander der
Grosse mit der Gründung Alexandrias anbahnte und seine Nachfolger
in Egypten, die Ptolomäer, vollendeten, lenkte den Handel des öst-
lichen Asiens von den Häfen Syriens nach Egypten ab. Nur in der
Zeit der Kreuzzüge erlebten die Küstenorte Syriens eine kurze Nach-
blüthe. Dasselbe Schauspiel des Verfalles vollzieht sich seit Eröffnung
des Suezcanals im Kleinen vor unseren Augen. Denn seit 1869 ist der
Einfuhrhandel von Beirut und Damaskus gesunken. Der Waarenverkehr
mit Bagdad und Persien, welcher von Damaskus aus durch Kara-
wanen vermittelt wurde, ist verloren gegangen, Mesopotamien und
Persien versorgen sich durch den Suez-Canal und den persischen
Meerbusen mit den Erzeugnissen der Industrien Europas. Auch die
anderen Plätze Syriens, wie Aleppo, Tripolis, Latakieh, Akka-Haiffa,
Jerusalem, sind nicht mehr ausschliesslich auf die Vermittlung von
Beirut angewiesen, sondern treten mit Hilfe der Linie der Messa-
geries maritimes zum Theile direct mit Europa in Verbindung. Dies
gilt namentlich von dem volkreichen Handelscentrum Aleppo, das in
Alexandrette seinen eigentlichen Hafen besitzt.
Auch für den Export Beiruts steht nicht viel zu erwarten. Den
getreidereichen Districten liegen die Häfen Tripolis, Saida und Akka-
Haiffa näher als Beirut, und der Exporthandel sucht diese Orte auf,
um an Frachtkosten möglichst zu ersparen.
Das Sinken der Preise der wichtigsten Ausfuhrartikel Beiruts
in den letzten 6—7 Jahren hat ebenfalls auf den Einfuhrhandel un-
günstig eingewirkt. Denn wie fast alle Häfen in der Levante, ist
[249]Beirut.
dieser von der Ernte abhängig. Leider sind die Communicationsmittel
unzureichend, denn ausser der Strasse von Beirut nach Damaskus
ist nur nach Norden, gegen Tripolis zu, eine gute Strasse wenigstens
bis zur Hälfte fertiggestellt. Zwischen Beirut und Damaskus ver-
kehren täglich zweimal Omnibusse, welche die Strecke in 14 Stunden
zurücklegen. Ein Sitz im Nachtwagen kostet 147, im Tagwagen
103 Piaster.
A Rhede von Beirut, B Quarantäne, C Kaserne, D Thurm, E Landungsplatz, F Leuchtfeuer, G Moschee,
H Feld Scheschi.
Die Gesellschaft, welche die Strasse gebaut hat, besorgt den Wagenverkehr
ausschliesslich selbst mit eigenem Material auf die Dauer von 50 Jahren. Sie er-
zielte 1886 ein Erträgniss von 12 %.
Sollte je eine Eisenbahn von Beirut aus ins Innere gebaut wer-
den, so würde Beirut wohl verlieren, denn die Höhe des Libanon,
über welche die Strasse führt, müsste mittelst eines 6 km langen Tun-
nels unterfahren werden, und solche Kosten verträgt eine Eisenbahn
in Syrien noch lange nicht. Die Eisenbahn müsste also bis Saida
oder Sur, oder noch besser bis Akka an der Küste nach Süden ge-
führt werden, um auf besseren Wegen die Berghöhen zu gewinnen.
Diese Orte würden naturgemäss als Handelsplätze an die Stelle von
Beirut treten.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 32
[250]Das Mittelmeerbecken.
Zu der Ausfuhr von Beirut liefern Cocons, Seidenabfälle und gesponnene
Seide weit mehr als zwei Drittel des gesammten Werthes; 1888 für 12·2 Millionen
Francs, 1887 11·6 Millionen Francs, 1886 6·6 Millionen Francs.
Im ganzen Libanon und über diesen hinaus wird die Seidenzucht lebhaft
betrieben. In Beirut bestehen Filanden französischer Unternehmer, welche aus
den Cocons bessere Seide herstellen als die Eingebornen und dadurch der Seide
Syriens ein gutes Absatzgebiet auf dem wichtigen Markte Frankreichs verschafft
haben, wo sie mit der Seide Italiens concurrirt.
Auch die Fabrication von Seidenstoffen nimmt in Damaskus, Beirut und am
Libanon langsam zu; ansehnlich ist auch die Erzeugung von ordinären Baumwoll-
stoffen zur Verfertigung arabischer Kleidungsstücke, welche im Werthe von etwa
0·8 Millionen Francs in die Türkei und nach Egypten ausgeführt werden.
Von Schafwolle, aus dem Innern Syriens und dem Libanon stammend,
wurde 1888 für 1·5 Millionen Francs exportirt. Die syrische Wolle, deren Fäden
grob sind, eignet sich nur zur Teppichfabrication und geht über Liverpool nach
Amerika, wo sie im Zolltarif in die dritte, die unterste Classe der Wolle einge-
reiht ist und gegenüber den englischen, australischen und Capwollen den Vortheil
eines niedrigen Zollsatzes geniesst. Der Rest der Ausfuhr umfasst Getreide,
wenn die Frühlingsregen reichlich waren und das Land von Heuschrecken verschont
blieb; Schafe und Ochsen im Werthe von 0·5—0·6 Millionen Francs gehen
nach Egypten, getrocknete Trauben, Feigen und Aprikosen in die Türkei und
Egypten. Die Kerne der bittern Aprikosen (Armelini) von Damaskus werden nach
Triest und Marseille verschifft.
Für die Türkei und Egypten sind bestimmt: Tabak des Libanon, dessen
Ausfuhr gewaltig zurückgeht, Oel, Butter, aus dem Innern stammend, und Oliven
Das Einfuhrgeschäft von Beirut ist am lebhaftesten in der Zeit vom
October bis in den Anfang des Jahres, wenn für die Ausfuhrartikel Geld ins Land
gekommen ist. Auch hier verlangt die Bevölkerung, wie auf allen Märkten der
Levante, in erster Linie billige Waare. Nur in Damaskus ist eine Kundschaft für
theure Waaren, die Wohnungen der Reichen sind dort mit seltener Pracht einge-
richtet. Die erste Rolle spielt hinsichtlich der Einfuhr England in Manufactur-
waare, von denen Baumwollwaaren (Manchester goods) die wichtigsten sind; es
importirte 1888 für 19·5 Millionen Francs, 1887 für 20·3 Millionen Francs. Roth-
garne und andersfärbige Garne kommen meist aus Deutschland, Jutesäcke aus
England, Tuch und Kaschemir für arabische Anzüge (1888 für 1·5 Millionen Francs)
wegen ihrer Billigkeit vorwiegend aus Oesterreich-Ungarn; von dort auch Fez und
fertige Kleider (beide je um 0·5 Millionen Francs). Auch in den Städten Syriens
gibt die Bevölkerung allmälig die nationale Tracht auf. Seidenstoffe (0·6 Millionen
Francs) kommen aus Frankreich, gesponnene Seide aus China und Seidenraupen-
samen aus Frankreich, Wirkwaaren aus Sachsen, Papier und Zündwaaren aus
Oesterreich-Ungarn.
In allem, was der Mode unterliegt (Articles de Paris), dann in Leder domi-
nirt Frankreich, in Stab- und Barreneisen beherrscht England den Markt; in
Eisenwaaren sind Frankreich, Deutschland und Belgien wichtiger als England. In
Glaswaaren steht Oesterreich-Ungarn, in Thonwaaren Deutschland an der Spitze
der Einfuhr.
Auch von Nahrungs- und Genussmitteln werden bedeutende Mengen
eingeführt. Der Rangoon-Reis verdrängt auch hier den besseren, aber in einem
[251]Beirut.
höheren Preise stehenden italienischen (Gesammteinfuhr 1·3 Millionen Francs);
Mehl wird aus Damaskus und Tripolis zugeführt (1888 1·4 Millionen Francs).
Auch auf dem Zuckermarkte von Beirut ist die Alleinherrschaft Oester-
reich-Ungarns zu Ende. Seit 1887 hat Frankreich, unterstützt durch die billigen
Frachtsätze der Messageries maritimes, den grössten Antheil an der Einfuhr, es
würde vielleicht hier ein Monopol erlangt haben, wäre nicht seit der zweiten
Hälfte 1888 die egyptische Staatsraffinerie mit den Dampfern der Khedivié, welche
eine wöchentliche Verbindung zwischen Alexandrien und den syrischen Plätzen
unterhalten, in den Vordergrund getreten. Der Zucker Egyptens ist in Beirut der
billigste, zum Einmachen der Früchte als Rohrzuker dem Rübenzucker unbedingt
vorzuziehen. Oesterreich-Ungarn nahm 1888 noch die zweite Stelle in der Zucker-
einfuhr Beiruts ein (1888 1·1 Millionen Francs).
Der importirte Kaffee gehört vorwiegend zur Sorte Mokka.
Bauhölzer (1888 0·8 Millionen Francs) kommen heute überwiegend von
der Südküste Kleinasiens (Karamanien), ein Fünftel noch aus Oesterreich-Ungarn
über Galatz-Odessa.
Gross ist gegenwärtig die Einfuhr von Tabak. Tumbeki (1·1 Millionen
Francs) für die Wasserpfeife kommt auf dem Seewege aus Persien, Tabakfabricate
(5·7 Millionen Francs) aus der Fabrik der Tabakregie in Constantinopel.
Endlich werden aus Indien Büffelhäute, aus Batum seit 1887 Petroleum
(1888 1 Million Francs) und aus England Kohlen gebracht, letztere in einer be-
merkenswerth kleinen Menge (25.000 q), und dabei hat Beirut noch eine Gasanstalt.
Wir fassen nun die Grösse der Handelsbewegung zusammen. In den Ziffern
ist auch der türkische Handel enthalten.
| [...] |
Für das syrische Wechselgeschäft bildet Beirut den Mittelpunkt. Eine
grössere Creditanstalt ist die Zweigniederlassung der Ottomanischen Bank, welche
aber bloss Regierungszwecken dient und daher dem Handel des Landes sehr wenig
nützt. Daneben bestehen nur ein grösseres Beiruter Haus und zahlreiche arabi-
sche Wechsler.
Regelmässige Verbindungen mit Beirut unterhalten der österreich-ungarische
Lloyd (Linie Alexandrien-Constantinopel), die französischen Gesellschaften Messa-
geries maritimes und Fabre (letztere benützen die Auswanderer des Libanon,
welche über Marseille nach Amerika gehen), die russische Dampfschiffahrts- und
Handelsgesellschaft, die Dampfer der Khedivié und die englischen Unternehmungen
Bell’s Asia minor steamship Company, Moss und Papagani.
Den Küstenverkehr besorgen türkische Segelschiffe.
| [...] |
Der Schiffahrtsverkehr von Beirut ist lebhafter, als es die Handelslage des
Ortes erfordert.
32*
[252]Das Mittelmeerbecken.
Arbeiten zur Verbesserung des Hafens, auf den man grosse Hoffnungen
setzt, wurden im Frühjahre 1889 vergeben.
Die telegraphische Verbindung ist durch eine Küstenlinie nach Norden und
Süden hergestellt.
Consulate haben hier: Belgien, Brasilien, Dänemark, Deutsches Reich
(G.-C.), Frankreich (G.-C.), [Griechenland] (G.-C.), Grossbritannien (G.-C.), Italien
(G.-C.), Niederlande, Oesterreich-Ungarn (G.-C.), Persien, Portugal, Rumänien,
Russland, Schweden, Norwegen, Spanien, Vereinigte Staaten.
Gehen wir nun weiter nach Süden. Die berühmten Ausgangs-
punkte des alten phönikischen Welthandels Saida (Sidon) und Sur
(Tyrus) werden heute nicht einmal von einer Postdampferlinie ange-
laufen. Der grösste Theil des Hafenbeckens von Saida ist so seicht,
dass die Kinder darin herumwaten. Die alten Molos sind zerstört und
die wenigen kleinen Schiffe, die sie benützen können, finden keinen
Schutz mehr gegen die Westwinde.
Sur ist ein dürftiges Städtchen von 6000 Einwohnern, seinen
einstigen alten Hafen bedeckt üppiges Gartenland, eine Oase in der
sandigen Umgebung.
Viel wichtiger sind Akka (Akre), der beste natürliche Hafen
Palästinas, und Haiffa als Ausfuhrplätze für Weizen und Dari (Werth
1888 12 Millionen Francs). In Haiffa besteht seit 1869 eine Colonie
des deutschen Tempelvereines, sie ist zugleich eine Musteranstalt für
den Ackerbau, der in diesen Gegenden sehr primitiv betrieben wird.
Jenseits des steilen Caps Carmel folgt die geradlinige, langge-
streckte, hafenlose, jetzt verödete Küste Palästinas und des Philister-
landes, deren einziger Hafenplatz Jaffa (Joppe) der Hafen von Jeru-
salem ist. Ungeheuere, grösstentheils über Wasser reichende Felsklippen
umkränzen das Bassin des Hafens, an dessen schmaler Einfahrt die
Matrosen alle Kräfte anstrengen müssen, um durch dieselbe ihr
Boot in das ruhige Binnenwasser zu lenken. Grössere Fahrzeuge
können sich diesem sogenannten Hafen von Jaffa nicht nähern, sie
müssen weit draussen auf der Rhede bleiben; selbst Dampfer sind bei
stürmischer See nicht im Stande, die Ausladung in die Lichterschiffe
zu vollziehen, sie müssen weiter zum nächsten Hafen. Und ein so
elender Hafenplatz bildet den Eingang zu den heiligen Stätten Palä-
stinas, welche jährlich 80.000 Pilger besuchen. Die Trace der 1869
vollendeten Strasse nach Jerusalem war schlecht gewählt, erst 1887
wurde der Weg wesentlich verbessert. Das Fahrgeld auf dieser 67 km
langen Strecke beträgt für die Person 7 Francs. Die Errichtung einer
Eisenbahn wurde schon wiederholt geplant. Auch hier ist eine blü-
hende Colonie des Tempelvereines, eine jüdische Ackerbauschule
[253]Beirut.
wurde errichtet, wir finden Schulen aller Religionen, welchen Palästina
das heilige Land ist, und 3 Spitäler. Jaffa, im Osten und Südosten
von grossartigen Orangen- und Citronenhainen umgeben, hat 12.000 Ein-
wohner, dabei sind die 7—8000 Mohammedaner, welche in den Vor-
orten wohnen, nicht gerechnet.
Der Handelsverkehr erreichte:
| [...] |
Manufacturen (1889 für 2·1 Millionen Francs), Quincaillerien (0·8 Millionen
Francs), Kaffee, Zucker, Reis bilden den Haupttheil der Einfuhr, Orangen, die
um Jaffa wunderbar gedeihen, Pistazien, Sesam, Olivenöl und Seife, Gegenstände
der Andacht (1888 0·6 Millionen Francs), hier und in Jerusalem erzeugt, sind
die wichtigsten Artikel der Ausfuhr.
Der Schiffsverkehr ist unverhältnissmässig gross und umfasste 1888 im Ein-
laufe und Auslaufe 916 Dampfer mit 1,044.852 Tons und 1118 Segeln mit 42.344
Tons. In Jaffa landen der österreich-ungarische Lloyd, die Messageries martimes,
die russische Dampfschiffahrts- und Handelsgesellschaft und die Khedivié.
[[254]]
Der Suez-Canal.
Die ungeheuere Entwicklung der Technik und die Association
des Capitales geben unserem Jahrhundert die Mittel in die Hand,
Werke zu vollführen, welche unsere Vorfahren kaum zu denken wagten.
Ein solches „Weltwunder“ ist der Suez-Canal, jener künstliche
Wasserweg, welcher dem Welthandel neue Bahnen wies, und die
Seeherrschaft wieder Staaten und Völkern zurückgab, denen sie die
Entdeckung Vasco de Gama’s vor vierhundert Jahren entrissen hatte.
Ein Blick auf die Weltkarte zeigt sogleich die ungeheueren
Vortheile, welche der Seeverkehr auf der Route durch den Suez-Canal
gewonnen hat. Von so weittragender Bedeutung erwies sich das gran-
diose Werk, dass wir uns gegenwärtig, zwanzig Jahre nach dessen
Vollendung, kaum mehr die Langwierigkeit des ehemaligen Seeweges
nach Indien, Ostasien und Australien um das Cap der guten Hoff-
nung vorzustellen vermögen. Der Canal von Suez hat die Verbindung
mit den genannten Gebieten selbst für die Schnellläufer der Oceane
um 15—22, für das gewöhnliche Frachtschiff aber um 27—40 Dampf-
tage abgekürzt, und diese Thatsache erklärt zur Genüge, wie er mit
völlig elementarer Gewalt einen ungeheueren Dampferverkehr an sich
ziehen und schon in den ersten Jahren seines Bestandes zu einer
der hervorragendsten Welthandelsstrassen sich aufschwingen konnte.
Unvergänglich ist daher der Ruhm Ferdinand v. Lesseps’, des
genialen Erbauers des Werkes, nicht nur, sondern auch des muthigen
Besiegers der fast unüberwindlich erschienenen Hindernisse, welche
der Ausführung durch politische Sonderinteressen und finanzielle
Schwierigkeiten entgegenstanden.
Wie die Entstehungsgeschichte des Canals, bietet auch die bis
in uralte Zeiten zurückreichende Vorgeschichte desselben einen Gegen-
stand von höchstem Interesse.
Einige Geologen sind der Ansicht, dass die sandige Strecke zwischen dem
alten Pelusium und dem langgedehnten Golf von Suez (Heroopolis), in welchen der
Canal eingeschnitten ist, einstens vom Meere überflutet gewesen war. Das alte
[255]Der Suez-Canal.
Heroopolis, nach welchem der Meerbusen genannt wurde, ist wahrscheinlich das
Ramesu der Egypter.
Manche Merkmale sprechen für die Richtigkeit dieser Annahme, nament-
lich die Ergebnisse des Präcisions-Nivellements vom Isthmus im Zusammenhalte
mit der Kette von trocken gelegenen kesselartigen Bodensenkungen (den heutigen
Seen), welche auf jenem Gebiete von der einstigen Ueberflutung herrühren. Vom
Norden her folgt nämlich den weit nach Süden greifenden Menzaleh-Lagunen,
der Ballahsee, diesem nahezu in der Mitte der Landenge der Timsahsee, an
welchem die Stadt Ismaïlia liegt; hierauf folgen in nahezu der gleichen Richtung
die beiden Bitterseen, deren südlichste Einbuchtung nur mehr 26 km vom Suez-
Golfe entfernt ist.
Aber noch andere Anzeichen sprechen für die ehemals bestandene Trennung
der beiden Continente. So fand man einige Arten der dem Mittelländischen und
dem Rothen Meere angehörenden Fauna im Innern des Isthmus. Der wasser-
reiche und ungestüme Nil scheint hier eine wichtige Rolle behauptet zu haben,
indem die Annahme zulässig ist, dass in grauer Vorzeit einer seiner Arme zu der
Stelle des heutigen Timsahs-Sees durchgebrochen sei und seine Wässer den beiden
Meeren zugesendet habe. Lepère, der Ingenieur Bonaparte’s während des Erobe-
rungszuges nach Egypten (1798), fügt noch ein Argument hinzu, indem er aus-
führt, dass, weil das Kameel in den altegyptischen Hieroglyphen unter den dar-
gestellten Thieren nicht vorkomme, so hätte das „Schiff der Wüste“ den Weg in
das Land infolge der bestandenen Wasserbarrière damals noch nicht gefunden;
später aber, als die Landbildung am heutigen Isthmus erfolgt war, habe kein
Hinderniss mehr obgewaltet, das nützliche Lastthier in Egypten einzuführen.
Mit der Annahme einer ehemaligen Ueberflutung des Isthmus würde
schliesslich auch die Nachricht der Bibel vom Durchzug der Juden durch das
Rothe Meer übereinstimmen. Man erinnere sich nur, dass heute, trotzdem bei
Suez keine tiefeingeschnittene Bucht besteht, die Springflut über 2 m hoch steigt,
also bedeutende Wassermassen in Bewegung setzt. Zur Zeit des Auszuges der
Juden aus Egypten mag der Höhenunterschied viel bedeutender gewesen sein, so
dass die [verfolgenden] Egypter ertranken.
Die Frage, ob in alten Zeiten eine künstliche Wasserstrasse die Enge
von Suez von einem Meere zum anderen durchschnitten habe, ist dermalen noch
nicht endgiltig beantwortet.
Allerdings waren die alten Egypter, durch das wunderbare Spiel des Nil
erzogen, sehr erfahrene Wasserbaumeister, so auch anderseits, wie die Pyramiden
beweisen, Leute, welche vor einer Massenbewegung, selbst wenn sie viele tausende
von Händen erforderte, nicht zurückschreckten; hatten sie doch die kriegs-
gefangenen Völker zur Verfügung.
Uns ist keine Nachricht erhalten, welcher Zeit die Spuren alter Canalbauten
angehören, die von Pelusium ausgehend in ihrem weiteren Verlaufe nahezu die-
selbe Linie einhalten, wie der heutige Schiffahrtscanal, und bis in die Bitterseen
führen. Dagegen wird überliefert, dass Ramses II. im XIV. Jahrhundert v. Chr.
durch die flache Thalsenkung Wady Tomeilat, welche vom [pelusischen] Nilarm bei
Zagazig, dem alten Bubastis, abzweigt, einen Schiffahrtscanal über die Bitterseen
nach dem heutigen Suez gebaut habe. Der Canal ging durch den damaligen
Wohnsitz der Israeliten, die fruchtbare Landschaft Gosen, das beste Land Egyptens,
heute in einiger Entfernung vom Canal eine Wüste. Der Canal war entschieden
[256]Das Mittelmeerbecken.
nie so leistungsfähig, dass er eine Existenzbedingung auch nur für einen Theil des
egyptischen Verkehrs gebildet hätte; so erklärt es sich auch, dass er durch
die Hochwasser des Nil in den Perioden politischen Verfalles verschlammt, mit
Treibsand angefüllt und durch energische Regierungen wiederholt neu hergestellt
wurde, so durch Necho (um 600 v. Chr.), durch Darius I., durch Ptolomäos I.
und Ptolomäos II. So scheint es sicher, dass durch Jahrhunderte eine Wasser-
strasse von Suez einerseits nach Pelusium, andererseits nach Memphis und
Alexandria bestand.
Zwei classische Zeugen, Herodot und Strabo, sahen die Wasserstrasse im
Betriebe. Der erstere fand den Canal um die Mitte des V. Jahrhundert v. Chr.
mit Wasser gefüllt und breit genug für zwei nebeneinander fahrende Schiffe.
Strabo, der griechische Geograph, der ebenfalls Egypten besuchte, fand den Canal
kurz vor Beginn der christlichen Aera 100—150 Fuss breit und sehr tief.
Plutarch erwähnt, dass nach der Schlacht bei Actium Kleopatra mit dem
Reste ihrer Flotte über den Nil in Sicherheit gelangen wollte, allein der Wasser-
mangel daselbst habe dies vereitelt, und Aelius Gallus konnte 24 v. Ch. nur Bau-
holz, aber keine Schiffe hindurchbringen. Nochmals eröffnete ihn Trajan, und die
letzte Nachricht einer Baggerung zum Zwecke des Durchganges der nach Arabien
bestimmten Getreideschiffe datirt aus dem Jahre 648 n. Chr. unter dem Kalifen
Omar.
Mehr als ein Jahrtausend verging, bevor die alte Idee einer Verbindung der
beiden Meere wieder auftauchte. Der Reisende Baron de Tott, ein Franzose, war
es, der im Jahre 1785 auf die Möglichkeit der Durchstechung der Enge von Suez
hinwies. Er kannte die Schriften des Diodoros, welche festzustellen scheinen,
dass im Alterthum begonnene Bauten zur Verbindung der genannten Meere infolge
der Besorgniss eingestellt worden seien, dass das vermeintlich viel höhere Niveau
des Rothen Meeres eine Ueberflutung Egyptens herbeiführen müsse, falls den Ge-
wässern ein Weg dahin eröffnet würde. In seinen Memoiren erwähnt de Tott,
Spuren und Reste dieser alten Arbeiten entdeckt zu haben und meint sanguinisch,
„eine leichte Arbeit würde ausreichen, den Canal schiffbar zu machen, ohne
Schleusen anzuwenden und ohne Egypten mit Ueberschwemmung zu bedrohen“.
Als Bonaparte 1798 in Egypten vordrang und im December auf die Ueber-
reste des pharaonischen Canals gestossen war, trat seinem scharfen Geiste die
Idee eines Suez-Canals sogleich entgegen, und er würde selbe wohl ausgeführt
haben, gleich wie die grosse Strasse über die Alpen, die Docks in Antwerpen und
andere Unternehmungen, deren Schöpfer er wurde, wenn die technische Grund-
lage für die Durchführbarkeit des Werkes gewonnen worden wäre. Bildete doch
der ihm vorschwebende Wasserweg sogleich einen Theil jenes grossen politischen
Projectes, welches auf die Vertreibung der Engländer aus Ostindien abzielte.
Bonaparte wollte eine kurze Verbindungslinie mit Indien schaffen, um von Egypten
aus die einheimischen Fürsten Indiens gegen die englische Macht zu unterstützen und
diese zu stürzen. Zunächst erst hatte eine Commission von Gelehrten mit dem
Ingenieur Lepère die Prüfung des Canalprojectes vorzunehmen, allein bevor sie
darüber Bericht erstatten konnten, verliess Bonaparte Egypten.
Es ist bekannt, dass die Ergebnisse des damaligen unter sehr schwierigen
Verhältnissen unternommenen und häufig durch Feindseligkeiten seitens der Araber
gestörten Nivellements das enttäuschende, aber durchaus falsche Resultat förderten,
[257]Der Suez-Canal.
dass das Niveau des Rothen Meeres um fast 10 m höher liege als jenes des Mittel-
meeres und dass daher ein Canal das ganze Land überschwemmen müsste.
Auch bei diesem Projecte handelte es sich keineswegs um die heutige Canal-
route, sondern um eine Verbindung von Suez mit Belbes und Alexandria.
Das Project wanderte in die Archive.
Der nächste Anlauf in der Canalfrage ging, merkwürdig genug, von den
Propheten der Simonianer und Enfantiner aus, die sich mit einer „Gesellschaft
zur Unterstützung der Suez-Canalfrage“ verbanden.
Unter ihren Auspicien vollzogen die Ingenieure Stephenson, Negrelli und
Talabot neue Aufnahmen, welche zu dem seltsamen Entwurf einer indirecten Route
führten, nach welchem der durch Schleusen zu regulirende Canal den Nil auf
einem Viaduct übersetzen, und 300 Meilen lang sein sollte. Allein so traumhaft
das Project auch war, es wurde dennoch ernstlich erwogen*).
Erst Vicomte Ferdinand de Lesseps war es vorbehalten, nach langjährigen
technischen Vorstudien die richtige Trace zu finden. Nachdem er den Ferman
zur Anlage des Canals erlangt hatte, konnte er, gestützt von dem Wohlwollen
Napoleon III., an die Ausführung der „Napoleonischen Idee“ gehen und in
Paris an die Gründung der „Compagnie universelle du Canal maritime dè
Suez“ und bald darauf 1859 an die Inangriffnahme der Arbeiten auf der Landenge
selbst schreiten.
Eine geistreiche Charakterisirung des grossen Werkes finden wir in den
interessanten Darstellungen der Reisen österreich-ungarischer Kriegsschiffe. Der
Verfasser, Capitän Jerolim Freiherr Benko v. Boinik, dessen treffliche Ausführungen
wir hier auch benützen werden, sagt von der neuen Wasserstrasse: „Christof Columbus
hat einen Seeweg nach Indien gesucht; Vasco de Gama hat ihn gefunden,
Ferdinand Lesseps aber hat einen solchen geschaffen.“
Die Canalroute ist eine durchaus originelle und in ihrer Ein-
fachheit wahrhaft genial. Wie unser Plan zeigt, benützte Lesseps bei
Führung der Route alle am Isthmus bestehenden Bodensenkungen,
die im Verlaufe der Arbeiten mit Wasser gefüllt wurden und jetzt
schiffbare Seen bilden. Die weit nach Osten ausgedehnt gewesene
Menzaleh-Lagune wurde durch das Nordende des Canals abgedämmt
und erscheint jetzt, nachdem der so abgetrennte östliche Theil zeit-
weise völlig ausgetrocknet ist, in gerader Linie durch den Damm des
Canals abgegrenzt.
Die Basis aller Arbeiten aber, von welcher überhaupt die
Möglichkeit der Existenz zahlreicher menschlicher Wesen auf der
wasserlosen Landenge von Suez abhängt, schuf man durch den Bau
des Süsswasser-Canals vom Nil her.
Im Jahre 1861 wurde er begonnen, erreichte im Februar 1862
den Timsah-See bei der neu angelegten Stadt Ismaïlia, im Jänner 1864
Suez. Von Ismaïlia nach Port Saïd wurde eine Röhrenleitung gelegt.
Der Süsswasser-Canal folgt der Einsenkung, in welcher der Canal des
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 33
[258]Das Mittelmeerbecken.
Ramses und der der Ptolemäer angelegt waren. Er spendet überall
Fruchtbarkeit und ermöglicht bei einer Tiefe von 1·2 m den Verkehr
mit ziemlich grossen Booten. In den letzten Jahren ist der Canal
ebenso verschlammt, wie die Unternehmungen des Alterthums und be-
darf schon dringend einer Reinigung.
Keinem der grossen Bauwerke aller Zeiten fehlt so gänzlich wie
dem Suez-Canal die Fähigkeit, sinnliche Wahrnehmungen hervor-
zurufen, welche zur unmittelbaren Empfindung des Grossartigen führen.
Mehr noch als für jenen, der von Süden in den Canal einfährt,
ist für den von Norden kommenden Besucher der Anblick des Canals
jeden Reizes bar, und nichts ist da, was den suchenden Blick irgend-
wie fesseln könnte. Zu beiden Seiten des anfänglich (wegen des
flachen Profils nur scheinbar) breiten Canals niedrige kahle Sand-
dämme, bald darauf weite Wasserflächen, weitläufige, seichte, schlam-
mige Lagunen; weiter seitwärts gänzlich flaches, sonnverbranntes
wüstes Land. Weit vor oder hinter uns ein Schiff — eintönige, me-
lancholische Ruhe über dem Ganzen. Aber vielleicht ist es eben jene
Ruhe und Stille, welche den Gedanken an das Getümmel und Ge-
wimmel wachruft, die hier an derselben Stelle geherrscht haben
müssen, als während mehr als zehnjähriger Dauer (22. April 1859
bis 17. November 1869) Tausende und Tausende von Menschen in
emsiger Ameisenarbeit vereinigt waren, um das Riesenwerk zu schaffen,
an dessen Bestehen und Benützen die heutige Generation vielleicht
schon zu sehr gewöhnt ist, um sich die Gefühle vergegenwärtigen zu
können, welche dessen Vollendung vor mehr als zwanzig Jahren wach-
rief. 75 Millionen Cubikmeter Erde mussten in Bewegung gebracht
werden, um den über 160 km langen, durchaus über 8 m tiefen, an der
Sohle nirgends weniger als 22 m breiten Canal zu graben und ihn
gegen Flugsand durch Dämme zu schützen; eine halbe Million Cubik-
meter Erde und Schlamm muss jährlich nachgebaggert werden, um die
Wasserstrasse in klaglos fahrbarem Zustande zu erhalten.
Die Gesammtkosten für den Bau und die erste Einrichtung des
Canals, eingeschlossen die Kosten für die Verbesserung des Canals
und die Anleihe, betrugen bis Ende 1883 488,055.019 Francs. Der
Werth der Baulichkeiten und des Inventars der Compagnie, wie der
der disponiblen und der realisirbaren Activen wurde auf 72,660.223 Frcs.
geschätzt. Für die später zu besprechende Erweiterung und Vertiefung
des Canals wurde in den letzten Jahren eine Anleihe von 100 Millionen
Francs gemacht.
Als die von den Franzosen gezeichneten Anleihen zur Vollendung
[259]Der Suez-Canal.
nicht hinreichten, trat der Vicekönig ein mit baarem Gelde und der
Ausführung von Bauten, die den Zwecken des Suez-Canals dienten.
Er erhielt dafür 176.602 Stück Actien der Compagnie universelle du
Canal maritime de Suez, welche seit 1875 im Besitze des englischen
Staates sind. Die Coupons derselben bis Juli 1894 sind abgetrennt,
aber der Eigenthümer hat das Recht auf 10 Stimmen in der General-
versammlung des Canal-Unternehmens.
Es ist bekannt, dass Lesseps’ Unternehmen am nachdrücklichsten
von jener Macht bekämpft wurde, welche seither, da das Werk ge-
lungen, von demselben den grössten Vortheil zieht und sich auch,
wie oben erwähnt wurde, zum Mitbesitz des Canals, sowie auch zu
einer Art thatsächlicher Oberherrschaft über Egypten zu verhelfen
gewusst hat. Direct und indirect wurde die Ausführung des Canal-
projectes von englischer Seite geschädigt. Die Hindernisse, welche
Englands Einfluss in Kairo und Constantinopel dem Lesseps’schen
Unternehmen zu schaffen wusste — wodurch unter anderem die gross-
herrliche Gutheissung der Beistellung egyptischer Arbeitskräfte en masse
gegen Bezahlung durch zehn Jahre hindurch verzögert wurde — waren
vielleicht dem Fortschritt der Sache noch weniger abträglich, als die
ungünstige Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch Gutachten
hervorragender technischer Autoritäten, wodurch natürlich die Capitals-
beschaffung sehr erschwert wurde. Schwierigkeiten und Hindernisse
aller Art bezeichnen demnach die einzelnen Etappen der Geschichte
des Canalbaues. Selbst Mohammed Saïd, anfänglich ein Enthusiast
für die Lesseps’schen Projecte, begann am Erfolge zu zweifeln, und es
ist bezeichnend, dass er im Jahre 1862, kurz vor seinem Tode, ein
englisches Gutachten über die Lebensfähigkeit des Unternehmens ver-
langte. Sir John Hawkshaw gab ein solches ab, nachdem er die Ar-
beiten in Augenschein genommen hatte, und kam zum Endurtheil,
dass weder er glücklichen Beendigung des Baues noch der Möglichkeit
den Canal in benutzbarem Zustande zu erhalten, unübersteigliche tech-
nische, natürliche oder finanzielle Hindernisse entgegenstünden. Die
landläufigen Einwendungen, von den Gegnern des Werkes eifrig pro-
pagirt, waren: voraussichtliche Verschlammung des Canals und Ver-
schüttung desselben durch Flugsand und das Rutschterrain der Bö-
schungen und Dämme; Eintrocknung der Bitterseen zu einer dicken
Salzlauge; Schwierigkeit der Beschiffung des Rothen Meeres; Gefähr-
lichkeit des Anlaufens von Port Saïd an der Leeküste; Schwierig-
keit, wenn nicht Unmöglichkeit, den mittelmeerseitigen Eingang des
Canals schiffbar zu erhalten. Allen diesen in der öffentlichen Meinung,
33*
[260]Das Mittelmeerbecken.
namentlich in England schon nahezu eingewurzelten Einwendungen
wusste Sir John Hawkshaw in seinem unparteiischen Urtheile zu be-
gegnen, und man könnte beinahe sagen, dass der Suez-Canal
diesem Engländer ebensoviel verdankt wie dem Franzosen Lesseps.
Denn eben zur Zeit, als Sir John Hawkshaw an Ort und Stelle mit
der Ausarbeitung seines Gutachtens über den Canalbau beschäftigt
war, starb Mohammed Saïd und sein Bruder und Nachfolger war für
Lesseps’ Ideen keineswegs sehr begeistert. Im Gegentheile er-
schrak er vor den allzu weitgehenden Concessionen, welche Moham-
med Saïd’s Ferman der Canalbaugesellschaft gemacht hatte. So sollte
z. B. nach den Bestimmungen dieses Fermans alles Land, welches vom
Süsswassercanale aus bewässert werden konnte, Eigenthum der
Canalgesellschaft werden; die zwangsweise Beistellung von Arbeitern,
wenn auch gegen Bezahlung, war zur Pflicht der egyptischen Regie-
rung gemacht u. s. w. So weitgehende Verpflichtungen wollte Ismail
nicht übernehmen, und es mag dem günstigen Urtheile Sir J. Hawks-
haw’s über die Lebensfähigkeit des schon in seiner Ausführung be-
griffen gewesenen Projectes zum grossen Theile zu danken sein, dass
Ismail sich zu einem Ausgleiche herbeiliess, welcher unter dem Patro-
nate Napoleon III. zustande kam. Das Recht auf Landanfall wurde
durch eine weitere finanzielle Betheiligung des Vicekönigs an dem
Unternehmen abgelöst und die Verpflichtung zur Beistellung von
Arbeitskräften fallen gelassen. Von letzterer Bestimmung des ge-
schlossenen Compromisses leitete sich die gänzliche Veränderung im
Charakter der Arbeiten ab, welche nun mit einemmale eintrat. An
Stelle der ungezählten Fellahim, die in primitivster Weise mit Krampe
und Schaufel gearbeitet hatten, traten relativ wenige, meist europäische
Arbeiter, welche jene kunstvollen, gänzlich neu erfundenen Arbeits-
maschinen, die Excavateurs und Elevateurs, bedienten, die man Jahre
danach in den Wiener Praterauen ihre Thätigkeit aufs Neue auf-
nehmen sehen konnte. Mit dem Uebergange zur mächtigen Arbeits-
leistung der Maschinen hatte das Lesseps’sche Unternehmen die letzte
grosse Krise erfolgreich überwunden und das Werk reifte rasch der
Legende zum Plan des Suez-Canals.
A Einfahrt in den Canal bei Port Saïd, B Wellenbrecher, C Araber-Dorf, D Gaswerke, E Tewfik-Bassin
in Suez, F Leuchtfeuer, F1 Gasbojen, F2 elektrisches Leuchtfeuer, G Wasserwerk in Suez, H Spitäler
der Indier, J Araberhütten, K Friedhöfe, L Ballah-See, M Menzaleh-See, N Häuser des Khedive,
O grosser Bitter-See, P kleiner Bitter-See, Q alte Quarantäne, R Ruinen, S Canal- und Eisenbahn-
Stationen, T Sand-Dünen, U Palais des Khedive, V Timsah-See, W Frischwasser-Canal, X Telegraphen-
Amt, Y französisches Spital, Z Bureaux der Canal-Gesellschaft — 1. Bäder, 2. Lagune Bir Fawar,
3. Kalkofen, 4 Reste des alten Canals, 5. Suez-Creek, [...] Moschee. — Die Seemeilen ängen des Canals
sind durch Blockschriftziffern bezeichnet. Die Breite des Canals ist der Deutlichkeit wegen etwas
überhalten.
[[261]]
(Legende siehe auf Seite 260.)
[262]Das Mittelmeerbecken.
Vollendung entgegen, welches für immerwährende Zeiten ein ruhm-
volles Denkmal der französischen Conceptionskraft, Unternehmungslust
und Ausdauer sein wird.
Die grosse Bedeutung des Suez-Canales für die Handelswelt
fasst sich zusammen in dem alten wahren Worte: „time is money.“ —
Darum trifft D. Stephenson gewiss das Richtige, wenn er die Ansicht
ausspricht, dass der späte Zeitpunkt, in welchem die alte Idee des
Suez-Canals verwirklicht wurde, dem Nutzen des Werkes nur förder-
lich war, da inzwischen die oceanische Dampfschiffahrt sich allseitig
entwickelt und gekräftigt hatte, für die Segelschiffahrt aber der Canal
— zwischen engen, schwer zu beschiffenden Meeren gelegen — nur
von sehr zweifelhaftem Vortheil gewesen wäre, und die Reisen der
Segelschiffe wohl linear, aber nicht der Zeit nach abzukürzen vermocht
hätte. Ganz anders verhält sich dies natürlich bei den Dampfschiffen,
welche beinahe überall den linear kürzesten Weg zugleich als jenen
einschlagen können, der am schnellsten zum Ziele führt. Durch den
Suez-Canal wird die Strasse von Bab el Mandeb zum gemeinschaft-
lichen Ausgangspunkte der Schiffahrt nach Ostindien, Ostasien, Ost-
afrika, Australien und zum Theile selbst nach dem westlichen Amerika,
Suez aber liegt nur 227 Seemeilen von Alexandria, 1503 Meilen von
Marseille, 1397 Meilen von Triest, 892 Meilen von Constantinopel
entfernt.
Der Gewinn an Weg und Zeit, welcher der Schiffahrt durch die
Suez-Canalroute ermöglicht wird, ist sehr wesentlich. Folgende Zahlen-
angaben mögen hierüber einige Orientirung geben.
Nach Bombay, dem Haupthandelshafen Ostindiens, beträgt die
Länge des Seeweges in Seemeilen:
| [...] |
Aus diesen Zahlenangaben ist zu ersehen, dass nach Ausschei-
dung von Malta, Salonich und Constantinopel, welche als Stapelplätze
für Mitteleuropa nicht wohl in Betracht gezogen werden konnten, Triest
der Hafen war, welcher durch den Suez-Canal Bombay am nächsten
gerückt wurde, und dass zugleich die grösste Wegersparniss, 8760 See-
meilen, für Triest resultirte. Heutzutage ist wohl auch Salonich wich-
tiger geworden.
Selbst bei jenen Häfen, welche in Hinsicht der Wegabkürzung
am ungünstigsten gelegen sind, wie z. B. Amsterdam und Petersburg,
ist noch eine Ersparniss an Weg und Zeit um fast die Hälfte eingetreten.
Es ist daher nur natürlich, dass die Frequenz des Canals gleich nach
seiner Eröffnung eine bedeutende wurde und sich seither fast ohne
Unterbrechung steigerte.
Was aber diese Wegersparnisse in Zeit- und Geldersparnisse übersetzt be-
deuten, mag ein Beispiel beweisen.
Ein von Triest auslaufender Dampfer von 3000 t Deplacement (mit
1800 Register-Ton.-Gehalt) und einer stündlichen Geschwindigkeit von 12 See-
meilen erspart durch die Wegdifferenz von 8760 Seemeilen eine Fahrzeit von
ungefähr 31 Tagen. — Die täglichen Kosten stellen sich wie folgt:
- Kohlenverbrauch 34 t zum Durchschnittspreise von ... 14 fl. 476 fl.
- Sonstiges Maschinenbetriebs-Material 10 % des obigen ........ 47 „
- Salair und Kost der Bemannung .......................... 140 „
- 5 % jährliche Abschreibung am Werthe per Tag ............. 170 „
- Summe per Tag .. 833 fl.
- oder für 31 Tage 25.823 fl.
Dagegen Canalgebühren 9·50 Francs per Tonne bei 1800 Register-Tonnen,
ergibt 17.100 Francs.
Es verbleibt daher noch eine directe Geldersparniss von circa 17.500 fl.
Hier muss dann auch noch die Ersparniss an Assecuranz-Prämien, dann an dem
Risico der längeren Seefahrt mit einbezogen werden, um das volle Bild des
Nutzens durch die Wegabkürzung zu gewinnen.
Die Lebensfähigkeit des Canals, dessen Verkehr gegenwärtig
einen sicheren Massstab für den Gang des Welthandels bildet, wurde
so lange angezweifelt, bis 1872 die Einnahmen die Ausgaben um
2 Millionen Francs übertrafen; dieser Ueberschuss steigerte sich 1888
bis 36,271.447 Francs.
| [...] |
Die Zahl der Reisenden, welche den Canal passirten, ist seit der Zeit, als
so viele Postdampfer direct durch den Canal gehen, stark gestiegen. Im Jahre 1880
passirten 53.517 Reisende den Canal, in dieser Ziffer sind am stärksten Soldaten
und Mekkapilger vertreten; 1887 fuhren 182.998 Personen, 1888 183.895 Per-
sonen hindurch.
In den Ausgaben der Gesellschaft sind natürlich bedeutende Summen für
Arbeiten enthalten, so 1888 7,743.064 Francs, 1887 18,139.766 Francs. Den
Haupttheil der Einnahmen bilden die Gebühren, welche die Schiffe entrichten, aber
auch die Bewässerung der Gründe längs den Süsswassercanälen und die Wasser-
werke werfen jährlich mehr als 1 Million Francs ab.
Die Taxe für die Benützung des Canals war ursprünglich auf 10 Francs
50 Centimes für beladene und Passagierschiffe, für Schiffe in Ballast auf 10 Francs
per Tonne bestimmt. Die Besetzung Egyptens durch die Engländer im September
1882 hatte die Folge, dass die Klagen der englischen Rheder, welche mehr als
fünf Sechstel der Canaltaxen entrichten, über die Höhe der Gebühren, über die
für die Schiffseigenthümer ungünstige Berechnung des Netto-Tonnengehaltes, das
ist des für Frachten nutzbaren Raumes der Schiffe, beachtet werden mussten.
Die Engländer wollten aus der Concessionsurkunde herauslesen, dass die
Ausführung eines Concurrenzcanales über die Landenge von Suez gestattet sei,
auch entwarf man abenteuerliche Pläne für den Bau eines Schiffahrtscanals von
der Küste Syriens durch das Todte Meer zum Busen von Akaba am Rothen
Meere. Das Ende dieser Agitationen war ein von der Suez-Canalgesellschaft und
den englischen Rhedern am 30. November 1883 vereinbartes Programm über die
Herabsetzung der Canalgebühren. Die Lootsungsgebühren wurden vom 1. Juli
1884 an gänzlich aufgehoben, die Canaltaxen auf den heutigen Betrag von 9 Francs
50 Centimes für die Netto-Tonne der beladenen und der Passagierschiffe, auf 7 Francs
für die Netto-Tonne der Schiffe, welche in Ballast gehen, herabgesetzt. Für jeden
erwachsenen Passagier werden 10 Francs, für jedes Kind von 3—12 Jahren
5 Francs gezahlt. Für jeden Reisenden, welcher in Ismaïlia ans Land steigt, um
nach Kairo zu fahren, werden ebenfalls 5 Francs entrichtet. Eine weitere Ernie-
drigung der Gebühren wird erst eintreten, wenn das Erträgniss 18 % des Actien-
capitals von 200 Millionen Francs übersteigt. Doch soll die Canalabgabe nie unter
5 Francs sinken. Schiffe, welche den Localverkehr zwischen Port Saïd und Ismaïlia
besorgen, zahlen übrigens nur 2·50 Francs pro Tonne. Es muss ausserdem bemerkt
werden, dass von den oben ausgewiesenen Nettoeinnahmen nur 71 % den Actionären,
dagegen 15 % der egyptischen Regierung nach Artikel 18 der Concession, 10 %
den Gründern und je 2 % den Administratoren und den Bediensteten zufallen.
Auch zu Erweiterungsbauten musste sich die Gesellschaft entschliessen. Der
Canal war gewissermassen nur eingeleisig, die Schiffe konnten, ausgenommen den
Timsah-See, nur an den Ausweichstellen aneinander vorüber, manche Krümmung
des Canals war zu scharf für das langsame Tempo, in welchem die grossen Schiffe
fahren mussten, sie konnten dabei nicht schnell genug dem Steuerruder gehorchen.
Häufig wurde der Verkehr ganz unterbrochen, so im Juni 1885, wo eine Bagger-
maschine durch ein anrennendes Schiff im Canal zum Sinken gebracht wurde und
während der zwölftägigen Räumungsarbeiten 122 Schiffe gehindert waren, weiter
zu fahren. Dazu war der Verkehr des Nachts ganz unterbrochen; Schiffe, die
gegen Abend nach Port Saïd kamen, mussten dort übernachten.
[265]Der Suez-Canal.
Diese Uebelstände wurden allmälig beseitigt. Die Capitäne wurden ver-
traut mit dem Dienste im Canale und viele Schiffe fahren jetzt mit Dampfruder und
Ruderansatz, wodurch die Führung sicherer geworden ist.
Der Versuch, die Fahrt durch den Canal in der Nacht mit
Schiffen fortzusetzen, welche Vorrichtungen für elektrische Beleuch-
tung besitzen, gelang 1886 mit dem Dampfer „Carthago“ der Penin-
sular und Oriental Cy. vollkommen.
Man gestattete zunächst den Postdampfern die Nachtfahrt von
Port Saïd bis zu den kleinen Bitterseen, und als das Riff in diesen
beseitigt war, durch den ganzen Canal. Nach dem Regulativ vom
1. März 1887 kann jeder Dampfer den Canal bei Nacht durchfahren,
wenn er eine elektrische Lampe mit einem Projector am Bug hat,
die einen Raum von 1200 m zu beleuchten im Stande ist; diese Lampe
muss so nahe wie möglich dem Wasserspiegel angebracht sein; eine
zweite Lampe auf Verdeck muss einen Raum von 200 m im Umkreis
erhellen.
Vom 22. März bis Ende December 1886 passirten bloss 25 Schiffe
den Canal mit elektrischer Beleuchtung. Im Jahre 1887 395 Schiffe,
1888 schon 1607 und im I. Semester 1889 1282 Schiffe. Die Sache
wird dadurch erleichtert, dass Schiffe, welche Apparate für die elek-
trische Beleuchtung nicht besitzen, solche am Suez-Canal für die
Durchfahrt entlehnen können. Selbstverständlich ist das Fahrwasser
in der Nacht durch leuchtende Bojen und Signale ausreichend markirt.
Die möglichste Steigerung der Leistungsfähigkeit aber wird nur
durch eine solche Erweiterung des Canals erreicht, welche einen con-
tinuirlichen Verkehr nach beiden Richtungen gestattet. Die General-
versammlung der Suez-Canalgesellschaft vom Jahre 1886 nahm das
Project an, welches Herr von Lesseps vorgelegt hatte. Das Endziel
ist, den Canal durchgängig auf 9 m zu vertiefen, die geraden Strecken
zwischen Port Saïd und den Bitterseen an der Canalsohle von 22 m
auf 65 m Breite, in den Krümmungen auf 75 und 80 m zu bringen.
Zwischen den Bitterseen und Suez soll in Zukunft die regelmässige
Breite 75 m, in den Krümmungen 80 m betragen.
Die Arbeiten sind in drei Bauperioden durchzuführen. Die ge-
fährlichen Krümmungen von El Guisr, dem Timsah-See, von Toussoum
sind bereits auf grössere Halbmesser gebracht.
Der Canal wird zunächst von 22 m auf 37 m nach Sectionen
verbreitert. Ist dies durchgeführt, dann können die Dampfer überall an
einander vorüber, nur muss beim Passiren jeweils einer stille halten.
Am 1. Jänner 1890 waren die Arbeiten so weit vorgeschritten, dass
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 34
[266]Das Mittelmeerbecken.
von den 160·650 km des ganzen Canals 63·250 km bereits die Breite
von mindestens 37 m besassen, so auf der Strecke von Port Saïd bis
14·250 km, und die auf 37 m gebrachten Ausweichstellen (Gares) allein
waren 10·4 km lang.
Seit 1. Jänner 1890 dürfen die Schiffe von Port Saïd bis 14 km
sich auch ausserhalb der Ausweichstellen kreuzen.
Der Suez-Canal ist eine der Pulsadern des Welthandels, seinen
Schiffsverkehr nährt daher vorzugsweise die Marine Grossbritanniens,
deren Schiffe in allen Häfen der Welt mindestens eine hervorragende
Stelle einnehmen, wenn sie nicht gar den seewärts gerichteten Ver-
kehr derselben vollständig beherrschen. Die folgende Tabelle, welche
den Antheil der wichtigsten Flaggen an dem Verkehre des Suez-Canals
für 1888 enthalten, diene als Beweis für den überwiegenden Antheil
Englands an dem von Franzosen mit französischem Gelde ins Leben
gerufenen Suez-Canale.
| [...] |
Im Jahre 1889 sank die Zahl der englischen Schiffe, welche
den Canal benützten, auf 2611, die der französischen auf 168, die
der italienischen auf 103, während bei Deutschland eine Zunahme
auf 194, bei den Niederlanden auf 146 Schiffe eintrat.
Uns interessirt aber auch die Frage, ob die glänzenden Resultate,
welche die wenig mehr als 20 Jahre alte Verkehrsstrasse des Suez-
Canals aufzuweisen hat, allein genügend sind, die grossartige Bedeu-
tung dieser Unternehmung Lesseps vollkommen klar zu machen. Diese
Frage müssen wir entschieden verneinen. Wir sehen dabei ganz ab
von der grossartigen commerciellen Entwicklung Indiens, Ostasiens,
Australiens und Ostafrikas, die auf den Verkehr des Suez-Canals in
günstiger Weise einwirken muss. Viel wichtiger ist für uns die That-
sache, „dass der Suez-Canal erst einem verhältnissmässig geringen Theil
der Producte dient“, welche zwischen den Küstenländern des Indi-
schen und des Grossen Oceans und Europa ausgetauscht werden können
und wirklich auch ausgetauscht werden.
[267]Der Suez-Canal.
Der Verkehr einer grossen Anzahl derselben, und zwar gerade
der der minderwerthigen, geht heute noch, um Kosten zu ersparen,
auf Segelschiffen um das Cap der guten Hoffnung. Aber in demselben
Masse, als der Segelschiffahrt allmälig die Verfrachtung einer ganzen
Reihe von Gegenständen entzogen wird, die auf die Dampfschiffahrt
übergehen, muss auch die Bedeutung des Suez-Canals steigen; der
Betrag der Canaltaxe wird durch den geringeren Verbrauch von
Kohlen, welche die Folge des kürzeren Weges durch den Suez-Canal
ist, mindestens aufgewogen, die Ersparniss an Zeit ist überdies für
den Handel reiner Gewinn.
Wir können daher mit Recht sagen, die volle Bedeutung des
Suez-Canals wird sich erst in der Zukunft zeigen, trotz des riesigen
Aufschwunges, welchen sein Verkehr in den letzten Jahren genom-
men hat.
Die Schnelligkeit der Fahrt ist auf 10 km in der Stunde fest-
gesetzt, nur in den grossen Bitterseen darf mit voller Dampfkraft ge-
fahren werden.
Die Zeit, welche die Schiffe zu einer Fahrt durch den Canal
benöthigen, wird daher immer kürzer. Dampfer, welche sich des elek-
trischen Lichtes bedienten, brauchten 1888 zu einer Durchfahrt durch-
schnittlich 22 Stunden 26 Minuten. Die schnellste Fahrt machte 1887
die Dampfyacht „Namouna“, die den Weg in 13 Stunden 53 Minuten
zurücklegte.
Das ist die Zeit des Verweilens im Canale, ungerechnet die Auf-
enthalte in Port Saïd und Suez; die effective Canalfahrt ist natürlich
kürzer. Auf diese verwendete 1888 das holländische Torpedoboot
„Cerberus“ nur 9 Stunden 47 Minuten.
Wenn der Canal so fertiggestellt sein wird, wie man beschlossen
hat, werden also die Schiffe durchschnittlich 10 Stunden zum Passiren
des Canals brauchen.
Neben der Verbreiterung des Canals ist jetzt auch die Vertiefung
desselben sehr dringend geworden. Denn immer grösser werden die
Dimensionen der Schiffe, welche den Weg durch den Suez-Canal
suchen. Im Jahre 1870 hatte im Durchschnitte jedes Schiff eine Grösse
von 891 t, 1889 von 2805 t. Im Jahre 1888 hatten 28 Schiffe mehr
als je 1000 Passagiere bei einer Canalfahrt an Bord.
Gegenwärtig ist ein Tiefgang von 7·5 m gestattet. Schiffe, welche
tiefer tauchen würden, dürfen in Port Saïd nicht die ganze Kohlen-
ladung aufnehmen; sie ergänzen dieselbe in Suez. Die Vertiefung des
Canals auf 8·5 m ist vollendet, und die Rheder werden Schiffe bauen
34*
[268]Das Mittelmeerbecken.
lassen, welche für die künftige Tiefe des Canals von 9 m berech-
net sind.
Auf der mittelländischen Seite ist Port Saïd die Kopfstation des
Suez-Canals. Das Städtchen Port Saïd wurde im Jahre 1859 gegründet
und ruht zum grössten Theile auf künstlichen Fundamenten. Einfach
angelegt, ohne hervorragende Bauwerke und nur den Bedürfnissen
des transitirenden Verkehres dienend, macht der Ort einen höchst
nüchternen Eindruck. Als reine Durchzugsetappe, ohne eigene indi-
viduelle Lebenskraft, vermochte nämlich Port Saïd infolge der zu-
nehmenden Ansprüche des Canalverkehrs wohl von Jahr zu Jahr sich
zu erweitern, nicht aber den angenehmen Eindruck der Wohlhaben-
heit zu gewinnen, welche Eigenschaft überhaupt durch die trostlose,
jeder Vegetation entbehrende Umgebung schwer erreicht werden dürfte.
Die Anlage der Stadt war eine Nothwendigkeit, und es mussten
vielerlei ungünstige Verhältnisse beseitigt werden, die einer Ansiedlung
im Wege standen.
Die continuirliche Schiffahrtsbewegung, welche im Hafen herrscht,
verleiht demselben einen ganz besonderen Charakter.
Während in den eigentlichen See- und Handelshäfen die grosse
Mehrzahl der anwesenden zahlreichen Schiffe mit den langwierigen
Operationen des Aus- und Einladens beschäftigt ist und der traditionelle
„Mastenwald“ dadurch ein Gepräge vornehmer Ruhe erhält, ist hier
Alles Bewegung, um nicht zu sagen drängende Hast. Alle ankommen-
den Schiffe sind nur da, um möglichst schnell und bald wieder weiter
zu fahren; kaum ist das Schiff vertäut, so wird mit dem Agenten der
Canalgesellschaft verhandelt, um ja nicht eine spätere Nummer für
die Canalpassage zugetheilt zu bekommen. Ohne Unterlass sieht man
Schiff auf Schiff den Vertäuungsplatz verlassen und die Canalfahrt
antreten; andere kommen aus dem Canale an, ankern gar nicht oder
nur auf wenige Stunden, und noch andere kommen von See aus, die
frei gewordenen Vertäuungs- und Warteplätze einzunehmen. Die
Canalgesellschaft ihrerseits ist natürlich bestrebt, die ankommenden
Schiffe möglichst ohne Zeitverlust weiter zu befördern, um jede
Stockung des Verkehres hintanzuhalten, so dass meistens nur wenige
Schiffe zu gleicher Zeit im Hafen unthätig liegen. Der Aufenthalt wird
dann hauptsächlich zur ausgiebigen Verproviantirung des Schiffes für
die bevorstehende längere Seereise, zu kleinen Reparaturen und In-
standsetzungen von Schiff, Tackelage und Maschine benützt.
Das rege Hafenleben erfährt auch durch den Umstand eine
nahezu fieberhafte Steigerung, dass gerade Port Saïd die Hauptkohlen-
[[269]]
Port Saïd und Einfahrt in den Suez-Canal.
[270]Das Mittelmeerbecken.
station des Suez-Canales ist, und deshalb so ziemlich jedes Schiff hier
— zwischen zwei langen Seereisen — seine Kohlenvorräthe ergänzt.
Zu den markantesten Figuren zählen hier die „Kohlen-Araber“. Ge-
schäftiger als Ameisen befördern diese schlanken und kräftigen Ge-
stalten in lebhaft bewegtem Gewirre unter fortwährendem lauten
Reden, Rufen und Schreien ganze Berge der „schwarzen Diamanten“
in die grossen, neue Kraft aufspeichernden, allen Flaggen angehören-
den Dampfer, die hier zusammenkommen.
Wie unser Plan zeigt, ist das Hafenbecken ein Bassin von
53 ha Oberfläche, dessen Zufahrt gegen den Andrang der hohen See
durch zwei mächtige Wellenbrecher geschützt ist.
Der westliche derselben hat ausser dem Wasser eine Länge von
2500 m und eine submarine Fortsetzung von 500 m, der östliche nur
eine Länge von 1900 m, denn der westliche Damm muss zugleich
den Hafen vor der Verschlammung durch die Sinkstoffe schützen,
welche eine die Küste gegen Syrien hin verfolgende Meeresströmung
herbeischleppt und an der bereits ganz verschlammten Küste Syriens
ablagert. Leuchtschiffe und Bojen markiren das Fahrwasser. Das
höchste Bauwerk ist der am Fusse des grossen Wellenbrechers auf-
geführte imposante Leuchthurm, eines der ersten mit elektrischem
Lichte ausgestattet gewesenen (1870) Leuchtfeuer, und der wichtigste
Markpunkt zum Anlaufen der hiesigen Flachküste. Er liegt unter
31° 16′ nördl. Breite und 32° 19′ östl. Länge v. Gr. Am Hafenquai
steht das Administrationsgebäude der Häfen und Leuchtthürme.
Port Saïd verdankt dem Suez-Canale sein Dasein und seine
Blüthe. Die Arbeiten in den grossartigen Kohlendepots, die Ver-
proviantirung der Schiffe mit Schlachtvieh, Geflügel und Gemüse, die
Erweiterung des Canales seit 1883, der Bau des Süsswassercanales
Port Saïd—Ismaïlia haben Tausende von Menschen herbeigezogen, und
die Bevölkerung von Port Saïd wird auf mehr als 25.000 Seelen
geschätzt, von denen zwei Drittel Eingeborene und Syrer, ein Drittel
Europäer sind. Der Stock der starken flottanten Bevölkerung von Port
Saïd besteht aus Engländern, die hier eine eigene Kirche und das
„Lady Strangford Hospital“ besitzen, in welchem Leitung und Wärter
englisch sind.
Die Wasserleitung von Ismaïlia her, welche die Tonne Wasser
um 1½ Francs liefert, genügt schon lange nicht mehr der rasch
steigenden Bevölkerung, und 1887 wurde der Bau eines Süsswasser-
canals von dort aus begonnen, der vier Jahre später vollendet sein soll.
Das junge Port Saïd ist heute bereits die zweite Hafenstadt
[271]Der Suez-Canal.
Egyptens, eine Rivalin von Alexandria. Sein Gesammtverkehr hat
sich bedeutend gehoben, weil seit dem Februar 1888 nicht weniger
als 7 grosse Postdampferlinien, die früher Alexandria anliefen, direct
nach Port Saïd gehen. Damals wurden Post und Passagiere mit
der Bahn über Alexandria, Kairo und Ismaïlia nach Suez befördert,
heute benützen die Reisenden, welche in Egypten bleiben wollen,
vielfach den Canal bis Ismaïlia, von wo sie die Waggons der Strecke
Ismaïlia—Zagazig durch Staub und Sand ins Innere bringen.
Noch vor wenigen Jahren brauchte ein Dampfer von Alexandria
über Port Saïd nach Suez 4—6 Tage. Diese Zeit benützten alle
besseren Passagiere, um per Bahn über Kairo nach Suez zu gehen,
was circa 22 Stunden in Anspruch nimmt, und den Rest der Zeit, um
Kairo und dessen Sehenswürdigkeiten (die Pyramiden etc.) zu bewun-
dern. Dass nun in Ismaïlia so viele Reisende den Boden Egyptens
betreten, ist für die Canalgesellschaft, wie schon erwähnt, ein Gewinn
von je 5 Francs per Passagier.
Ueber Port Saïd, die Station der grossen Route zwischen Europa
und Asien—Australien, kommt man am schnellsten nach Egypten;
die „Oceana“ der Peninsular und Oriental Company legte einmal die
Strecke Brindisi—Port Saïd (930 Seemeilen) in 58½ Stunden zurück.
Der Weg Salonich—Port Saïd könnte, wie bekannt, in 48 bis
50 Stunden zurückgelegt werden. Aber Port Saïd hat nichts von
seiner günstigen Lage an einer Linie des Weltverkehrs, wie wir eben
gesehen haben; es entbehrt noch immer eines Anschlusses an das
sonst gut angelegte Eisenbahnnetz Egyptens.
Eine Bahn von Port Saïd nach Ismaïlia oder Salihijeh würde
den grössten Theil des Personenverkehres von Alexandria nach Port
Saïd lenken, diesen Hafen zum Ausfuhrplatze des nordöstlichen
Egyptens und somit zu einem gefährlichen Concurrenten Alexandrias
machen.
Wurden doch durch Vermittlung der Egyptischen Bank über
Port Saïd 1886 7316, 1887 6720 Ballen egyptischer Baumwolle,
ausserdem grössere Mengen Baumwollsamen, die bis Ismaïlia auf
dem Süsswassercanale, dann auf dem Hauptcanale gegangen waren,
geschickt.
Es ist daher begreiflich, dass man in Port Saïd der Eröffnung
des neuen Süsswassercanals von Ismaïlia her auch aus dem Grunde mit
Spannung entgegensieht, weil man eine Benützung desselben wenig-
stens durch kleine Schiffe hofft, obwohl es in der Concession für den
Bau ausdrücklich heisst, er dürfe nicht breiter sein, als die Wasser-
[272]Das Mittelmeerbecken.
zufuhr erfordere. Port Saïd besitzt nämlich in der nächsten Umgebung
gar kein cultivirtes Terrain. Die Verproviantirung der einheimischen
Bevölkerung und der durchfahrenden Schiffe erfolgt bis zu den Ge-
müsen herunter durch die aus Alexandria und Beirut hier anlegenden
Dampfer und aus Damiette durch einige Segelschiffe, und in Port Saïd
sind die Lebensmittel kostspieliger und auch die Wohnungsmiethe ist
hier gut um ein Drittel höher als in Alexandria oder Kairo, weil
bis jetzt zu wenig Grund und Boden vorhanden ist, auf dem man
bauen könnte. Ein guter Baugrund kostet jetzt 70—120 Francs für
1 m2. Doch gegen diesen Uebelstand hat die Natur bereits Abhilfe
geschaffen. Die oben genannte Meeresströmung hat vor dem westlichen
Hafendamme aus den Sinkstoffen des Nils eine Halbinsel von 100 ha
aufgebaut, davon sind über 38 ha so fest, dass die egyptische Verwaltung
bald an die Parcellirung derselben und an den Verkauf der Bau-
stellen gehen wird. So wird langsam der feste Boden um Port Saïd
an Ausdehnung gewinnen, und der Süsswassercanal wird Wasser so
billig liefern, dass man es zur Culturbewässerung benützen wird. Aber
der Ort wird noch für lange Zeit eine Insel bleiben zwischen dem
Meere, der ausgetrockneten Lagune im Osten des Suez-Canales und dem
fischreichen Mensaleh-See, dessen ausgedehnte Fläche nicht trocken
gelegt und auch nicht einmal von kleinen Dampfschiffen befahren
werden darf, weil die Fischerei, die jährlich 500.000 fl. einbringt,
nicht beeinträchtigt werden soll.
Dafür droht Port Saïd eine Verschlechterung seiner Gesundheits-
verhältnisse, wenn nicht das Bett des Süsswassercanals wenigstens
bei Port Saïd wasserdicht hergestellt wird. Die lästigen Fieber
Ismaïlias sind ein warnendes Beispiel.
So wird im Lande des Suez-Canales der Canal immer mehr die Haupt-
sache und Egypten immer mehr Nebensache. Dies Egypten, welches den Welt-
handel zwischen Orient und Occident wirklich vermittelte, wird von Tag zu
Tag mehr ein historischer Begriff, weil der Suez-Canal diese Vermittlung direct
auf seine ausserhalb dem eigentlichen Egypten liegenden Schultern genommen hat.
Natürlich ist auch der Handel von Port Saïd, den meist Griechen betreiben,
der Hauptsache nach Transito-Handel, dessen wichtigste Artikel englische Stein-
kohlen und russisches Petroleum bilden. Von Steinkohlen wurden 1888 887.104 t,
1887 705.867 t eingeführt. Denn sowohl auf der Hinreise nach dem indischen
Ocean, wie auf der Rückreise von dort decken die Schiffe ihren Bedarf an Kohlen
auf dem hiesigen Platz.
In Port Saïd sind 5 grosse Kohlenfirmen etablirt, Tag und Nacht werden
die Kohlendampfer gelöscht, von denen 1888 396 ankamen. Unerträglich ist der
Kohlenstaub auf der Seite des Hafens, an welcher die Lager sich befinden, doppelt
unangenehm aber wird es, wenn im April öfter aus dem südöstlichen Quadranten
[273]Der Suez-Canal.
der Chamsin weht, der ungeheure Massen Wüstensandes mit sich führt, so dass
die Luft zeitweise bis zur Undurchsichtigkeit verdunkelt wird.
Der nächst wichtige Artikel ist Petroleum; 1887 kamen hier 100.650 Kisten
aus Amerika, 86.740 Kisten aus Russland an, 1888 30.522 Kisten aus Amerika,
175.826 aus Russland, grösstentheils auf österreichisch-ungarischen Segelschiffen.
Rechnen wir von der gesammten Einfuhr die Maschinen ab, welche die
Suez-Compagnie für ihre Arbeiten einführt, und auf welche 1887 und 1888 die
Hälfte der Zolleinnahme von Port Saïd entfiel, so bleiben für den örtlichen Con-
sum und die Versorgung der Schiffe nur übrig Thiere und thierische [Producte]
aus Syrien (1888 für 25.843 egypt. Pfd.), Cerealien und Mehl aus Odessa und
Ismaïlia (Süsswasser-Canal).
Alexandria (1888 mit Conserven um 53.018 egypt. Pfd.), Spirituosen und Getränke
(1888 89.831 egypt. Pfd.), Holz aus Triest, und Webewaaren (1888 52.755 egypt.
Pfd.). — 1 egyptisches Pfund (L. E) = 25·923 Francs.
Da 1888 nur ganz geringe Mengen von Baumwolle und Baumwollsamen
über Port Saïd zur Ausfuhr kamen, so war die Ausfuhrziffer sehr niedrig.
| [...] |
Von industriellen Unternehmungen bestehen hier nur ein grosses Etablisse-
ment der Canalgesellschaft und eine Eisfabrik.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 35
[274]Das Mittelmeerbecken.
Abgesehen von dem Verkehre, der durch den Suez-Canal geht, und den
Kohlenschiffen aus England, wird Port Saïd angelaufen von den Dampfern der
Messageries maritimes, der russischen Dampfschiffahrts- und Handelsgesellschaft,
dem österreichisch-ungarischen Lloyd, welche die regelmässige Verbindung zwischen
Alexandria und den syrischen Handelsplätzen herstellen, endlich von dem Nord-
deutschen Lloyd (Linie Brindisi—Port Saïd).
In Port Saïd liefen 1888 ein 779 Dampfer mit 905.834 Tons und 28 Segler
mit 11.704 Tons. Der Platz steht durch ein Kabel der Eastern Telegraph Cy.
mit Alexandrien, durch Landlinien mit Kairo, Suez und Syrien in telegraphischer
Verbindung.
Auf dem hiesigen Platze bestehen Filialen der kaiserlich ottomanischen
Bank und der Anglo-Egyptian-Bank.
Consuln: Deutsches Reich, Frankreich, Griechenland, Grossbritannien,
Niederlande, Oesterreich-Ungarn, Russland.
Unter den an der Canalroute gelegenen Ortschaften beansprucht
zunächst die im Timsah-See die weissen Häuserfronten spiegelnde
Stadt Ismaïlia, ebenfalls eine Schöpfung Lesseps’, unser Interesse.
Der Khedive Ismael Pascha erbaute sich dort ein prunkvolles Palais
und zauberte durch Berieselung der Sandwüsten prächtige Gärten, ein
wahres Wundermärchen in der trostlosen Oede, hervor. Ebenso schuf
Herr Lesseps sich hier ein trautes Wohnhaus.
Mit seinen reichen Baumpflanzungen steht Ismaïlia wie ein
kleines Paradies inmitten der Wüste.
Das Städtchen hängt natürlich ebenfalls innig mit dem Canal-
leben zusammen.
Hier sind grosse Pumpwerke zur Vertheilung und Weiterleitung
des Süsswassers installirt. Werkstätten, Magazine und Bureaux, er-
trägliche Gast- und Kaffeehäuser zählen zu den ansehnlichsten
Bauten.
Ismaïlia ist die Kopfstation für den Eisenbahnverkehr zwischen
Kairo, Suez und Alexandria, ebenso laufen hier die Telegraphen-
verbindungen zusammen.
Während der Canalbauten fiel Ismaïlia eine wichtige Rolle zu,
da es vermöge seiner Lage am Schnittpunkte der Süsswasserleitung
und des Canals der Mittelpunkt der Bauthätigkeit war. Auch für die
Instandhaltungs- und Erweiterungs-Arbeiten des Canals ist das
Städtchen noch immer von Bedeutung.
Allein der bloss an seiner Seite vorbeiziehende Schiffsverkehr
kann auf das Gedeihen dieser Ansiedlung nicht jene befruchtende
Kraft ausüben, welche man bei der ausgedehnten Anlage erwartet
haben mochte.
Drei altegyptische Sculpturwerke, die beim Canalbau ausge-
[275]Der Suez-Canal.
graben wurden, und zwar eine Sphynx aus grauem, dichtgekörntem
Stein, sowie eine andere und ein riesiger Sarkophag aus röthlichem
Granit, haben in der Nähe des Sees einen Ehrenplatz gefunden. Diese
wohlerhaltenen Kunstwerke tragen Bänder von gravirten Hieroglyphen.
Auf zweien ist das Ciffre-Medaillon des grossen Ramses verewigt.
Von allen Seen der Canalroute hat das lustige Volk der Wasser-
vögel schon längst Besitz genommen. Möven, Pelikane und die ehe-
mals heilig gehaltenen Ibisse sind allenthalben anzutreffen. Für den
Naturhistoriker noch interessanter ist aber die Einwanderung von
Fischen aus dem Indischen Ocean auf dem Wege des Lesseps nach
dem Mittelmeere und umgekehrt.
Die Canaltrace führt nun zu den beiden wasserreichen Bitter-
seen und von []hier weiter zur Ausmündung bei Suez in das Rothe
Meer.
Die Stadt Suez bleibt einige Kilometer westwärts des Canals,
ist jedoch durch den seichten Meeresarm Suez-Creek mit diesem ver-
bunden.
An der Westseite des Canalendes wurde das gut geschützte
Tewfik-Hafenbassin mit grossem Trockendock und den Etablissements
der Canalgesellschaft angelegt.
Diese Bauten, erst im Jahre 1874 beendigt, haben 32 Millionen
Francs an Kosten verursacht. Die Einfahrt zum Tewfikbassin, zu
welchem ein Schienenstrang aus Suez führt, ist durch Leuchtbojen
und Leuchtfeuer gut markirt; sie liegt unter 29° 56′ nördl. Br. und
32° 33′ östl. Länge v. Gr.
An diesem Ende des Suez-Canals macht sich die Gezeiten-
Strömung bis zu den Bitterseen (Chalouf) fühlbar. Bei Springflut, die
etwas über 2 m steigt, setzt eine wechselnde Strömung mit 2·5 Meilen
stündlicher Geschwindigkeit ein.
Es wird den Schiffen anempfohlen, die genannte Strecke gegen
den Strom steuernd zurückzulegen.
Ueber das heutige Suez ist nur wenig zu berichten. Gänzlich im
Wüstensand gebettet, ist das Städtchen mit seinen unansehnlichen
Häusern völlig reizlos, ein Bild des Verfalls gegenüber dem auf-
blühenden Port Saïd.
35*
[[276]]
Alexandria.
Der mächtige Nil, „der Vater des Segens“ (Abu el Baraka),
theilt nächst Kairo sein Gewässer in sieben Hauptarme, welche
strahlenförmig nordwärts ziehend, längs einer Deltabasis von 250 km
Länge das Mittelmeer erreichen. Die Endpunkte des Deltas sind im
Westen Alexandria, im Osten Port Saïd (vor Ausbau des Suez-Canals
reichte das Delta bis Pelusium).
Die Küstenstrecke des Deltas hat eine nahezu kreisförmige
Krümmung, aus welcher nur die Mündungen von Damietta und Rosetta,
dann das Promontorium von Abukir zungenartig heraustreten.
Die Küste ist hier flach und von See aus erst auf geringe Ent-
fernung wahrnehmbar, doch erleichtern hohe Leuchthürme die Orien-
tirung. Hinter den Nehrungen der Küste dehnen sich haffartige Seen
und Lagunen von Brakwasser aus, deren westlichster, der Mareotis-
oder Mariut-See, bis 15 km westlich von Alexandria reicht.
Die ehrwürdige Residenzstadt der Kleopatra liegt jedoch auf
keiner angeschwemmten Nehrung, sondern auf felsigem Boden, da
von der libyschen Küste aus eine flache Terrainwelle gegen
Abukir streicht, und diesem Theil der Deltaküste einen besonderen
Charakter aufprägt, der nur dort, wo durch Bewässerung und fleissige
Arbeit Culturen gewonnen wurden, freundlich, ja lieblich erscheint,
sonst aber das Gepräge der öden Wüste, über die der Sandsturm
braust, aufweist. So trägt die nächste Umgebung von Alexandria
ein Doppelbild, den Contrast zwischen Oase und Wüste, zur Schau
und schliesst sich so recht der Eigenthümlichkeit Egyptens an, in
dessen Landschaftsbildern scharfe Gegensätze, wie Leben und Tod,
hart aneinanderstossen.
Die Beschaffenheit des Hafens von Alexandria ist aus unserem
Plane zu ersehen. Der eigentliche Hafen liegt, durch den langen, in
einer gebrochenen Linie geführten Wellenbrecher geschützt, im Westen
[[277]]
Alexandria.
[278]Das Mittelmeerbecken.
der Stadt und ist durch einen zweiten Damm (der antike Akre) in
den äusseren und inneren Hafen gesondert.
Im letzteren finden wir das Bassin des antiken „Hafens der
glücklichen Heimkehr“ (Eunostus), an dessen Namen die gegenwärtig
den Leuchtthurm tragende Spitze erinnert.
Die Ostseite der Stadt wird von dem sogenannten neuen Hafen,
der indes gegenwärtig nur von kleinen Küstenfahrern besucht ist,
bespült. Dieser ist der antike „grosse Hafen“ der ursprünglichen
Residenzstadt. An seinem südöstlichen Quai lag der prunkvollste
Stadttheil derselben, Bruchium, auch Basileia genannt, mit dem herr-
lichen Schmuck von königlichen Marmorpalästen, Tempeln, Theatern
und anderen Prachtgebäuden. Auf der östlichsten Landzunge, dem heutigen
Pharallon, damals Lochias genannt, stand ein Königspalast und vor
diesem lag ein kleiner Kunsthafen für die königlichen Prunkschiffe.
Auf einem etwas westlich davon in See geführten Damme spiegelte
das von Antonius erbaute Schloss Timonium sich in den Fluten.
An der Nordwestseite des „grossen Hafens“ bezeichnete der zu
den Weltwundern gezählte 160 m hohe Leuchtthurm Pharos, dessen
Fundamente heute noch erhalten sind, die Zufahrt. Sostrates hatte
ihn 295 v. Chr. unter Ptolemäus Lagi aus weissem Marmor auf einer
Insel aufgeführt.
Der Wunderbau stand durch einen Damm mit der Insel Pharos
in Verbindung und bildete deren östlichsten Punkt, wie die Spitze
Eunostos den westlichsten. Die Pharos-Insel, deren südliche Contour
einen Theil des heutigen Arsenalquais bildet, war durch einen 1300 m
(7 Stadien) langen, an zwei Stellen durchbrochenen und dort über-
brückten Damm, das Heptastadium, mit dem Festlande verbunden.
Durch Anschwemmung und Verschüttung wurde in der Folge zu
beiden Seiten dieses Dammes das Terrain gewonnen, auf dem das neuere
Alexandria sich erhebt. Die Längsachse der jetzigen Stadt bezeichnet
die Lage des Heptastadium.
Das heutige Fort Napoleon krönt jenen Hügel, der ehemals das
Castell der Ptolomäer trug und nächst dem gedachten Damme am
Hafen Eunostos lag.
Um die Vergleichung zwischen Gegenwart und Vergangenheit auf
unserem Plane noch weiter auszuführen, sei erwähnt, dass die schöne
Fahrstrasse, welche nächst der Kathedrale zum Rosetta-Thor führt, nahe-
zu mit der antiken, berühmten, über 4000 m langen und 37 m breiten
Hauptverkehrsstrasse Meson Pedion zusammenfällt, welche durch die
ebenso breite von Pharallon ausgehende Dromosstrasse senkrecht ge-
[279]Alexandria.
schnitten wurde. Der letzteren nördlichster Punkt war das Thor des
Mondes, der südlichste das Thor der Sonne. Im Kreuzungspunkte
beider Strassen (innerhalb der Bastionen des Rosetta-Thores) lag der
herrliche Alexanderplatz mit dem Tetrapylon. Bis zu diesem reichte
der breite Einschnitt des südlichen Mareotis- oder Limnaeus-Hafens
der Stadt, der jetzt mit der ganzen Pracht seiner Umgebung ver-
schwunden ist.
Am westlichsten Ende der Meson Pedion-Strasse, ungefähr an
der Stelle des jetzigen Bauholz- und Wollquais, mündete der natür-
liche Canal, der den Mareotis-See mit dem Meere verband und die
Grenze zwischen Libyen und Egypten bildete. Dieser Canal besass
nahe der Mündung in das Meer eine kreisrunde Erweiterung, das
Ciborium, welches noch im Mittelalter erhalten war.
Alexander der Grosse war 331 v. Chr. der Gründer der Stadt
und Deinocrates aus Rhodus der Ingenieur und Architekt, nach dessen
Plane ein Fischerdorf in eine Weltstadt verwandelt wurde. Die geniale
Schöpfung des grossen Makedoniers wurde nicht nur der Angelpunkt,
um den sich der Handel zweier Welttheile drehte, sie wurde das
London jener fernen Zeiten. Schien die Anlage an der Lagune selbst
gefährlich, so wusste Deinocrates der Gefahr den Stachel zu nehmen.
Die Lage der Stadt an der westlichsten Erstreckung des Nildeltas
sollte den neuen Hafen vor der Versandung bewahren, eine Voraussicht,
die sich wohl bewährte.
Durchaus regelmässig angelegt, mit prächtigen Bauwerken ge-
ziert und zum Hauptsitz der Gelehrsamkeit geworden, war Alexandria
in seiner Glanzperiode eine der volkreichsten und mächtigsten Städte
der Welt. Strabo schildert unter anderem die am Meson Pedion ge-
legene, ein Stadium (185 m) lange Säulenhalle des Gymnasion mit den
herrlichen Hainen und der künstlichen Anhöhe des Paneums als den
Glanzpunkt Alexandrias. Inmitten derselben Anlagen war auch das
Dicasterium, und im Stadttheile Bruchium erhob sich das berühmte
Museum, das die grosse alexandrinische Bibliothek enthielt, die Ptolo-
mäus Lagi begründete und Philadelphus katalogisiren liess. Unter
letzterem wird ihr Bestand auf 400.000 Rollen geschätzt, und als
während der römischen Bürgerkriege ein Theil der Sammlung durch
Cäsar’s Schuld abbrannte, mag sie wohl 700.000 Rollen gezählt
haben. Auch eine zweite Bibliothek, die berühmte Pergamenische
Büchersammlung von 200.000 Bänden, welche der Serapistempel
(Serapeum) am Südwestrande der Stadt enthielt, ward im Jahre 389
n. Chr. bei der Erstürmung des Tempels durch die Christen unter
[280]Das Mittelmeerbecken.
dem Patriarchen Theophilus vernichtet. Der Verlust dieser unersetz-
lichen Schätze des Geistes wurde tief empfunden.
Mit der Gründung von Alexandria und der Verlegung der könig-
lichen Residenz aus dem engen vom Weltverkehr abgeschiedenen Nil-
thale an die Meeresküste vollzog sich in Egypten einer der be-
deutendsten Abschnitte seiner Geschichte. Die Politik der Landes-
abschliessung, die Jahrtausende hindurch als die höchste Leistung der
Staatskunst betrachtet wurde, wenngleich sie unter despotischem
Drucke kaum mehr als den nationalen Charakter des Landes zu wahren
vermochte, schlug nun in das gerade Gegentheil um; der frische Hauch
des griechischen Geistes drängte nach auswärts, belebte den See-
handel und häufte die Reichthümer Alexandrias.
Die Anfänge der egyptischen Staatsbildung liegen in vorhistorischen Zeiten.
Geschichtliche Anknüpfungspunkte reichen beiläufig bis zum Jahre 3180 v. Chr.
Damals unterwarf König Mena von Nordegypten das südliche Land und gründete
Memphis. Er wird als der Begründer der ersten Königsdynastie von Egypten
betrachtet. Unter seiner Herrschaft blühte bereits Kunst und Industrie, so dass
ungeheure Zeiträume verflossen sein mussten, bis die Entwicklung der Cultur diese
Höhe erreichen konnte. Die Dauer dieser Zeitläufe entzieht sich aber dem Geiste des
Forschers. Noch älter als Memphis scheint indessen die berühmte Ammonstadt
Theben (seit 2130 die Hauptstadt) zu sein, die von den Alten für die älteste Stadt
der Welt gehalten wurde. Von Theben sind uns die zahlreichsten und gewaltigsten
Tempel, Ruinen, Sphinxen, Kolosse, Gräber und andere Denkmäler erhalten
geblieben.
Der ersten folgen noch weitere 25 Dynastien, deren zahlreiche Herrscher,
die Pharaonen, häufig Eroberungszüge nach dem afrikanischen Süden und nach
Asien unternahmen, ohne aber dauernden Besitz dort zu erreichen. Die für die
egyptische Kunst fruchtbarste, wenngleich nicht die glanzvollste Periode erblühte
unter Ramses II., der nach seinen erfolgreichen Eroberungszügen nach Indien,
Skythien, Kaukasus, Thrakien, Syrien 49 Jahre den Werken des Friedens widmete.
Seinen Canalbau, der den Nil mit dem Rothen Meere verband, haben wir im vor-
hergehenden Abschnitte erwähnt, aber auch sonst entstanden unter seiner Regierung
grossartige Bauwerke in einer Zahl, wie unter keinem seiner Vorfahren. Aber bald
nach seinem Tode begann der Verfall des Reiches; das geknechtete Volk war er-
mattet und so vermochte es 728 v. Chr. dem Könige Sabakos von Aethiopien nicht
zu widerstehen. 670 fiel auch die äthiopische Dynastie unter den Streichen der
eingefallenen Assyrer, welch letztere indes im Jahre 645 durch den Egypter Psam-
metich vertrieben wurden. Dieser war der Ahnherr der 26. und letzten Herrscher-
dynastie, unter welcher ein langentbehrter Wohlstand das Land beglückte. Da fielen
die Perser ein, Psammetich III. ward 525 bei Pelusium geschlagen, die Hauptstadt
Memphis fiel, und Egyptens Selbständigkeit ward unter ihren Trümmern begraben.
Der Vernichtungsschlag, welchen Alexander von Makedonien dem Perserreiche
versetzte, erdröhnte auch auf egyptischem Boden. Die Perser wurden vertrieben
und 332 v. Chr. pflanzte Alexander im Lande der Pharaonen das Banner seiner
Herrschaft auf. Nach dessen Tode riss sein Feldherr Ptolemäus das Königthum
[281]Alexandria.
an sich, das 275 Jahre lang in dessen Familie erhalten blieb. Königin Kleopatra
war 30 v. Chr. die letzte Herrscherin seines Stammes.
Egypten kam nun unter die Macht Roms, und ein neues Culturelement
durchdrang das Land; die frühere griechisch-egyptische Kunstrichtung gerieth
zwar ins Stocken, allein die Römer beglückten das Land durch Strassenbauten und
Bewässerungsanlagen. Bei der Theilung des römischen Reiches, 395 n. Chr., ge-
langte Egypten an das oströmische Reich, fiel aber schon 641 in die Gewalt der
Araber, welche im X. Jahrhunderte dort ein selbständiges Khalifenreich gründeten,
unter dessen Herrschern insbesondere der berühmte Saracenenheld Saladin während
der Kreuzzüge glänzte.
Sultan Selim I. unterwarf 1517 das entvölkerte Egypten seinem Scepter.
In der neueren Geschichte spielt das Land als Besitz der sinkenden Macht des
türkischen Reiches eine wichtige Rolle in der orientalischen Frage und war von
Alexandria (vom Leuchthurm aus).
den Wechselfällen derselben wiederholt hart getroffen. So während des Eroberungs-
zuges Bonaparte’s 1798 bis 1800, dann während der Herrschaft des kriegerischen
Regenerators Mehemed Ali (1806—1848). Mit einem Truppencontingent 1799 nach
Egypten gekommen, erlangte der in Kavala gebürtige energische Mann inmitten
der kriegerischen Ereignisse bald grossen Einfluss und schwang sich zum Anführer
des Albanesencorps und 1805 zum Pascha von Egypten auf. Die Regenerirung und
Aufrichtung des tief gesunkenen und entvölkerten Landes strebte er mit den
drastischesten Mitteln an. Er vernichtete 1811 zu Kairo die Herrschaft der
Mameluken, indem er 470 Anführer derselben bei einem Festmahie theils nieder-
hauen, theils über die Abstürze des Mokattam Felsrückens jagen liess. Durch die
Confiscation alles Grundeigenthums gewann er die Mittel zur Begründung einer
Land- und Seemacht. Nun trat er als Eroberer auf. Nubien, Sennaar und Kordofán
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 36
[282]Das Mittelmeerbecken.
wurden unterworfen, Syrien 1831—33 erobert und die offene Auflehnung der
Pforte entgegengeschleudert. Die Uneinigkeit der europäischen Grossmächte be-
günstigte Mehemed Ali’s Pläne, doch endlich rafften England und Oesterreich zur
Unterstützung der Türkei sich auf und hemmten 1841 auf syrischem Boden den
Siegeslauf des Eroberers. Verdrängt und geschlagen bot er zwar gerne die Hand
zum Frieden, jedoch bedang er für sich die erbliche Statthalterschaft in Egypten
aus, die er denn auch erlangte. Alexandria und Kairo danken den hochfliegenden
Plänen dieses afrikanischen Peter des Grossen die kräftigsten Impulse zu ihrer
heutigen Blüthe, wie er denn überhaupt als der Begründer einer neuen Epoche in
der Geschichte des Nillandes unvergesslich bleiben wird.
Unter seinen Nachkommen eröffnete der Khedive Ismaïl Pascha (1863—1879)
das Wunderland der Pyramiden dem mächtigen Strome der abendländischen Civili-
sation, deren köstlichste Früchte die Erbauung des Suez-Canals, die Schaffung
von Eisenbahnverbindungen und die Begründung eines Repräsentativsystems (1866)
ihm einen ruhmvollen Namen in der Geschichte sichern. Der unglückliche Krieg
gegen Abessinien (1875) und der gänzliche Verfall der Finanzen führten den Sturz
Ismaïl’s herbei, und dessen Sohn Tewfik übernahm unter sehr ungünstigen Verhält-
nissen die Regierung. Er fügte sich zwar der Finanzcontrole durch England und
Frankreich, vermochte aber der erwachten Nationalpartei gegenüber keinen Einfluss
zu gewinnen. Diese trieb 1882 zum Aufstande unter dem Kriegsminister Arabi
Pascha, der den Kampf selbst mit der zum Schutze der britischen Interessen vor
Alexandria erschienenen englischen Flotte unter Admiral Seymour aufnahm. Am
11. Juli 1882 wurden die Forts und mit diesen die Stadt bombardirt.
England nahm nun die Pacification Egyptens in die Hand, nachdem der Khedive
am 14. August die Ermächtigung ertheilt hatte, gegen Arabi mit Waffengewalt
einzuschreiten. Nach blutigen Kämpfen und erst als Arabi am 15. September 1882
zu Kairo in Gefangenschaft gerathen war, trat die Beruhigung des Landes ein.
Seither währt die Occupation Egyptens durch die englischen Truppen fort, und
das Land hat unter der Controle der Engländer grosse Fortschritte gemacht, wie
die Ueberschüsse der Einnahmen über die Ausgaben beweisen.
Die Zufahrt nach Alexandria ist durch eine dichte Kette von Riffen
und Bänken, die nur einige Passagen für den Verkehr grosser Schiffe
aufweisen, sehr erschwert. Diese Hindernisse bilden eine mit der Küste
nahezu parallel laufende Barrière, innerhalb welcher ein Fahrwasser
von 1—2 km Breite sich erstreckt.
Die am häufigsten benützte Einfahrt führt durch den Boghaz
oder Central-Pass, der 7·6 m Wassertiefe bei tiefster Ebbe hat; nord-
östlich derselben ist der Corvetten-Pass mit 6·1 m Tiefe.
Im Südwesten des Central-Passes liegt der Marabout-Pass mit
7 m Wassertiefe.
In den Durchfahrten steuern die Schiffe nach bestimmten
Deckungen von Land- und Seemarken. Auf unserem Plane haben wir
die Deckungslinien durch punktirte, die Curse der Schiffe aber durch
volle Linien angegeben. Für die Nachtzeit bestehen dermalen keine
Deckungs-Signale, welchem Umstande es zugeschrieben werden muss,
[283]Alexandria.
dass die Schiffe gegenwärtig, seltene Fälle ausgenommen, nur bei Tag
die Pässe nehmen. Eine Regulirung der Haupteinfahrt ist im Zuge.
Im April 1890 sollen die Arbeiten begonnen und in zwei Jahren
zu Ende geführt werden. Eine regelmässige Einfahrt von 9·14 m Tiefe
und 91·44 m Breite, auf Kosten der Regierung zu allen Witterungs-
und Tageszeiten markirt, wird dann auch bei schlechtem Wetter und
bei Nacht das Einlaufen der Schiffe möglich machen.
In seinem Aeusseren stellt Alexandria sich als eine levantinische
Stadt von modernem Zuschnitte dar. Als verhältnissmässig neuere
Schöpfung auf egyptischem Boden besass die ursprüngliche Stadt
kaum ein Bauwerk im altegyptischen Style, sondern entlehnte die
architektonischen Motive der griechischen Baukunst. Die Stürme der
Zeiten, welchen Alexandria ausgesetzt war, haben aber kaum eine
Ruine von ihren zahlreichen Prunkbauten auf uns vererbt. Gegenwärtig
ist die sogenannte Pompejus-Säule das einzige Monument, welches an
die Glanzzeit der berühmten Stadt erinnert. Dasselbe steht ausserhalb
des Nilthores auf einer Erderhebung. Der 22 m hohe Monolith ruht
auf einem aus rohen Steinblöcken gebauten Piedestal und zeichnet
sich durch eine schöne Linienführung aus. Der Säulenschaft ist aus
rothem Assuaner Syenit hergestellt und misst am Fusse 9 m im
Umfange.
Ueber die ursprüngliche Bestimmung des Denkmals gehen die
Meinungen der Archäologen sehr auseinander. Einige halten die Säule
als zu Ehren des Pompejus, andere wieder zur Verherrlichung des
Diocletians errichtet. Noch andere sind der Meinung, dass die Säule
die einzig erhalten gebliebene jener 400 sei, die das Serapeum einst
zierten.
Mehemed Ali’s Regierung, welche für die ganze Geschichte des
modernen Egyptens den wesentlichsten Merkstein bildet, ist auch für
die neuerliche Blüthe Alexandrias epochemachend gewesen. Als er
den Thron der Pharaonen usurpirte, übernahm er Alexandria als eine
Ruinenstätte, in welcher etwa 6000 arme Fellachen, Griechen, Türken
und Franken ein elendes armseliges Leben fristeten. Selbst die Ruinen
waren unter der Türkenherrschaft derart verwüstet worden, dass sie
kein beredtes Zeugniss mehr geben konnten von der Pracht, die sie
gesehen. Mehemed’s Scharfblick erkannte, was in Alexandria zu retten
sei, und er wurde der Gönner der Stadt, welche er vor allem durch
den Mahmudieh-Canal mit dem Nil verband. Unter seiner Regierung
schon entstanden zahlreiche Privatbauten im östlichen Theile der
Stadt, der als Frankenviertel immer mehr zur Geltung kam.
36*
[284]Das Mittelmeerbecken.
Der Mehemed Ali-Platz, in dessen Mitte zwischen Baumanlagen
das erzene Reiterstandbild des egyptischen Reformators steht, ist mit
seinen langen Häuserfronten und den einmündenden breiten Strassen
zum fashionablen Quartier der Stadt geworden. Längst sind die
Häuserruinen, welche durch die Katastrophe am 11. Juli 1882 ent-
standen waren, entfernt und durch Neubauten ersetzt.
Alexandria hatte damals arg gelitten. Als nach einer mörde-
rischen Kanonade Admiral Seymour die Forts zum Schweigen ge-
bracht, blieb die Stadt den plündernden Horden der Eingeborenen
und den in Freiheit gesetzten Bagnosträflingen überlassen; ein grosser
Theil der Stadt, darunter das Frankenviertel, gegen welches die ganze
Wuth der anarchischen Massen tobte, ging in Flammen auf.
Im Jahre 1798 wurde Alexandria von Bonaparte erstürmt und 1799 erfolgte
im Monate Februar eine mehrtägige Beschiessung durch ein englisches Geschwader
unter Capitän Troubridge.
Die nächste Umgebung der Stadt besitzt einige durch ihre
tropische Vegetation reizende Partien. Man ist überrascht, auf der
Strasse nach Ramleh oder an den Ufern des Mahmudieh-Canales hart
an trostlosen Wüsteneien einen Kranz herrlicher und wohlgepflegter
Gärten, in welchen die zierlichen Wedel der Dattelpalme neben den
mächtigen Kronen der Sykomoren gedeihen, vorzufinden. Dort hat sich
die besitzende und vornehme Welt der Stadt in zierlichen Villen ein
beneidenswerthes Sans-soucis geschaffen, das über die Mühen des
Tages wohl hinwegzuhelfen geeignet ist.
Ein Glanzpunkt der Hafenansicht ist das Marmorschloss Ras-
el-Tin nächst dem Leuchtthurme, dessen weisse Front markant hervor-
tritt. Mehemed Ali erbaute dasselbe, und seither blieb es die Sommer-
Residenz des jeweiligen Vicekönigs von Egypten. Auch dieses Gebäude
wurde durch das Bombardement hart mitgenommen.
Merkwürdig sind die sogenannten Katakomben. Diese Bestattungs-
räume mögen entweder der einstens in der Nähe gelegenen Ortschaft Rha-
kotis als Nekropole gedient haben oder aber gehörten sie dem alten
Alexandria selbst an. In Felsen gehauen, enthalten sie kaum 2 m hohe
Gänge und Hallen von bescheidener Ausdehnung, aber ohne Inschriften
oder Sculpturen. Der Zugang befindet sich knapp am Strande nächst
der Batterie Tsalé.
Alexandria (türkisch Iskanderieh) zählt (1882) 227.000 Ein-
wohner, davon 49.000 Fremde. In seiner Bevölkerung sind aller Herren
Länder Sprachen und Nationen vertreten, es ist ein internationaler
Hafenort, aber wie vor Alters, so herrscht noch heute ein gewisser
[285]Alexandria.
griechischer Typus vor und bewahrt so auch äusserlich das Andenken
an seinen Ursprung.
„Ueber siebzig Städte hat“, nach dem angeblichen Plutarch,
„Alexander der Grosse unter den barbarischen Völkern gegründet und
Asien mit hellenischen Städten besäet.“ Aber Alexandria ist seine
glänzendste Schöpfung. Mit dem wunderbaren Scharfblicke, den wir
bei allen Städtegründungen Alexander’s erkennen, ist die Stelle aus-
gewählt, die einzige der egyptischen Küste, die ein erträgliches Hafen-
bassin bieten konnte, das frei war von der Gefahr, durch die An-
schwemmungen des Nil verschlammt zu werden, weil die Strömung
des Meeres an diesem Theile der Nordküste Afrikas nach Osten zieht.
Alexandria wurde nicht gegründet, um die Herrschaft über Egypten
zu behaupten, es liegt ja mehr neben als in Egypten. Auch hier
war für Alexander, wie bei so vielen anderen seiner Städtegründungen,
nicht die militärische Bedeutung des Platzes entscheidend. Nicht durch
Soldaten allein sollte die Welt des Orientes der Herrschaft des
hellenischen Geistes gesichert bleiben, sondern auch durch Kaufleute.
Er schuf für den wiedererweckten Handel neue Centralpunkte, gab
ihm eine neue Richtung und verknüpfte so das Interesse der Einge-
borenen mit dem der Hellenen, welche er in diesem Emporien an-
siedelte. Die Rücksicht auf den Handel war auch entscheidend für
die Städtegründungen seiner Nachfolger, und die Ptolemäer vollendeten
in Alexandrien, was er begonnen. Als Ptolemaeus II. Philadelphus, so
genannt, weil er seine Halbschwester Assinoë geheiratet hatte, die
Leiche des Gründers der Stadt nach Alexandria brachte, war dieses
nicht nur das Centrum der Regierungsgewalt einer militärischen Mon-
archie, nicht allein der Brennpunkt eines neu gestalteten geistigen
Lebens der Hellenen, sondern auch eine mächtige Stätte des Welt-
handels.
Vor den Lagiden hatte Egypten nur Getreide ausgeführt. Sie
stellten den alten Canal, der den Nil mit dem Rothen Meere verband,
wieder her und säuberten dieses von den Seeräubern. Der Handel
Indiens, Arabiens und Aethiopiens wurde dadurch auf dem bequemen und
sicheren Weg durch Egypten geleitet, und die berühmten Städte
Phönikiens verloren ihren Speditionshandel, die Hauptquelle ihrer
Blüthe.
Alexandria blieb seitdem ein Sitz des Welthandels, und wenn
auch später die Gewaltthätigkeit vieler mohammedanischer Herrscher
Egyptens dem Handel Indiens mit dem Abendlande oft die grössten
Hindernisse in den Weg legte, immer wieder suchte der Handel mit
[286]Das Mittelmeerbecken.
Gewürzen, namentlich der mit Pfeffer, die kürzeste Route über Egypten
auf. Erst als der Seeweg um Afrika gefunden war und die vier
portugiesischen Schiffe Vasco da Gama’s am 20. Mai 1498 vor Calicut
ihre Anker auswarfen, brach die Schlusskatastrophe über Alexandria
herein.
In wenigen Jahren vernichteten die Portugiesen die Seeherrschaft
der Araber, welche den Handel Indiens mit Egypten vermittelt hatten,
Gewürze, Seide und Baumwolle gingen ums Cap der guten Hoffnung
nach Europa. Erst die Expedition Napoleon’s nach Egypten am Ende
des vorigen Jahrhundertes rückte den uralten Handelsweg über
Egypten wieder in den Vordergrund. Die Herrscher Egyptens erkannten
allmälig die Stellung, welche ihrem Lande im Welthandel durch die
geographische Lage vorgeschrieben war, und die Erfindung der Dampf-
schiffahrt durch Foulton machte es möglich, durch das bei der Segel-
schiffahrt arg verrufene Rothe Meer ohne Aufenthalt zu fahren.
Dem Engländer Waghorn gebührt das Verdienst, einen regel-
mässigen Verkehr zwischen Indien und Europa über Egypten zuerst
wieder angeregt zu haben. Aber 1830 verhielt sich die Präsident-
schaft von Bombay noch ablehnend gegen das Project und erst im
Jahre 1838 kam es zu einer regelmässigen monatlichen Verbindung
mittelst Dampfern zwischen Bombay und Suez. Von hier ging die
Fahrt auf zweiräderigen Karren an den Nil; nur nach langjährigen
Bemühungen erhielt Waghorn die Geldmittel, welche ihn in den
Besitz eines Schleppdampfers brachten, und die regelmässigen Linien
der englischen Dampfer wurden endlich von Malta bis Alexandria
ausgedehnt. Erst das Jahr 1855 brachte den ganzen indischen Ueber-
landverkehr in die Hände der Peninsular and Oriental Company, im
Jänner 1856 wurde die Bahn von Alexandria bis Kairo (211 km) und
später die Linie von dort bis Suez eröffnet. Der Ueberlandverkehr liess
nun an Regelmässigkeit und Sicherheit nichts mehr zu wünschen
übrig, und Alexandria war für Briefe und für werthvolle Güter wieder
ein Hauptpunkt des Weltverkehrs, doch nur für kurze Zeit. Denn der
oben geschilderte Ausbau des Suez-Canals hat seit dem 1. März 1887
den internationalen Verkehr dauernd von Alexandria abgelenkt. Dieser
Canal macht Egypten zu einem Transitolande, welches am Transitohandel
keinen weiteren Antheil hat, als einen rein geographischen. Der Khalife
Al Mansur, der im VIII. Jahrhundert den Trajansgraben verschütten
liess, handelte mit Ueberlegung. Und was war jener Canal verglichen
mit dem des Lesseps, was der damalige Welthandel im Vergleiche zu
dem unserer Tage! Heute hat Alexandria nur Werth für den Handel
[287]Alexandria.
Egyptens und den seiner südlichen Grenzländer, vorausgesetzt, dass
dort, wo heute die Mahdisten herrschen, wieder gesicherte Verhältnisse
eintreten.
Der Bau einer Eisenbahn von Port Saïd nach dem Südwesten
zum Anschlusse an das egyptische Eisenbahnnetz, der ja doch auf die
Dauer nicht zu vermeiden ist, würde mindestens den Handel des öst-
lichen Theiles des Deltas nach Port Saïd lenken. Die zahlreichen
englischen Kohlenschiffe, welche jährlich dort landen, könnten für die
Verschiffung von Baumwolle und Getreide nach England ausnehmend
niedrige Frachtsätze bewilligen.
So lange aber diese Bahn nach Port Saïd nicht gebaut ist,
bleibt Alexandria nicht nur der wichtigste, sondern, man könnte fast
sagen, der einzige Hafenplatz Egyptens, weil die Einfuhr und Aus-
fuhr von Port Saïd auf den Localverkehr im strengsten Sinne des
Wortes beschränkt sind.
Aber trotzdem diese Bahn noch nicht gebaut ist, lässt sich der
Rückgang Alexandrias nicht verkennen. Der Niedergang begann mit
dem Bombardement von 1882, welcher die Blüthe der egyptischen
Seestadt um so schwerer verletzte, als die folgenden Jahre dem Ale-
xandriner Handel nur Entgang, aber keinen Aufschwung brachten. Der
Wohlstand, den Egypten seit der Aufsicht der Engländer erlangt hat,
kommt also nicht der Stadt zugute. Nur die Bauern gewinnen, nicht
der Handel Alexandrias, die Reichsfinanzen floriren, der Stadtbewohner
aber verarmt. Alexandria hat nämlich seinen Zwischenhandel ver-
loren, der bis vor wenig Jahren in seinen Mauern blühte. Die Ausfuhr
erfolgt zum grössten Theile unmittelbar, es fehlt der eigentliche
Waarenumsatz, und die Erwerbsquellen sind dadurch auf ein Minimum
reducirt. Ein Markt von der Bedeutung Alexandrias kann nicht be-
stehen, wenn die Waaren vom Erzeuger direct an den Exporteur gehen,
weil dann im günstigsten Falle nur 2 % von der Summe des Exportes,
der ungefähr 10·5 Millionen egyptische Lire beträgt, verdient werden.
Der Transport der Ausfuhrartikel Egyptens nach Alexandria
findet mit der Eisenbahn statt. Der Mahmudieh-Canal hat dafür nur
sehr geringe Bedeutung, weil die egyptische Regierung die Schiffahrt
auf dem Nil mit empfindlichen Abgaben belastet, um das Erträgniss
ihrer Eisenbahnen zu heben. Auch muss man bedenken, dass ein
Canal vom Rosette’schen Nilarm schon im XIV. und XV. Jahrhundert
bestand, aber gerade so wiederholt verschlammte, wie in unseren
Tagen der Mahmudieh- und Süsswasser-Canal. Gegenwärtig werden
die Bahnlinien über Siut hinaus nach Süden weiter geführt.
[288]Das Mittelmeerbecken.
Egypten, dieses „Geschenk des Nil“, ist, soweit die Fluten des heiligen
Stromes sein schmales langgestrecktes Thal und das Delta, welches wie ein Fächer
sich ausbreitet, alljährlich überschwemmen und eine Schlammschichte zurücklassen,
welche dem Boden wieder zuführt, was ihm in den letzten neun Monaten durch
den Ackerbau entzogen worden ist, äusserst fruchtbar.
Im Monate Juli beginnt als Folge der Tropenregen, die im Quellgebiete des
Nil im März einsetzen, das langersehnte Steigen des Flusses, und gegen Ende
September erreicht er seinen höchsten Stand. Strassen und Ortschaften ragen nur
wenig aus der graugrünen Flut heraus, die Ende October so weit gesunken ist, dass
der Ackerbau beginnen kann. Niederwasser des Nil ist gleichbedeutend mit Miss-
ernte. Schon in den ältesten Zeiten suchte man solchem Unglücke möglichst vor-
zubeugen. Ein weit verzweigtes Canalsystem vertheilte das befruchtende Wasser
des Stromes, unzählige Schöpfwerke brachten es in die ein wenig höher gelegenen
Theile. Die Arbeit der Pharaonen haben die Ptolemäer, die muhammedanischen
Fürsten der verschiedenen Dynastien fortgesetzt, welche nacheinander Egypten
beherrschten. Mit den Hilfsmitteln der modernen Technik und den Erfahrungen,
welche sie in Indien gemacht hatten, suchen die Engländer das grosse Werk der
Bewässerung des Landes zum Abschlusse zu bringen, und sie hoffen, in absehbarer
Zeit das Unglück, das eine nicht ausreichende Ueberschwemmung des Nils bringt,
sehr bedeutend einzuschränken.
Die ganze Culturfläche Egyptens erreicht noch nicht 28.000 km2, also unge-
fähr die Fläche von Mähren und Schlesien. Wohl erhöht sich diese Ziffer für
Egypten noch um etwa drei Zehntel, weil auf vielen Feldern in einem Jahre
drei Ernten stattfinden, nämlich die Winterernte (Chitroi), die Sommerernte (Sefi)
und die Herbsternte (Nili). Doch auch dies eingerechnet, wie fruchtbar muss ein
Land sein, das überdies noch so grosse Mengen von Baumwolle, Getreide und
Zucker zur Ausfuhr bringen kann?
Baumwolle wird in Egypten erst seit dem nordamerikanischen Sclaven-
kriege (1860—64) in grossem Massstabe für die Zwecke des Exportes gebaut und
hat sich auch später, als Amerika wieder concurrenzfähig wurde, auf dem Welt-
markte behauptet, obwohl die egyptische Baumwolle theurer ist als die amerika-
nische. Sie geht zur Hälfte nach England (Liverpool), dann nach Russland (Odessa,
Kronstadt), Spanien (Barcelona), Frankreich (Marseille, Havre), Italien (Genua),
Oesterreich-Ungarn (Triest), in die Schweiz, ins Elsass, nach Sachsen und seit 1888
sogar in die Vereinigten Staaten, wo man mit der Erzeugung von Stoffen begonnen
hat, für welche sich nur die egyptische Baumwolle eignet. In allen Ländern macht
man mit Garnen, welche aus egyptischer Baumwolle gesponnen sind, gute Geschäfte.
Legende zum Hafen von Alexandria.
A Aussen-Hafen, B innerer Hafen (alter oder Westhafen, Eunostus der Alten), C Hafenbank, D neuer
oder Osthafen, der grosse Hafen der Alten, E Arsenalbassin mit Schwimmdock, F Leuchtfeuer,
G grosser Wellenbrecher, H See-Arsenal, J Palais des Khedive, K Harem, L Hospital, M schwimmende
Capelle für Seeleute, N Bassin für Reparaturen, O Fort Napoleon, P Feuer- und Zeitsignalstation,
Q Quarantäne, R Bauholz- und Baumwolle-Quai, R1 Bassin der Pen. u. Orient. Schiffahrts-Gesellschaft,
S Baumwolle-Börse, T Zollamt, T1 project. neues Zollamt, U Bauholz-Magazin, V arabische Dörfer,
W Palmengärten, X Consuls- oder Mohammed Ali-Platz, Y Eisenbahn-Station, Z Gabari-Palais. —
1 Directions-Marken für Schiffe, 2. Necropolis, 3. Palast-Ruinen, 4. Mareotis-See, 5. Wrack im Hafen,
6. Mahmudieh-Canal, 7. Nil-Thor, 8. Moharanbey-Thor, 9. Wasserwerke, 10. Standort des ptolemäischen
Palastes, 11. Rosetta-Thor, 12. Friedhöfe, 13. Mahmudieh-Strasse, 14. Ibrahim-Strasse, 15. Kaserne,
16. katholische Kirche, 17. Pompejus-Säule, 18. Gärten des Moharan-Bey, 19. Ras-el-Tin-Strasse,
[...] Moschee, [...] Windmühlen. — Leuchtthurm Eunostos 31° 12′ n. B. 29″ 52′ O. v. Gr.
[[289]]
(Legende siehe auf Seite 288).
Die Seehäfen des Weltverkehrs, I. Band. 37
[290]Das Mittelmeerbecken.
Man baut jetzt auch eine Baumwollsorte, „Mitaffi“, deren Wolle eine glänzend
braune Farbe hat.
Als Getreideland war Egypten im Alterthume eine Kornkammer für
Südeuropa; diese Stellung musste es freilich längst mächtigeren Rivalen abtreten,
allein sein Getreidehandel ist noch immer bedeutend. Ausgeführt wurden 1888
1,192.640 q, Werth 6,794.158 egyptische L. — 1887 1.343.349 q, Werth 7,422.367
egyptische L. Von Baumwollsamen, dem bedeutendsten Exportartikel Egyptens
nach Baumwolle, werden neun Zehntel nach England, das übrige nach Marseille
gesendet. Ausfuhr 1888 4,145.442 hl, Werth 1,308.124 egyptische L.; 1887
4,576.832 hl, Werth 1,276.376 egyptische L. Von Weizen gehen die Hälfte bis
zwei Drittel nach England. Ausfuhr 1888 785.590 hl, 1887 379.582 hl. Von
Mehl wurden versendet 1888 59.518 q, 1887 43.967 q.
Mais ist die Hauptnahrung der Bevölkerung und wird erst seit 1883/84
in sehr guten Jahren in grösserer Menge nach England, Frankreich und Belgien
exportirt. Ausfuhr 1888 356.768 hl, 1887 17.206 hl. In dieselben Länder wird
Gerste ausgeführt. Die Reis-Ausfuhr erreichte 1888 64.294 hl, 1887 68.432 hl.
Der Werth der ausgeführten Bohnen übersteigt auch heute noch, wo diese
durch die Concurrenz grüner Bohnen aus Calcutta in England im Preise ge-
drückt sind, die aller Getreidegattungen zusammengenommen. In England ver
wendet man sie gespalten als Futter für Pferde, in Frankreich vermengt man
Bohnenmehl mit Weizenmehl. Ausfuhr 1888 1,291.682 hl, 1887 1,351.476 hl.
Die Ausfuhr der Linsen ist in steter Abnahme begriffen; 1888 42.924 hl,
1887 40.242 hl.
Die Zuckerproduction Egyptens hat in den letzten Jahren einen grossen
Aufschwung genommen. Auch Raffinerien wurden errichtet und die Concurrenz
des von ihnen gelieferten Zuckers macht sich an den Gestaden des Levantinischen
und Aegäischen Meeres bis Smyrna hinauf bemerkbar. Rohzucker geht nach Italien
und England. Ausfuhr 1888 415.990 q Zucker und 147.887 q Melasse, 1887
441.338 q Zucker und 139.076 q Melasse.
Im egyptischen Handel spielten von jeher Zwiebeln eine bedeutende Rolle;
heute noch führt die wichtigste Vorstadt Alexandrias, diejenige, in welcher der
ganze Ausfuhrverkehr des Platzes sich abwickelt, den Namen „Minet el Bassal“
(der Zwiebelmarkt). Als die Engländer sich 1882 in Egypten festsetzten, wurden die
egyptischen Zwiebeln in England beliebt und von dort nach Amerika versendet,
verschafften sich 1887 Zutritt in Frankreich, 1888 in Oesterreich-Ungarn. Mit
den egyptischen Zwiebeln geht es so, wie mit den bosnischen; wer sie ge-
gessen, dem inunden die bei uns gebauten Gattungen nicht mehr. Für den Export
wird Zwiebel in den südlich von Kairo gelegenen Districten in steigender Ausdehnung
gebaut. Die Gesammtversendung aus Egypten belief sich 1888 auf 224.000 q,
Werth 71.414 egyptische L.; 1887 159.200 q, Werth 40.860 egyptische L.
Endlich sind aus dem Pflanzenreiche noch zu nennen Wachs aus Ober-
egypten und dem Sudan und Gummi arabicum aus dem Sudan. Wegen des
Aufstandes der Mahdisten stockt die Zufuhr des letzteren nach Egypten, wo in
Kairo die Waare gereinigt und über Alexandria exportirt wird. Die feinen ele-
girten Sorten für den Apothekerbedarf, wie Kordofan-Gummi, kommen nur in ganz
kleinen Mengen auf den Markt.
Von den Producten des Thierreichs werden rohe und gegerbte Häute und
[291]Alexandria.
in neuerer Zeit in steigenden Mengen lebende Wachteln exportirt. Man fängt
sie in Oberegypten und versendet sie in Körben via Marseille. Frankreich war
1888 der Hauptabnehmer der ausgeführten 1,235.831 Stück (Werth 13.437
egyptische L.).
Grössere Wichtigkeit hat die Ausfuhr von Schafwolle. Sie kommt aus
Oberegypten, wo sie einheimische, in Kairo ansässige Kaufleute zusammenkaufen
und nach Liverpool zum Verkauf auf den Woll-Auctionen verschiffen. Ausfuhr
1888 13.489 q, 1887 15.791 q.
Aus den Fabriken, welche Mehemed Ali und Ismaïl Pascha in Egypten
im Laufe dieses Jahrhunderts errichtet haben, ist nicht viel geworden. Gefährlicher
für den Import scheinen die Fabriken zu werden, welche in den letzten Jahren in
Egypten errichtet wurden. Der Zuckerraffinerien wurde schon Erwähnung gethan.
Man erzeugt jetzt auch Leder zum Export, Zündhölzchen für den inländischen Be-
darf, man wird wohl auch bald ordinäres Papier erzeugen, statt die Lumpen auszu-
führen, und Baumwollsamenöl im Lande pressen, um bei diesem Artikel die doppelte
Fracht zu ersparen, die heute auf ihm lastet, wenn er in Egypten consumirt wird.
Jedenfalls wird diese einheimische Industrie die Einfuhr nach Alexandria
hemmen.
Die Einfuhr von Stoffen und Garnen aus Baumwolle, welche den sechsten
Theil der gesammten Einfuhr ausmachen, deckt England. Frankreich nimmt die zweite
Stelle ein, aber seine Einfuhr ist hinter der Englands sehr weit zurück. Der Import
belief sich 1888 auf 133.033 q und 3,399.404 m (Werth beider 1,359.595 egyp-
tische L.), 1887 auf 150.479 q und 2,831.704 m (Werth beider 1,478.941 egyptische L.).
Der Rückgang der Einfuhr der Baumwollstoffe ist nun theilweise gedeckt
durch die Steigerung der Einfuhr von Schafwollstoffen, Wirkwaaren und
anderen Erzeugnissen der Textilindustrie, ausgenommen Schafwollstoffe. Einfuhr
1888 225.818 egyptische L., 1887 190.681 egyptische L. In Egypten steigt die
Nachfrage nach Herren- und Frauenwäsche sowie nach fertigen Kleidern.
Letztere kommen meist aus Oesterreich-Ungarn, erstere aus Frankreich, Oesterreich-
Ungarn und Deutschland, türkische Kappen (Tarbusche) aus Oesterreich-Ungarn,
Hüte aus Frankreich, Seidenwaaren liefert Frankreich, halbseidene billige
Sammte Deutschland.
Trotzdem der Import von Schuhwaaren aus Oesterreich-Ungarn zurück-
geht, nimmt es in diesem Artikel noch immer die erste Stelle in Egypten ein.
Neben ihm importiren Frankreich, England und die Schweiz. Aus Marokko und
der Türkei kommen Pantoffeln. Einfuhr 1888 750.619 Paar, Werth 1,005.094
egyptische L.
Von Jutesäcken werden drei Viertel aus Dundee, ein Viertel aus Calcutta
bezogen. Einfuhr 1888 32.111 q, Werth 63.000 egyptische L.
Oesterreich-Ungarn liefert den grössten Theil des egyptischen Bedarfs an
Schreib-, Druck- und Cigarettenpapier, Concurrenten sind Italien, Belgien, Frank-
reich und Deutschland.
Steingut und Porzellanwaaren kommen aus Oesterreich-Ungarn, Eng-
land, Belgien und Frankreich, Holglas aus der Steiermark, gepresstes Glas und
Fensterglas aus Belgien; Werth der Einfuhr all der genannten Artikel 149.514
egyptische L.
Die Einfuhr von Zündwaaren geht zurück, weil die einheimische Fabri-
37*
[292]Das Mittelmeerbecken.
cation sich tüchtig entwickelt. Farbwaaren kommen aus England und Deutsch-
land. Seife wird um 66.600 egyptische L. bezogen.
Die Gruppe Nahrungs- und Genussmittel spielt in der Einfuhr Alexandrias
eine grosse Rolle. Bier wird aus Oesterreich-Ungarn, England und Bayern (Werth
1888 64.273 englische L.), 1887 84.710 egyptische L. bezogen. Frankreich wird
bei der Einfuhr von Wein von Griechenland, Italien und Syrien zurückgedrängt,
gleichzeitig geht der Weinimport überhaupt zurück (Werth 1888 108.234 egyptische L.).
Alkohol wurde 1888 um 62.870 egyptische L. eingeführt.
Der Import von Reis erfolgt nicht mehr über London, sondern direct von
Rangoon aus, er ist zurückgegangen, weil von Alexandria aus nicht mehr andere
Plätze des ottomanischen Reiches versorgt werden, sondern nur Egypten. Das
Reisgeschäft ist zu sieben Achteln in deutschen Händen. Weizenmehl wird aus
Russland eingeführt.
Die Einfuhr von raffinirtem Zucker aus Oesterreich-Ungarn und Frankreich
sinkt und wird mit der weiteren Entwicklung der egyptischen Industrie sogar
ganz aufhören.
Der Kaffeehandel concentrirt sich immer mehr in Suez und erreichte die
Einfuhr in Alexandria 1888 nur 11.435 q.
Der Bedarf von Gewürzen, unter denen Pfeffer das wichtigste ist, wird
nicht mehr über europäische Plätze, sondern direct aus Singapore gedeckt.
Mit Indigo aus Bengalen und Madras wird Alexandria vorzugsweise über
Kairo versorgt, wo persische und indische Händler grosse Lager halten.
Olivenöl wird von den griechischen und türkischen Inseln (1888 für
74.934, 1887 für 83.475 englische L.) bezogen und allmälig durch andere Sorten
verdrängt, welche England liefert, wie Baumwollöl und Leinsamenöl.
Der Verbrauch von Stearinkerzen nimmt stetig zu, selbst die Eingebornen
legen Geld für bessere Sorten aus. Belgien ist an die erste Stelle gerückt, es
schickt seine Kerzen auf dem Wasserwege zunächst nach Marseille; dann folgen
Frankreich und die Niederlande.
In Seife ist auch die Türkei wichtig auf dem Platze von Alexandria. Im
Allgemeinen geht die Einfuhr zurück (1888 27.996 q, Werth 64.441 egypt. L.),
weil im Lande Seifenfabriken entstehen; damit steht in Zusammenhang die Steige-
rung der Einfuhr von Chemikalien.
Im Jahre 1888 wurden die Steuern für in Egypten gebauten Tabak und
der Zoll für die Einfuhr von Blättertabak erhöht, Cigarren als Staatsmonopol
erklärt. Die Einfuhr beider Artikel steigt langsam und erreichte 1888 bei Blätter-
tabak 26.034 q, Werth 224.548 egyptische L., bei Cigarren 731 q, Werth 15.456
egyptische L. Die egyptische Statistik hebt dann noch besonders den persischen
Tumbeki hervor, der zum Rauchen in der Wasserpfeife bestimmt ist. Einfuhr 1888
1229 q, Werth 6104 egyptische L.
In Holz beherrschte früher Oesterreich-Ungarn mit seiner Einfuhr via
Triest den Markt von Alexandria. Jetzt kommt wenig aus den Alpenländern,
eingeführt werden sorgfältig geschnittene Hölzer aus Ungarn und Galizien via
Odessa und Galatz. Ernste Concurrenten sind Schweden, vor allem aber Norwegen.
Werth der Holzeinfuhr 1888 291.541 egyptische L. Die Höhe dieser Ziffer ist
ebenso wie die Einfuhr der Bausteine aus Istrien abhängig von der Bauthätigkeit
im Lande. Auch ansehnliche Mengen von Brennholz und Holzkohlen werden in dieses
holzarme Land eingeführt; 1888 für 88.829 egyptische L.
[293]Alexandria.
Aus der Türkei wird Butter, oder besser gesagt, ein Surrogat, hergestellt
aus Schaf- und Ziegenfett, eingeführt für den Consum der einheimischen Bevölke-
rung. Eigentliche Butter kommt aus Indien, und für die englische Garnison aus
England, beziehungsweise Dänemark. Auch findet eine Einfuhr lebender Thiere
aus den türkischen Provinzen statt, hervorgerufen durch die englische Garnison;
sie erreichte 1888 einen Werth von 156.260, 1887 von 149.097 egyptische L.
Rohe Seide wird jährlich durchschnittlich in einem Betrage von 118.000
bis 120.000 egyptische L. bezogen, Häute rund um 43.000 egyptische L.
Den Bedarf an Eisen- und Stahlwaaren, an Maschinen und an Gegen-
ständen aus anderen Metallen als Eisen deckt in erster Linie England, und
Petroleum kommt zu einem Drittel Amerika, zu zwei Dritteln aus Russ-
land. Der arme Fellah, der Hauptconsument, dem der Detailhändler das Petro-
leum unverhältnissmässig theuer verkauft, sieht in erster Reihe auf die Billigkeit,
und dadurch ist das russische Petroleum dem amerikanischen in Egypten über-
legen. Auch brauchen die Segler, welche Petroleum aus Amerika bringen, nach
Alexandria 2—3 Monate, aus Batum kommt es auf Dampfern in 13—14 Tagen.
Die Einfuhr der letzten Jahre zeigt eine grosse Differenz; offenbar wurde 1887 der
Markt überführt. Einfuhr 1888 375.479 Kisten im Werth von 76.742 egyptische L.,
1887 559.503 Kisten.
Der Kohlenimport Alexandrias steht hinter dem von Port Saïd zurück,
ausser den Eisenbahnen sind jetzt auch die von den Engländern errichteten Irri-
gationswerke grosse Consumenten englischer Kohlen. Einfuhr 1888 415.994 t,
1887 365.476 t.
Egypten ist seit 1882 von den Engländern besetzt. Die Bedürfnisse seiner
Truppen werden direct aus England gedeckt. Seit viel längerer Zeit aber
schon war Egypten ein werthvolleres Gebiet ihres Handels. England besorgt auch
mit seinen weltbekannten Massengütern zwei Drittel der Einfuhr Alexandrias. Von
der Ausfuhr übernimmt es gut zwei Fünftel zum grössten Theile für den eigenen
Bedarf. Von der Ausfuhr Alexandrias entfallen bedeutende Beträge noch auf
Russland, Frankreich, Oesterreich-Ungarn, Italien und die Türkei.
In der Einfuhr folgt auf England mit einem Sechstel der Gesammtziffer
die Türkei, an sie reihen sich Frankreich, Oesterreich-Ungarn, die britischen Be-
sitzungen in Süd- und Ostasien, Russland und Italien. Auch hier müssen wir die
Erweiterung der belgischen Einfuhr feststellen. Deutschlands Import ist zum
Theile auch in dem anderer Staaten enthalten.
Diese Darstellung des Handels Alexandrias deckt sich heute, wo
der Sudan dem Verkehre verschlossen ist, zum grössten Theile mit dem
Handel Egyptens, nur in Kaffee ist Suez der erste Platz des Landes.
Es fehlen aber hier jene Waaren, welche vom Rothen Meere
her ins Land kommen. Die Mengen sind nicht mehr sehr bedeu-
tend, denn der Suez-Canal hat das meiste von dem alten Handels-
platze Kairo abgelenkt.
Der Gesammtverkehr Alexandrias erreichte in egyptischen Lire:
| [...] |
Ausländische Häuser vermitteln den grössten Theil desselben.
Die Regierung hat auch die Bedeutung der Fremden für das Gedeihen
der Stadt anerkannt und zugleich dem internationalen Charakter
Alexandrias Rechnung getragen. Haben doch seine Kaufmannschaften
und seine Banquiers sich selbst eine Steuer auferlegt und mit dem
Gelde durch eine aus ihnen selbst gewählte Commission einen grossen
Theil der Stadt mit einem vortrefflichen Pflaster versehen lassen. Ein
Deutscher that sich in dieser Sache besonders hervor.
Daher sitzen auch in dem neuen Municipalrathe von Alexandria,
der durch ein Decret des Khedive vom 5. Jänner 1890 eingesetzt
wurde, drei Mitglieder aus den Kaufleuten, welche exportiren, und
drei aus der Gruppe der Importeure.
Man darf von dieser Massregel, welche den Kaufleuten Alexan-
drias eine wichtige Stellung im Municipalrathe gibt, nicht weniger
für die Stadt erwarten, als von der Regulirung der Einfahrt des
Hafens.
Ueber den Schiffsverkehr Alexandrias finden wir folgende Angaben:
| [...] |
Antheil der Flaggen 1888:
| [...] |
England ausgenommen, steht der Dampfschiffahrtsverkehr der anderen
Staaten in engstem Zusammenhange mit den Postlinien. Solche unterhalten die
Messageries martimes von Marseille nach Alexandria (4½ Tage), Piräus, Salonich,
Constantinopel, Smyrna;
der österreichisch-ungarische Lloyd mit Triest über Brindisi (4¾ Tage), und
mit Fiume über Corfu, ferner mit Beirut, Smyrna, Constantinopel;
die Peninsular and Oriental Cy. von Venedig über Brindisi;
die Navigazione Generale von Genua über Neapel und Messina;
die Khedivié mit Piräus, Smyrna, Constantinopel, Beirut;
die russische Dampfschiffahrts- und Handelsgesellschaft aus Odessa mit Con-
stantinopel, Smyrna, Syra, Beirut.
Von den Dampferlinien nach Ostasien landet nur mehr die der Messageries
maritimes in Alexandria.
Alexandria ist Landungsstelle von 5 Kabeln der Eastern Telegraph Cy.
Zwei verbinden den Platz mit La Valetta auf Malta und je 1 mit Sitia auf Kreta
[295]Alexandria.
mit Larnaka auf Cypern und mit Port Saïd. Die Ueberlandlinie geht längs der
Eisenbahn über Kairo nach Suez.
In Alexandria sind folgende Banken vertreten:
Die Bank von Egypten, die Anglo-egyptische Bank (Sitz London), Crédit
Lyonnais, Franco-Egyptienne, Impériale Ottomane, die Hypothekenbanken Société
Immobilière und The Land and Mortgage; Cassa di Sconto e di Risparmio.
Von den 28 Versicherungsgesellschaften, die hier vertreten sind, dienen 11
der Seeversicherung.
Alexandria ist der Sitz eines Appellationsgerichtes, eines Zollamtes, der
Direction générale des Ports et des Phares.
Consulate haben hier: Belgien, Brasilien (G.-C.), Dänemark (G.-C.),
Deutsches Reich, Frankreich, Griechenland (G.-C.), Grossbritannien, Italien, Marokko,
Niederlande, Oesterreich-Ungarn, Persien, Portugal, Russland, Schweden und Nor-
wegen, Spanien.
[[296]]
Tunis.
Im Verlaufe unserer Schilderungen haben wir wiederholt Gegenden
angetroffen, deren gegenwärtiges bescheidenes Dasein kaum mehr
ahnen lässt, dass sie einstens vielbegehrte, vielumstrittene Gebiete
waren, auf welchen die erschütterndsten Tragödien sich abspielten
und der Kampf um die Weltherrschaft mit Erbitterung ausgefochten
wurde.
Eine solche räumlich beschränkte Landschaft, auf der aber die
blutigsten Kämpfe um Macht, Herrschaft und vor allem um die
Hegemonie im Welthandel stattfanden, von welchen die Geschichte
des Alterthumes zu berichten weiss, liegt zwischen Bizerta, Tunis
und dem Cap Carthago. Auch hier spielte sich Weltgeschichte
hohen Styles ab, wie zu Rom, Athen und Byzanz. Der Zauber
einer grandiosen Vergangenheit erhebt denn auch die Gegend im Um-
kreise von Tunis weit über die Bedeutung hinaus, die sie ob ihrer
landschaftlichen Eigenthümlichkeiten beanspruchen könnte.
In dem grossen Golfe zwischen Cap Bon und Cap Farina tritt
der Höhenzug von Carthago als markantes Object hervor und bildet
im südlichsten Theile des Golfes, den man den Golf von Carthago
nennen könnte, die -Bai von Tunis, an welcher das kleine Goletta, die
Hafenstadt der uralten Residenz Tunis, liegt.
Das Bild der ganzen Umgebung ist ein fesselndes. Im Osten
streicht vom Cap Bon aus ein Höhenzug von 300 bis 400 m Höhe
durch die Halbinsel der Provinz Kalibia zu der fruchtbaren Ebene
Suleimen (Soliman), wo das Minaret der uralten Stadt über grünen
Baumkronen sichtbar ist; weiter an der Küste der Badeort Hammam
el Lenf (Hamman-Lif), dessen heisse Quellen eine vorläufig nur locale
Berühmtheit erlangten; weiter nördlich lagert auf einem Hügel am
Meere das freundliche Dorf Rhadés (Aradis) und im Hintergrunde
erhebt sich 1600 m hoch die imposante Spitze des Berges Zaguan,
[[297]]
Tunis.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 38
[298]Das Mittelmeerbecken.
aus dessen Schluchten die Carthager das Wasser zuleiteten, gleichwie
dies gegenwärtig für Tunis geschieht. Westwärts blinkt, durch den
weiten Bahira-See von der Küste getrennt, die von einigen Hügeln
umgebene weisse Masse der Stadt Tunis uns entgegen. Man glaubt
einen Marmorbruch zu erblicken, so unregelmässig und verworren
erscheint von der Ferne das Bild dieser interessanten Stadt. Sie führt
denn auch den Namen „die Weisse“; die Araber erschöpften die
bilderreiche Sprache ihrer Heimat, um die herrlichsten und weihe-
vollsten Beinamen der Stadt zu verleihen. Tunis ist für sie „die Ruhm-
reiche“, „der Aufenthalt des Glückes“, „der weisse Burnus des
Propheten“ u. dgl. Den Vordergrund nimmt Goletta in hübscher Lage
ein, und nordwärts desselben zieren reizende Paläste, Villen und Gärten
den Küstensaum gegen Cap Carthago zu. Dort bei dem anmuthigen
Orte Sidi-bu-Said fällt das Hochplateau, auf dem die glänzende Welt-
stadt lag, zum Meere ab. Eine markante Erhöhung daselbst, dort wo
die Capelle und Kathedrale St. Louis in die Ferne sieht, ist der Ort,
auf dem die Feste Byrsa stand und die schöne Dido lebte. Dort starb
auch der heilige Ludwig.
Wie man Tunis nicht betrachten kann, ohne die Höhe von
Carthago mit dem Auge zu streifen, ebenso wenig vermag man von
der Hauptstadt der Regentschaft zu schreiben, ohne die entschwundene
Königin der Meere zu nennen. Die Schicksale beider Städte sind in
deren ersten Perioden innig miteinander verknüpft.
Die älteste Kunde über die Colonisation der nordafrikanischen Küste gibt
uns die Heilige Schrift, nach welcher asiatische Völkerstämme über Egypten dahin
vordrangen. Die Berbern, Tunesen und algerischen Kabylen sind die Nachkommen
dieser Colonisten. Dem politischen Geiste der Phönikier (Sidon) entstammten das
Reich Libyen und viele blühende Colonien, wie Kambé, die Vorgängerin von Carthago,
dann das als Tripolis benannte Gebiet der drei Städte Leptis, Oea und Sabratha
(„Markt“) u. a. m.
Als in der Folge Tyrus zu Macht und Ueberfluss gedieh, vollendete es die
Besiedlung der afrikanischen Küstengebiete durch die Gründung von Hippo Zarytus
(Bizerta), Utica, Tunes, Insel Cossyra, Hadrumetum, Tapsus u. a., sämmtlich an der
heutigen tunesischen Küste gelegen.
Von Tyrus ging 846 v. Chr. auch die Gründung Carthagos aus, der Sage
nach das Werk einer Frau. Die schöne phönikische Prinzessin Elissa (Dido) lan-
dete mit Colonisten in der Nähe von Utica und erbaute auf den Ruinen von
Kambé die neue Stadt Carthago (von Karthada, das ist Neustadt).
Bekannt ist die Sage, dass der libysche König der Prinzessin so viel Land-
fläche zusagte, als sie mit einer Ochsenhaut umspannen könne. Dido schnitt diese
in feine Streifen und umgab damit einen Hügel, auf dem sich dann Byrsa, die
Festung der Carthager, erhob. Auf derselben Höhe entstand auch der Palast, auf
[299]Tunis.
dessen Terrasse Virgil das grosse Liebesdrama zwischen Aeneas und der Prin-
zessin, das die letztere in den Tod treibt, sich abspielen lässt.
Um Byrsa gruppirte sich allmälig die mächtige Stadt Carthago, die zuletzt
eine Zahl von 700.000 Einwohnern erlangte. Der rege Handelsgeist und die Unter-
nehmungslust der Phönikier hatten sich in die neue Colonie verpflanzt und trieben
zur Ausbreitung der Macht. Von hier ging denn auch die Colonisation des west-
lichen Mittelmeeres aus, und Niederlassungen der Carthager entstanden selbst
ausserhalb der Säulen des Herkules am Senegal und nordwärts bis zu den bri-
tischen Inseln. Im V. Jahrhundert v. Chr. war Carthago, die Rivalin von Massilia,
das sie bekriegte, zur Königin der Meere geworden. Mit den Etruskern im Bunde
bemächtigte sie sich der Inseln Sicilien und Corsica. Im westlichen Sicilien hatten
die Carthager festen Fuss gefasst und kämpften seit 480 v. Chr. gegen die Griechen
(Syrakus). Da beschloss Agathokles, die Carthager in Afrika selbst zu treffen. Er
bemächtigte sich Tarytus und Tunes und belagerte dann drei Jahre hindurch,
(310—307) wiewohl erfolglos, Carthago.
Als die Römer 272 das südliche Italien eroberten, kreuzten sie gar bald
die Interessensphäre der Carthager, deren Ansprüche auf Sardinien, Corsica und
Sicilien sowie die demüthigenden Beschränkungen, welche der römischen Flotte
auferlegt wurden, die Veranlassung zu den punischen Kriegen bildeten, welche die
ganze Wildheit und Falschheit, den Hass und die Begeisterung aufwiesen, deren
die menschliche Seele fähig ist. Das war ein Kampf um die Weltherrschaft, ein
blutiges Turnier der grössten und erfahrensten Feldherrn der damaligen Zeit:
Regulus, Hamilkar und dessen Sohn Hannibal, Scipio.
Im ersten punischen Kriege (264—241) ging Sicilien verloren und Consul
Regulus bedrohte 255 die Stadt Carthago, allwo nach dem Friedensschluss ein
höchst gefährlicher Aufstand der Miethstruppen ausbrach, den Hannibal unter-
drückte. Dieser brach dann nach Spanien auf, unterwarf einen grossen Theil des-
selben als Ersatz für die von den Römern widerrechtlich besetzten Inseln Sardinien
und Corsica. In den Silberminen Südspaniens fanden sie den Schatz, in dem
Kriege gegen die eingebornen Stämme übten sie das Heer zum Rachekampfe
gegen Rom.
Als dann Hannibal (219) Sagunt angriff, entbrannte der zweite punische
Krieg (218—201). Carthago verlor Spanien und büsste seine Seemacht bis auf
10 Schiffe ein.
Der dritte punische Krieg (149—146), welcher der nicht gestillten Eifer-
sucht der Römer entsprang, brachte Carthago den Untergang. Scipio belagerte die
Stadt, deren Bewohner mit unübertrefflichem Heldenthum der wüthenden Angriffe
sich erwehrten. Der Opfermuth der mitkämpfenden Frauen, die selbst ihre Haare
abschnitten, um daraus die Sehnen der Wurfmaschinen zu erzeugen, ist völlig
beispiellos in der Geschichte. Als die Mauern der Befestigungen schon durch-
brochen waren, wüthete der Kampf noch volle sechs Tage von Haus zu Haus;
Zoll um Zoll musste durch Menschenblut abgerungen werden. Das Gemetzel war
entsetzlich. Nur ein Theil der Bewohner vermochte sich zu retten. Die Zerstörung
Carthagos (146) beschloss den Krieg. Das Reich der besiegten Rivalin bildete
dann die römische Provinz Afrika.
Auf den Trümmern Carthagos legte Augustus eine Colonie an, die rasch
aufblühte und im II. und III. Jahrhundert n. Chr. eine der volkreichsten Städte
des römischen Reiches wurde. Nur Rom und Alexandria übertrafen sie an Grösse.
38*
[300]Das Mittelmeerbecken.
Bei der Theilung des Reiches kam die Provinz Afrika an das ost-
römische Reich.
Nun fielen (439 n. Chr.) die Vandalen unter Genserich ein; dieser erhob
Neucarthago zur Hauptstadt seines Reiches. Belisar, welcher 533 die Vandalen
auf den Schlachtfeldern bei Tunis schlug, eroberte es wieder für Byzanz.
Im Jahre 647 erschienen die Araber auf afrikanischem Boden und eroberten
670 Tunis. Die Herrschaft der Byzantiner ward gebrochen. Byrsa allein widerstand
bis zum Jahre 693. Mit ihm fiel auch Carthago — zum zweitenmal — in
Trümmer.
Khairuan, das der Häuptling Okbah gründete, wurde nun und blieb bis zum
XIII. Jahrhundert die Hauptstadt des Reiches, worauf 1260 Tunis an dessen Stelle
tritt, die aus Spanien immer mehr verdrängten Mauren aufnimmt und deren poli-
tisches und religiöses Centrum wird.
Indessen schwindet die Macht der Mauren auch in Tunis. Karl VI. von
Frankreich zwingt 1391 den König von Tunis zum Frieden mit den Genuesen.
Im XVI. Jahrhundert fiel der Sultan von Algier, der berühmte Khaireddin,
genannt Barbarossa, in Tunis ein, eroberte Bizerta und Tunis und verjagte den
König Muley-Hassan. Da erschien Kaiser Karl V. 1535 mit einer grossen Flotte;
Goletta wurde erfolgreich beschossen und Barbarossa durch ausgeschiffte Truppen
entscheidend geschlagen. Muley ward wieder eingesetzt und Goletta behielt eine
spanische Garnison.
Im Jahre 1575 trat Tunis unter die Oberhoheit der Türkei, aber 1649
nahm der Dey Mohammed den Titel eines Bey an und gründete, obgleich er noch
als Vasall sich bekannte, die erbliche Monarchie.
Gleichwie Marokko, Algier und Tripolis brachte auch Tunis alsbald die
officielle Piraterie im Mittelmeere in Schwung und respectirte selbst die Flaggen
der grossen Seestaaten nicht. Die Handelsschiffahrt gerieth infolge dessen in höchst
fatale Situationen. Wiederholte Beschiessungen der Raubnester an der Küste
führten zu keiner Abhilfe, ebensowenig fruchteten Reclamationen bei der Hohen
Pforte, und so entschlossen die meisten Staaten sich zur Zahlung jährlicher Tri-
bute — man nannte dieselben Geschenke — an die Deys oder Beys der Regent-
schaften (Barbaresken- oder Raubstaaten).
Ernstere und langwährende Conflicte hatte Tunis (1784—1790) mit der
Republik Venedig auszukämpfen; diese entsendete den Admiral Emo mit einer
Flotte nach Tunis und demüthigte nach mehrfachen Beschiessungen von Goletta
und Tunis sowie anderer Küstenstädte den Raubstaat. Noch zu Beginn dieses
Jahrhunderts bildeten die Barbaresken den Schrecken der Seefahrer im Mittel-
meere, und erst im dritten Jahrzehnt ward ihre Macht gebrochen, nachdem Tausende
von Matrosen und Passagieren von ihnen gefangen genommen und in die Sclaverei
geführt worden waren.
Die wiederholten Einfälle tunesischer Stämme in Algier, die Niedermetze-
lung der Expedition des Obersten Flatters, der zur Erforschung der Sahara aus-
gesendet war, und vielleicht nicht zum geringsten die Sorge, dass Italien, dessen
Unterthanen bei dem Bau der tunesischen Eisenbahnen betheiligt waren, an eine
Besetzung von Tunis gehen könnte, führten im April 1881 zum Kriege, und durch
den Vertrag vom 12. Mai 1881 (genauer bestimmt 8. Juni 1883) wurde Tunis, das
seit 1575 unter der Souveränetät der Hohen Pforte gestanden, ein Schutzstaat
Frankreichs. Der französische Generalresident ist Minister des Aeussern von
[301]Tunis.
Tunis, er handhabt die Rechte Frankreichs, ist den Truppen- und Seecommandanten
vorgesetzt und entscheidet in allen die Europäer betreffenden Angelegenheiten.
Desgleichen werden die Finanzen, das Post-, Schul- und Bauwesen durch fran-
zösische Beamte verwaltet. Von Frankreich bestellte Gerichte sind ein Tribunal
erster Instanz, abhängig vom Appellhof in Algier, und sechs Friedensgerichte.
Die von den Franzosen sehr geschickt durchgeführte unblutige Annexion
dieses werthvollen Theiles von Nord-Afrika liess aber einen Stachel im Herzen
Italiens zurück, weil eben dieses Reich durch die grosse Auswanderung, die sich
seit Jahren in Tunis niedergelassen, Ansprüche „ersessen“ zu haben glaubte.
Das Gebiet von Tunis umfasst eine Fläche von 116.000 km2 und
zählt ungefähr 2,000.000 Einwohner, von welchen, nach Charles
Lallemand (Tunis et ses environs 1890), 1·2 Millionen Mauren und
Araber, 700.000 Berber, 50.000 Juden und 50.000 Europäer sind.
Wie unser Plan zeigt, lagert die Stadt Tunis auf einer Landenge,
welche die beiden Seen Bahira und Sebkha el Sedjoumi von einander
scheidet. Der letztgenannte pflegt im Sommer auszutrocknen.
Den höchsten Punkt der Stadt nimmt die alte, aus der Zeit
Karl V. stammende, gegenwärtig im Umbau begriffene Citadelle Kasbah
ein; sie bildet das Centralwerk einer Linie von Forts, welche sämmtlich
auf Hügeln erbaut die Stadt umgeben und die vorbeiführende Eisenbahn
bestreichen. Das die Stadt beherrschende Fort Ben Hassan ist das
südlichste derselben. Fort des Andalouses im Westen flog 1887 in
die Luft, wird aber wieder hergestellt werden.
Innerhalb der starken Umfassungsmauern, durch welche viele gut
vertheidigte Thore führen, unterscheidet man drei Quartiere, und zwar
im Norden Bab as Suïka, im Centrum La Medina und im Süden Bab
al Dschazira. Die Frankenstadt entstand am Bahira-See. Dort liegt
in der breiten Romstrasse der Bahnhof. Die Avenue de France führt
zum Thor Bab-el-Bahar und die mit schönen Alleen gezierte Avenue
de la Marine, die besuchteste Promenade der Stadt, geleitet uns zum
Zollamte und zur Landungsstelle der nach Goletta verkehrenden Fahr-
zeuge. An der Marina-Allee liegen die Kathedrale und ihr gegenüber
das Palais der französischen Residentschaft. Tunis ist eine Stadt voll
orientalischen Lebens, reich an Farbe und Reiz.
Von grossem Interesse ist auch hier der Besuch des Bazars, der
im Viertel Medina liegt, aber eine Stadt für sich bildet, in der für die
einzelnen Waarengattungen besondere Abtheilungen „Zugs“ (französisch
Souks) bestehen. Schöne Stoffe, Teppiche, Geschmeide, Parfums,
Blumen, besonders herrlich im Winter, dann Früchte und Gemüse
fesseln hier den Beschauer.
Das Volks- und Karawanentreiben ist zumeist an den Thoren,
[302]Das Mittelmeerbecken.
wo überhaupt eine grosse Bewegung herrscht, malerisch entwickelt.
Dort sieht man reich beladene Kameel-Karawanen bedächtigen Schrittes
anlangen oder rasten. Sie bringen die prächtigen Bodenproducte der
fruchtbaren Thäler von Cap Bon, Soliman und Hammamet, Töpfer-
waaren aus Naboul, Bausteine aus den werthvollen Brüchen von Kedel,
die geschätzten Weine von Batic, Birkassa und aus dem Thale von
Mornag, sowie andere Erzeugnisse der Hausindustrie. Der Segen eines
prächtigen milden Klimas liegt über Stadt und Land und ein schöner
blauer Himmel wölbt gnädig sich darüber. Um zu Kraft und Reich-
thum zu gelangen, fehlen dem Lande nur zwei Dinge: Menschen und
Wasser. Beide waren vorhanden, wurden aber verwüstet.
Gegenwärtig wird die Stadt durch die restaurirte alte carthagische
Wasserleitung mit Trinkwasser versorgt. Derselbe Aquäduct speist
auch Goletta und La Marsa. Die Leitung hat von Monte Zaguan bis
Tunis eine Länge von 102 km und nach Goletta 124 km. Eine Besonder-
heit von Tunis sind die Häuserterrassen, welche eine zweite, sozusagen
obere Stadt bilden und eigene Communicationen besitzen. Auf kühlen
Plätzchen regt sich dort nach des Tages Arbeit und Hitze das geheim-
nissvolle Nachtleben der Stadt.
Fesselnd und eines Besuches werth ist das Judenquartier, das
eine grosse Synagoge in der Zarkun-Strasse besitzt, welche letztere
besonders am Sabbath-Nachmittage ein höchst lebhaft bewegtes
Bild darbietet. An und für sich durch hübsche Gesichtszüge ausge-
zeichnet, erscheint die junge jüdische Frauenwelt hier in eigenthüm-
lichen, meist hellfarbigen und werthvollen Costumen auf der Strasse.
Die Tracht der Jüdinnen ist fürwahr reizend und verführerisch; seidene
Höschen, hübsche Stiefletten, kurze Blousen mit gestickten Tulleärmeln,
am Haupte ein spitzes geziertes Bonnet, das Alles in lebhaften Farben
gehalten und vom Temperament der Trägerin bewegt, steht den
jugendlichen Gestalten prächtig.
Unter den Moscheen von Tunis ist die Djama ez Zituna (Oliven-
Moschee), in Medina gelegen, die grösste. Durch eine schöne Colonnade
ausgezeichnet, enthält sie die Gräber der Beys.
Im Westen der Stadt führt eine schöne Fahrstrasse aus dem
Thore Bab-el-Khadra nach Bardo (3 km), einem weiten Gebäude-
complex mit dem Palais des Beys. Reizender als dieses Gebäude ist
das nächstgelegene Palais Kassar Said, inmitten herrlicher Gärten und
Orangerien gelegen, die tausende edelster Orangenbäume auf einer
Fläche von mehreren Hektaren enthalten. Auf derselben Strasse erreicht
man nach weiteren 6 km die schöne Villenstadt La Manuba, einen
[303]Tunis.
vielbesuchten Ausflugsort der Bevölkerung von Tunis. La Manuba ist
die erste Station der Eisenbahn nach Algier. Tunis zählt ungefähr
150.000 Einwohner, von welchen etwa 35.000 Juden sind und 30.000
den verschiedenen europäischen Nationen, hauptsächlich den Italienern,
Maltesern, Griechen und Franzosen, angehören. Das Gros der Bevölkerung
bilden Araber, Mauren, Berber und Neger.
Die französische Verwaltung des Landes hat sich bisher mit
anerkennenswerther Energie der Hebung der vielfach verwahrlosten
Verhältnisse angenommen und kann bereits auf schöne Erfolge hin-
weisen. So hat sich seit 1883 bis 1889 die Zahl der französischen
Schulen in Tunis von 27 auf 67 gehoben, und weisen die Register
des Jahres 1889 9494 Schüler europäischer und 1765 solche tunesischer
Abkunft (gegenüber von 150 Tunesen im Jahre 1883) aus. Die Alliance
Israélite unterhält eine französische Schule mit 1200 Schülern, von
welchen 800 armen Familien angehörende auch Kost und Kleidung
erhalten.
Seit der Schutzherrschaft Frankreichs bietet die Stadt Tunis in
jeder Beziehung das Bild des Fortschrittes; die Entstehung eines
neuen europäischen Viertels, die Ausbesserung der Strassen, die Ein-
führung von Tramway-Linien durch eine belgische Gesellschaft, die
Erbauu[n]g von Localbahnen sind Beweise dafür.
Gegenwärtig ist das Project, einen Schiffahrtscanal von Goletta
nach Tunis und einen geschützten Hafen bei Goletta herzustellen, in
Ausführung begriffen. Die Arbeiten wurden der Société des Batignolles
übertragen und sollen im Jahre 1892 beendigt sein. Durch den Bahira-
See führt zwar bereits ein Canal von 8 km Länge, der aber versandet
ist und an einzelnen Strecken kaum 2 m Wasser Tiefe hat. Nach
Herstellung der Arbeiten werden die Seedampfer unmittelbar am Quai
von Tunis anlegen können.
Der Bahira-See ist ein seichtes Haff, das bei Goletta mit
dem Meere in Verbindung steht. Er ist der Tummelplatz grosser
Schaaren von Wasservögeln, namentlich Pelikanen, Schwänen und
herrlichen Flamingos. Auf der Insel Schickli erhebt sich die von
Karl V. erbaute Burg, allwo noch eine mit Blei ausgegossene Cysterne
zu sehen ist.
Ueber Goletta (französisch La Goulette), dessen Leuchtfeuer unter
36° 48′ nördl. Breite und 10° 18′ öst. Länge v. Gr. liegt, ist nur wenig
zu sagen. Das Städtchen zählt kaum 3500 Einwohner und ist seiner
gemässigten Sommertemperatur und prächtigen Seebäder wegen von
den Tunesen gerne besucht. Ein schöner Kranz von Villen ist am
[304]Das Mittelmeerbecken.
Strande, nördlich des Städtchens gegen das Sommerpalais Khair-eddin
und dem kleinen Ort El Kram zu, entstanden. Mit Tunis und
La Marsa ist Goletta durch Eisenbahnen verbunden.
Auf der Stätte des alten Carthago gewahrt man gegenwärtig
Felder, Gärten und Villeggiaturen. Tiefer Humus deckt die Grundmauern
und ermöglichte bisher nicht, einen Situationsplan der berühmten Stadt
zu entwerfen. Man weiss nur, dass die Stadt im Norden bis zum Cap
Kamart, in dessen Nähe die Nekropole war, gereicht hatte. Die Höhe
Byrsa trug die Festung, die Burg der Dido und einen Tempel des
Aesculap. Jetzt glänzt dort die von Ludwig Philipp, König von Frank-
reich, 1841 erbaute Capelle St. Louis zur Erinnerung an den heiligen
Ludwig (König Ludwig IX. von Frankreich), der an jener Stelle am
25. August 1270, auf einem Kreuzzuge begriffen, der Pest erlag. Die
Capelle entsprach weder der Grösse der Erinnerung, noch der patrio-
tischen Begeisterung der Franzosen für die Ruhmesthaten ihrer helden-
müthigen Vorfahren, und dieser Umstand bewog den als Philanthropen
bekannten Cardinal Lavigerie, Erzbischof von Tunis, auf der Höhe von
Byrsa ein prächtiges Gebäude in maurischem Style zu erbauen und
als Seminar einzurichten. Ebenso erbaute er aus gesammelten Spenden
in der Nähe der Capelle eine herrliche Kathedrale in byzantinisch-
maurischem Style, welche 1890 eingeweiht werden wird.
Eine Sehenswürdigkeit ist das dort befindliche Museum Alavuï, das
durch den Vorsteher der Mission, Abbé Delattre, archäologisch geordnet,
eine Sammlung schöner Marmorsculpturen, Mosaiken, Bronzen, punischer
Waffen, Münzen, Cameen und Schmuckgegenstände enthält.
Nördlich von diesen Gebäuden liegt nächst des carthagischen
ungeheueren Amphitheaters, das mehr als 200 m Durchmesser besass,
das Dorf la Malka, mit einer Eisenbahnstation. Dort befinden sich
die ausgedehnten, gegenwärtig durch die Compagnie des eaux restau-
rirten Cisternen von Carthago.
Nordwärts von Malka ist das Gebiet la Marsa, eine prächtige
Landschaft mit reizenden Gärten und Villen. Hier lag der Stadttheil
Megara des alten Carthago. Auf dem blühenden Terrain von la Marsa,
das kühlende Seeluft bestreicht, residiren während des Sommers in poesie-
vollen, mitunter eines Ariosto würdigen Villeggiaturen und hübschen
Palais der weise, als Gelehrter und Schriftsteller hochangesehene Bey
Ali von Tunis (geb. 1817), Prinz Saïeb, der Khasnadar, der französische
General-Resident und viele andere Würdenträger. La Marsa ist ein
reizender Aufenthaltsort. Mit dessen prächtiger Lage wetteifert das
nächst Cap Carthago auf der Höhe liegende freundliche Dorf Sidi-bu-
[305]Tunis.
Saïd, die Sommerfrische der muselmanischen Aristokratie. In der
dortigen Moschee wird das Grab des Sidi-bu-Saïd andachtsvoll ver-
ehrt; der fromme Todte ist aber kein anderer als der heilige Ludwig.
Nächst dem Dorfe liegt die schöne Besitzung des Cardinals
Lavigerie mit blühender Rebencultur.
Von der Höhe des Leuchtthurmes ist eine der grossartigsten Aus-
sichten auf die ganze Umgebung zu geniessen. Vor allem ruht der
A Ankerplatz bei Goletta, B Brücke, C inneres Bassin, D Bahira- oder Tunis-See, E Eisenbahnstation,
F Leuchtfeuer, G Paläste des Bey, H grosse Cisternen, J Cisternen, K Canal nach Tunis, L Landungs-
platz in Tunis, M Frankenstadt, N Friedhof, O Vorstadt Bab-el-Tjazira, P Vorstadt Medina, Q Vor-
stadt Bab-es-Suika, R Citadelle Kasbah, S Fort Fil-Fil, T Fort des Andalouses, U Fort Manubia,
V Volksgarten.
Blick auf dem Trümmerfelde von Carthago und auf dessen Erben, dem
neuen Hafen von Tunis.
Die Macht Carthagos, in dessen Nähe heute Tunis-Goletta stehen,
war durch den zweiten punischen Krieg gebrochen, die Weltherrschaft
des römischen Staates durch den Sieg der Scipionen über den syrischen
Grosskönig Antiochus III. bei Magnesia (190 v. Ch.) entschieden, und
doch schloss Cato der Aeltere jede seiner Reden im Senate, mochte
sie welchen Inhalt immer haben, mit den Worten: „Im Uebrigen
aber glaube ich, Carthago muss zerstört werden“, und Rom scheute
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 39
[306]Das Mittelmeerbecken.
nicht List und Gewalt, bis 146 v. Ch. Carthago nach einem Ver-
zweiflungskampfe in seiner Gewalt war. Der Sieger P. Cornelius
Scipio Aemilianus Africanus Minor wollte die Reste schonen, aber
der Senat befahl, den Pflug über die ungeheure Brandstätte zu
ziehen und dann wurden „Grund und Boden auf ewige Zeiten ver-
wünscht, also dass weder Haus noch Kornfeld je dort entstehen möge!“
Eine solche Lebenskraft traute Rom seiner stolzen Gegnerin
Carthago zu, dass es nicht früher ruhte, bis kein Stein mehr auf dem
andern stand. Die Weltstellung des Platzes Carthago in der damaligen
Handelswelt des Mittelmeeres liess die Römer, trotz allem Unglück,
das Carthago getroffen hatte, ein Wiedererstehen der Rivalin fürchten.
Nun in wenigen Jahren wird Tunis wieder ein Seehafen sein; aber
der Welthandel hat andere Ziele als im Alterthume, dem die Begriffe
Mittelmeer und Weltmeer identisch waren. Im Handel des Mittelmeeres
wird die Stellung von Tunis-Goletta vielleicht einflussreicher werden,
als sie bisher war. Denn die Weltlage von Tunis an der schmalen
Verbindungsstelle zwischen Ost- und Westmittelmeer gegenüber
Sicilien lässt ihm wohl den Rivalen in Algier und Tripolis den Rang
ablaufen; wenn auch die wichtigste, so bleibt Tunis doch immer eine
Echelle des Localhandels, der nicht einmal der Verkehr des ganzen
Gebietes von Tunis zufällt.
Goletta, der Hafen der Stadt Tunis, ist der Ausgangspunkt der Eisenbahn-
linie, welche an das Netz von Algier Anschluss hat, und daher der erste Hafen des
Landes, jedoch sind die Plätze an der Ostküste von Tunis als Endpunkte der
einzelnen Thäler des Atlas in ihrem Ausfuhrhandel von Goletta fast ganz un-
abhängig.
So liefen 1888 in alle Häfen der Regentschaft Tunis 7026 Schiffe mit
1,679.505 Tons ein, 6601 Schiffe mit 1,674.068 Tons aus und die Zahl der ein-
laufenden Schiffe vertheilte sich wie folgt:
Von den einlaufenden Schiffen entfielen auf:
- Goletta ........ 1020 Schiffe mit 468.319 Tons
- Susa .......... 985 „ „ 216.834 „
- Sfax .......... 1624 „ „ 237.057 „
- Djerba ........ 779 „ „ 202.237 „
Andere Häfen sind Monastir, Mehdia, Gabes, Bizerta und Tabarka.
In Goletta steht noch die Zahl der Schiffe der italienischen Flagge, die
meist Segelschiffe von kleinem Tonnengehalt umfasst, an der Spitze des Hafen-
verkehrs, nach der Zahl der Tonnen aber Frankreich mit fast zwei Dritteln des
Tonnenverkehrs, denn dreimal in der Woche gehen Dampfer der Compagnie
générale transatlantique von Marseille in ein und einen halben Tag nach Goletta
(480 Seemeilen) und setzen den Ort mit den anderen Häfen der Regentschaft, mit
Tripolis, Malta und Bona in Algier in Verbindung, und einmal landet ein Dampfer
der Société générale des transports maritimes aus Marseille, während die italienische
[307]Tunis.
Navigazione generale eine Fahrt in der Woche ab Neapel-Palermo mit Tunis
(231 Seemeilen) und eine zweite Neapel-Cagliari-Tunis unterhält. Hervorzuheben
sind noch die englische und die griechische Flagge. Die deutsche ist seit der
Einstellung des directen Verkehres der Slomanlinie fast ganz verschwunden. An
ihre Stelle ist eine dänische Linie getreten, die, von Kopenhagen ausgehend, unter
Anlaufen der belgischen Häfen auch den Verkehr zwischen Tunis und den Schwarzen
Meerhäfen vermittelt. Der Hafen ist der Verbesserung sehr bedürftig und daher
hat man seit 1887 den Ausbau eines Aussenhafens in Goletta unternommen, um
auch grösseren Schiffen die Einfahrt zu ermöglichen.
Wir gehen nun über zur Darstellung der Handelsverhältnisse der Regent-
schaft Tunis, nicht aber des Hafens Goletta, weil uns nur für den Handel des
ganzen Staates Angaben zur Verfügung stehen.
Tunis ist ausschliesslich Ackerbaustaat. In der subtropischen Zone gelegen,
hängt sein Wohl und Wehe davon ab, ob die Winterregen reichlich genug fallen
Missernten sind hier um so gefährlicher, als der eingeborene Araber in guten Jahren
nicht an die Möglichkeit einer schlechteren Zukunft denkt. Im Jahre 1888 verkaufte
der Bauer, um überhaupt leben zu können, seine Geschmeide, welche eingeschmolzen
und nach Europa weiter verkauft wurden. Wegen Mangel an Viehfutter gingen
die Hausthiere massenhaft zu Grunde, und selbst bei guten Ernten wird das Land
Jahre lang brauchen, um sich zu erholen und seine Kaufkraft wieder zu gewinnen.
Niedergang ist also das Merkmal des jetzigen Handels von Tunis.
Für die letzten Jahre stellen sich Einfuhr und Ausfuhr folgendermassen:
| [...] |
Nach diesen Tabellen ist wohl die Einfuhr 1888 gestiegen. Aber von dieser
Steigerung entfällt der grössere Theil auf die Einfuhr von Getreide vom Schwarzen
Meere, während die Einfuhr von Manufacturen, diesem Werthmesser für den Wohl-
stand ackerbautreibender Länder, sehr zurückgegangen ist. Diese starke Einfuhr
von Getreide ist als eine vorübergehende aufzufassen, auch Mehl, welches regel-
mässig Marseille liefert, wurde in grösseren Mengen als sonst zugeführt. Vorüber-
gehend ist auch die starke Einfuhr von Viehfutter, Gemüsen und anderen Lebens-
mitteln in den Jahren 1887 und 1888.
Infolge der Hafenbauten zeigt sich 1888 ein Steigen der Einfuhr bei Bau-
holz, welches meist aus Oesterreich-Ungarn, aber über Venedig und Genua auf
italienischen Segelschiffen kommt, bei Eisen und Metallen, bei Maschinen und
Instrumenten. Alle anderen Importwaaren zeigen eine bedeutende Abnahme infolge
der zerrütteten finanziellen Verhältnisse der Bevölkerung. Unter diesen letzteren
Importartikeln spielen Baumwollgewebe und Garne die wichtigste Rolle. Von
Shirtings und T-clothes liefert 65 % England, der Rest von 35 % fällt auf die
anderen Nationen, vorab auf Frankreich. In feinen Stoffen treten auch die Schweiz
und Elsass-Lothringen in Concurrenz.
In Schafwollwaaren dominirt Belgien, dann folgen Frankreich, England,
Deutschland und Oesterreich-Ungarn.
Im besonderen behauptet Deutschland den Markt in Flanellen, in Strumpf-
waaren muss es einen harten Kampf gegen Frankreich bestehen.
Oesterreich-Ungarn beherrscht über Triest und Fiume vollständig den
Markt in Zucker, in Spiritus, der zum Theile aus Deutschland stammt, doch
39*
[308]Das Mittelmeerbecken.
kommen auch grosse Quantitäten amerikanischer Waare über Marseille, endlich in
der Lieferung von Fez, in welcher Fabrication Tunis selbst eine hervorragende
Stelle einnimmt. Glaswaaren aus Haida und Gablonz halten ihren Platz
neben den theureren französischen Producten. Oesterreich-Ungarn behauptet das
Feld in Möbeln aus gebogenem Holze und in Schuhwaaren; in fertigen Kleidern
ist es der Hauptconcurrent Frankreichs. Bitterwasser aus Ungarn bildet heute
schon einen ansehnlichen Importartikel von Tunis.
Bijouterien liefert Deutschland, Gold- und Silberfäden für Stickereien
Lyon. In die Lieferung von Ultramarin muss sich Deutschland mit belgischen
und französischen Fabriken theilen und in die von Goldleisten mit Italien.
England liefert den ganzen Bedarf an Steinkohlen, den grössten Theil aller
Metall- und Eisenwaaren mit Belgien zusammen und billige Baumwollenartikel,
Italien Wein, Oel, Papier, Quincailleriewaaren, Vieh und mit Frankreich und Eng-
land zusammen Colonialwaaren, besonders Kaffee, Frankreich ausser den schon
erwähnten Artikeln Häute, Leder, Seidenwaaren, Bijouterien, Wein, Seife und
Lichter aus Marseille, auch Ziegelsteine und Röhren und lebendes Vieh.
Von anderen Ländern kommt noch Russland für Getreide und Petroleum
und Amerika in Betreff der Petroleumeinfuhr in Betracht.
Wie viel genau auf die einzelnen Länder entfällt, weiss man nicht, der
englische Consularbericht rechnet, wie das immer die Engländer thun, die Ein-
fuhr in engl. Pfund um und schätzt dieselbe
- für 1887 auf 1,108.716 engl. L.
- „ 1888 „ 1,368.187 „ „
Davon entfielen in letzterem Jahre auf Frankreich 430.000 engl. L., auf
England und Malta 260.000 engl. L.; diesen folgen nach der Grösse der Einfuhr
Deutschland, Belgien, Oesterreich-Ungarn und die Schweiz.
Der Export geht hauptsächlich nach Italien, das etwa die Hälfte desselben
aufnimmt, nach Frankreich, England und Algier mit ungefähr je einem Achtel der
Gesammtausfuhr, der Rest nach Malta, Tripolis, Egypten, Türkei, Spanien und
Griechenland.
Von den Ausfuhrproducten steht in erster Reihe Olivenöl, von welchem
mehr als drei Viertel nach Frankreich, der Rest nach Italien und England gehen.
Würden auf Oliven und Olivenöl, bis sie nach Marseille kommen, nicht 40 % Lasten
ruhen, die Pflanzungen wären weit grösser. Seit 1889 producirt man viel mehr
feines Oel als früher. Noch 1887 war Weizen der wichtigste Artikel der Ausfuhr,
an ihn reihte sich Gerste. Ausgeführt wurden ferner in guten Jahren Hülsen-
früchte, Datteln nach Algier und nach Italien. Ansehnlich ist die Ausfuhr von
Esparto (Halfa), die nach England gerichtet ist, dann die von Schwämmen,
welche an der Küste südlich von Sfax 1400 Eingeborene, 500 Sicilianer und
400 Griechen beschäftigt. Eine Londoner und zwei Pariser Firmen haben in Sfax
ihre Agenten und kaufen den ganzen Ertrag auf.
Für Wolle ist der Hauptmarkt Frankreich, ein bedeutender Theil der-
selben wird von den Beduinenfrauen auf Handstühlen zu Stoffen für die Burnusse
der Nomaden, zu Decken und Teppichen verarbeitet. Diese Gewebe gehen nach
Egypten, Algier und Tripolis (Werth 1 Million Francs). Die 1611 aus Toledo
vertriebenen Moriscos haben diese Industrie ins Land gebracht.
Seit Tunis unter dem Protectorate Frankreichs steht, ist auch viel für die
[309]Tunis.
Landverbindungen von Tunis-Goletta geschehen; Localbahnen wurden von Tunis
aus gebaut und der Anschluss an das Netz Algiers hergestellt.
Weil nun ausserdem an der Landesgrenze Tunis-Algier kein Zoll besteht,
ist Bona Verschiffungshafen für Güter aus dem westlichen Tunis.
Die telegraphische Verbindung mit Algier und dadurch mit Europa wird
durch eine Landlinie und zwei Kabel (Biserta-la Calle) hergestellt.
Consuln haben in Tunis: Belgien, Dänemark, Deutsches Reich (in Goletta
ausserdem ein V.-C.), Frankreich, Griechenland (G.-C.), Grossbritannien, Italien
(G.-C.), Monaco (G.-C.), Oesterreich-Ungarn (G.-C.), Portugal, Russland, Schweden-
Norwegen, Spanien (G.-C.).
Wir haben hier noch Tripolis, die Hauptstadt der gleichnamigen
türkischen Provinz, zu erwähnen, von Belang als Ausfuhrhafen an der
afrikanischen Küste zwischen den beiden Syrten und als Ausgangs-
punkt einer wichtigen Karawanenstrasse durch die Sahara an den
Tsadsee im Sudan. Tripolis, das alte Tarabulus (32° 54′ nördl.
Breite und 13° 11′ östl. Länge v. Gr.), thront von alterthümlichen Mauern
und detachirten Forts umgeben an einem felsigen Küstenvorsprung,
von dem aus eine meilenlange Kette von Riffen und Bänken in der
Richtung nach ONO. in das Meer sich zieht und einen zwar schwer
anzulaufenden, allein sicheren Hafen bildet, in den Schiffe bis zu 6.2 m
Tauchung einlaufen können. Diese Küstenbeschaffenheit begünstigte
in früheren Zeiten ungemein das Piratenwesen, und Tripolis genoss
den traurigen Ruf als einer der gefürchtetsten Raubstaaten des Mittel-
meeres.
Im Alterthume gelangte die Stadt bald unter die Herrschaft Carthagos,
wurde dann römisch, hierauf arabisch, stand von 1509 bis 1551 unter spanischer
Herrschaft, bis die Türken von Stadt und Land Besitz ergriffen. In der Periode
1714 bis 1835 war das Paschalik von Tripolis eine erbliche Würde gewesen;
seitdem regiert dort ein Vali der hohen Pforte.
Der Anblick der Stadt bietet manche malerische Reize. Ueber
den dunkeln, hohen, aus den Meeresfluten aufsteigenden Mauern ragen
die Kuppeln einiger Moscheen und viele hohe Minarete empor, da-
zwischen Gruppen der hier charakteristischen dachlosen schneeweissen
Häuser. Im Osten erhebt sich innerhalb der Citadelle das Amts- und
Wohngebäude des Vali. Die Stadt zählt 30.000 Einwohner, zumeist
Berber, Araber und Türken, neben ihnen 6900 Juden, 4500 Christen
und überdies eine sehr starke türkische Garnison, da sich die
Pforte von etwaigen Gelüsten europäischer Mächte auf Tripolis nicht
überraschen lassen will.
Die Stadt liegt in einer gut cultivirten Oase, welche sehr reich
ist an Oliven, Orangen und Dattelpalmen, die theils in malerischen
Gruppen, theils in ausgedehnten Waldungen eine prächtige Staffage
im Bilde der Festung darbieten.
[310]Das Mittelmeerbecken.
Die Bevölkerung von Tripolis treibt keine Industrie, sie ist dar-
auf angewiesen, sich aus den Producten des Landes und dem Tausch-
handel mit den Völkern des Sudan, mit denen sie die uralte Kara-
wanenstrasse nach Murzuk in Fezzan verbindet, die Mittel zu ver-
schaffen, welche ihr die Möglichkeit eines behaglichen Daseins und
die Anschaffung europäischer Industrieerzeugnisse gestatten.
Mehrjährige Missernten infolge nicht ausreichender Winterregen und das
Darniederliegen des Handels mit dem Sudan machten das Land arm; um eine halbe
Million Francs Silberschmuck der Araberinnen und Berberinnen geht jährlich seit
1886/87 nach Frankreich, man deckt mit dem Erlöse die nothwendigsten Lebens-
bedürfnisse.
In früheren Jahren wurden in Tripolis für 10 Millionen Francs Waaren sehr
mittelmässiger Qualität aus Europa eingeführt, mit der Bestimmung nach dem
Sudan. Als Gegenwerth kamen von dort Straussfedern, ein höchst geeignetes Tausch-
object, weil sie bei geringem Gewichte hohen Werth besitzen. Das Capital, welches
in diesem Tauschhandel angelegt war, verzinste sich wenigstens mit 30—40 %,
in günstigen Fällen auch mit 100—150 % und mehr. Aber seit 1884 sind infolge
der Ueberführung des Marktes mit Federn aus den Zuchthöfen am Cap, in Algier,
Egypten, Californien etc. Straussfedern auf den europäischen Märkten entwerthet;
die Federnhändler hofften lange Zeit auf Besserung, verloren aber vielfach ihr
Vermögen.
Von den Artikeln Centralafrikas sind nun neben Straussfedern nur die aller-
dings kostbaren, aber schwer zu transportirenden Elfenbeinzähne begehrt, es fehlen
also auch dem Sudan die Mittel zur Deckung des Importes.
Die Verdrängung der österreichischen Maria-Theresia-Thaler, des bis dahin
beliebtesten Geldes dieses Theiles der Sahara, durch einheimische Münzen trug
ebenfalls ihren Theil dazu bei, den Sudanhandel von Tripolis, der seit dem
Mahdisten-Aufstande auch den Aussenverkehr der ehemals äquatorialen Provinzen
Egyptens umfasste, zu schwächen und diesen Verkehr noch weiter nach Westen,
nach Algier zu drängen.
Handel des Vilajets Tripolis:
| [...] |
Die Handelsbilanz von Tripolis ist jetzt passiv, die doppelte Höhe der Ein-
fuhr gegenüber der Ausfuhr im Jahre 1887 bedeutet den Höhepunkt der Handels-
krisis des Landes. Man hat 1888 die Einfuhr beschränkt, die Ausfuhr gefördert,
aber wir müssen sogleich hervorheben, dass die ganze Steigerung der Ausfuhr auf
einen einzigen Artikel, auf Halfa (stipa tenacissima), entfällt, also auf eine Pflanze,
die nicht gebaut wird, sondern wild wächst.
Von der Einfuhr des Jahres 1888 entfielen auf Frankreich ungefähr
2½ Millionen, auf Grossbritannien und die Türkei je ca. 2·1 Millionen und der
Rest mit Summen zwischen 200.000—500.000 Francs auf Italien, Oesterreich-
Ungarn, Deutschland und Tunis. An Nahrungs- und Genussmitteln wurden
1888 um 6,598.000 Francs eingeführt, darunter besonders Getreide (3 Mil-
[311]Tunis.
lionen Francs) aus Russland, der Türkei und Rumänien, Mehl (2 Millionen Francs),
untergeordneter Qualität, ausschliesslich aus Marseille, Olivenöl (450.000 Francs),
sonst aus Tunis bezogen, kam dieses Jahr aus Canea. Zucker (220.000 Francs) aus
Frankreich, Oesterreich und Deutschland, Kaffee (165.000 Francs) aus Marseille
und Genua (brasilianischen Ursprungs) und Tabak und Cigarren für 400.000 Frcs.
aus Italien; in letzteren Artikeln wird auch ein schwunghafter Schmuggel getrieben.
Von Rohstoffen und Halbfabricaten (1888 für 1,096.000 Francs, 1887 für
1,526.700 Francs) ist nur Baumwolle roh und als Garn aus England, Oesterreich-
Ungarn, Italien und Belgien (260.000 Francs), Eisen (220.000 Francs), besonders
in Bandform zum Verpacken der Espartograsballen, aus England zu nennen; von
dort kommen auch Steinkohlen (150.000 Francs). Sonst wurden noch in namhafteren
Quantitäten Rohseide und Seidenabfälle aus Italien, Frankreich, Creta, Werk- und
Bauholz aus Italien und Petroleum aus Russland, Brennholz aus der Türkei
eingeführt.
Bei den Fabricaten (1888 für 2,536.000 Francs, 1887 für 4.087.900 Francs)
sind bemerkenswerth Baumwollengewebe (1,415.000 Francs), in welchem Manchester
ein Monopol besitzt, Wollfabricate aus Oesterreich (Feze), Frankreich (Tuche) und
Deutschland; Farbwaaren und Droguen kamen zusammen für 178.000 Francs aus
Frankreich (Indigo und Cochenille), Deutschland und der Schweiz (Anilinfarben).
Von sonstigen Importwaaren unter 100.000 Francs Werth wären noch zu nennen
Papier jeder Art aus Italien, Frankreich und Oesterreich, Gold- und Silberpassa-
mente, echte, aus Frankreich, unechte aus Deutschland, Metallwaaren aller Art
(Lampenbrenner, Geschirre aus der Türkei, Malta und Oesterreich, Eisen- und
Stahlwaaren aus Deutschland). Seilerwaaren aus Frankreich (Angers) und Venedig,
Seidenwaaren aus Lyon, St. Etienne, Como, Krefeld und Zürich, Seife besonders
aus Tunis und Marseille, Kurzwaaren aus Deutschland und Oesterreich-Ungarn,
Zündwaaren aus Belgien und Kerzen aus England und Deutschland.
Die Ausfuhr von Tripolis ist in erster Linie nach Grossbritannien gerichtet,
welches das ganze Halfa (1888 69.000 t im Werthe von 5·3 Millionen Francs)
und fast das ganze Elfenbein (1888 0·5 Millionen Francs) aufnimmt. Frische und
getrocknete Früchte, Vieh, Eier und Johannisbrot gehen nach Malta. Auf Gross-
britannien folgen Frankreich (1888 1·5 Millionen Francs), Oesterreich-Ungarn,
die Türkei und endlich Italien und Tunis. Die Einfuhr aus Tunis, das selbst durch
Jahre unter Missernten zu leiden hat, ist gegenwärtig unverhältnissmässig klein.
Als Ausfuhrartikel sind noch zu nennen: Südfrüchte und Manteka in
die Türkei, Felle und Häute (200.000 Francs) nach Frankreich und Amerika,
Schweisswolle nach Frankreich, Henna nach Algier und Tunis.
Ein Theil der ausgeführten Fabricate (1888 745.000 Francs) stammt aus
fremden Ländern, einen grossen Theil bildet der schon genannte Silberschmuck.
Ueber den Schiffsverkehr von Tripolis liegen neuere Angaben nicht vor;
er erreichte in früheren Jahren 500.000 und 600.000 t.
Regelmässige Linien unterhalten die Compagnie générale transatlantique
zweimal in der Woche mit Marseille, auf guten Verbindungen beruht das Ueber-
gewicht Frankreichs und das Zurückgehen des Zwischenhandels von Malta. Die
Navigazione Generale hat eine Linie von Neapel über Sicilien und Malta her;
die Mahsoussie von Constantinopel hat keinen regelmässigen Dienst. Viele eng-
lische Dampfer laufen Tripolis an, um Halfa zu laden.
[312]Das Mittelmeerbecken.
Tripolis ist durch ein Kabel mit La Valetta verbunden. Bankinstitute
besitzen in Tripolis die Société de comptoirs maritimes de crédit industriel et
commercial und die Banque transatlantique.
Consulate haben in Tripolis: Belgien, Deutsches Reich, Frankreich,
Griechenland, Grossbritannien, Italien, Niederlande, Oesterreich-Ungarn, Spanien.
Zum Gebiete des Gouvernements Tripolis zählen noch das einst
blühende Hochland Barka und die fruchtbaren Oasen Gadames, Fezzan
und Audschila.
Am Küstensaume von Barka liegt der kleine Hafenort Ben-
ghasi mit ungefähr 6000 Einwohnern, welcher mit Wadaï in Karawanen-
verkehr steht. Das Land Barka spielte im Alterthum als griechische
Colonie eine nicht unbedeutende Rolle. Fünf Städte lagen an seiner
Nordküste, deren grösste Cyrene der Colonie den Namen Cyrenaïca
gab. Hier blühte griechische Geistesbildung, die selbst unter der
Herrschaft der Römer noch Geltung zu finden wusste. Das Land war
dicht besiedelt und hatte gute Strassen; die nun grösstentheils in
Trümmern liegenden Städte besassen Tempel, Theater und andere Bau-
werke von Bedeutung.
Der Handel Benghasis ist im Niedergange; ein beträchtlicher Theil der
früher daselbst angesiedelten Europäer hat daher den Ort verlassen.
Die Einfuhr erreichte 1888 2,041.000 Francs, 1887 3,102.560 Francs, die
Ausfuhr 1888 4,295.460 Francs, 1887 2,728.600 Francs.
Die Nothlage der Eingeborenen drückt den Einfuhrhandel, die Steigerung
des Werthes der Ausfuhr von 1888 entfällt auf Elephantenzähne aus Wadai, auf
Vieh, Schweisswolle und Schwämme.
Andere Artikel der Ausfuhr sind Getreide für England und Meersalz für
Syrien und Salonich.
Im weiteren Innern ist das Land mit grossen Waldungen von Pinien,
Johannisbrotbäumen und Nussbäumen bedeckt; die Ausbeute dieser Schätze der
Natur hat noch kaum begonnen.
[[313]]
La Valetta.
Im Canale von Malta, also in der schmalen Strasse zwischen
der Südküste von Sicilien und dem afrikanischen Festlande, zwischen
dem östlichen und westlichen Becken des Mittelmeeres, durch welchen
also eine der wichtigsten Schiffahrtsrouten des Mittelmeeres führt,
liegt etwa 85 km vom Cap Passero, dem nächsten Punkt von Sicilien
entfernt, die Inselgruppe Malta, Gozzo und Comino, ein wichtiges und
darum sorgfältig gehütetes Besitzthum Grossbritanniens. Die 180 m
hohe, steil in See abfallende Insel Malta ist bei 32 km Länge und
15·5 km Breite die grösste der Gruppe. An der Nordseite liegt unter
35° 55′ nördl. Breite und 40° 31′ östl. Länge v. Gr. (Spencer’s
Monument) der, wie unser Plan zeigt, fjordartig eingerissene, vielfach
verzweigte und von grossartigen Festungswerken geschützte Hafen von
La Valetta mit der gleichnamigen Hauptstadt des ganzen Inselgebietes.
Neben Gibraltar ist La Valetta, kurzweg Malta genannt, vermöge
der centralen Lage die strategisch bedeutendste Station der Engländer
im Mittelmeere. Dem Auge erscheinen die Inseln völlig vegetations-
los, denn alle Culturen sind zum Schutz gegen die enorme Sommer-
hitze durch hohe Steinmauern eingefasst, mitunter selbst unter das
Bodenniveau eingesenkt und kommen daher landschaftlich gar nicht
zur Geltung. Durch ausserordentlichen Fleiss und Beharrlichkeit gelang
es den Bewohnern, mehr als zwei Drittheile der aus weichem gelben
Kalksteine bestehenden Bodenkruste in fruchtbares Acker- und Garten-
land zu verwandeln, auf dem nun der Segen überaus reicher Ernten
ruht. Getreide, Baumwolle, Früchte, besonders Orangen, Citronen und
Feigen, dann prächtiges Gemüse und frühreife Kartoffel werden in
grossen Mengen gewonnen. Die Bewohner, deren Zahl 162.000 be-
trägt, ungerechnet die englischen Soldaten und deren Familien, erfreuen
sich dank dem reichen Bodenertrage einer ausgesprochenen Wohl-
habenheit. Zahlreiche Ortschaften liegen auf Malta und Gozzo zerstreut;
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 40
[314]Das Mittelmeerbecken.
gute Fahrstrassen sind vorhanden. Die alte Hauptstadt Città Vecchia
(La Notabile), seit der englischen Herrschaft stark befestigt, liegt
ungefähr 10 km von La Valetta entfernt, im Innern der Insel Malta.
Im Winter werden die Inseln der milden Temperatur wegen
(Mitteltemperatur im Jänner 16°C.) viel von Fremden besucht.
Allenthalben tritt dem Fremden der segensreiche Einfluss der englischen
Verwaltung entgegen, welche nicht nur die nackten Felsen in reiche
Fruchtgärten verwandelte, sondern Handel, Wandel und Verkehr
ganz ausserordentlich hob. Auch hier bewiesen die Briten, wie weit
sie als Colonisatoren allen Rivalen überlegen sind. Wie ganz anders
sah es in Malta zu Anfang unseres Jahrhundertes aus!
Seit uralten Zeiten war die Inselgruppe ein viel umstrittenes Gebiet.
Die Geschichte derselben reicht weit in die vorchristliche Zeit zurück, und
wird selbst mit einer der ehrwürdigsten Mythen, der Odyssee, in Verbindung ge-
bracht. Dort auf Homer’s Nympheninsel Ogygia, in der man das heutige Malta
erkennen will, soll die Nymphe Kalypso, deren Namen eine Höhle noch heute
führt, den unternehmungsfreudigen Odysseus zurückgehalten haben.
Phönikier dürften die ersten Ansiedler daselbst gewesen sein, dann er-
schienen 736 v. Chr. die Griechen. Um das Jahr 400 fiel Malta in die Gewalt
der Carthager und erhielt den Namen Melité. Nun kamen 212 v. Chr. die Römer
auf den Eilanden zur Herrschaft und übten selbe bis zum Verfall ihres Welt-
reiches. Die Herbststürme des Jahres 61 n. Chr. bewirkten an der Nordküste von
Malta den Schiffbruch des Apostels Paulus, der dann einige Zeit dort zubrachte
und Bekehrungen zum Christenthum erzielte. Tempel des Apollo und der Proser-
pina und ein Theater entstanden unter den Römern, fielen aber unter der Zer-
störungswuth der 454 n. Chr. gelandeten Vandalen in Trümmer. Die Flut der
Völkerwanderung brachte auch die Gothen (464), die Schaaren Belisars (533), die
Araber (870), endlich auch die Normannen unter Roger (1090) auf die Inseln,
welche in den darauffolgenden Jahrhunderten an Sicilien gebunden die Schicksale
desselben theilten.
Nachdem der Johanniter-Orden im December 1522 die Feste Rhodus
räumen musste, verlieh Kaiser Karl V. dem Orden die Inseln Malta und Gozzo,
sowie die Festung Tripoli (Patent v. 23. März 1530); der Orden nahm von dieser
Zeit an den Namen Malteser-Ritterorden an und vertheidigte den Besitz gegen die
Ottomanen auf das Heldenmüthigste.
Eine der furchtbarsten Kampfperioden war die denkwürdige Belagerung der
Feste im Jahre 1565 durch die Land- und Seemacht Sultan Soliman II. unter
Mustapha und Piale.
Nach ungeheueren Verlusten mussten die Türken am 8. September 1565
ohne Erfolg von Malta abziehen. Der damalige Grossmeister Johann von La Va-
lette beschloss hierauf den Umbau des Forts St. Elmo, die Erweiterung der
Festungswerke und die Gründung einer neuen Stadt auf dem Bergrücken Sceberras.
Auf letzterem entstand nun das heutige La Valetta, in welchem der aus der ersten
Periode entstammende prunkvolle Palast des Grossmeisters (jetzt Gouverneur-
Palais) den höchsten Punkt einnahm.
Auf seinem abenteuerlichen Zug nach Egypten bemächtigte sich Bonaparte
[315]La Valetta.
am 20. Juni 1798 durch einen Handstreich der Hauptstadt, die hierauf nach zwei-
jähriger Blockade und Belagerung am 9. September 1800 in die Hände der Engländer
fiel und seither mit grossartigen Festungswerken versehen, als völlig uneinnehmbares,
von einer ständigen Garnison von 7000 Mann (das Local-Regiment eingeschlossen)
beschütztes Bollwerk, als einer der Hauptstützpunkte der englischen Seemacht
im Mittelmeere dem Vereinigten Königreiche angehört.
Der weitläufige Hafen von La Valetta bietet ein grandioses Bild
voll malerischer Effecte. Wohin das Auge blickt, starren ihm Festungs-
werke und Geschützreihen entgegen, die jeden Theil des Hafens wirk-
sam bestreichen. Die kaum 350 m breite Einfahrt vertheidigen die
stolzen Festen St. Elmo im Norden und Ricasoli im Süden. Ueber den
Mauern und Bastionen baut sich die hochgelegene Hauptstadt mit
ihren Thürmen und palastartigen Gebäuden auf; ihr südlich gegen-
über liegen die Vorstädte Bighi, Il Birgo oder Città Vittoriosa, Lisla
und Bormla um die tief eingeschnittenen fjordartigen Buchten Bighi-
Creek, Caleara Cr., Dockyard Cr. (mit dem grossen Seearsenal) und
French Cr. Dann folgt das Marsa-Bassin, dessen Ausläufer das süd-
westliche Ende des Hafens bildet. Zwischen den beiden gewaltigen
Hornwerken, welche La Valetta gegen die Landseite abschliessen, hat
sich die reizende Vorstadt Floriana gelagert.
Der lebhafte Charakter der Bewohner, ihre altberühmte Vorliebe
für den Wassersport, die vorzüglichen, dem Verkehr und Vergnügen
gewidmeten Ruder- und Segelboote, deren Gestalt und Linienführung
an uralte, vortreffliche Muster erinnern, endlich das einladende Klima
und der geschützte seestille Wasserplan verwandeln den Hafen zu
einem reizenden Vergnügungsort aller Gesellschaftsclassen, der an
Schönheit sowohl wie an fröhlichem Getriebe seines Gleichen sucht.
Das Bassin des Haupthafens (Grand harbour) bespült, wie unser
Plan zeigt, die Südseite der Stadt La Valetta, an deren Quais der
rege Verkehr der grossen Dampfer und Segler stattfindet.
Die Stadt zählt mit allen Vorstädten 70.000 Einwohner und
besitzt mehrere ansehnliche Strassen, unter welchen die Strada Reale
die ausgedehnteste und eleganteste ist. Im Centrum derselben wird
sie von dem imposanten weitläufigen Gouverneurpalais, der ehemaligen
Residenz des Grossmeisters der Malteserritter, der hier einen gläu-
zenden Hofstaat nach fürstlichem Muster hielt, flankirt.
Das Palais ist prächtig eingerichtet und besitzt noch reiche
Erinnerungen an die Souveränetät des Ordens. Gemälde, werthvolle
Gobelins, Trophäen und eine kostbare Waffensammlung erheben das
Gebäude zu einer interessanten Sehenswürdigkeit. Viele der Ordens-
schätze hatte Bonaparte auf die Linienschiffe „L’Orient“ und „Sen-
40*
[316]Das Mittelmeerbecken.
sible“ geladen und nach Egypten entführt. Mit dem „L’Orient“, der
in der Schlacht bei Akubir (1. August 1798) explodirte, ging manche
Relique für immer verloren, während „Sensible“ von den Engländern
genommen, die Schätze übergeben musste, welche dann wieder nach
Malta überführt wurden.
Der Pariser Louvre besitzt indes dennoch einige werthvolle
Objecte des Grossmeisterschatzes, die Napoleon der Grosse dort auf-
bewahren liess. Unter diesen sind ein kostbarer mit Edelsteinen be-
setzter Dolch und ein ebensolches Schwert mit goldenem Gürtel, die
Philipp II. von Spanien dem Grossmeister La Valette nach der helden-
müthigen Vertheidigung von Malta zum Geschenke gemacht hatte, die
historisch bedeutendsten.
Unter den Räumlichkeiten des interessanten aus dem XVI. Jahr-
hunderte stammenden Palastes beansprucht die Halle des heiligen
Michaels und heiligen Georgs sowohl durch ihre Dimensionen wie
durch die Erinnerungen, die sich an diese Oertlichkeit knüpfen, einige
Beachtung. Der Saal besitzt bei 25 m Länge eine Breite von 11 m
und war der Festraum der Ritterschaft. Dort fanden denn auch die
Investituren in den Ritterorden und die feierlichen Sitzungen statt.
Die letzte derselben wurde in der Nacht zum 11. Juni 1798 abge-
halten. Mme. Sajani, welche zur Zeit der französischen Invasion in
La Valetta lebte, gibt in ihrem Werke: „Gli altimi Giorni dei
Cavalieri di Malta“ eine Beschreibung der letzten Rathssitzung der
Ritterschaft. Die Wände waren damals mit rothem Damast bedeckt
und durch grosse Spiegel abgetheilt.
Unterhalb eines gewaltigen Crucifixes stand am Ende der Halle
der reich gezierte Thron des Grossmeisters. Hier sass der Grossmeister
Hompesch in seiner schwarzen mit dem riesigen weissen Kreuze
des Ordens geschmückten Robe; ihm zur Seite hatten der Prior von
St. Johann und auf der anderen Seite der Bischof von Malta die
Sitze inne. Der Vice-Kanzler des Ordens und zwei Priester sassen an
einem Ebenholztisch und die Palast-Officiere standen nächst dem
Throne. In schweren vergoldeten Armstühlen sassen die „Säulen“
(Bailifs) der sieben Zungen mit ihren Vertretern und hinter diesen die
Ritterschaft.
Der grösste Raum des Palastes ist der Waffensaal mit 75 m
Länge und 11 m Breite. Hier waren ehemals die für eine Armee von
25.000 Mann berechneten Waffen der Ritterschaft aufgestapelt. Seit
1855 ist die Sammlung im Fort St. Elmo untergebracht, und enthält
der Saal gegenwärtig nur die kostbarsten Waffen, Trophäen und
[[317]]
La Valetta.
Das grosse Hafen-Bassin von Malta.
[318]Das Mittelmeerbecken.
Documente des Ordens. Unter den letztgenannten ist die Original-
Bulle des Papstes Paschalis II. aus dem Jahre 1113 enthalten,
mittelst welcher derselbe dem Hospitale zum heiligen Johannes in
Jerusalem seinen Schutz und Schirm gewährte.
Auch die berühmte Trompete, mit welcher die letzte Retraite
beim Abzug der Ritter aus Rhodus (December 1522) geblasen wurde,
ist als theures Vermächtniss der Grossmeister im Waffensaale auf-
bewahrt.
Anschliessend an das Palais ist die 40.000 Bände enthaltende
Bibliothek, in deren Gebäude auch Sculpturen aus phönikischer und
römischer Zeit gesammelt wurden.
Unter den kirchlichen Bauten beansprucht die Kathedrale St.
Giovanni als eigentliche Ordenskirche und als Bauwerk der berühmten
Periode des Cinque Cento angehörend, eine hohe Beachtung.
Der Bau datirt aus dem Jahre 1576 und zeichnet sich durch
reichen architektonischen und plastischen Schmuck aus. Dort hatten
viele Grossmeister und Ordensritter, deren kunstvolle Denkmäler eine
prächtige Zierde bilden, die letzte Ruhestätte gefunden. Die einzelnen
Staaten und Provinzen (Bayern, Frankreich und die Provence, Italien,
Oesterreich, Portugal, Spanien) haben in der Kathedrale besondere
Seitencapellen, die mitunter auf das Kostbarste ausgestattet sind und
herrliche Gemälde und Sculpturen oder Bronzegüsse enthalten.
Unter den sonstigen Grossbauten der Stadt zählen die Häuser
der verschiedenen Nationen (auberges), die gegenwärtig grösstentheils
baulich verändert meist für Clubzwecke Verwendung finden, zu den
hervorragendsten. Das Clubwesen ist hier am Sitze einer starken eng-
lischen Colonie natürlich sehr ausgebildet und beherrscht die ge-
sammte Gesellschaft.
Im Norden von La Valetta mündet ebenfalls ein tief eingeschnit-
tener Hafen, in welchem die Insel Jezirah mit dem starken Fort
Manuel lagert und die Flanke der Hauptfestung deckt.
Die Malteser, eine Specialität von Racenkreuzung der ver-
schiedenen Völker, welche nach einander die Felseninseln bewohnten,
sind ein fleissiges Volk, sie scheuen nicht harte Arbeit, haben Talent
für Mechanik und sind tüchtige Kaufleute und kühne Seefahrer.
Malta gehört zu den dichtest bevölkerten Flecken der ganzen Erde,
500 auf den km2, und darum müssen viele Malteser, so gut auch
die Insel bebaut ist, so viel auch durch den Handel verdient wird,
dessen Entwicklung bedingt ist durch die wundervolle Handelsstellung
der Maltagruppe im Mittelmeere und den Verkehr nach Indien, doch
[319]La Valetta.
auswandern, weil ihre Heimat zu klein ist. Wir finden die oliven-
farbenen Söhne Maltas als Kaufleute in allen Plätzen des Mittel-
ländischen Meeres, besonders aber in Egypten und Tunis, wo sie zum
Aerger der Briten als „englische Unterthanen“ oft den Schutz der
Consuln in Angelegenheiten aufsuchen, die mit unserer Moral nicht
recht vereinbarlich sind. Der maltesische Dialect ist ein verderbtes
Arabisch, die Handelsleute sprechen auch italienisch oder englisch
oder auch beide Sprachen.
Für die Betheiligung La Valettas am Welthandel sind selbst-
verständlich die Engländer entscheidend, die hier einen ihrer grössten
festen Plätze für die Sicherung des Seeweges nach Indien besitzen,
welcher gegenwärtig Gibraltar an Bedeutung weit überragt, weil die
räumliche Ausdehnung der Insel die Concentrirung grösserer Truppen-
massen gestattet, wie wir das im Jahre 1878 gesehen haben, als das
Ministerium Disraeli indische Regimenter nach Malta zog, um mit ihnen
im gegebenen Falle an der Seite der Türken Constantinopel gegen
die Russen zu vertheidigen.
Die officiellen Veröffentlichungen über den Handel umfassen nur
jene Artikel, welche Zöllen unterworfen sind. Aber wir wissen doch,
dass der Durchfuhrhandel, für welchen die Insel Malta im Aus-
lande einstmals so wichtig war, heutigentags beinahe aufgehört hat.
Die Orte an der benachbarten Küste Afrikas, wohin der Transito zu-
meist ging, stehen jetzt überwiegend in directem Verkehre mi[t][d]em
Auslande. In dem von Jahr zu Jahr sich steigernden Besuche von
Fremden in den Monaten November bis März findet Malta theilweise
Ersatz für den Verlust. Der grösste Theil der 46.844 Passagiere,
welche die Schiffe 1888 nach Malta brachten, besuchte La Valetta
freilich nur für die wenigen Stunden, welche die Schiffe brauchen, um
Kohle aufzunehmen. Den Werth des Goldregens, welchen der Fremden-
verkehr jedem Lande, den er befruchtet, bringt, wissen Regierung
wie Volk von Malta wohl zu würdigen, aber auch zu fördern. Nach
jeder Richtung wurden die Ansprüche des modernen Curortes berück-
sichtigt.
Der Handel zeigt folgende Güterbewegung: Als grossartige Kohlenstation
der Ostindienfahrer und der Kriegsschiffe führt Malta in erster Linie Stein-
kohlen ein; Cardiff und Newcastle in kleinerem Masse decken den Bedarf; Ein-
fuhr und Reexport 1888 99.116 t. Beim Verladen der Kohle finden 10.000 Menschen
Beschäftigung.
Aus Albanien und Toscana kommen in bedeutenden Mengen Holzkohlen
auf Segelschiffen, aus Fiume Buchen- und Eichendauben und unbehauene Ruder,
aus Triest Tannenbrettchen. Aus den Buchendauben macht man in Malta Fässchen
[320]Das Mittelmeerbecken.
für den Transport von Kartoffeln (man braucht deren 14.000—20.000 Stück), aus
den Tannenbrettchen Kisten für denselben Zweck und für Agrumen.
Oesterreich-Ungarn führt auch Stühle (1888 1349 Dutzend) und Möbel über-
haupt ein. Der frühere Zwischenhandel Maltas in Holz für Nordafrika hat, wie
erwähnt, fast ganz aufgehört.
Zucker, worin Oesterreich-Ungarn via Triest 1888 mit 1246 t über die
Hälfte des Imports deckte, kommt auch noch aus Hamburg und London und wird
theilweise nach der Berberei und Südsicilien ausgeführt.
Getreide, namentlich Weizen, wird vom Asow’schen Meere (Taganrog) und
auch aus Syrien bezogen. Mehl aus Braila und weniger aus Fiume (1888 967 Säcke
= 96 t). Alle Getreidespeicher der Insel, die hier „Fosse“ genannt werden, ge-
hören der Regierung.
Für den Bedarf der Garnison, welche viel Fleisch braucht, wird Rindvieh
montenegrinischer Herkunft über Cattaro zugeführt; Ochsen und Schafe liefern
Syrien und Nordafrika. Die frühere starke Einfuhr aus Südrussland und den Donau-
häfen ist jetzt verboten. Bosnien könnte hier concurrenzfähig auftreten, sobald
die Bahn Scrajevo-Mostar fertiggestellt sein wird.
Für Triest könnte leicht Kaffee, für Fiume Reis ein Artikel des Handels
nach Malta werden.
Für Bier und Malzproducte, welche die englische Colonie consumirt, ist Eng-
land Hauptlieferant, für Spiritus Oesterreich-Ungarn (300 t), Deutschland und Eng-
land. Wein kommt besonders aus Frankreich, Sicilien und Süditalien.
Frankreich sendet grosse Posten von Quincaillerien neben Oesterreich (768 t),
das auch in Lederwaaren hier England gegenüber siegreich ist. Ausserdem liefert
es auch noch bedeutende Massen von Glaswaaren.
Belgien ist an dem Import mit bearbeitetem Eisen, Weissblech und Tafel-
glas stark betheiligt, während Italiens Import an Oel, Obst und Wein sich in sehr
bes [...]denen Grenzen bewegt.
Der Export Maltas ist unbedeutend. Ausser den schon oben erwähnten
Transito-Artikeln sind es Erzeugnisse der Insel selbst, welche exportirt werden.
In erster Linie stehen Winter- und Frühjahrs-Kartoffeln. Der Anbau dieser
Kartoffeln ist für die Grundbesitzer Maltas zu einer Quelle des Reichthums gewor-
den. Die Kartoffeln werden zweimal im Jahre ausgesäet, im October nach dem ersten
Regen und im December; die Ernte findet dann im December, beziehungsweise im
März statt. Die zweite Ernte allein beträgt oft 40.000 q. Früher war England der
Hauptabnehmer, seit aber dort die Canarischen Inseln und Portugal als glückliche
Concurrenten auftreten, wendet sich die Ausfuhr stark nach Triest und Fiume, wohin
die „Adria“ in der Saison einen regelmässigen Verkehr mit billigen Frachtsätzen
eingerichtet hat.
Triest ist Transitoplatz für Deutschland. Es schickt Herbstkartoffel nach
Malta für den Bedarf der dortigen Garnison, während Saatkartoffel aus Belfast
kommen.
Fast die ganze Jahresproduction von Zwiebeln (10—20.000 q) geht nach
England; von den vorzüglichen „Mandarinen“ Maltas kommt wegen des starken
einheimischen Consums wenig zur Ausfuhr, und der früher wichtige Export von
Baumwolle hat ganz aufgehört.
Das Thierreich liefert Häute und Talg, die nach Triest, das Mineralreich
Malteser Steine und Platten nach Sicilien, Alexandria, Salonich und Constan-
[321]La Valetta.
tinopel. Handel und Ackerbau allein können die starke Bevölkerung nicht ernähren
und die Industrie ist heute sehr arm. Der Schiffbau, einst eine hervorragende
Hilfsquelle Maltas, hat aufgehört, ebenso die Erzeugung von Sesseln. Die ein-
heimische Industrie liefert für den Export nur Strohhüte, besonders für die eng-
lische Marine, Filigranarbeiten aus Gold und Silber. Binsenkörbe zum Kohlenladen
A Anlegeplatz der Dampfer, B Zollamt, C Gun Wharf-Spitze, D Ras Hanzin (Magazin-Spitze),
E Slip-Werften (Schiffsaufzug), F Leuchtfeuer, G Kohlendepots, H Conradino-Gefängniss, I Militär-
Gefängniss, J Speucer’s Monument, K See-Arsenal, L Trocken-Dock, M Isola-Point, N Fort St. Angelo,
O Marine-Spital, P Gaswerke, Q Kloster, R Helena-Thor, S Polverista-Thor, T Zabbar-Thor, U Floriani-
Hornwerk, V hydraulisches Hebewerk, W Garten, X Friedhof, Y Quarantaine-Anstalt, X Imgherbek-
Spitze. — 1. Gouverneur-Palais, 2. Strada reale, 3. Porta reale, 4. Admiralität, 5. Opernhaus, 6. St. Pauls-
Kirche, 7. Kathedrale St. Johann, 8. Wasser-Reservoir der Marine.
nach Port Saïd, Suez, Aden, ferner Spitzen und bunte Taschentücher mit tür-
kischen, persischen etc. Mustern.
Seit 1887 besteht auch eine Fabrik sogenannter schwedischer Zündhölzchen
auf Malta, die ihre Erzeugnisse nach der Berberei ausführt.
Die Einfuhr jener Güter, welche hier gelandet wurden, erreichte 1888
875.853 ₤, die bloss transitirenden oder reexportirten 26,763.123 ₤. Ein Werth
von 25,853,380 ₤ des Gesammtimportes kam aus fremden Ländern. Ausgeführt
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 41
[322]Das Mittelmeerbecken.
wurden Güter um 70.874 ₤, es transitirten solche um 25,955.348 ₤, davon um
11,216.381 ₤ nach fremden Ländern, der Rest nach Grossbritannien und britischen
Besitzungen.
Maltas Schiffsverkehr ist natürlich vermöge seiner geographischen Lage und
seines Charakters als Zwischenstation ein äusserst lebhafter, wie die nachstehende
Tabelle der einlaufenden Schiffe zeigt:
| [...] |
Nach den verschiedenen Flaggen geordnet, stellt sich die Betheiligung der
einzelnen Nationen an diesem Verkehr folgendermassen: Den ersten Platz nimmt
natürlich England ein mit einem Einlauf von 3847 und einem Auslauf von
3848 Schiffen von beziehungsweise 4,827.394 t und 4,401.893 t Gehalt. Dann folgen
Frankreich, Italien, Griechenland, Oesterreich-Ungarn und Montenegro.
Malta ist Kohlenstation der englischen Ostindienfahrer, Station der Pen-
insular- und Oriental-Cy. auf den Linien nach Brindissi, der Linie Marseille-Tunis-
Malta-Tripolis, der Compagnie générale transatlantique, der Linie Hamburg-Triest
von A. C. Freitas und Cie., und der Linien der Navagazione generale Tunis-
Tripolis-Malta und Messina-Syrakus-Malta. Auch die neue Linie von Hamburg nach
der Levante wird hier anlegen.
Von Malta gehen acht Kabel der Eastern Telegraph Cy. aus: 1 nach
Gibraltar, 2 nach Bona, 1 nach Tripolis, 2 nach Modica auf Sicilien, 2 nach
Alexandria. Die Telegraphenleitungen der Insel stehen unter der Militär-
verwaltung. Das Telephonnetz ist weit verbreitet. In Malta bestehen 2 Locul-
banken (Banco di Malta und Anglo-Maltese-Bank) und eine Zweigniederlassung
der Anglo-Egyptian-Bank; auf Malta sind auch Postsparcassen eingerichtet.
Consuln haben hier: Argentinien, Belgien, Brasilien, Chile, Dänemark,
Deutsches Reich, Frankreich, Griechenland, Italien, Marokko, Niederlande, Oester-
reich-Ungarn, Persien, Portugal, Rumänien, Russland, Siam, Schweden und Nor-
wegen, Türkei (G.-C.), Vereinigte Staaten, Venezuela.
[[323]]
Palermo.
Wenngleich die Insel Sicilien geographisch und geologisch dem
italienischen Festlande zugehört und von diesem nur durch die in
der engsten Stelle 3200 m breite Enge von Messina getrennt ist, so
haben die Entwicklung der Culturverhältnisse und die Gestaltung der
Schicksale seiner Bewohner dennoch eigene, lange Zeiträume hindurch
von Italien unabhängige Wege genommen; und so viele Völker im
Laufe der geschichtlichen Periode auf der Insel gewohnt oder geherrscht
und Zeugnisse ihrer künstlerischen Befähigung zurückgelassen hatten:
sie vermochten die specifisch-sicilianische Eigenart in keiner Richtung
zu vernichten.
So erscheint uns denn Sicilien mit seiner grossartigen Natur und
reichen Production, seinen eigenthümlichen Volkssitten und ehrwürdigen
Traditionen, seinen die Kunstepochen dreier Jahrtausende repräsen-
tirenden Monumenten als ein für sich abgeschlossenes Gebiet, als ein
Eiland, dem an allgemeinem Interesse wenige Flecken der Erde
gleichgestellt werden können.
Die Insel (griechisch Sikelia und Trinakria) ist bei einem
Flächeninhalte von 25.800 km2 die bedeutendste des Mittelmeeres.
Sie ist fast durchwegs gebirgig, und finden sich an ihrer 820 km
langen Steilküste nur kurze Strecken mit seichtem Strande vor.
Zahlreiche landfest gewordene Küsteninseln bilden mitunter
prächtige natürliche Häfen, wie jene von Syrakus, Augusta, Trapani
und andere Hafenbildungen durch Anschwemmung entstanden, z. B. bei
Messina wohl durch die scharfe Gezeitenströmung in der Meerenge.
Eine Eigenthümlichkeit der sicilianischen Küsten sind die zahl-
reichen, jedoch wasserarmen Flüsse, die in oft sehr breiten mit Ge-
rölle bedeckten Rinnsalen den grössten Theil des Jahres als dünne
Wasseradern hinströmen, aber nach Regengüssen mit furchtbarer
Gewalt und oft Verheerungen anrichtend dem Meere zustürzen.
41*
[324]Das Mittelmeerbecken.
Diese Gebirgsflüsse, Fiumare genannt, sind ebenso eine Charak-
teristik der sicilianischen Küstenlandschaft, wie die kahlen, bronce-
farbigen vulcanischen Hügel- und Bergketten und das tiefblaue Meer.
Die Spuren der ältesten Bewohnerschaft der Insel führen, nach den dort
aufgefundenen Steinwerkzeugen zu schliessen, in prähistorische Zeiträume zurück.
Als nachweisbar erstes Volk erschienen die Sikaner, vielleicht keltischen oder
iberischen Ursprungs, aber bereits vor 1000 v. Chr. hatten sich die kriegerischen
und seegewohnten Sikeler in der Osthälfte der Insel angesiedelt und dort Städte
gegründet. Zu diesen gesellten sich die Phönikier und im VIII. Jahrhundert
v. Chr. kamen die ersten Griechen (Ionier und Dorer); unter diesen entstand unter
anderem 735 Naxas und 734 Syrakus.
Die verdrängten Phönikier stellten sich im VI. Jahrhundert v. Chr. unter
den Schutz Carthagos. Die Tyrannenherrschaften der volkreichen Städte (Syrakus!),
zahllose Parteikämpfe, dann der Ansturm der Carthager von Westen her gegen
Syrakus’ angestrebte Alleinherrschaft, endlich das kriegerische Auftreten Roms,
dem 212 v. Chr. die ganze Insel zufällt, füllen die Annalen von mehreren Jahr-
hunderten.
Während der römischen Herrschaft wurde die Insel wiederholt durch
Sclavenkriege und durch die erbitterten Kämpfe zwischen Octavianus und Sextus
Pompejus verwüstet und entvölkert, so dass Augustus, um den Verfall aufzuhalten,
Colonisten zuführen lassen musste.
Obgleich der Apostel Paulus auf seiner Weltfahrt in Syrakus landete, so
scheint das Christenthum auf Sicilien dennoch nur schwer Eingang gefunden zu
haben. Erst im III. Jahrhundert und dann unter Constantin dem Grossen blühte
der neue Glaube auf. Doch gab es im VI. Jahrhundert noch Heiden auf der Insel.
Theodorich, der Ostgothe, warf sich 493 n. Chr. zum Herrn auf, und 535
kam Sicilien wieder unter die Herrschaft der Byzantiner. Nun landeten im Jahre
827 die Sarazenen und eroberten die ganze Insel. Palermo fiel, eine der ersten
Städte, (830) in ihre Gewalt. Im XI. Jahrhunderte werden die Normannen unter
Roger I. Herren von Sicilien, und Roger II. lässt sich im Besitz von Apulien 1130
in Palermo zum König beider Sicilien krönen. Das Inselreich erblüht zu Kraft
und Ansehen, aber nur zu bald unterliegt es im Erbfolgekrieg gegen Heinrich VI.
(1194), den Sohn Friedrich Barbarossa’s. Nach Heinrich’s zu Messina erfolgtem
Tode (1173) trat Kaiser Friedrich II. als König Friedrich I. eine segensreiche
Herrschaft an; die Krone fällt aber, nachdem Karl von Anjou 1268 den letzten
Sprossen des hohenstaufischen Kaiserhauses Conradin hatte hinrichten lassen, dem
Haus Anjou zu. Dieses unterliegt bald darauf; die sicilianische Vesper (1282) war die
Antwort auf die Blutthat an Conradin. Unter Peter III. von Aragon, Schwieger-
sohn Manfred’s, der nun das Scepter ergreift, wird die Insel durch endlose
Kämpfe gegen die Anjous und Neapel verwüstet und verfällt in der Folge.
Alfons V. (1442) stellt das Königreich beider Sicilien wieder her und dieses ver-
bleibt dann von 1501 bis 1713 unter Spanien.
Im Frieden von Utrecht erlangt Amadeus von Savoyen die Insel, die 1720
gegen Sardinien an Oesterreich ausgetauscht wird.
1735 wird Don Carlos von Bourbon König beider Sicilien, und bleibt das
Reich, eine Unterbrechung während der Kriege gegen die französische Republik
und das erste Kaiserthum abgerechnet, bis 1860 im Besitze dieses Herrscherhauses;
Garibaldi’s Landung in Marsala führt den Anschluss an das Königreich Italien herbei.
[325]Palermo.
Aus diesen geschichtlichen Fragmenten geht die für Siciliens
Vergangenheit bezeichnende Thatsache hervor, dass jedes der grossen
Völker Europas, die auf dessen Cultur von Einfluss gewesen sind, auf
Sicilien Fuss gefasst und seine Spuren zurückgelassen hat. In dem
letzten Jahrtausend war die politische Capitale der Insel Palermo,
früher Syrakus.
Palermo, das alte Panormus, ist phönikischen Ursprunges und
spielte im Laufe der Jahrhunderte wiederholt eine hervorragende
Palermo.
Rolle. Zur Zeit der Araber war es die Hauptstadt und soll 300.000
Einwohner gezählt haben; hier spielte sich das entsetzliche Drama
der sicilianischen Vesper ab; hier residirten die spanischen Vicekönige,
welche im Vereine mit dem reichen Adel und der Geistlichkeit die
Stadt mit Glanz und Prunk erfüllten und ihr durch herrliche kirch-
liche Bauten und Paläste sowie durch die beiden die Stadt in Kreuz-
form durchschneidenden merkwürdigen Hauptstrassen jenen architek-
tonischen Charakter aufprägten, den man noch heute mit Bewunde-
rung betrachtet. Palermo hatte in der Folge durch Revolutionen,
Cholera und Bombardements viel zu leiden, nimmt aber seit der Ver-
[326]Das Mittelmeerbecken.
einigung Siciliens mit Italien einen ununterbrochenen Aufschwung in
jeder Richtung.
Heute zählt Palermo als Hauptstadt der Insel mit Einschluss
der Vororte 265.000 Einwohner.
Die Lage der Stadt ist eine herrliche. Eine weite fruchtbare
Ebene, deren Name la Conca d’oro (die Goldmuschel) den Reichthum
der Ernten andeutet, die hier der Boden beschert, umgibt die Stadt
in weitem Umkreise und erstreckt sich nördlich zwischen dem impo-
santen Massiv des malerischen Monte Pellegrino und dem östlich von
diesem liegenden Monte Catalfano. Unsere Illustration zeigt den neuen
Hafen, der im Süden des Monte Pellegrino erbaut wurde, in Deckung
mit diesem Berge. Orangen, Citronen, Baumwolle und alle Boden-
producte gedeihen hier auf das üppigste. Namentlich ergibt der Agru-
menbau (Orangen und Citronen) reichen Gewinn. Der Ertrag eines
Hektars Limonencultur beträgt in der Conca d’oro ungefähr 4000 Francs
im Jahre; Orangen (Apfelsinen) ergeben dagegen auf den Hektar um
1000 Francs weniger. So reiht sich denn hier wie längs der ganzen
Nordküste bis Messina und von dort bis Catania Garten an Garten
mit den prächtigsten Culturen, ein weites, blüthenduftiges Paradies.
Palermo „la felice“, das ohnehin durch Lage und mildes Klima aus-
gezeichnet ist, geniesst auch die Vortheile einer grossen Production.
Die Stadt wird, wie unser Plan zeigt, durch die Hauptstrassen
Via Vittorio Emanuele (früher Via Toledo, unter den Arabern el Kassar
und jetzt noch vom Volke Cassaro genannt) und Via Macqueda, die
unter rechten Winkeln sich schneiden und an ihrer Vereinigung den
runden Platz Quatro Carti bilden, durchzogen.
Das sind die grossen, stets belebten Verkehrsadern der Stadt, in
welchen Paläste, Kirchen und öffentliche Gebäude liegen.
An der Via Vittorio Emanuele, welche bei der Porta Felice am
Meere ausmündet, liegt auch die Piazza Vittoria, der grösste öffent-
liche Platz Palermos; dessen Südseite bildet der aus arabischer Zeit ent-
stammende festungsartige Palazzo Reale, an dem die beiden Roger
Friedrich II. und Manfred gebaut hatten. Dieses Bauwerk mit seinem
herrlichen Arcadenhof, seinen Thürmen, seiner mosaikgeschmückten
uralten Capelle Palatina und der im hohen Thurme S. Ninfa unter-
gebrachten Sternwarte (38° 7′ nördl. Breite, 13° 21′ östl. Länge
v. Gr.) ist neben dem herrlichen Dome, der Kathedrale von Palermo,
das interessanteste Bauwerk der Stadt. Diese letztere stammt aus dem
XII. Jahrhundert und enthält die sehenswürdigen Königsgräber und
werthvolle Kunstwerke.
[327]Palermo.
Die Via Vittorio Emanuele erhält durch den schönen Corso
Calatafini eine Fortsetzung gegen die Südseite der Stadt; hieran
schliesst sich die Strasse nach dem schöngelegenen Monreale, einer
Stadt von 16.500 Einwohnern, dessen alte Kathedrale, wegen ihres
Reichthums an Kunstwerken, worunter die Mosaiken zu den umfang-
reichsten in Sicilien zählen, berühmt ist.
Die zweite Querstrasse Macqueda führt in nordwestlicher Rich-
tung in die schnurgerade Via della Libertà, die ein wahres Paradies
von Gärten, Villeggiaturen und prunkvollen Anlagen durchschneidet;
dort wogt das fesselnde Treiben der eleganten Welt, wie des lebens-
frohen Volkes.
Eine wahre Perle muss die wunderbare Promenade längs der
Marina am Meeresstrande genannt werden. Die breiten schattigen
Alleen derselben führen in den Park la Flora oder Villa Giulia, der
zu den schönsten und lieblichsten öffentlichen Gärten Italiens zählt
und im Jahre 1777 angelegt wurde. An die Flora grenzt der reiche
botanische Garten, der ebenfalls zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt
gerechnet werden darf.
Palermo ist der Sitz eines Erzbischofs, des Generals-Commandos
des 12. Armeecorps und des höchsten Gerichtshofes der Insel. Die
Universität ist eine der bedeutendsten Italiens. Hier befinden sich
ferner eine Handelskammer, eine königliche Ingenieurschule und die
höhere Schule für den Schwefelbergbau.
Reich an Kunstschätzen jeder Art, von welchen viele kostbare
im Museo nazionale bewahrt werden, trägt die von dem Zauber er-
lauchter Erinnerungen umgebene Stadt die stolzen Attribute histori-
scher Grösse, hoher cultureller, aber auch grosser commercieller Be-
deutung an sich.
Der überwiegend grösste Theil des Seeverkehrs vollzieht sich
in dem nördlich der Stadt angelegten neuen Hafen, kurzweg Porto
genannt, dessen für die grössten Schiffe ausreichende Wassertiefe durch
kostspielige Baggerungen erzielt wurde. Dort mündet die Stadtbahn,
welche, ausserhalb des Weichbildes von Palermo geführt, gleichzeitig
dem Personen- und Frachtenverkehr dient und die Verbindung der
Bahnen nach Ost und West herstellt. Der alte Hafen von Palermo,
die sogenannte Cola, dient der geringen Wassertiefe und des be-
schränkten Raumes wegen nur den kleineren Schiffen.
Die wirtschaftliche Lage Siciliens ist seit 1886 keine glückliche.
Vor dieser Zeit erfreute sich die Insel lange Zeit hindurch einer
regelmässigen Handelsbewegung; ruhig und stetig stützte sich der
[328]Das Mittelmeerbecken.
Handel auf die Ausfuhr der eigenen Producte der Insel, meist mit
Segelschiffen, die für sich allein eine besondere Speculation italienischer
Rheder bildeten. Es war eine Zeit des Wohlergehens. Der Bauer
verdiente viel, und mit ihm lebten auch die anderen Stände in einer
gewissen, gesicherten Wohlhabenheit. Die Verwüstungen, welche die
Reblaus in Frankreich angerichtet hatte, der starke Consum der
Orangen in den Vereinigten Staaten sicherten dem Weine und den
Orangen Siciliens leistungsfähige Abnehmer. Da brach eine Krisis
herein; sie nahm ihren Anfang mit der Entwerthung des Schwefels,
der in Girgenti an der Südküste Siciliens gewonnen wird, fand ihre
Fortsetzung bei den Agrumen und wurde zuletzt durch den Preis-
sturz des Weines ungemein verschärft. Der namhafte Gewinn, welcher
bei Wein und Orangen erzielt wurde, führte zu übermässiger Aus-
dehnung dieser Culturen.
Ein Ende dieser traurigen Verhältnisse ist nicht abzusehen, denn
die Ursachen derselben werden zum grossen Theile andauern. In den
Vereinigten Staaten wird die Darstellung der Schwefelsäure aus
Schwefelkiesen sich immer weiter ausdehnen und den Rohschwefel
Siciliens entbehrlich machen, die Verheerungen, welche in Frankreich
die Reblaus angerichtet hat, werden mit Glück bekämpft, die Wein-
production nimmt dort wieder rasch zu; und auch das Aufhören des Zoll-
krieges zwischen Italien und Frankreich, der seit März 1888 dauert,
wird daher nicht mehr die alten Preise bringen; das Absatzgebiet
der Vereinigten Staaten für Orangen, die man dort in Californien,
Louisiana und Florida in immer grösserer Ausdehnung baut, wird
jährlich kleiner, wie die trostlosen Preise beweisen, welche sicilianische
Orangen 1889 jenseits des atlantischen Oceans erzielten. Man rechnete
früher 1000 Stück mit 50 Lire, jetzt sind 12 Lire ein guter Preis.
Neue Gegenden für den Verbrauch der genannten drei Artikel sind
sehr schwer zu schaffen. Wohl entwickelt sich Triest als wichtiger
Platz für Agrumen von geringerer Haltbarkeit in Europa, und in
Canada steigt der Consum der Orangen und Limonen, aber viel zu
langsam für die grosse Production Siciliens. Durch sogenannte „Natio-
nallager“, die in der Fremde errichtet werden, hat sich die Weinaus-
fuhr in die Schweiz und nach Deutschland entwickelt. Die neu
errichtete Dampferlinie Adriatica-Platense, welche von Venedig über
Apulien und den grossen Weinhafen Riposto bei Catania nach dem
Rio de la Plata geht, führt apulischen und sicilianischen Wein direct
dahin, aber diese Länder können nicht das frühere so aufnahms-
lustige Frankreich ersetzen.
[329]Palermo.
Bei dem allen muss Sicilien, die ehemalige Kornkammer Roms,
dank der herabgekommenen Agriculturzustände, Getreide in grossen
Mengen vom Schwarzen Meere her und in neuerer Zeit von Ostindien,
ebenso Schlachtvieh, ja selbst Gemüse von auswärts einführen.
Mit der rückläufigen Bewegung des Handels hielt diejenige
A Hafen von Palermo, B Rhede, C Porta felice, D Fort Castellamare, E Arsenal, F Leuchtfeuer, G Ge-
fängniss, H Central-Eisenbahnhof, J Marina-Platz, K La Flora, L königl. Palais, M Via Vittorio Emanuele
(Toledo), N Via Macqueda, O Ringbahn (Circonvalazione), P Ammiraglio-Brücke, R Kathedrale (Duomo),
S Sanität, T Eisenbahnstationen, U Werften und Slip, V Signalstationen, W botanischer Garten,
X Piazza della Vittoria, Y Corso dei Mille, Z Strada della Libertà. — 1. Theater. 2. Pretoria,
3. S. Giovanni degli Eremiti, 4. Museo nazionale, 5. Politeama, 6. Zollamt Sta. Lucia
des Seewesens gleichen Schritt. Die gewinnbringenden Schiffsfrachten,
welche bisher das Capital der einheimischen Rheder gekräftigt hatten,
gingen ganz in die Hände der englischen Dampfer, mit welchen
französische und deutsche in Mitbewerb traten; die Segelflotte Sici-
liens ist dem Untergange geweiht.
Die oben geschilderte einseitige Entwicklung des Ackerbaues
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 42
[330]Das Mittelmeerbecken.
Siciliens wird bei der Eigenart der Bevölkerung sich sehr langsam
ändern, und eine Fabriksthätigkeit, die ersetzen könnte, was an Ver-
dienst beim Ackerbau verloren gegangen ist, existirt auf dem schönen
Eilande schon deshalb nicht, weil der Sicilianer, wie der Neapolitaner
im Allgemeinen jede Fabriksarbeit hasst und lieber hungert, als acht
Stunden im engen Fabriksraum arbeitet. So tritt uns in Sicilien auf
Schritt und Tritt die Verarmung mit all’ ihren traurigen Folgen
entgegen.
Wir mussten diese Einleitung voranschicken, um bei den folgenden
Hafenplätzen lästige Wiederholungen zu vermeiden und schildern nun
den Handel Palermos.
Palermo ist die grösste Stadt Siciliens und auch der wichtigste
Hafen und erste Handelsplatz der Insel, denn von hier gehen drei
Eisenbahnlinien ins Innere, und die Küstenbahn nach Messina, an der
man schon über 20 Jahre baut, wird doch endlich fertig werden.
Palermo hat durch diese Verbindungen unter allen Häfen der Insel
das ausgedehnteste Hinterland und ist namentlich wichtig für den
Import fremder Waaren. Sein Export beruht auf den bekannten
Erzeugnissen Siciliens, auf Orangen, Limonen, Olivenöl, Wein und
Weinstein, Sumach.
Palermo exportirt unter allen Häfen Siciliens die meisten Agrumen; es hat
aber nicht allein durch die Verminderung des Werthes der Früchte gelitten,
sondern auch durch den Rückgang der ausgeführten Mengen, was bei Messina
und Catania nicht der Fall ist.
Es wurden 1888 693.085 q, 1887 1,214.639 q (24,332.795 Lire) und 1886
500.941 q exportirt.
Die Ausfuhr von Essenzen und Pflanzensäften aus Palermo ist besonders
hoch, dagegen sinkt stark die von trockenen Früchten 1888 7869 q, 1887 10.752 q
im Werthe von 1 Million Lire; auch bei diesem Artikel macht sich der Preis-
rückgang geltend. Zu nennen sind noch Manna und Haselnüsse.
Auf Sicilien produciren die Provinzen Palermo und Messina das meiste
Olivenöl. Ausfuhr 1888 7127 q, 1887 9128 q (Werth 1·1 Millionen Lire)
1886 2114 q.
Von Wein wurden nur ausgeführt in Fässern 1888 13.429 hl, 1887 7250 hl,
Werth 261.000 Lire. Die Exportgebiete des Weines liegen im Osten und im Westen
der Insel. Flaschenweine werden dafür in steigender Menge eingeführt; 1888
123.931 Flaschen.
Weit wichtiger als Wein ist für Palermo Weinstein; 1887 wurden
21.542 q im Werthe von 3·2 Millionen Lire, 1886 10.645 q im Werthe von 1·3 Mil-
lionen Lire ausgeführt.
Sumach ist ein hervorragender Ausfuhrartikel Palermos; die eine Hälfte
geht nach der Union, die andere nach England. Ausgeführt wurden von Farb-
und Gerbstoffen 1888 296.912 q, 1887 334.129 q im Werthe von fast 9 Millionen
Lire; den Hauptantheil an dieser Ziffer hat Sumach, dessen Ernte 1887 nach
[331]Palermo.
Menge und Güte ausgezeichnet war. In Palermo und Umgebung bestehen Dampf-
mühlen zum Mahlen des Blattes.
Die Ausfuhr von Schwefel über Palermo nimmt zu; 1888 48.177 q, 1887
43.495 q im Werthe von 3·6 Millionen Lire.
Mit diesen Waaren sind die Ausfuhrartikel Palermos erschöpft; Ge-
treide können wir eigentlich nicht zu ihnen rechnen, denn die Einfuhr des-
selben von den Häfen des Schwarzen Meeres steigt unausgesetzt, während die
Ausfuhr stetig sinkt; 1888 Ausfuhr 54.038 q, Einfuhr 141.660 q.
Unter gewöhnlichen Verhältnissen wird Vieh aus Rumänien und Russland
zugeführt.
Von Genussmitteln sind anzuführen Kaffee, von welchem 1888 2469 q,
1887 3117 q eingeführt wurden; Zucker kommt nicht mehr aus Grossbritannien
und den Niederlanden, sondern aus Ancona und Sampierdarena bei Genua; Tabak
1888 8574 q.
Steinkohlen kommen aus England; 1888 1,129.391 q, 1887 765.815 q.
Diese Steigerung steht in Zusammenhang mit der grossen Einfuhr von Maschinen;
Petroleum, das erst in der neuesten Zeit in den Haushaltungen Siciliens unent-
behrlich wurde und einem sehr hohen Eingangszoll unterliegt, führen Amerika und
Russland zu; 1888 27.228 q gegen 41.442 q im Jahre 1887, dieses Sinken ist ein
sicheres Zeichen für das Sinken des öffentlichen Wohlstandes.
Der Haupttheil der Einfuhr Palermos besteht aus Erzeugnissen der Textil-
industrie. Die fremden, meist englischen Baumwollfabricate werden all-
mälig durch italienische ersetzt, daher sinkt die Einfuhr beständig: 1888 3101 q,
1887 10.758 q, 1886 12.009 q. Oesterreich-Ungarn wurde von diesem Ausfalle be-
sonders stark getroffen. Schafwollstoffe kommen aus Frankreich, in zweiter
Linie aus England, Seidenstoffe aus Frankreich; die Einfuhrmenge geht zurück
wie die der Leinenwaaren und Jutestoffe; bei Seidenstoffen werden ausserdem jetzt
viel schlechtere Qualitäten verlangt als früher.
In der Gruppe Glaswaaren, Steingut und Porzellan wird infolge der
Errichtung der grossen Actiengesellschaft „Vetraria“ in Livorno besonders in ge-
ringerer roher Waare das Ausland überall geschlagen; Einfuhr von Glas 1888
4923 q, 1887 5286 q; von Thongeschirren und Porzellan 1888 554 q, 1887 3579 q.
Den Verlust trägt vor allem Oesterreich-Ungarn.
Von dem eingeführten Papier, 1888 934 q, 1887 852 q, 1886 1373 q, ent-
fällt etwa die Hälfte auf Oesterreich-Ungarn.
Die Einfuhr von Leder und Lederwaaren ist von 1886 mit 3515 im
Jahre 1888 bis auf 1759 q gesunken, während gleichzeitig die Ausfuhr ge-
stiegen ist.
Selbst in der Eisenindustrie macht sich Italien vom Auslande etwas
unabhängig; man hat grosse ausländische Firmen dahin gebracht, in Italien
Etablissements zu errichten. Die Einfuhr von Eisen und Eisenwaaren betrug
1888 59.125 q, 1887 91.728 q, 1886 109.508 q; die Einfuhr von Maschinen
ist gestiegen.
Die Holzeinfuhr erfolgt überwiegend aus Galizien und der Bukowina
über Galatz und auch über Triest; sie ist gestiegen, weil Italien den Einfuhrzoll
auf Holz aufgehoben hat als Compensation für das Auflassen des Zolles auf
Agrumen in Oesterreich-Ungarn.
Auffallend bleibt, dass die Einfuhr von Marmor, Steinen und Ziegelu
42*
[332]Das Mittelmeerbecken.
1888 gewaltig gestiegen ist. Die Einfuhr Palermos wird für 1887 mit 35,987.876
Lire, für 1886 mit 41,425.227 Lire angegeben, die Ausfuhr 1887 mit 42,698.940
Lire, 1886 mit 31,309.542 Lire.
Diese Ziffern umfassen nur den Handel mit dem Auslande, sind aber in
Betracht der Artikel, welche zollfrei eingeführt werden, ungenau.
Der Schiffsverkehr von Palermo betrug:
| [...] |
Im internationalen Verkehre überwiegt die italienische Flagge, im Küsten-
verkehre herrscht sie beinahe ausschliesslich. Von fremden Schiffen entfallen die
meisten auf England, das Deutsche Reich und die Niederlande.
Der Verkehr mit dem Festlande findet über Neapel statt, in erster Reihe
durch die Schiffe der Navigazione generale (168 Seemeilen in 17 Stunden). Der Aus-
bau der Bahn nach Messina wird die Linie über die Meerenge in den Vordergrund
stellen. Palermo ist Ausgangspunkt der Küstenfahrten um Sicilien, einer Linie
über Messina und Catania nach dem Piräus und Station der Linie Sloman aus
Hamburg und der Dampfer der Anchor-Line. Hier hat eine Subdirection der
Navigazione Generale Italiana ihren Sitz.
Consuln haben hier: Argentina, Belgien, Chile, Dänemark, Deutsches
Reich, Frankreich, Grossbritannien, Mexico, Monaco, Niederlande, Oesterreich-
Ungarn (G.-C.), Paraguay, Portugal, Rumänien, Russland (G.-C.), Salvador, Schweiz.
Spanien, Türkei, Uruguay, Venezuela (V.-C.), Vereinigte Staaten von Amerika.
An Milazzo, einem aufstrebenden Hafen an der Nordküste
Siciliens, der Wein ausführt und mit Sehnsucht die Eisenbahn-
verbindung mit Palermo erwartet, vorüber, kommt man in 13 Stunden
(132 Seemeilen) nach Messina.
[[333]]
Messina.
Zu den grossartigsten und zugleich an lieblichen Details reichsten
Naturscenerien zählt die Meerenge von Messina, welche das gewaltige
Inseldreieck Sicilien von Calabrien trennt. Beiderseits der vielbe-
fahrenen Wasserstrasse, die schon im grauesten Alterthum die Kriegs-
flotten der herrschenden Völker durchschnitten, streichen die Ausläufer
bedeutender Gebirgsketten und entsenden kräftige Seitenzüge zum
Meere. In den gedrängten dunklen Schluchten glänzt die helle Linie
der Sturzbäche und des Gerölles der vertrockneten Küstenflüsse, deren
steiles Bett oft, wie jenes bei Melita an der calabresischen Seite, in seiner
ganzen Ausdehnung bis zur Höhe des Gebirges von See aus über-
blickt werden kann. Fruchtbare Abhänge, ein blühender Strand mit
einem überraschenden Reichthum an Städten, Ortschaften und Ge-
höften, dazu die herrliche, von Schiffen und Fahrzeugen jeder Art
belebte Wasserfläche würden an und für sich ein Bild von seltener Schön-
heit bieten. Da tritt aber auch das kräftige Massiv des 3313 m hohen
Mte. Aetna, des höchsten Vulcans in Europa, als malerisches Element
hinzu und schafft eine Landschaft von völlig majestätischem Glanze,
würdig der grandiosen Vergangenheit dieser Gegend.
Im ganzen Laufe der Meerenge, die von Süden gegen Norden
zu trichterartig von 12 km bis auf 3200 m Breite sich bewegt, zieht
eine kräftige Gezeitenströmung, deren Lauf ein ziemlich complicirter
ist. Dampfer überwinden die Strömung wohl mit Leichtigkeit, allein
Segelschiffe müssen ihrer achten, um nicht in die Nähe des Landes
zu gerathen. In der Strasse steht indes ein gut geschultes Lootsen-
personale zur Verfügung, das die Führung der Schiffe gegen mässige
Entlohnung übernimmt. Eine Eigenthümlichkeit der nach je sechs
Stunden die Richtung wechselnden Strömung (Rema) sind die Wasser-
wirbel, deren bedeutendster jener beim Faro an der nördlichen Aus-
mündung der Enge ist, und wo selbst die grössten Schiffe von dem
[334]Das Mittelmeerbecken.
Wasserschwall in drehende Bewegung versetzt werden, während sie
diesen durchschneiden. Von einer Gefahr ist jedoch keine Rede. Auch
bei Messina bilden sich solche Wirbel, deren Oertlichkeit wir im
Plane angezeigt haben; der grösste derselben ist der Garofalo (Nelke).
Der Farowirbel ist die Charybdis der griechischen Schiffersage,
eine der Gefahren am Eingange zur Meerenge. Die andere Gefahr
sind die steilen Felsabhänge, auf welchen Burg und Ort Scilla
thronen. Bei stürmischer Witterung tobt hier eine furchtbare Brandung.
Friedrich Schiller’s herrliche Ballade „Der Taucher“ bezieht sich
auf ein Ereigniss, das unter Friedrich II. Regierung (siehe geschicht-
liche Rückblicke im Abschnitte Palermo) beim Wirbel Garofalo vor-
kam. Dort tauchte Cola Pesce und fand den Tod. Schiller aber ver-
legte den Schauplatz nach Scilla.
Messina lagert höchst malerisch an den gefällig bewegten Ab-
hängen des mit Wald und fruchtbaren Culturen bedeckten Küsten-
gebirges.
Eine sichelförmige, durch Anschwemmung entstandene Landzunge
bildet ein ansehnliches, wohlgeschütztes Hafenbassin von grosser
Wassertiefe. Die italienische Regierung hat in den letzten Jahren
den stark besuchten Hafen durch mancherlei Bauten und Einrichtungen
sowie durch Entfernung bestandener Untiefen verbessert. Auf der
sichelförmigen Landzunge, welche die Citadelle und das Fort S. Sal-
vatore trägt, befinden sich die Kohlenmagazine in dem ehemaligen
Lazareth S. Raineri und östlich davon der Leuchtthurm Faro grande
unter 38° 11′ nördl. Breite und 15° 35′ östl. Länge v. Gr. Am Süd-
ende des Hafens liegt der Bahnhof, von dem die Geleise zum Zollamt und
zu den grossen Waarenmagazinen führen. In den letzten Jahren
tauchte das Project auf, Messina durch einem unterseeischen
Tunnel mit Calabrien zu verbinden; der Gedanke dürfte aber kaum
verwirklicht werden, denn, um ihn als ein wirkliches Bedürfniss
erscheinen zu lassen, müssten die Culturzustände auf Sicilien denn doch
ganz andere sein, als die bestehenden. Die herrliche Quaifront des Corso
Vittorio Emanuele, auch Marina genannt, eine palastreiche Esplanade
(ehemals Palazzata), zieht sich längs des Hafens als eine belebte und
durch Kunstbauten gezierte Promenade über ein und einen halben Kilo-
meter nordwärts. Längs derselben sind südlich der Sanität die Schiffe in
langer Reihe vertäut. Parallel mit der Quaifront ist die breite und schnur-
gerade Via Garibaldi geführt; dann folgen der Corso Cavour und die Via
Monasteri als höhergelegene Strassenzüge, welche die Stadt in nörd-
licher Richtung durchschneiden. Das Weichbild der Stadt Messina
[335]Messina.
zählt 78.000 Einwohner, und mit den zur Gemeinde gehörenden
48 Vororten und Dörfern erhöht sich die Zahl auf mehr als
126.000 Einwohner. Die Stadt ist der Sitz eines Erzbischofs, eines
Appellhofes, einer Universität und einer Handelskammer.
Die Vergangenheit Messinas ist wie jene von ganz Sicilien eine sehr
bewegte. Auch hier wechseln Tage hoher Blüthe und grossen Reichthums mit
Tagen tiefen Niederganges und grossen Elendes. Als cumanische Seeräuber und
Chalkidier im Jahre 732 v. Chr. an der Stelle einer Stadt der Sikeler eine
Niederlassung gründeten, hiess sie mit Beziehung auf die Gestalt der vorgelagerten
Landzunge Zankle (Sichel). Ihre Bewohner schmachteten unter Tyrannen, unterlagen
den Griechen (493 v. Chr.), welche die Stadt Messana nannten; dann fiel sie
unter Carthago, kämpfte gegen Syrakus, unterlag gegen Hannibal (270).
Auch die römische Zeit brachte zahlreiche Kämpfe und unheilvolle Zustände,
in welche Augustus helfend eingriff. Die Sarazenen fassten (842 n. Chr.) dort Fuss, und
einige der Kreuzzüge berührten den Hafen und trugen zum Aufblühen desselben
bei, wenngleich Richard Löwenherz 1189 n. Chr. die Stadt stürmte. Aus dieser
Zeit datirten aber die ansehnlichen Privilegien der Stadt, die bis 1678 ihr eine
bedeutende politische Stellung gesichert haben. Karl von Anjon belagerte sie
(1282) vergebens; der Heldenmuth der Bürger in jener Drangperiode erregte die
Bewunderung der Zeitgenossen.
Messina blühte gegen Ende des XV. Jahrhunderts auf, sank aber in der
Folge unter dem Einflusse Palermos. Kaiser Karl V. besuchte die Stadt und be-
schenkte sie reich, und als sein Sohn, der jugendliche Held Don Juan d’Austria,
nach dem glänzenden Siege von Lepanto 1571 in Messina landete, ward ihm ein
Denkmal gesetzt und eine Strasse nach ihm benannt.
Politischer Hader der Parteien, der die Einmengung Ludwig XIV. zur Folge
hatte, führte nach Kämpfen und Reibungen den Verfall der Stadt herbei. Pest und
Erdbeben traten im XVIII. Jahrhunderte verheerend hinzu; erstere forderte 1740
allein 40.000 Opfer. Ebenso brachte das gegenwärtige Jahrhundert vielerlei Miss-
geschick, so 1848 ein Bombardement, das vom 3. bis zum 7. September währte,
und 1854 die Cholera, welche gegen 16.000 Menschen hinwegraffte.
Seither scheint das Schicksal der thätigen Einwohnerschaft zum Besseren
sich gewendet zu haben, denn Messina ist entschieden im Aufschwunge begriffen.
Zu den hervorragendsten Sehenswürdigkeiten der Stadt zählt
der aus der Normannenzeit stammende, aber in späteren Epochen durch
Um- und Zubauten vielfach veränderte Dom La Matrice, der, 1098
begonnen, von Roger II. vollendet wurde. Die Kirche enthält ausser
dem prunkvollen und kostbaren Hochaltar, dessen Herstellung im Jahre
1628 die für die damalige Zeit ungeheuere Summe von fast vier
Millionen Lire erforderte, noch mancherlei interessante Denkmäler,
Kunstwerke und Reliquien.
Die älteste Normannenkirche der Stadt ist indes die St. Anun-
ziata dei Catalani, deren Restaurirung gegenwärtig in Aussicht ge-
nommen wurde. Der ehrwürdige Bau soll an der Stelle einer Moschee.
[336]Das Mittelmeerbecken.
und diese auf den Fundamenten eines Neptuntempels aufgeführt
worden sein.
Hervorragende Sehenswürdigkeiten sind noch die Kirchen
St. Maddalena, St. Nicolo und St. Gregorio.
Im Süden der Stadt, jenseits des Torrente Portalegni, erhebt
sich die durch weithin sichtbare Monumentalbauten auffallende und
erst jüngst vollendete Nekropole von Messina, von deren Höhe eine
prachtvolle Aussicht auf die ganze Meerenge zu geniessen ist.
Messina.
Antike Bauwerke haben sich hier, ungeachtet der wichtigen Rolle,
die Messina im Alterthum gespielt, nicht erhalten.
Die Aus- und Einfuhr Messinas erreichte:
| [...] |
Im Export überwiegt der Handel mit Agrumen und Früchten alle anderen
Exportartikel. Agrumen, frische und eingelegte, wurden 1888 512.252 q =
9,232.776 L. exportirt, gegen 1887 mehr um 65.148 q, aber der Werth er
[337]Messina.
höhte sich nur um 350.637 L.; ungenannte Früchte aller Art 2042 qGemüse,
conservirt, Kastanien, Mandeln 7106 q = 1,279.229 L., Nüsse 26.803 q
= 1,340.138 L., wovon ein Drittel allein nach Deutschland ging, Pistazien, Oli-
venöl, Wein und Essenzen aus den oben schon genannten Früchten kamen auch
in grosser Quantität infolge einer guten Ernte zur Ausfuhr, vornehmlich nach
Frankreich, England, Russland, den Vereinigten Staaten und Canada, Oesterreich-
Ungarn, Skandinavien (Essenzen) und Deutschland. Es wurden 1888 ausgeführt:
Olivenöl 61.771 q = 7,412.913 L. Wein in Fässern 31.014 hl = 930.420 L.,
ferner Rosinen, Citronensaft roh und concentrirt 2,505.894 kg = 2,466.699 L.,
Essenzen aus Bergamotten, Citronen und Orangen 22.450 q = 3,367.662 L.
A Hafen von Messina, B Braccio di S. Ranieri, C Dock, D Eingang in die Citadelle, E Kohlenmagazin
(altes Lazareth), F Leuchtfeuer, G neues Zollamt und Magazin, H Verzehrungssteueramt, J Bahnhof,
K Markt, L Sanität- und Hilfsstation, M Palazzo reale, N Kathedrale (Duomo), O Civil-Spital,
P Universität, Q Capuziner-Kloster, R S. Francesco d’Assisi-Kirche, S Post, Telegraph und Börse,
T Victoria-Thurm, U Municipalität, V Statue Don Juan d’Austria, W Via Cardines, X Torrente
Portalegna, Y Torrente Boccetta, Z Torrente Trapani. — 1. Imperiale Corso Cavour, 2. Via Garibaldi.
Von sonstigen wichtigen Exportartikeln wollen wir nur hervorheben
Weinsteinsäure und weinsteinsäurehaltiges Rohmaterial 4,852.458 kg =
7,766.371 L., wovon über 4 Millionen kg nach England und der Rest nach
Holland, Frankreich, Amerika, Canada, Oesterreich-Ungarn, Deutschland und Russ-
land ihren Weg nahmen. Bimsstein und Cement kommen auch zur Ausfuhr.
Häute, roh und gegerbt, Hörner und Knochen finden in England (½ des
Ganzen), Deutschland, Frankreich und Oesterreich-Ungarn Abnehmer; Fass-
reifen und geschnittene Brettchen zu Kisten gehen oft nach Frankreich,
Griechenland, Malta, Egypten und der Türkei; Gesammtwerth 1888 397.319 L.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 43
[338]Das Mittelmeerbecken.
Von Rohseide gehen etwa drei Fünftel nach Frankreich und zwei Fünftel
nach England; Ausfuhr 1888 Rohseide 45.677 kg = 2,616.452 L. und Flockseide
19.810 kg = 336.770 L. Die Seidenausfuhr war früher viel bedeutender.
Auch bei Rohseide machte sich wie bei Wein, Agrumen und Fruchtsäften
der Zollkrieg mit Frankreich fühlbar, die Ausfuhr dieser Artikel ach Frankreich
war 1888 um 5,597.678 Lire kleiner als 1887.
Die Einfuhr Messinas ist nicht allein deshalb zurückgegangen, weil die
Bevölkerung aus Noth sich einschränken musste, sondern weil der seit 1887/88
geltende Zolltarif in einzelnen Artikeln die Concurrenz des Auslandes fast gänz-
lich ausschliesst, wie bei Sprit, Zucker, Baumwollwaaren.
An der Spitze der Einfuhr steht Weizen (1888 264.717 q = 5,294.742 L.)
aus Russland, das ungefähr sechs Siebentel des ganzen Bedarfes liefert, dann aus
der Türkei und Rumänien. Mehl (1888 12.348 q) kommt aus Braila, Russland und
Oesterreich-Ungarn. Seit 1888 besteht hier eine grosse Dampfmühle. Den zweiten
Rang nimmt Bauholz aus Oesterreich-Ungarn, Schweden und Norwegen ein
(Werth 1888 3,664.587 L.).
An dritter Stelle sind Steinkohlen, fast ausschliesslich englischer Pro-
venienz, mit 594.430 q zu erwähnen.
Fische in allen möglichen Zubereitungen (17.716 q = 1,032.575 L.) bilden
gleichfalls einen wichtigen Importartikel, die Hauptlieferanten dafür sind England,
Skandinavien, Frankreich; den Haupttheil der Einfuhr bilden Stockfische.
Dann folgen Metalle, Metallwaaren, Maschinen, worin auch England den
Vorrang vor Frankreich, Belgien, Deutschland und Oesterreich-Ungarn behauptet,
indem es ungefähr drei Viertel der gesammten Metalleinfuhr besorgt, die man
1888 mit etwa 66.460 q = 1.734.000 L. annehmen kann. Davon entfallen auf Eisen
roh und verarbeitet 57.114 q = 972.119 L. und auf Stahl und Stahlwerkzeuge
3162 q = 248.827 L.
Von rohen Häuten wurden 1888 4170 q (Werth 834.096 L.), Leder um
277.724 L. eingeführt.
Der Import von Artikeln für Gerberei und Färberei, letztere aus
Frankreich und England, betrug 13.009 q = 418.287 L. Chemikalien und
chemische Producte kamen aus Frankreich, dann England, den Vereinigten
Staaten, Deutschland und Oesterreich-Ungarn; 1888 5395 q = 138.182 L.
Sehr bedeutend ist verhältnissmässig der Import von Erzeugnissen der
Textilindustrie. Baumwollgarne und Baumwollgewebe kommen beinahe nur
aus England; Gesammtwerth 1½ Millionen Lire; Garn aus Hanf, Leinen und
Jute aus Frankreich, Algier, England; Gewebe aus Wolle erreichten 1888 einen
Werth von 354.618 L., Confectionsartikel 130.000 L. und schliesslich Kurz-
waaren aller Art 290.899 L.
Colonialwaaren werden nur zum Theile direct aus dem Auslande be-
zogen, so Kaffee (1888) 2135 q im Werthe von 320.214 L.
Messina sieht einen grossen Verkehr vorbeiziehen, aber seinen Hafen be-
lebten nur:
| [...] |
Hier sind nicht eingerechnet jene Schiffe, welche vor Stürmen Schutz in
Messina suchen und daher keine Hafenabgaben entrichten; die Zahl war 1888
[339]Messina.
ungewöhnlich hoch mit 400 Seglern (51.114 t) und 92 Dampfern (68.687 t). Etwa
zwei Siebentel der Tonnenzahl entfallen auf den internationalen Verkehr, fünf
Siebentel auf den Küstenverkehr.
Bei der Küstenschiffahrt hat nach der Zahl der Tonnen die italienische
Flagge das Uebergewicht, im internationalen Verkehr aber sind die fremden
Flaggen namentlich in der Dampfschiffahrt weit wichtiger als die einheimischen.
England beschäftigt im internationalen Verkehre Messinas die meisten Tonnen.
dann folgen Italien, Frankreich, Deutschland und Griechenland.
Regelmässige Verbindungen mit Messina unterhalten die Navigazione gene-
rale, von Genua über Neapel, die Dampferlinie Slomann aus Hamburg.
Nach Reggio di Calabria, das zum Seebezirke Messina gehört, geht
ein Kabel.
Consuln haben in Messina: Argentina, Belgien, Dänemark, Deutsches
Reich, Frankreich, Griechenland, Japan, Monaco, Niederlande, Oesterreich-Ungarn,
Paraguay, Peru, Rumänien, Russland, Schweden und Norwegen, Schweiz, Türkei
(G.-C.), Uruguay, Venezuela, Vereinigte Staaten von Amerika.
Da in Sicilien kein Hauptthal vorhanden ist, das den Verkehr
der ganzen Insel bestimmen könnte. so haben auch die übrigen
Küstenplätze wohl für immer eine gewisse selbständige Bedeutung
gegenüber Palermo und Messina, weil sie die natürlichsten Versorger
ihres Nachbarterritoriums sind. Wir treffen von Messina südwärts-
gehend auf Riposto, welches 1887 noch eine Ausfuhr von fast
18 Millionen Lire hatte; es ist der erste Weinhafen Italiens und
lieferte früher die Aetnaweine nach Frankreich; der Handel ist in
den Händen von Sicilianern.
Es folgt Catania mit 106.000 Einwohnern, vom Aetna gegen
rauhe Winde geschützt, daher ein klimatischer Curort ersten Ranges,
mit Colonien von Fremden, unter denen die Deutschen hervorragen.
Die Einfuhr und die Ausfuhr erreichten 1887 jede 17½ Millionen Lire.
Getreide (6 Millionen Lire) vom Schwarzen Meere, Erzeugnisse der
Textilindustrie aus England, Frankreich und Oesterreich-Ungarn, Holz
aus letzterem allein, ferner Leder und Häute sind die Hauptartikel
der Einfuhr; Schwefel, Agrumen, Mandeln, Haselnüsse und Asphalt
die der Ausfuhr. Eine Eisenbahn, welche rings um den Aetna führen
wird, ist im Bau, dann wird die Ausfuhr bedeutend steigen.
Der Küstenhandel ist für Catania von höchster Wichtigkeit, in
ihm werden grössere Werthe umgesetzt als im Aussenhandel.
Der nächste Hafen ist Syrakus, von dessen alter Pracht und
Herrlichkeit nur eine einzige Säule aufrecht steht; hier werden um
2—3 Millionen Lire harter Weizen aus Russland eingeführt, Wein
und Agrumen ausgeführt. An der Südküste sind zu nennen Ter-
ranova, von wo täglich Verkehr mit Malta stattfindet, Liccata,
43*
[340]Das Mittelmeerbecken.
auch Endpunkt einer Eisenbahnlinie und wie die folgenden Orte
ein Centrum des Handels mit Schwefel, Porto Empedocle, der
Hafen von Girgenti, in dessen Nähe bekanntlich die grössten Schwefel-
lager der Welt sind, welche abgebaut werden.
An der äussersten Spitze des Westens von Sicilien liegt Mar-
sala, eine Eisenbahnstation. Hier landete im Mai 1860 Garibaldi
mit seinen „Tausend von Marsala“, und der Wein aus der Umgebung
dieser Stadt ist von allen Sorten Italiens im Welthandel am meisten
bekannt. Seinen Weinhandel beherrschen Ausländer. Wir schliessen
mit Trapani, dem Endpunkt der von Palermo nach Westen führen-
den Bahn.
[[341]]
Neapel.
Mit dem Namen Neapel ist der Begriff sinnbestrickender Natur-
schönheit verbunden. Vedi Napoli e poi muori! Betrachte Neapel und
dann stirb, heisst es allerwärts in Italien, denn nirgends sonst auf der
Welt vermag dein Auge eine ähnliche Wunderherrlichkeit wie hier zu
schauen. „Ein Stück Himmel, auf die Erde gefallen“, liegt vor dir!
Ueber Neapel schwebt die Aureole der Weltberühmtheit, wie über
Constantinopel und Rio Janeiro. Schon zur Zeit der Römer sah dieser
Golf die Pracht und den Geschmack der vornehmen Bewohner der
Welthauptstadt, die hier, umgeben von der heiteren Ueppigkeit der
Natur, in prächtigen Villen den Sommer zu verbringen pflegten. Die
Ruinen zahlreicher Tempel, Theater, Bäder und anderer Bauwerke
geben Zeugniss von der starken Anziehungskraft, die schon in uralter
Zeit dieses gefeierte Stück Erde auf die Menschen ausgeübt hat.
Und dieselbe geheimnissvolle Macht geht auch heute noch von ihm
aus und lenkt alljährlich viele Tausende herbei, den verschwenderisch
begnadeten Boden zu betreten.
Viel hatten dazu seit jeher die räthselhaften vulcanischen Ge-
walten beigetragen, deren Thätigkeit in dem rauchenden Vesuv, in
Fumarolen und giftige Dämpfe hauchenden Grotten sich äusserte und
mächtig auf die Phantasie einwirkt. Aber merkwürdig, dem ein-
schmeichelnden Klima, dem reichen Segen des Landes erlag die
Spannkraft selbst der thätigsten und tüchtigsten Völker, die hieher
den Fuss gesetzt hatten. Griechen und Römer, Byzantiner und Gothen,
Normannen, Deutsche und Spanier, sie alle, die hier einst herrschten,
verweichlichten und erlangten niemals eine andauernde Bedeutung.
Diese wenngleich in der Tiefe der menschlichen Natur begründete,
aber dennoch auffallende Erscheinung ist wohl geeignet, den unnenn-
baren Zauber Neapels noch mehr zu steigern.
Die erhabene Schönheit des Golfes von Neapel begeisterte denn
[342]Das Mittelmeerbecken.
auch seit den ältesten Zeiten Dichter und Künstler, Schöngeister und
Philosophen, und gross ist die Zahl der Werke, deren Dasein Motiven
aus dem Bannkreise des geheimnissvollen Vesuv entstammt.
Der Vesuv ist hier das dominirende Object, wie die Erinnerung
an entfesselte Gewalten des ewig drohenden Störenfrieds fast auf-
dringlich in der alten Geschichte hervortritt.
Ohne Vesuv wäre Neapel nicht mehr Neapel, mit so tiefen
Wurzeln steckt dieser Vulcan im Charakter der Landschaft. Er ist
nicht nur der physische, sondern auch so zu sagen der geistige
Mittelpunkt des ganzen Golfes.
Der erste Blick auf Neapel sollte von der Seeseite fallen, damit
er den blühenden Strand des reichgegliederten Golfes, dessen Häfen,
Inseln, schimmernde Städte und Ortschaften zu einem einzig schönen
und grossartigem Gesammtbilde umfasse.
An der Nordwestseite des Golfes tritt die fruchtbare vulcanische
Insel Ischia mit dem 792 m hohen Mte. Epomeo, einem seit 1302
erloschenen Vulcane, als letztes Glied eines die Küste begleitenden
Inselkranzes in die See hinaus. Einst von Fremden viel besucht,
ward das blühende Eiland seit dem entsetzlichen Erdbeben, welches
am 28. Juli 1883 den lieblichen Ort Casamicciola zerstörte und
7500 Menschen unter den Trümmern begrub, einige Jahre hindurch
völlig gemieden und beginnt erst neuestens wieder die Touristenwelt
anzuziehen.
In der Lichtung zwischen Ischia und dem Festlandscap Miseno
lagern die ebenfalls vulcanischen Eilande Vivara und Procida, die
einst miteinander und wahrscheinlich auch mit Ischia zusammenhingen.
Die Tuffmassen des nur durch einen flachen Terrainstreifen mit dem
Festland verbundenen Misenohügels und der nächsten Höhen schliessen
das Gebiet der von zahlreichen vulcanischen Bildungen, den phleg-
räischen Gefilden, eingefassten Bucht von Pozzuoli ein. Man zählt
hier auf einem Flächenraum von etwa drei geographischen Quadrat-
meilen 27 erloschene Krater und Kraterseen, von welch letzteren der
gegenwärtig trockengelegte See von Agnano und der kreisrunde 65 m
tiefe See von Averna, dessen düstere Umgebung im Alterthum den
Glauben erweckte, als sei hier der Eingang in die Unterwelt zu
suchen, am meisten genannt wurden.
Die Umgebung von Pozzuoli ist der eigentliche classische Boden
Neapels, hier lagen die vielbesungenen Stätten altrömischen und alt-
griechischen Lebens, voran das malerisch am Abfalle einer Höhe auf-
gebaute Puteoli, im Alterthum die bedeutendste Hauptstadt der itali-
[343]Neapel.
schen Halbinsel; Bajae (das jetzige Baja), einst berühmt durch die
Herrlichkeit und den Glanz seiner Bäder, die Horaz begeistert nennt;
Misenium, der ehemalige Kriegshafen der Römer; das reiche Cumae
(griechisch Kyme), die älteste griechische Colonie auf italischem Boden,
einst hervorragend durch die Pracht seiner Bauwerke, aber gegen-
wärtig nur mehr ein Ruinenfeld.
Reich sind denn auch die Ueberreste der antiken Cultur, die hier
geherrscht. Die Verbindung Puteolis mit Egypten und dem Osten ver-
mittelte den Eingang orientalischer Culte, die neben den griechischen
und römischen bestanden und deren Tempelbauten in schweigenden
Ruinen noch heute zu uns blicken.
Der zum felsigen Vorgebirge Posilipo streichende massige Berg-
rücken gleichen Namens, ein Gebilde von lockerem Tuffstein, trennt
das Gebiet von Pozzuoli von dem Weichbilde der Stadt Neapel. Die
Römer bohrten, wahrscheinlich unter Augustus, einen Tunnel durch
das Hinderniss, der nach mehreren Erweiterungen gegenwärtig 689 m
Länge, bei variirender Höhe (bis 16 m) und Breite (bis 10 m), misst
und den Namen Grotta vecchia di Pozzuoli führt. Neben diesem
besteht die 1882 bis 1885 hergestellte Grotta nuova, ebenfalls ein
Tunnel, durch welchen die Strassenbahn nach Pozzuoli führt.
Die sanft gewellte Posilipohöhe und ihre nördlichen Ausläufer
umrahmen höchst malerisch das Weichbild von Neapel, das mit
seinen reichen Details als effectvolles Gemälde aus der reizenden Um-
gebung hervortritt. Vom Meere, das zahllose Schiffe und Barken be-
leben, steigt die Stadt, anscheinend eine regellose Masse von Häusern
und Bauwerken, längs der Abhänge und auf dem Rücken der Höhe
empor. Zahlreiche Thürme, Kuppeln und palastähnliche Gebäude, dann
wieder die finster blickenden Umwallungen des Forts St. Elmo, oder
das dunkle Gemäuer des romantischen Castello dell’ Ovo und gleich
daran der blühende Park der reizenden Promenade Spiaggia di Chiaja
mit dem freundlichen Kranz reizender Villen zu ihren Häupten, endlich
aufwärts ein herrliches Paradies von Gärten, in welche die letzten
Ausläufer der sich dehnenden imposanten Stadt sich gebettet haben;
das sind die hervorstechendsten Einzelnheiten des bestrickenden Bildes
der Stadt.
Scheinbar setzt sich Neapel in der langen Reihe von Ortschaften,
Villen und Gehöften, welche den östlichen Strand beleben, endlos
fort, denn man gewahrt keine Unterbrechung des Häuserzuges, der
hier umgeben von Pinien und duftenden Orangenhainen fortflutet, so-
weit das Auge reicht, vorbei am Fusse des isolirten Vesuvkegels, des
[344]Das Mittelmeerbecken.
Meisters der ganzen Gegend, dessen Grollen Entsetzen und Schrecken
verbreitet, bis an den Strand der Bucht von Castellamare, wo die
liebliche Ebene, aus welcher die Vulcane einst entstiegen, durch die
Höhen von Sorrento begrenzt ist. Auf der erwähnten Küstenstrecke lagern
in behaglicher Ruhe und heiterem Sonnenschein die Orte St. Giovanni,
Portici und Resina, letzteres direct auf dem im Jahre 79 v. Chr. im
Lavastrom begrabenen Herculanum; nun folgt das 25.000 Einwohner
zählende anmuthige Städtchen Torre del Greco, dessen Bewohner die Edel-
koralle fischen und verarbeiten, und das etwas kleinere Torre dell’ Annun-
ziata; von diesem etwa 2 km östlich liegt das blossgelegte Ruinenfeld der
einst blühenden Stadt Pompeji, das uns mit unerschöpflichem Reiz die
Erscheinungen des altrömischen Lebens vorführt und die einzige Quelle
ist, aus welcher wir die Kenntniss desselben schöpfen konnten.
Pompeji wurde im Jahre 79 v. Chr. (24. August) durch einen
der furchtbarsten Ausbrüche des Vesuv unter Bimssteinblöcken, Asche
und siedendem Schlamm begraben, nachdem der Vulcan Jahrhunderte
lang geschlummert hatte. Dieselbe Katastrophe vernichtete auch
das blühende Städtchen Stabiae, an dessen Stätte das heutige
Castellamare (di Stabie), eine durch lebhaften Handel, Schiffahrt, den
Bestand des grossartigen Seearsenales der italienischen Flotte und
eine Fabrik für Brücken und Waggons ausgezeichnete Stadt von
33.000 Einwohnern, sich erhebt.
Mit einem Blicke übersieht man weiter rechts von dieser Stadt
die bergige Halbinsel von Sorrento mit ihren schmucken Ortschaften,
voran das auf steil zum Meere abfallenden Felsen liegende Städtchen
Sorrento, dem seine üppigen Orangen- und Citronengärten den artigen
Beinamen La Gentile eintrugen. Der Höhenzug endet mit dem felsigen
Vorgebirge Punta di Campanella, das ehemals eine Signalstation trug,
welche durch Glockengeläute das Nahen feindlicher, namentlich tür-
kischer Flotten ankündigte, daher der Name Glockenspitze. Heute
erhebt sich dort ein schöner Leuchtthurm.
Den äussersten Abschluss des Golfes bildet südlich die mit
Oelbäumen und Rebenculturen bedeckte hohe Insel Capri, welche eine
4·5 km breite Wasserstrasse von der Punta Campanella trennt. Die
charakteristische Form der an der Ostseite steil zum Meere abstür-
zenden Insel mit ihrem centralen Felsendome Mte. Solaro (610 m) ist
ebenso wie der Vesuv ein Merkzeichen des Golfes, das uns überall in
den Gesichtskreis tritt. Capri ist gegenwärtig wohl die besuchteste
aller nächstgelegenen Inseln, denn umgefähr 30.000 Touristen aus
allen Theilen der Erde wallfahren alljährlich zu ihren schon im Alter-
[[345]]
Neapel.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 44
[346]Das Mittelmeerbecken.
thum gepriesenen Strand. Hier weilte die letzten Jahre seines Lebens
Kaiser Tiberius (Claudius Nero) und überliess sich den ärgsten
Ausschweifungen und Grausamkeiten. Hier starb auch der Tyrann
(37 n. Chr.) unter Mörderhand. Weltberühmt ist die an der Nord-
seite der Insel liegende blaue Grotte (Grotta azzura), in der ein
reizendes Naturspiel den Besucher überrascht. Die Rundsicht von der
Höhe des Mte. Solare gehört zu den grossartigsten auf dem Erden-
runde und lohnt durch hohen Naturgenuss weitaus die Mühen des
Aufstieges.
Wir erwähnten bereits der alten Griechenkolonie Kyme (Cumae), welche
um 1056 v. Chr. durch Aeoter und Chalkis auf Euböa gegründet, die Pflanzstadt
von Neapel werden sollte. Von hier aus scheint die griechische Niederlassung
Parthenope, in der Folge Palaiapolis oder Altstadt genannt, zum Unterschiede
von dem später gegründeten Neapolis oder Neustadt angelegt worden zu sein.
Die Altstadt bedeckte vermuthlich die Höhe des Pizzofalcone, während Neapolis
östlich vom heutigen Castel Capuano gegen den Hafen zu erbaut war. Erst als
hier die Römerherrschaft 326 v. Chr. begann, hörte die Unterscheidung der beiden
Städte auf, doch bewahrten sie bis in die Kaiserzeit hinein die angestammte
griechische Sprache und Sitte und erfreuten sich, treu zu Rom haltend, ihrer alten
freiheitlichen Verfassung.
Die herrliche Lage erhob die Stadt Neapel und deren Umgebung bald zum
Lieblingsaufenthalte der Grossen des Reiches, die hieher die Ueppigkeit des
römischen Lebens verpflanzten. Was die Geschichte Roms während Jahrhunderten
an illustren Namen aufzuweisen hat, lustwandelte am paradiesischen Strande des
Golfes von Neapel. Lucullus, als Besitzer von Prachtgärten auf der Höhe von
Posilipo und nächst der Altstadt, mag hier manche seiner berühmten Festlich-
keiten veranstaltet haben; Augustus, Cäsar, Tiberius und Nero, Hortensius
der berühmte Redner und der unvergleichliche Virgil lebten hier und wirkten
jeder in der Weise seiner Art.
Nach der Theilung des römischen Reiches war bald der Glanz und die
Herrlichkeit verschwunden; der goldenen Zeit folgte das Unglück.
Zuerst erschien 536 auf seinem Eroberungszuge nach Unteritalien Belizar,
der oströmische Feldherr, und erstürmte Neapel; sieben Jahre später führte Totila
die siegreichen Gothen hinein. Die Stadt litt entsetzlich.
In den folgenden Jahrhunderten gewann Neapel wieder seine Unabhängig-
keit und behauptete selbe unter einem gewählten Duca gegen die langobardischen
Fürsten. Erst der Normanne Roger (siehe Palermo) pflanzte nach Eroberung der
Stadt 1130 eine neue Herrschaft auf. Bald folgte jedoch auch hier die Regierung
der Hohenstaufen, von welcher Friedrich II. 1224 die Universität in Neapel
gründete. Karl I. von Anjou erhob letzteres zur Hauptstadt seines Reiches, das
indes durch den Abfall Siciliens (1282 sicilianische Vesper) geschwächt und in
der Folge durch Sittenlosigkeit im Königshause wie auch durch Kriege mit
Sicilien sehr herabsank.
So gelang es Karl VIII. von Frankreich, das Königreich Neapel binnen
wenigen Tagen zu erobern. Nach mancherlei Kämpfen fassten die Spanier 1503
hier Fuss und verwalteten Neapel, Sicilien und die Insel Sardinien bis 1713 durch
[347]Neapel.
Vicekönige, von welchen viele zur Hebung des Landes beitrugen. Durch den
Utrechter Frieden 1713 gelangte Neapel durch Philipp V. von Spanien (Bourbon)
an das Haus Habsburg, fiel aber schon 1734 als Königreich beider Sicilien wieder
an die Bourbonen zurück, welche dort bis zum Jahre 1860 herrschten.
Besonders harte Stürme brachte die französische Revolution, und 1799 sah
die Stadt Neapel, als der kriegskundige Cardinal Ruffo die Schaaren der Gegen-
revolution zum Sturme anführte, Metzeleien, Plünderung und mehrtägige Strassen-
kämpfe, wie solche Gräuel kaum durch die barbarischen Horden der Völker-
wanderung verübt worden sein mochten. Die letzte Zeit der Bourbonenherrschaft
war eine fast ununterbrochene Periode von Unruhen und Aufständen.
Nach der Vereinigung mit Italien trat erst spät eine gewisse Ruhe im neapoli-
tanischen Gebiete ein, und es bedurfte vieler und energischer Anstrengungen, um
dem Brigantaggio und den geheimen Gesellschaften, die als Ueberbleibsel unge-
ordneter Verhältnisse ihr Unwesen trieben, das Handwerk zu legen.
Kaum an einem zweiten Punkte zeigt sich die mächtige Initiative
der jetzigen italienischen Regierung kräftiger und segenbringender,
als in Neapel, wobei nicht zu vergessen ist, dass die Schwierigkeiten,
mit denen sie zu kämpfen hat, ausser in Sicilien nirgends in Italien so
grosse sind wie hier. Die Stadt hat sehr an Ausdehnung zugenommen
und gedeiht zusehends. Neue Strassenzüge, prächtige Promenaden sind
entstanden, die Communicationen wurden vermehrt, der Hafen durch
Kunstbauten erweitert, kurz, die segensreiche Entwicklung der von
Natur zu einem herrlichen Aufenthalte prädestinirten Stadt ist aller-
wärts glücklich eingeleitet. Den grössten Umschwung in der Rege-
lung der sanitären Verhältnisse Neapels bewirkte das Wüthen der
Cholera 1884.
Ganze Stadttheile, die des Lichtes und der Luft entbehrten, wo
man das Trinkwasser aus nur zu oft verunreinigten Cisternen schöpfte,
wurden niedergelegt und neu aufgebaut. Wasserleitungen, darunter
eine wieder entdeckte altrömische, die man ohne Mühe in Stand
setzte, vervollständigten das Werk. Auch Torre dell’ Annunziata am
Golfe, das bei jedem Auftreten der Cholera hart mitgenommen wurde,
hat eine Wasserleitung erhalten.
In Neapel wurde eine Dampftramway eröffnet; der Bau einer
Eisenbahn nach Cumae, dem einstigen Sitze der Sibylle, deren Bücher
so grossen Einfluss auf die Geschicke Roms ausgeübt haben sollen,
ist in Angriff genommen.
Der Toledo, jetzt Via Roma genannt, ist die imposanteste und
frequentirteste Strasse der Stadt. Im Jahre 1540 von dem Vicekönig
Don Pedro de Toledo angelegt, führt sie über 3 km lang und an-
sehnlich breit, nahezu in Nordsüdrichtung, bis zu der Höhe Capodi-
monte, welche ein königliches Palais krönt. Diese prächtige Verkehrs-
44*
[348]Das Mittelmeerbecken.
ader geht von der durch luxuriöse Bauwerke gezierten Piazza del
Plebiscito aus, besitzt aber keinen Reichthum an besonders hervor-
ragenden Gebäuden. Beachtenswerth ist die Ausweitung des Dante-
Platzes, auf dem sich das 1872 enthüllte Marmorstandbild des un-
sterblichen Dichters der göttlichen Komödie erhebt. Dort steht auch
das 1757 von der Stadt zu Ehren Karls III. errichtete und mit 27,
die Tugenden desselben symbolisirenden Figuren geschmückte Gebäude,
welches seit 1861 den Namen Liceo ginnasiale Vittorio Emanuele
führt.
Mehrere der zahlreichen meist sehenswerthen Kirchen Neapels
sind in den Häuserzeilen der Via Roma eingebaut. Diese steigt nun
allmälig gegen Capodimonte auf und wechselt den Namen. Vom
Dante-Platz an heisst sie Salita del Museo und vom Museum an wird
sie Strada nuova di Capodimonti genannt.
Das Museum (Museo nazionale), ein höchst ansehnliches Gebäude
mit rother Façade, ist eines der allerbedeutendsten Museen der Erde,
welches nebst der reichen Fülle interessanter Reliquien aus der alt-
römischen Zeit, insbesondere aus Pompeji und Herculanum, auch die
Sammlungen der neapolitanischen Krone, dann die farnesischen aus
Rom und Parma, und die aus den Palästen von Capodimonte und
Portici enthält und dadurch zu einer hervorragenden kunsthistorischen
Anstalt und Sehenswürdigkeit ersten Ranges geworden ist. Die
Südfront des Gebäudes blickt auf die schöne breite Strada Foria,
welche hier in die Via Roma einmündet. Dort ist gegenüber dem
Museum die eines Besuches würdige Galleria Principe di Napoli, ein
mit reichem architektonischen Schmuck ausgestatteter eleganter Bazar,
wie ein solcher unter anderem auch in Mailand, allerdings in grösseren
Dimensionen, besteht.
Aus der Via Foria, an welcher die Piazza Cavour und ein
schöner und gutgepflegter botanischer Garten liegen, gelangt man in
die Via del Duomo, die Domstrasse. Hier erhebt sich die dem heili-
gen Januarius (San Gennaro) geweihte, von Karl I. von Anjon 1272 an
der Stelle eines Neptuntempels erbaute Kathedrale, deren Façade gegen-
wärtig restaurirt und mit Thürmen ausgestattet wird. In diesem an
alten Kunstwerken reichen Gotteshause ist die berühmte Capelle des
heiligen Gennaro, in deren Tabernakel das Blut des Märtyrers in
zwei Prunkgefässen aufbewahrt wird. Das bekannte Flüssigwerden des
Blutes an drei bestimmten Tagen im Jahre füllt die Kirche mit zahl-
reichen Andächtigen.
Einer der effectvollsten Plätze von Neapel ist die bereits früher
[349]Neapel.
genannte Piazza del Plebiscito und dessen vornehmstes Gebäude die
von Ferdinand I. 1817 im Bau begonnene und 1831 beendigte Kirche
St. Francisco di Paolo, eine Nachahmung des Pantheons zu Rom,
die mit vielen kostbaren Gemälden und Sculpturen ausgestattet. Den
Platz flankirt das grosse sehenswerthe königliche Palais, dessen erster
Bau aus dem Jahre 1600 stammt. Die Mitte des Platzes nimmt ein
Springbrunnen mit Hochstrahl ein. An das Palais austossend ist das
weltberühmte Theater S. Carlo und gegenüber demselben ist letzter-
zeit der grosse gedeckte Bazar Galleria Umberto I. entstanden.
Neapel ist auch reich an herrlichen Promenaden, unter welchen
unstreitig der palmengeschmückten Villa nazionale am Strande west-
lich des Eicastells (Castell dell’ Ovo) der Vorrang gebührt. Hier
herrscht denn auch zu allen Tageszeiten und bis in die tiefe Nacht
hinein ein reges Leben, und geniesst man von hier aus das bezau-
bernde Bild des unvergleichlichen Golfes. In den blühenden Anlagen
der Villa nazionale haben unter anderen Zierden auch zwei Virgil
und Tasso gewidmete Tempel von reizenden Formen Platz gefunden.
Von hier aus gelangt man auf der Strasse Riviera di Chiaja
westwärts zu den beiden Grotten von Posilipo, in deren Nähe der
ausgedehnte um die Höhe des Castells S. Elmo in vielen Windungen
und stellenweise auf Viaducten geführte Corso Vittorio Emanuele aus-
mündet. Er umspannt gleichzeitig die westlich des genannten Castells
liegende mit prächtigen Gärten und Villen bedeckten Höhen. Sowohl
zum Castell wie zu den Villen führt je eine Drahtseilbahn. Dort oben
ist in gesunder Lage ein neuer Stadttheil im Entstehen begriffen.
Mit den alten finsteren Spelunken verschwindet auch jener
„classische Pöbel“ Neapels, der, von Dichtern und Malern ge-
feiert, in einer Bedürfnisslosigkeit, aber auch in einer Armuth und
geistigen Verrohung dahin lebte, welche wir Nordländer einfach nicht
zu denken vermögen, jene Individuen, die mit 10 Centesimi einen
Tag leben, die nur wenige Stunden in der Woche arbeiten, den
Erlös dieser Thätigkeit in die Lotterie tragen, aber auch bereit waren,
den Dolch gegen gute Bezahlung Jedem zur Verfügung zu stellen.
Reich an Anregungen jeder Art, interessant durch das eigen-
thümliche Volksleben, das sich namentlich in Santa Lucia am Fusse
des Pizzofalcone in seiner ganzen Einfalt und Ursprünglichkeit preis-
gibt, anziehend und sympathisch durch den modernen Geist, der hier
nach jahrhundertelanger Unterdrückung endlich seine Schwingen zu
entfalten beginnt, ist Neapel einer der hervorragendsten und meist
besuchten Wallfahrtsorte der Gebildeten des Erdenrundes geworden
[350]Das Mittelmeerbecken.
und hat sich zur volkreichsten Stadt des jungen Königreiches Italien
emporgeschwungen. Dieselbe zählte Ende December 1888 bereits
513.000 Einwohner. Neapel ist die Hauptstadt der gleichnamigen
Provinz, Sitz eines Präfecten, eines Erzbischofs, des Generalcommandos
des 10. Armeecorps, einer Universität, einer Ingenieurschule und einer
Handelskammer.
Der Hafen von Neapel (40° 50′ nördl. Breite und 14° 16′ östl.
Länge v. Gr., Kopf des Molo S. Vincenzo) ist bisher nur unvoll-
ständig gegen den Ansturm der hohen See geschützt und entbehrte
lange Zeit hindurch jener Vorkehrungen, welche für die rasche Be-
wältigung der Seeverkehrs-Operationen nothwendig waren. Gegen-
wärtig wurde jedoch der breite Molo S. Gennaro mit geräumigen
Freidepots (Punto Franco) versehen, welche über hydraulische Auf-
züge verfügen und mit Krahnen ausgestattet sind. Ebenso ist neuestens
die Durchführung von Hafenbauten im Zuge, und zwar wird ausser
den bestehenden Dämmen, wie unser Plan zeigt, noch ein 750 m
langer Molo aufgeführt, der an seinem Ende eine Gabelung hat. Da-
durch bezweckt man ein auch gegen Südostwinde geschütztes Bassin
zu gewinnen.
Am Fusse des neuen Dammes ist der Bau von Trockendocks
beabsichtigt. Ein solches Dock besteht gegenwärtig im Arsenale der
Kriegsmarine für Schiffe bis zu 74 m Länge.
Ausser den Magazinen am Molo S. Gennaro besteht am Corso
Garibaldi ein der Gesellschaft dei magazzini Generali gehörendes
Lagerhaus von 35.000 m2 Fläche, welches mit allen neuen Vor-
kehrungen ausgestattet ist und mit der Eisenbahnstation in Verbin-
dung steht.
In neuester Zeit beginnt auch die Industrie eine lebhafte Ent-
wicklung zu nehmen. So baute die bekannte Firma W. G. Armstrong
Mitchell \& Co. an der Bucht von Pozzuoli ein grossartiges Eisenwerk
(Stabilimento Metallurgico Armstrong), in welchem bereits 13 Lauf-
krahne, zwei davon mit 70 t Tragfähigkeit, bestehen, und am Kopfe
des Ausschiffungsdammes wird eben ein hydraulischer Krahn von
170 t Hebekraft montirt. In der Fabrik sind 1200 Arbeiter, davon
5 % Engländer, beschäftigt. Bedeutend ist das Etablissement der
Società industriale Napoletana Hawthorn \& Guppy für Eisenschiff-
bau. Dasselbe beschäftigt gegen 600 Ingenieure, Zeichner und Arbeiter.
Nennenswerth ist auch die Thätigkeit der der Regierung gehörenden
und an die Eisenbahngesellschaft Società Italiana vergebenen Eta-
[351]Neapel.
blissements von Pietrarsa und von Granili, welche 1600 Arbeiter be-
schäftigen.
Endlich besteht noch die grosse Werftenfirma C. e T. T. Patti-
son, welche 1000 Arbeiter beschäftigt und Eisenschiffe, Kessel,
Dampfkrahne u. dgl. erzeugt.
Vor diesen ganz modernen Schöpfungen betrieb man in Neapel
ausser der Seidenindustrie eigentlich nur die Erzeugung von Korallen-
schmuck und wenigen werthvolleren Schmucksachen, welche die
Fremden als Zeichen der Erinnerung an Neapel kauften.
Neapel ist für den internationalen Handel von keiner zu grossen Be-
deutung. Es ist eine Stadt mit mehr als einer halben Million Einwohner, und
daher liegt der Schwerpunkt seines Verkehrs in der Einfuhr; darin ist es der
zweite Hafen Italiens; für die Ausfuhr stehen ihm keine Güter zur Verfügung.
denn es hat kein grosses Hinterland. In seiner nächsten Nähe haben Castellamare
und seit neuerer Zeit Torre dell’ Annunziata einen selbständigen Handel.
Umfangreich dagegen ist der Inlandverkehr, das kommt in der Thatsache
zum Ausdrucke, dass fünf Siebentel des gesammten Schiffverkehrs auf die Küsten-
schiffahrt entfallen.
Der Handel Neapels mit dem Auslande betrug in Lire:
| [...] |
Getreide von Russland, Rumänien und Indien ist der wichtigste Einfuhr-
artikel Neapels. Die Einfuhr des Jahres 1888 war niedriger als gewöhnlich und
erreichte 115.020 t. Die 24.249 t Cerealien der Ausfuhr bestehen zum grössten
Theil aus süditalienischer Gerste und aus Hafer, bestimmt für England.
Für Steinkohlen ist ein ziemlicher Bedarf; kleinere Dampfer, welche
nicht viel Kohle fassen können, laufen Neapel als Kohlenstation an und die neu
errichteten Fabriken brauchen auch ziemlich viel Einfuhr 1888 220.074 t.
In Petroleum (1888 8064 t) tritt auch hier Russland mit Amerika in
Wettbewerb.
Holz (1888 19.359 t = 2·5 Millionen Lire) kommt meist aus Oesterreich-
Ungarn.
Metalle (1888 48.934 t = 17 Millionen Lire) kommen in Gestalt von
Roheisen, Gusseisen, Schienen, Stahl und Maschinen aus Grossbritannien, Belgien
und Deutschland.
Die Einfuhr von Baumwollwaaren (1888 92 500 q) ist dem Werthe nach
mindestens ebenso wichtig, wie die der Metalle; die Einfuhr von Schafwollstoffen
erreichte 1888 8·2 Millionen Lire.
Grössere Ziffern erreichen in der Einfuhr noch Leder, Farben und Chemikalien.
Wein und Speiseöl kommen aus Frankreich, Sprit aus Deutschland.
Von Kaffee wurden 1888 12.500 q, davon zwei Drittel aus England eingeführt.
Die italienische Regie führt auch über Neapel Tabak ein.
Für den Handel des katholischen Neapel ist die Einfuhr von Stock-
fischen sehr wichtig: 1888 116.700 q, 1887 109.770 q. In früheren Jahren be-
herrschte Grossbritannien den Markt, jetzt liefert es nur mehr ein Drittel des
[352]Das Mittelmeerbecken.
Bedarfes. Die Güte des Labrador-Fisches ist gesunken, man kauft jetzt mit Vor-
liebe Stockfische von den Franzosen und Norwegern.
Die wichtigsten Artikel der Ausfuhr sind Wein, für England und Süd-
amerika bestimmt; Frankreich ist verschlossen; 1888 30.894 t.
Olivenöl geht von den Hauptcentren der Production, Gallipoli und Gioja
Tauro, ins Ausland.
Bemerkenswerth sind die Ausfuhren von Hanf und Tauwerk, von Ziegen-
fellen, Leder und Papier.
Die Einfuhr kommt (1888) aus Grossbritannien (zwei Fünftel der Gesammt-
summe), Frankreich, Russland, Deutschland, Oesterreich-Ungarn; die Ausfuhr geht
nach Frankreich, Grossbritannien, den Vereinigten Staaten und Südamerika.
Neapel ist heute ein wichtiger Auswanderhafen, vielleicht ein Rivale
von Genua; das Streben, jenseits des Oceans den Wohlstand zu suchen, der in der
Heimat für die Massen unerreichbar ist, hat auch Süditalien ergriffen. Das dicht-
bevölkerte Süditalien ertrüge einen bedeutenden Aderlass an Menschenmateriale,
welcher den Auswanderern, wie den Daheimbleibenden in gleicher Weise zum
Segen würde. Auch die süditalienischen Emigranten ziehen zumeist nach Argentinien.
Aus dem „glücklichen“ Campanien wanderten 1887 20.786, 1888 22.134
Menschen aus, die meisten aus dem Kreise Salerno; die Basilicata und Calabrien
stellten ebenfalls ansehnliche Ziffern.
Ueber Neapel wurden 1888 41.786, 1887 33.632 Auswanderer befördert, und
zwar durch die Anchor-Linie 10.895 nach New-York, durch die Navigazione Gene-
rale 15.985 nach Südamerika und durch die Compagnie Cyprien Fabre 7531.
Neapels Schiffsverkehr betrug:
| [...] |
Wir sehen, dass der Schiffsverkehr verhältnissmässig viel umfangreicher ist
als der Handel, und darf ausserdem nicht vergessen werden, dass viele Schiffe, die von
Genua nach Südosten gehen, als Zwischenhafen Neapel anlaufen, ohne eine grössere
Menge von Waaren aufzuladen. Gross ist daher die Zahl der Schiffe, welche in
Ballast auslaufen, das sind fast alle die, welche Kohle oder Holz gebracht haben.
Legende zum Hafen von Neapel.
A Rhede von Neapel, B Handelshafen, C Hafencapitanat, D Molosiglio, E Magazine des Punto franco,
F Leuchtfeuer, G projectirtes Dock, H Strada de’ Tribunale, J königl. Palast, K Piazza del Plebiscito,
L Strada Toledo, M Museum, N Piazza Cavour, O Strada Foria, P Via del Duomo, Q Strada St. Trinità,
R Castell nuovo, S Piazza del Municipio, T Strada Salvator Rosa, U Villa del Popolo, V Marine-
Arsenal, W Corso Vittoria Emanuele, X neue Posilipo-Grotte, Y alte P.-Grotte, Z Margherita-Park. —
1. Via Caracciolo, 2. Aquarium, 3. Villa nazionale, 4. Riviera di Chiaja, 5. Via Tasso, 6. Certosa
S. Martino, 7. Strada nuova di Poggio Realle, 8. Station Aversa-Caivano, 9. Station Nola-Bajano,
10. Central-Station, 11. Castell Capuano, 12. Piazza del Mercato, 13. Castello del Carmine, 14. Dom,
15. Strada nuova, 16. Universität, 17. Theater S. Carlo, 18. Municipinm, 19. Politeama, 20. Pizzo
falcone, 21. Kirche S. Francesco di Paola, 22. Dante-Platz, 23. Incurablen-Spital, 24. Kirche Incoronata,
25. St. Maria la nuova, 26. Post- und Telegraphen-Amt, 27. Kirche Mte. Olivetto, 28. Gesu novo-Kirche,
29. Sta Chiara, 30. S. Domenico Maggiore, 31. S. Severino Sosia, 32. S. Paolo Magg., 33. S. Lorenzo,
34. Musik-Conservat., 35. Station und Tunnel der Cumana-Bahn, 36. Drahtseilbahn zum Castel
S. Elmo, 37. Märtyrer-Säule, 38. Drahtseilbahn zur Villa Fioridiana.
[[353]]
(Legende siehe auf Seite 352.)
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 45
[354]Das Mittelmeerbecken.
Am internationalen Verkehre ist die italienische Flagge bei den Dampfern
mit einem Dreizehntel, bei den Seglern mit zwei Drittheilen der Tonnenzahl be-
theiligt. Segler, welche die Küstenschiffahrt betreiben, führen fast ausschliesslich die
italienische Flagge, von der Tonnenzahl der Dampfer gehören ihr drei Fünftel an.
Neben der italienischen sind die wichtigsten Flaggen die englische, französische
und deutsche. Durch die Navigazione Generale steht Neapel in regelmässigem
Verkehr mit Palermo, Messina, Tunis, Tripolis, mit Genua, Cagliari, Guana.
Marseille, mit Alexandria, Port Saïd, Massaua, Bombay, Hongkong; durch die
Peninsular und Oriental mit London und Port Saïd, durch die Linie Slomann
mit Hamburg. Ausser diesen läuft eine ganze Reihe englischer Linien Neapel
im Küstenverkehre an.
Neapel steht in Schnellzugverbindung mit Rom, über Caserta-Foggia
mit Brindisi und mit Ancona und über Metaponto mit Reggio di Calabria.
Hier haben eine Börse, 11 Banken und Bankfilialen ihren Sitz. Die Regie-
rung errichtet soeben ein Istituto orientale.
Consulate haben in Neapel: Argentina, Belgien, Bolivia, Chile, Columbia,
Costarica, Dänemark, Deutsches Reich (G.-C.), Dominik. Republik, Ecuador, Frank-
reich (G.-C.), Griechenland (G.-C.), Grossbritannien, Guatemala, Haiti, Hawaii,
Honduras (G.-C.), Japan, Liberia, Mexico, Monaco, Montenegro, Niederlande (G.-
C.), Oesterreich-Ungarn (G.-C.), Paraguay, Persien, Peru, Portugal (G.-C.), Russ-
land (G.-C.), Salvador, San Marino, Schweden und Norwegen, Schweiz (G.-C.),
Spanien, Türkei (G.-C.), Uruguay, Venezuela (V.-C.), Vereinigte Staaten.
Von den Plätzen am Golf von Neapel hat noch grössere Be-
deutung für den Handel Castellamare di Stabia; die Einfuhr er-
reichte 1888 7·9 Millionen Lire, ein riesiger Abfall gegen 1887, wo
die Einfuhr 19·7 Millionen Lire, die Ausfuhr 6·7 Millionen Lire betrug.
Castellamare verliert seinen Getreideimport an das nord-
westlich gelegene Torre Annunziata, das eine Eisenbahnverbindung
direct nach Norden erhalten hat. In Castellamare wurden 1887 un-
gewöhnlich viel Eisen und Maschinen für die Docks der königlichen
Marine und die Impresa industriale italiana eingeführt. Ausgeführt
werden Wein und Agrumi. In Torre Annunziata werden ausge-
zeichnete Maccaroni erzeugt, noch berühmter ist darin Gragnano,
das grossen Export nach England und in die Union hat. In Torre
del Greco endlich ist der Hauptsitz der Fischerei und der Ver-
arbeitung von Korallen.
Im Jahre 1888 gingen 95 Boote mit 955 Mann aus auf die Korallenfischerei
und brachten 322.500 kg Rohmateriale zurück; in den Zeiten der Blüthe des Ge-
schäftes wurden nicht weniger als 500 Boote ausgerüstet, jedes mit 10—12 Mann
bemannt, man verdiente 15—20 %, und heute nicht die Hälfte. Die bearbeiteten
Korallen sind entwerthet, von 800 Lire für das Kilogramm im Jahre 1883 auf
180 Lire im Jahre 1888; man hat bei Sciacca an der Südküste Siciliens neun
grosse Bänke entdeckt, während man früher nur die bei Tunis benützte. Calcutta
ist der Hauptmarkt der italienischen Koralle, die in ganz Südasien und am
Congo gerne gekauft wird.
[[355]]
Livorno.
In der weiten toscanischen Küstenebene beanspruchen zwei
Städte ein höheres Interesse: Pisa wegen seiner glänzenden Vergangen-
heit als handelsmächtige Rivalin von Venedig und Genua (vom X.
bis zum XIV. Jahrhundert), und Livorno seines gegenwärtigen Auf-
strebens halber.
Als Hafenplatz ist Livorno von der Natur eher stiefmütterlich
als günstig bedacht worden. Der Charakter der Küste nächst Livorno
ist der einer Flachküste ohne Buchten und Vorgebirge. Der Küsten-
saum nördlich der Stadt ist sumpfig und sandig. Ebenso senkt sich
der Meeresboden nur allmälig zu grösseren Tiefen herab. Auf 37 km
Entfernung von der Küste erreicht das Loth erst eine Tiefe von
100 Faden (181 m).
Die Insel Gorgona, mit Livorno durch ein Telegraphenkabel
verbunden, lagert wie eine Vedette 33 km westsüdwestlich der Stadt
in See und westlich von Livorno auf 5·5 km Entfernung breitet sich
der über 5 km weite Plan der sehr gefährlichen Bank von Meloria
aus, die indes zwischen ihrer Ostseite und dem Lande eine Fahr-
strasse von 7 m Wassertiefe der Schiffahrt offen lässt. Die hier mit
grosser Wuth und hohem Seegange einbrechenden äusseren Winde
erzeugen auf der Bank ungeheuere Brecher und branden an dem
kleinen Felsen, der den Leuchtthurm der Bank trägt. In der Nähe
wurde am 6. August 1284 die Flotte der Pisaner durch die Genuesen
entscheidend geschlagen.
Von See aus bietet die Stadt einen imposanten Anblick, wenn-
gleich sie ihrer tiefen Lage wegen landschaftlich nicht recht zur
Geltung kommen kann. Allein die zahlreichen Thürme, hohen Ge-
bäude, einzelne Wallgänge, Fabriken und hohen Schlöte, endlich die
weiss schimmernden Dämme des mit Schiffen jeder Grösse und
Flagge erfüllten Hafens sind die Wahrzeichen eines bedeutenden
Seehandelsplatzes.
45*
[356]Das Mittelmeerbecken.
Nordwärts der Stadt erblickt man über der sanft geneigten
Fläche der zum Theil bewaldeten Küstenebene die Thürme von Pisa,
und südwärts von Livorno ist mit den blühenden Anlagen des Viale
Regina Margherita eine reizende durch Villen und schöne Gärten ge-
zierte Strandpromenade entstanden, würdig des hohen Namens, den
sie trägt.
Die Anlagen reichen südwärts an der königlichen Marine-Aka-
demie und dem Lazareth S. Leopoldo vorbei bis nach Ardenza (3 km),
einem lachenden Cottageviertel der Stadt.
Livorno, von Montesquieu „das Meisterwerk der Mediceischen
Dynastie“ genannt, ist eine staatskluge Schöpfung dieser Herrscher-
familie, welche mit der Aufrichtung des Seeplatzes Livorno einerseits
die alte Rivalin Pisa tödlich trafen, anderseits Florenz einen eigenen
Hafen gaben, der es unabhängig von Genua, Venedig und Pisa
machte.
Obzwar im IX. Jahrhundert gegründet, kam die Stadt, welche zu Pisa ge-
hörte, im August 1405 an Genua, gerade als die Florentiner sich anschickten, Pisa,
das längst von seiner Höhe herabgestiegen war, zu unterwerfen. Sie besetzten am
5. October 1406 Pisa; den Porto Pisano an der Mündung des Arno und Livorno
kauften sie erst 15 Jahre später, am 27. Juni 1421, von dem geldbedürftigen
Genua um den Preis von 100.000 Goldgulden. Werthvoller als der alte Hafen der
Pisaner, welcher der Versandung entgegenging, war der neben ihm aufblühende,
zu seinem Ersatze bestimmte Hafen Livorno.
Noch im selben Jahre, am 28. November, wurden die Consoli del mare
ernannt, der Bau eines Seearsenals, die Ausrüstung von Handelsgaleeren begonnen:
Florenz hatte endlich seinen eigenen Hafen, seine eigenen Schiffe. Kaufmännische
Niederlassungen brauchte man nicht erst zu gründen, sie bestanden bereits in den
meisten Stapelplätzen der Levante. Auch erhob die Republik Florenz als Rechts-
nachfolgerin des unterjochten Pisa Anspruch auf alles, was jener Stadt an Besitz-
thümern und Rechten in der Levante zugestanden war.
So trat Livorno als Hafenplatz die Erbschaft Pisas in der Levante an.
Als dann im XVI. Jahrhundert auch der Levantehandel Livornos verfiel,
erlebte die Stadt einen neuen Aufschwung durch die Fürsorge der weitblickenden
Mediceer. Cosimo I., der erste Grossherzog v. Toscana (1569), ertheilte der Stadt
reiche Privilegien; Francesco I. befestigte die Stadt und Ferdinand I. trachtete,
die Industrie zu heben, und ebenso bestrebt war Cosimo II., den Handel zu
beleben. Ueberhaupt wussten die Medici vielen in anderen Staaten Unterdrückten
und Unzufriedenen, wie den Katholiken aus England, den Juden und Mauren aus
Spanien, den Kaufleuten aus Marseille, welche den Bürgerkriegen entflohen, eine
zweite Heimat in Livorno zu gründen und den Glanz der Stadt zu heben. Ebenso
waren diese Fürsten die Erbauer des alten Hafens, der noch heute ihren
Namen führt.
Auch unter den Lothringern würde die Entwicklung angehalten haben,
wenn nicht die blutigen und langen Kämpfe der französischen Republik und des
napoleonischen Kaiserreiches einen jähen Stillstand herbeigeführt hätten. Livorno
[357]Livorno.
war ein Hauptdepotplatz der Alliirten, fiel 1796 in die Hände Bonaparte’s, der es
durch Confiscationen aller Güter brandschatzte. Die Stadt gerieth in den Wechsel-
fällen der Kriege bald unter die Herrschaft der Alliirten, bald wieder unter jene
Frankreichs, und erst nach dem Wiener Congresse (1814) nahm Ferdinand III.
wieder Besitz von Livorno. Dieser Grossherzog trachtete die tiefen Wunden des
Krieges zu heilen, er erweiterte das Gebiet des Freihafens.
Die grossen Magazine, über welche die Stadt verfügte, und viele Erleich-
terungen hoben die Handelsbedeutung des Platzes und die Zahl seiner Bevölkerung.
Livorno wurde eine der günstigsten Echellen für die Verbindung der Levante mit
dem europäischen Westen.
Unter Leopold II. wurde der grosse Wellenbrecher mit bedeutenden Kosten
hergestellt (1854) und dadurch die Hafenfläche ausserordentlich erweitert.
Livorno.
Dennoch konnte in der neuesten Zeit, namentlich durch Eröffnung des
Suez-Canals und der Gotthardbahn, ein Rückgang des Handels durch die Aende-
rung der äusseren Verhältnisse nicht verhindert werden. Die thätige und unter-
nehmende Bevölkerung Livornos begann nun in der Entwicklung der Industrie
einen Ersatz zu suchen und erreichte glänzende Erfolge, die wieder eine Belebung
des Handels nach sich ziehen.
Unter 43° 32′ nördl. Breite und 10° 17′ östl. Länge v. Gr.
(Leuchtthurm) liegend, besteht der Hafen von Livorno, wie unser Plan
zeigt, aus dem Porto nuovo oder äusseren Hafen, den ein Wellen-
brecher von 1000 m Länge gegen die See abschliesst, ferner aus dem
Porto vecchio oder dem Mediceischen Hafen, und aus drei Bassins,
welche die Namen Mandracchio, Darsena vecchia und Darsena nuova
führen. An den zwei erstgenannten Bassins liegen die Lagerhäuser des
[358]Das Mittelmeerbecken.
sogenannten Punto franco und von der Darsena vecchia führt ein
Canal zum Bassin des Hafenbahnhofes (Stazione marittima). Die
mittlere Tiefe im alten Hafen ist 7 m, im äusseren Hafen aber nur
6 m. An der Darsena vecchia erhebt sich das Standbild des Gross-
herzogs Ferdinand I., ein Werk von Giovanni dell’ Opera, das vier tür-
kische Sclaven in Erzguss (i quattro Mori) von Pietro Tacca zieren.
Livorno zählt gegenwärtig 85.000 Einwohner, ausschliesslich
einer fluctuirenden Hafenbevölkerung von ungefähr 3000 Menschen
und ist Sitz einer Präfectur, einer Handelskammer, der Marine-Akademie,
eines technischen und nautischen Institutes.
Eine Zahl von Canälen durchschneidet die Stadt, welcher dieser-
halb der Name „Nuova Venezia“ beigelegt ward, und ein schiffbarer
Wasserweg verbindet sie mit dem Arno-Fluss, der 14 km nördlich in
das Meer mündet.
Vom Hafenquai aus zieht die breite mit schönen Verkaufs-
geschäften versehene Hauptstrasse Via Vittorio Emanuele in Ostnord-
ost-Richtung durch das Centrum der Stadt und kreuzt den grossen
Platz gleichen Namens. Dort liegt die Kathedrale, das ehemalige
grossherzogliche Palais und das Stadthaus.
Ein zweiter öffentlicher Platz ist die Piazza Carlo Alberto mit
den Kolossal-Standbildern der beiden Grossherzoge Ferdinand III.
(gest. 1824) und Leopold II. (gest. 1870). Auf der kleinen Piazza
Cavour wurde dem grossen italienischen Staatsmanne eine Marmor-
bildsäule errichtet. Mit den vorstehenden Daten haben wir die Sehens-
würdigkeiten der Stadt, insoweit sie Monumente betreffen, erschöpft.
Allein Livorno ist auch seiner industriellen Etablissements
wegen beachtenswerth.
In der grossartigen Werfte der Fratelli Orlando besitzt die
Stadt eine der bedeutendsten Schiffbauanstalten der Erde. Dort wurden
die grossen italienischen Panzerschiffe (bis zu 13.500 t Gehalt), welche
den Triumph der italienischen Techniker begründeten, gebaut.
Auch die Rhederei und der kleine Schiffbau sind in Livorno
wohl entwickelt; ausserdem gibt es Fabriken für Oel und Seife, für
überzuckerte Früchte, grosse Dampfmühlen, eine Fabrik für Fenster-
glas, eine andere für Kupferwaaren; man erzeugt Möbel und Kleider
im Grossen, Blechdosen und Holzkisten und verarbeitet Korallen.
Ueber diese blühenden Unternehmungen mögen die nachfolgenden Daten
Aufschluss geben.
An der Südseite der Darsena nuova gelegen, nimmt die Werfte der Ge-
brüder Orlando (Cantiere navale dei fratelli Orlando) einen Flächenraum von
100.000 m2 mit einer bedeckten Oberfläche von 40.000 m2 ein. Es bestehen dort zwei
[359]Livorno.
Schiffsaufzüge, ein Dock und drei Werften für den Bau von Schiffen bis 100 m
Länge, dann zwei solche für Schiffe von 60 m Länge, endlich eine Werfte in Stein-
construction für Kriegsschiffe von ausserordentlicher Grösse.
Die Schiffsaufzüge bewältigen mittelst eines Systemes hydraulischer durch
Dampfmaschinen betriebener Pressen das Aufholen von Schiffen bis zu 1500 t
Gehalt, wozu eine Zeit von drei Stunden erforderlich ist. Die Werften enthalten
selbstverständlich alle für den Neubau und die Reparatur von Schiffen erforder-
lichen Werkstätten und Mechanismen und verfügen über Eisenbahngeleise in der
Gesammtlänge von 2 km. Orlando beschäftigt durchschnittlich 1700 Arbeiter.
Die Werften sind mit einem hohen drehbaren Dampfkrahn von 50 t Hebe-
fähigkeit ausgestattet.
Das Trockendock misst 135 m Länge, 22 m Breite und 7·4 m Tiefe. Dieses
Bassin wird mittelst Dampfpumpen in 6 Stunden trocken gelegt.
Die Società „Vetraria“ hat eine grosse Fabrik für Fensterglas in der
Vorstadt Torretta mit 4 Glasschmelzöfen und einem Beckenofen für continuirliche
Arbeit und fabricirt Fensterglas (jährlich 600.000 m2), Glasglocken u. s. w. Die
Fabrik beschäftigt bei 500 Arbeiter. Das Umsatzgebiet erstreckt sich bis Turin,
Mailand, Rom und Sicilien.
Das zweite neue grosse Etablissement Società metallurgica Italiana befindet
sich ebenfalls in der Vorstadt Torretta, besitzt eigene Geleise zur Station San
Marco und durch den schiffbaren Canal „Delle Cateratte“ Verbindung mit dem
Hafen. Hier werden die Kupfererze der Maremma und fremde verhüttet, Kupfer,
Messing und Bronze erzeugt und auch Platten, Röhren und Drähte verarbeitet.
Die Unternehmung beschäftigt ungefähr 700 Arbeiter.
Noch andere grosse Unternehmungen sind geplant und die Stadt
gestaltet sich immer mehr zu einem industriellen Platze aus, als Er-
satz dafür, dass sie seit Eröffnung der Gotthardbahn als Handels-
platz von dem rührigeren Genua überflügelt wird.
Livornos Handel, bei welchem die Einfuhr weit grösser ist als die Ausfuhr,
macht keine Fortschritte.
Der einzige Lichtpunkt ist 1888 die Errichtung eines Behälters von
2400 t Fassungsraum, bestimmt für russisches Petroleum; denn dadurch wird
Livorno ein Depotplatz für kaukasisches Petroleum.
Es kommt in Cisternenschiffen aus Batum. Die Manipulation mit Petroleum
besorgen Dampfpumpen. Der Versandt aus dem Behälter geschieht in Cisternen-
wagen, Fässern und Kisten. In einer eigenen Fabrik sollen täglich 5000 Blech-
büchsen und halb so viele Holzkisten erzeugt werden.
Die Handelsverhältnisse Livornos sind übrigens, wie die aller Häfen Italiens,
durch den Zollkrieg des Landes mit Frankreich anormal. So erklärt sich das ge-
waltige Sinken der Ausfuhr von 1888 gegen 1887, doch, selbst abgesehen von der
Ausfuhr nach Frankreich, lässt sich ein Rückgang des Exportes feststellen. Die
Abnahme der Einfuhr aber des Jahres 1888 gegenüber 1887 ist in dem Umstande
gelegen, dass 1887 wegen drohenden Zollerhöhungen manche Artikel in weit
grösserer Menge eingeführt wurden als unter gewöhnlichen Verhältnissen.
Der Handel Livornos betrug in Lire:
| [...] |
Dem Werthe nach waren im Jahre 1888 gefasste Korallen, für welche
Livorno einer der ersten Fabriksorte Italiens ist, der wichtigste Artikel der Aus-
fuhr. Ausfuhr 1888 177 q, Werth 3,186.000 Lire, 1887 3,289.060 Lire, bestimmt
für Indien, Egypten, Algier.
In früheren Jahren nahm verarbeiteter Marmor mit einem Ausfuhr-
werthe von 6 Millionen Lire den ersten Rang ein. Die Ausfuhr sank 1888 auf
54.866 q herab gegen 142.513 q im Jahre 1887, auch die des rohen Marmors ver-
minderte sich von 85.320 q im Jahre 1887 auf 54.866 q im Jahre 1888. In diesem
Jahre wurden nämlich grössere Mengen von Spezia aus verschifft, das den be-
rühmten Mormorbrüchen von Massa und Carrara, dem römischen Luna, viel näher
liegt als Livorno und daher im Alterthume Portus lunensis hiess. Die Haupt-
absatzländer sind England, Amerika, Spanien, Egypten, Deutschland, Holland und
Russland, neben denen früher auch Frankreich zu nennen war.
Von Borsäure, dessen Hauptfundstätte Toscana ist, wurden 1888 11.998 q
(Werth 659.890 Francs), 1887 28.778 q ausgeführt, wo England noch ein starker
Käufer war.
Auch die Ausfuhr von Antimon, Arsenik und Quecksilber hat sich riesig
vermindert.
Bei Weinstein ist der Rückgang nicht so gross wie bei den früheren
Artikeln. Ausfuhr 1888 10.320 q, 1887 11.326 q.
Von Wein wurden 1888 7983 hl, 1887 11.807 hl ausgeführt, die Minder-
ausfuhr nach Frankreich betrug 1888 3644 q.
Die Ausfuhr von Olivenöl betrug 1888 21.093 q (Werth 2·5 Million Lire),
1887 38.113 q (Werth 4·6 Millionen Lire) und ging nach England, Frankreich und
Amerika.
Dadurch ist von den Artikeln des Pflanzenreiches Hanf an die erste Stelle
gerückt. Ausfuhr 1888 32.765 q (Werth 2·3 Millionen Lire), 1887 43.860 q. Absatz-
länder Frankreich und England. Confecte (Succaden) zeigten 1888 eine Ausfuhr
von 10.814 q (Werth 2·5 Millionen Lire), 1887 eine solche von 15.518 q (Werth
2·7 Millionen Lire). Absatzländer: Amerika, Holland, Deutschland.
Auch die Ausfuhr von lebendem Geflügel und von Eiern (1888 4242 q
1887 10.704 q) ist zurückgegangen, weil Frankreich weniger davon aufge-
nommen hat.
Gestiegen ist in den letzten Jahren die Ausfuhr von rohen Häuten, be-
sonders für England bestimmt (1888 12.428 q, 1886 6113 q), sowie die von Ha-
dern (1888 11.274 q, 1887 52 q).
Ausser gefassten Korallen und Marmorplatten, die wir schon genannt
haben, werden von Industrieartikeln ausgeführt die für Toscana charakteristischen
Strohhüte (sogenannte Florentiner), (1888 640.947 Stück im Werthe von
1·1 Million Lire, 1887 778.332 Stück im Werth von 1·5 Million Lire) und gemeine
Seife (1888 7.033 q).
In der Einfuhr ist im Allgemeinen Getreide vom Schwarzen Meere, aus
Indien und Amerika der wichtigste Artikel, 1888 326.638 q (Werth 7·2 Millionen
Lire), 1887 610.489 q (Werth 12·5 Millionen Lire). Weizen und Hafer sind die für
Livorno wichtigsten Getreidearten.
Von amerikanischem Blättertabak wurde 1888 70.012 q (Werth 7·6 Millionen
Lire) bezogen. Dieser Artikel wird von der Tabakregie bereits im Lande der Pro-
duction gekauft und ist somit reines Transitogut.
[361]Livorno.
Zucker (Einfuhr 1888 8800 q, 1887 79.096 q, 1886 674.460 q) verschwindet
fast vom Markte zu Livorno, der ganze Handel ist an Genua übergegangen.
Livorno ist ein wichtiger Einfuhrplatz für Olivenöl (1888 4814 q) aus
Tunis, für Baumwollsamenöl (1888 5028 q, 1877 8732 q) aus England,
Amerika und Frankreich, für Leinsaat aus Indien und seit 1888 auch für ge-
A Rhede von Livorno, A1 Porto nuovo (neuer Hafen), B Porto vecchio (alter Hafen), C Mandracchio,
D Darsena vecchia, E Darsena nuova, F Leuchtfeuer, G Hafenbahnhof (Stazione maritt.), H elektrische
Semaphorstation, J Petroleum-Magazin, K Bagni Squarei (Bäder), L Bagni Pancaldo, M Bagni Patineri,
N Marine-Akademie, O Viale Reg. Margherita, P Via Vittorio Emanuele, R Kathedrale, S Piazza Carlo
Alberto, T Punto franco (Freihafen), U Eisenbahnstation, V Dominikaner-Kirche, X Forte nuovo, Y Porta
Cavour, Z Monument Ferdinand I. — 1. Porta Mazzini, 2. Via Garibaldi, 3. Porta fiorentina, 4. Porta
delle Colline, 5. Porta delle Isole.
meines Holz (Werth 712.310 q), zumeist aus Frankreich stammend, was in Zu-
sammenhang steht mit dem neu eingerichteten Petroleumverkehre.
Von Faserstoffen werden eingeführt Schafwolle (1888 4160 q) aus
Egypten, Frankreich und Russland, Baumwolle (1888 6195 q) zumeist aus Indien,
die Einfuhr von Jute ist auf eine unbedeutende Menge gesunken. Ansehnlich ist
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 46
[362]Das Mittelmeerbecken.
noch immer die Einfuhr roher Häute (1888 16.440 q, Werth 2·6 Millionen Lire).
Geringen Schwankungen ist die Einfuhr getrockneter und geräucherter Fische
(1888 93.662 q, Werth 5·6 Millionen Lire) unterworfen.
Aus dem Mineralreiche sind anzuführen englische Steinkohlen (1888
2,143.070 q, Werth 4·9 Millionen Lire), Petroleum (1888 78.014 q); russisches
Petroleum sucht amerikanisches vom Markte zu verdrängen. Wichtig sind auch
Brucheisen, Eisen und Stahl. Die Einfuhr von Maschinen war am stärksten
1887, in welchem Jahre die Einrichtung der oben angeführten, grossen industriellen
Etablissements vollendet wurde.
Zum Schlusse führen wir die Einfuhr von Kurzwaaren an, welche aus
Frankreich, England, Deutschland und Oesterreich-Ungarn kommen, und die von
Webewaaren, welche ungefähr 20.000 q umfasst und aus England, Frankreich
und Deutschland stammt.
Der Schiffsverkehr von Livorno umfasste:
| [...] |
Die Küstenschiffahrt mit Seglern ist ganz in den Händen der Italiener, die
mit Dampfern zu drei Vierteln; auch im internationalen Verkehre behauptet die
italienische Flagge in der Segelschiffahrt mit zwei Dritteln der Tonnenzahl den
Vorrang, bei der Dampfschiffahrt ist sie dagegen nur mit einem Sechstel bethei-
ligt. Die wichtigsten fremden Flaggen sind die englische (1888) mit 358.000 t,
dann die französische und die deutsche. Der stärkste Tonnenverkehr findet statt
mit England, Frankreich, der Levante einschliesslich Egypten, mit Russland, Ru-
mänien und der Union.
Regelmässigen Schiffsverkehr vermitteln die Dampfer der Navigazione Gene-
rale nach den Häfen an Italiens Westküste, nach Brindisi, Sardinien, Sicilien,
Malta, Tunis, Tripolis, mit Egypten und durch Anschlusslinien mit der Levante
und Süd- und Ostasien, Slomann mit Hamburg, und zwei französische Gesell
schaften mit Corsica und Marseille.
Livorno hat über Pisa vier Eisenbahnlinien zur Verfügung, leider sichern
ihm diese nur den Handel Toscanas.
Consulate haben in Livorno: Argentinien, Belgien, Chile, Columbia, Däne-
mark, Deutsches Reich, Frankreich, Griechenland, Grossbritannien, Guatemala,
Honduras, Liberia, Mexico, Monaco, Niederlande, Oesterreich-Ungarn, Paraguay,
Peru, Portugal, Schweden und Norwegen, Schweiz, Spanien, Türkei, Uruguay,
Venezuela, Vereinigte Staaten.
[[363]]
Genua.
Eine lachende Küstenlandschaft voller Reiz und Ueppigkeit be-
gleitet den Fuss der Apennien von Spezia an bis weit nach Westen,
dort wo die Seealpen zum Meere sich senken. Mit reichen Gaben hat
Mutter Natur die Gegend ausgestattet. Gegen den rauhen Norden
durch das Hochgebirge geschützt, empfängt sie die linden und feuchten
Südlüfte, welche die Abhänge und Schluchten mit einen paradiesischen
Pflanzenwuchs bedecken. Das glänzt, blüht und duftet, ein einziger
grosser Garten, der halb Europa die köstlichsten Blumen spendet.
Hier, wo die ligurische Küste das östliche Knie (genu) bildet,
hat Genua, la superba, an einer natürlichen Einbuchtung ihre Marmor-
paläste erbaut. Beiderseits ihres Weichbildes erstrecken sich in wech-
selvoller landschaftlicher Schönheit viele Meilen weit die herrlichen
Abhänge der Riviera. Ostwärts die Riviera di Levante, westwärts die
Riviera di Ponente, beides Bezeichnungen, welche schon zur Zeit der
genuesischen Republik Geltung hatten. Blühende Gärten, eine ununter-
brochene Reihe herrlich gelegener Städte, Ortschaften und Landhäuser
sind zu einem unvergleichlich reizenden Bande vereinigt, welches den
Strand umsäumt und seine malerischen Bilder in dem tiefen Meere
des Golfes spiegelt.
Nizza, Mentone, San Remo, Sestri, Nervi und wie all die zahl-
losen Perlen dieses zaubervollen Strandes heissen, geniessen ob der
Herrlichkeit ihrer Lage und ihres milden Klimas einen Weltruf, und
wenn einer Gegend die Widmung: „Den Kranken zum Heil, den
Gesunden zur Lust“ zukommen mag, so ist es die Riviera mit ihren
prächtigen Naturscenerien und dem blendenden Luxus des High-life,
der hieher sich verpflanzte.
In solcher Umgebung darf die Marmorstadt Genua den Bei-
namen „die Stolze“ wohl verdienen; er kommt ihr aber durch ihre
Handelsmächtigkeit und ruhmvolle Geschichte sowie durch die
Triumphe, welche die Liebe zur Stadt und der Wohlthätigkeitssinn
46*
[364]Das Mittelmeerbecken.
ihrer Bewohner feierten, vielleicht mit noch mehr Berechtigung zu.
Enge verknüpft mit dem neuen Genua ist der Name des grossmüthigen,
1876 verstorbenen Herzogs von Galliera, welcher zum Bau des Hafens
20 Millionen Lire gespendet hatte.
Der Anblick von Genua ist ein äusserst fesselnder. Die Stadt
baut sich an den mitunter steilen Abhängen zwischen den beiden
tief eingeschnittenen Thälern des Bisagno und der Polcevera zu be-
deutender Höhe amphitheatralisch auf und die Wallgänge ihrer
starken Befestigungen klimmen längs steilen Hängen und Abgründen
weiter empor bis zu dem 3 km von der Küste entfernten, hochgele-
genen Fort Sperone, dem Schlüsselpunkte der ganzen Position. Da-
durch ist ein ganz bedeutendes Terrain eingeschlossen, wo viele
Landhäuser und Villen in anmuthigen Gärten sich behaglich betten
konnten.
Das malerische Gros der Stadt lagert an der Ostseite der Bucht,
in welcher ein grandioser mit den neuesten Einrichtungen ausge-
statteter Kunsthafen, auf den wir zurückkommen werden, entstanden
ist. Den Norden und Westen desselben umklammern neben Bahnhof-
anlagen nur die lebenskräftigen Ausläufer der Stadt. Aber die mo-
dernen Bauten der Bahnhöfe und Lagerhäuser haben den Vordergrund
eingenommen und trennen die ehrwürdigen Paläste von dem Hafen,
dem Lebensnerv der heutigen Stadt.
Der jederzeit von hunderten Schiffen belebte Hafen mit seinen
zahlreichen Dämmen, hier Ponti genannt, mit seinen Schienensträngen,
Krahnen und Waarenlagern ist denn auch das Centralgebiet der rast-
losen Thätigkeit der genuesischen Kaufmannschaft. Der volle Glanz
der alten Republik findet hier in neuen Formen und in verjüngtem
Leben den hellsten Widerschein. Unwillkürlich gedenkt man im An-
blicke des weiten Hafens, dessen hoher Leuchtthurm aus den Ba-
stionen beim Cap S. Benigno kräftig emporragt, an die Heroengestalt
des Cristoforo Colombo, des 1456 in dem westlich von Genua lie-
genden Küstenstädtchen Cogoleto geborenen Entdeckers von Amerika,
des berühmtesten Bürgers der alten Republik. Genuas Handel hatte
zwar durch die Entwicklung der oceanischen Schiffahrt infolge der
Entdeckung des Columbus den Todesstoss erhalten; aber der Nieder-
gang war nur vorübergehend. Der neueren Zeit war es vorbehalten, die
einstige Handelsmächtigkeit wieder herzustellen und Genua, die Königin
der italienischen Seehäfen, gerade zum wichtigsten Ausbruchhafen
Italiens für den amerikanischen Verkehr zu erheben.
Sehr spät und vielleicht erst nach Erkenntniss der glücklichen
[365]Genua.
Veränderung ihres Seehandels erinnerte sich die Stadt des grossen
Bürgers Columbus und widmete ihm ein Denkmal, das seit 1862 in
den prächtigen Palmenanlagen der Piazza Acquaverde nächst dem
Westbahnhofe sich erhebt. Ganz aus Marmor bestehend, hat das Mo-
nument einen reichen figuralen Schmuck, vier allegorische Gestalten:
die Religion, Klugheit, Wissenschaft und Stärke, umgeben den mit
Schiffsschnäbeln gezierten Sockel, auf welchem die markante Gestalt
Colons neben einer knienden Amorette sich erhebt. „A Cristoforo
Colombo la patria“ und „Divinato un mondo lo avvinse di perenni
benefizi all’ antico“ lautet die Inschrift des Denkmals.
Die tiefeingeschnittene Bucht von Genua, einer der Hauptstützpunkte der
ligurischen Freibeuterei, war schon in uralter Zeit den griechischen Seefahrern
wohlbekannt. Im III. Jahrhunderte v. Chr. hatten die Römer den Fuss hieher-
gesetzt und ihre Municipalverfassung eingeführt; von hier bekämpften sie die
Ligurer, um sich die längs der Küste nach Spanien führende Militärstrasse zu
sichern.
Mit der Einwanderung germanischer Völker nach Italien entwickelte sich
auch hier das Feudalsystem, und noch im XI. Jahrhunderte sahen die Genuesen
innerhalb der Mauern ihrer Stadt die Markgrafen aus dem obertinischen Haus
zu Gerichte sitzen.
Erst kurz vor dem ersten Kreuzzuge gelang es Genua, die communale
Selbstregierung zu erringen; die freien Bürger der Stadt schlossen sich zu einer
politischen Association „Compagna“ unter selbstgewählten Consuln zusammen und
beseitigten alle widerstrebenden Gewalthaber und Parteien. Fast zur selben Zeit
erkämpfte sich Genua im Bunde mit Pisa die freie Bahn für seinen Seehandel,
und die nordafrikanischen Araber, welche 935 Genua angefallen und ausgeplündert
hatten, wurden in ihrem eigenen Lande angegriffen.
Jetzt aber werden aus den Bundesgenossen Rivalen; fast 200 Jahre währte
das Ringen der beiden Handelsstädte Genua und Pisa, bis in der blutigen Ent-
scheidungsschlacht bei den Sandbänken von Meloria nächst Livorno 6. August 1284
Pisa für immer unterliegt.
Diese Kämpfe fallen also in die Zeit der Kreuzzüge, in welchen Genua
durch die Unterstützung der Paläologen gegen das lateinische Kaiserreich (1261),
welches die Venetianer in Constantinopel 1204 aufgerichtet hatten, Smyrna, weit-
läufigen Besitz auf den griechischen Inseln und in der Krim gewann. Im Jahre
1300 erwarb es von Pisa die Insel Corsica. Dieser Meeresherrschaft konnte nur
Venedig ein Gegengewicht bieten, und die Uebermacht Genuas in der Levante
musste zum erbitterten Kampfe mit diesem führen.
Vom Jahre 1257 bis 1380 währte das Ringen um die Herrschaft im Mittel-
meere. Schon war die genuesische Flotte in das adriatische Meer, den Golfo
veneziano, eingedrungen und bedrohte die Lagunenstadt, als die Venetianer in der
Seeschlacht bei Chioggia 1380 mit entscheidendem Siege die Suprematie der
kampfesmuthigen, aber durch den Parteihader der Guelfen und Ghibellinen sehr
erschöpften Rivalin zertrümmerten. Der Glanz Venedigs stieg, jener Genuas aber
neigte sich der Verdunklung entgegen; Genua verlor allmälig seine griechischen
Besitzungen und sank im letzten Viertel des XIV. Jahrhunderts von seiner stolzen
[366]Das Mittelmeerbecken.
Höhe herab. In der Folge büsste es sogar die eigene Selbständigkeit ein, nach
dem die Könige von Neapel und Frankreich, die Markgrafen von Montferrat und
die Herzoge von Mailand abwechselnd zur Oberherrschaft von Genua gelangten.
Endlose Verschwörungen und blutiger Zwist, sowie die Kämpfe der Gross-
mächte, deren Spielball Genua geworden war, beraubten die Stadt jeder ruhigen
Entwicklung.
Der hochstrebende Andrea Doria, „il padre della patria“, der berühmte
Admiral Karl V. raffte 1528 die Kraft des Staates auf und schüttelte das fran-
zösische Joch ab. Er begründete eine neue oligarchische Verfassung und stellte
dadurch Ordnung und Ruhe her, gegen welche die Verschwörung des Fiesco (1547)
erfolglos blieb.
Nun aber waren die Besitzungen im Oriente den anstürmenden Osmanen
zugefallen, die mächtigen Nachbarstaaten der Republik bedrängten ihr Gebiet
immer mehr, 1684 rückten die Franzosen in Genua ein, dessen Kraft und Ansehen
nicht mehr ausreichte, sich selbst zu schützen. Es verkaufte schliesslich 1768,
wenige Wochen, nachdem Napoleon Bonaparte zu Ajaccio geboren war, Corsica
an Frankreich um 30 Millionen Francs, und als die Wogen der französischen Re-
volution ganz Europa überfluteten, verschlangen sie auch Genuas Selbständigkeit
für ewige Zeiten. Von dem französischen General Massena besetzt, wurde die Stadt
1800 durch die Oesterreicher unter Melas und die verbündete Flotte unter Lord
Keith cernirt und musste sich nach blutiger Gegenwehr und nach den Qualen
einer verheerenden Hungersnoth ergeben. Im Jahre 1805 gelangte die Stadt an
Frankreich und 1815 an das Königreich Sardinien.
Im Gegensatze zu Neapel, dessen Armuth an hervorragenden
und schönen Bauwerken, wie überhaupt an Denkmälern der eigenen
Kunst auffallend ist, geniesst Genua durch die zahlreichen und präch-
tigen Renaissancepalais seines Adels und einige sehr alte Kirchen
einen geschätzten Namen in kunstgeschichtlicher Beziehung. Die Kunst-
periode des Cinque Cento ist hier durch viele hervorragende Werke
des genialen Galeazzo Alessi († 1572), eines Schülers Michel Angelo’s,
reich vertreten. Von seinen Bauten sei der in der Via Garibaldi ge-
legene Palazzo Rosso erwähnt, den die Herzogin von Galliera 1874
der Stadt Genua sammt der reichen Bibliothek und einer kostbaren
Gemäldesammlung als Geschenk gewidmet hat.
Alessi erbaute auch den durch eine stattliche Façade ausge-
zeichneten Palazzo Marcello Durazzo, dessen bedeutende Gemälde-
sammlung „Galleria Durazzo-Pallavicini“ viele alte Meister, wie Rubens,
Van Dyck, Tizian, P. Veronese, Tintoretto u. A. enthält. Genua ge-
noss überhaupt das Glück, Rubens (1607 bis 1608) und später Van
Dyck bei sich beherbergt zu haben. Diese schaffensfrohen Meister hinter-
liessen hier viele herrliche Werke und verewigten auch die Mitglieder
der genuesischen Adelsfamilien jener Zeit.
Hier inmitten des die Kunst pflegenden Reichthums fanden gleich-
falls die berühmtesten Vertreter und Träger der venetianischen Schule
[367]Genua.
Anregung und Beschäftigung. Deshalb sind die vielen Paläste grössten-
theils mit herrlichen Kunstwerken geziert und enthalten kostbare
Galerien.
Alessi ist auch der Erbauer der auf einem 53 m hohen Terrain-
vorsprung an der Südostseite der Stadt sich erhebenden Renaissance-
kirche St. Maria in Carignano, die in kleineren Verhältnissen an den
Gedanken sich lehnt, dem Bramante und Michel Angelo beim Baue der
Peterskirche in Rom gefolgt waren. Von der Galerie der obersten
Kuppel geniesst man einen prächtigen Ausblick auf die Stadt und
den Hafen sowie auf den malerischen Strand der Riviera. Auch die
schöne Loggia dei Banchi, die Börse, vor welcher jetzt das Cavour-
Denkmal sich erhebt, und die Paläste Cambiaso, Giorgio Doria,
Adorno, Serra u. a. entstammen den Plänen Alessi’s.
Neben diesem fruchtbaren Meister haben auch andere Künstler
von gutem Namen die Stadt durch bewunderungswerthe Bauten ge-
ziert, und der lange Strassenzug der Via Balbi, der Via Nuovissima
und der Via Garibaldi kann durch den Reichthum an Palästen, die
besonders in der letztgenannten Strasse sehr zahlreich sind, eine
Galerie von Palästen genannt werden, welche an die venetianischen
des Canal grande erinnert. Was die Geschichte Genuas an hervor-
ragenden Namen, wie Doria, Spinola, Balbi, Deferrari (Galliera),
Durazzo u. s. w., aufzuweisen hat, ist hier in schönen Bauwerken der
bleibenden Erinnerung geweiht.
Der grosse Palazzo Doria (zuweilen auch D’Oria geschrieben),
der nächst dem Westbahnhofe von der Piazza del Principe liegt, ragt
wie eine Insel aus dem ihn umgebenden Gewirre von Schienensträn-
gen empor. Nirgends sonst in der Stadt zeigt sich der Gegensatz zwi-
schen den Forderungen der neuen Zeit und den Erinnerungen an die
Vergangenheit so unvermittelt wie bei dem erwähnten Bauwerke.
Dieser mit reichen Fresken geschmückte Palast wurde dem be-
rühmten Flottenführer Admiral Andrea Doria, dem „Padre della Patria“, als
Ruhesitz geschenkt, „damit er“, wie die Inschrift besagt, „sein thaten-
reiches Leben in ehrenvoller Ruhe beschliesse“.
In Doria, von dem Ariosto sagt: „Das ist jener Doria, der euer
Meer gegen die Piraten sichert auf allen Seiten“, ist das Heldenthum
der Genuesen verkörpert, wie überhaupt das alte Adelsgeschlecht der
Doria der Republik viele Seehelden und sonst bedeutende Männer
schenkte. Andrea Doria aber, dessen wir bereits Eingangs erwähnten,
zählt unstreitig zu den glänzendsten derselben.
An die Zeit der alten Republik erinnert der ursprünglich aus
[368]Das Mittelmeerbecken.
dem XIII. Jahrhundert stammende Palazzo Ducale, der gegenwärtig
von städtischen Behörden eingenommen ist. Auch der eine kostbare
Bildergalerie enthaltende Palazzo Reale in der Via Balbi ist ein alter
Prachtbau (XVII. Jahrhundert) und ehemaliger Familiensitz der Durazzo,
welchen 1815 das Haus Savoyen ankaufte. Ihm gegenüber erhebt
sich der schöne Palast der 1812 gegründeten Universität, die reiche
Sammlungen und sehenswerthe Statuen enthält. Die Gemeindevertretung
hat im ehemaligen Palazzo Doria Tursi, einer Schöpfung des Rocco
Lurago (XVI. Jahrhundert), ein bestechendes Heim gefunden.
Wie die Paläste, sind auch die kirchlichen Bauten Genuas von
kunstgeschichtlichem Werthe. Voran die, drei Stylarten (romanisch,
französisch-gothisch und Renaissance) angehörende marmorne Kathe-
drale S. Lorenzo, deren Bau zu Ende des XI. Jahrhunderts an der
Stelle einer alten Kirche begonnen und mehrere Jahrhunderte hindurch
nicht vollendet worden war. Neben mancherlei Kostbarkeiten, worunter
Statuen von Sansovino und della Porta sowie Arbeiten von Ben-
venuto Cellini, und guten Altarbildern enthält die Kathedrale in ihrem
Tesoro (Schatz) das besonders verehrte Sacro Catino, das ist der
heilige Gral, ein schönes Gefäss, in dem Josef von Arimathäa das
Blut des Heilands aufgefangen haben soll. In Cäsarea 1101 erbeutet,
galt die Schale lange Zeit als Smaragd, bis sie als altorientalischer
Glasfluss erkannt worden war. Das Sacro Catino gehörte zur italie-
nischen Beute Bonaparte’s, der es nach Paris brachte, von wo die
Kostbarkeit in zerbrochenem Zustande nach Genua zurückgelangte.
Zu den sehenswerthen Kirchen zählen ferner der alte, ebenfalls
mehreren Stylarten angehörende Bau S. Stefano und die von Gia-
como della Porta 1587 reich in Marmor aufgeführte und mit herr-
lichen Fresken gezierte Kirche Sta. Annunziata, die prächtigste
der Stadt.
Der bildenden Kunst ist die Academia delle Belle Arti ge-
widmet, die, an der Piazza Deferrari gelegen, reiche Sammlungen und
die städtische Bibliothek von 40.000 Bänden enthält.
All diese Bauten und der unschätzbare Werth der darin auf-
gestapelten Kunstschätze stempeln Genua zu einer der hervorragendsten
Stätten der italienischen Kunst.
Aus der Zeit der Republik haben sich einige grossartige Wohl-
thätigkeitsanstalten erhalten, deren Zahl in neuer Zeit noch vermehrt
worden ist. Das Ospedale di Pamatone und das Albergo dei Poveri
(XVII. Jahrhundert) zählen überhaupt zu den weitläufigsten Gebäuden
der Stadt.
[[369]]
Genua.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 47
[370]Das Mittelmeerbecken.
Neben den humanitären und Kunstbestrebungen ist aber den
Annehmlichkeiten des Lebens nicht Abbruch geschehen. Neben
schönen in die herrliche Umgebung führenden Promenaden sind auch
prachtvolle Gärten im Weichbilde der Stad tvorhanden, deren grösster
der sehr besuchte Giardino Acquasola, der reizendste aber der nörd-
lich daranschliessende Park Viletta di Negro ist.
Die Stadt verfügt über vier Theater, deren grösstes Carlo Felice
zu den bedeutendsten von Italien zählt.
Unregelmässig angelegt, schmiegen sich die meist engen Strassen
der Stadt den Unebenheiten des Terrains an, sind daher oft steil
verlaufend und durch Treppen, ja auch durch tiefe Risse über-
spannende Brücken mit anderen Gassen verbunden. Viele derselben
sind für Fuhrwerk gar nicht passirbar und machen zwischen den
mitunter siebenstöckigen Häusern den Eindruck dunkler Felsklausen.
Dafür bewahren sie in drückender Sommerhitze eine tiefere Temperatur
als die breiten Verkehrsadern der Via Balbi und der anderen vor-
genannten Palast-Strassen.
Indes ist die von der Börse einwärts führende Via Orefici zwar
auch enge, zählt aber zu den glänzendsten Strassen der Stadt.
Das scharf ansteigende Terrain Genuas ist der Grund zur Ent-
wicklung einer speciellen Architektur, nämlich der Stiegen, in einer
Vollendung und Grossartigkeit, wie sie an keinem zweiten Punkte der
Erde entwickelt wurde. Iu Genua findet der Architekt die unver-
gleichlichen Muster des Treppenbaues.
Genua, unter 44° 24′ nördl. Breite und 8° 54′ östl. Länge v. Gr.
(Leuchtthurm) gelegen, zählt (Ende 1888) 206.000 Einwohner. Der
von der Natur gegebene Raum ist zu enge geworden für die Stadt,
den Sitz eines grossen Handels.
Schon unter den Römern war Genua der bedeutendste Handels-
platz Liguriens, an seinem trefflichen natürlichen Hafenbecken ver-
einigten sich von Norden, Osten und Westen her drei Heerstrassen
der Römer. Aber während der ganzen antiken Zeit erlangte die Stadt
niemals auch nur annähernd jene Bedeutung, zu der sie im Mittel-
alter der Unternehmungsgeist und die Seetüchtigkeit der Bevölkerung
Liguriens, die Schlauheit seiner Staatsmänner erhoben hat.
Genua betheiligte sich von Anfang an in hervorragender Weise
an den Unternehmungen der christlichen Fürsten, welche das heilige
Land zu befreien suchten; es erhielt dadurch einen weiten Spielraum
zur Entfaltung der eigenen Macht. Durch die grossen Transportflotten,
welche die Republik ausrüstete, noch mehr aber durch die im Orient
[371]Genua.
angeknüpften Handelsbeziehungen gelangte sie zu Reichthum und er-
richtete in Beirut, auf Cypern und Majorca, sowie in Tripolis und
Tunis Niederlassungen.
Das Bündniss der Genuesen mit Michael Palaelogus zum Sturze
des lateinischen Kaiserthums vom Jahre 1261 war ein Meisterzug
des damaligen Podestà Martino di Fano und des Capitano del Popolo
Guglielmo Boccanegra und erhob mit einem Schlage Genua zum ersten
Handelsstaate in der Levante. Als Dank für ihre Hilfe gegen die
Venetianer erlangten die Genuesen nicht nur Besitzungen in der Levante,
sondern was weit werthvoller war, die Freiheit von allen Abgaben
bei Einfuhr und Ausfuhr, bei Kauf und Verkauf; nur mit Salz und
Mastix durften sie im griechischen Reiche nicht handeln. Sie erhielten
am östlichen Ufer des goldenen Hornes 1267 Galata als Wohnsitz
angewiesen. Dort wurden sie von einem eigenen Podestà gerichtet
und der Handel ihrer stark befestigten Gemeinde übertraf bald den
Constantinopels um das Zehnfache, und um die Mitte des XIV. Jahr-
hunderts bezog Constantinopel sein Getreide nur von den Genuesen,
welche den Ausgang des Bosporus durch ein Castell versperren
konnten. Wir müssen noch heute dem kaufmännischen Geiste der
Genuesen unsere Bewunderung zollen, welche bemüht waren, den
indischen Handel über Byzanz zu leiten.
Ihre Schiffe befuhren das Kaspische Meer, ihre Kaufleute lenkten
den persischen Handel nach Trapezunt und entsandten 1291 eine
Handels-Expedition nach Indien. Die Vermittlung des Handels zwischen
Syrien-Egypten und dem südlichen Kleinasien blieb noch lange nach den
Kreuzzügen in ihren Händen. Aber die Eroberung Constantinopels
durch die Türken 1453 brach mit einemmale die Handelsstellung von
Genua. Die Stadt war, ungleich Venedig, damals schon lange nicht
mehr ein in der Politik wichtiger Factor; unaufhörliche Parteikämpfe
zwischen dem Adel und den Popularen hatten die Macht Genuas ge-
lähmt. Man suchte sich dadurch zu helfen, dass man, wie in vielen
lombardischen Städten, die höchste Würde im Staate des Oefteren
Ausländern übertrug, zur Ergänzung des Grossen Rathes aus 90 Namen
5 ausloste, und später an die Stelle der Namen einfach Ziffern setzte.
Gleich von Anfang an wurden zahlreiche Wetten auf die Candidaten
abgeschlossen. Dies ist der Ursprung des genuesischen Zahlenlottos,
welches im XVIII. Jahrhundert in den meisten Staaten Europas ein-
geführt war, um die Einnahmen zu erhöhen.
Aber selbst bei diesen politischen Kämpfen verleugnete sich nicht
der kaufmännische Geist der Genuesen, die finanziellen Angelegen-
47*
[372]Das Mittelmeerbecken.
heiten und damit die Sicherung der Handelsinteressen des Staates
wurden im Jahre 1407 dem unaufhörlichen Wechsel der politischen
Verhältnisse durch die Gründung des Banco di S. Giorgio entrückt,
welcher das ganze Staatsschuldenwesen selbständig leitete, die als
Deckung erworbenen Abgaben und Einkünfte verwaltete, allmälig fast
das ganze genuesische Gebiet, darunter auch Corsica, pfandweise an
sich brachte und überall eine Territorialhoheit ausübte, wie etwa die
britisch-ostindische Compagnie.
Die Bank von St. Georg war ein Staat im Staate, und jede
politische Partei, welche die Oberhand gewonnen hatte, musste zuerst
deren Privilegien anerkennen. Im Jahre 1675 wurde sie zu einer
Girobank erweitert.
Nur einmal noch spielte Genua eine Rolle in der Politik, als
der edle Andreas Doria seine Geschicke lenkte. Der berühmte See-
held und treue Bundesgenosse Karl V. im Kampfe gegen die Fran-
zosen und gegen die Barbaren, welche durch ihre Seeräuberei die
Schiffahrt der christlichen Staaten zu vernichten suchten, erwarb durch
den Schutz des Kaisers 1529 dauernd den Hafen Savona für seine
Vaterstadt. Die damals drohende Gefahr, dass mit Hilfe der Fran-
zosen Savona der Rivale Genuas werde, war für immer beseitigt.
Doch der Glanz glich dem Aufblitzen eines Sternes und hatte
keine Dauer, das Scepter des Neptun und mit ihm die Weltherrschaft
waren in die Hände der atlantischen Staaten gefallen. Als Geld-
macht blieb wohl Genua noch lange von grosser Bedentung; hier
wohnten die grössten Gläubiger Philipp II. von Spanien. Aber
sein Handel sank immer tiefer und die Eroberung durch die Franzosen
im Jahre 1800 vernichtete die letzten Reste desselben. Die Vereini-
gung mit Frankreich brachte nicht die erhoffte Besserung und die
am 21. November 1806 gegen England angeordnete Sperre unter-
band vollständig die Entwicklung des Handels. Die Stadt lebte erst
allmälig auf, als sie 1815 an das Königreich Sardinien kam; sie
wurde in den Zwanzigerjahren ein wichtiger Getreideplatz und trieb
Handel bis Chile und Peru. Aber Livorno überflügelte bald Genua.
da in Toscana dem Handel nicht so viele Hindernisse in den Weg
gelegt wurden, wie in Sardinien.
Endlich erhielten die rührigen Kaufleute und Schiffsrheder
Genuas durch die freisinnige Handelspolitik, welche das Ministerium
Cavour in den Fünfzigerjahren einschlug, die lang ersehnte Freiheit
der Bewegung. Die Staatsverwaltung bemühte sich ihrerseits, die zahl-
[373]Genua.
reichen und ausserordentlichen Schwierigkeiten zu überwinden, welche
sich der Ausführung eines Eisenbahnnetzes entgegenstellten.
Sie suchte sich mit grosser Beharrlichkeit der dreifachen Auf-
gabe eines Ueberganges über die Apenninen, über den Mont Cenis
und über die Alpen zu nähern und vollendete 1848—1859 ein ziem-
lich umfangreiches Eisenbahnnetz mit dem Hauptknotenpunkte Ales-
sandria, das am 18. December 1853 über den Pass von Giovi Genua
erreichte. Der Ausbau der Bahnen längs der Riviera nach Westen
(Ventimiglia) und nach Osten (Spezia-Livorno) erfolgte viel später.
Auch die Römer, deren Hauptstadt doch weit im Süden von
Genua lag, hatten zuerst die Strasse vom Po nach Genua vollendet.
Durch die Errichtung des Königreiches Italien erlangte Genua ein
ausgedehntes industrielles Hinterland, und beherrschte dieses sofort
mit Hilfe seiner vorzüglichen Land- und Seetransportwege, so dass es
jetzt mit Venedig im Venetianischen, mit Livorno in Toscana con-
currirt.
Das Jahr 1870, das ist das Jahr, als durch die Vollendung des
Suez-Canals eine neue Zeit für alle Gestadeländer des Mittelmeeres
hereingebrochen war, bedeutet auch für Genua eine Zeit, wo alle
Keime neu zu sprossen begannen, um neuer ungeahnter Blüthe zuge-
führt zu werden. Es soll auch nicht verschwiegen werden, die Ge-
nuesen nicht nur, alle Italiener waren den Aufgaben, welche die ver-
änderte Zeit und Weltlage an sie stellte, gewachsen. Das grosse
kaufmännische Talent, welches im italienischen Volke schlummerte,
zeigt sich heute wieder im selben Glanze wie vor 400 Jahren.
Eisenbahnen, welche über die Alpen führten, sollten zunächst das
Handelsgebiet Genuas erweitern, es zu einem Transitohafen für die
Nachbarstaaten machen.
Am 17. September 1871 wurde die Bahn durch den Mont Cenis
eröffnet, die Aufgabe, einen 12 km langen Tunnel zu bauen, war
glänzend gelöst. Aber wir müssen gleich bemerken, dass auf diesem
Wege Hâvre und Boulogne beispielsweise in Schafwolle mit Genua
erfolgreich in Oberitalien concurriren. Dafür ist die Eröffnung der
Gotthardbahn 1882 ein wichtiger Markstein in der Entwicklung Genuas,
das durch dieses internationale Werk ein Transitohafen für die Schweiz
und zum Theile auch für Deutschland wurde.
In der Versorgung der Schweiz mit Getreide konnte Genua mit
Marseille den Kampf mit Glück aufnehmen.
Die Menge der Frachten, welche in Genua gelöscht wurden,
stieg seit Eröffnung der Gotthardbahn so gewaltig, dass man die Be-
[374]Das Mittelmeerbecken.
förderung derselben nach dem Innern auf der einzigen und ziemlich
steilen Linie über den Pass von Giovi nicht mehr bewältigen konnte.
Der Bau eines neuen Apenninenüberganges, der „Hilfslinie des Giovi-
Passes“ (Succursale di Giovi), wurde 1883 begonnen und 1888 vollendet.
Dadurch ist, wie Scherzer schreibt, „ein wesentliches Hinderniss für die
Ausdehnung des Gotthardbahnverkehrs gegen das Mittelmeer beseitigt
und ein neuer wichtiger Factor für den Aufschwung des Hafens von
Genua sowie des italienischen Handels überhaupt geschaffen“.
Die Schwierigkeiten, welche bei diesem Bahnbau zu überwinden waren,
charakterisiren deutlich die Lage Genuas, dem die Eisenbahnlinien sich nur durch
Tunnels nähern können.
Die 22.896 m lange Hilfslinie, welche von den alten Stationen von Ronco
im Scriviathale auf der Nordseite und von Rivarolo, der nächsten Station hinter
Sampierdarena von Genua aus, im Thale der Polcevera auf der Südseite des
Apenninenkammes abzweigt, hat über 80 Millionen Lire gekostet, weil nebst dem
8297 m langen Roncotunnel zwei in Curven liegende Brücken über die Polcevera
und die Torbella sowie eine sehr grosse Zahl von Viaducten von theilweise un-
gewöhnlicher Höhe und Länge erbaut werden mussten, wie z. B. der Viaduct Verde,
welches gewaltige Mauerwerk mit doppelter Bogenreihe bis zu 55·9 m über der
Thalsohle sich erhebt, oder der lange Viaduct von Feglino mit 25 Oeffnungen von
je 10 m Lichtweite.
Sollte das Project der auf 95 Millionen Lire veranschlagten
Durchbohrung des Simplon zur Ausführung kommen, so hätte Genua
für seine Verbindung mit Mitteleuropa erreicht, was zu erreichen ist.
Gleichen Schritt mit dem Ausbau der Landverbindungen Genuas
hielt die Vermehrung der von dort ausgehenden Schiffahrtslinien. Die
Gründung der Gesellschaft Florio im Jahre 1872, aus deren Vereini-
gung mit der Gesellschaft Rubattino (Sitz Palermo) 1884 die grosse
Navigazione Generale Italiana hervorging, und 1886 die Wahl Genuas
an Stelle von Triest als Anlaufstation der ostasiatischen und austra-
lischen Linie des Norddeutschen Lloyd sind die wichtigsten Momente
der Geschichte der Schiffahrt von Genua in den letzten Jahrzehnten.
Fügen wir noch hinzu, dass Genua auch ein wichtiger Hafen für
die Auswanderung nach Südamerika geworden, so ist es klar, dass
den neuen grossen Ansprüchen die alten Anlageplätze nicht genügen
konnten, ja öfter wurden die in Ausführung begriffenen Erweiterungs-
bauten von dem neuerdings gestiegenen Verkehre überholt.
Auch die Eisenbahnlinien mussten vervollständigt werden. Man
verband den Ostbahnhof mit dem Westbahnhof durch einen gross-
artigen Tunnel, welcher die ganze Stadt in weitem Bogen umspannt.
Der Tunnel zweigt unterirdisch mit einem Arm zur Hafenstation ab.
Jetzt fehlt noch eine Verbindung der im Westen gelegenen Quais
[375]Genua.
mit der Vorstadt Sampierdarena, um dadurch gewissermassen Platz
für Genua zu gewinnen, denn das ist für die Zukunft Genuas die
wichtigste Frage.
Man darf hoffen, dass infolge der Vollendung der Succur-
sallinie des Passes der Hafen nicht mehr so lange wie im Jahre 1887
von Waaren blockirt sein wird, die nicht hinaus können.
Aber Mangel an Platz für die Bewegung der Waaren und da-
mit in Zusammenhang ein Aufschub in der Beförderung der Waaren
ist auch heute noch ein Merkmal des Hafens Genuas, hinter welchen
schon in ganz geringer Entfernung Berghöhen ansteigen.
Zu den kostspieligen Hafenbauten der letzten Jahre hatte der
Herzog von Galliera der Regierung einen Beitrag von 20 Millionen
Lire unter der Bedingung gespendet, dass dieselben am 15. October
1888 vollendet seien, widrigenfalls die ganzen Kosten von ungefähr
40 Millionen Lire dieser allein zur Last fallen sollten.
Allein die Bauten waren, was den grossen Hafendamm, die neuen
Moli, die Geleiseanlagen und die maschinellen Einrichtungen anbe-
trifft, in ihrer Wesenheit schon lange vor diesem Termin vollendet
und dem Verkehr übergeben.
Gegenwärtig besitzt der Hafen von Genua bei einem Gesammt-
areal von 204 ha Landungsdämme und Molos in einer Länge von
6000 m mit einem Flächeninhalt von 240.000 m2, wovon 15.000 m2 mit
Waarenlagern bedeckt sind. Auf den Molos sind nicht weniger denn
45 hydraulische Krahnen von je 1½ t Tragkraft vertheilt, von denen
täglich durchschnittlich 12 in Betrieb stehen.
Ein geräumiges Maschinenhaus enthält die Kessel, Dampf-
maschinen und Accumulatoren, welche auf das aus der städtischen
Wasserleitung entnommene Süsswasser einen Druck bis zur Stärke
von 50 Atmosphären ausüben und dasselbe durch ein 6 km langes
Röhrensystem den Quais entlang vertheilten. In diesen Röhren sind
von 6 zu 6 m Hydranten angebracht, mittelst deren je nach Bedarf
die auf Geleisen verschiebbaren grossen Krahne in Verbindung ge-
bracht werden können.
Ausserdem existiren noch drei fixe Krahne, deren jeder 10 t zu
heben vermag und deren Anlage 800.000 Lire kostete. Nebst diesen
Krahnen werden auch noch einige auf Drehscheiben postirte Cabestans
(Winden) auf hydraulischem Wege betrieben, derart, dass das Ver-
schieben der beladenen Waggons sowie die Bewegung der Dreh-
scheiben vermittelst eines um den Cabestan gewundenen Seiles mit
einem unglaublich geringen Aufwand von Menschenkraft bewerkstelligt
[376]Das Mittelmeerbecken.
wird. Die Miethe für die hydraulischen Krahne beträgt nur 2 Lire
per Stunde, oder 10 Lire per Arbeitstag von 10 Stunden.
Im äusseren Hafen (Avamporto) sind die beiden Moli beendet
und geht der Ausbau der beiden Trockendocks (T) von 179 und
219 m Länge, sowie des Quais „Delle Grazie“ schnell ihrer Voll-
endung entgegen. Genua verfügt überdies über ein Trockendock nächst
der Darsena für Schiffe bis zu 89 m Länge und über ein Schwimm-
dock für solche von 100 m Länge. Am Fusse des Molo vecchio ist
ein Aufholstapel (Scalo d’allagio C) für Schiffe bis 100 m in Betrieb.
Im inneren Hafen befinden sich die Molen „Ponte alla Chiapella“ (O)
und „Passonuovo“ (P) bereits in Benützung, und ebenso ist die Er-
weiterung der Löschplätze bei der Hafen-Eisenbahnstation (Stazione
marittima) und die Anlage des inneren Löschplatzes am alten Hafen
(Darsena) durchgeführt. Nebst der fertigen Rampe von S. Giovani
werden noch zwei wichtige andere Zufahrten gebaut von der Piazza
Principe und von der Via Milano bis zur Mündung des S. Lazzaro-
Tunnels am Hafen. Auch wurde die längs der Darsena (H) zum Ponte
Calvi (E) führende Quaistrasse Via Carlo Alberto bis auf 20 m ver-
breitert und der zur Sanirung des Hafens nothwendige Canal fast
vollendet, ebenso das neue Zollamt (K). Sonst ist noch die Anlage
eines hammerförmigen kurzen Moloarms an der Spitze des Molo
Orientale bemerkenswerth, der als Wellenbrecher dienen soll. Ueber
die Tiefenverhältnisse des Hafens gibt unser Plan einen klaren Auf-
schluss.
Für den Waarenverkehr besteht am Südostquai des inneren
Hafens ein Porto franco (Freihafen-Magazine bei W) und nächst des-
selben das zugehörige Zollamt.
Genua ist gegenwärtig einer der grössten Häfen des Mittel-
ländischen Meeres und der erste Hafen Italiens; es vermittelt vier
Fünftel des Seeverkehrs des Königreiches und hat noch lange nicht
den Höhepunkt seiner zweiten Blüthe erreicht, welche, nebenbei be-
Legende zum Plan von Genua.
A Avamporto (Vorhafen), B innerer Hafen, C Aufholstapel, D Ponte Spinola, E Pte Calvi, F Leucht
feuer, G Pte Darsena, H Darsena, J Magazine des Seearsenals, K neues Zollamt, L Ponte Federico Guglielmo,
M Pte S. Teodoro, N Pte S. Lazzaro, O Pte alla Chiapella, P Pte al Passanuovo, Q Pte Molo nuovo,
R Molo vecchio, S Pte alle Malapaga, T Trockendocks im Bau, U Hafen-Eisenbahnstation, V Palais
Doria, W Zollamt des Freihafens, X Kaserne S. Benigno, Y S. Lazzaro-Tunnel, Z Landarsenal. — 1 West-
Station (Stazione occidentale), 2. Columbus-Platz, 3. Via Balbi, 4. Piazza Annunziata, 5. Palazzo
Reale, 6. Armenhaus, 7. Acquasola-Garten, 8. Pamatone-Spital, 9. Villetta di Negro Garten, 10 Via Roma,
11. Via Assarotti, 12 Via Garibaldi, 13. Piazza Deferrari, 14. Via Giulia, 15. Teatro Politeama Margherita,
16. Irrenhaus. 17. Via Corsica, 18. Kirche Sta. Maria di Carignano, 19. Ostbahnhof (Stazione orientale),
20. grosser Tunnel, 21. Via Caffaro, 22. Palazzo Ducale, 23. Kathedrale S. Lorenzo, 24. Kirche
Sta. Maria di Castello, 25. Piazza Cavour, 26. Via Orefici, 27. Kirche Sta. Maria delle Vigne, 28. Teatro
Apollo, 29. Friedhof, 30. Municipalschule, 31. Militär-Spital, 32. Palazzo Scassi, 33. S. Andrea-Spital,
34. Mura delle Grazie.
[[377]]
(Legende siehe Seite 376.)
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I, Band. 48
[378]Das Mittelmeerbecken.
merkt dem Werthe nach beobachtet, den zehnfachen Umsatz gegen-
über der Zeit der Doria repräsentirt.
Sein Handel ist nicht mehr auf das Mittelmeer beschränkt wie
in den Zeiten der Republik: er geht durch die Strasse von Gibraltar
bis an die Westküste von Südamerika und durch den Suez-Caual an
die östlichen Gestade Asiens. Aber auch hier begegnen wir der
Klage, dass der reine Durchzugsverkehr sich auf Kosten des eigent-
lichen Handels ausbreite.
Ueber den Umfang des Handels mit dem Auslande gibt die folgende Ta-
belle Auskunft.
| [...] |
Im Jahre 1889 stieg die gesammte Einfuhr zur See auf 2,855.738 t, von
diesen kamen 2,137.621 t aus dem Auslande und 718.177 t aus italienischen Häfen.
Ausgeführt wurden 1,204.974 t, davon 664.638 t nach dem Auslande, 540.336 t
in der Küstenschiffahrt. Im Jahre 1889 sind also Handel und Schiffahrt Genuas
gewaltig gestiegen, doch liegen Einzelnangaben noch nicht vor.
Der Ausbruch des Zollkrieges mit Frankreich hat die Ziffer der Ausfuhr
von 1888, die bevorstehende Erhöhung der Zölle die Einfuhr des Jahres 1887
wesentlich beeinflusst; diese beiden Jahre bieten also nicht das Bild normaler
Handelsverhältnisse. Nur der Transitoverkehr zu Lande zeigt infolge der besseren
Bahnverbindungen eine Zunahme.
Der Schwerpunkt des Handels von Genua liegt in der Einfuhr, die in den
vorletzten zwei Jahren 4 bis 5mal grösser war als die Ausfuhr. Dass nach der Zahl
der Tonnen die Einfuhr noch gewaltiger überwiegt, liegt darin, dass in der Ein-
fuhr englische Steinkohlen, Metalle und Metallwaaren, meist aus Nordeuropa
stammend, Getreide aus Russland und Indien einen bedeutenden Umfang erreichen.
Die Ziffern der nachfolgenden Beschreibung des Handels beziehen sich nur
auf die Ein- und Ausfuhr.
Die Ausfuhr umfasst folgende Waaren:
Da Wein für Genua kein so wichtiger Artikel der Ausfuhr ist, wie für
die südlichen Häfen, so ist der Rückgang seines Ausfuhrhandels im Jahre 1888
nicht so gross als in den südlicheren Seehäfen. Gesunken ist, 1888 als Consequenz
des Zollkrieges mit Frankreich, die Ausfuhr von Fassweinen, gestiegen die von
Flaschenweinen (1888 2,318.100, 1887 1,861.775 Flaschen), darunter viel Wermuth.
Hauptabnehmer ist Argentinien, dessen zahlreiche italienische Bevölkerung
sich den heimischen Wein nachkommen lässt.
[379]Genua.
Nach Argentinien gingen 1888 1,184.746 Flaschen und 189.328 hl in
Fässern, nach Frankreich 429.523 Flaschen und 30.569 hl in Fässern, nach Afrika
(d. h. Tunis, Algier etc.) 102.206 Flaschen und 1365 hl in Fässern.
Die Ausfuhr von Olivenöl ist in den letzten Jahren so ziemlich in der-
selben Höhe geblieben. Als Abnehmer erscheinen die La Platastaaten und die
Union, Deutschland, Spanien und Grossbritannien, Ausfuhr ohne Transito 1888
44.554 q, 1887 52.620 q, Spirituosen in Flaschen werden nach Südamerika aus-
geführt; 1888 412.095 Flaschen, mit je mehr als 1 l Inhalt.
Einen ansehnlichen Ausfuhrartikel bilden candirte Früchte; 1888 4418 q,
1887 3691 q.
Von Rohhanf wurden 1887 3920 q nach der nordamerikanischen Union
ausgeführt.
Ausser Getreide und Reis, die zum grossen Theile ausländischen Ursprungs sind,
werden von Genua ausgeführt Mehl und Teigwaaren; letztere, welche Maccaroni
und andere Gattungen umfassen, werden in Genua und anderen Orten der Riviera
fabricirt; in den letzten Jahren sind in Nervi und Quinto neue Fabriken errichtet
worden. Das Meiste geht an den Rio de la Plata und nach Brasilien; die
dort wohnenden Italiener wollen ebensowenig die Maccaroni wie den Wein Italiens
entbehren. Die Ausfuhr der ganzen Gruppe erreichte 1888 96.031 q im Werthe
von 1,512.732 Millionen Lire.
Von lebenden Thieren und thierischen Nahrungsmitteln, unter
denen auch Geflügel, Butter, Käse, Eier hervorragen, exportirte Genua 1888
31.011 q im Werthe von 5·2 Millionen Lire nach Deutschland, England und
Frankreich. Als noch Rindvieh nach Frankreich ausgeführt wurde, war die Aus-
fuhr natürlich grösser.
Von mineralischen Stoffen wurden ausgeführt Blei in Blöcken und ver-
arbeitet (1888 13.099 q) nach Russland und Argentinien. In allen anderen
Metallen machte die Ausfuhr nur 10.099 q aus im Werthe von circa 4 Millionen
Lire, worunter Gold- und Juwelenarbeiten miteingerechnet sind.
Bearbeiteter Marmor (1888 26.599 q) geht nach Belgien und anderen euro-
päischen Staaten.
Schwefel (1888 15.603 q) nach Argentinien, Uruguay und in die Union.
Die Ausfuhr von Erzeugnissen der Industrie aus Genua ist im Ganzen
nicht gross.
Man exportirt Baumwollfabricate nach Südamerika, Afrika und in die
Türkei (1888 4799 q). Seilerwaaren, Ankertaue und andere Hanffabricate (1888
12.625 q, Werth 1,427.850 Lire) nach Amerika.
Der Seidenexport Genuas 1888 erreichte trotz des Rückganges den Werth
von 6,605.087 Lire; einfach gezogene, doublirte und gezwirnte Rohseide gingen
26.286 kg nach Frankreich und 26.861 kg nach Nordafrika, Seidenabfälle nach den
genannten Ländern und Amerika.
Zur Ausfuhr gelangen Sohlenleder, dann Papier (1888 18.748 q, Werth
1·7 Millionen Lire, 1887 38.520 q) nach Argentinien, der Union und in die Levante.
Die Industrie hat durch das Verbot der Ausfuhr von Hadern und die Verwen-
dung billiger Holzpasta gewonnen.
Von Wachshölzchen wurden 1888 3468 q (Werth 656.463 Lire) nach
den Staaten am La Plata, nach Brasilien, den Vereinigten Staaten von Amerika
und nach Afrika ausgeführt.
48*
[380]Das Mittelmeerbecken.
Majoliken und andere Töpferwaaren gehen nach Spanien und Südamerika.
Glaswaaren nach Südamerika, Summe der Ausfuhr von Thon, Stein, Thon- und
Glaswaaren 1888 2,083.059 Lire.
Eisen in zweiter Verarbeitung (1888 14.436 q, Werth 931.115 Lire) nach
Argentinien und Afrika.
Holz und Arbeiten aus demselben wurden ausgeführt 1888 22.984 q, Werth
2,171.868 Lire.
Seife (1888 3140 q, Werth 784.925 Lire) geht nach England und den Ver-
einigten Staaten.
Glaswaaren, Porzellan und Töpferwaaren, dann Steine und Thon
führte Genua 1888 für 34,817.394 Lire ein. 1887 kam Fensterglas aus Deutsch-
land, Frankreich, Oesterreich-Ungarn und England (1013 q), geschliffenes,
nicht belegtes Glas und Krystallglas aus Belgien, Deutschland, Oesterreich-
Ungarn, England und Frankreich (140 q). Die Spiegeleinfuhr beherrscht Deutsch-
land. In einfach geblasenen oder gegossenen Glas- und Krystall-
waaren steht Deutschland weitaus in erster Reihe (1019 q) gegen Frankreich,
England und Oesterreich-Ungarn. Ebenso in derartigen farbigen und ge-
schliffenen Waaren Deutschland (917 q), Oesterreich-Ungarn (368 q), Frank-
reich und England. Gewöhnliche Flaschen kommen aus Oesterreich-Ungarn,
Frankreich und Deutschland, aus jedem Lande ungefähr 210.000 Stück, aus Eng-
land nur 38.000 Stück. Jedenfalls steigt in diesem Artikel der Consum von Jahr
zu Jahr. Genua ist ferner Ausfuhrplatz für deutsche und schweizerische Waaren.
Die Hauptartikel der Einfuhr von Genua sind Getreide, rohe Baumwolle
und Kohle, die zusammen fast die Hälfte des Werthes der Einfuhr ausmachen.
Die Kategorie XIV des italienischen Zolltarifes, welche Getreide, Mehl.
Teigwaaren und vegetabilische Producte umfasst, liefert weit mehr als ein
Fünftel (1888 66·5 Millionen Lire) der Einfuhr von Genua. Es wurden 1888
2,259.610 q, 1887 2,725.353 q Weizen in Genua eingeführt. Die grössten Mengen
der Einfuhr liefern Russland aus den Häfen des Schwarzen und Asow’schen
Meeres, Ostindien über Bombay, Argentinien und die Türkei. Ueberdies gingen
1888 zu Lande weiter 318.229 q ins Ausland, und zwar meist in die Schweiz,
152.063 q ins Inland, und zwar hauptsächlich nach Sampierdarena.
Ungeschälter Reis wurde 1888 in der Menge von 357.362 q (Werth
7·1 Millionen Lire) eingeführt, zumeist aus Rangoon und Japan. Ausserdem gingen
transito zu Lande weiter 239.191 q, meist bestimmt für die Fabriken in Sampier-
darena. Japanischen Reis zu verarbeiten, ist für die grossen Reisschälfabriken
Liguriens besonders rentabel. Die Einfuhr von geschältem Reis, welcher aus
Bremen, den Niederlanden und Russland kommt, geht andauernd zurück.
Die Mehleinfuhr hört seit Erhöhung der Zölle fast ganz auf.
An Rohbaumwolle ging in Genua ein 1888 464.789 q, 1887 505.810 q,
1886 470.440 q, 1885 566.320 q, 1876 122.540 q.
Die nordamerikanische. zum grössten Theile direct bezogen, bildet die
wichtigste Sorte auf dem Markte von Genua, dann folgt indische Baumwolle, die
unterste Stelle nimmt die egyptische ein. Egyptische und indische Baumwolle gehen
transito in die Schweiz; auch auf dem Seewege findet eine Wiederausfuhr nach
Belgien und Frankreich statt (1888 24.301 q).
Von Faserstoffen wird ausser Baumwolle in grösserer Menge Jute ein
geführt und in den Fabriken von Sampierdarena für die Zwecke der Zucker-
[381]Genua.
fabriken zu Packleinwand und Säcken verarbeitet. Einfuhr 1888 30.639 q,
1887 24.658 q.
Unter den Einfuhrartikeln nimmt Rohzucker einen hohen Rang ein; 1888
war die Einfuhr mit 341.334 q ungewönlich klein, weil 1887 die Speculation
946.961 q hereingebracht hatte; Zucker wird bezogen aus Oesterreich-Ungarn,
Odessa, Egypten, Java, Belgien und Deutschland. Die Einfuhr aus Frankreich ist
1888 riesig gesunken, die aus England dürfte westindischen Ursprungs sein. Die
Raffinerien von Sampierdarena und Rivarollo in Ligurien decken nicht nur den
Bedarf Liguriens, sondern beginnen bereits mit dem Exporte.
Kaffee, 1888 69.934 q (Werth 15,385.482 Lire), wird direct aus Brasilien,
meist aber über Grossbritannien, auch über Deutschland und Spanien bezogen.
Die über Frankreich hat 1888 fast aufgehört. In Genua ist Portorico-Kaffee sehr
beliebt, und trat an die Stelle von Ceylon-Kaffee.
Auch Cacao ist nicht unwichtig für den Markt von Genua. Für Colonial-
waaren hat Genua im Ganzen wenig Bedeutung, es kann mit den nördlichen
Häfen Hâvre, Antwerpen, Bremen und Hamburg nicht concurriren.
Tabak (1888 57.900 q) wird für die Zwecke der Regie meist aus Amerika
bezogen.
Bier wird besonders aus Bayern (1887 36.906 hl) und aus Oesterreich
(Pilsen 1888 1427 hl und 61.830 Flaschen) eingeführt, und steigt der Consum
täglich.
Den Spiritushandel beherrschen Frankreich und Grossbritannien.
Chemikalien, Droguen und Parfumerien senden Frankreich, England,
Deutschland und die Union. Die Einfuhr von Farbwaaren aus Deutschland auf
der Gotthard-Route steigt. Das Droguengeschäft ist in den letzten Jahren
gänzlich in die Hände von Mailänder Häusern übergegangen. Im Jahre 1888
wurden aus Amerika, England und Frankreich 65.946 q Gummi-Sorten und Harze
im Werthe von 14·8 Millionen Lire eingeführt.
Indigo kommt meist aus Guatemala.
Genua führt für die Zwecke seiner Seifenfabrication auch Olivenöl aus
Frankreich, Spanien und Tunis ein. Sehr bedenklich ist die steigende Einfuhr von
Baumwollsamenöl aus England; mit diesem wird Olivenöl häufig vermengt.
Auch Oelsaaten werden vor Allem aus Ostindien und der Türkei ein-
geführt, 1888 263.584 q, das ist kaum die Hälfte der Einfuhr von 1887, weil eine
der grossen ligurischen Oelfabriken den Betrieb eingestellt hat. Dafür ist die
Einfuhr von Palmöl und Cocosnussöl 1889 bereits auf 42.800 q gestiegen.
Auf den Markt zu Genua kommen Wollen aus dem Römischen und die
minderwerthigen von Tunis. Zum grössten Theile aber wird dieser Artikel direct
aus Buenos Ayres und Montevideo bezogen. Capwolle und australische gelangen von
London und aus Frankreich und Belgien mit der Bahn über den Mont-Cenis in
die Fabriken von Turin, Mailand und Biella.
Genua ist ein bedeutender Markt für Felle und Häute. Schaffelle
kommen vom La Plata (1888 3465, 1887 5692 Ballen), vom La Plata und
Brasilien auch Häute, kleinere Zufuhren stammen aus Calcutta, Rangoon und Russ-
land; Einfuhr 1888 51.118 q. Die Einfuhr von Häuten wird kleiner, weil die Aus-
fuhr von Vieh nach Frankreich fast aufgehört hat und bei den niedrigen Fleisch-
preisen in Oberitalien mehr Fleisch consumirt wird.
Vom La Plata kommen auch Talg, Pferdehaare, Hörner und Knochen.
[382]Das Mittelmeerbecken.
Fette kommen auch aus der Union und aus England; 1888 54.668 q,
Werth 4·4 Mill. Lire.
Von getrockneten und marinirten Fischen wurden 1888 161.132 q (Werth
12·1 Millionen Lire) eingeführt.
England und Frankreich sind die Lieferanten von Stockfisch und Kabljau,
beide fischen bei Neufoundland. Isländische Waare kommt direct über Kopenhagen,
wo sie für den italienischen Markt besonders hergerichtet wird.
Minderwerthige Häringe (pilchard) holen genuesische Händler jedes Jahr
in Penzance, der letzten Eisenbahnstation im Südwesten Englands.
Von Holz, Holz- und Strohwaaren wurden 1888 224.032 q im Werthe von
5,353.966 Lire eingeführt, und zwar lieferte Frankreich grobe Korb- und Flecht-
arbeiten, Spielzeug und Strohhüte, Deutschland billige Möbel und England Ge-
räthschaften aus Holz und besonders Wagen, Oesterreich gebogene Möbel.
In raffinirtem Petroleum behauptet Amerika den Vorrang gegen das
russische, welches 1885 zuerst hier erschien. Eine Gesellschaft hat 1888 ein
grosses Reservoir für 1100 m3 Barrels Petroleum errichtet, das Municipium im
December 1889 eines mit dem Fassungsraume von 3315 m3 Barrels eröffnet, so
dass Genua nun mit den anderen Petroleumplätzen in Wettbewerb treten kann.
Es wurden 1888 176.483 q gereinigten und 49.930 q schweren Mineralöles,
1887 204.217 q gereinigten und 19.048 q schweren Oeles eingeführt.
Der Rückgang des Jahres 1888 ist die Folge einer grossen Erhöhung
des Zolles und wohl auch des Importes kaukasischen Oeles in anderen italienischen
Häfen, von wo es seinen Weg weiter über die Halbinsel nimmt.
Die Einfuhr von Steinkohle steigt mit jedem Jahre, der Vergrösserung
der Schiffahrt und der einheimischen Industrie folgend; 1888 1,301.402 t, 1887
1,246.865 t. Cardiff und Newcastle, dann Schottland sind die wichtigsten Be-
zugsquellen.
Hervorragend ist Genuas Einfuhr an Metallen, Metallwaaren und Mine-
ralien. Die Artikel dieser Gruppe hatten 1888 einen Werth von 29·5 Mill. Lire.
1888 wurden Brucheisen 688.904 q und andere Metalle etc. 113.862 q, Summa
802.766 q (1887 1,367.085 q) eingeführt. England beherrscht den gesammten Eisen-
handel im Ganzen auch heute noch mit 66 %.
Brucheisen, bestimmt zur Verarbeitung in den Fabriken Liguriens, sendet
Grossbritannien, dann Frankreich und Deutschland. Gusseisen hauptsächlich eben-
falls England (131.899 q), dann Spanien, Belgien, Deutschland, Frankreich;
deutsche Waare geht seit 1888 über Holland ein. Gusswaaren sind fast ledig-
lich englischen Ursprungs. Rohes Schmiedeisen und Stabeisen wird aus
England und letzteres besonders auch aus Deutschland bezogen. Ebenso behauptet
Deutschland in Eisenblech nächst England den zweiten Platz. Eisenbahn-
schienen kommen in erster Linie wegen der billigeren Seefracht aus Belgien,
aus Deutschland direct und über die Niederlande, doch führt Krupp in Essen auch
über Antwerpen aus; und dann erst folgt England. Einfache Eisenwaaren
liefern ebenfalls England und Deutschland fast ohne Concurrenz anderer Staaten
und letzteres auch Geräthschaften und Werkzeuge.
Messing- und Bronzeröhren und -Waaren sind meist englischen oder
belgischen Ursprungs. Sonst sind noch wichtigere Posten des Imports Zinkblech
aus Deutschland und aus England, Locomotive und Schiffsmaschinen aus-
[383]Genua.
schliesslich aus England. Nicht namentlich aufgeführte Maschinen und
Theile derselben liefert England und in weit geringerem Masse Deutschland und
Frankreich, das auch fast alle Destillirapparate einführt.
Metalle sind auch einer der wichtigsten Artikel des Transitoverkehres zu
Lande, bestimmt zur Verarbeitung in den industriellen Etablissements der Riviera,
namentlich in jenen von Prá und Sestri Ponente.
Der Entrepôtverkehr Genuas erreichte 1888 nur 479.015 q, 1887
973.825 q.
Von den wichtigsten Fabriken Liguriens haben wir die Zuckerraffinerien, die
Fabriken für Teigwaaren, die Reisschälfabriken schon aufgeführt. Andere Zweige
der Industrie sind Baumwollspinnerei und Weberei, Seiden- und Schafwollweberei
und Wirkwaaren. In allen diesen Zweigen hat die Hausindustrie einen hervorragen-
den Antheil. Die grösste der acht Fabriken für Tauwerk ist in Sampierdarena;
die Erzeugung leidet unter der Abnahme der Segelschiffahrt.
Es gibt hier Lederfabriken, welche mit Dampfmaschinen arbeiten, zwei grosse
Seifenfabriken, Fabriken für Zündhölzchen, Blechbüchsen.
Eine grosse Bedeutung haben seit einigen Jahren an der ligurischen Küste
von Savona bis Spezia die Ateliers für Eisenconstructionen erlangt, von denen
manche von Ausländern errichtet wurden. Ihre Sitze sind Sampierdarena, Sestri
und Savona. In Sestri baut man auch eiserne Handelschiffe.
Auf den Schiffsverkehr Genuas war neben dem Handel auch die Organi-
sirung der Auswanderung über diesen Platz von grossem Einfluss. Wie der
Handelsverkehr Bremens und Hamburgs mit Nordamerika, so empfing jener Genuas
mit Südamerika dadurch eine grosse Anregung. Die Auswanderer sind der best-
rentirende Exportartikel, welcher die Ausfahrt so gut bezahlt, dass man Rück-
fracht zu billigeren Preisen nehmen kann. Und diese nach Hunderttausenden zäh-
lenden Italiener decken die meisten ihrer Bedürfnisse sowohl die des gewöhnlichen
als auch die des verfeinerten Lebens aus dem Mutterlande.
Es wanderten über Genua nach überseeischen Ländern aus 1888 181.537,
1887 101.280, 1886 52.852, 1885 71.110 Individuen. Die Auswanderer benützen
überwiegend die nationalen Schiffe der Navigazione Generale und der La Veloce.
1888 wurden befördert 126.828 Auswanderer auf 125 nationalen Dampfern,
54.709 auf 66 Dampfern fremder Flagge.
Die Auswanderer waren meist Italiener, nur ungefähr 4000 kamen aus Süd-
tirol und dem Canton Tessin. Südamerika war das Ziel Aller, doch ging 1885
nicht mehr wie früher die Mehrzahl nach Argentinien, sondern nach Brasilien, wo
die tüchtigen italienischen Bauern und Taglöhner einen sehr werthvollen Zuwachs
der Bevölkerung bilden. Nur die abnorme Dichte der Bevölkerung, welche Ober-
italien aufzuweisen hat — von dort stammen die meisten Auswanderer —, macht
diesen Verlust an Arbeitskräften weniger fühlbar.
Die Auswanderung wird noch lange steigen, denn drüben wird der agricole
Arbeiter leicht Grundeigenthümer, in Italien bleibt er ewig hartgedrückter Colono,
das ist Pächter auf fremdem Gute. Der Geist der Association, den die Italiener
überall zeigen, beim Eisenbahnbau in Europa und beim Ankauf von Land in Süd-
amerika, bietet eine gewisse Gewähr für das Gedeihen der italienischen Nieder-
lassungen auf der südlichen Erdhälfte, für deren Gedeihen wieder umgekehrt die
regelmässige kräftige Einwanderung ebenso Grundbedingung ist, wie seiner Zeit
für das Emporblühen der Union das Menschenzuströmen aus Nordeuropa.
[384]Das Mittelmeerbecken.
Wenden wir nun unsere Aufmerksamkeit dem Schiffsverkehre Genuas zu,
so erblicken wir folgende Erscheinung:
| [...] |
Wir bemerken gleich, das 1889 auch jene Schiffe eingerechnet sind, welche
aus Noth den Hafen anlaufen mussten, bei den früheren Jahren aber nicht; ihrer
waren 1888 461 Schiffe mit 56.674 t.
Nach der Tonnenzahl dominirt die italienische Flagge nur in der Segel-
schiffahrt, in der Dampfschiffahrt nimmt sie erst die zweite Stelle ein; sie stellt
insbesondere für den internationalen Verkehr kaum den vierten Theil der Tonnen-
zahl und hat nur in der Cabotage das Uebergewicht. Die Betheiligung der eng-
lischen Flotte an der Küstenschiffahrt ist wohl auffallend gross (1888 544.605 t),
aber sie erklärt sich leicht daraus, dass nach italienischem Gebrauche jedes vom
Auslande kommende Schiff, das mehr als einen italienischen Hafen anläuft, zur
Küstenschiffahrt gerechnet wird. Beachtenswerth bleibt es, dass sich 1889 die
Tonnenzahl der englischen Schiffe neuerdings vergrössert hat, sie erreichte
2000 Schiffe mit 2,265.177 t, das ist doppelt so viel als 1880. Die starke Be-
theiligung Deutschlands (1889 202 Schiffe mit 323.133 t) ist die Folge des An-
laufens der Dampfer des Norddeutschen Lloyd aus Bremen und der Linie Slo-
mann aus Hamburg. Die Marine der Niederlande ist in Genua 1888 plötzlich an
die fünfte Stelle vorgerückt, weil zwei Gesellschaften dieses Landes auf ihren
Fahrten nach Java Genua anlaufen. Dass Frankreichs Betheiligung gesunken ist,
erklärt sich aus dem Fehlen eines Schiffahrtsvertrages zwischen beiden Ländern
seit 1888, sie erreichte 1889 367 Schiffe mit 339.007 t, gegen 529 Schiffe mit
501.843 t im Jahre 1888. Die merkwürdigste Erscheinung der letzten Jahre ist
aber die neuerliche Zunahme der Segelschiffahrt im Hafen von Genua nach Ton-
nengehalt und Zahl der Schiffe.
Den stärksten internationalen Seeverkehr hat Genua mit Grossbritannien,
Frankreich (1888 588.493 t), Südamerika (419.945 t), mit Russland-Rumänien, endlich
mit Griechenland-Türkei, einen minder umfangreichen mit Spanien-Portugal, Union
und Deutschland. Aus Grossbritannien kamen 1888 709 Schiffe mit 809.220 t an, fast
alle beladen, dahin gingen zurück nur 70 Schiffe mit 76.325 t, und von diesen war
der grössere Theil unbeladen. Die englischen Schiffe gingen von Genua meist un-
beladen nach Griechenland-Türkei, nach Russland-Rumänien, nach Algier.
Zahlreich sind die regelmässigen Verbindungen Genuas. Von den italienischen
Dampfergesellschaften ist die wichtigste die schon oben genannte Navigazione
Generale Italiana (Società riunite: Florio e Rubattino) mit dem Sitze in Rom
und mit Subdirectionen in Genua und Palermo. Die Subdirection in Genua ist
bedeutender, ihr untersteht ausschliesslich der überseeische Verkehr. Die Gesell-
schaft verfügt über 112 Dampfer und wird nach dem Vertrage vom 7. Februar
[385]Genua.
1877 von der italienischen Regierung für ihre sämmtlichen Linien, ausgenommen
die nach Südamerika, subventionirt.
Diese Gesellschaft vermittelt den Verkehr Genuas mit Marseille, Sardinien,
den Hafenplätzen Italiens, Sicilien und über Palermo mit Tunis, Tripolis und
Malta. Die zweite Gruppe von Linien umfasst Griechenland, die Levante und das
Schwarze Meer, mit denen Genua theils direct, theils über Brindisi verbunden ist.
Eine Linie geht nach Bombay, Singapore und Hongkong.
Sehr lebhaft ist der Verkehr mit Südamerika. Nicht weniger als 32 grosse
Oceandampfer haben schon in einem Monate den hiesigen Hafen verlassen, um
Menschen und Waaren an die Ostküste Südamerikas zu bringen. Jede Woche geht
ein Dampfer über Barcelona und Gibraltar nach den La Plata-Häfen, jede zweite
Woche einer über Cadiz nach Rio de Janeiro und Santos. Alle zwei Monate dehnt
einer dieser letzteren seine Fahrten bis nach der pacifischen Küste aus und läuft
ausser Valparaiso und Callao auch alle diejenigen Häfen jener Küste an, für welche
Frachtgüter vorhanden sind. Neben der Navigazione generale unterhalten die Ge-
sellschaft La Veloce, Fratelli Lavarello und die Cie Fraissinet regelmässige Ver-
bindungen zwischen Genua und dem La Plata.
Genua ist eine wichtige Station der von Bremerhaven auslaufenden ost-
asiatischen und australischen Linien des Norddeutschen Lloyd.
Die Linie Slomann vermittelt den Verkehr mit Hamburg, Barcelona, Mar-
seille und allen italienischen Häfen bis Palermo.
In unregelmässigen Zwischenräumen kommt noch eine ganze Reihe Schiffe
deutscher Rhedereien nach Genua, unter denen die der Hansa die bedeutendsten sind.
Nicht weniger als sieben britische Linien verbinden durch regelmässige
Fahrten Genua mit Liverpool, London und Hull. Die weltbekannte Cunard-Linie
geht bis Triest, Fiume und Venedig, die Anchor und die Leyland-Line über Liver-
pool nach New-York.
Diese Linien besuchen die Küstenplätze Italiens und Siciliens und sind
daher bei dem Küstenverkehre eingerechnet.
Da diese Art des Verkehres seit dem Ablaufe des Schiffahrtsvertrages den
französischen Schiffen in Italien untersagt ist, so wurde für den bisherigen
regelmässigen Dienst der Compagnie Générale Transatlantique nach Südamerika
die Compagnie Nationale gegründet, welche einmal im Monate Auswanderer nach
Südamerika bringt. Französische Schiffe gehen nach Marseille, Nizza, Cannes.
Die 1888 errichtete spanische Linie Compan̅ia Transatlantica, welche ein-
mal im Monate nach Südamerika geht, ist ebenfalls aus der Transatlantique her-
vorgegangen.
Im Jahre 1888 haben auch zwei niederländische Linien, darunter die alt-
renommirte „Neederland“ auf ihren Fahrten nach Java Genua als Zwischenhafen
gewählt. Auch aus Antwerpen und Kopenhagen gehen eigene Dampferlinien
nach Genua.
Am 31. December 1888 besass Genua eine Marine von 105 Dampfern mit
96.606 t und von 777 Seglern mit 293.076 t. Gegen das Vorjahr zeigt sich bei
den Dampfern eine Vermehrung um 9937 t, bei den Seglern eine Verminderung
um 33.912 t.
Für den Kenner beweist wohl kein Umstand so sehr die gesicherte
Blüthe Genuas als dieser Wettbewerb so alter, gut renommirter Rheder
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 49
[386]Das Mittelmeerbecken.
um den Antheil am Handel eines Hafens, der vor 30 Jahren noch
fast verödet, nur selten von Dampfern grosser Compagnien aufgesucht
wurde. Wie viel gesünder ist das Aufblühen Genuas, als das von
Triest oder Venedig! Genua ist der Haupterbe des durch den Suez-
Canal wieder erwachten Ueberlandhandels nach Indien, aber es ist
nicht nur der reiche Erbe durch das Glück der geographischen
Lage, zumeist hat es sich seinen Löwenantheil durch die eigene
Intelligenz seiner Bürger erstritten, welche vor wenigen Jahren auch
eine Hochschule für Handelswissenschaften errichtet haben, die Scuola
superiore di applicazione per gli studi commerciali.
In Genua bestehen 11 Banken und Banksuccursalen. Die wichtigsten sind:
Banca generale, Banca di Genova und Banca Nazionale; zahlreiche Assecuranz-
Gesellschaften haben hier ihren Sitz. Der Vermittlung des grossartigen Verkehres
dienen eine Börse und ein Clearinghouse. Ferner sind zu nennen das „Bureau für
kaufmännische Informationen“ (A. Caligo \& Cie.) und das Weltannoncenblatt
„Globus“.
Consulate haben in Genua: Argentinien, Belgien (G.-C.), Bolivia, Brasilien
(G.-C.), Chile, Columbia (G.-C.), Costarica, Dänemark, Deutsches Reich (G.-C.),
Dominik. Republik (G.-C.), Ecuador, Frankreich (G.-C.), Griechenland, Gross-
britannien, Guatemala, Haïti (G.-C.), Hawaii, Honduras, Liberia (G.-C.), Mexico
(G.-C.), Monaco (G.-R.), Niederlande (G.-C.), Nicaragua (G.-C.), Oesterreich-Ungarn
(G.-C.), Paraguay, Persien, Peru (G.-C.), Portugal (G.-C.), Russland (G.-C.), Sal-
vador (G.-C.), S. Marino, Schweden-Norwegen (G.-R.), Schweiz, Serbien, Spanien
(G.-C.), Türkei, Uruguay, Venezuela, Vereinigte Staaten.
Von den zahlreichen Häfen Liguriens hat neben Genua nur
Savona grössere Bedeutung für den Handel, weil es ausser den
Bahnen, die längs der Küste laufen, noch eine Eisenbahnverbindung
mit dem Innern nach Turin und Alessandria besitzt.
Sein Handel ist lebhaft, die Fabriken der Stadt und Umgebung blühen,
so die Eisen- und Stahlwerke, die Fabriken für Glas, Thonwaaren und Leder.
Der Handel ist wesentlich Einfuhrhandel, seine wichtigsten Artikel sind
Getreide (1888 611.938 q), besonders Weizen aus Russland, Brucheisen, Gusseisen
und englische Kohlen. Der Schiffsverkehr umfasste 1888 881 Dampfer mit 778.461 t
und 1694 Segelschiffe mit 175.822 t.
[[387]]
Marseille.
Sechshundert Jahre vor Christus von handelskundigen Griechen
gegründet, ragt die Stadt einer ungeborstenen Säule gleich hoch
empor in der Geschichte des Mittelmeeres, ja in der Geschichte des
europäischen Handels. Eine blühende Zeitgenossin der Handelsemporien
der antiken Welt hat Massilia (Massalia) den Stürmen von Jahr-
tausenden widerstanden, und erhob sich, wiederholt bezwungen,
immer wieder zu neuem Leben und Glanze. Massilia sah Tyrus unter-
gehen und Carthago, ihre mächtige Rivalin, enden; Massilia beherrschte
den Osten des Mittelmeeres schon zu einer Zeit als Alexander der
Grosse den ersten Spatenstich zur Gründung Alexandrias unternahm;
Massilia sah das alte Rom und Byzanz, Athen und Korinth zu Glanz
erstehen und erlebte deren Untergang, Massilia sah das alte Venedig,
Genua und Pisa erblühen und zusammenbrechen.
Obgleich niemals um die Weltherrschaft kämpfend, sah Massilia
Weltreiche in Trümmer sinken und sich selbst zur Grossmacht des
Welthandels erhoben. Mit jugendlicher Thatkraft strebt Marseille
weiter vorwärts und verdunkelt durch glänzende Erfolge neben allen
neueren Hafenstädten des Mittelmeeres auch Constantinopel und Ale-
xandria, die einzigen noch heute mächtigen von allen antiken Handels-
Metropolen.
An Marseille lernt man am besten erkennen, wie die Bedin-
gungen für die Blüthe eines Platzes von der Natur vorgezeichnet sind.
All die herben Schicksale, welchen die Stadt ausgesetzt war, alle
Hindernisse, welche durch den Barbarismus zahlloser Kriege dem Auf-
schwunge wiederholt und oft lange Zeit hindurch entgegenstanden, ja
selbst die Bevorzugung von Concurrenzstädten; nichts vermochte den
bleibenden, verjüngenden und kräftigenden Einfluss der vortheilhaften
natürlichen Lage, welche stets die Quelle des soliden Wohlstandes
ist, zu vernichten.
Kein Theil der nächstgelegenen Küste hätte für die Anlegung
49*
[388]Das Mittelmeerbecken.
eines Hafens solche Vortheile zu bieten vermocht als die Einbuchtung
zwischen dem Cap Couronne im Westen und jenem nächst der Insel
Maire im Süden.
Die hier der Küste vorgelagerten Inseln Ratoneau, Pomègues
und die kleine Ile d’If sowie das vorspringende Cap Endoume
schützen die Position gegen den Seegang aus Süden und Südwesten,
und nur Westwinde stürmen direct zur Küste. Doch auch diese sind
gegenwärtig nicht mehr im Stande, die Thätigkeit zu unterbrechen,
denn Marseille besitzt gegenwärtig nicht mehr den Port vieux allein,
sondern verfügt über einen der grossartigsten Kunsthäfen der Erde,
ausreichend, um den ungeheueren Waarenverkehr zu bewältigen, der
sich hier concentrirt. Der Port vieux war der Hafen von Massilia,
dessen schmale Einfahrt durch Befestigungen vertheidigt wurde.
Westwärts von Marseille weit über das sumpfige Gebiet des
Rhonedeltas (Bouches du Rhône) zieht sich eine an Haffbildungen
(Étangs) reiche Flachküste um den Golfe du Lion, an welchem von
bedeutenderen Hafenplätzen nur das aufblühende Cette grössere Be-
achtung verdient.
Die Wassertiefe im Golfe du Lion beträgt infolge der Rhône-
Ablagerungen im Durchschnitt nur etwa 80 m. Der Meeresboden fällt
jedoch 12 Seemeilen südlich von Marseille von 200 m rasch ab in die
gewaltigen Einsenkungen des Mittelmeeres.
Marseille bietet von See aus einen an malerischen Effecten sehr
reichen und in der Gesammtheit grossartigen Anblick. An der Aus-
mündung einer sanft absteigenden, von Bergen eingeschlossenen Küsten-
ebene breitet sich die Stadt als ein leichtgewelltes Häusergewirre von
6 km Länge vor uns aus. Thürme, Kuppeln und Schlote ragen dort
und da empor, und Grossbauten, wie die monumentale Kathedrale am
Quai de la Joliette, oder die robusten fremdartigen Formen des Fort
St. Jean, drängen als Beherrscher ganzer Partien im Bilde sich auf.
Den Vordergrund nimmt das Gebiet des immensen Hafens ein, hinter
dessen gewaltigem Wellenbrecher Schiff an Schiff sich reiht. Das
qualmt, pustet und lärmt mit den Locomotiven der Quaibahn um die
Wette; fleissige wohlorganisirte Arbeit wird hier geleistet in dieser
gewaltigen Werkstätte des Welthandels. Unaufhörlich ist die Zufahrt
der grössten Dampfer, der imposantesten Segelschiffe aus allen Punkten
des Erdballs. Enorme Waarenmengen langen hier an, und staunend
kann man beobachten, mit welcher Raschheit sie ausgeschifft und auf
andere Routen geleitet werden.
All die grossartigen Magazine, über die der Hafen gebietet,
[389]Marseille.
wären ungenügend, die reichen Schätze des Handels zu bergen, wenn
es nicht gelingen würde, die Schnelligkeit des Umsatzes auf jenen
Höhepunkt zu bringen, der hier grösstentheils noch immer durch
primitive Mittel erreicht worden ist.
An der Südseite rückt in das Bild der Stadt die malerische
Höhe der Nôtre-Dame de la Garde, von deren 116 m hohen Spitze
der ehrwürdige Bau der berühmten Kirche gleichen Namens herab-
sieht. Dort ist auch eine Signalstation im Betriebe. Die schluchten-
reichen Abhänge dieses isolirten Berges senken sich in reichen Formen
und mit Ansiedlungen bedeckt zur Küste herab und bilden eine höchst
wirksame Staffage des Panoramas der Stadt.
Die ungefähr 100 m breite Einfahrt in den Vieux Port ist kaum
wahrnehmbar. Das Bassin desselben erweitert sich innerhalb bis auf
350 m Breite bei einer Längserstreckung von 930 m. Es ist ein herr-
liches Hafenbecken, das mehreren hundert Schiffen Raum und Schutz
gewährt. Dort herrscht denn auch im innigsten Contacte mit der Stadt
ein äusserst lebhaftes Treiben, wie es kaum bewegter gedacht
werden kann. Das Innere der ganz modern aussehenden Stadt, beson-
ders die wunderbare Rue Cannebière, um welche selbst Paris Mar-
seille beneidet, verräth zunächst den Reichthum der Bewohner, aber
zeigt uns dafür nicht ein Stück, das den Ruhm vergangener Jahr-
hunderte verkörperte. Nichts verräth die Geschlechter, die hier im
Laufe von 2500 Jahren Herren des Bodens waren.
Die Umgebung von Marseille ist ein von Bewässerungsleitungen
durchzogener fruchtbarer Thalgrund, mit zahlreichen Ortschaften und
Gehöften bedeckt und von Hügelreihen und ansehnlichen Bergen ein-
gefasst, an deren Abhängen unzählige der hier Bastides genannten
Landhäuser in bescheidenen Einfriedungen lagern. Fast jeder Bürger
von Marseille besitzt seine Scholle Erde im Freien, und der Werk-
mann, dessen Mittel es nicht gestatten, ein gemauertes Landhaus mit
solidem Ziegeldach zu erbauen und durch einige Fichten oder Pinien
zu zieren, der stellt wenigstens eine Hütte sich her. Da nun die Be-
wohner von Marseille ebenso passionirte Fischer, wie Nimrod er-
gebene Jäger sind, so findet man fast bei allen grösseren Bastiden
auch Jagdstände (postes), das sind mit Schiessscharten ausgestattete
Laubhütten, in welchen der Jäger das Wild erwartet.
Leider gestatten die zahllosen Einfriedungsmauern keinen Aus-
blick über das Terrain.
Ueber dem Thale ruht der Segen einer prächtigen und üppigen Vege-
tation, die selbst den Fels mit einer Decke duftender Kräuter überzieht.
[390]Das Mittelmeerbecken.
Das ist das Bild der Umgebung der mächtigsten Handelsstadt
von Frankreich.
Marseille ist die Hauptstadt des Departements Bouches du
Rhône und zählt ausschliesslich einer starken fluctuirenden Hafen-
bevölkerung 376.143 Einwohner.
Die Stadt ist Sitz eines Handelsgerichtes und einer Handels-
kammer, einer Börse und eines Bischofs, der Oberbehörden des De-
partements und des Commandos des 15. Armeecorps.
Schon in alten Zeiten ein Hort der Kunst und besonders der
Wissenschaft, glänzt Marseille auch heute durch seine zahlreichen
wissenschaftlichen Institute, höheren Anstalten und Sammlungen, deren
Unterhaltung der allgemeine Wohlstand gestattet und fördert.
Ausser zahlreichen Elementar- und Mittelschulen besitzt die
Stadt neben einer von der Akademie zu Aix delegirten Facultät der
Wissenschaften eine vollständige Schule für Medicin und Phar-
macie, eine Handelsakademie (École superieure), ein Musik- und De-
clamations-Conservatorium, eine sehr gut besuchte Schule der schönen
Künste, ein Lyceum mit Kanzeln für arabische und neugriechische
Sprache, dann das Collegium Belsunce, zwei Seminare, das Pensionat
des frères, eine höhere Töchterschule, eine Schiffsjungen-Schule und
verschiedenes Andere.
Von grosser Wichtigkeit für die Schiffahrt ist die am Plateau
von Longchamp nächst dem zoologischen Garten errichtete Sternwarte,
die 78 m über dem Meere in der geographischen Position von 43° 18′ 19″
nördl. Breite und 3° 3′ 24″ östl. Länge von Paris liegt. Die mit Instru-
menten gut dotirte Anstalt verfügt unter Anderem über ein grosses
Teleskop von 80 cm Objectiv-Durchmesser.
Wie wir bereits anlässlich der Schilderung von Smyrna erwähnten, wird die
Gründung von Massilia als das Werk der altgriechischen Colonie Phokäa, die am
Eingange des Smyrna-Golfes blühte, dargestellt; indes beginnen neue Forscher
mit Recht zur Annahme hinzuneigen, dass möglicherweise schon die Phönikier
die ersten Pionniere in Massalia gewesen seien, daher das Alter der Stadt
noch um zwei bis drei Jahrhunderte höher zu schätzen sei. Es wird uns be-
richtet, dass um 600 v. Chr. eine von Limos und Protis geführte Expedition der
Phokäer nach mancherlei Abenteuern an der Stelle des heutigen Marseille gelandet
und die Stadt Massalia gegründet habe.
Der Wohlstand der neuen Colonie, welche durch Freundschaftsverbindungen
erstarkte, die Eroberung des jonischen Mutterlandes durch die Perser hatten
weitere Zuzüge von Phokäern und anderen Landsleuten zur Folge, und bald sah
Massalia sich im Besitze einer Kriegs- und Handelsflotte. Bei Zeiten mit Rom
verbunden, bestand sie mehrere Seegefechte gegen die mächtige Rivalin Carthago.
Diese aber verband sich mit den Liguriern, welche den Wohlstand der auf ihrem
[391]Marseille.
Grund und Boden entstandenen Colonie mit Neid und Hass verfolgten. Unter
Catumandes erschienen die Ligurier vor der Stadt, aber Minerva bewahrte letztere
vor dem Untergange, und als Carthago geendet hatte, sah Massalia sich auf
dem Höhepunkte der Macht. Aber nun zeigte sich gar bald der uralte Kreislauf,
in dem Macht und Verfall getrieben werden. Massalia, die Helferin Roms im
Kampfe gegen Carthago und Ligurien, fiel nun selbst unter die Gewalt der
grossen Weltbeherrscherin.
Nach ruhmvoller Vertheidigung zog Cäsar in Massalia ein und schonte die
berühmte Stadt, doch liess er sich den Schatz, die Waffen und alle Schiffe aus-
folgen. Auch verlor die Stadt alle Colonien mit Ausnahme von Nizza, dafür wurde
sie ein Sitz der Kunst und Wissenschaft, und für den jungen Adel Galliens, selbst
für viele Römer blieb Massalia noch in der Kaiserzeit ein beliebter Aufenthalt.
Griechische Sprache wurde hier noch im III. Jahrhundert n. Chr. gepflegt, Ab-
schriften griechischer Werke sind hier noch im frühen Mittelalter gemacht worden.
Die Zeit der Völkerwanderung brachte schwere Drangsale über die Stadt;
Westgothen, Saracenen und Piraten überfielen und entvölkerten sie, aber konnten
sie nicht vernichten. Erst gegen Mitte des X. Jahrhunderts erhebt sich Marseille
unter der Herrschaft der Vicomtes aus dem Abgrunde des Verfalls, um sich 1112
als Republik zu constituiren.
Schon zur Zeit der Römer bestand Marseille aus zwei durch eine Mauer
von einander gesonderten Theilen, und zwar war die obere Stadt römisch, die
untere aber griechisch. Letztere hatte ihre alten freiheitlichen Institutionen be-
wahrt. Diese eigenthümliche Sonderung hatte sich Jahrhunderte lang erhalten und
im Mittelalter finden wir Marseille sogar in drei Städte geschieden, deren jede
eine Regierung, ein eigenes Gebiet und einen abgesonderten Hafen besass. Zur
unteren Stadt gehörte der antike Hafen (Vieux port), die obere bischöfliche Stadt
(ville épiscopale) besass die Bucht von Joliette (damals Port gaulois, Porto Gallo
gen.), und zur Abtei St. Victor endlich gehörte der Hafen St. Lambert (Bucht
Catalans).
Während der grossen, durch die Kreuzzüge hervorgerufenen Bewegung,
blühte die Stadt lebhaft auf, indes zwang der ehrgeizige Karl v. Anjou die Republik
Marseille 1253 zur Unterwerfung, und als selbe sich mit Alphons X. verband, um
die Freiheit wieder zu gewinnen, bezwang Karl die Stadt nach langer Belagerung
durch Hunger (1256) und besetzte die Citadelle.
Im XV. Jahrhunderte bemächtigte sich Alphons von Aragon der benach-
barten Stadt Ciotat, die er plündern liess, als aber die tapferen Marseiller zur
Hilfe herbeigeeilt waren und die Feinde vertrieben hatten, griff Alphons, darüber
erbittert, nun Marseille zu Land und See an. Die Stadt verfiel der Plünderung
und den Flammen (1423).
Kaum war wieder Wohlstand und Behagen zurückgekehrt, als der Conné-
table von Bourbon (1524) die Stadt durch ein Heer von 40.000 Mann belagern
liess. Diese Belagerung bildet durch die Todesverachtung und Ausdauer der Ver-
theidiger, noch mehr aber durch den Heldenmuth der Frauen von Marseille,
welchem die Rettung zu verdanken war, eine der denkwürdigsten Episoden in der
Geschichte der Stadt. An dieses Ereigniss erinnert der Name des Boulevard des
Dames, einer schönen Strasse, die vom Quai de la Joliette zur Place d’Aix ge-
führt ist.
An den Religionskriegen des XVI. Jahrhundertes finden wir Marseille leb-
[392]Das Mittelmeerbecken.
haft betheiligt, doch verliert die Stadt bald ihre alte Unabhängigkeit. Während
der Fronde erstürmt Ludwig XIV. am 2. März 1660 die Stadt und vereinigt
deren Gebiet mit Frankreich.
Aber inmitten der Segnungen eines langen Friedens trat im Mai 1720 die
Pest als furchtbare Geissel auf und wüthete ein volles Jahr hindurch.
Neben Beweisen von Hingebung für das allgemeine Wohl und von Herois-
mus seitens vieler Bürger erwarb der opferfreudige Muth und die Seelengrösse
des Bischofs Belsunce, welcher der Kranken und Sterbenden mit liebevoller Sorg-
falt sich annahm, die gebührende Bewunderung und Dankbarkeit.
Die grosse Revolution von 1789 und die lange Reihe von Kriegen gegen
England schlugen dem Wohlstande von Marseille tiefe Wunden. Dadurch stieg der
Hass gegen Napoleon I., den Zerstörer aller Hoffnungen, so hoch, dass, als 1814
der Kaiser aus der Gefangenschaft auf Elba entfloh und in Cannes landete, Mar-
seille eine Zahl von Freicorps organisirte, um den Corsen zu vertreiben. Napoleon
war jedoch unterdessen nordwärts seinem Schicksale entgegengeeilt, das den Gi-
ganten bald genug bei Waterloo für immer niederwarf.
Marseille erklärte sich nun offen für die weisse Fahne der Royalisten (Juni
1815), das Volk vertrieb die Besatzung, und sich dann allen Excessen hingebend,
wüthete es mit Mord und Plünderung selbst gegen die Bürger der eigenen Stadt,
die schliesslich zu den Waffen griffen und Ruhe herstellten.
Seitdem erfreut sich Marseille der Segungen einer steten Entwicklung, die
nur vorübergehend durch anarchische Unruhen 1870 und 1871 unterbrochen wurde.
Wenn man von der Altstadt, die nördlich des Vieux Port liegt,
absieht, ist Marseille im Allgemeinen regelmässig angelegt, wenngleich
die Stadt auch nicht jene geometrische Symmetrie besitzt, die vielen
amerikanischen Städten eigen ist. Aber Marseille besitzt dessen-
ungeachtet einige Strassenzüge von ungewöhnlicher Länge. Zwei der-
selben beanspruchen als wichtige Verkehrswege und Orientirungs-
achsen der Stadt genannt zu werden. Die eine durchschneidet vom
neuen Hafen aus in gerader Richtung nach Südsüdosten die ganze
Stadt in einer Länge von mehr als 5 km und führt in ihrem Laufe mehrere
Namen, wie: Boulevard de Paris, Rue d’Aix, Cours Belzunce, Cours
St. Louis, Rue de Rome und Le Prado. Sie durchschneidet mehrere
Plätze, und zwar: Place Pentagone, Place d’Aix mit hübschen Triumph-
bögen, Place de Rome und Place Castellane, von welch letzterer an
die breite, mit schönen Baumalleen geschmückte Promenade Le Prado
hinaus ins Freie führt, um beim Rond-Point westwärts gegen die
Küste zu den prächtig gelegenen Bains du Prado, stets in gleicher
Breite, abzubiegen.
Die Mitte der Place Castellane schmückt ein Wasserbassin, aus
dem ein hoher Obelisk sich erhebt.
Die zweite Orientirungsachse der Stadt durchschneidet die eben-
gedachte am Cours St. Louis unterm rechten Winkel. Sie beginnt als
[[393]]
Marseille.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 50
[394]Das Mittelmeerbecken.
Rue Cannebière am Vieux Port und erstreckt sich gleichfalls den
Namen wechselnd als Rue Noailles, Allée de Meilhan, Cours du
Chapitre, Boulevard Longchamp bis zum Château de Longchamp
nächst dem zoologischen Garten.
Der belebteste Theil der Stadt ist ohne Zweifel jene Partie der-
selben, wo die Strassen Cannebière, Noailles mit dem schattigen Cours
Belzunce und St. Louis zusammentreffen.
Dieses Gebiet ist denn auch das Centrum der Stadt. Hier
herrscht die grösste Bewegung, denn aus vier Richtungen strömen
die Passanten hier zusammen, und die schönsten und grossartigsten
Verkaufsgeschäfte und fashionablen Magazine haben sich hier etablirt.
Die Cannebière (Hanfstrasse, denn hier lagen einstens die grossen
Seilereien) gilt als die schönste Strasse der Stadt; sie flankirt den
Börseplatz, auf dem die Börse und das Gebäude des Handelsgerichtes
sich erheben. In der Rue Noailles, die gleichfalls reich an prächtigen
Monumentalbauten ist, liegen die grandiosen Hôtels Louvre, de la
Paix, de Marseille und de Noailles.
Als beliebte Promenaden verdienen die schattigen Alleen des
Cours Belsunce erwähnt zu werden, längs welchen schöne Kaffee-
häuser, elegante Gasthöfe und grosse Hôtels sich etablirten und wo
auch das Marmorstandbild des berühmten Bischofs Belsunce einen Platz
gefunden hat.
Sehr besucht sind gleichfalls die Alleen von Meilhan und jene
des Capucines, welche das hübsche Gebäude der Faculté de Sciences
von zwei Seiten einschliessen.
Seiner vielen Blumenpavillons wegen gewährt der Cours St. Louis
ein reizendes Bild.
Während des Sommers ist die herrliche Avenue des Prado be-
sonders belebt. Beim Rond-Point erhebt sich die Arena, in welcher
an Sonntagnachmittagen die hier beliebten Stierkämpfe abgehalten
werden.
Die Fortsetzung des Prado führt, von reizenden Villen einge-
fasst, durch eine blühende Gegend zum Meeresstrande, wo zu Füssen
des prächtigen parkumgebenen Château Borily die luftigen Gebäude
der Seebäder sich erheben. Von hier aus führt die erst 1863 voll-
endete reizende Strandpromenade Route de la Corniche in einer Ge-
sammtlänge von 7 km um die vorne erwähnte Anhöhe von Nôtre
Dame de la Garde und mündet erst bei der Anse des Catalans in
das Strassennetz der Stadt. Man geniesst auf dieser selten schönen
Fahrstrasse, die an mehreren Badeanstalten vorbeiführt, einen geist-
[395]Marseille.
erfrischenden Anblick auf das weite Meer und die malerischen Inseln
der Bucht von Marseille.
Ungeachtet der Classicität des alten Marseille, besitzt die Stadt
— wie schon angedeutet — gar keine an die vorchristliche Periode
erinnernden und überhaupt keine wahrhaft alten Bauwerke. Was an
Fragmenten älterer Gebäude vorhanden ist, reicht nicht über das
XI. Jahrhundert zurück. Diese Erscheinung erklärt sich daraus, dass
Marseille nie für Jahrhunderte völlig verarmte und menschenleer wurde,
wie etwa Ravenna. Die Baulust ruhte nie und die späteren Geschlechter
warfen pietätlos die Bauten der Vorfahren um, weil sie Platz und
Material brauchten. So verschwanden die alten Bauwerke in neuen.
Welch ein Unterschied gegen Arles, das allerdings mehr als 1000
Jahre keine Rolle mehr spielt! Was an Marseilles Bauwerken schön
genannt werden kann, ist fast ausnahmslos modern, sogar ganz mo-
dern, und was alt, wie einige Kirchen, ist wiederholt umgebaut.
Nichts erinnert daran, dass man auf dem Pflaster von Marseille nach
Jahrtausenden rechnen kann.
Unter den durch eine auffallende Architektur, Grösse und kost-
bares Material hervorragendsten Monumentalbauten beansprucht die
neue auf einer 9 m hohen, künstlich aufgeführten Plattform ruhende
Kathedrale am Quai de la Joliette den ersten Rang.
Fünf Thüren und Kuppeln überragen die in byzantinisch-roma-
nischem Styl gehaltene Basilika, deren 1852 begonnener Bau gegen-
wärtig der Vollendung entgegengeht. Kein anderer Baustyl hätte die
uralten Beziehungen Marseilles zum Oriente zu versinnlichen vermocht,
wie der erwähnte, in welchem ausser den byzantinisch-romanischen
Motiven auch neuere classische Erinnerungen glücklich verwerthet
erscheinen.
Die alte Kathedrale La Major (Ste. Marie Majoure), am Ende
der Esplanade La Torette gelegen, wurde grösstentheils abgetragen.
Sie soll der Ueberlieferung nach auf den Ruinen eines Baaltempels er-
baut worden sein.
Eine der schönsten Kirchen ist die im byzantinischen Style
gehaltene, auf der Höhe errichtete Nôtre-Dame de la Garde, an deren
Stelle ehemals die aus dem Jahre 1214 entstammte berühmte Capelle
gleichen Namens gestanden hatte. Die neue, 1864 eingeweihte, reich
mit Marmorsculpturen und Malereien gezierte Kirche ist von einer
Kuppel und einem 45 m hohen Thurm überragt.
Die Spitze des letzteren nimmt eine 9 m hohe vergoldete Statue
50*
[396]Das Mittelmeerbecken.
der heiligen Jungfrau Maria ein. Eine Treppe führt bis in den Kopf
der Statue.
Von der breiten Terrasse, auf welcher der imposante Bau sich
erhebt, geniesst man einen völlig zauberhaften Rundblick über die
ganze Stadt, deren weiten Hafen und das unendliche Meer. Zu den
alten Kirchen zählt jene des heiligen Victor, deren erster Bau im
Jahre 410 entstand; wiederholt zerstört, wurde sie erst 1279 in ihrer
jetzigen Form ausgeführt. In den Katakomben dieser Kirche soll der
heilige Lazarus, der hier das Christenthum verbreitete, geweilt haben,
und der heilige Victor der gleichen Tradition zufolge hier mit eini-
gen Genossen seines Martyriums begraben sein.
Die Nôtre-Dame du Mont-Carmel stammt aus dem Jahre 1255,
und Nôtre-Dame du Mont, deren Bau in das Jahr 576 zurückreicht,
erlebte seither mehrere Reconstructionen.
Unter den zahlreichen öffentlichen Gebäuden verdienen die Börse,
das Justizpalais, die Präfectur, das Stadthaus (Hôtel de Ville), das
Palais des Arts de Longchamp und andere wegen ihrer monumen-
talen Anlage genannt zu werden.
Eines der herrlichsten und in allen seinen Theilen stylvollsten
Bauwerke ist das ebengenannte Palais de Longchamp, das nach
den Plänen des Architekten Henri Espérandieu, eines der Erbauer
der neuen Kathedrale, im Jahre 1870 vollendet wurde. W. Bartholdi,
der berühmte Bildhauer, entwarf indes die ersten Pläne zu diesem
Werke.
Die ganze Anlage von Longchamp besteht aus zwei sich gegen-
überstehenden Palais, welche durch eine prächtige Säulenhalle mit
einander verbunden sind. Die Mitte der letzteren nimmt das Wasser-
schloss (Chateau d’Eau) ein, aus dem sich reiche Wassercascaden
hinab in die durch herrlichen figuralen Schmuck gezierten, mit
Blumenbeeten eingefassten Bassins ergiessen. Das Ganze macht den
Eindruck edler Vornehmheit.
In den Palais sind die Gemälde- und Sculpturensammlung
dann das naturhistorische Museum, beide reich an seltenen Objecten,
untergebracht.
Sehenswerth sind auch andere der hervorragenden Anstalten
Marseilles, wie das an phönikischen, egyptischen und anderen clas-
sischen Sculpturen, Waffen, Inschriften u. dgl. reiche Musée des
antiques, dann das Cabinet des medailles, die Ecole des Beaux-arts,
die 86.000 Bände zählende Bibliothek, und andere gut dotirte Stätten
der Wissenschaft, der Menschenliebe und Barmherzigkeit.
[397]Marseille.
Aber auch das edle Vergnügen findet in fünf Theatern, von
welchen das Grand-Théatre das erste, das Theater des Nations das
grösste ist, volle Befriedigung.
Eine grosse Wohlthat für die Stadt bedeutet der nach zehn-
jährigem Bau im Jahre 1849 vollendete Canal von Marseille, die
grandiose Wasserleitung, welche das Wasser der Durance aus einer
Entfernung von 152 km der Stadt zuführt und gleichzeitig die um-
liegende Thalsohle durch Berieselung befruchtet. Der Querschnitt
des Canals ist ein mächtiger, er misst 9·4 m in der Breite und 2·4 m
in der Tiefe. In seinem Laufe ist der Canal 21 km weit unterirdisch
(Länge des grössten Tunnels 3672 m) geführt. Er liefert im Winter
5·7 m3 und im Sommer 10 m3 Wasser in der Secunde. Eine Zahl
von Reservoirs mit dem Gehalte von nahezu 7 Millionen Cubikmeter
sind in der Stadt und längs der Canalstrecke errichtet.
Der natürliche Fall des Wassers wird in 104 Werkstätten als
Treibkraft mit einer Gesammtleistung von 2450 Pferdekräften ausge-
nützt, und gestattet die Fülle des zugeleiteten Wassers die Speisung
von 600 öffentlichen Auslaufbrunnen in der Stadt und von 1700 Be-
wässerungsstationen ausserhalb derselben.
Die Baukosten der grossartigen Wasserleitung betrugen 50
Millionen Francs, aber die Stadt bezieht aus der Abgabe des Wassers
eine Jahresrente von 1·2 Millionen Francs.
Wenden wir uns nun zu dem grossartigen Kunsthafen von
Marseille.
Bis 1820 musste sich Marseille mit einem alten Hafen, der nur
einen Flächeninhalt von 28·5 ha hatte, behelfen, und selbst dann be-
schränkte man sich nur auf die Vertiefung desselben und die Ver-
grösserung der Quaianlagen längs der Nord- und Westseite. Bei
Gelegenheit dieser Bauten fand man 1855 ein wohlerhaltenes, 31 m
langes römisches Kriegsschiff unter dem Sand und Geröll der Küste in
7 m Tiefe. Gleichzeitig mit den Ausbaggerungen des alten Hafens
begann Louis Philipp, der Marseille heben wollte, 1844 mit dem Bau
eines grossen Kunsthafens, und zwar mit dem Bau des Bassin de la Joliette
mit 22 ha Fläche, des ersten der fünf prächtigen Hafenbecken, die jetzt zu-
sammen den heutigen Hafen bilden. Der Joliettehafen wurde 1853 voll-
endet, erwies sich aber für den rapid angewachsenen Verkehr zu
klein, weshalb bald darauf das Bassin du Lazaret, dann das Bassin
d’Arenc, Bassin de la Gare Maritime und Bassin National (48 ha) in
Angriff genommen werden mussten, von denen das letzte, 1856 begonnen,
erst jetzt fertiggestellt ist. Ausserdem plant man die Anlage eines
[398]Das Mittelmeerbecken.
Petroleumhafens bei Cap Pinède, also ausserhalb des eigentlichen
Hafens.
Die genannten 5 Bassins ziehen sich, durch einen gemeinsamen
3600 m langen Wellenbrecher geschützt, längs der früher ganz unge-
schützten felsigen Küste hin, die bei starken Winden für die vor Anker
liegenden Schiffe eine stete Gefahr bildete. Diese felsige Beschaffen-
heit der Küste kam aber den Neubauten als gutes Fundament sehr
zu statten.
Der genannte Wellenbrecher ist aus einer Tiefe von 10—15 m in einer Ent-
fernung von 500 m von der Küste und, wie unser Plan zeigt, in einer gebrochenen
Linie aufgeführt. Er ist sehr solid gebaut, 8 m über dem Meeresspiegel erhaben
und oben im Durchschnitte 7 m breit, in bestimmten Intervallen aber breiter an-
gelegt, um im Kriegsfalle Platz für Geschütze zu bieten. Nach der Hafenseite um-
säumt ihn ein Quai, nach der Seeseite ein Kranz von mächtigen, regellos vorge-
lagerten Steinblöcken, die dem mächtigsten Anprall der Wellen widerstehen sollen.
Die fünf Bassins sind von einander durch breite Molen, welche grosse
Waarenhäuser und Magazine tragen, getrennt, die aber Durchlässe für die Schiffe
haben, so dass jedes Schiff von einer nach der anderen Seite des Hafens direct
gelangen kann. Drehbrücken führen über diese Durchlässe.
Der neue Hafen hat eine Tiefe von 10—15 m, und zwar sind die nördlichen
Bassins tiefer als die südlichen. Die gesammte Wasserfläche der Bassins erreicht
über 300 ha. Die Quais haben eine lineare Erstreckung von 14.673 m. Der alte
Hafen ist für Segelschiffe, Yachten und Fischerbote reservirt geblieben. Port Jo-
liette dient dem Verkehr der französischen Passagierdampfer, Port Lazaret und
Arène sind für die Dampfer und Segler langer Fahrt und für die Erzeinfuhr aus
Italien und Spanien und die Producte Indiens, Australiens und Südamerikas. Der
Port de la Gare Maritime nimmt die Weizenzufuhren aus Russland, Indien,
Australien, Nordamerika und die grossen Dampfer der Britischen Peninsular und
Oriental-Linie auf. Das Bassin National ist für die englischen Kohlenschiffe aus
Cardiff und Newcastle und die Viehimporte aus Algier, Tunis und Italien und
fremde Kriegsschiffe bestimmt. Im Zusammenhang mit letztgenanntem Bassin steht
das grosse Bassin de Radoub, das 6 grosse Trockendocks, davon 3 erster Grösse,
enthält. Ausserdem besteht dort noch ein kleiner schwimmender Dock. In den
alten Hafen ausmündend ist das Bassin de Carrenage zum Ausbessern und Kal-
fatern von Segelschiffen. Alle diese Einrichtungen stehen unter Aufsicht der Com-
pagnie des Docks et Entrepôts, und sind die Tarife für Benützung der hier und
später genannten Hafeneinrichtungen sehr hoch, wie wir schon bei Genua im Ver-
gleiche erwähnten.
Die Vorrichtungen zur Verhinderung von Feuersgefahr sind ausserordentlich
umfassend, Docks und Magazine sind nur aus Stein und Eisen erbaut, überall
sind Hydranten, und auch die Feuercontrole im Hafen ist vorzüglich.
Die Maschinerien zum Aus- und Verladen sind ein Gemisch von alter und
neuer Zeit, wie denn noch die Getreideschiffe im alten Hafen mangels eines Ele-
vators durch Menschenhand, und zwar durch die ungefähr 6000 Mitglieder zählende
Gilde der Speicherarbeiter entladen und befrachtet werden. Andererseits sind im
neuen Hafen und den Docks 47 feste hydraulische Krahne zu je 3 t Tragkraft.
[399]Marseille.
3 verschiebbare Dampfwinches, 38 Windlasses und ein hydraulischer Dersick von
120 t Tragkraft.
Trotz des grossen Fassungsraumes des alten Hafens, des Handels-
hafens La Joliette und der Docks ist der Hafen stets so gefüllt, dass
die Schiffe zum Löschen und Laden nicht mit der Breitseite an den
Quais anlegen dürfen, sondern alle diese Manipulationen durch Ver-
mittlung von Barken und Lichterfahrzeugen vor sich gehen. Die unter
Ballast ausgehenden Schiffe nehmen als solchen Bruchsteine von der
Küste, die sich vortrefflich zum Pflastern und Chaussiren eignen.
Zum Hafen von Marseille gehört die grosse Quarantaine-Anstalt,
welche in einem durch Verbindung der beiden Inseln Ratoneau und
Pomègues gebildeten Hafen (Port du Frioul) erbaut wurde.
Die ganzen Hafenanlagen haben bisher 95 Millionen Francs ge-
kostet und werden wohl auch noch weitere 5 Millionen Francs in
Anspruch nehmen.
Der Transport der Waaren vom Hafen nach dem Innern der
Stadt geschieht durch zweiräderige mit schweren, normännischen oder
Percherons-Pferden bespannten Karren, die oft, geschickt geladen, 5—6 t
Waaren führen und in den engen Strassen Marseilles wohl sobald
durch kein anderes Transportmittel ersetzt werden können. Eigen-
thümlich ist das eigenartige, oben in Form eines Hornes auslaufende
Kummetgeschirr dieser Zugpferde.
Das Anwachsen des Schiffsverkehrs in Marseille hat zu Studien
über die so wünschenswerthe Erweiterung des neuen Hafens geführt,
der trotz seiner Grösse kaum mehr den Anforderungen zu entsprechen
vermag und es scheint, dass man sich zum Bau eines neuen Wellen-
brechers, der seewärts des bestehenden zu liegen käme, wird ent-
schliessen müssen.
Ebenso ist ein Project im Studium, welches dahin geht, nächst
der Bucht des Catalans einen durch Wellenbrecher geschützten Süd-
hafen herzustellen.
So zeigt das Stück dürftigen, nur zum Wein- und Oelbau ge-
eigneten Bodens, welches die ionischen Seefahrer aus Phokaea um
600 v. Chr. von dem ligurischen Stamme der Salyer erkauft, dank
seiner geographischen Lage jene unverwüstliche Lebenskraft, welche
die wahren Emporien des Handels dem Phönix gleich aus dem Wechsel
der Zeiten immer wieder erblühen lässt. Denn kein zweiter Platz
im westlichen Mittelmeere ist so vortheilhaft für den europäischen
Verkehr gelegen wie Marseille. Mit ihrem von Höhen eingeschlossenen
sicheren Hafenbecken ist die Stadt, wie II. Kiepert sagt, entfernt
[400]Das Mittelmeerbecken.
genug von der Mündung der Rhône, um der Gefahr der Verschlam-
mung durch den Fluss ausgesetzt zu sein, nahe genug, um sich
den ausgezeichneten Handelsweg nach dem Norden, welchen dieses
Flussthal darbietet, zu sichern.
Auf dem Nordwege durch Gallien erreichten die Massalioten
schon früh die oceanischen Küsten und die Quellen des britannischen
Zinnhandels als Concurrenten der Carthager, die zur See dahin ge-
langten; von dort aus haben sie die erste Kunde von den grossen
nach Norden zum Ocean fliessenden Strömen, namentlich dem Rheine,
mitgebracht. Die weite Ausdehnung ihres Handelsgebietes nach Osten
hin beweisen die zahlreichen Funde massaliotischer Münzen durch das
ganze Alpenland bis Tirol und in der oberitalischen Ebene. Die Ver-
bindungen zur See erstreckten sich im Osten bis Phönikien und im
Westen seit den denkwürdigen Fahrten des Pytheas und Enthymenes
(330 v. Chr.) über die Säulen des Herkules hinaus; der erstere er-
reichte Britannien, Thule (die Shetlandinseln) und die germanischen
Nordseeküsten, der letztere drang südwärts gegen den Senegal vor.
Der Sturz des Römerreiches drängte den ausgebreiteten Handel
unseres Hafens nur auf kurze Zeit zurück. Schon in der Zeit der
ersten Merovingerkönige besuchten seine Kaufleute die Messe von
St. Denis; die Gesandten, welche die Franken zum Kaiser nach
Byzanz schickten, schifften sich hier ein, und Papyrus aus Egypten
war ein bekannter Handelsartikel Marseilles in den dunklen Jahr-
hunderten des frühen Mittelalters.
Die tapferen und reichen Bürger Marseilles zogen auf ihnen
wohlbekannten Pfaden, als sie die zahlreichen Ritter und Pilger Süd-
frankreichs nach Palästina führten und im Vereine mit Genua, Pisa
und Venedig bei der Errichtung der Kreuzfahrerstaaten in Syrien mit-
halfen, und die kühnen Seefahrer Marseilles gingen nach Syrien nicht
nur den Weg entlang den Küsten Europas, sie liessen seit der Mitte
des XII. Jahrhunderts Sardinien, Sicilien, Candia und Cypern links
liegen und fuhren bei gutem Winde in 15 Tagen und 15 Nächten
nach Akkon (heute Akka).
Auch noch im späteren Mittelalter pflegte Marseille den Ver-
kehr mit Egypten. Die im XIV. Jahrhunderte gegründeten Messen von
Beaucaire an der unteren Rhône, auf der man Italiener, Deutsche,
Brabanter, Spanier, Portugiesen, Griechen, Barbaresken und Egypter
begegnete, stärkten seinen Handel, während Montpellier, Cette, Nar-
bonne, die bis dahin eine bedeutende Rolle im Levantehandel gespielt
hatten, zurückgingen.
[401]Marseille.
Seit Errichtung der Märkte von Lyon 1443 gelangten wohl eine
Zeit lang die Gewürze auf dem Landwege von Venedig in das Innere
Frankreichs, aber wenige Jahrzehnte später wurde ja Lissabon Sitz
des Handels mit Gewürzen, und unter Heinrich IV., der 1599 die
Handelskammer von Marseille errichtete, um „zu überwachen und zu
fördern alle Dinge, die Geschäft, Handel und Verkehr betreffen
würden“, ist Marseille Frankreichs Hauptexporthafen. Der venetianische
Gesandte, der die Stadt kurz nach dem Tode des Königs sah, nennt
sie Venedig weit überlegen, das „Emporium ganz Europas“, und der
Hafen soll jährlich 8 Millionen Goldthaler, nach jetzigem Geldwerthe
78 Millionen Gulden, reinen Gewinn abgeworfen haben.
Aber auch Marseille verlor allmälig „sein Brot“, seinen Levante-
handel; als etwa 50 Jahre später Colbert an die wirthschaftliche
Neugestaltung Frankreichs ging, gründete man zu seiner Wieder-
belebung mit Staatsgarantie die Compagnie der Levante, und der
Handel dahin wurde erst 1790 freigegeben; der Convent hob auch
den Freihafen auf.
In dem kolossalen Zollkriege Frankreichs mit England, den man
Continentalsperre nennt, ging auch Marseilles Handel zu Grunde und,
um es gegen Triest, Genua, Livorno concurrenzfähig zu machen, wurde
Marseille am 4. November 1814 neuerdings Freihafen. Lange dauerte
es, bis Englands Vorherrschaft im Mittelmeere etwas zurückgedrängt
war; 1829 hatte der Handel noch nicht die Höhe wieder erreicht,
die er vor der Revolution eingenommen hatte.
Die neue Blüthe Marseilles hebt erst an mit der Eroberung
Algiers 1830; die Errichtung grosser Entrepôts unter Louis Philipp
die Gründung der Schiffahrtsunternehmung Messageries maritimes,
8. Juli 1851, die zunächst den Verkehr nach der Levante vermittelte,
1857 den La Plata, seit dem Anfange der Sechzigerjahre Ostasien
und später Australien in den Kreis ihrer Thätigkeit zog, endlich die
Vollendung der Eisenbahnlinie Paris—Marseille im Jahre 1855 sind
die wichtigsten Marksteine der Geschichte Marseille in den letzten
Jahrzehnten.
So erscheint uns denn die Blüthe des heutigen Marseille als
ein Product, erzeugt in erster Linie durch die Intelligenz und den
Unternehmungsgeist der heimischen Kaufmannschaft, getragen durch
den Opfermuth der französischen Nation und die staatskluge Handels-
politik der Regierung. Allen diesen Kreisen ist es klar, dass, soll
diese Blüthe nicht bald verwelken, man nicht stille stehen darf.
Wohl kennt man die Gefahr. Ein Gegner, den man seit Jahrhunderten
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 51
[402]Das Mittelmeerbecken.
todt geglaubt, Genua, ist aus dem Scheintode erwacht, um sich in
wenig Jahren ein schönes Stück des Mittelmeerhandels zu erobern
und zu sichern.
Man beobachtet scharf alle Vorgänge in Genua, dem einzigen
Rivalen, der zu fürchten ist, der nicht nur in nächster Nähe, son-
dern auch im fernen Osten als Concurrent erscheint, der es am La
Plata seit 1889 bereits ist. Nichts erscheint darum in Marseille als
so unbedeutend, dass man es nicht beachtete und verfolgte. So hat
in neuester Zeit die Thatsache, dass der „Neederland“ auf den Fahrten
nach Java jetzt Genua statt Marseille anläuft, stutzig gemacht. Dar-
über ist man sich aber vor Allem ganz klar, dass Genuas Aufschwung
in erster Linie mit der Vollendung der Gotthardbahn, welche Marseille
den Schweizer Handel und andere Beziehungen entriss, zusammen-
hängt; man erkennt auch, dass der Bau einer Simplonbahn Genua
nützen und Marseille mehr schaden wird, daher sinnt man auf Mittel,
die drohende Vollendung der Bahn über den Simplon für Marseille
unschädlich zu machen. Eine neue Canalverbindung soll neben der
schon bestehenden von Marseille zur unteren Rhône geschaffen, die
Stadt also dem Flusse näher gerückt, die billige Wasserstrasse gegen
die theure Gebirgsbahn in den Kampf geführt werden.
So weit wir die Geschichte Marseilles zurückverfolgen, zu allen
Zeiten war man bestrebt, dem Hafen ein möglichst grosses Hinter-
land als Absatz- und Handelsgebiet zu sichern. Seit den Tagen der
Römer ist Marseille der Endknotenpunkt eines Strassennetzes, das
fächerförmig nach West-Nord-Osten führt, bald im guten, bald im
schlechten Zustande war, aber immer den billigsten Träger des Verkehrs
abgab, weil andere Wege auch nicht besser waren. Seit Louis XIV.
sind diese französischen Strassen gut und sehr leistungsfähig; seit
1850—1860 treten auch hier die Eisenbahnen in ihre Rechte und
an wenig Plätzen Europas hat die Eisenbahnpolitik so viel zu leisten
als in Marseille.
Nach der Lage des Hafens müssen seine Bahnverbindungen zwei
Hauptrichtungen haben; die eine schlägt die Küstenlinie ein, die nach
Osten nach Genua, nach Westen über Nimes und Montpellier nach
Barcelona führt. Für die Verbindung nach dem Norden, die natürlich
wichtiger ist als die frühere, sorgt auch die grösste und reichste
der französischen Eisenbahngesellschaften, die Paris-, Lyon- und Mittel-
meerbahn, deren Netz zwischen den Linien Paris—Basel und Paris—
Cette liegt. Sie geht an der Rhône aufwärts nach dem wichtigen
Knotenpunkte Lyon, wo sie sich fächerartig in vier Linien spaltet.
[403]Marseille.
Sie wird unterstützt durch eine zweite Bahnlinie, die westlich von
ihr von Nimes an der Küstenbahn über die Cevennen und durch das
Thal des Allier (Clermont) nach Paris zieht. Eine dritte, heute noch
weniger wichtige Linie geht von Marseille direct nach Norden, über
Grenoble und Chambéry nach Genf, sie ist die Concurrenzlinie der
künftigen Simplonbahn.
Aus diesen Verkehrslinien ergibt sich das Handelsgebiet des
heutigen Marseille nach der Landseite hin. Mit Ausnahme des Ver-
kehres nach den Ebenen Oberitaliens, der ihm durch Genua entzogen
wurde, und den östlichen Alpenländern, welche Triest und Venedig be-
herrschen, ist es noch derselbe, wie in den Zeiten des Alterthumes.
Nach der Seeseite hin sind der Mittelmeerhandel und der Verkehr
mit den französischen Colonien besonders hervorzuheben; die Aus-
führung der von Marseille ausgehenden Seelinien wird diese Richtung
des Verkehres genauer feststellen.
Heute aber ist Marseille nicht nur der grösste Hafenplatz Frank-
reichs und einer der ersten von Europa, sondern auch eine grosse
Fabriksstadt. Die Fabriksthätigkeit entwickelt sich wohl nicht in
demselben Tempo wie der Handel, sie ist sogar seit Jahren fast stabil,
aber ein grosser Theil des Handels beruht eben auf dieser ganz be-
deutenden Industrie, welche 97 Seifenfabriken, 43 Oelfabriken, 77 Kunst-
mühlen, 94 Pastefabriken, 52 Möbelfabriken, 16 Etablissements für den
Schiffbau, das grosse Eisenwerk bei St. Louis, die Maschinenwerk-
stätten der Mittelmeerbahn, eine grosse Tabakfabrik, zwei Zuckerraffi-
nerien, Spritfabriken, chemische Fabriken, Seilereien, Lederfabriken
umfasst.
Marseille und Hâvre sind Frankreichs wichtigste Einfuhrhäfen für Ge-
treide. Für diesen Artikel ist Marseille einer der ersten Handelsplätze Europas,
ein bedeutendes Centrum der Mühlenindustrie, und die Ernteberichte des dortigen
Hauses Estienne, welche Ende August erscheinen und die ganze Welt umfassen
sind äusserst werthvoll für den Statistiker.
Den Umfang des Getreideverkehrs zeigt die folgende Tabelle:
| [...] |
Ueber die Marseiller Bahnhöfe wurden 1888 5,362.700 q, 1887 3,505.130 q
Getreide befördert.
51*
[404]Das Mittelmeerbecken.
Marseille hat in seinen Docks und Entrepôts immer grosse Bestände von
Getreide, so am 31. December 1889 276.948 q, 31. December 1888 965.000 q.
Die Einfuhr von Getreide ohne Mehl erreichte 1888 einen Werth von
196,236.502 Francs, 1887 von 166,148.190 Francs; die Ausfuhr von Getreide 1888
20 Millionen Francs, 1887 18 Millionen Francs, die von Weizenmehl 1888 28·4,
1887 18·6 Millionen Francs.
Weizen vom Schwarzen und Asowschen Meere, also aus Russland und
Rumänien, bildet von jeher die Grundlage des Getreidehandels von Marseille; an
diesen reihen sich die Zufuhren aus Ostindien und der Türkei, die aus Algier und
der Union sind unter dem Drucke des russischen Weizens zurückgegangen. In den
Wintermonaten, wo die Häfen des wichtigsten Anfuhrgebietes geschlossen sind,
ist auch der Getreidehandel von Marseille etwas flau.
Regelmässige Abnehmer sind das Innere Frankreichs, die Mühlenindustrie
von Marseille, die Schweiz und Spanien. In der Schweiz tritt Ungarn in guten
Erntejahren auf dem Wege über den Arlberg in Concurrenz, so 1888, wo sogar
die Müller auf der Linie Belfort, Dijon, Nancy ungarischen Weizen vermahlten.
Jedoch die Kunstmühlen Marseilles, welche vom Systeme der Steine
zu dem der Walzen übergehen, verwenden für die feinsten Mehlsorten nur ameri-
kanischen Weizen. Wie die oben angeführten Ziffern zeigen, ist diese blühende
Mühlenindustrie eine Hauptstütze des Getreideverkehres von Marseille. Die Aus-
fuhr von Mehl ist von 1887 auf 1888 bedeutend gestiegen, ein glänzendes Zeug-
niss für die Energie der Müller Marseilles, und für die Umsicht der französischen
Zollbehörde; denn das Mehl wird aus ausländischem Weizen hergestellt und dieser
zahlt bei der Einfuhr in Frankreich 5 Francs für 100 kg Zoll, die bei der Aus-
fuhr des Mehles, sofern es nicht in die internationale Durchfuhr gehört, rückver
gütet werden muss. Spanien (1888 mit 256.119 q), Algier (81.576 q), die Türkei,
Tunis, Schweiz, Tripolis sind die Käufer des Mehles von Marseille.
Ausser Mehl wird ausgeführt Gries 1888 302.366 q, 1887 215.757 q, davon
1888 116.739 q nach Tunis, 57.159 q nach Algier, 50.954 q nach der Schweiz und
21.544 q nach Spanien, ansehnliche Mengen auch nach Deutschland.
Die Ausfuhr von Nudeln erreichte 1888 42.142 q, 1887 35.592 q, Algier,
das sich früher mit 30.000 q ausschliesslich von hier versorgte, deckt den Bedarf
selbst; Hauptabnehmer sind die Union (1888 11.347 q), Grossbritannien, die Schweiz,
Belgien u. a.
Der Markt von Marseille bevorzugt den Mais und Cinquantine von Odessa
vor allen anderen Sorten; Gerste wird aus Russland (1888 190.929 q), Rumänien
Legende zum Hafen von Marseille.
A Rhede von Marseille, B Vorhafen im Süden (Avant-Port Sud), C Bassin de la Joliette, D Bassin du
Lazarêt, E Bassin d’Arenc, F Leuchtfeuer, G Bassin des Hafenbahnhofes (Gare maritime), H Bassin
national, J Bassin de Radoub (Docks), K Vorhafen im Norden (Avant-Port Nord), L projectirter Petroleum-
hafen, M Traverse de la Penède, N Molo D, O Molo C, P Molo B, R Traverse de l’abattoir, S Molo A,
T Mole d’Arenc, U Mole du Lazaret, V Traverse de la Joliette, W Traverse de la Douane, X Wellen-
brecher und Batterien, Y Bassin de Carénage, Z Canal de Communication. — 1 Kathedrale und
bischöfliche Residenz, 2 Hôtel Dieu, 3 Place d’Aix mit Triumphbogen, 4 Place Pentagone, 5 Boulevard
de Paris, 6 Rue Cannebière, 7 Börse und Handelsgericht, 8 Chateau du Pharo, 9 Boulevard de la
Corderie, 10 Rue d’Aix, 11 Cours Belsunce, 12 Rue de Rome, 13 Le Prado, 14 Rue Noailles, 15 Allée
de Meilhan, 16 Allée de Capucines, 17 Präfectur, 18 Justizpalast, 19 Promenade de la Corniche,
20 Rue de la République, 21 Hafenstation der Paris-Lyon-Marseille-Eisenbahn, 22 Waarenbahnhof.
23 Personenbahnhof Marseille-Avignon, 24 Lyceum, 25 Place St. Michel, 26 Militär-Spital, 27 Cours
du Chapitre und Boulevard Longchamp, 28 Palais des Arts de Longchamp, 29 Boulevard Baille, 30 Ge-
fängniss und Spital, 31 Prado-Bahnhof (Gare du Prado). 32 Cours Pierre Puget, 33 Seilerei, 34 Bucht,
Pharo und Werften.
[[405]]
(Legende siehe auf Seite 404.)
[406]Das Mittelmeerbecken.
und der Türkei zugeführt. Aus Russland stammt auch der grösste Theil des
Hafers.
Die Einfuhr von Reis steht weit zurück hinter der des Getreides; es
wurden 1888 361.088 q (Werth 18·6 Millionen Francs), 1887 267.856 q eingeführt.
Auch hier ist die Industrie Trägerin einer bedeutenden Einfuhr, denn 120.000 q
fanden 1888 Verwendung in den Brennereien, welche in Marseille allein 93.315 hl
Alkohol erzeugten. Aus Piemont kamen 1888 15.000 q, gegen 29.000 q im Jahre
1887, weil 1888 ein Einfuhrzoll von 8 Francs für 100 kg erhoben wurde. Dafür
aus Japan 1888 80.000 q, gegen 17.000 q in 1887. Indien lieferte 1888 95.000 q,
Batum 5000.
Marseille ist ferner ein wichtiger Markt für Bohnen, welche von der
Donau stammen; am 31. December 1889 erreichte der Stock 50.000 q. Kicher-
erbsen werden aus Marokko, Linsen aus Egypten zugeführt. Kanariensaat kommt
aus der Türkei und Algier, Hanfsaat vom Schwarzen Meere.
Die Einfuhr frischer Gemüse ist erheblich gestiegen, sie erreichte 1888
65.724 q, gegen 30.000 q im Jahre 1887. Italiens Zufuhr ist infolge des Erlöschens
des Handelsvertrages sehr zurückgegangen, so dass jetzt Algier fast ausschliess-
lich die Versorgung von Marseille auf sich genommen hat; auch Egypten und
die Türkei benützen die Conjunctur. Marseille ist zugleich Transitoplatz für Paris,
Lyon und die grossen Städte Mitteleuropas.
Pflanzenöl aller Gattungen ist einer der ersten Handelsartikel Marseilles.
Von Olivenöl gingen hier 1888 124.353 q (Werth 12·4 Millionen Francs), 1887
135.471 q ein. Etwas mehr als die Hälfte davon sind Speiseöle (1888 73.000 q),
aus Tunis (40.000 q), Italien, Spanien, der Provence und Algier, der Rest Oliven-
brennöl aus Algier und der Provence und Oel zur Seifenfabrication. Man ver-
arbeitete hier auch Oelsaat (1888 1,955.369 q, Werth 38·9 Millionen Francs)
aus Indien, Erdnüsse (1888 898.399 q, Werth 24·3 Millionen Francs) aus Senegam-
bien und Indien, in steigenden Mengen Palmkrone und Copra, Palmöl, Se-
samöl aus der Levante und Afrika, und Baumwollsamenöl.
Marseille ist ferner einer der grossen Märkte Europas für Kaffee, der
nach dem Beispiele der nördlichen Plätze im März 1888 auch den Terminhandel
einführen musste. Die Grundlage der Speculation ist auch hier Riokaffee, die
feineren Sorten, die hier besonders lebhaft gehandelt werden, kommen aus Nieder-
ländisch-Indien, Haïti und Centralamerika. Einfuhr 1887 124.086 q, 1888 158.491 q
(Werth 39·6 Millionen Francs), das ist die grösste Ziffer seit den 246.910 q des
Jahres 1883.
Von anderen Colonialwaaren sind in der Einfuhr Marseilles von Wichtig-
keit: Pfeffer 1888 15.740 q gegen 27.370 1887 aus Niederländisch- und Britisch-
Indien; Cacao aus Bahia, Caracas, Guadeloupe, Peru wird im Lande selbst con-
sumirt. Einfuhr 1888 551.700 kg.
Marseille versorgt Italien mit Pfeffer.
Sehr bedeutend ist die Rohzucker-Einfuhr Marseilles.
Die Einfuhr betrug 1888 90.728 q, 1887 82.940 q und 1886 81.180 q. Die
schon früher unbedeutende Einfuhr von raffinirtem Zucker ist 1888 auf 8990 q
gesunken.
Der grösste Theil der Zufuhren erfolgt zur See. Ihren Hauptstock bildet
der Zucker Réunions, auf französischen Schiffen eingebracht. Unter den fremden
[407]Marseille.
Ländern spielt Java die erste Rolle. Die steigende Zufuhr von Zucker ist ein Be-
weis der Blüthe der Raffinerien Marseilles.
Die Einfuhr von Wein in Fässern hat sich innerhalb der letzten fünf
Jahre verdoppelt; sie betrug 1884 603.751 hl, 1887 bereits 1,105.694 hl, 1888
1,282.944 hl. Spanien war von Anfang an sehr wichtig für Marseille, seine An-
fuhren und die von Algier sind seit 1888 auf Kosten Italiens gewaltig gestiegen.
Auch Griechenland und Portugal sind dabei betheiligt und in kleinem Masse
Oesterreich-Ungarn.
Von süssem Wein wurden 1888 40.667 hl, 1887 34.638 hl besonders
aus Spanien und Samos zugeführt.
Der Erzeugung von Wein dient ein grosser Theil der eingeführten Ro-
sinen 1888 836.000 q, 1887 993.200 q.
Von Getränken werden ausser Wein eingeführt Branntwein, Alkohol und
Spirituosen (1888 52.000 hl) und Bier aus Deutschland, Belgien und Grossbritan-
nien 7000—8000 hl.
Die Einfuhr von Orangen und Citronen aus Italien, Spanien und Nord-
afrika erreichte 1888 92.285 q, 1887 98.103 q.
In Marseille hat auch der Handel mit Droguen, Gewürznelken und Gerbe-
mitteln grosse Bedeutung. In diesen Artikeln wie in Kautschuk sind die Ur-
sprungsländer der Senegal, Madagaskar und die diesen benachbarten Küsten
Afrikas, mit denen Marseille in directer Dampferverbindung steht. Aus diesen
Ländern und der Levante kommt auch Wachs 1888 37.740 q. Die Einfuhr von
Farbhölzern nimmt zu.
Die Zufuhren von Blättertabak aus der Union, Ungarn, Kleinasien, Su-
matra und Griechenland erreichten zusammen 1888 64.231 q (Werth 9·6 Millionen
Francs), 1887 69.864 q.
In Böttcher-, Tischler- und Bauholz stehen adriatische Fassdauben (1888
ungefähr 5 Millionen Stück) an der Spitze der Einfuhr.
Der Markt ist seit 1889 mit Fassdauben überfüllt, dagegen kann auch die
Fiumaner Creditbank, welche hier ein Entrepôt hat, nichts ausrichten.
Vom adriatischen Meere kommen auch Tannenwerkholz, Balken und Bretter,
vom Schwarzen Meere Eichen-, Eschen- und Ulmenholz, Fichten und Tannen von
der Ostsee, und 1888 sind hier auch aus Canada Balken von Pitch-Pineholz einge-
führt worden.
Für diese grossen Holzmassen, die jetzt ihren Weg nach Marseille neh-
men, reichen die Quais nicht mehr aus.
Marseille versorgt mit Baumwolle Frankreich an der Rhône hinauf bis
Belfort ausschliesslich; dort begegnet es aber der Concurrenz von Antwerpen und
Bremen, die Marseille vom elsässischen Markt abzudrängen suchen. Marseille ist
auch ein Centralmarkt für Italien und Spanien.
Dem inländischen Consum dienen vor Allem die levantinischen (Jumel, Sa-
lonich, Tarsus, Idelep) und indischen Sorten. Letztere gehen auch nach dem Elsass,
egyptische und amerikanische ausschliesslich dahin.
Einfuhr 1888 152.552 q (22·8 Millionen Francs), 1887 149.474 q.
Marseille als Hafen von Lyon, dem ersten Platze für Seidenindustrie in der
Welt, hat einen sehr bedeutenden Seidenhandel. Die französischen Filanden
und Filatorien in Syrien schicken ihr ganzes Erzeugniss hieher, ferner China und
Griechenland, zusammen 1888 2768 Ballen, 1887 2679 Ballen. Cocons kamen
[408]Das Mittelmeerbecken.
an 1888 298.000 kg, 1887 441.000 kg; auf dem Markte von Marseille verschwinden
immer mehr die Cocons der Levante, sie werden jetzt direct nach Mailand ge-
schickt. Der Vorrath von Seidenabfällen betrug am 31. December 1888 601.100 kg,
31. December 1887 584.500 kg.
Als Markt für Schafwolle geht Marseille zurück; 1888 kamen 187.773 q,
1887 214.599 q. Der Sitz der Schafwollindustrie Frankreichs liegt im Norden des
Landes, und jetzt werden die Wolle Marokkos und der Häfen des Schwarzen
Meeres direct nach Dünkirchen gesendet, um die hohe Eisenbahnfracht zu er-
sparen. Von Bedeutung sind hier die Wollen von Tunis, Tripolis, Algier; die aus
Chorassan und Mesopotamien gehen im Transito durch.
Ungewaschene Hammel- und Lammfelle von Buenos Aires und Monte-
video kommen nur im Transit nach Marseille und gehen in die grossen Gerbereien
nach dem Languedoc und Mazamet. Die beiden grossen Gerbereien Marseilles ver-
arbeiten meist inländische Lammfelle. Von Ziegenfellen kamen 1888 31.834,
1887 37.580 Ballen aus Marocco, Algier, Tunis, Levante, Neapel, Sardinien
und Triest.
Kuh- und andere Häute wurden aus Algier, Singapore, China, La Plata
zugeführt: 1888 167.400 Stück, 1887 227.800 Stück.
Der Viehhandel Marseilles ist von 783.998 Stück im Jahre 1887 auf
1,099.123 Stück im Jahre 1888 gestiegen. Davon kommen zur See 1887 415.721
Stück, 1888 706.067 Stück. Die grösste Zahl entfällt auf Schafe, von denen 1887
566.811, 1888 852.878 Stück zugeführt wurden; von den letzteren kamen 683.387
Stück aus Algier und 627.981 Stück gingen zu Lande weiter. Algier muss den
Abgang ersetzen, der in Frankreich durch die Verminderung der Einfuhr aus
Ungarn eingetreten ist. Sie war eine Folge der Erhöhung des Einfuhrzolles,
1889 wurde die Einfuhr lebenden Viehes ganz verboten und die Ziffer Algiers
stieg um fast ¼ Million Stück. In diesem Jahre kamen auch aus Russland
Hammel, die aber sofort bei der Ankunft geschlachtet werden müssen.
Die Vieheinfuhr Italiens ist seit 1889 sehr zurückgegangen.
Der Localverbrauch Marseilles an Fleisch ohne Pferde- und Eselfleisch be-
lief sich 1888 auf 303.775 q.
Die Hühnerzucht und der Eierhandel Frankreichs haben während der letzten
Jahre einen erheblichen Aufschwung genommen, der aber in den Departements, die
ans Mittelmeer grenzen, noch nicht ausreichend ist, die Einfuhr aus dem Auslande
überflüssig zu machen. Marseille führte 1888 10.393 q, 1887 11.833 q Eier ein.
Die Einfuhr Italiens sank von 8255 q im Jahre 1887 auf 4500 q. Dafür stieg die
Einfuhr aus der Türkei, weniger die aus Tunis, Tripolis und Marokko. Der Haupt-
absatz findet in das Innere Frankreichs und im Transito nach Spanien und
Afrika statt.
Wie überall am Mittelmeere müssen wir auch bei Marseille vom Stock-
fisch reden, der in dem Neufoundlandbecken gefangen und auf den Trocken-
plätzen Frankreichs in Port de Boue und auch in Marseille weiter bearbeitet
wird. Einfuhr 1888 bei 90.000 q.
Die Einfuhr von Talg und Speck ist gegen die früheren Jahre zurück-
gegangen, Amerika betheiligt sich jetzt in geringerem Masse daran. Es wurden
1888 82.700 q eingeführt, davon 41.950 q Talg aus Australien, Argentinien,
Uruguay und der Union, Schmalz (1888 40.747 q) kam aus der Union und auch
[409]Marseille.
aus Griechenland. In diesen Artikeln ist Marseille Depotplatz für Spanien, Algier
und Italien.
In Marseille ist die Einfuhr von Mineralien von besonders grosser Be-
deutung, weil die reichen Erzlager an den Küsten des Mittelländischen Meeres,
die den Rohstoff für die metallurgische Industrie Frankreichs bis hinauf nach
lo Creuzot liefern.
Es wurden von Eisenerzen und eisenhaltigen Mangan- und Chromerzen
eingeführt 1888 274.424 q, 1888 273.499 q aus Spanien, Algier, Italien, Griechen-
land, der asiatischen Türkei. 213.260 q erhielt das Hüttenwerk in St. Louis, das
einzige an der Mittelmerküste Frankreichs, das die Stahl- und Eisenfabriken
Frankreichs und zum Theile auch des Auslandes versorgt.
Die Zufuhren von Roheisen betrugen 1888 31.118, 1887 98.839 q.
Von Blei in Blöcken wurden 1888 15.312 q, 1887 137.448 q aus Spanien
und Italien eingeführt, Bleierze 1617 q aus Spanien, der Türkei, Italien, Neu-
Caledonien und Australien. Verschifft wurden nur 27.680 q nach Italien und
Russland.
Kupfererz wurde eingeführt 1888 1299 t, Kupferbarren wurden 1888
402.800 gegen 80.700 im Jahre 1887 eingeführt. Die umfangreiche Steigerung
der Zufuhren aus Australien und Japan war die Folge des 1889 zusammengebro-
chenen Kupferringes, der in Paris seinen Sitz hatte.
Ansehnlich ist hier auch die Einfuhr von Zinn.
Für die grossen chemischen Fabriken an der unteren Rhône wird Schwefel
aus Sicilien eingeführt; die Einfuhr (1888 31.357 q) sinkt, weil Italien seinen Be-
darf an chemischen Producten nicht mehr aus Frankreich, sondern aus Deutsch-
land und England deckt.
Die rege Fabriksthätigkeit Marseilles, sein starker Schiffsverkehr bedingen
eine bedeutende Zufuhr von Kohlen. Es kamen hier an zur See 1889 2·9 Mil-
lionen q, 1888 3·5 Millionen q, 1887 3·2 Millionen q englischer Kohlen. Mit den
Zufuhren zu Lande stieg 1888 die Kohleneinfuhr von Marseille auf 9·5 Millionen q.
Es ist zu bemerken, dass sich in grosser Nähe von Marseille, im Departement
Bouches du Rhône grosse Steinkohlenlager befinden, deren Ausbeute 1889 unver-
hofft stark gestiegen ist.
Wir schliessen die Reihe der Einfuhrartikel mit Petroleum, von welchem
1888 262.583 q, 1887 175.792 q gebracht wurden. Der grösste Theil desselben
war nicht gereinigt und stammte aus der Union.
Wir hatten schon wiederholt auf die zahlreichen Exportindustrien Mar-
seilles hingewiesen, die meist fremde Rohproducte verarbeiten und so veredelt
wieder ausführen. Auch die Ausfuhr Marseilles hängt zum grossen Theile von
der Industrie der Stadt ab. Die Mühlen- und Teigwaarenindustrie wurden des
genaueren bereits erwähnt. Nach ihr sind von höchster Wichtigkeit die Oel-
fabriken, welche aus Samen und Früchten 1888 344.000 q Speiseöle und 871.000 q
nicht essbare Oele herstellten.
Ausgeführt wurden 1888 299.020 q, 1887 250.960 q nach Grossbritannien,
Spanien, Italien, Algier, Oesterreich-Ungarn und den Niederlanden.
Nebenproducte sind Oelkuchen, die vor Allem in der Landwirthschaft
Frankreichs ihre Verwendung finden; Production 1888 1,701.200 q, davon gingen
551.000 nach Deutschland, Grossbritannien und Belgien.
Bedeutende Mengen von Oel werden in den 97 Seifenfabriken von Mar-
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 52
[410]Das Mittelmeerbecken.
seille verbraucht. Die Production des Departements erreichte 1888 1,003.840 q im
Werthe von 44 Millionen Francs. Zur See wurden 83.490 q (Werth 5 Millionen
Francs) ausgeführt; mehr als die Hälfte nahm Algier, den Rest Belgien und die
Union. In der Küstenfahrt wurden 237.280 q, mit der Eisenbahn 651.070 q aus-
geführt.
Wir fügen hier gleich die Ausfuhr von Wachskerzen an, 1888 35.445 q,
1887 39.672 q, deren Hauptabnehmer Algier-Tunis, die Türkei und Egypten sind.
Nicht minder nähren die Zuckerraffinerien von Marseille seinen Handel.
Im Jahre 1888 467.584 q (Werth 46·8 Millionen Francs), 1887 305.914 qraffi-
nirten Zuckers von hier in die Levante, nach Algier, Marokko, Tunis und
Argentinien. Zucker ist dem Werthe nach der zweite Ausfuhrartikel von Marseille,
auf den Handelsplätzen der Levante hat es durch seine guten und billigen Schiffs-
verbindungen eine gewichtige Stellung.
Exportartikel Marseilles sind ferner reiner Alkohol, Weingeist aller
Art u. s. w. (Ausfuhr 1888 98.000 hl), Biere, von welchen hier 1888 58.772 hl
gebraut wurden. Die Ausfuhr (1888 26.403 hl, davon 13.500 Marseiller Bier) ist
nach Algier, Spanien und Cochinchina gerichtet.
Wir schliessen die Reihe der Exportindustrien mit den Thonwaaren; Mauer-
steine, Dachziegel und Steinfliessen von Marseille, welche hier von den Schiffen
als Ballast aufgenommen werden, finden wir in allen Küstenstädten des Mittel-
ländischen und Schwarzen Meeres, in Mexico und am Rio de la Plata. Ausfuhr
1888 1,158.874 q, Werth 5·8 Millionen Francs.
Bedeutend ist auch Marseilles Ausfuhr an solchen Artikeln, welche aus-
ländischen Ursprungs sind und über Marseille gehandelt werden. Wir haben schon
bei der Einfuhr den ganzen Getreidehandel dargestellt, hier genügt der Hinweis,
dass 1888 allein zur See Weizen und Gerste um 18 Millionen Francs ausgeführt
wurden; Schafwolle in Ballen 1888 68.400 q (Werth 13·7 Millionen Francs),
1887 89.751 q, Kaffee 1888 97.428 q (Werth 19·5 Millionen Lire), 1887 81.229 q
und Sämereien, Steinkohle.
Zum grossen Theile französischen Ursprungs sind Weine, deren Haupt-
absatzgebiet Südamerika, Algier, die Union, Italien und die Schweiz sind. Ausfuhr
1888 227.560 hl, 1887 199.131 hl. Ziemlich bedeutend ist in Marseille die Ausfuhr
von Kartoffeln; die Herstellung von Conserven von Tomaten und anderen
Früchten dürfte in kurzer Zeit den Charakter einer Exportindustrie gewinnen und
die Ausfuhr von Seesalz, welches in der Nähe von Marseille gewonnen wird,
erreichte 1888 227.885 q (Werth 3·4 Millionen Lire), 1887 406.605 q.
Aber dem Werthe nach sind Marseilles wichtigste Exportartikel Gewebe,
1888 zusammen 180.000 q, 1887 155.000 q, davon sind zwei Drittel bis die Hälfte
französischen Ursprungs. Französische Tuche werden nach Italien infolge Er-
löschens des Handelsvertrages mit diesem Lande weniger dahin ausgeführt. Haupt-
abnehmer der Merinogewebe und wollenen Decken sind Algier, Argentina und
Brasilien. Auch für Baumwollgewebe (1888 110.000 q) ist Algier von besonderer
Wichtigkeit. Von glatten Seidenstoffen wurden 1888 1600 q, davon 52 % franzö-
sische exportirt.
Der Waarenumsatz, also Einfuhr und Ausfuhr des Hafens von Marseille,
wird für 1888 mit 9,244.355 t, für 1887 mit 8,324.331 t, für 1886 mit 8,175.211 t
Schiffstragfähigkeit angegeben. Aber die Höhe des Waarenbetrages blieb hinter
dieser Ziffer weit zurück; sie erreichte 1888 in der Einfuhr 2,838.204 t, in der
[411]Marseille.
Ausfuhr 1,786.746 t, 1887 in der Einfuhr 2,590.725 t, in der Ausfuhr 1,675.879 t.
Der Werth der Einfuhr wird für 1888 mit 991·1 Millionen Francs, für 1887 mit
904·4 Millionen Francs, der der Ausfuhr für 1888 mit 758·9, für 1887 mit
728·1 Millionen Francs angegeben. Die Durchfuhr wird für 1888 mit 4,624.950 t
angegeben.
Der gesammte Schiffsverkehr von Marseille umfasste:
| [...] |
Von dem Verkehre des Jahres 1888 entfielen auf die
| [...] |
Dem internationalen Handel dienten:
| [...] |
Aus diesen Tabellen ersieht man, dass auch in Ansehung des Schiffverkehrs
Marseille ein französischer Hafen und dass es ein internationaler Handelsplatz ist.
Marseille hat eine selten grosse Zahl von regelmässigen Dampfschiffsverbindungen,
die hauptsächlich dem internationalen Verkehre dienen, weil für die Küstenschiff-
fahrt an der Mittelmeerküste Frankreichs nicht viel zu holen ist.
Marseille besitzt (1889) eine Marine von 240 Dampfschiffen und 53 Segel-
schiffen. Von den Dampfern gehören 62 mit 108.538 t den Messageries mari-
times, 30 mit 25.216 t der Compagnie générale transatlantique, 25 mit 21.336 t
der Compagnie Marseillaise (Fraissinet \& Co.), 17 mit 21.239 t der Société géné-
rale de transports maritimes, 13 mit 16.389 t der Compagnie Française (Cypr.
Fabre \& Co.) und 8 mit 21.126 t der Compagnie Nationale.
Wenn wir nun eine übersichtliche Darstellung der wichtigsten Schiffscurse,
deren Ausgangspunkt Marseille ist, geben wollen, so tritt uns Marseille als der Aus-
gangspunkt eines wirklichen Weltverkehres, der von New-York und London bis
La Plata, Yokohama und Australien reicht, entgegen. Nicht wenig zu dieser
Entwicklung der französischen Rhederei trugen das Bestreben der Regierung, alle
Colonien mit Post-Dampferlinien zu versehen, und die damit zusammenhängenden
hohen Subventionen bei. Da der Verkehr in die Levante die uralte Grundlage
des Verkehrs von Marseille ist, so stellen wir diesen an die Spitze. Dorthin gehen
die Messageries Maritimes mit einer Linie über Smyrna, Salonichi nach Constanti-
nopel, wo die Linien des Schwarzen Meeres ihren Anfang nehmen. Dieselben
Linien befährt die Compagnie Fraissinet, und die Compagnie de Navigation maro-
caine et arménienne (P. Paquet \& Co.) geht ins Schwarze Meer. Caillol et
52*
[412]Das Mittelmeerbecken.
H. Saintpierre haben Linien im Mittelmeer und einen Correspondenzdienst mit
der Russischen Dampfschiffahrts- und Handelsgesellschaft und den südrussischen
Eisenbahnen.
Eine zweite Linie der Messageries Maritimes geht über Piräus, Salonich,
Smyrna an der Küste Kleinasiens und Syriens bis Alexandria. Für den Verkehr
mit Syrien ist noch wichtig Cypr. Fabre \& Co. Den Verkehr mit Malta, Tripolis,
Tunis und Algier besorgt die Compagnie générale transatlantique, die Société
générale de transports maritimes, Compagnie de Navigation mixte, Cypr.
Fabre \& Co.
Zahlreich sind die Verbindungen mit den Plätzen des Languedoc, mit der
Ostküste Spaniens, mit Marokko, auf diesen Linien verkehren einige spanische
Gesellschaften; der Verkehr mit den Plätzen Italiens ist sehr eingeschränkt, seit
die französischen Schiffe dort nicht mehr die Küstenschiffahrt treiben dürfen.
Dem historischen Zuge nach dem Osten folgend, unterhalten die Messageries
maritimes regelmässige Curse über Alexandria und Port Saïd mit den Plätzen
Vorderindiens, mit Singapore, Batavia, Saigon, Tonking, Manilla und den grossen
Seeplätzen Chinas und Japans hinauf bis Yokohama. Nach Tonking geht auch die
Compagnie Nationale, nach Java der Rotterdam’sche Lloyd, an den persischen
Meerbusen the Persian Gulf Steamship Cy via Marseille. Eine zweite Linie der
Messageries maritimes leitet den Verkehr von Sansibar, den Seychellen, Masca-
renen, Madagascar, Australien und Neu-Caledonien (Noumea) nach Marseille.
Eine dritte Linie der Messageries, nämlich die nach Südamerika, warf in den
letzten Jahren ein gutes Erträgniss ab. Aut der Fahrt dahin wird Dakar in
Französisch-Senegambien angelaufen.
Auch die Transports Maritimes, die Compagnie Fraissinet, Cypr. Fabre \& Co.
und die Compagnie Nationale gehen mit Gewinn bis Buenos Aires.
Nach Marokko und den canarischen Inseln geht die Compagnie Paquet, und
die Compagnie Fraissinet läuft alle Hafenplätze an der Westküste Afrikas bis
Loango hinunter an.
Aber Marseille hat auch Schiffahrtsverbindungen nach dem äussersten
Westen, wenn man hier diesen Ausdruck gebrauchen darf. Es geht nämlich von
Marseille eine Linie der Compagnie générale transatlantique über Barcelona, St
Thomas, die kleinen Antillen und die Nordküste Südamerikas nach Colon-Aspin-
wall an der Landenge von Panama. Directe Fahrten nach New-York unterhalten
Cypr. Fabre \& Co. und die Compagnie Nationale, der Hauptverkehr dahin aber
geht über Hâvre, wohin die Messageries maritimes und die Compagnie Hâvraise
Peninsulaire fahren. Die Messageries maritimes verbinden Marseille auch mit
London, spanische Gesellschaften gehen nach Sevilla und bis Bilbao, die Linie
der Compagnie générale des bateaux à vapeur à helice du Nord nach Dünkirchen
und die Linie Slomann nach Hamburg.
Wie sich wohl von selbst versteht, blüht in einem so bedeutenden Hafen,
wie Marseille das Assecuranz-, Bank- und Speditionswesen. In Wirklichkeit haben
dort eine Reihe grosser und bedeutender Agentien für Seetransporte ihren Sitz,
wir finden Vertretungen von 58 Versicherungs-Gesellschaften, von denen 16 mit
der Seeversicherung sich befassen.
Marseille besitzt eine Börse, eine Succursale der Banque de France und
sechs andere Banken und Bankfilialen.
[413]Marseille.
Den Linien der Eisenbahnen folgen die telegraphischen Verbin-
dungen Marseilles. Hier knüpfen auch sechs Kabel an; davon führen drei, die
dem französischen Staate gehören, nach Algier, zwei der Eastern Telegraph Cy.
nach Bona und das der Direct Spanish Telegraph Cy. nach Barcelona.
Consulate haben in Marseille folgende Staaten: Argentina, Belgien (G.-C.),
Bolivia, Brasilien, Chile, Costarica, Dänemark, Deutsches Reich, Dominikanische
Republik, Ecuador, Griechenland (G.-C.), Grossbritannien, Guatemala, Haïti, Hawaii,
Honduras, Italien (G.-C.), Japan, Liberia, Mexico, Monaco (G.-C.), Niederlande,
Nicaragua, Oesterreich-Ungarn (G.-C.), Paraguay, Persien, Peru, Portugal, Ru-
mänien, Russland (G.-C.), Salvator, San Marino, Schweden und Norwegen, Schweiz,
Spanien, Türkei (G.-C.), Uruguay, Venezuela, Vereinigte Staaten von Amerika.
[[414]]
Cette.
Im nordwestlichsten Theile der Flachküste des Golfe du Lion,
den, wie bereits erwähnt, eine Kette von Küstenseen (Étangs) von
den Rhône-Mündungen an bis zum Fuss der Pyrenäen umschliesst,
lagert am Ausflusse des Étang de Thau die bedeutende Industrie- und
Handelsstadt Cette, eine altrömische Colonie, die aber erst im
XVII. Jahrhundert, seitdem der grosse Schiffahrtscanal (Canal du Midi,
Canal du Languedoc), welcher die Garonne bei Toulouse mit dem
Mittelmeere verbindet und in den Étang du Thau einmündet, ausge-
baut war, zu einem wichtigen Platz aufgeblüht ist.
Ebenso haben die vorzüglichen Eisenbahnverbindungen des
Platzes und der ostwärts längs der Étangs bis zur Rhône bei Beau-
caire geführte Schiffahrtscanal zur Hebung des Verkehrs und zur Ent-
wicklung einer leistungsfähigen Industrie mächtig beigetragen, so dass
Cette gegenwärtig neben Marseille der lebhafteste und wichtigste
Handelsplatz des südlichen Frankreichs geworden ist.
Die Stadt bietet aber nur in der ebengedachten Hinsicht
ein Interesse, denn sie entbehrt nicht nur landschaftlicher Reize und
jener Wohnlichkeit und Behaglichkeit, die nur selten einem grösseren
Orte abgehen, sondern gilt sogar als die unreinste und zu jeder
Jahreszeit unangenehmste im ganzen Gebiete des Golfes.
Cette liegt, von Canälen und Hafenbassins durchzogen, am Fusse
eines aus der Nehrung emporsteigenden, völlig isolirten, 180 m hohen
Berges, Mt. Cette, auch Mt. St.-Clair, dessen kahle Abhänge nur eine
geringe Bewegung aufweisen und mit Landhäusern bedeckt sind. Ein
Thurm krönt die Höhe, von der aus ein lohnender Ausblick über die
ganze Umgebung gewonnen werden kann. An einer südöstlich vor-
springenden Terrainwelle beherrscht das alterthümliche von Thürmen
flankirte befestigte Schloss Richelieu die Stadt und den Hafen.
Der äussere Anblik von Cette ist ein durchaus nüchterner. Der
Cette-Canal, welcher den Hafen mit dem Étang du Thau verbindet,
[415]Cette.
scheidet die Stadt in die westlich gelegene Altstadt und die östlich
von dieser befindliche Neustadt.
Die älteren geschichtlichen Aufzeichnungen über die Stadt sind sehr spär-
lich. Zur Zeit der Massilier hiess das von dem Mont Saint-Clair zum Meere ab-
fallende höchst markante und weit sichtbare Vorgebirge Σίτιον; an der Nordseite
desselben gründeten die Römer 113 v. Chr. eine Colonie, die aber zu keiner Be-
deutung gelangte. Im Mittelalter wurde der kleine Ort Seta oder Sète und in der
Folge Sette genannt, welchen Namen er noch 1790 in den officiellen Listen führte.
Die Halbinsel Cette wurde im XII. Jahrhundert, nachdem sie vorher der Abtei
von Aniane gehörte, ein Lehen, welches die Mönche von Saint-Ruf 1187 ankauften,
aber 1247 dem Bischof von Agde cedirten. Im XVI. Jahrhundert gelangte Cette
durch Kauf in den Besitz des Sohnes des Connétable Montmorency, welcher auf
den Abhängen des Berges einige Befestigungen erbauen liess. In der Folge ge-
hörte die Halbinsel bis zum Jahre 1790 den Bischöfen von Agde.
Heinrich IV. gebührt das Verdienst, die erste Idee zum Bau
eines Hafens bei Cette (1598) gefasst zu haben. Er beabsichtigte, den
Schiffen an der schutzlosen und durch heftige Stürme gefährlichen
Küste des Golfes von Lion eine sichere Zufluchtstätte zu schaffen.
Ebenso liess dieser Monarch die Studien zum Bau des gross-
artigen Canal du Midi, der auch den Namen Canal des Deux Mers
führte und bei Cette ausmünden sollte, bewerkstelligen. Aber erst
Pierre-Paul de Riquet gelang es, dieselben Gedanken auszuführen. 1666
wurden seine Projecte von Ludwig XIV. angenommen. Riquet liess
den Canal auf eigene Kosten mit einem Aufwande von 17 Millionen
Francs erbauen, ohne dass er die Vollendung seines Werkes erlebt
hätte. Sechs Monate nach seinem Tode (1680) wurde die neue
241 km lange Wasserstrasse dem Verkehr übergeben. Durch
99 Schleusen übersetzt der Canal die bedeutendeste von irgend einem
europäischen Canale überwundene Höhe von 189 m, und eine Baum-
allee von Pappeln und Platanen (an der Mittelmeerseite von Cy-
pressen) begleitet denselben längs des ganzen Laufes.
Der Canal hatte den Zweck, Frankreich von der Unsicherheit,
der Verzögerung und von den Gefahren des Verkehrs auf der Route
durch die Enge von Gibraltar zu befreien. Was würden Riquet und
dessen Zeitgenossen zu unseren Schiffskolossen sagen! Mit dem Bau des
Canales begann 1666 auch die Construction des Kunsthafens von Cette.
Zuerst entstanden dort die beiden Dämme Saint-Louis von mehr als
600 m Länge und nordöstlich desselben der 400 m lange Frontignan-
Damm. Seitdem entstand unter Louis-Philippe noch der äussere etwas
gekrümmte Wellenbrecher, der gegenwärtig an beiden Enden durch
geradelaufende Arme verlängert wurde, und, wie unser Plan zeigt,
[416]Das Mittelmeerbecken.
die Hafenbassins sehr gut gegen den hohen Seegang der äusseren
Winde abschliesst.
Am Kopfende des Saint-Louis-Dammes erhebt sich der unter
43° 24′ nördl. Breite und 3° 42′ östl. Länge v. Gr. liegende 32 m hohe
Leuchtthurm.
Hinsichtlich der Canäle und Bassins im Weichbilde der Stadt
verweisen wir auf unseren Plan, der alle Details mit Deutlichkeit
verauschaulicht.
Cette.
Nach dem Ausbaue der Hafendämme Riquets ward an die
Gründung des heutigen Cette geschritten. Mit vielen Privilegien von
Ludwig XIV. ausgestattet, bildeten sich hier Handelsgesellschaften,
die weitläufige Magazine erbauten, aber zu Grunde gingen. Spätere
Unternehmungen glückten jedoch, und seitdem nahm die Entwicklung
des Platzes einen stetigen und ununterbrochen steigenden Verlauf.
Cette bildet für sich einen Bezirk des Arrondissement Ment-
pellier und zählt 35.517 Einwohner. Ausser ihren grossartigen Hafen-
anlagen und Fabriken besitzt die Stadt keinerlei Sehenswürdigkeiten.
Seit dem Jahre 1851 besteht dort eine Schiffahrt-Schule.
[417]Cette.
Für Cette, den Hafen des Departements Herault, welches mit dem benach-
barten Departement Gard vor den Verwüstungen der Phyloxera allein halb so viel
Wein erzeugte, als heute ganz Frankreich, ist Wein der wichtigste Handelsartikel.
A Rhede von Cette, B Vorhafen (Avant-Port), C altes Bassin, D neues Bassin, E Canal maritime,
F Leuchtfeuer, G Bassin de la Comp. du Midi, H Canal Latéral, J Canal de Cette, K Darse de la
Peyrade, L Canal de la Peyrade, M Eisenbahn nach Montbazin, N Waarenbahnhof der Comp. du Midi,
O Bahnhof, P Richelieu-Dock, Q Lazareth, R Petroleum-Bassin, S Hospital, T Bauplatz für B-tonblöcke,
U Avenue de la Gare, V Brücke St. Pierre, W Zollamt, X neue E-planade, Y Chateau d’Eau, Z Bade-
strand. — 1 Quai de l’avenir, 2 Quai Paul Riquet, 3 Esplanade, 4 Arsenal.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 53
[418]Das Mittelmeerbecken.
In den ausgedehnten Depots der Stadt sammeln sich ungeheuere Mengen
inländischer und ausländischer Weine. Ende Juli 1889, also zu einer Zeit, wo die
Bestände schon reducirt sind, lagerten in Cette 876.000 hl Wein. Sie werden von
hier in ihrem ursprünglichen Zustande versendet oder durch Verschneiden, Sprit-
zusätze u. A. mundgerecht gemacht. Mit einem Worte, Cette ist auch einer der
Hauptsitze der französischen Weinfabrication.
Daher ist nach Hamm der Eindruck, welchen seine Weinmagazine machen
ein durchaus kosmopolitischer; da liegen in langen Reihen aufgestapelt die Fass-
formen aller Weinländer: portugiesische Almudas, Madeiraguartes, spanische Bottas,
italienische Barilli, die länglichen Fässer Dalmatiens, Bordeaux-Oxhofts, rheinische
Stückfässer, gezeichnet mit jeder Marke und jedem Brande, die sich nur denken
lassen, so dass jeder die Wahl hat und auch der grösste Weinhändler binnen einer
Stunde sich mit allen Gewächsen des Erdbodens versorgen kann. Cette könnte
man auch Frankreichs, vielleicht Europas, „erste Binderstadt“ nennen, denn jähr-
lich werden 200.000 bis 300.000 Fässer in allen Formen und Grössen gearbeitet.
Im Jahre 1888 wurden 3,840.371 hl, 1887 3,585.612 hl Wein zugeführt,
nämlich aus Spanien (1888 3,189.520 hl), Italien (1888 282.904 hl) 1887 517.014 hl),
Algier (190.140 hl) und Oesterreich-Ungarn (51.622 hl), das heisst aus Dalmatien.
In Cette werden auch Kunstweine bereitet; dies ist die Erklärung für die
starke Einfuhr von Rosinen, Feigen und Caruben. Rosinen kommen aus
Griechenland und Smyrna theils direct, theils über Marseille (1888 39.081 q, 1887
43.960 q), Feigen (1888 10.598 q, 1887 14.168 q aus Smyrna), Caruben aus
Cypern und Candia (1888 15.585 q).
Der grösste Theil der eingeführten Weine geht ins Innere Frankreichs.
Nun klagt man in Cette, dass wegen der Transito-Tarife für einen Binnenort der
directe Bezug ausländischen Weines billiger zu stehen komme als der durch die
Vermittlung von Cette. Immer grössere Mengen werden daher direct bezogen, und
das Platzgeschäft von Cette sinkt. Auch die Erhöhung des Einfuhrzolles auf
Rosinen 1888, um so die französischen Weinbauern zu schützen, das Gesetz, dass
Wein aus Rosinen, Zucker und Trestern dargestellt und auch Naturwein, wenn er
nur die geringste Beimischung solcher künstlicher Weine enthalte, unbedingt als
Kunstwein bezeichnet werden müsse, hat den Weinhandel von Cette sehr ge-
schädigt.
Die Einfuhr von Alkohol, Fassdauben, Schwefel steht ebenfalls mit
dem Weinbaue und Weinhandel in Zusammenhang.
Von spanischem und deutschem Alkohol wurden 1888 10.446 hl, 1887
7329 hl eingeführt, Fassdauben aus Fiume (hier Entrepôt der Fiumaner Cre-
ditbank), in kleineren Mengen aus Italien und vom Schwarzen Meere 1888
19,473.796 Stück, 1887 20,960.789 Stück, Schwefel 1888 98.165 q, 1887
194.481 q, Schwefelsublimat 1888 2500 q.
Wichtig sind die Einfuhr von Holz und Korkholz (1888 9626 q).
Getreide ist nach Wein der wichtigste Einfuhrartikel.
Im Jahre 1888 694.531 q, 1887 543.458 q Getreide meist vom Schwarzen
und Asow’schen Meere, von Salonich und aus Algier zugeführt. Die Sendungen
bestanden überwiegend aus Weizen.
Andere Artikel der Einfuhr sind Früchte (1888 57.150 q), Gemüse (1888
104.264, 1887 19.617 q); dann aus dem Thierreiche Seefische, Schafe, Häute und
[419]Cette.
Wolle (1888 51.449 q), und aus dem Mineralreiche Erdpech 436.048 q, Erze
aller Art 334.758 q, englische Steinkohlen 216.300 q und Petroleum 179.736 q.
Klein ist die Reihe der Artikel der Ausfuhr.
Von Wein wurden ins Ausland geschickt 1888 172.135 hl, 1887 282.640 hl;
Alkohol 1888 7453 hl, Seesalz (1888 190.677 q), das hier an der Küste in einer
Menge von 1·2 Millionen t gewonnen wird und nach Nordeuropa geht, Stein-
kohlen und Coaks (1888 731.138 q, 1887 930.166 q), und Eisen in Stangen und
als Schienen (1888 34.176 q, 1887 148.489).
In Cette überwiegt weitaus die Einfuhr, da 1888 715.673 t Waaren einge-
führt und nur 159.187 t ausgeführt wurden.
Cette hat auch eine ganz ansehnliche Industrie.
Es liegt an der Küstenbahn zwischen Marseille und Barcelona; durch diese
verkehrt es über Narbonne mit Spanien und mit dem Thale der Garonne und
über Nîmes mit jenen Gebieten, welche Marseille zugänglich sind; in das Centrum
Frankreichs führen zwei Linien.
Es hat lebhaften Küstenverkehr mit den französischen und spanischen
Plätzen, die spanischen Linien, welche nach Marseille gehen, laufen meist auch
Cette an.
Sein gesammter Schiffsverkehr erreichte
| [...] |
Im Jahre 1888 entfielen von der Hauptsumme 1,365.361 t (davon Küsten-
verkehr 727.777 t) auf die französische Flagge, neben welcher die spanische, nor-
wegische und englische Flagge die grösste Bedeutung haben.
Consulate haben hier: Argentina, Belgien, Chile, Dänemark, Dominikani-
sche Republik, Liberia, Monaco, Niederlande, Oesterreich-Ungarn, Spanien, Türkei,
Uruguay.
Der französische Hafen Port Vendres in der nächsten Nähe
der spanischen Grenze ist mit Marseille und Cette im Bunde die
dritte Handelsstadt für Wein an der Mittelmeerküste Frankreichs;
hier befinden sich die berühmten Cuves, gemauerte Fässer oder viel-
mehr Weinbehälter, von welchen ein jeder 48.000 l fasst. Der An-
blick ist nach W. Hamm ein eigenthümlicher, von oben hinab in die
tiefe, dunkle Weinflut, welche das Erzeugniss der verschiedenartigsten
Weinberge zu einem homogenen Ganzen vereinigt. Ist dies geschehen,
so wird der klar gewordene Wein in die grossen Magazinbehälter
abgeleitet, welche je 12.000—18.000 l halten.
Von Port Vendres, das Eisenbahnstation ist, geht die kürzeste Seelinie von
Frankreich nach Algier, 351 Seemeilen, und nach Oran; beide Linien besorgt die
Cie. Générale Transatlantique.
53*
[[420]]
Algier.
Kaum irgendwo anders stossen die Bestrebungen für die Ent-
wicklung eines Landes auf härteren Widerstand als gerade in jenen
Gebieten, auf welchen schon im Alterthume Stätten der Cultur er-
blühten.
Das heutige Algerien, welches die drei französischen Provinzen
Constantine, Algier und Oran umfasst, zählt zu diesen nur nach
langen und blutigen Kämpfen der modernen Cultur gewonnenen Län-
dern. Frankreich leistete dort im feindselig gehüteten Küstengebiete
sowohl wie in den düsteren Schluchten des Atlas und am unwirth-
lichen Wüstenrande ein bewunderungswürdiges Colonisationswerk,
das bereits jetzt Früchte zu reifen beginnt.
Nach der Eroberung durch die Römer bildete Algier die Provinzen Numidien
und Mauretania Caesariensis, verfiel aber nach dem Einfall der Vandalen und Araber
wieder in vollständige Barbarei. Erst im X. Jahrhundert unserer Zeitrechnung
wurde unter dem arabischen Fürsten Zeiri an Stelle des alten Icosiums die Stadt
Al-Dschesaïr (die Siegreiche) das heutige Algier gegründet. Die Provinz gerieth
jedoch im XII. Jahrhundert für mehr als 100 Jahre unter marokkanische Herr-
schaft, zerfiel alsdann in verschiedene Gebiete, wobei Algier unter den Ziganiden
zu dem bedeutendsten derselben, dem Königreiche Tlemsen, gehörte.
Die Entwicklung und Befestigung geordneter Verhältnisse wurde aber wieder
durch die im Jahre 1492 erfolgte Vertreibung der Mauren und Juden aus Spanien
zur Unmöglichkeit gemacht, denn diese gährenden Elemente siedelten sich an den
Küstengebieten Afrikas an und überboten sich gegenseitig in Anfeindung der
Christenheit. Ihr Hauptgewerbe war die Seeräuberei.
Von den christlichen Staaten darob bedrängt, suchte und fand Algier 1516
die Hilfe der Piraten unter deren Häuptling Horuk Barbarossa gegen die Spanier.
Es fiel jedoch, nachdem dessen Emir ermordet, eben in die Hände dieser Piraten.
Dem Horuk Barbarossa, den die Spanier enthaupteten, folgte sein Bruder
Dschereddin Barbarossa, welcher sich als Sultan ausrufen liess, allein seine Selb-
ständigkeit war von geringer Dauer. Bereits 1520 ward er unter die Lehenshoheit
der Pforte gestellt.
Dschereddin, welchem zwar das Verdienst zukommt, durch die Verbindung
des vor Algier gelegenen Inselchens mit dem Festlande der Begründer des Hafens
geworden zu sein, wurde auch der eigentliche Begründer der berüchtigten algeri-
[421]Algier.
schen Seeräuberei, nachdem es ihm mittelst türkischer Hilfstruppen gelungen war,
durch die Vertreibung der Spanier aus dem Inselfort jede Schranke gegen die
Piraterie zu beseitigen.
Die unter Kaiser Karl V. 1541 unternommene grossartige Expedition zur Er-
oberung von Algier und Unterdrückung des Seeraubes im Mittelmeere scheiterte
vollkommen, und die Raubzüge der Piraten währten fort, welche ihre Macht auch
im Innern Algeriens erweiterten und an der Küste, das spanische Oran ausgenom-
men, bis an die Grenze von Marokko ausdehnten.
Als 1600 die Janitscharen das Recht erlangten, einen Dey zu wählen, der
dem Pascha zur Seite ihr erkorener Gebieter war, vermehrten sich die Kämpfe
im Innern des Landes, riefen jedoch bei Fortbestand des Piratenwesens zu wieder-
holtenmalen Anstrengungen europäischer Staaten hervor, diesem Unwesen ein Ende
zu bereiten.
Doch hatten weder die Bemühungen der Engländer 1655, noch jene Eng-
lands im Vereine mit den Holländern 1669 Erfolg, und selbst die späteren und
wiederholt von Engländern und Franzosen angestellten Bombardements, wobei
Algier 1687 durch die Geschütze französischer Schiffe in Asche gelegt wurde,
konnten die Piraterie nicht brechen. Diese war zu einer staatlichen Institution
geworden, welche dem Dey reiche Einkünfte an Gold und Sclaven einbrachte.
Oran, die letzte Besitzung der Spanier, ging denselben sogar im Jahre 1708
verloren und wurde erst 1732 zurückerobert und dann bis 179: gehalten.
Das Wiederaufleben der Piraterie, welche nur während der Kriege zwischen
Frankreich und England zu Ende des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts
durch die Anwesenheit grosser Flotten im Mittelmeere an Intensität eingebüsst
hatte, zwang schliesslich zu einem energischeren Vorgehen gegen die Barbaresken-
staaten.
Am 28. August 1816 wurde die Stadt Algier von einer englischen Flotte
unter Lord Exmouth bei Mitwirkung einer holländischen Escadre bombardirt. Alle
abgerungenen Zugeständnisse fruchteten jedoch wenig, und die Tributpflichtigkeit
der europäischen Staaten, selbst Dänemarks, endete nur mit dem Aufhören des
moslemischen Regimentes in Algerien.
Erst Frankreich war es vorbehalten, den Barbareskenstaaten ein Ende zu
bereiten. Die Beleidigung des französischen Consuls durch den Dey Hussein bot
eine bequeme äussere Veranlassung für Karl X., der durch diese Expedition die
Aufmerksamkeit des gährenden Frankreich nach aussen ablenken wollte. Die im
Juni 1830 mit grosser Macht inscenirte Occupation Algeriens wurde durch die
Einnahme der Stadt Algier am 5. Juli eingeleitet, für Karl X. leider zu spät, als
dass sie die Fluten der Julirevolution von seinem Throne abgehalten hätte. Er
hatte seinen gehassten Vettern vorgearbeitet, diesen selbst aber in Algier genug
Arbeit zurückgelassen.
Mit der Entsendung einer imposanten Flotte unter Admiral Duperré und
der 40.000 Mann starken Armee unter General Graf von Bourmont nach Algerien,
selbst mit dem Falle der Hauptstadt und der Capitulation des feigen Dey war
es nicht abgethan, sondern es bedurfte grosser und consequenter Anstrengungen,
um die feste Wurzelung der französischen Herrschaft, die Organisation der Ver-
waltung und endliche Besänftigung der Bevölkerung, welche sich wiederholt gegen
die neue Herrschaft erhob und schliesslich theilweise emigrirte, zu erzielen.
Zu wiederholtenmalen fielen die Araber über die europäischen Nieder-
[422]Das Mittelmeerbecken.
lassungen her und drängten die Herrschaft der Franzosen vom platten Lande in
die festen Plätze und Lager zurück. Jeder Zoll des Landes musste den braunen
Söhnen der Wüste abgerungen werden.
Wohl der gefährlichste und ausdauerndste Feind der französischen Cultur-
Mission war Abd-el-Kader, dessen Verbindungen mit Marokko auch Conflicte mit
letzterem Staaten hervorriefen, und die Erbitterung der Kämpfe zwischen den Ein-
geborenen und den französischen Invasionstruppen erhält durch die bekannte
Ausräucherung eines Kabylen-Stammes in den Höhlen von Dahra und die Erinnerung
an den damaligen französischen Oberst Pélissier, späteren Herzog von Malakow,
die grauenvollste Illustration. Erst die Gefangennahme Abd-el-Kader’s bedeutete
den Beginn einer ruhigen Verwaltung.
Auf einer Küstenstrecke von 1000 km bespülen die herrlichen
Fluten des Mittelmeeres das algierische Gebiet, das seit mehreren
Jahrzehnten den Segen einer ruhigen Entwicklung geniesst. Algier,
die Hauptstadt dieser Colonie, zugleich Hauptstadt der gleichnamigen
Provinz, ist zu einem jener wohlthuenden Ruhepunkte europäischer
Cultur geworden, in welchem man kaum mehr an dessen nächste Ver-
gangenheit gemahnt wird.
Algier ist ein beredtes Zeugniss für die Colonialpolitik der
Franzosen, welche darin gipfelt, dass der Staat die junge Colonie so
lange mit allen Mitteln unterstützt, bis sie lebensfähig geworden, und
in der Zeit der nun folgenden Blüthe Zinsen und Zinseszinsen dieses
Anlagecapitales sich zurückzahlen lässt.
Die fast Ost-West laufende, meist steil und felsig abfallende
Küstenlinie Algeriens weist wenig Buchten und noch weniger natür-
liche gute Häfen auf. Die bedeutendste, jene von Algier, ist indes
keine vorzügliche Rhede, denn sie ist insbesondere gegen Norden zu
ungeschützt.
Dem unternehmenden Geiste der Franzosen, welche durch civili-
satorische Bestrebungen eine tausendjährige Geschichte des Landes
zu verdunkeln bemüht sind, verdankt die Stadt Algier einen der herr-
lichsten künstlichen Häfen.
Die Neubauten bildeten eigentlich den Anschluss an den schon
im X. Jahrhundert gegründeten Hafen, auf den sie sich stützen, während
sie ihn gleichzeitig in sich aufnahmen.
Geräumig und tief genug, um den bedeutendsten Schiffen die
Zufahrt zu gestatten, entspricht die Anlage des Hafens zur Noth den
Bedürfnissen der Schiffahrt, die sich hauptsächlich nach den im
Norden liegenden Küsten der europäischen Uferstaaten, insbesondere
nach Frankreich richtet.
Neuestens wird die Erweiterung des Hafens gegen Süden zu
[423]Algier.
geplant, und wir haben das neue Project in unseren Plan von Algier
aufgenommen.
Gewährt schon das Bild seines Hafens einen überraschend
schönen Anblick, und erfreut es den Besuch er dieser Stadt, nach un-
ruhiger Seefahrt in einem aus herrlichen freistehenden Dämmen ge-
formten Wasserbecken die azurblaue See in vollster Ruhe zu be-
schauen, so überrascht es nicht minder, über den monumentalen
und äusserst effectvollen Quaimagazinen und breiten, aufwärts führenden
Verkehrsstrassen die ununterbrochene Reihe imposanter Gebäude zu
sehen, welche dem neuen Theile der Stadt ein vollkommen euro-
päisches Gepräge verleiht.
Nur gegen Norden und auf den steileren Höhen wird das
„kleine Paris“ überragt von den schneeweiss getünchten, dicht anein-
ander gedrängten Häusern der alten maurisch-türkischen Stadt, die
ihrerseits von der in 124 m Höhe gelegenen Kasbah, dem Castelle
und Refugium ihrer einstigen Gebieter, beherrscht wird.
Der Hafen ist von einigen formidablen Werken beschützt, zu
welchen auch noch die älteste, von den Spaniern erbaute, in un-
mittelbarer Nähe des Leuchtthurmes befindliche Citadelle gehört.
Seinen Abschluss im Norden erhält das Hafenbecken durch
einen aus dem X. Jahrhunderte stammenden Vertheidigungsdamm,
welcher, wie erwähnt, die Insel und Citadelle mit Algier verbindet.
Derzeit befindet sich in jenem alten Hafentheile die französische
Admiralität in eben demselben Pavillon, welcher einst der Sitz der
Capudan Paschas war.
Von der Insel ausgehend, in einer Curve nach Südost verlau-
fend, zieht sich der eigentliche Wellenbrecher hin.
Die Nord-Süd laufenden, tief unter der Stadt liegenden Quais
sind so breit, dass selbst der Bahnhof auf denselben angelegt werden
konnte.
Der steile Abhang vor der Stadt ist durch mehrfache Reihen
gewölbter Magazine und Depots, welche commerciellen Zwecken
dienen, ganz unterbaut. Ueber die einzelnen Etagen führen fahrbare
Strassen, welche den Wagenverkehr nach der Stadt ermöglichen,
während für den Fussgänger schöne breite Treppen durch die einge-
bauten Schachte hinanführen.
Das Bild der gesammten Hafenanlage ist, wenn man die von
einem Gitter eingefasste Terrasse erreicht hat, ein überraschend
schönes und in keinem Widerspruche hiezu zeigen sich die impo-
santen Façaden der Gebäude, welche den Boulevard de la Republique
[424]Das Mittelmeerbecken.
bilden. Zumeist sind dies prächtige Hôtels, eines so gut und stark be-
sucht wie das andere, und insbesondere zeigt nach Schluss des Tage-
werkes die bedeutende Frequenz der zahlreichen Cafés und Restau-
rants, dass man hier wie in allen südlichen Klimaten gerne den Ge-
nüssen des erquickenden Abendlebens sich hingibt; zeigt aber auch,
dass Algier zu der Zeit, die wir Winter nennen, eine Fremdenstadt ist.
Unter zahllosen Lichtern wogt dann die promenirende Volks-
Menge vorüber und nur einzelne zudringliche Verkäufer erscheinen,
die uns meist gefälschte Strausseier und andere Exotica Algeriens
aufzuhalsen versuchen.
Die neue Stadt, welche die ganze Seefront von einem Ende zum
anderen einnimmt und sich hauptsächlich gegen Süden erweitert, hat
zumeist prächtige breite und luftige Strassen, zum Theile mit Ar-
cadengängen.
Es dürfte kaum einen Artikel französischer Industrie geben, der
hier nicht anzutreffen wäre, so dass selbst das verwöhnteste Men-
schenkind in jeder Richtung befriedigt werden kann. Zudem sind die
Waarenhäuser nicht nur schön, sondern hinsichtlich der Preise jeden-
falls mässig und empfehlenswerth.
Manche Strassen führen uralte Namen, die meisten der neuen
Stadt jedoch erhielten moderne Benennungen. Wenn man die Stadt
vom Südende bis zum nördlichsten Thore Bab el Oued durchschreitet,
ist es fast unmöglich, den Place du Gouvernement, den wichtigsten Platz
Algiers, zu übersehen. Er ist der interessanteste und wird in seiner
östlichen Front durch eine der grösseren Moscheen Dschama Dschedid,
durch das Regierungspalais und mehrere der hervorragendsten Privat-
bauten umschlossen. Dort steht die Reiterstatue des Herzogs von
Orleans. Der Schmuck schön entwickelter Platanen, seine centrale
Lage sowie die vielen Cafés, welche die Lieblingsbörsen für den
orientalischen Geschäftsverkehr sind, machen diesen Platz zum Glanz-
punkte des Stadtgetriebes.
Ein reiches Feld für physiognomische und Racenstudien ent-
faltet sich dem Beschauer der verschiedenartigsten Volksgruppen, die
hier stets anzutreffen sind.
Die Anhänger des Islam, für deren Seelenheil noch heutzutage
in 22 Moscheen und kleineren Bethäusern gesorgt wird, treten hier
ungescheut mit den Giaurs in Beziehungen und Verkehr, und die auf
den Fremden so viel Anziehungskraft ausübenden Seidenstoffe, Schätze
orientalischer Teppichweberei, kabylischen und anderen Kunsterzeug-
nisse der Landeskinder scheuen keinen Vergleich, sondern wetteifern
[[425]]
Algier.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 54
[426]Das Mittelmeerbecken.
mit den Producten der europäischen Industrie in nicht minder ge-
schmackvollen Auslagen und Schaufenstern.
Die eigentliche Maurenstadt tritt in den Hintergrund; würde sie
nicht vorwitzig ihr weisses Haupt erheben und über die Dächer der
Neustadt hinüberragen, so würde man sie kaum gewahr werden. Ein
Gang durch die steilen, öden, schmalen und finsteren Gässchen, welche
sie wie ein Labyrinth ganz durchziehen, lohnt kaum der Mühe und
Anstrengung, es wäre denn, man wollte von den Höhen der Kasbah
die Fernsicht geniessen.
Lohnender ist es, den auch schon hoch gelegenen Markt Place
de Chartres zu besuchen. Nicht nur das Volk der Verkäufer fesselt
unser Interesse, sondern auch die mannigfaltigen Waaren, die alles
umfassen, was Algerien an Reichthum und Abwechslung hervorzu-
bringen im Stande ist; überrascht bewundert man die Fülle unge-
wohnter Früchte und herrlicher Blumen. Unter den nahezu 75.000
Einwohnern Algiers repräsentiren die Eingeborenen des Landes, circa
17.000, nur mehr einen geringen Theil, während das französische
Bevölkerungselement mit circa 24.000 den ersteren bereits weit über-
flügelte. Den Rest der Bewohner bilden 8500 naturalisirte Juden und
25.000 Angehörige vieler Länder und Stämme, unter denen die Mal-
teser neben den Juden als besonders rührige Geschäftsleute gelten.
Während für die Bekenner des Islam gesonderte Obrigkeiten
bestehen, die einer behördlichen Controle unterliegen, herrscht für
alle übrigen Bewohner nur das französische Staatsrecht, deshalb ist
auch Algier durch sechs Abgeordnete in der Deputirtenkammer Frank-
reichs vertreten.
Die Zunahme der europäischen Bevölkerung, welche zu nicht
geringem Theile dem Umstande zuzuschreiben ist, dass Algier eine
Militärcolonie darstellt, hat die Errichtung zahlreicher höherer Lehr-
anstalten hervorgerufen.
Algier besitzt eine Militärakademie, vier Hochschulen, nämlich
je eine für die Rechte, für Medicin und Pharmacie, für mathemati-
sche und Naturwissenschaften, für die Literatur mit einer orientali-
schen Section und einem öffentlichen Curse für die arabische Sprache.
Für die Muhamedaner besteht hier eine Medrassa.
Die Stadt hat zwei Theater, und viele französische und auch
arabische Journale erscheinen hier.
Auch die wohleingerichteten und in reicher Zahl vorhandenen
Bäder verdienen der Erwähnung.
[427]Algier.
In unmittelbarer Nähe der Stadt gewahrt man militärische
Etablissements und auf allen Häfen fortificatorische Anlagen.
Die Umgebung der Stadt entbehrt keineswegs der Reize: schöne
Gärten, Gelände und Villen, unter welch letzteren die Sommerresi-
denz des Gouverneurs die prächtigste, locken den Fussgänger nach
dankbaren Zielen, die er zwischen den rebenberankten Hügeln der
Metidscha auf breiten Fahrstrassen und wohlgebahnten Nebenpfaden
erreichen kann.
Hat auch die Cultur der Rebe schon eine gewisse Eintönigkeit
in das Bild der Vegetation gebracht, so sieht man doch in allen
Mulden grössere Anpflanzungen exotischer Gewächse und es dürfte
kaum ein besseres Klima, besseren Boden als den algerischen für die
üppige Entfaltung des Orangenbaumes, der Banane und der Dattel-
palme geben.
Algier geniesst den Ruf eines klimatischen Curortes. Die Alles
ausgleichende See lindert die Hitze des Hochsommers, die in 28 bis
30°C. ihren Höhepunkt erreicht, und die niedrigste Durchschnitts-
temperatur im Winter beträgt noch immer + 12°C.
Nicht nur Kranke, welche den Winter unter diesem milden
Himmelsstriche zubringen wollen und hiebei nichts vom gewohnten
Comfort einzubüssen brauchen, sondern auch unzählige Touristen,
welche das Land kennen zu lernen wünschen, dessen Reize ihnen
bishin verschlossen blieben, besuchen Algier. Mittelst Eisenbahn ge-
langt man durch die schönsten Gebiete der algerischen Colonie, von
den Grenzen Marokkos bis Tunis, und verschiedene Zweige dieser
Bahn winden sich südwärts durch die Thäler des kleinen Atlas-
gebirges bis in das hinterliegende Hochplateau und die Steppen. Es
wäre nur zu wünschen, dass die persönliche Sicherheit jener Reisenden,
welche gezwungen sind, ihre Wege auf dem Rücken des prächtigen
algerischen Pferdes oder Maulthieres, ja sogar auf Kameelen zurück-
zulegen, bald bis an die südlichsten Grenzen der Colonie erzielt
werden möchte.
In Algier haben ihren Sitz der Generalgouverneur und ein Prä-
fect, ein katholischer Erzbischof und ein Grossrabbiner, das Com-
mando des 19. Armeecorps, ein Appellhof und eine Handelskammer.
Frankreich hat sich in Algier ein äusserst wichtiges Absatz-
gebiet für seine Producte und ein weites Operationsgebiet für seine
Handelsmarine geschaffen. Man kann sich dieser Thatsache nicht
verschliesssn, wenn man in Betracht zieht, dass 1831 unmittelbar
nach der Eroberung der gesammte Aussenhandel des Landes kaum
54*
[428]Das Mittelmeerbecken.
8 Millionen Francs betrug, und dass er im Jahre 1850 auf 12·9 Mil-
lionen, 1860 auf 157 Millionen, 1870 auf 300 Millionen und 1888
auf 432·6 Millionen Francs gestiegen, von denen nicht weniger als
333 Millionen Francs auf den Verkehr mit Frankreich entfielen.
| [...] |
| [...] |
Die Franzosen verschafften dem Lande die Ruhe und Ordnung,
deren es bedurfte, um wieder jenem hohen Grade der Blüthe sich zu
nähern, welchen es unter der Herrschaft der Römer besessen hatte
und der seinen natürlichen Reichthümern entspricht. Nur sehr schwer
gewöhnte sich die eingeborne Bevölkerung dieses alten Herdes der
Barbarei, Seeräuberei und zahlreichen Verbrechen an die neuen
Zustände.
Wie oft wurde gegen die Franzosen der „heilige Krieg“ ge-
predigt und deren Culturarbeit unterbrochen!
Aber ihre rastlose Energie siegte immer, man glaubte allmälig
an die Beständigkeit der Verhältnisse, und die Einwanderung aus
Europa nahm seit dem Decrete vom 20. September 1878, welches
den Ankömmlingen sehr günstig ist, allmälig zu, wenn sie auch
noch sehr weit zurückbleibt hinter dem Strome arbeitsfähiger Men-
schen, welcher sich alljährlich in die Union und an die Südostküste
von Südamerika ergiesst.
Heute ist das Land nach jeder Richtung von Strassen durch-
zogen, eine Eisenbahnlinie von 1500 km Länge durchschneidet Algier
parallel mit der Küste, sie verbindet die Grenze Marokkos mit Goletta,
dem Hafen von Tunis, und ihre Abzweigungen dringen nach Süden
vor bis an den Rand der Wüste und führen die Producte des Innern
den Hafenplätzen der Küste zu.
Ackerbau und Viehzucht sind vielleicht für immer die Quellen
des Wohlstandes von Algier, die warmen Striche an der Küste und
die Region der Berge, welche die Eingebornen „Tell“ nennen, er-
freuen sich im Winter reichlicher Niederschläge. Hier wird auf eine
Länge von etwa 1200 km und eine Breite von 100 bis 150 km der
Ackerbau mit grossem Erfolge betrieben und gegen die Grenze von
[429]Algier.
Tunis erstrecken sich ausgedehnte Waldungen der Korkeiche. Hinter
diesen beiden Zonen erheben sich in einer Breite von 200 bis 300 km
weite Hochebenen mit einer bedeutenden Höhe über See, die an den
Grenzen Marokkos 1350 m, an denen von Tunis nur noch 900 m
beträgt. Hier sind die Winter kalt, sogar Schneefälle kommen vor,
und die Regenmenge ist zu gering, um noch den Ackerbau zu ge-
statten. In diesen Steppenlandschaften werden Halfa und Crin végé-
tal geschnitten, hier ist der Sitz der Viehzucht. Dann senkt sich das
Land nach Süden zu, im Osten sogar bis unter den Spiegel des Meeres.
Dies ist die algerische Sahara; an den wasserführendenStellen gedeiht
in grosser Ueppigkeit die Dattelpalme und liefert schmackhaftere
Früchte als in dem vom schlammigen Nilwasser gedüngten Egypten.
Die von der Natur gegebenen Verhältnisse des Landes zu ver-
bessern, ist seit 1856 die Hauptsorge der Franzosen, und sie haben
wahrhaft Grossartiges geleistet.
Sie setzten die Wasserleitungen des Alterthums wieder in Stand,
bauten mächtige Dämme quer durch die Betten der Flüsse, um die
Regenmengen des Winters zu sammeln, um damit in der regenlosen
Zeit die Gefilde zu befruchten; an den Flussläufen wurden ausge-
dehnte Anlagen zum Zwecke der Berieselung errichtet und in der
Sahara und auf den Abhängen der Plateaus folgten die Franzosen
dem Beispiele, welches die Eingebornen seit uralten Zeiten üben,
und bohrten, unterstützt von den Hilfsmitteln der modernen Technik,
Hunderte von artesischen Brunnen, welche zu Mittelpunkten von eben
so viel Oasen mit zusammen 3 Millionen Stück Bäumen wurden, die
einen Ertrag von 60 Millionen Francs abwerfen. Und um die sum-
pfigen Stellen der abflusslosen Gebiete des Innern von der Malaria
zu befreien, wurden Hunderttausende von Eucalyptus-Bäumen, diesen
Wohlthätern der warmen Länder, gepflanzt, welche ihre Wurzeln in
ungewöhnliche Tiefen hinabtreiben und das Grundwasser aufsaugen.
„Préparer le pays“ nennen die Franzosen in ihrer präcisen Sprache
diese bewunderungswürdige Thätigkeit.
Da nun Algier handelspolitisch nicht eine Colonie von Frank-
reich, sondern ein Theil des grossen Vaterlandes ist, zahlen die
Waaren Frankreichs in Algier und die Algiers in Frankreich (mit
ganz wenigen Ausnahmen, die in den Monopolen Frankreichs be-
gründet sind) keinen Zoll.
Der ungewöhnlich grosse Antheil Frankreichs an dem Aussen-
handel von Algier, den wir oben nachgewiesen haben, erklärt sich
aus dieser zollpolitischen Massregel.
[430]Das Mittelmeerbecken.
Leider sind wir nicht im Stande, die Vertheilung des Handels des Jahres
1888 auf die einzelnen Häfen nachzuweisen; wir besitzen ins Einzelne gehende
Angaben nur für 1887, und die beziehen sich nach dem Stande der Statistik Algiers
auch nicht auf die Hafenplätze, sondern auf die drei Departements Algier, Con-
stantine und Bona.
Die Zölle, welche Frankreich seit einigen Jahren von fremdem Getreide
und fremdem Vieh erhebt, sind ein bedeutender Vortheil für die Ausfuhr
dieser Artikel aus Algier. Doch hat das Land, zumal die Provinz Constantine,
furchtbar vor den Verheerungen der Wanderheuschrecken zu leiden. Der Schade,
welchen diese gefrässigen Thiere angerichtet haben, wird für das Jahr 1887 auf
8 Millionen Francs, für 1888 gar auf 25 Millionen Francs geschätzt. Im Departe-
ment Constantine haben sie alle Pflanzungen vernichtet und die Bevölkerung ge-
zwungen, das Vieh zu verkaufen, um es nicht Hungers sterben lassen zu
müssen.
Endlich 1889 wurde diese Plage mit einigem Erfolge bekämpft; man
schaffte 6000 Vertilgungsmaschinen nach dem Systeme an, das auf Cypern ge-
bräuchlich ist, 170.750 doppelte Hektoliter Eier, deren Zahl man auf 1193 Mil-
liarden berechnete, wurden eingeliefert. Im Ganzen mussten Soldaten, Arbeiter und
Bauern 2,190.544 Arbeitstage leisten, um das Uebel einzudämmen.
Durch die Heuschreckenplage, die schon seit 1887 dauert, ist die Ausfuhr
von Getreide und Mehl nach Frankreich 1888 auf 1,521.006 q (Werth 32 Millionen
Francs), die ins Ausland auf 45.218 q Getreide und 14.883 q Weizenmehl gesunken.
Von Hülsenfrüchten (légumes secs) wurden 1888 72.217 q, fast alles nach
Frankreich ausgeführt.
Gemüse (primeurs) werden in steigenden Mengen in den warmen Küsten-
strichen für den Bedarf Europas gebaut, weil immer mehr Boden der künstlichen
Bewässerung unterworfen wird. Ihre Saison dauert vom 15. December bis Ende Mai.
Die besten Gemüse werden in den Umgebungen der Städte Algier, Philippe-
ville, Bona, Mostaganem und Misserghin erzeugt. Sie sind ein wichtiger Fracht-
artikel der Compagnie générale transatlantique, welche durch die Schnelligkeit,
mit der sie die Früchte übers Meer nach Marseille bringt, die Ausfuhr in erster
Linie gefördert hat. Rechnen wir die normale Zeit der Ueberfahrt, wie sie bis
jetzt eingehalten wurde, aber bald noch weiter verkürzt sein wird, auf 24 bis
27 Stunden, so verlassen die Gemüse beispielsweise Montag Mittags den Hafen
von Algier, kommen am Dienstag Nachmittags nach Marseille und gehen mit den
Abendzügen weiter nach Lyon und Genf. Sie kommen 36—40 Stunden nach ihrer
Absendung aus Afrika in Paris zum Verkaufe. Jede Woche gehen vier Schnell-
dampfer von Algier nach Marseille, und jeder nimmt in der Saison 2—3000 Körbe
mit Gemüsen und Früchten mit. Es wurden ausgeführt von frischen Gemüsen 1888
36.187 q, 1887 36.832 q, von Kartoffeln 1888 26.652 q, 1887 51.885 q, von Tafel-
früchten 1888 107.498 q, 1887 110.544 q.
Mit Recht setzt man in Frankreich und in Algier grosse Hoffnungen auf
die Weinpflanzungen an den Abhängen des Atlas, die 1888 schon 97.000 ha er-
reicht hatten und sich meist in den Departements Constantine und Oran finden.
Man glaubt, Wein werde als Exportartikel die Verminderung des Werthes anderer
Erzeugnisse compensiren. Die Qualität der Weine hat sich in den letzten Jahren
sehr verbessert; sie ertragen sehr gut den Transport. Es wurden 1888 nach
Frankreich 1,235.114 hl (Werth 43·3 Millionen Francs), ins Ausland 24.228 hl
[431]Algier.
(Werth 0·8 Millionen Francs) verschickt. Die Gesammtausfuhr von 1887 erreicht
779.278 hl, die gewaltige Zunahme des Jahres 1888 ist auf Rechnung des Ver-
kehres mit Frankreich zu setzen.
Ansehnlich ist die Production von feinem Olivenöl, aber 1888 war die
Ausfuhr ungewöhnlich klein, 10.660 q gegen 45.855 q im Jahre 1887. Im Jahre
1888 ging Alles nach Frankreich, unter normalen Verhältnissen wird ein Drittel
der Ausfuhr ins Ausland verschifft.
Da Frankreich nicht den Bedarf an Tabak im eigenen Lande decken
kann, so trachtete es, denn seit Alters in Algier einheimischen Tabakbau zu fördern.
Auch heute noch liefern die Eingebornen den grössten Theil der Production, die
Frankreich den Bezug des Tabaks aus Ungarn zum grösseren Theile entbehrlich
macht. Es gingen dahin 1888 20.942 q Blättertabak im Werthe von 2·6 Millionen
Francs, ins Ausland 9375 q, vor Allem nach Tunis.
Tabakfabricate, und zwar meist Schnupftabak und Carotten, gehen meist
ins Ausland; 1888 7836 q und 5,583.400 Stück Cigarren.
Die Cultur der Baumwolle, welche zur Zeit des amerikanischen Sclaven-
krieges stark in Aufnahme kam, ist nicht mehr rentabel, dagegen betreibt man
in neuerer Zeit den Anbau der Nesselfaser oder Ramié in Gebieten mit milder
Temperatur und constanter Bewässerung. Von Phormium tenax, Abaca und anderen
Faserpflanzen wurden 1888 53.676 q, und zwar nach Frankreich ausgeführt. Die
ausgedehnten Hochflächen des Südens liefern sehr grosse Mengen von Espartogras
(Halfa) und Crin végétal. Die Hauptmasse des Esparto oder Halfa, 1888 748.058 q
(Werth 7,358.300 Francs), 1887 818.212 q, geht nach England, einiges auch nach
Spanien und Belgien, das Crin d’Afrique, 1888 105.068 q (Werth 1,576.020 Francs),
1887 81.334 q, nach Belgien, Union, Oesterreich-Ungarn.
Der neu angelegten Eucalyptuspflanzungen haben wir schon Erwähnung
gethan. Die alten Waldbestände, die vom Departement Constantine nach Tunis
sich hinziehen, werden leider durch die Sorglosigkeit der Araber von Bränden
heimgesucht, die auch die Cedern zerstören, deren hartes Holz durch die Werk-
zeuge der Araber nicht angegriffen wird. Das werthvollste Product der Wälder
Algiers ist Korkholz, von welchem 1888 43.384 q (Werth 3·1 Millionen Francs)
nach Frankreich, 28.787 q nach Russland, England, Spanien gingen.
Von Gerbrinden wurden 1888 55.976 q nach Frankreich, 59.819 q nach
Italien, Belgien und Portugal ausgeführt.
Auch für die Producte der Viehzucht ist Frankreich der Hauptabnehmer
Algiers. Es wurden 1888 735.487 Stück Hammel nach Frankreich. 7485 Stück
nach Spanien gesendet; Gesammtwerth 27·5 Millionen Francs. Algerische Schafe
zahlen nicht die 5 Francs Zoll, welche solche aus anderen Staaten in Francs
büssen müssen, und die Ausfuhr nach Frankreich ist 1889 auf fast 1 Million
Stück gestiegen.
Von Schafwolle wurden 1888 108.904 q (Werth 21·2 Millionen Francs)
ausgeführt, davon das Meiste nach Frankreich für den Verbrauch der Fabriken von
Elboeuf, Louviers, Evreux.
Rinder gingen 1888 17.986 Stück nach Frankreich, 1730 Stück nach
Spanien. Von rohen Häuten wurden 1888 18.025 q (Werth 5·1 Millionen Francs)
nach Frankreich, 2461 q ins Ausland gesendet.
Sehr ergiebig ist an den Küsten Algiers der Fischfang, an dem mit 50 %
[432]Das Mittelmeerbecken.
Italiener, mit 30 % Eingeborne, mit 15 % Spanier betheiligt waren. Jetzt ist der
Fischfang Franzosen und Algierern vorbehalten. Vier Fünftel des Ertrages (1888
70.039 q im Werthe von 3·5 Millionen Francs) werden im Lande verbraucht, der
Rest ausgeführt. Die Ausfuhr von Fischen überwiegt weitaus die Einfuhr, und da
zwei Dampfer, die nach Marseille gehen, Eiskästen haben, wird die Ausfuhr sich
noch weiter entwickeln. Dafür ist der Ertrag der Korallenfischerei 1888 auf
265.550 Francs gesunken.
Geradezu kolossal ist in den letzten Jahren die Ausfuhr von Erzen ge-
stiegen, und doch ist die entsprechende Ausbeutung der im Boden liegenden un-
ermesslichen Reichthümer noch erst eine Sache der Zukunft. Wir nennen hier
nur die grossen Lager von phosphorfreiem Eisen zu Beni Saff und Camerata in
West-Algier, für die 1879 ein eigener Hafen, Mersa Si Ahmed, gebaut wurde, der
Schiffe bis zu 2000 t Gehalt aufnehmen kann.
Bei Bona sind die Eisenwerke von Ain Mokra, im Gebiete von Oran die
ungemein ergiebigen silberhältigen Bleierze von R’ar-Rubban, bei Kleber in Oran
Marmorlager, wo der berühmte Giallo antico gebrochen wird, in Dahra zwischen
Oran und Algier sind Erdölquellen. Im Jahre 1888 wurden 250.480 qEisenerze
nach Frankreich, 2,825.000 q nach England, Belgien ausgeführt, Bleierze
439.892 q nach England, Zinkerze 113.880 q nach Belgien.
Auch in der Einfuhr ist Algier wesentlich von Frankreich abhängig; zu der
anfangs ausgewiesenen Ziffer kamen 1888 noch Waaren im Werthe von 18,309.967
Francs aus den französischen Entrepôts.
Von Producten des Pflanzenreiches sind in der Einfuhr wichtig Getreide
1888 572.629 q, davon das meiste aus Tunis und vom Schwarzen Meere, und Mehl,
dann Gries (57.159 q) aus Marseille. Reis meist aus Frankreich und den fran-
zösischen Entrepôts 33.779 q.
Wein (135.485 hl) meist aus Spanien und Frankreich.
Oele (64.257 q), und zwar meist Olivenöl aus Frankreich und Spanien.
Südfrüchte aus Frankreich, Spanien und der Türkei.
Blättertabak (14.125 q) kommt meist aus den französischen Entrepôts.
Tabakfabricate, namentlich Cigarren, aus England und den englischen Besitzungen
im Mittelmeere; die Holzeinfuhr deckt Frankreich (2 Millionen Francs), neben ihm
sind Oesterreich-Ungarn, Schweden und Norwegen und Italien ohne Bedeutung.
Kaffee (1888 41.054 q) wird aus den Entrepôts Marseilles zugeführt, von
Frankreich kommt raffinirter Zucker 128.281 q (5·4 Millionen Francs), Melasse
zumeist aus Egypten 14.760 q.
Die Einfuhr von Thieren und thierischen Producten, soweit sie über die
Landesgrenzen von Marokko und Tunis erfolgt, und die eine ansehnliche Grösse
erreicht, können wir hier übergehen. Wir erwähnen hier die fortsteigende Ein-
fuhr von Käse aus Frankreich und den dortigen Entrepôts, welche 1888 25.722 q
(Werth 3·6 Millionen Francs) erreichte, und die von Butter (10.204 q).
Steinkohlen wurden 1889 1,491.000 q eingeführt. Rohpetroleum ameri-
kanischen Ursprungs (1888) 1,446.777 q über England, raffinirtes 62.600 q vom
Schwarzen Meere.
Die Hauptziffer der Einfuhr von Fabricaten entfällt auf Baumwollstoffe;
neben Frankreich, das 1888 70.144 q im Werthe von 26·9 Millionen Francs
schickte, ist von den fremden Staaten (Einfuhr 24.839 q) besonders wichtig
England mit 15.940 q im Werthe von 6,241.119 Francs.
[[433]]
A Rhede von Algier, A1 innerer Hafen, B Marine-Bassin Darse, C Magazine, D Docks, E Project
des neuen Hafens, F Leuchtfeuer, G nördlicher Wellenbrecher, H südlicher Wellenbrecher, J pro-
jectirte Verlängerung desselben, K Art.-Arsenal, L Admiralität, M Quai, N Bahnhof, O Citadelle
Kasbah, P Fort und Batterie Bab Azoun, Q Gaswerke, R venetianische Bäder, R1 Agha-Bäder, R2 Fa-
milienbäder, R3 Tivoli-Bäder, S Exercierplatz (Champ de Manoeuvres), T Civil-Hospital, U Saliel-
Thor, V Bab-el-Oued-Thor, W Lyceum, X Orleans-Kaserne, Y Araberstadt, Z Train-Quartiere. —
1 Place du Gouvernement, 2 Place Bresson, 3 Boulevard de la République, 4 Rue de la Liberté
5 Rue de Constantine, 6 Rue d’Isly, 7 Place Bugeaud, 8 Schiessplatz, 9 Sacré-Coeur.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 55
[434]Das Mittelmeerbecken.
Schafwollwaaren liefert Frankreich (4341 q, Werth 5·5 Millionen Francs),
aber auch Marokko, Tunis und die Türkei. Jutegewebe und Seidenstoffe Frank-
reich. Metallwaaren, Maschinen und Werkzeuge kamen vor Allem aus Frank-
reich (Werth 13 Millionen Francs), einiges auch aus England und Belgien. Por-
zellan und Thonwaaren überwiegend aus Frankreich; von dort auch Papier
(121.700 q) und Spiel- und Galanteriewaaren um 3·4 Millionen Francs.
Seife (20.440 q, Werth 2·8 Millionen Francs) und Kerzen, Sprit und Liqueure
(46.584 q, Werth 3·5 Millionen Francs). Bearbeitete Felle und Häute, Leder und
Fabricate aus Leder (Werth aller 5·5 Millionen Francs).
Man sieht, dass in einer Reihe höchst wichtiger Waaren Frankreich auf
dem Markte von Algier beinahe ein Monopol hat. Jeder Franzose, der auswandert,
vergrössert Frankreich durch die glühende Anhänglichkeit an sein Vaterland und
Alles, was von dort stammt, für die Industrie und den Handel.
Die wichtigsten Länder, welche nach Algier einführen, sind neben Frank-
reich und den französischen Entrepôts England (1888 9·7 Millionen Francs), die
englischen Besitzungen im Mittelmeere (2·1 Millionen Francs), Spanien (8·7 Mil-
lionen Francs), Russland (5·6 Millionen Francs), Italien (2·1 Millionen Francs),
endlich Tunis und Marokko, deren Verkehr meist zu Lande vermittelt wird.
Die Ausfuhr ist, ausser nach Frankreich, gerichtet nach England
(10·4 Millionen Francs), englische Besitzungen im Mittelmeere (2·8 Millionen
Francs), Belgien (8·1 Millionen Francs), Spanien (4 Millionen Francs), Portugal
und Italien.
Wenn wir nun Algier im Besonderen betrachten, so ergibt sich, dass es
der erste Ausfuhrplatz des Landes für grüne Gemüse, Blättertabak, Flachs, Wein,
Kartoffeln und Schafe ist; den zweiten Rang behauptet es in Schafwolle, Hörnern
und Klauen, frischen und getrockneten Früchten und Crin d’Afrique. Hier sind
grosse Viehmärkte und ausgedehnte Entrepôts. Der Küstenverkehr erreichte 1888
36.422 t in der Ausfuhr, welche meist nach Dellys im Osten und nach Cherchell
im Westen von Algier gingen; diese beiden Häfen sind noch nicht durch eine
Eisenbahn mit dem Innern verbunden. In der Einfuhr kamen 19.313 t nach
Algier.
Im Verkehre mit dem Auslande, für welchen England besonders wichtig ist,
dominiren weitaus fremde Flaggen; der Verkehr mit Frankreich ist seit 2. April
1889 der französischen vorbehalten, das trifft aber nicht die Staaten, welche in
ihren Verträgen die Clausel der Meistbegünstigung haben.
Algiers Schiffsverkehr betrug:
| [...] |
Algiers Schiffsverkehr ist ebenfalls in erster Linie nach Frankreich gerichtet
und wird zumeist durch die Compagnie générale transatlantique besorgt.
Dieselbe ist bestrebt, den Verkehr immer mehr zu vervollkommnen, und es
ist ihr durch Inbetriebsetzung kräftiger Dampfer gelungen, bei dem Eildienste
eine Fahrtdauer von 24 Stunden für die Strecke Marseille-Algier (417 Seemeilen)
[435]Algier.
zur normalen bei günstigem Wetter zu machen. Jetzt werden auf der Werfte von
Penhoët neue Dampfer gebaut, die eine Geschwindigkeit von 18 Knoten erreichen
und den Weg nach Marseille in 22 Stunden zurücklegen sollen.
Algier hat durch die Compagnie générale transatlantique mit Marseille
täglich Postverbindung, mit Port Vendres und den Küstenplätzen bis Tunis ein-
mal in der Woche.
Nach Algier kommen ferner die Compagnie anonyme de navigation mixte
von Marseille, die Messageries maritimes, die Compagnie générale de bateaux à
vapeur à helice du Nord, die Compagnie Havraise, die Compagnie Havraise Pen-
insulaire Algérienne. Den Verkehr über Oran und Cette nach Marseille richtet die
Dampfschiffahrts-Gesellschaft E. Collal et A. Saintpierre ein.
Seit 1889 ist, wie schon erwähnt, die Schiffahrt zwischen Frankreich und
den Häfen Algiers französischen Schiffen vorbehalten und dadurch eine Ver-
theuerung des Transportes eingetreten.
Von Algier führen die Eisenbahnzüge den Reisenden zweimal täglich in
13 Stunden nach Oran (421 km), einmal täglich in 19 Stunden nach Constantine
(464 km).
Algier ist mit Marseille durch drei Kabel verbunden, welche der franzö-
sischen Regierung gehören.
In Algier haben die Bank von Algier (la Banque d’Algérie), die Compagnie
Algérienne, die Credit foncier et agricole d’Algérie, die Compagnie Algérienne und
eine Succursale des Credit Lyonnais ihren Sitz. Zahlreich sind die Wechselstuben,
dafür gibt es hier nur wenige Banquiers.
Consulate haben in Algier: Argentinien, Belgien, Bolivia, Brasilien, Co-
lumbia, Dänemark, Deutsches Reich, Dominikanische Republik, Griechenland,
Grossbritannien, Haïti, Italien, Monaco, Niederlande, Oesterreich-Ungarn, Paraguay,
Peru, Portugal, Russland, Schweden-Norwegen, Schweiz, Spanien, Uruguay, Vene-
zuela, Vereinigte Staaten von Amerika.
Kein zweiter grösserer Hafen Algiers liegt dem europäischen
Continente so nahe wie Oran, aber die Verbindungen mit Marseille und
Port Vendres durch die Cie générale transatlantique und mit Carta-
gena durch E. Collal et A. Saintpierre gehören nicht zu den Eil-
linien.
Der Hafen von Oran bildet ein grossartiges Panorama. Seine
Bucht wird im Westen durch den mehr als 400 m hohen Dschebel
Murdschadocho, im Osten durch den Dschebel Khar oder Löwenberg
abgeschlossen, und in dem Thale des zwischen diesen Schutzwehren
mündenden Ued er Rehhi und an den Abhängen der Berge erstreckt
sich weit nach Süden hin die Hauptstadt des westlichen Departe-
ments von Algier.
Oran ist viel mehr europäische Stadt als Algier, denn es war
seit Jahrhunderten wiederholt längere Zeit von den Spaniern besetzt.
Hier tritt der Orient in den Hintergrund und das ganze Leben
erinnert an das nahe Cartagena, weil von den 67.681 Einwohnern
55*
[436]Das Mittelmeerbecken.
zwei Fünftel Spanier und ihnen gegenüber die Franzosen weit in
der Minderzahl sind. Oft hört man die Stadt „Corte chica“, die
kleine Residenz nennen, weil sie unter spanischer Herrschaft so hiess,
und die Spanier haben hier ihre nationale Tracht bewahrt. Sie sind
die Träger des Gemüse- und Gartenbaues und arbeiten auch gerne
in den Minendistricten.
Den Franzosen ist die Ansammlung des spanischen Elementes
an den Grenzen Marokkos nicht angenehm. Denn auf dem Boden
dieses dem Handel noch so wenig erschlossenen Sultanates kreuzen
sich die Interessen Spaniens, Frankreichs und Grossbritanniens;
Spanien will von Ceuta, Frankreich von Algier und England von
Gibraltar aus seinen Einfluss ausbreiten.
Die Einrichtungen des Hafens von Oran entsprechen nicht mehr seiner Be-
deutung. Oran ist Algiers erster Ausfuhrhafen für Halfa, Crin d’Afrique, Gerb-
rinden, Getreide und getrocknete Gemüse, ein sehr wichtiger Platz für Wein,
Heu, Schafwolle, Häute und Hörner und Eisenerze. Hier werden unter allen Häfen
Algiers die grössten Mengen Mehl, Zucker, Pflanzenöle, Schafwollwaaren, gearbeitete
Häute und Seife eingeführt. Sein Küstenverkehr erreichte 1888 im Ausgange
11.845 t, die nach Philippeville und Algier bestimmt waren, 15.329 t im Eingange.
Der Schiffsverkehr von Oran betrug:
| [...] |
An Schiffsverbindungen besitzt der Hafen ausser den oben genannten eine
französische Linie nach Bordeaux, Hâvre, Rouen, Dünkirchen, eine spanische nach
Marokko, Cádiz und Gibraltar und ist Station der Gesellschaft E. Collal et A.
Saintpierre.
Oran hat Eisenbahnverbindung mit dem Innern, telegraphischen Anschluss
zu Lande.
Im Osten Algiers sind besonders wichtig die Häfen Philippe-
ville mit 22.171 Einwohnern und Bona mit 29.640 Einwohnern.
Der Schiffsverkehr von Bona und Philippeville betrug:
| [...] |
Ueber diese Häfen, von deren jedem eine Eisenbahn ausgeht, die im Innern
zu einem Strange sich vereinigen, kommen ins Ausland die Hälfte der Woll-
[437]Algier.
ausfuhr Algiers und mehr als die Hälfte der Fische, der frischen und getrock-
neten Früchte, der grösste Theil des Olivenöls und Korkholzes, sehr viel Heu,
Gerbrinde, eichene Schwellen und Eisenerze ins Ausland. Bemerkenswerth ist,
dass über sie die grössten Mengen von Baumwollstoffen, von Metallwaaren und
Wein ins Land kommen. Der Küstenverkehr von Philippeville umfasste 1888
9565 t im Ausgange und 11.339 t im Eingange.
Philippeville hat Eisenbahn- und Telegraphenverbindung mit dem Innern
über Constantine, dessen Hafen es ist. Die Bahn geht von hier bis in die Sahara
in die Oase Biskra (120 m Meereshöhe), die gegenwärtig mit ihrem Hotel Sahara
ein Hauptziel europäischer Touristen ist, welches von Philippeville in einem Tage
erreicht werden kann.
Der Küstenverkehr von Bona erreichte 1888 6959 t im Ausgange, 11.269 t
im Eingange.
Von Bona gehen zwei Kabel der Eastern Telegraph Company nach Mar-
seille, zwei nach Malta, ein Kabel des französischen Staates nach Biserta.
[[438]]
Barcelona.
Die West- und Südküste der pyrenäischen Halbinsel zählen zu
jenen Gebieten, wohin schon frühzeitig die hohe Cultur des Ostens
verpflanzt worden war. Es ist ein ebenso classischer Boden wie
jener von Phönikien, Griechenland, Karthago und Rom, und auch hier
brandeten die vernichtenden Wogen, welche die Kämpfe um die
Welt- und Seeherrschaft der grossen und mächtigen Reiche aufge-
wühlt haben, auch an den gesegneten Gestaden der Hesperia blühten
im Alterthume volkreiche Städte, in welchen wie zu Rom, Athen und
Korinth die Kunst der Alten prächtige Tempel und Bauten schuf.
Scheu und verwundert mögen die Ureinwohner des Landes, die
Iberer und die aus dem rauhen Norden eingedrungenen Kelten, das
niemals zuvor gesehene Schaffen der Fremden angestaunt haben.
Das ferne Tarschisch der Bibel, ein Land, das in der Folge
Tartessus genannt wurde, ist das heutige Andalusien, dessen Besied-
lung durch die Phönikier, daher in vorhistorischer Zeit stattgefunden
haben musste. Ebenso war das ausserhalb der Säulen des Herkules
gegründete Gades, an der Stätte des heutigen Cádiz, eine der ältesten
phönikischen Colonien. Aber auch die Griechen waren an den ver-
lockenden Gestaden Westspaniens beizeiten erschienen und machten
sich dort sesshaft. Viele der Colonien sind in den Kämpfen der Zeiten
spurlos verschwunden, andere wieder sanken von stolzer Höhe zur
Bedeutungslosigkeit herab, und wieder andere feiern nach einstiger
Blüthe und langem Siechthum erst in der Neuzeit wieder unerwartete
Triumphe. In den Schicksalen von Sagunt, Tarraco und Barcino sind
diese Wandlungen am deutlichsten ausgeprägt.
Nach Strabo wurde Sagunt (Saguntum der Römer) 1384 v. Chr.
durch Griechen aus Zante gegründet und war eine der wenigen
Colonien, welche die eifersüchtigen Phönikier den kühnen Rivalen an
der iberischen Halbinsel anzulegen gestatteten. Kaum eine andere
[439]Barcelona.
Stadt jenes Gebietes beanspruchte in der Geschichte mehr Beachtung
als die Seestadt Saguntum und deren heroisches Ende.
Die ungeheuren Reichthümer, die hier sich angesammelt hatten,
reizten endlich die Habgier der Karthager, welche seit 238 v. Chr.,
um welche Zeit Karthago nova (Cartagena) entstand, ihre Macht in
Hispania begründeten. Ein Hauptstrom der karthagischen Invasion
wälzte sich gegen Sagunt, das mit Rom verbündet dem Ansturm
Hannibals mit Heldenmuth begegnete. Der Widerstand und die
Schrecken der denkwürdigen Vertheidigung (218 v. Chr.) wurden
kaum von der Todesverachtung der Helden von Numantia überboten.
Sagunt fiel, erzählt Florus, der römische Geschichtsschreiber, als ein
grossartiges, aber trauervolles Denkmal der Treue zu Rom, aber auch
des Versäumnisses Roms, das in zaudernder Berathung den richtigen
Zeitpunkt für den rettenden. Entschluss nicht zu finden gewusst und
seinem Verbündeten in der Noth zu helfen unterlassen hatte. Roma
deliberante Saguntum periit!
Sagunt wurde indes gerächt, denn sein Schicksal gab mit die
Veranlassung zum zweiten punischen Kriege und in der Folge zur
Vertreibung der Karthager aus Hispanien. Die Trümmerstätte von
Sagunt war Jahrhunderte hindurch für die Gothen, Mauren und
Spanier ein unerschöpflicher Steinbruch. Gegenwärtig liegt in der
Nähe das Städtchen Murviedro, drei Meilen von der Küste entfernt.
Das Schicksal von Tarraco, dem heutigen Tarragona, zeigt ein
anderes Bild. Das scheinbar uralte Felsennest gelangte im römischen
Kriegszuge in die Gewalt der Brüder Publius und Cneius Scipio,
worauf Augustus, der hier (26 v. Chr.) überwinterte, die Stadt (Julia
Victrix) an Stelle von Carthago Nova (Carthagena) zur Hauptstadt der
diesseitigen hispanischen Provinz erhob, es mit vielen Prachtbauten
schmückte und durch Kunstbauten einen Hafen schuf. Hier erliess
der Imperator das Decret, welches die Schliessung des Janustempels
anordnete.
Tarraco blühte unter der Gunst der Römer zu grossem Glanze
auf und soll über eine Million Einwohner gezählt haben. Die einge-
fallenen Gothen und nach ihnen die Araber machten der stolzen
Pracht ein Ende. Die Stadt erholte sich nicht mehr zur Bedeutung.
Heute zählt Tarragona nur etwa 27.000 Einwohner und ist Sitz eines
Erzbischofs und des Gouverneurs der Provinz.
Im Gegensatze zu den beiden erwähnten uralten Cultur- und
Handelsstätten schreitet ihre ehrwürdige Schwesterstadt Barcino, das
heutige Barcelona, erst in der Neuzeit dem Höhepunkte des Ansehens
[440]Das Mittelmeerbecken.
und Reichthums entgegen, nachdem sie Jahrtausende hindurch eine
mehr bescheidene Rolle gespielt hatte. Die Legende nennt Herakles
ihren Gründer und verlegt die erste Ansiedlung auf 400 Jahre vor
die Gründung Roms. Jedenfalls haben wir es hier mit einer der
ältesten griechischen Schöpfungen auf hispanischem Boden zu thun,
zu deren Entstehung die günstigen orographischen Verhältnisse der
dortigen Küste (Hafenbucht und isolirter Berg) frühzeitig eingeladen
haben mochten.
Erst als die Karthager auch hieher vorgedrungen waren, wird
der Name Barcino genannt. Barca, Hannibal’s Vater soll die Stadt
225 v. Chr. umgebaut und zu seinen Ehren ihr den erwähnten Namen
gegeben haben; sie wurde, obgleich nicht ausgedehnt, das Neukarthago
der nördlichen Küste. Damals lag die Stadt auf der flachen Erhöhung
Taber, dort wo gegenwärtig die Kathedrale steht.
Die Römer besetzen sie 206 v. Chr. und nannten sie „Favienta
Julia Augusta Pio Barcino“, doch war die Stadt von Tarraco, ja
selbst von der heute verschwundenen massilianischen Colonie Emporiae
(Golf von Rosas nächst der französischen Grenze) verdunkelt.
Unter den Alanen, welche um das Jahr 409 Barcino besetzten,
begann der Wohlstand der Stadt sich zu heben, noch mehr aber, als
die Westgothen Barcino zur Hauptstadt erhoben. Diese durfte Münzen
prägen, welche die Legende Barcinona trugen.
In der Folge wurde Toletum die Königsstadt. Das Christenthum
fand in Barcino bald eine gesicherte Stätte, Zeuge dessen sind die
zwei in den Jahren 540 und 599 dort abgehaltenen Kirchenconcilien.
Spanien war aber nicht das Land, die Eigenart der Westgothen auf die
Dauer der Zeit zu erhalten. Nicht nur die Einflüsse des heissen Klimas und der
angesessenen Bevölkerung, sondern auch innere Zwistigkeiten zehrten am Marke
der Gothen, so dass die Araber, welche bereits die ganze Nordküste Afrikas be-
völkert hatten, zum Einfall in das blühende Spanien ermuthigt wurden.
Unter ihrem Heerführer Tarek Abu Zara, dem Begründer der Feste Gi-
braltar, überfluteten sie alsbald die Halbinsel. In der siebentägigen Schlacht bei
Jeres de la Frontera 711 sank das Reich der Westgothen in Trümmer, und es
erhob sich die Glanzperiode des unabhängigen Khalifats von Cordoba, dessen prunk-
volles Hofleben mit der Prachtentfaltung der römischen Imperatoren wetteiferte.
Wohlstand, ja Reichthum erfüllte das Land, und Kunst und Wissenschaft fanden
unablässige Pflege.
Aber auch das machtbewusste Khalifat unterlag schon im X. Jahrhundert
der zersetzenden Thätigkeit einzelner kriegerischer Vezire, und beim Erlöschen des
omajadischen Khalifengeschlechtes (1038) zersplitterte das Reich in kleine Emirate,
wie Toledo, Granada, Sevilla, Lisboa, Murcia und Valencia, welche rivalisirend
nebeneinander standen. Nachdem der Versuch der Sarazenen, den Halbmond auch
nördlich von den Pyrenäen aufzupflanzen, von den Merovingern blutig abgewiesen
[[441]]
Barcelona.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 56
[442]Das Mittelmeerbecken.
worden, war auch die Zeit gekommen, in welcher das Christenthum Spaniens
zum Kampfe um das verlorene Gebiet vorstürmte.
Ein wahres Heldenzeitalter brach auf der Halbinsel an. Die Geschichte dieser
Zeit berichtet von einer Fülle der kühnsten Kriegsthaten und verherrlicht die Helden-
gestalt des Cid als Vorbild gottbegeisterter Ritterlichkeit. In zahllosen Liedern
und Poemen besungen, erscheint Cid (Don Roderigo de Vivar) als der leuchtende
Mittelpunkt des damaligen Vernichtungskampfes gegen die heidnischen Mauren.
Unterdessen organisirten sich die vordringenden Christen zu staatlichen
Ordnungen. Im Norden entstand das Königreich Castilien, im Osten das König-
reich Aragonien und im Westen Portugal.
Seit 1238 auf Alicante und Granada beschränkt, hielten sich die Mauren
dennoch bis 1492, in welchem Jahre Ferdinand und Isabella, welche die Kronen
Castiliens und Aragoniens vereinigt hatten, der Maurenherrschaft den Todesstoss
versetzten. Im selben Jahre als Columbus der spanischen Krone die neue Welt
entdeckte, fiel Granada, der letzte Hort des letzten Maurenkönigs Bobadilla.
Von dieser Zeit an beginnt die ungeheure Machtentfaltung Spaniens eines-
theils durch kluge Heiratspolitik, wodurch der Habsburger Philipp die spanische
Königs- und die deutsche Kaiserkrone auf seinem Haupte vereinigte, andererseits
aber durch den weltbewegenden Erfolg der grossen Idee Colon’s, welcher Spanien
in der Folge ein weites Machtgebiet in der neuen Welt einbrachte und durch
deren Ueberfluss an Edelmetallen den Nationalreichthum des Mutterlandes wesent-
lich steigerte.
Spanien wurde zur tonangebenden Macht auf der Erde und spanische Sitte
und Tracht galten ebenso unbestritten wie spanisches Geld und spanische Kriegs-
kunst. Bekannt ist der stolze Spruch Karl I. von Spanien (Kaiser Karl V.): „In
meinem Reiche geht die Sonne nicht unter.“
Ebenso schnell wie Spaniens Machtfülle angewachsen war, vollzog sich die
Abbröcklung der zahlreichen Besitzungen, und in wirthschaftlicher Beziehung war
der Staat nur das „Sieb“, welches die amerikanischen Silberströme nach dem
übrigen Europa leitete. Nach dem spanischen Erbfolgekriege (1701—1714), welcher
die Herrschaft der Bourbonen in Spanien befestigte, war das Reich in Europa
bereits auf den heutigen Umfang eingeschränkt.
Die französische Revolution, noch mehr aber die napoleonische Kaiserzeit
griffen tief in die Schicksale des Landes. Napoleon zwang den König Karl IV.
und dessen Thronerben Ferdinand (1807) zur Thronentsagung und erhob seinen
älteren Bruder Josef Bonaparte zum König von Spanien. Das war das Signal zu
einem mit unerhörter Erbitterung geführten Kampfe des ganzen Volkes gegen die
aufgedrungene Fremdherrschaft. Alle Macht des Imperators reichte nicht aus,
Spanien zu behaupten. In den durch ein englisches Corps unter Wellington unter-
stützten Kämpfen blieben die Vortheile auf Seiten Spaniens, und mit Wellingtons
entscheidendem Siege bei Vittoria (21. Juni 1813) war das napoleonische König-
reich gefallen.
Nun kehrten die legitimen Bourbonen zurück, aber das Land wurde durch
häufige Revolutionen, die sogar zu einer vorübergegangenen republikanischen
Staatsform geführt hatten, und durch die Aufstände der Carlisten tief erschüttert.
Erst seit der Regierung Alphons XII. begannen ruhigere Verhältnisse einzu-
ziehen, welche die gegenwärtige Königin-Regentin Maria Christine im Namen
[443]Barcelona.
ihres Sohnes des Königs Alphons XIII. mit weiser Kraft und seltener Ausdauer
zu befestigen trachtet.
Catalonien, gegenwärtig die reichste Provinz Spaniens, bildet ebenso die
Kraft wie die Schwäche dieses Königreiches; es ist der classische Boden der Re-
volten, Aufstände und republikanischen Erhebungen, wie kein anderes Land der
Erde in solcher Zahl sie aufzuweisen vermag. In seiner Bevölkerung scheinen die
Charaktereigenschaften der Keltiberer vererbt zu sein, vor allem Ehrgeiz, Tapfer-
keit und Kriegslust, aber auch List und Grausamkeit.
Barcelona spielte unter der Maurenherrschaft keine Rolle und gelangte
schon 878 unter einen unabhängigen christlichen Regenten, dessen zwölfter Nach-
folger den Titel eines Grafen von Barcelona und dann jenen eines Königs von
Aragon annahm.
Im Mittelalter theilte Barcelona mit den italienischen Emporien den ge-
winnbringenden Seehandel im Mittelmeere und gelangte zu grossen Reichthümern,
auf deren Bestand die kostbaren Kirchenbauten der Stadt hinweisen.
Barcelona ist auch mit den Schicksalen des grossen Colon verknüpft, denn
hier wurde der grosse Entdecker im April 1493 von dem Königspaare Ferdinand
und Isabella empfangen, nachdem er diesen die neue Welt geschenkt hatte. Be-
reits unter Karl V. trat infolge der allgemeinen Missherrschaft und der Gegen-
wehr der Catalonier der Verfall von Barcelona ein. In der Folge theilte die Stadt
die Schicksale Cataloniens. Im Erbfolgekrieg die Sache Habsburg verfechtend,
ward Barcelona von den Franzosen unter Berwick gestürmt und arg verwüstet.
Während der napoleonischen Invasion gelangten die Franzosen durch List in den
Besitz der Stadt.
Wie früherer Zeit war Barcelona auch im Laufe des gegenwärtigen Jahr-
hundertes der Schauplatz zahlreicher Aufstände, die in der sehr angewachsenen
Arbeiterbevölkerung eine stets bereitwillige Unterstützung fanden.
Barcelona liegt an einer Flachküste, an der nur hie und da
mässig hohe Hügel emporsteigen. Der bedeutendste derselben ist die
im Süden knapp an der Stadt auf 228 m Höhe ansteigende, ziemlich
steile und isolirte Kuppe des Montjuich, dessen Spitze das gleich-
namige starke Fort oder Castell krönt. Der Besitzer dieses Berges
ist der Beherrscher der Stadt. Montjuich war der Mons Jovis der
Römer; im Mittelalter hiess er Mons Judaicus, weil er die Behausungen
der Juden trug. Lord Peterborough erstürmte die scheinbar uner-
steigbare und tapfer vertheidigte Höhe am 14. September 1705
(Erbfolgekrieg) in einer höchst brillanten Affaire. Während des Auf-
standes im Jahre 1842 liess Espartero die Stadt aus den Batterien
der Castells bombardiren, ein Gleiches geschah anlässlich des Pro-
nunciamentos im darauffolgenden Jahre.
Montjuich, der starke Wächter von Barcelona, erwidert auch
die friedlichen Geschützsalute der ankommenden fremden Kriegsschiffe
und nimmt überhaupt an allen Festlichkeiten, die tief unten zu seinen
Füssen stattfinden, regen Antheil. Von seiner Höhe geniesst man ein
56*
[444]Das Mittelmeerbecken.
grossartiges Panorama über die weit ausgreifende Stadt und ihre
schöne Umgebung.
Im Süden mündet an einem flachen Strande der in den Pyrenäen
entspringende Llobregatfluss; ein dickleibiger Leuchtthurm markirt
diesen Ort. Einwärts breitet sich eine liebliche Landschaft aus, in
welche die unzähligen Verkehrswege Barcelonas strahlenförmig aus-
laufen. Villen, Gärten, lachende Ortschaften und Fabriken haben dort
beneidenswerthe Punkte eingenommen. Nächst dem Llobregat gewahrt
man die Baulichkeiten des Rennplatzes und des ausgedehnten Irren-
hauses. Der nördliche Küstenstrand bietet ein Bild malerisch bewegten
Lebens dar. Eine Reihe anmuthiger Hafenstädte lagert dort in fried-
licher Ruhe am Abhange eines die Küste begleitenden Höhenzuges;
zunächst der beliebte Ausflugsort Badalena mit seinem herrlichen
Strand, den zahlreichen Fabriken für Zucker- und Petroleum-Raffinerie,
für Glas und chemische Producte. Unter den Villeggiaturen von Badalena
hat die prachtvolle Quinta des reichen Bankiers und geschätzten
Philantropen Sr. Arnou’s eine locale Berühmtheit erlangt. Weiter
folgen, sämmtlich durch eine längs des Strandes führende Eisenbahn
und durch Dampfer verbunden, die kleinen Orte Tiana, Premia de
Mar, S. Juan de Vilasar, dann die über 18.000 Einwohner zählende
Stadt Mataró. In weiter Ferne schimmert der Ort Arenys de Mar.
Von der Höhe des Montjuich zeigt sich uns die Physiognomie
des Häusermeeres von Barcelona mit der Deutlichkeit eines Planes.
Man vermag die grossen Verkehrsadern der anwachsenden Stadt mit
Leichtigkeit zu verfolgen, man erkennt auf den ersten Blick die Altstadt
von Barcelona, welche durch die breite Ramblastrasse in zwei fast
gleich grosse Theile geschnitten wird, man sieht den äusseren Boule-
vard den alten Kern umspannen und beobachtet mit einiger Ver-
wunderung die seltsame Anordnung der neuen Stadt mit ihren breiten
Strassen, Alleen und den zahllosen achteckigen Plätzen. In seiner
Originalität trägt der Stadterweiterungsplan einen entschieden genialen
Zug an sich und scheint auch den hygienischen Anforderungen besser
zu entsprechen, als die meisten und selbst neuesten amerikanischen
Stadtbauprojecte.
Seitdem im Jahre 1868 die Wälle von Barcelona geschleift
wurden, erhielt die Stadt eine prächtige Ringstrasse (Ronda), an
welche sich gegen aussen die Neustadt anschliesst.
Zwischen den normalen Strassenzügen sind dort breite Avenuen
eingeschaltet, welche beiderseits mit Alleen und weiten Trottoirs aus-
gestattet, die Pulsadern für die grössten Bevölkerungsmassen bilden.
[445]Barcelona.
Eine der imposantesten Avenuen ist der Paseo de Gracia, welcher die
Vorstadt Gracia mit der Altstadt verbindet, dann die Rambla de
Cataluna, die Fortsetzung der eigentlichen Rambla, ferner die Calle
de las Cortes mit dem Tetuanplatze, die vom Hafen nach der Vor-
stadt Hostafranchs führende Calle Marques del Duero, die Calle del
Paseo de S. Juan u. a. Die letztgenannte Avenue führt am Bahnhof
der Eisenbahn nach Zaragoza vorbei und mündet dann als breite
Allee (Salon de S. Juan) in den prächtigen Park (Parque), der im
Jahre 1888 das glänzende Schauspiel einer reich beschickten Welt-
ausstellung geboten. Die Anwesenheit der Königin-Regentin mit ihrem
Sohne, dem damals zweijährigen König Alphons XIII., dann die
grossartige Vereinigung von Flotten und Schiffen aller Seestaaten der
Erde gab zu vielerlei glanzvollen Festlichkeiten und Kundgebungen
die Veranlassung, so dass diese Zeit, die auch die Enthüllung des
äusserst prunkvollen Columbus-Denkmals gesehen, von einere pochalen
Bedeutung für Barcelona geworden ist.
An der Stelle des Parque erhob sich bis in die jüngste Zeit
die Citadelle, welche seit Philipp V. im Verein mit dem Castell von
Montjuich die Stadt im Zaume hielt.
Die Stadt hat in den letzten Jahren durch eine rastlose Bau-
thätigkeit sich verjüngt und enorm vergrössert; sie bietet mit ihren
neuen Anlagen, ihren herrlichen Monumentalbauten und den ausge-
dehnten Hafenarbeiten das Bild eines energisch aufstrebenden Ge-
meindewesens, dessen Ziele auf die grösste Erweiterung der indu-
striellen und Handelsstellung der catalonischen Metropole gerichtet sind.
Catalonien ist ja das Lancashire von Spanien, und Barcelona, das
jährlich unter anderem über 250.000 Ballen Baumwolle verarbeitet,
ist sein Manchester. Von dem fabelhaften Aufschwung der Stadt
wird man sich eine Vorstellung bilden können, wenn man bedenkt,
dass seit 1870 eine grössere Terrainfläche verbaut wurde, als die
alte Stadt einnimmt. Wenn der Reichthum der Stadt und die Be-
völkerungszahl in demselben Verhältnisse wie bisher zunehmen sollten,
dann würde Barcelona bald alle Städte verdunkeln, an deren Quais
die Wellen des Mittelmeeres rauschen.
Deshalb stieg auch die Frequenz ihres Seeverkehrs und machte
die Erweiterung des Hafens und dessen Ausstattung nothwendig. Der
ursprüngliche Hafen wurde 1474 angelegt und erst 1880 schritt man
zu dessen Umwandlung in einen Kunsthafen nach modernen Begriffen.
Aus unserem Plane sind die Details und die gegenwärtigen
Tiefenverhältnisse sowie das Project für eine in Aussicht genommene
[446]Das Mittelmeerbecken.
Erweiterung zu entnehmen, und wir haben nur beizufügen, dass der
Ausbau der verschiedenen Dämme und der auf diesen projectirten
Lagerhäuser noch im Zuge ist. Aber die Vertiefung der inneren
Hafenpartien ist theilweise schon durchgeführt.
Die äussere Rhede von Barcelona ist besonders zur Winterszeit
unverlässlich. Eine schwere See wälzt sich dann ununterbrochen daher
und beim Nahen von Stürmen sind die dort geankerten Schiffe ge-
zwungen, in See zu stechen.
Eine schöne Freitreppe vor dem Columbus-Denkmal bildet den
vornehmsten Landungsplatz am Paseo de Colon, dem schönen Quai
des Hafens. Von hier aus gelangt man zur berühmten Ramblastrasse,
der fashionablesten Promenade der Stadt, die über einen Kilometer
lang und von einer doppelten Allee eingefasst, so recht ein nach
Spanien versetztes „Unter den Linden“ ist. Hier wogt zu jeder Tages-
stunde und bis tief in die Nacht hinein ein äusserst bewegtes, mit-
unter sehr lärmendes Volksleben. Während des Sommers flutet das
Treiben der Nacht in die Werkthätigkeit des Tages ohne Unter-
brechung hinüber. Die Rambla (vom arabischen Rambl, Sand, also
Flussbett) führt in ihrem Verlaufe mehrere Namen, wie R. de Sta.
Monica, R. del Centro, R. de San José, wo die Zauberpracht des
Blumenmarktes sich entfaltet, R. Estudios, R. Canaletas und R. Isa-
bella II. Die grossen Theater, wie das Gran teatro del Liceo und
Teatro Principal, Kaffeehäuser, vornehme Hotels und Restaurants,
glänzende Waarenmagazine und schöne Privathäuser liegen an der
Rambla. Hier mündet die schöne Calle Ferdinando mit reichen, sehens-
werthen Waarenhäusern und reizenden Auslagen. Man gelangt dort
zur Plaza de la Constitucion, wo das aus dem XIV. Jahrhundert
stammende Stadthaus (Casa Consistorial) und das Parlamentsgebäude
(Casa de la Diputacion) sich erheben.
In nächster Nähe steht der ehrwürdige von geheimnissvollem
Düster erfüllte Bau der uralten Kathedrale La Seu oder Seo.
An der Stätte eines heidnischen Tempels erbaut, wurde die
ursprüngliche Kirche von den Mauren in eine Moschee verwandelt,
dann erweitert, diente sie seit 1058 wieder den Christen. Mit Be-
nützung einzelner Theile entstand dann 1329 nach 31jährigem Baue
die heutige Kathedrale, welche dem Catalonien eigenthümlichen
Kirchenstyl angehört. Der mit schönen Glasmalereien und Sculpturen
geschmückte und vielerlei Reliquien enthaltende Dom hat zwei sehr
hohe Thürme, ist aber in seiner äusseren Gestaltung nicht voll-
endet worden.
[447]Barcelona.
In Barcelona haben sich auch sehenswerthe Kirchen aus dem
X. Jahrhunderte erhalten, wie San Pablo del Campo im Westend der
Stadt und San Pedro de las Puellas; überhaupt besitzt die Stadt
viele religiöse Bauwerke aus weit zurückreichenden Perioden, die viel
Interesse bieten.
Unter den neueren Profanbauten ist das erst vor einigen Jahren
vollendete Universitätsgebäude, das 2000 Studenten besuchen, er-
wähnenswerth. Seine enorm weite und prunkvolle, im maurischen Styl
gehaltene Halle ist dort sehenswerth. Einen heiteren Anblik gewährt
die Plaza Real nächst der Rambla. Der mit Gartenanlagen und einer
schönen Graziengruppe gezierte Platz ist eine Nachahmung des Palais
Royal in Paris.
Zu einer Merkwürdigkeit war das anlässlich der Weltausstellung
nächst dem Hafenquai auf einer Grundfläche von 5250 m2 in staunens-
werth kurzer Zeit erbaute Grand Hotel Internacional geworden. Dieses
mehr als 1000 Appartements, zahlreiche Salons, Bäder u. dgl. ent-
haltende Gebäude wurde in der Zeit vom 5. December 1887 bis zum
10. März 1888, also in 94 Tagen von den Grundmauern bis zur
Vollendung aller luxuriösen Ausschmückungen hergestellt. Heute ist es
wieder verschwunden, und an dessen Stelle lagern jetzt Baumwolle,
Holz und Getreide.
Das geistige Leben der Stadt ist sehr entwickelt; es bestehen
viele gelehrte Gesellschaften und höhere Unterrichtsanstalten für
Künste und Wissenschaften, wie die Universität, Architektenschule,
die Schule für Industrieingenieure, Schule der schönen Künste, nauti-
sche Lehranstalt, Handelsakademie u. s. w.
Barcelona (41° 22′ N. und 2° 11′ w. v. G.), die Hauptstadt der
Provinz zählte nach dem Census von Ende 1887 bereits 272.481 Ein-
wohner, hat aber gegenwärtig deren fast 300.000.
Die Stadt, Sitz eines Bischofs und Residenz des Gouverneurs
(Capitan General), erfreut sich eines sehr milden Klimas. Der Winter
ist dort wärmer als in Neapel oder Rom. Zum Winteraufenthalt ist
daher die Stadt, welche allen Comfort und jede Art von Vergnü-
gung in reichem Masse bietet, wie geschaffen.
Nordwestlich von Barcelona hat das auf der Höhe des Mons
Serratus (1210 m über dem Meere) liegende berühmte uralte Benedic-
tiner Kloster Montserrat als Wallfahrtsort einen weit über die Grenzen
Spaniens reichenden Ruf erlangt.
Die wildromantische Umgebung desselben, der herrliche Aus-
blick auf ganz Catalonien und die furchtbaren Abgründe im Vorder-
[448]Das Mittelmeerbecken.
grund, noch mehr aber die Erinnerungen, welche an den Ort sich
knüpfen, sicherten der heiligen Stätte seit Jahrhunderten den zahl-
reichen Besuch, der gegenwärtig bis zu 100.000 Personen im Jahre
angestiegen ist.
Die Legende besagt, dass der Apostel Lucas ein Bild der heiligen Jung-
frau herstellte, welches Apostel Petrus im Jahre 50 nach Barcelona brachte. Dort
verblieb das Bild, bis die Mauren gegen die Stadt heranzogen. Die Gothen ver-
steckten nun dasselbe in dem Gebirgsstocke des Montserrat, wo es 880 durch den
Bischof Gondemar unter wunderbaren Erscheinungen aufgefunden wurde. Als dieser
das Bildniss nach Barcelona bringen wollte, da geschah es, dass die heilige Jung-
frau sich hartnäckig weigerte, den Weg fortzusetzen. Es wurde daher vor Allem
eine Kapelle, errichtet und in der Folge entstand dort das berühmte Kloster,
dessen Kirche das Gnadenbild enthält.
Gegenwärtig leben dort 19 Mönche, welche unter anderem einen
wohlschmeckenden Liqueur (Montserrat) erzeugen.
Man nennt die bedürfnisslosen Spanier, in deren Lande die
Lebensmittel billig sind, das „mañana“-Volk, weil sie alle Arbeiten
gern auf spätere Zeit, auf morgen (manñana) verschieben.
Diese Charakteristik hat viele Berechtigung gegenüber dem An-
dalusier und Castilianer; aber für den Catalonier und den Basken
trifft das nicht zu; denn bei ihnen waren Handel und Gewerbe
niemals eine entehrende Beschäftigung, wie bei den stolzen Castiliern.
In Catalonien findet man nicht wüste Strecken, wie im übrigen
Spanien, mit unsäglicher Mühe wird der Boden in den Dienst des
Menschen gestellt.
Die Catalonier sind auch die Träger des Handels und der Indu-
strie von Spanien, ja man kann geradezu sagen, sie beherrschen
dieselben.
Ihre Hauptstadt ist die erste Fabriksstadt, der wichtigste Han-
delshafen des Reiches; sie spielen eine hervorragende Rolle in der
Pflege und Ausübung der Localindustrie der verschiedenen Provinzen
Spaniens, und in ihren Händen befinden sich in Madrid und den
übrigen Städten der Kleinvertrieb der Waaren und der Grossverkehr.
Legende zum Plan von Barcelona.
A Rhede von Barcelona, B Vorhafen (projectirter), C Vorhafen gegenwärtig, D Kohlenhafen, E innerer
Hafen, F Leuchtfeuer, G Liegeplatz für Kriegsschiffe, H Trockendocks, J proj. ctirte Dämme, K Lazareth-
Molo, L Parque de la Ciudadela, M Muelle de Cataluña, N Muelle de Capitania, O M. de España.
P M. de Pescadores, R M. de la Esperanza, S M. de la Fortuna, T M. de Barcelona, U Werfte und
Aufzug, V Eisenbahnstation (n. Villanueva), W Eisenbahnstation (n. Frankreich). X Columbus-Denkmal,
Y Gran Hotel Internacional, Z Castillo de Monjuich. — 1 Rambla de Sta. Monica, 2 R. del Centro,
3 R. de San José, 4 R. d’Estudios, 5 Plaza de Cataluña, 6 Universität, 7 Mercado de S. José, 8 Plaza
Real, 9 Kathedrale, 10 Plaza Oriol mit Marienkirche, 11 Plaza Constitucion und Calle fernando,
12 Plaza de Palacio, 13 Stierkampf-Arena, 14 Maria del Mar-Kirche, 15 S. Pedro de las Puellas Kirche,
16 Eisenbahnstation (n. Zaragoza), 17 Gran Via Diagonal, 18 Calle de las Cortes, 19 Plaza de Tetuan,
20 Paseo de S. Juan, 21 Calle Meridiana, 22 Paseo de Gracia, 23 Gran-Via circumvalacion (Rondo),
24 Gran-via del Marquesdel Duero, 25 Paseo de Colon, 26 Gasanstalten.
[[449]]
(Legende siehe auf Seite 448).
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 57
[450]Das Mittelmeerbecken.
Und da die Catalonier bei ihrem lebhaften Streben nach Erwerb
schon seit Jahrhunderten nicht ungern auswandern, so gebieten sie
auch von überseeischen Ländern aus über einen grossen Theil des
Aussenhandels Spaniens.
Die Bürger von Barcelona, schon frühzeitig befreit von der
Herrschaft der Mauren, zogen Nutzen von der Lage ihrer Stadt an
der Grenze der christlichen und mahommedanischen Welt.
Im friedlichen Verkehre mit den seekundigen und fleissigen
Mauren von Tortosa, Valencia und Almeria entwickelten sich früh-
zeitig ihre volkswirthschaftlichen, im Kampfe mit diesen ihre kriege-
rischen Tugenden.
Die Kreuzzüge führten sie mit ihren alten Bundesgenossen, den
Provençalen und Genuesen, in die Levante, und sie errichteten dort
Gemeinden.
Damals waren in Barcelona noch wenig Gewerbe, aber die
Stadt war hauptsächlich wegen der vielen persönlichen Beziehungen
ihrer Bewohner zu den Mohammedanern im südlichen Spanien ein
wichtiger Platz für die Einfuhr orientalischer und die Ausfuhr euro-
päischer Güter. Der jüdische Reisende Benjamin von Tudela (1159—1173)
erzählt, dass zu seiner Zeit die Kaufleute aus allen Theilen der Welt
dort zusammenkamen.
Unter Jayme I. von Aragonien (1213—1276) griff Barcelona
schon selbständig in den Welthandel ein, und erlebte seine schönste
Blüthe. Nicht bevormundend, nur schützend und ordnend griff Jayme I.
ein und liess die wichtigsten Angelegenheiten in den Händen der
Bürgerschaft, in der die Kaufleute sehr wichtige Personen waren.
Unter ihm wurde Barcelona eine Fabriksstadt, und unterstützt von
der Tüchtigkeit des dortigen Handelsstandes, der Geschicklichkeit der
Handwerker und der Kühnheit der Rheder, war bald das Ziel er-
reicht, dass der Handel Barcelonas durchaus in den Händen ein-
heimischer Kaufleute sich befand, auf die heimische Industrie sich
stützte und einheimischer Beförderungsmittel sich bediente. Kein Wunder,
dass hier 1279 ein tüchtiges Handelsgesetz entstand, El Consolade del
mar de Barcelona, welches später dieselbe Geltung erlangte, wie die
Leges Rhodiae bei den Alten.
Als Erbe der Hohenstaufen blieb Jayme I. auch auf gutem Fusse
mit den Sultanen Egyptens, die Bürger Barcelonas liessen sich
nur von kaufmännischen Interessen leiten und lieferten, trotz des Ver-
botes des Königs und des päpstlichen Bannes, wiederholt Bauholz,
Theer, Waffen nach Alexandria; ja im XV. Jahrhundert waren sie
[451]Barcelona.
sogar als Piraten im Mittelmeere gefürchtet, und überfielen Chios,
Alexandria und Beirut. Doch wird uns aus dieser Zeit auch gemeldet,
dass Barcelonesen die Banquiers des auf Rhodos residirenden
Johanniterordens und die gewichtigsten Kaufleute in Damaskus
waren.
Sie halfen 1453 auch ehrlich mit bei der Vertheidigung Con-
stantinopels, und ihr Consul wurde daher am 30. Mai enthauptet.
Der Anbruch der Neuzeit brachte Venedig und Genua den
Niedergang, dem gewerbfleissigen Barcelona aber ein sicheres Absatz-
gebiet in Amerika, jedoch keine Vergrösserung seiner Schiffahrt, da
der Handel nach Amerika in Sevilla concentrirt blieb.
Seit Philipp II. verfiel Spanien, damit Barcelona, und wir finden
dort Fremde als Fabriksarbeiter, denn 1609 waren die fleissigen
Morisken zur Auswanderung in die Barbareskenstaaten gezwungen
worden, ihre Fabriken blieben gesperrt und die bisher blühende Bank
von Barcelona fallirte. Erst im Zeitalter Karl III. nahm die Industrie
Cataloniens einen Aufschwung, der sogar Engländer in Staunen ver-
setzte. Doch die lang andauernden Kriege zwischen Napoleon und den
Spaniern, welche sich gegen die Fremdherrschaft erhoben hatten, ver-
nichteten neuerdings beinahe die letzten Reste der industriellen und
commerciellen Thätigkeit Barcelonas.
Es kam die Restauration der Bourbons, aber damit noch lange
nicht die Erneuerung des Wohlstandes.
Bei der exorbitanten Höhe der Zölle blühte der Schmuggel, und
gleichzeitig hatte die Quadalquivir-Compagnie das Recht, Baumwoll-
waaren zollfrei einzuführen.
Der Verlust der Colonien in Amerika war ein neuer, doch nicht
vernichtender Schlag, denn diese Länder wurden von Spaniern und
solchen bewohnt, die als Spanier gelten wollen, und daher mit dem
Mutterlande in Verbindung blieben.
Die Zähigkeit der Catalonen und die verhältnissmässige Ruhe
der letzten Jahrzehnte hat die Stadt wieder gehoben. Aber die Abnei-
gung der Einwohner Cataloniens gegen die Spanier besteht trotzdem
fort; sie können nicht vergessen, dass die Tage ihrer höchsten Blüthe
in die Zeit der Selbständigkeit der Krone Aragoniens fallen.
Ja selbst die spanische Sprache ist verbannt, man spricht im
Privatverkehre meist lemusinisch (catalonisch), eine Abart des alten
Provençalischen, der Sprache der Troubadours.
Die Ausfuhr Barcelonas in fremde Staaten ist beschränkt; sie erreicht
kaum zwei Fünftel des Gesammtverkehres, und richtet sich in erster Linie nach
57*
[452]Das Mittelmeerbecken.
Frankreich, Uruguay, Argentinien und den spanischen Colonien. Bodenproducte, ins-
besondere Wein, liefern den weitaus grössten Theil des Werthes. Industrieartikel
gehen nur in die von den Spaniern colonisirten Länder von Central- und Süd-
amerika, deren Cultur sich im Anschlusse an das Mutterland entwickeln musste,
und die auch heute noch von Spaniens erstem Industriegebiete, von Catalonien,
mit den nöthigsten Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens versehen
werden. Aber unter dem Einflusse einer stärkeren Einwanderung aus Europa, an
der auch die industriellen Provinzen Spaniens hervorragend betheiligt sind, nimmt
gerade in der reicheren dieser Länder die Industrie einen grossen Aufschwung
und der Absatz spanischer Fabricate dahin wird allmälig zurückgehen. Auch muss
Barcelonas Industrie noch grosse Verbesserungen erfahren, wenn es daran denken
will, mit den Erzeugnissen seiner Industrie in nichtspanischen Ländern zu er-
scheinen.
Mehr als drei Fünftel der gesammten Ausfuhr Barcelonas nehmen ihren
Weg durch den Küstenhandel in die zahlreichen Häfen Spaniens. Der Werth der
in diese gesendeten Gewebe allein erreichte 1888 beinahe die Höhe des Exportes
Barcelonas ins Ausland.
Trotz dieses Uebergewichtes, welches in der Ausfuhr Barcelonas der Küsten-
verkehr gegenüber dem mit dem Auslande ausübt, werden wir im Folgenden das
Hauptgewicht auf den internationalen Verkehr legen, und den Küstenhandel nur
insoweit näher betrachten, als er die Ergänzung des auswärtigen Verkehres bildet.
In Catalonien hat der Export von süssem Rothwein, der verstärkt und be-
reitet ist wie der Portwein, einen grossen Umfang angenommenen, und bei stei-
genden Preisen hat sich die Qualität durch Wahl passender Traubengattungen
bedeutend gebessert. Daher ist Barcelona mit seinen zahlreichen Schiffsverbin-
dungen der zweite Ausfuhrhafen Spaniens für gewöhnliche Weine. Im Jahre 1888
gingen von hier 929.523 hl (Werth 29,230.913 Pesetas) ins Ausland, meist Mittel-
sorten. Ausfuhr 1887 1,111.084 hl, welche Höhe 1889 wieder erreicht wurde. Drei
Viertel consumiren die La Platastaaten, Mexico und die spanischen Colonien; die
Ausfuhr nach Frankreich geht zurück. Abnehmer sind ferner England, Holland
und Nordeuropa.
Catalonien producirt ferner Traubenbranntwein, gewöhnlichen Sprit und
Anisbranntwein.
Auch für Olivenöl ist Barcelona der zweite Ausfuhrhafen Spaniens (1888
23.566 q). Absatz nach Südamerika, Marseille und Genua. Die Zufuhr im Wege
des Küstenhandels (1888 31.129 q) ist grösser als die Ausfuhr ins Ausland.
Andere wichtige Ausfuhrartikel der Gruppe XII (Nahrungsmittel) des spa-
nischen Zolltarifes sind Knoblauch (1888 6748 q, Werth fast eine halbe Million
Pesetas), Mandeln (6707 q, Werth 1·1 Million Pesetas), Haselnüsse, Safran
(1888 13.442 kg) und spanischer Pfeffer. Orangen (1889 350.000 q) gehen mit
der Eisenbahn nach Paris.
Wichtige Posten der Ausfuhr ins Ausland sind conservirte Nahrungs-
mittel und eingemachte Früchte (1888 um 1 Million Pesetas), Confituren und
Hülsenfrüchte. Weizenmehl spanischen Ursprungs wird im Küstenverkehre (1888
169.675 q, 1887 188.078 q) versendet, Korkholz mit der Eisenbahn nach Frankreich.
Von thierischen Erzeugnissen, die in den Gewerben Verwendung finden,
sind nur die Producte der altberühmten spanischen Schafzucht zu nennen, die
freilich in der Entwicklung der Volkswirthschaft Spaniens durch die zu grosse
[453]Barcelona.
Begünstigung, welche ihr zutheil wurde, eine traurige Rolle spielt. Es wurden
1888 ins Ausland ausgeführt Schaffelle 2079 q und Schafwolle 5516 q. Im Küsten-
verkehre wurden 11.890 q Schafwolle ein- und 4392 q ausgeführt.
Entsprechend dem hohen Range, welchen Barcelona als Fabriksort einnimmt,
ist die Ausfuhr von Erzeugnissen der Industrie ins Ausland und in die spanischen
Küstenplätze.
Im Jahre 1888 wurden 19.637 q (Werth 9·8 Millionen Pesetas) weisse
Baumwollstoffe meist nach Marokko, 6350 q (Werth 4·4 Millionen Pesetas) gefärbte
und bedruckte Baumwollstoffe über Frankreich, Italien und England nach Süd-
amerika, 4390 q (Werth 2·6 Millionen Pesetas) Häkelgewebe und Wirkwaaren
nach Nordafrika, den Philippinen und Mexico, und 108.178 q (Werth 65 Millionen
Pesetas) Baumwollgewebe, ferner 18.061 q (Werth 90 Millionen Pesetas) Baum-
wollgarne im Wege des Küstenhandels versendet. Im Jahre 1889 ist die Ausfuhr
nach Marokko so gestiegen, dass Lopez \& Cie. eine regelmässige Dampfschiffver-
bindung zwischen Barcelona und Marokko eingerichtet haben.
Dagegen ist die Ausfuhr von Leinen- und Hanfwaaren ins Ausland klein,
und nur in Tauwerk nach England oder leeren Säcken und ordinärer Waare nach
den Canarischen Inseln und Gibraltar von einiger Bedeutung. Hieher gehört auch
die sehr ansehnliche Ausfuhr von Spagatschuhen (1888 57.347 Dutzend, Werth
688.164 Pesetas). Im Küstenverkehre wurden 4767 q (Werth 4·8 Millionen Pesetas),
Leinen und Hanfgewebe, 1962 q Garne und 13.516 q Abaca und Jutegarne, 5598 q
Bindfaden und Seide ausgeführt.
Von Schafwollwaaren gingen Tuche (1888 522 q, Werth 1 Million Pesetas)
über England, und Bayetas (1888 528 q, Werth 0·7 Millionen Pesetas) direct nach
Mexiko und Südamerika.
In den Küstenverkehr kamen von Barcelona 1888 15.014 q Schafwollgarne
und -Stoffe (Werth 20·8 Millionen Pesetas), 365 q (Werth 3·5 Millionen Pesetas)
Seidenstoffe, in den auswärtigen Verkehr letztere nur um 420.000 Francs.
Posamentirarbeiten werden fast nur im Küstenhandel abgesetzt.
Die bedeutende Lederindustrie Cataloniens versendet ins Ausland Sohlen-
leder und Kalbleder (660 q um 326.178 Pesetas) und alaungares Leder, wie Saffian-
und Corduanleder (1888 1859 q, Werth 1·1 Millionen Pesetas), nach Frankreich,
Deutschland, Dänemark und Italien. Im Küstenhandel wurden 6439 q Leder aus-
geführt.
Aber die Ausfuhr von Schuhwaaren, die hier gefertigt sind, nach Süd-
amerika, Italien und Frankreich 1888 mit 8033 q, (Werth 12,852.800 Pesetas),
ist für Barcelona von hoher Bedeutung.
Interessant ist, dass grosse Mengen von Schuhwaaren im Küstenhandel zu-
geführt werden, so 1888 6197 q (Werth fast 10 Millionen Pesetas). Barcelona ist
also für Schuhwaaren als Fabriksplatz weniger wichtig als für Leder.
Der Menge nach führt Barcelona circa doppelt so viel Papier aus (1888
24.610 q, Werth 7·7 Millionen Pesetas) als ein, und ist, Santander etwa abgerech-
net, der einzige Ausfuhrplatz Spaniens für diesen Artikel. Die wichtigsten Sorten
sind geschöpftes Papier (7511 q), das meist nach Frankreich verladen wird,
Cigarettenpapier (9220 q), Bücher (Werth 1·6 Millionen Pesetas) für Mexiko und
die spanischen Colonien, endlich Bilder, Kupferstiche und Karten (Werth 2 Millionen
Pesetas) für Brasilien. Die Ausfuhr von Papier durch den Küstenhandel erreichte
9228 q (Werth 0·8 Mill. Pesctas).
[454]Das Mittelmeerbecken.
Ins Ausland gehen auch Spielkarten (1888 967 q, Werth 0·6 Millionen
Pesetas).
Böttcherwaaren, für die der Rohstoff meist aus dem Auslande kommt,
wurden 1888 43.243 q (Werth 1·7 Millionen Pesetas) ins Ausland, 34.094 q durch
den Küstenhandel und 12.843 q im Reexporte, dann Korkstöpsel ins Ausland um
643.000 Pesetas versendet.
Auch von Glas- und Thonwaaren wird manches ins Ausland geschickt;
meist ordinäre Glaswaaren (1888 2421 q) nach Marokko, Cuba, Mexiko, Uru-
guay und den Philippinen, billige Thonwaaren (1888 22.442 q) nach den Phi-
lippinen, Marokko und Dänemark, und buntglasirte (Azulejos) und andere Thon-
platten in die spanisch redenden Länder jenseits des Oceans. Im Küstenhandel
wurden 25.527 q ganz ordinäre Thonwaaren ausgeführt.
Allgemeine Beachtung und Anerkennung finden die Chamottewaaren Bar-
celonas.
Barcelona ist Spaniens einziger nennenswerther Ausfuhrplatz für Seife
(1888 69.395 q, Werth 4·5 Millionen Pesetas), die im Orte zum Theile auch aus
ausländischen Oelen und Fetten erzeugt wird, ferner für pharmaceutische und
chemische Producte, Weinstein ausgenommen, für Wachs- und Stearinkerzen (1888
8159 q, Werth 1·4 Millionen Pesetas), Stearin in Masse (1888 3385 q) wird im
Küstenhandel ausgeführt.
Zum Schlusse nennen wir Fächer (1888 für 378.075 Pesetas), Regen- und
Sonnenschirme (77.124 Stück, Werth 347.059 Pesetas), die ins Ausland gehen,
Quincaillerien, von denen das Meiste im Küstenhandel exportirt wird, und musi-
kalische Instrumente, von welchen 1888 116 Stück (Werth 101.500 Pesetas) ins
Ausland, 201 Stück (Werth 48.268 Pesetas) im Küstenhandel ausgeführt wurden.
Die Gesammtausfuhr von Maschinen hat einen nur etwas höheren Werth als die
von Pianinos.
Im Einfuhrhandel Barcelonas überwiegt der Verkehr mit dem Auslande;
auf den mit den Küsten Spaniens entfallen nur ein Fünftel bis ein Viertel der
Gesammtsumme, doch muss gleich hervorgehoben werden, dass an dieser Einfuhr
aus dem Auslande die spanischen Colonien, die auch durch den Zolltarif be-
günstigt sind, in hervorragendem Masse betheiligt sind. Barcelona führt von allen
Gütern und aus allen Ländern ein, theils für den unmittelbaren Bedarf seiner
zahlreichen Bevölkerung, theils für die Bedürfnisse seiner ausgedehnten Industrien,
theils als Hauptmarkt Spaniens überhaupt.
Auch die Einfuhr über Port-Bou, die Einbruchstation der Eisenbahn aus
Frankreich in die Provinz Gerona, muss hieher gerechnet werden, weil man an-
nehmen kann, dass etwa drei Fünftel derselben für den Consum von Barcelona
und seines Rayons bestimmt sind.
Der Menge nach sind die wichtigsten Staaten für die Einfuhr in Barcelona
Grossbritannien und dessen Colonien, Russland, die Vereinigten Staaten, die Türkei,
Frankreich, Italien und das Deutsche Reich.
Von der Einfuhr über Port-Bou kommt mehr als die Hälfte auf Frankreich,
der Rest entfällt auf Belgien, Deutschland, die Schweiz und Oesterreich-Ungarn.
Wir haben die Industrien Barcelonas bei der Ausfuhr des Hafens schon
kennen gelernt, die Grösse der Einfuhr von Rohproducten, welche sie verarbeiten,
wird uns ihre Bedeutung noch mehr klar machen, weil ja manche dieser Industrie-
[455]Barcelona.
zweige nur für das Inland arbeiten und auf dem Weltmarkte nicht concurrenz-
fähig sind.
Beginnen wir also mit den Rohproducten der Textilindustrie. Von den
424.016 q Rohbaumwolle, welche 1888 Spanien einführte, gingen 383.505 q (1887
399.264 q) nach Barcelona, wo sich Fabriken mit mehr als 2000 Arbeiten finden.
Im Jahre 1889 ist die Einfuhr britischer Garne sehr zurückgegangen, dafür die
Einfuhr von Rohbaumwolle stark gestiegen. In den Fabriken wurden die neuesten
Maschinen aufgestellt. Doch stehen Spaniens Textilindustrie vielleicht arge Zeiten
bevor; denn am 1. Februar 1892 erlischt der Handelsvertrag mit Frankreich, dem
Hauptabnehmer des wichtigsten Ausfuhrartikels Spaniens (1888 2,075.128 hl,
303·6 Millionen Pesetas), des Weines, am 30. Juni desselben Jahres der mit
England. Beide Staaten werden als Compensation für die Rohproducte, welche sie
aus Spanien beziehen, einen grösseren Absatz ihrer Industrieartikel in Spanien
durch das Herabdrücken der dortigen Einfuhrzölle zu erreichen suchen.
Rohbaumwolle, meist amerikanischen Ursprungs, kommt nur auf englischen
Schiffen zur Einfuhr, ebenso englische Baumwollgarne (1888 1640 q, Werth
0·8 Millionen Pesetas, 1887 2329 q).
Hanf wird aus Russland und Marokko gebracht (1888 30.171 q, 1887
29.395 q), die Einfuhr von Flachs ist klein.
Die Hanf- und Leinenspinnerei Barcelonas ist nicht so entwickelt wie die
der Baumwolle, daher sind Leinen- und Hanfgarne als Einfuhrartikel Barcelonas
sehr wichtig (Einfuhr 1888 10.337 q, Werth 4·1 Millionen Pesetas).
Die Steigerung der Einfuhrziffer von Jute aus Indien, Abacca, Pita (1888
66.331 q, 1887 20.773 q) beweist die Zunahme der Juteindustrie Barcelonas.
Die Einfuhr von Jutegarnen aus dem Auslande erreichte 1888 9577 q, die
von verarbeitetem Esparto durch den Küstenhandel 16.086 q.
Die Einfuhr von Schafwolle aus dem Auslande hält sich in dem gute
Wolle producirenden Spanien in bescheidenen Grenzen. Sie umfasste in Barcelona
1888 2754 q (Werth 0·6 Millionen Pesetas) ungewaschene, 2741 q (Werth 1·2 Mil-
lionen Pesetas) gewaschene und 1157 q Kammzug.
Durch den Küstenhandel wird nur ungewaschene Schafwolle (11.890 q)
zugeführt. Wir müssen aber auch die gewaschene Wolle für Barcelona bestimmt
rechnen, welche zu Lande über Port-Bou (1888 8092 q) eingeht. Kammzug kommt
direct (1888 1157 q) und über Port-Bou (826 q) ein.
Die Einfuhren von Garnen erreichte 1888 531 q (Werth 0·5 Millionen
Pesetas).
Rohseide kommt zum grössten Theile über Port-Bou nach Barcelona, ge-
zwirnte Seide aber auf dem Land- und auf dem Seewege.
Durch die Textilindustrie erklärt sich auch die bedeutende Einfuhr von
Indigo und Cochenille, von Farbeextracten, von Farben aus England und Frank-
reich (Werth 6 Millionen Pesetas), und von Chemikalien, die zumeist aus Deutsch-
land stammen.
Stärke, Dextrin und Glykose (1888 82.404 q, Werth 2·7 Millionen Pesetas)
kommen meist aus Deutschland, Paraffin und Stearin (7132 q) wird meist in un-
verarbeitetem Zustande eingeführt.
Für die Oel- und Seifenfabriken werden Cocos-, Palmöl (1888 59.869 q)
und Oelsämereien (31.075 q) eingeführt.
[456]Das Mittelmeerbecken.
Als Rohmateriale für die Holzindustrie dienen Fassdauben (1888 1885
Tausend, Werth 1·8 Millionen Pesetas) aus der Union und Oesterreich-Ungarn,
für die Bauthätigkeit gemeines Holz (1888 62.463 m3, Werth 3·1 Millionen Pesetas)
aus Schweden, Norwegen und Oesterreich-Ungarn, letzteres über Galatz; Holz für
Kunsttischler kommt über Deutschland herein.
Barcelona ist der erste Stapelplatz Spaniens für rohe Häute und Felle,
die meist vom La Plata und aus Marokko einlangen (1888 27.544 q, Werth 4·8 Mil-
lionen Pesetas, 1887 38.347 q), und zum Theile im Wege des Küstenhandels wieder
ausgeführt werden (1888 6816 q).
Die directe Einfuhr von Därmen (1888 für 321.846 Pesetas) hat einen
grösseren Werth als die von Leder und Lederwaaren.
Mit Vieh wird Barcelona aus den Pyräneen zu Lande und im Wege des Küsten-
handels versorgt; auf dem letzteren kamen 1888 16.115 Schweine (Werth 3·2 Mil-
lionen Pesetas), dann Ziegen, Schafe und Kühe. Von der starken Einfuhr von Kühen
(1888 18.520 Stück) und Schweinen (33.604 Stück), die aus dem Auslande über
Port-Bou erfolgt, ist viel für die Bedürfnisse dieser grossen Industriestadt bestimmt;
die Einfuhr über die Landgrenze ist jetzt an die Stelle der zur See erfolgenden
getreten, die nur für den Schweinehandel grössere Bedeutung hat.
Von den thierischen Fetten, die Spanien aus dem Auslande bezieht,
wurden etwa zwei Fünftel (1888 62.714 q, Werth 5·3 Millionen Pesetas) über Bar-
celona aus Amerika über englische und deutsche Häfen eingeführt, dazu kommen
Schweineschmalz und Speck (5624 q, Werth 0·7 Millionen Pesetas), ferner Butter.
Sehr umfangreich ist die Einfuhr von Stockfisch aus dem Auslande (1888
62.187 q, Werth 3·9 Millionen Pesetas, 1887 67.335 q) aus England, Schweden,
Norwegen und den französischen Inseln bei Neufoundland.
Auch durch den Küstenhandel werden grosse Mengen conservirter Fische
nach Barcelona gebracht, so 1888 38.794 q, und der Fang der Sardinen wird
an den Küsten von Barcelona bis Malgrat lebhaft betrieben.
In der Einfuhr von Getreide und Hülsenfrüchten steht Barcelona an
der Spitze aller Zollämter Spaniens.
Altcastilien und die Mancha, die Centren des spanischen Getreidebaues, waren
bis 1889 nicht im Stande, in Barcelona und Tarragona mit den Zufuhren aus Russ-
land zu concurriren. Dies ist jetzt durch sehr niedrig gestellte Eisenbahntarife
möglich gemacht worden.
Die Getreideeinfuhr Barcelonas erreichte 1888 1,508.530 q (davon 1,339.780 q
Weizen) im Werthe von 26,140.986 Pesetas (1887 1,139.411 q).
An der Getreideeinfuhr sind neben Russland die Union, Argentina, Marokko
und die Türkei betheiligt. Im Küstenhandel wurden 1888 46.712 q Weizen und
12.217 q andere Getreidegattungen zugeführt, denen nur eine kleine Ausfuhr
gegenüber steht.
Die Einfuhr von Weizenmehl, meist aus Marseille stammend, hat sich 1888
auf 27.510 q gegen 12.755 q im Jahre 1887 gesteigert, was grosse Aufregung unter
den Müllern Barcelonas erregte. Im Jahre 1889 hat auch eine grosse Budapester
Firma daselbst ein Mehldepot eingerichtet.
Die Einfuhr von trockenen Hülsenfrüchten erreichte 1888 68.096 q, 1887
75.832 q.
Die Einfuhr von conservirten Nahrungsmitteln geschieht zum grössten Theile
durch den Küstenhandel, Teigwaaren (1888 14.990 q) kommen aus dem Auslande.
[457]Barcelona.
Die grosse Spriteinfuhr Barcelonas, welche beinahe derjenigen von Valencia
gleich ist, dient in erster Linie den Bedürfnissen des Weinhandels. An den
94.039 hl (Werth 4·8 Millionen Pesetas), welche 1888, und den 155.596 hl, die
1887 eingeführt wurden, sind in erster Reihe Deutschland und Schweden be-
theiligt. Der Rückgang der Einfuhr des Jahres 1888 ist die Folge neuer lästiger
Steuergesetze.
In Colonialwaaren hat Barcelona in Zucker und Kaffee eine führende Stel-
lung, in dem für Spanien so wichtigen Cacao steht es weit hinter Santander zurück.
Der in Barcelona vom Auslande eingeführte Zucker und Kaffee stammen
bis auf ganz kleine Mengen aus den überseeischen Besitzungen Spaniens.
Von Zucker wurden 1888 216.808 q (Werth 13,3014.307 Pesetas) meist
aus Cuba eingeführt.
Barcelona ist in Zucker disponirender Platz für andere Küstenplätze Spaniens,
in die 1888 97.955 q abgingen, während von dort nur 8008 q hier ankamen.
Die Kaffee-Einfuhr Barcelonas erreichte 1888 25.808 q im Werthe von
5,034.283 Pesetas und erfolgte von den Philippinen, von Portorico und Mexico.
Ungefähr der vierte Theil dieses Kaffees wird wieder im Küstenhandel verschifft.
Gacao wurde 1888 in der Menge von 11.960 q (Werth 2·4 Millionen Pesetas)
eingeführt.
Die Einfuhr von Tabakfabricaten erreichte 1888 1094 q (Werth 1·5 Millionen
Pesetas); im Wege des Küstenhandels wurden 13.187 q (Werth 24·4 Millionen
Pesetas) Fabricate eingeführt und 16.532 q Blättertabak ausgeführt.
Vom höchsten Interesse ist bei dem Industrieplatze Barcelona die Frage
nach der Einfuhr von Webewaaren.
Es wurden hier 1888 2384 qBaumwollstoffe im Werthe von 1·6 Mil-
lionen Pesetas, eingeführt; die Hauptsumme enfällt auf Gewebe bis einschliesslich
25 Fäden. Die Zufuhr im Wege des Küstenhandels betrug 3378 q (Werth 2·4 Mil-
lionen Pesetas).
Von Geweben aus Flachs, Hanf und Jute kommen hier aus dem Auslande
822 q (Werth 0·7 Millionen Pesetas), im Wege des Küstenhandels 2500 q (Werth
1 Million Pesetas).
Die Einfuhr von Geweben aus Schafwolle und von gemischten Stoffen aus
dem Auslande ist wichtiger als die derjenigen aus Baumwolle. Sie erreichte 1888
einen Werth von 3 Millionen Pesetas. Zu nennen sind Teppiche und Tuche. Be-
merkenswerth ist, dass die englischen Schafwollstoffe nicht dem spanischen Ge-
schmacke entsprechen. Auf dem Wege des Küstenhandels wurden 15.958 q Schaf-
woll- und gemischte Stoffe eingeführt.
Die Einfuhr von Seidenstoffen mit einem Werthe von 630.000 Pesetas
ist ganz ansehnlich.
Fertige Kleider aus dem Auslande finden in Barcelona keinen günstigen
Markt.
Für die Einfuhr der Waaren der Textilindustrie ist zu beachten, dass
Schundwaare in Barcelona keinen Absatz findet; minderwerthige Waare wird
im Lande selbst erzeugt. Dass hier mit England und Frankreich auf dem Gebiete
der Manufacturwaaren zu concurriren ist, zeigen die Fortschritte, welche Deutsch-
land macht.
Papier gehört unter die wichtigeren Einfuhrartikel Barcelonas, denn 1888
wurden 13.821 q (Werth 1·1 Million Pesetas) Papier ohne Ende zumeist aus
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 58
[458]Das Mittelmeerbecken.
Belgien eingeführt; von ordinärem Packpapier gingen 6000 q ein, von Pappen-
deckel 5500 q. Auch für Kupferstiche, Karten und Zeichnungen ist Barcelona
ziemlich wichtig.
Die Einfuhr von Glas erreichte 1888 22.410 q im Werthe von 1·4 Million
Pesetas. Der wichtigste Artikel dieser Gruppe ist Tafelglas (11.354 q) aus
Deutschland, Belgien und England, und gemeines Hohlglas aus Frankreich.
Weit weniger Bedeutung hat die Einfuhr von Thonwaaren; Ziegel und
Fliese (1888 19.107 q) sind der Menge, feine Thonwaaren (186.788 Peseta) dem
Werthe nach hervorzuheben.
Die Einfuhr von Eisenwaaren nach Barcelona war wegen der grossen Bau-
thätigkeit 1888 besonders gross.
Nach den Sätzen des allgemeinen Zolltarifes wurden 160.000 q von den
Unternehmungen der Eisenbahnen 20.354 q eingeführt. Von der allgemeinen Ein-
fuhr kommen auf Gusseisen in Barren und auf Fabricate aus Gusseisen 34.722 q
(Belgien und England). Die Gesammteinfuhr von Schienen erreichte 18.973 q.
Roheisen und Stahl (38.171 q) aus England. In Messerschmiedwaaren muss Eng-
land einen heftigen Concurrenzkampf mit Deutschland bestehen. Im Jahre 1889
war die Einfuhr von Roheisen aus dem Auslande viel kleiner, weil die Nordküste
Spaniens stärker als bisher Barcelona versorgte.
Auch für die Einfuhr von Kupfer und Messing aus dem Auslande ist
Barcelona Spaniens erster Hafenort (Werth 1888 fast 1 Million Pesetas).
Im Wege des Küstenhandels wurden 1888 97.385 q. Eisen aus Bilbao,
45.514 q Kupfer, 25.306 q Blei eingeführt. Zink sendet Santander.
Da die Maschinenindustrie Barcelonas noch lange nicht auf eigenen Füssen
steht, müssen Maschinen aller Art importirt werden.
Für Motoren (Werth 1888 1 Million Pesetas) und andere Maschinen (Werth
3·4 Millionen Pesetas) englischer, französischer und belgischer Herkunft ist Bar-
celona Spaniens wichtigster Einfuhrplatz. Landwirthschaftliche Maschinen liefert
die hiesige Industrie in genügender Menge.
Für Waaren aus Bernstein, Korallen, Perlmutter, für Knöpfe, Spielwaaren
und Hüte ist Barcelona nicht gerade unwichtig, für Böttcherwaaren, die von hier,
wie schon erwähnt, wieder ausgeführt werden, sehr wichtig.
Die Steinkohlengruben von S. Juan de Abadesas in der Nähe Barcelonas,
deren Betrieb übrigens blühend ist, liefern viel zu wenig, so dass der Kohlen-
import sehr bedeutend erscheint.
England brachte 1888 3,638.570 q (Werth 7·6 Millionen Pesetas), 1887
3,334.460 q Steinkohlen, das ist den dritten Theil der ganzen Einfuhr Spaniens.
Im Jahre 1889 wurden in Barcelona Steinkohlen auch aus Frankreich und, was
viel interessanter ist, Gaskohlen (30.000 q) sogar aus Australien zugeführt, letztere
dürften auch in Zukunft den Markt behaupten. Holzkohlen (1888 261,900 q) kommen
aus Italien, rohes Petroleum (1888 57.982 q, 1887 41.955 q) direct aus Amerika,
Schiffstheer (1888 91.596 q) aus Frankreich und Amerika.
Guano wird zum grösseren Theile direct aus Amerika gebracht (1888
22.208 q, 1887 30.397 q).
Ueber die Grösse des Handels von Barcelona liegen uns folgende An-
gaben vor:
[459]Barcelona.
| [...] |
Der Lagerhausverkehr erreichte 1888 einen Werth von 6,068.158 Pesetas.
Der Schiffsverkehr von Barcelona entwickelt sich gewaltig:
| [...] |
Nach der Zahl der Schiffe folgt auf die spanische Flagge die englische,
nach der Zahl der Tonnen aber ist dieser die italienische überlegen.
A. \& L. Fraissinet \& Cie unterhalten eine directe Verbindung Barcelonas mit
Marseille in 19 Stunden, und ebenso die Cie. Générale transatlantique über Cette.
Barcelona ist Station der Slomann’schen Dampfer auf der Küstentour von
Hamburg nach Palermo, der Marc Andrew’schen (Roca) Dampferunternehmung,
der Adria aus Fiume, und mehrerer Gesellschaften, welche Linien um die iberische
Halbinsel bis Marseille unterhalten.
Die Verbindung mit Manila unterhalten einmal im Monate spanische
Dampfer über Port Saïd, Colombo und Singapore.
Nach Marokko geht seit 1889 monatlich ein Dampfer der Gesellschaft
Lopez \& Cie.
Barcelona ist auch Station der Linie Marseille—Colon der Cie. générale
transatlantique. Hier laufen auf ihren Fahrten nach dem La Plata die Dampfer
der Navigazione generale und der Veloce aus Genua an.
Von Barcelona gehen 5 Eisenbahnlinien aus, die wichtigsten sind die mit
Schnellzügen befahrenen nach Port Bou und die über Lérida und Zaragoza nach
Madrid. Eine kürzere Verbindung nach Madrid ist südlich vom Ebro im Baue.
Die übrigen 3 Linien verlaufen längs der Küste. Barcelona ist Endpunkt des Kabels
Marseille-Barcelona der Direct Spanish Telegraph Cy. — Die Stadt ist Sitz einer
Börse, mehrerer spanischer Banken, von Succursalen ausländischer Banken und
einer Handelskammer.
Consulate haben in Barcelona: Argentinien (G.-C.), Belgien, Bolivia, Bra-
silien (G.-C.), Columbia (G.-C.), Dänemark, Deutsches Reich (G.-C.), Dominikanische
Republik, Frankreich (G.-C.), Griechenland, Grossbritannien, Guatemala, Havaii
(G.-C.), Honduras, Italien (G.-C.), Liberia, Mexico (G.-C.), Monaco, Niederlande,
Nicaragua, Oesterreich-Ungarn (G.-C.), Paraguay, Portugal, Russland, Salvador
(G.-C.), Schweden und Norwegen (G.-C.), Schweiz, Türkei (G.-C.), Uruguay, Vene-
zuela (G.-C.), Vereinigte Staaten.
58*
[460]Das Mittelmeerbecken.
Ungefähr 82 km südlich von Barcelona lagert Tarragona, eine
der interessantesten und ältesten Städte Spaniens, an einem kleinen
Kunsthafen. Die einstige Blüthe dieser Stadt haben wir bereits hervor-
gehoben und obwohl die Kunstschätze aus der römischen Glanzzeit
seit mehr als hundert Jahren in ganzen Schiffsladungen entführt wur-
den und überdies das Materiale für das heutige Tarragona liefern
mussten, besitzt die einstige römische Millionenstadt noch wahre Schätze
an Alterthümern: Ruinen von Tempeln, Thermen, Palästen und
Theatern.
Das römische Tarraco mit seinem prächtigen Tempelkranze be-
gruben die eingefallenen Gothen unter Trümmern, die vier Jahr-
hunderte lang unberührt verblieben.
Die Stadt liegt höchst malerisch am Abhange und zu Füssen
eines 230 m hohen Hügels und erfreut sich eines sehr milden und
gesunden Klimas, welche Eigenschaft in Verbindung mit der wald-
reichen und romantischen Umgebung und der Gastfreundlichkeit der
Bewohner die ehrwürdige Stadt zu einem beliebten Zielpunkt der
Fremden erhoben hat.
Unter den mittelalterlichen Kirchenbauten von Tarragona ist die
zu den interessantesten Arten der gothischen Architektur in Spanien
zählende Kathedrale, deren Bau von 1089 bis 1131 entstanden war,
hervorzuheben. Das Innere des Domes ist indes im romanischen
Styl gehalten, mit einer Anordnung kurzer und massiger Säulen.
Im Baptisterium ist aus einem römischen Sarkophag das Taufbecken
hergestellt worden. Die Kathedrale enthält viele Kunstschätze, und
Kostbarkeiten und in ihren herrlichen Gemälden, Fresken und Sculp-
turen ist die Geschichte vieler Jahrhunderte verewigt.
Nächst der Kathedrale erheben sich noch die Kirchen San
Pablo und Santa Tecla la Vieja, beide höchst sehenswerthe Zeugen
mittelalterlicher-Prunkbauten.
In einem wohlgefüllten Antiquitätenmuseum hat man eine grosse
Menge altrömischer Statuen (meist Fragmente), gothischer Sculpturen
und maurischer Erinnerungen gesammelt und geordnet.
Tarragona zählt gegenwärtig über 27.000 Einwohner.
Der grosse Damm seines sicheren Hafens entstand 1491 meist
aus dem Materiale der Ruinen des römischen Amphitheaters, von
welchem gegenwärtig nur einzelne Wölbungsbogen erhalten sind.
Ausserhalb der Stadt sind noch 39 Bogen der römischen Wasser-
leitung, die hier ein Thal überspannte, zu sehen.
[461]Barcelona.
Tarragona ist eines der grossartigsten Trümmer der gestürzten
römischen Weltmacht.
Tarragona, das an der Küstenbahn des mittelländischen Meeres liegt,
und über Reno bei Lérida Anschluss an die Linie Barcelona-Madrid hat, gehört
nach dem Werthe seines Waarenumsatzes mit dem Auslande zu den wichtigeren
Handelsplätzen Spaniens, hat aber nur geringen Küstenverkehr, und dabei ist noch
zu bemerken, dass 1888 von der Küstenhandels-Einfuhr 3·6 Millionen Pesetas auf
Tabak entfallen, der in Spanien Gegenstand eines Staatsmonopols ist.
| [...] |
Hauptartikel der Ausfuhr ist Wein, der nach England, Frankreich, den
La Platastaaten und den spanischen Colonien geht. Ausfuhr ins Ausland 1888
658.141 hl (Werth 19·7 Millionen Pesetas, 1887 586.885 hl).
Tarragona ist der erste Ausfuhrhafen Spaniens für Weinsprit (1888 8528 hl
ins Ausland); 1889 wurde wegen des geringen Ertrages der Weinlese wenig erzeugt.
Von den 63.613 qHaselnüssen, welche ganz Spanien 1888 ausführte,
entfielen 53.047 (Werth 2·7 Millionen Pesetas) auf Tarragona.
Mandeln wurden 1888 12.257 q (Werth 1·1 Millionen Pesetas) ins Aus-
land versendet.
Die Ausfuhr von Böttcherwaaren erreichte 1888 67.390 q (Werth 2·7 Mil-
lionen Lire).
Diese Waaren werden auch im Küstenhandel verschickt, ausser ihnen noch
Oel, Papier und raffinirtes Petroleum.
Bei der Einfuhr Tarragonas, die ausser seinem eigenen Bedarf auch den
der Provinz Lérida umfasst, ist in erster Reihe Getreide, und zwar Weizen zu
nennen, weil in dieser Provinz der Boden zu höherwerthigen Culturen verwendet
wird. Es wurden 1888 576.719 q (Werth 10 Millionen Pesetas), 1887 606.446 q
zum grössten Theile vom Schwarzen Meere eingeführt.
Die Weinproduction ist die Ursache der grossen Einfuhr von Kartoffel-
sprit aus Deutschland und Schweden; 1888 58.363 hl (Werth 2·3 Millionen
Pesetas), 1887 116.811 q. Die Einfuhr ist im Jahre 1889 trotz Missernte des
Weines wieder gestiegen.
Von Stockfischen wurden 1888 20.112 q (Werth 1·3 Millionen Pesetas)
aus dem Auslande, 23.194 q im Küstenhandel eingeführt.
Die Einfuhr von ordinärem (meist nordischem) Holze erreichte 1888 einen
Werth von 306.450 Pesetas, die von Fasstauben (898 Tausende) 853.100 Pesetas.
Wichtigere Einfuhrartikel sind auch Hanf, Cocos- und Palmöl, Eisen und
Eisenwaaren.
An amerikanischem Rohpetroleum wurden 1888 35.764 q (Werth 0·8 Mil-
lionen Pesetas), an Steinkohlen und Cokes 355.150 q zugeführt.
[462]Das Mittelmeerbecken.
Der Schiffsverkehr Tarragonas betrug:
| [...] |
Neben der spanischen Flagge hat nur die britische einige Bedeutung.
Consulate haben hier: Argentinien, Costarica, Deutsches Reich, Honduras,
Uruguay, Venezuela.
[[463]]
Valencia.
Man nennt die Ebenen der Provinzen Valencia und Murcia mit
Recht die Gärten (Huertas) von Spanien. In stille Pracht hat sie
Natur und fleissige Culturarbeit gekleidet, und mit hundertfachem
Erntesegen lohnt der fruchtbare Boden die Thätigkeit des Menschen.
Der hochgesteigerte Ackerbau mit seinen ausgebreiteten Be-
wässerungsanlagen ist das Erbe der maurischen Cultur, das herrliche
Klima mit seinen weichen und wohligen Lüften aber ist die Bedin-
gung der staunenswerthen Fruchtbarkeit. Drei, ja vier Ernten im
Jahre gewährt hier der Boden, den meilenweite Orangen- und Citronen-
wälder, Zuckerrohrpflanzungen, Olivenhaine und üppige Maisfelder
bedecken, über welche die traubenschwere Rebe ihre Guirlanden
schlingt; ein verlockendes Paradies, über dem ein ewiger Frühling zu
schweben scheint!
Dieser Reiz wirft seine Lichtstrahlen auf die blühenden Städte,
die in den herrlichen Fruchtgegenden entstanden. Allen voran steht
das volkreiche Valencia, die vielbesungene Stadt des Cid Campeador
und Hauptstadt des Königreichs Valencia.
Seitdem 1871 die Umwallungen der einstigen Festung gefallen
sind, drängt die Stadt mit verjüngter Kraft hinaus ins Freie, wachsend
und sich entfaltend. Ursprünglich am rechten Ufer des Turiaflusses
(Guadalaviar) gelegen, dehnen sich gegenwärtig ihre Bauten bereits
auf die andere Flussseite aus in die bezaubernde Huerta, mit ihren
zahllosen Alquerias, Farmhäusern und Villen, die uns wie in kost-
bare Smaragden gefasste Perlen entgegenschimmern. Ueber 3 km
vom sonnigen Strande des Mittelmeeres entfernt, steht Valencia durch
den Puerto del Gráo, den Hafen, mit dem grossen Seeverkehr in
Verbindung. Eine breite schattige Alameda, Eisenbahn und Tramway
führen hinaus und erheben die dort entstandene Hafenstadt Villanueva
del Gráo zu einer Vorstadt von Valencia. Wie unser Plan zeigt, ist
der Seehafen von Gráo nördlich der Mündung des Turiaflusses angelegt.
[464]Das Mittelmeerbecken.
Längs den gemauerten Dämmen und Quais laufen Schienenstränge
und gestatten die directe Verladung der Waaren aus den Schiffen in
die Waggons und umgekehrt. Obwohl nicht sehr geräumig, entspricht
die Anlage vollkommen dem Bedürfnisse.
Das innere Bassin ist durch zwei Molen fast gänzlich geschlossen
und für Schiffe bis zu 6·5 m gut praktikabel; auch der äussere
Theil des Hafens, der sich zwischen den nach See ragenden Dämmen
bei 7 bis 8 m Tiefe erstreckt, gewährt unter fast allen Verhältnissen
den Schiffen sichere Liegeplätze.
Die Verbesserungen und Neubauten haben seit dem Jahre 1792
ungeheuere Summen verschlungen. Gegenwärtig plant man einen Zubau,
um den Hafen gegen Süd- und Südweststürme zu decken, denen er
vorläufig sehr ausgesetzt ist, aber der tückische Turiafluss, dessen
Hochwässer sehr oft Schrecken und Verwüstung über Stadt und Land
brachten, stemmt sich als gewaltiges Hinderniss gegen die Durch-
führung des Projectes.
Selbstverständlich hatte die wachsende Frequenz des Hafens auch
die Entwicklung des Städtchens Villanueva del Gráo zur Folge gehabt.
Die Hafenstadt ist ein beliebter Ausflugsort der Valencianer,
welche in stolzer Betrachtung ihres schönen Hafens keinen Wider-
spruch erheben, wenn man sie die Athener des Turia nennt. Der
Verkehr zwischen beiden Städten ist ein sehr reger, besonders wäh-
rend des Sommers, wenn die herrlichen Strandbäder von Gráo und
Cabañal zu erquickender Kühlung einladen. Die Badesaison mit ihren
Lustbarkeiten und Spielen bringt denn auch in die rastlose Thätig-
keit der Geschäfte eine wohlthuende Abwechslung.
Wie Saguntum einst am Meere lag, ebenso umspülten die Wogen des Mittel-
meeres vor Jahrhunderten einst direct die Mauern von Valencia. Von Decimus Junius
Brutus um 140 v. Chr. gegründet, ward die Stadt durch Pompejus zerstört. Wieder
aufgebaut wurde sie die Hauptstadt der Provinz Edetani. Die Gothen besetzten
die Stadt im Jahre 413, und 712 stürmten die Mauren hinein und pflanzten die
Herrschaft des Khalifats von Cordoba auf. Als die omajadische Dynastie erlosch
(1038), wurde Valencia ein Emirat, dessen erster Herrscher schon unter Mörder-
hand fiel.
Alsbald fand Aragonien die Handhabe, um mit Waffengewalt einzuschreiten,
und da war es, dass der berühmte Guerrillaro, der Cid, dessen wir bei Barcelona
erwähnten, gegen Valencia zog und die Festung nach einer Belagerung von 20 Mo-
naten (1094 bis 1095) zur Uebergabe zwang.
In den Annalen der arabischen Chronisten sind die List und Grausamkeit
des Cid ebenso verewigt, wie seine Tapferkeit und begeisterte Hingebung in den
Poesien und Erzählungen der Christen.
Nach Cid’s Tode (1099) wurde des Helden Gattin von den Mauren ver-
[465]Valencia.
trieben (1101) und Valencia verblieb in der letzteren Gewalt, bis 1238 Jayme I.
von Aragon die Herrschaft denselben endgiltig entriss.
Die weiteren Schicksale der Stadt hängen mit jenen Aragoniens innig zu-
sammen. Hervorzuheben wäre nur die von Philipp III. verfügte barbarische Aus-
weisung von 200.000 fleissigen Mauren, wodurch die beginnende Entwicklung der
Provinz jäh unterbrochen worden ist.
Valencia, die Stadt der Blumen, hat in einen immensen Garten
sich gebettet; und die Promenade entlang der Ufer des Turia, der
Blick auf die fünf Brücken, die ihn überspannen, und nach dem
Valencia.
prächtigen Grün der Landschaft, gehören zu den höchsten Genüssen,
welche der Aufenthalt in der schönen eleganten Stadt zu bieten vermag.
Einst eine gewaltige Festung, trägt Valencia heute im lieblichen
Friedenskleide die Friedenspalme. Die innere Stadt ist unregelmässig
angelegt, hat enge, gewundene Gassen und unbedeutende Plätze.
Der maurische Styl herrscht vor. Auf den flachen Hausdächern
gewahrt man zahlreiche Rohrkäfige für Tauben, welche hier sehr
beliebt sind, jedoch auch gejagt werden.
Dagegen ist der im Ausbau begriffene neue Stadttheil den
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 59
[466]Das Mittelmeerbecken.
modernen Anforderungen des grosstädtischen Lebens angepasst. Von
den einst bestandenen 12 mittelalterlichen Thoren sind noch einige
mit ihren Thürmen, Scharten und Erkern erhalten.
Aeusserst angenehm berührt die Lebens- und Schaffensfreudig-
keit der liebenswürdigen Bevölkerung.
Die Stadt hat nebst der interessanten Kathedrale noch 14 Pfarr-
kirchen, die reich an Kunstschätzen sind, und auch in architektonischer
Hinsicht sehenswerthe Denkmale aus dem Mittelalter, an die manch
pietätvolle Erinnerung sich knüpft, darstellen.
Die Kathedrale La Seo (la See) erhebt sich an der Stelle eines
Dianatempels. Die christlichen Gothen, die Mauren und nach ihnen
die Spanier hatten dort ihr Gotteshaus. 1492 erhob Papst Innocent VIII.
die Kirche zum Metropolitanenrange.
In ihrer heutigen Gestaltung ist die Kathedrale das Resultat
vielerlei Um- und Zubauten. Im Jahre 1262 im gothischen Style be-
gonnen, erhielt sie im Laufe der Jahrhunderte, besonders aber 1760
korinthische Zuthaten. Der Kirchenschatz birgt reiche Reliquien.
Der Thurm ist unvollendet geblieben; er sollte bis zu einer Höhe
von 110 m aufgeführt werden, gedieh jedoch nur bis 50 m und erhielt
eine ganz moderne Spitze. Von El Miguelete, so heisst der Thurm,
geniesst man einen herrlichen Ueberblick auf Stadt, Land und Meer.
Zu den ältesten christlichen Denkmälern zählt die Kirche von
San Estéban, errichtet im Jahre 1087 noch zu Zeiten des Cid.
Die Calle de Caballeros ist, wie der Name besagt, die aristo-
kratische Strasse von Valencia. Sie mündet am Kathedralplatz aus
und führt zu den interessanten Thürmen der Puerta del Cuarto und
zum schönen botanischen Garten. Die schönen Künste und Wissen-
schaften haben in der Stadt des Cid seit Langem eine freundliche Stätte
gefunden. Die Universität ist eine der angeschensten in Spanien, und
in der reichen Bildergallerie des Museums sind manch prächtige
Meisterwerke gesammelt worden.
Aber auch für das solide Vergnügen ist durch fünf Theater
und — wir sind in Spanien — durch eine schöne Arena für Stier-
kämpfe bestens gesorgt. Valencia zählt einschliesslich der Vorstädte
171.000 Einwohner und ist der Sitz eines Erzbischofs, der Provincial-
behörden und einer Universität.
Die Huertas und Campas von Valencia mit ihrem weitver-
zweigten Systeme zum Theile unterirdischer Canäle, deren erste An-
lage von den Phönikiern herrührt, welche aber wohl als das bewun-
derungswürdigste Erbtheil aus der Sarazenenzeit auf uns gekommen
[467]Valencia.
sind, gewähren — wie früher erwähnt — dem Fleisse des Acker-
bauers drei Ernten im Jahre, und mit seltener Fülle treibt das Ge-
treide in die Körner. Wo findet man Reisfelder, so reich wie der
von Succa und Cubra, Orangenhaine, wie die von Carcagente und
Alcira, Weingärten, wie die von Requena und Utiel? Und in der
Einfuhr von Guano und anderen Dungmitteln stehen Valencia und
das benachbarte Cullera an der Spitze aller spanischen Häfen.
Trotzdem ist der Preis des Ackerlandes in den letzten fünf Jahren
um ein Viertel seines früheren Werthes gefallen. Nicht schlechte
Ernten, nicht die Phylloxera sind die Ursache dieses Niederganges,
sondern die hohen Arbeitslöhne und der Mangel an Käufern, wenn
die Bodégas und die Kornkammern gefüllt sind. Die Bauern sind
arm inmitten ihrer reichen Ernten, Bettler in ihrem Ueberflusse. Die
Verhältnisse sind schlecht für die besseren Classen, noch schlechter
für die ländlichen Arbeiter und die Kleinbauern, und man darf sich
nicht wundern, wenn die Menschen, welche arbeiten und leben wollen
und in dem reichen Fruchtlande von Valencia nichts zum Leben fin-
den, nach Südamerika auswandern.
Noch vor etwa einem Vierteljahrhundert genoss die Provinz
Valencia den ungemeinen Vortheil, dass ihre Erzeugnisse überall be-
gehrt waren. Alles, Städter und Landbewohner, Bauern, Industrielle,
Kaufleute, Aerzte und Advocaten legten ihr Geld in Ackerland an.
Dieses Privilegium Valencias ist erloschen. Die Eröffnung des Suezcanals,
die Entwicklung des Dampferverkehrs nach allen Theilen der Erde,
die Schutzzollpolitik der europäischen Staaten und der Union haben
Valencia auf allen Seiten Concurrenten geschaffen und den Absatz
seiner Producte gehemmt.
Die wichtigsten Artikel der Ausfuhr sind Wein, Rosinen, Oel, Reis, Orangen
und Safran.
Die Weinproduction von Valencia und ganz Spanien erfuhr durch die Ver-
wüstungen, welche die Phylloxera in Frankreich angerichtet hatte, einen gross-
artigen Aufschwung.
Im Jahre 1888 wurden ins Ausland 1,792.601 hl (Werth 53·7 Millionen
Pesetas), 1887 1,558.828 hl Wein, davon zwei Drittel nach Frankreich, der
Rest nach dem La Plata ausgeführt. Im Küstenverkehre wurden 1888 34.676 q
versendet.
Die Ausfuhr von Weinstein erreichte 1888 6388 q im Werthe von
1·4 Millionen Pesetas.
Die für die Erzeugung von Rosinen so wichtige Muscatellertraube wird
um den kleinen Hafenplatz Denia gepflanzt, der 75 km südlich von Valencia liegt
und jetzt Kopfstation einer Eisenbahnlinie ist. Ausgeführt wurden 1888 über Va-
lencia 4834 q, über Gandia 6239 q und über Denia 223.876 q, zusammen im Werthe
59*
[468]Das Mittelmeerbecken.
von 12·9 Millionen Pesetas; sie gingen nach Grossbritannien, der Union und auch
nach Frankreich, wo aus den schlechteren Sorten Branntwein erzeugt wird.
Auch frische Trauben wurden ausgeführt.
Orangen werden wurden früher in kleineren Küstenschiffen nach den fran-
zösischen Mittelmeerhäfen und seit der Mitte der Fünfzigerjahre in Dampfern bis
Amerika verschickt. Trotz grosser Ernten im Inlande kauft die Union seit 1889
wieder in Valencia; in Europa sind nur Grossbritannien, Antwerpen und Hamburg
wichtig. Ausfuhr 1888 255.348 q im Werthe von 5·1 Millionen Pesetas. Hinzu-
rechnen müssen wir die Ausfuhr der im Norden Valencias gelegenen Plätze
Buriana und Castellon: 1888 306.372 q im Werthe von 6·1 Millionen Pesetas.
Auf dem bergigen Terrain Valencias wachsen vorzügliche Feigen, ein
wichtiges Nahrungsmittel für die einheimische Bevöikerung, insbesondere für die
Heimat Don Quixotes, die Mancha. Seit einigen Jahren nun kommen grosse Dat-
teln aus Nordafrika zu billigen Preisen in solchen Mengen auf den Markt, dass
die einheimische Feige als Nahrungsmittel verdrängt wird. Ausgeführt werden
ferner Pistazien (1888 5504 q).
Ganz langsam entwickelt sich die Ausfuhr von Süssholz in die Union,
rascher die von Zwiebeln (1888 5876 q, Werth 881.462 Pesetas) und Knoblauch
nach England und der Union.
Olivenöl wird meist im Lande, dann in den baskischen Provinzen zum
Einlegen der Fische verwendet.
Der schwere Weizen Valencias erzielt keinen lohnenden Preis, und der
vorzügliche Reis Valencias wird vom billigen Producte Rangoons aus so manchen
Reisschälmühlen Spaniens verdrängt. Im Jahre 1888 wurden aus Valencia 5436 q
Reis ins Ausland, 120.212 q im Küstenhandel versendet; ausserdem noch Reis-
und Weizenmehl. Gesammtwerth 6·3 Millionen Pesetas.
Fast die ganze Welt deckt heute ihren Bedarf an Safran aus Spanien
und der Exporthandel concentrirt sich ausschliesslich in Valencia, aber die Haupt-
verschiffungsplätze sind Alicante und Barcelona. Die Hauptkäufer sind in Mann-
heim, Frankfurt, Hanau und Würzburg ansässig.
Von Producten des Thierreiches wurden (1888) Rohseide, Seidenabfälle
und Cocons im Werthe von etwa 400.000 Pesetas, von Industrieartikeln um
222.825 Pesetas Fächer ins Ausland und 7584 q (Werth 371.198 Pesetas) Thon-
fliese, 3108 q ordinäre Thonwaaren im Küstenhandel ausgeführt.
Auch auf diesem Platze ist die Einfuhr von Sprit zurückgegangen. Es
wurden 1887 179.937 hl, 1888 89.888 hl Spiritus deutschen und schwedischen
Ursprungs zugeführt.
Weizen kommt je nach dem Ausfalle der Ernte in den benachbarten Pro-
vinzen Spaniens in grösseren oder geringeren Mengen aus Südrussland und Ame-
rika. Ein Theil der verminderten Einfuhr der letzten Jahre ist auch auf Rech-
nung der vermehrten Einfuhr von Mehl aus Marseille und deutschen Häfen
zu setzen.
Um dieser unliebsamen Concurrenz zu begegnen, haben zehn Mühlen der
Stadt ihre Werke in Walzenmühlen nach ungarischem Systeme umgebaut. Damit
erreichte auch die Einfuhr von ostindischem Weizen ihr Ende.
Im Jahre 1888 wurden in Valencia eingeführt 114.828 q Weizen, 81.793 q
Weizenmehl aus dem Auslande, 79.210 q auf dem Wege des Küstenhandels.
[469]Valencia.
Bei den Colonialwaaren ist nur die Einfuhr von Cacao (375.113 kg) zur
Bereitung der Chocolade, des Lieblingsgetränkes der Spanier, wichtig.
Bauholz muss aus Russland, Schweden, der Union, und Buchenholz aus
Oesterreich-Ungarn eingeführt werden. Einfuhr 1888 nur 36.796 m3 aus dem Aus-
lande und 26.118 q im Küstenverkehr, weil wegen der nicht lohnenden Weinausfuhr
die Baulust vollständig stockte.
Metern).
A äusserer Hafen, B innerer Hafen, C Zollamt, D Bahnhof der Valencia-Eisenbahn, E Pfeiler für
astronomische Beobachtungen, F Leuchtfeuer, G Hafenamt, H Kirche von Gráo, J Kirche Ermita del
Rosario, K Kirche de los Angelos, L Playa del Cabanal (Strand), M Calle de la Reina, N Calle de San
Andres.
Für Fassdauben (1888 1·65 Millionen Stück, Werth 1·6 Millionen Pesetas)
ist Valencia der dritte Platz Spaniens, ebenso für gewöhnliches Holz (1888
36.796 m3, Werth 1·8 Millionen Pesetas), für Holzkohle und Brennholz der zweite.
Die Einfuhr der Phosphate und des salpetersauren Natrons (1888 57.817 q,
Werth 1·7 Millionen Pesetas) aus England, Deutschland und Frankreich steigt
unausgesetzt, stationär bleibt die von Peru-Guano (56.018 q).
[470]Das Mittelmeerbecken.
Von Producten des Thierreiches werden in grösseren Mengen eingeführt
Häute und Felle, von diesen viele aus Hamburg, ferner thierische Fette, Schweine-
fleisch und Därme. Die Einfuhr von Stockfischen aus dem Auslande betrug 1888
24.850 q, die von gesalzenen Fischen im Küstenhandel 30.933 q.
Zu nennen sind noch Kohlen und Coaks aus England (1881 681.069 q) und
Petroleum aus Amerika (1888 36.725 q Rohöl und 21.933 q raffinirtes aus dem
Auslande und 7577 q im Küstenverkehre) für den Localbedarf.
Von Industrieartikeln werden ausser Sprit eingeführt Papier aus Frank-
reich und Deutschland, Glaswaaren aus Frankreich, einiges auch aus Böhmen,
Webwaaren aus Deutschland und fertige Kleider aus Wien.
Bei der Gruppe der Textilindustrie ist zu bemerken, dass 1888 um 600.000
Pesetas Baumwollwaaren, mehr als 5000 q Hanf und Jute, um mehr als 1 Million
Pesetas Hanf-, Leinen- und Jutegarne, aber um nur 100.000 Pesetas dergleichen
Gewebe eingeführt wurden. Die Einfuhr von Schafwollwaaren erreicht 800.000 bis
900.000 Pesetas; von ihnen sind Wirkwaaren und Tuch besonders hervorzuheben.
Für seine Seidenindustrie führt Valencia Rohseide ein (1888 6723 kg) und
ausserdem um eine halbe Million Pesetas Seiden- und Sammtwaaren.
Galanteriewaaren kommen aus Paris und Berlin.
Möbel werden eingeführt aus Böhmen und Wien, Maschinen und Eisen-
bahnmaterial aus Deutschland, Schneidewaaren und Kleinzeug aus Stahl und Eisen
von Solingen und Remscheid.
Die Einfuhr von Eisen- und Eisenwaaren erreichte 1888 einen Werth von
2,400.000 Pesetas.
Wichtig ist auch die Einfuhr von Kupfer und Zinn und den daraus herge-
stellten Fabricaten.
Der Handelsumsatz Valencias erreichte in Pesetas:
| [...] |
Es nahm somit 1888 Valencia im auswärtigen Verkehre in der Einfuhr
und der Ausfuhr die vierte Stelle unter den Häfen Spaniens ein.
Bei der Einfuhr sind deutsche Industrieerzeugnisse mit französischen und
englischen hervorragend betheiligt, bei der Ausfuhr in erster Linie England und
Frankreich.
Die früher wichtige Fabrication von Seidenstoffen, besonders von Bändern
in Valencia scheint dem Untergange verfallen zu sein und die Arbeiter wenden
sich nach Barcelona; wir finden hier noch Mühlen, Oel-, Seifen- und Chocoladen-
bereitung, Spiritusbrennereien, Seilereien, eine Schwefelsäurefabrik, Böttcherwaaren
und die Erzeugung von bemalten und unbemalten Thonfliesen und ordinärem
Geschirr.
Der Schiffsverkehr von Valencia betrug:
| [...] |
Der Schiffsverkehr ist 1889 abermals zurückgegangen.
[471]Valencia.
Die nationale Flagge hat im internationalen Verkehre das Uebergewicht;
an sie reihen sich die von Grossbritannien, Frankreich, Schweden und Norwegen,
Dänemark. Im Küstenverkehre finden nur spanische Schiffe Verwendung.
Valencia steht mit Marseille durch die Cie. Fraissinet in regelmässiger
Dampfschiffsverbindung.
Die Eisenbahnverbindungen beschränkten sich bisher auf die Küstenbahn,
die Verbindung mit Madrid schliesst erst 113 km südlich von Valencia bei La
Encina an die Linie Alicante-Madrid an. Durch die im Bau begriffenen Linien
Valencia-Cuenca (-Madrid) und Valencia-Teruel-Zaragoza werden sie ausreichend
vervollständigt.
Consuln haben in Valencia: Argentinien, Belgien, Bolivia, Columbia,
Costarica, Deutsches Reich, Frankreich, Grossbritannien (V. C.), Guatemala, Hawaii,
Honduras, Italien, Liberia, Mexico, Monaco, Niederlande, Paraguay, Peru, Uruguay,
Venezuela, Vereinigte Staaten von Amerika.
Südlich des weit nach Osten vorspringenden Cap Nao liegt
unter 38° 20′ nördl. Breite die freundliche Stadt Alicante an einer
flachen Einbuchtung der Küste. Weisse Häuser umsäumen den Strand
der Rhede, aber die Umgebung ist kahl und wenig einladend. Auf
einer 120 m hohen Felskuppe thront das Castell Santa Barbara.
Noch gewahrt man die schwarze Felswand, welche von der furcht-
baren Mine herrührt, welche die Franzosen 1707 nach der Schlacht
bei Almansa entzündeten, wodurch sie die gesammte Garnison der
Feste vernichteten. Im Norden dominirt das Castell San Ferdinando
die Stadt.
Alicante zählt 40.000 Einwohner und bietet nur geringe ge-
schichtliche Erinnerungen; es ist die Hauptstadt der gleichnamigen
Provinz und Sitz der Provincialbehörden.
Unter seinen Kirchen sind die aus dem Jahre 1616 stammende,
im griechisch-romanischen Styl erbaute, allein nicht in allen Theilen
vollendete Kirche San Nicolas de Barg sowie die Santa Clara-Kirche
bemerkenswerth.
Die Bildergallerie des Marquis de Algorfa enthält gegen 1000 Ge-
mälde der spanischen und niederländischen Schule. Erwähnung ver-
dient die grosse Tabakfabrik, in welcher 4500 Frauen und Mädchen
Beschäftigung finden.
Im Centrum der Stadt liegt die bezaubernd schöne, maurisch
angehauchte Alameda. Alicante ist der schönen Frauen und Mädchen
wegen, die eine der reizendsten Zierden der Stadt bilden, berühmt.
Dadurch gewinnen die stets belebten Promenaden eine höchst wirk-
same Anziehungskraft.
Am Hafenquai fesseln uns zahllose mit Esparto beladene Fahr-
[472]Das Mittelmeerbecken.
zeuge, denn der Export dieser zu Flechtarbeiten aller Art, zu Seilen,
Matten, ja selbst zur Papierfabrication verwendeten Nutzpflanze bildet
die Hauptthätigkeit des hiesigen Handels. Enorme Quantitäten verlassen
in durch Dampfkraft gepressten Ballen den Hafen.
In der nördlich der Stadt gelegenen blühenden Huerta haben
sich wie bei Valencia grosse Bewässerungsanlagen aus maurischer
Zeit erhalten.
Ein wunderbares Klima lässt in dieser Huerta eine völlig un-
unterbrochene Folge von Ernten gedeihen. In diesem Paradiese der
Ceres und Pomona kennt man keinen Winter.
Unter den zahlreichen Häfen Spaniens ist das 191 km südlich von Valencia
gelegene Alicante in Bezug auf den Handelsverkehr einer der wichtigsten.
Die Ausfuhr beruht auf den in der Umgebung gewonnenen Feldfrüchten,
unter denen für den Localconsum Gerste sehr wichtig ist.
Der Hauptartikel der Ausfuhr ist Wein; es wurden 1888 1,467.654 hl
(Werth 14·4 Millionen Pesetas) ins Ausland, und zwar nach Cette, Hâvre und
Rouen, 34.145 q im Küstenhandel versendet.
Von Weinstein wurden 14.965 q ausgeführt.
Alicante ist Spaniens erster Ausfuhrhafen für Safran (1888 14.294 kg),
für Anis und Anisbranntwein nach Frankreich und England, für getrocknete
Feigen und Mandeln (1888 8335 q).
Es werden ferner ausgeführt Olivenöl (1888 13.436 q) und Süssholz,
nach Amerika.
Aus den Minen der Umgebung kommt Blei (1888 9700 t, 1887 16.200 t)
nach England und Italien zur Ausfuhr, ferner Böttcherwaaren um 4·8 Millionen
Pesetas und Hanfschuhe. Der Reexport in Böttcherwaaren erreichte 1888 5·3 Mil-
lionen Pesetas und um 2 Millionen Pesetas kamen leere Fässer zurück.
Die Einfuhr umfasst Expartogras und Jute (1888 12.808 q), Zucker (im
Küstenhandel), Cacao, Sprit aus Deutschland, den Niederlanden und Frankreich
(1888 21.500 hl, 1887 31.309 hl), Fassdauben 953.000 Stück, Bauholz aus
Schweden, Norwegen und Russland ungefähr 22.000 m3.
Zur Verarbeitung in der hiesigen grossen Tabakfabrik wird Tabak von den
Philippinen eingeführt.
Von Weizen kamen 1888 84.457 q, von Weizenmehl 11.156 q an.
Die Einfuhr von Stockfischen, die zum grössten Theile England von
Neufoundland sendet, ist 1888 auf 42.304 q gesunken; durch den Küstenhandel
kommen 48.789 q gesalzener Fische. Ferner werden eingeführt Holzkohlen; Stein-
kohlen durchschnittlich 25.000 t, Petroleum (1888 100.000 q), das zum Theile im
Küstenhandel weiter geht. Eisen und Eisenwaaren durch den Küstenhandel und
Schafwollstoffe.
Der Handel Alicantes erreichte 1888: Einfuhr aus dem Auslande 26,057.065
Pesetas, durch den Küstenhandel 26,233.478 Pesetas, zusammen 52,290.543 Pe-
setas; Ausfuhr ins Ausland 64,852.072 Pesetas, durch den Küstenhandel
24,072.437 Pesetas, zusammen 88,924.509 Pesetas.
[473]Valencia.
Der Schiffsverkehr von Alicante betrug:
| [...] |
Den Küstenhandel besorgt die spanische Flagge allein, den überseeischen
Verkehr zur Hälfte.
Alicante steht mit Madrid in directer Eisenbahnverbindung.
Consuln haben in Alicante: Belgien, Costarica, Dänemark, Deutsches
Reich, Frankreich, Niederlande, Schweden und Norwegen, Venezuela, Vereinigte
Staaten von Amerika.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 60
[[474]]
Málaga.
Ein seltsamer Zauber umfängt uns beim Anblicke Málagas, der
uralten phönikischen Colonie, deren Entstehung weit zurück in un-
denkliche Zeit verlegt werden muss. Jahrtausende sind vergangen,
zahllose Völkerkämpfe wurden ausgefochten, und auf den Trümmern
alter Gesittung erblühten neue Culturen, aber immer hatte sich an
den Ufern des Gebirgsflusses Guadalmedina (Fluss der Stadt) eine be-
vorzugte Wohnstätte arbeitsamer Menschen erhalten.
Der Name Málaga ist phönikischen Ursprungs und wird von
Malch (die Saline) abgeleitet.
Weder aus der phönikischen Zeit noch aus jener der römischen Herrschaft,
die Scipio hier einsetzte, haben sich Denkmale auf die Gegenwart vererbt. Nur
die Epoche der Mauren, die mit Tarik’s Erscheinen (710) begann, hinterliess die
beiden aus dem XIII. Jahrhundert stammenden Castelle Gibralfaro und Alcazar,
auf die wir noch zurückkommen werden. Erst nach der Eroberung Málagas durch
das Christenheer unter König Ferdinand I. (1487) entstanden jene denkwürdigen
Bauten in der Stadt, die heute unsere Aufmerksamkeit fesseln. Viele derselben
wurden an der Stelle maurischer Bauwerke errichtet. So wurden die Spuren der
700jährigen Herrschaft der Mauren fast ganz verwischt.
Nachdem die streitenden Anhänger der Christenheit die Stadt am 18. August
1487 dem letzten ungläubigen Gouverneur Hames el Tegri entrungen hatten,
wurde auf den Zinnen der Feste Alcazaba das Symbol des Christenglaubens, ein
Kreuz aus Gold und Silber, und das Banner Castiliens aufgepflanzt.
Mit angeborener Tapferkeit erwehrte sich Málaga in unserem Jahrhun-
dert der französischen Invasion, sah aber am 5. Februar 1810 mit Entsetzen die
plündernden Franzosen unter Sebastiani innerhalb seiner Mauern.
Trotz öfter wiederkehrenden Unruhen nahm in der Folge die Pflege der
Wissenschaften und Künste und die Entwicklung der Stadt einen ungestörten
Fortgang. Ebenso wurde im Gegensatze zu der maurischen Regierung den See-
handelsinteressen der Stadt beizeiten eine entsprechende Würdigung zutheil.
Dem im Jahre 1588 angelegten Hafen, welcher 1622 durch die
Verlängerung des alten Molos erweitert wurde, wendet man in neuester
Zeit eine besondere Aufmerksamkeit zu.
Das in Ausführung begriffene Hafenbauproject bezweckt die
[475]Málaga.
Schaffung eines durch zwei lange Dämme abgeschlossenen geräumigen
Hafenbassins und die Anschüttung des seichten Ufergebietes nebst
der Herstellung gemauerter Quais. Auf unserem Hafenplane haben wir
das Project in seinem ganzen Umfange einschliesslich der Stadter-
weiterung auf der angeschütteten Fläche dargestellt.
Nach Vollendung der Bauten wird Málaga, dessen Bedeutung
im Handel und in der Industrie sichtlich wächst, einen gesicherten
Hafen für 400 Schiffe besitzen.
Die grossartigen Anschüttungen, welche der Herstellung der
neuen Quais und Molen vorangingen, haben auch zur Entwicklung
der Stadt nach dem Seeufer hin wesentlich beigetragen, und ent-
stehen dort Reihen prächtiger Gebäude und schöne Anlagen.
Der Anblick der Stadt, deren Häusermasse von der hochauf-
ragenden Kathedrale beherrscht wird, ist ein fesselnder. Die zumeist
in tiefes [Immergrün] gekleideten Berge und Hügel an ihrer Ostseite
bilden eine effectvolle Ausstattung des Bildes.
Westlich der Stadt breitet die fruchtbare Thalsohle des Guadal-
medina sich aus. Dort gewahrt man als Zeichen der neuen Zeit die
hohen Schlote von Fabriken und den qualmenden Rauch der Loco-
motive, während auf der anderen Seite das ausgedehnte Castell
Gibralfaro von stolzer Höhe die Erinnerung an das Mittelalter
wachruft.
Die erste Anlage dieser Befestigung wird sogar den Phönikiern
zugeschrieben, welche dort auf einem Thurme eine Seeleuchte (Pharo)
unterhalten haben sollen. Innerhalb der Mauern ist die Capelle des
heiligen Louis eingebaut worden.
Minder erhalten ist die Alcazaba, gleichfalls ein Castell, welches
1279 von den Arabern erbaut wurde und mit dem früher genannten
durch einen unterirdischen Gang in Verbindung gestanden hatte.
Dem Vandalismus sind eben viele alten Bauten zum Opfer ge-
fallen, doch können als schön und wohlerhalten die Puerta de las
Atrazanas, derzeit das Eingangsthor zu einer Markthalle, sowie die
Torre de Santiago hervorgehoben werden.
Nicht minderes Interesse beanspruchen die Bauwerke aus dem
christlichen Zeitalter, insbesondere die Kathedrale von Málaga, deren
grandioser Bau von 1538 bis 1719 dauerte.
Sie erhebt sich an der Stelle einer maurischen Moschee, welche
nach der Flucht der Mauren in eine Kirche verwandelt worden war.
Von dieser Reconstruction wurde ein gothisches Portal in den Neubau
übernommen.
60*
[476]Das Mittelmeerbecken.
Von den beiden Thürmen ist nur einer bis zu 90 m Höhe
ausgebaut.
Auch das nächst der Kathedrale erbaute bischöfliche Palais ist
in architektonischer Hinsicht erwähnenswerth; überhaupt bildet der
schöne Domplatz das Centrum der Stadt, nächst welchem die be-
suchtesten Strassen, Plätze und Promenaden, so der mit Baumalleen
gezierte Paseo de la Alameda und die Plaza de la Constitution liegen.
Letztere schmückt ein schöner in Erz ausgeführter Brunnen von
grossen Dimensionen. Auch die Plaza de Riego, in deren Mitte das
Monument eines Märtyrers der Freiheit, des im Jahre 1831 erschossenen
Generals Torrijos, sich erhebt, sei hier genannt.
Eine Lieblingspromenade ist insbesondere an Frühlingsabenden
der herrliche Quai, jedoch bei hereinbrechender Dunkelheit ziehen
sich die Städter nach der Alameda zurück, um den öffentlichen
Productionen von Militärcapellen zu lauschen, oder in eleganten
Cafés und Restaurants Erfrischung zu suchen, hier spielt sich das
öffentliche Leben Málagas ab.
Nord-Süd durchläuft sanft der Rio Gadalmedina die Stadt,
deren älterer Theil sich an der linken, östlichen Uferseite hinstreckt.
Dieser Stadttheil ist, die Seeseite ausgenommen, uneben und hügelig,
die Strassen sind unregelmässig, mitunter sehr enge, dennoch ist
gerade dieser an den Hafen anstossende Theil der weitaus belebtere
und bevorzugte. Alle wichtigeren Staats- und Stadtämter, zumeist in
dem mächtigen Zollgebäude (Aduana) untergebracht, befinden sich
hier, doch entwickelt und dehnt sich die Stadt schon mächtig in der
Ebene am westlichen Flussufer aus, und reihen sich in den neu an-
gelegten Strassen immer mehr und schönere Wohngebäude aneinander.
An der rechten Uferseite des Guadalmedina liegen die Baulichkeiten
des Bahnhofs, aus dessen Hallen die Schienen via Cordoba nach dem
Reiche führen. Südlich der Station gewahrt man die bis zum Quai
reichenden grossartigen industriellen Anstalten, deren Gedeihen im
Vereine mit der Thätigkeit der anderen zahlreichen Fabriken der
Stadt den Aufschwung Málagas herbeigeführt hat.
Die Eisengewerkschaften der „Constantia“, die „Industria Mala-
gueña“ und „La Aurora“ verdienen ganz besondere Beachtung.
Abseits der hohen industriellen Thätigkeit ist Málaga auch in
seinen humanitären Bestrebungen anderen Städten vielleicht mehr als
ebenbürtig und nimmt ebenso auf dem Gebiete der Geistespflege einen
ehrenvollen Platz zur Ehre seiner lebhaften und ritterlichen Söhne ein.
Gesellschaftliche Vereine, Theater und Badeanstalten, vornehme
[477]Málaga.
Hôtels und Kaufläden sind reichlich vorhanden. Die Arena für Stier-
kämpfe, die Plaza de Toros ist aber der nationalste aller Sportplätze
für alle Gesellschafts- und Volksclassen.
Die Umgebung Málagas ist reizend; östlich und nördlich breitet
sich Hügel- und Hochland aus, das unter einem herrlichen halb tropi-
schen Klima eine Hülle von schönen und edlen Früchten zeitigt, die
nicht nur auf den Marktplätzen der Stadt reissenden Abgang finden,
sondern auch einen Hauptexportartikel ausmachen.
In den Niederungen gedeiht das Zuckerrohr zu üppigem Wuchse;
anmuthig fügt sich das frische Grün der ausgedehnten Plantagen in
Málaga.
die Farbenpracht der Orangenhaine und der mannigfachen Anpflanzungen
europäischer und tropischer Bodencultur.
Fast zu allen Jahreszeiten wird Málaga von zahlreichen Frem-
den besucht, welche die Gunst des Klimas, der Ausblick nach der
See und die herrliche Lage hieherführen.
Der Winter ist hier nur dem Namen nach bekannt, denn in
manchen Jahren sinkt die Temperatur der Luft nicht einmal zur
Nachtzeit unter + 10°C.
Málaga liegt unter 36° 42′ nördl. Breite und 4° 24′ westl.
Länge v. Gr. (Leuchthurm) und ist als Hauptstadt der Provinz der
Sitz eines Civil- und Militärgouverneurs, eines Bischofs, einer Handels-
[478]Das Mittelmeerbecken.
kammer. Die Bevölkerung, welche am 31. December 1887 die Zahl
134.016 erreichte, hat sich seitdem durch Auswanderung bedeutend
vermindert, denn der wirtschaftliche Niedergang der Stadt und
Provinz Málaga, die Tyrannei der in den kleinen Gemeinden gewählten
Vorsteher, welche officiell Alcalden, von dem Volke aber Caziken,
wie die Häuptlinge des alten Mexico genannt werden, treibt die
städtischen und ländlichen Arbeiter aus dem fruchtbaren Spanien
nach Argentinien, Südbrasilien und Venezuela, deren Regierungen freie
Ueberfahrt anbieten. Durch grossartige öffentliche Arbeiten sucht man
zunächst in der Stadt Málaga Gelegenheit zum Verdienen zu geben.
Eine breite Strasse, die „Avenida de Larios“ tritt in die Nähe
des Hafens an die Stelle alter, enger und winkeliger Strassen; im
Osten der Stadt wird der „Camino Nuevo“ angelegt; Señor
Garcia, wie die Fabriksbesitzer D. Heredia, D. M. und D. C.
Lários ein grosser Wohlthäter der Stadt, hat eine grosse Geld-
summe gespendet, um den Arbeitern Beschäftigung zu geben. Aber
die grösste Hoffnung für die Wiedergeburt der Stadt setzt man auf
den Plan der Ablenkung des Guadalmedina, der die beiden volk-
reichen Vorstädte Perchel und La Trinidad von der eigentlichen Stadt
trennt. Meist sehr wasserarm, verwandelt sich der Fluss in der Regen-
zeit in einen furchtbaren Torrento, der mit seinen Ablagerungen den
Hafen blockirt, und zur Zeit seines trägen Laufes verschlechtert er die
Luft gerade des gesündesten Theiles einer Stadt, welche durch ihr
Klima berühmt ist. Die Regierung hat bereits dem Plane zugestimmt,
den Guadalmedina, der heute im Osten der genannten Vorstädte fliesst,
an deren Westseite zu verlegen und ihn 3 km von dem Hafen ins Meer
münden zu lassen. Auf dem so gewonnenen Lande soll sich eine neue
Villenstadt erheben, ähnlich der schon bestehenden von der Ostseite
Málagas an der Strasse nach Velez-Málaga.
Schon sehen sanguinische Verehrer ihre Vaterstadt Málaga als
Rivalin von Nizza und Monte Carlo, deren Klima gewiss für Kranke
weniger günstig ist.
Und in der That beruht die Zukunft Málagas auf der Möglich-
keit, aus ihm einen klimatischen Curort von europäischer Berühmtheit
zu machen. Dies würde nicht allein unmittelbar Geld nach Málaga
bringen und die Einfuhr von Luxusartikeln heben, sondern auch
fremdes Capital und fremde Arbeitskraft in ein von der Natur so
reich gesegnetes Land bringen, wo noch wenig Unternehmungsgeist
herrscht; die Eingebornen nennen diese Eigenschaft so treffend
„anemia“.
[479]Málaga.
Der Handel Málagas ist in den letzten Jahren gewaltig gesunken, weil
Missernten und der Mitbewerb fremder Staaten den Export der Producte des
Ackerbaues der Provinz Málaga herabgedrückt haben. Den grössten Rückgang
weisen Rosinen, der wichtigste Stapelartikel Málagas, aus.
Die Weine und Rosinen Málagas geniessen Weltruf, und seine Reben-
pflanzungen erstrecken sich nördlich bis Antequera, östlich bis Mortil und west-
lich bis Ronda. Hier werden die edelsten Weine gewonnen, das meiste von Mos-
catelreben, der Vino tierno de Málaga und der berühmte Petro-Jimen aber, wel-
cher unter dem Namen „Málaga“ par excellence nach allen Weltgegenden ver-
sendet wird, von der Jimenicia-Rebe. Diese köstliche Rebe stammt von der Insel
Madeira, von wo sie zunächst an die Ufer des Rheines und der Mosel verpflanzt
wurde. Von dort brachte sie im XVI. Jahrhunderte ein deutscher Weinbauer,
Peter Simon (also nicht der berühmte Cardinal Pedro Ximenez), nach Málaga,
woselbst man die Rebe nach ersterem benannte, indem man seinen Zunamen
in J(X)imenez corrumpirte.
Leider hat neuestens die Phylloxera einen grossen Theil dieses Weinge-
bietes vernichtet, und wo noch vor wenigen Jahren die edelsten Reben standen,
baut man heute Mais.
Die hohe Consumsteuer, welche 1888 auf Sprit gelegt wurde macht die
Einfuhr des hier sehr beliebten deutschen Productes nahezu unmöglich und das
leistete den namentlich in Cette, dann in Montpellier, Marseille und Bordeaux
erzeugten billigen Nachahmungen hiesiger Weine Vorschub.
Der Absatz der Weine Málagas nach Frankreich, in die Schweiz und nach
Italien ging 1889 sehr zurück. Ausgeführt wurden 1888 136.341 hl ins Ausland
und 2973 q durch die Küstenschiff fahrt. Drei Fünftel gingen nach Frankreich,
England, in die Union.
Die Ausfuhr von Rosinen leidet durch die Rosinen Californiens.
Der Rosinenexport ist von 1,412.000 q im Jahre 1886, 1887 auf 993.000 q,
1888 gar auf 52.547 q heruntergegangen. Die Hälfte derselben, die billigeren
Sorten, gehen nach Amerika, die besseren nach Frankreich, dann nach England
Deutschland und Nordeuropa.
Auch die Ausfuhr von Olivenöl hat 1888 nur 41.401 q erreicht, war aber
1889 sehr gross. Die Ausfuhr geht nach Hamburg, Grossbritannien und Frank-
reich. Im Küstenhandel wurden 1888 26.402 q verschifft. Die Güte des hier ge-
wonnenen Oeles lässt viel zu wünschen übrig.
Die Preise der Orangen und Citronen sind durch die grosse Concurrenz
von Italien, Portugal, Brasilien, Mexico und Florida gedrückt. Ausfuhr 1888 von
Orangen 30.704 q, von Citronen 43.086 q. Diese Früchte sowie Mandeln und
Feigen gehen vornehmlich nach Amerika und England.
Durch die Fröste des Winters von 1888, welche die Pflanzungen hart
mitnahmen, ist die hier meist so wichtige Erzeugung von Rohrzucker sehr zurück-
gedrängt. Sie genügt kaum dem localen Bedürfnisse. Es wird wohl im Küsten-
verkehre mehr ausgeführt (1888 43.214 q, Werth 4·7 Millionen Pesetas) als ein-
geführt, aber Málaga führt auch aus dem Auslande ein.
Nur der Getreidebau, welcher sich auf Kosten der anderen Culturen aus-
gedehnt, liefert reichlichen Ertrag.
Im Küstenhandel wurden 1888 27.240 q Weizenmehl ausgeführt.
[480]Das Mittelmeerbecken.
Die Producte des Thierreiches spielten in der Ausfuhr von Málaga nie
eine Rolle, nur hat sich in den letzten Jahren die Verschickung frischer Fische
in Eiswaggons nach Madrid zu einer lohnenden Quelle des Erwerbes entwickelt.
Málaga ist Spaniens erster Ausfuhrplatz für reines Blei (1888 157.312 q,
Werth 5·2 Millionen Pesetas), wie Cartagena, das den schönsten Hafen an
der spanischen Mittelmeerküste besitzt, für silberhältiges Blei (Ausfuhr 1888
350.975 q, Werth 12·3 Millionen Pesetas).
Unter diesen trostlosen Verhältnissen der Ausfuhr leidet selbstverständlich
die Einfuhr.
Von Sprit, meist deutschen Ursprungs, wurden 1888 18.963 hl aus dem
Auslande und 2005 q durch den Küstenhandel eingeführt. Die Einfuhr von Bau-
holz erreichte 1888 nur 8825 m3.
Von thierischen Nahrungsmitteln wurden aus dem Auslande eingeführt
Klippfisch 1888 nur 19.640 q.
Holzkohlen kommen meist aus Sardinien (1888 2502 t), Steinkohlen
und Coaks aus England (1888 31.013 t, 1887 44.733 t).
Petroleum (33.620 q) aus Amerika und Cement aus Deutschland.
Von Metallwaaren kamen aus England, Belgien, Frankreich und Deutsch-
land eiserne Fassreifen 716 t, Draht 329 t, Gusseisen 407 t, Stahl 194 t, Maschinen
und Maschinentheile 850 t zur Einfuhr; bei letzteren gegen 1721 und 4179 t in
den Jahren 1887 und 1886.
Im Jahre 1888 führte man in Málaga aus dem Auslande ein: Baumwoll-
gewebe um 355.000 Pesetas, Hanf und Leinengarne 3327 q (Werth 1·3 Millionen
Pesetas), Jutegarne 2215 q, dann Schafwollstoffe, gemischte Stoffe und Wirk-
waaren um 958.329 Pesetas und Seidenwaaren um 349.174 Pesetas.
Also im Ganzen ist die directe Einfuhr aus dem Auslande klein, dagegen
wurden im Wege des Küstenhandels um 26·5 Millionen Pesetas Baumwollstoffe,
um 2·7 Millionen Pesetas Schafwollstoffe eingeführt, um 11·5 Millionen Pesetas
Gewebe aller Art ausgeführt.
Für die Einfuhr von roher Baumwolle ist Málaga (1888 22.478 q) der erste
Platz Spaniens nach Barcelona, und Baumwollspinnerei und Weberei, welche 4400
Arbeiter beschäftigen, blühen in der Umgebung.
Auch in Thonwaaren will man sich durch die in Santa Inez neuerrichtete
Fabrik vom Auslande befreien.
In Málaga selbst beschäftigen sich vier grosse Etablissements mit dem Bau
von Maschinen, und Engländer haben 1888 eine Fassfabrik errichtet.
Die zahlreichen Mühlen von Málaga und Umgebung werden langsam nach
dem ungarischen Walzensysteme umgebaut. Zu nennen sind noch die zahlreichen
Etablissements für Herrichtung des Weines, für Erzeugung von Sprit und Essig,
die vielen Oelpressen und die 20 Seifenfabriken. Aber unter der Abgabe auf
Oel und dem Mitbewerb der Fabriken Cataloniens hat die Ausfuhr von Seife so
ziemlich aufgehört.
Der Handel Málagas erreichte in Pesetas:
| [...] |
Der Schiffsverkehr Málagas betrug:
| [...] |
A Winter-Ankerplatz auf der Rhede, A1 Sommer-Ankerplatz, B innerer Hafen, B1 neue Hafendämme,
C neuer Stadttheil (nach Ausbau des Hafens), D Zollamt, E Station der Bahn nach Cordoba F Leucht-
feuer, F1 alter Leuchtthurm, G Batterie S. Carlos, H Strand Malagueta, J Arena für Stierkämpfe,
K Kathedrale, L Playa de St. Andres, M Eisenfabrik Constancia, N Gaswerke, O Aurora (Kleiderfabrik),
P Civil-Hospital, R Plaza de Riego, S Calle la Victoria, T Plaza de la Constitucion, U Castell di
Gibralfaro, V Zuckerfabrik, W Kupferhammerwerk, X englischer Friedhof, Y Alcazaba-Platz, Z Calle
de Torrijos, — 1 Calle de Alamos, 2 Calle de la Trinidad, 3 Paseo del Coto, 4 Arroyo de los Angeles, 5 neue
Strasse Avenida de Larios, 6 Alameda de los Tristes, 7 Hospital der Armen, 8 Hafen-Capitanat,
9 Mercado de Alfonso XII, 10 Waisen-Asyl, 11 Calle Cuarteles, 12 Calle del Salitre, 13 Batterie San
S. Felipe, 14 Merino-Garten, 15 Tacon-Garten, 16 Militär-Spital, 17 S. Rafael-Batterie.
In diesem Hafen treibt in der Regel nur die spanische Flagge die Küsten-
schiffahrt; von dem internationalen Verkehre besorgt sie die Hälfte; an sie reihen
sich die englische, französische und italienische Flagge.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 61
[482]Das Mittelmeerbecken.
Regelmässige Verbindungen bestehen nach Marseille durch die Gesellschaft
Fraissinet et Co., durch die Cie. générale transatlantique mit Gibraltar, Tanger,
Oran und durch spanische Gesellschaften mit den Häfen der Halbinsel; Málaga
ist Station der Slomann’schen Dampfer und der Linie Roca aus Hamburg, ferner
der Cie. générale transatlantique auf ihrer Linie Marseille-Colon Aspinwall.
Durch die Linie Málaga-Bobadilla-Cordoba ist der Hafen an das Eisen-
bahnnetz Spaniens angeschlossen und der vermittelnde Platz für den Handel der
Provinzen Málaga und Granada geworden.
Consuln haben in Málaga: Argentinien, Columbia, Costariea, Dänemark,
Deutsches Reich, Dominikanische Republik, Frankreich, Griechenland, Gross-
britannien, Guatemala, Hawaii, Honduras, Italien, Liberia, Mexico, Monaco, Nieder-
lande, Oesterreich-Ungarn, Russland, Schweden und Norwegen, Türkei, Uruguay
(G.-C.), Venezuela, Vereinigte Staaten von Amerika.
[[483]]
Gibraltar.
Vor kaum zwei Jahrzehnten war die Wasserstrasse, die sich
zwischen den Säulen des Hercules dahinzieht, die einzige Passage,
welche das hochwichtige Becken des Mittelmeeres mit dem Ocean
verband. Erst mit der Verwirklichung des grossartigen Gedankens,
in seinem äussersten Osten ein künstliches Thor zu erschliessen,
wurde das Mittelmeer zum Bindegliede der Oceane und zu einer
Durchzugsstrasse für den Weltverkehr. Tausende von Meilen See-
weges werden dem Zuge der Schiffahrt nach dem fernen Osten und
Westen erspart, und nicht nur das Mittelmeer selbst, sondern auch
dessen erste und einzige natürliche Zufahrt hat seither riesig an Be-
deutung zugenommen.
Gibraltars isolirte Lage liess den Platz zwar nicht zu einem
grossen Hadelscentrum anwachsen, aber durch den Umstand, dass ein
grosser Theil der die Enge passirenden Schiffe den Hafen als erste
oder letzte europäische Etape zur Approvisionirung anlaufen muss,
geniesst Gibraltar eine nicht zu unterschätzende mercantile Bedeutung.
Wer immer die verhältnissmässig schmale Verkehrsstrasse,
welche hier Europa vom dunklen Erdtheile trennt, befuhr und in der
Betrachtung der sich auf 13 km nahe rückenden Küsten die wunder-
same Form des Felsens von Gibraltar erblickt hat, dem dürfte kaum
ein seltsameres Bild die Erinnerung daran verdunkeln.
Abgerissen vom spanischen Festlande, gänzlich isolirt und nur
mittelst eines schmalen Landstreifens seine topographische Zusammen-
gehörigkeit mit dem schönen Andalusien herstellend, scheint es, als
ob der Berg einst nach der Länge seines Kammes gespalten und die
eine Hälfte in die Tiefen des Meeres versenkt worden wäre.
Am imposantesten repräsentirt sich daher der Berg, dessen
Kammlinie Nord-Süd läuft, gegen Osten, gegen das Mittelmeer zu.
Auf dieser Seite erheben sich die dunklen Wände fast senk-
recht bis zu 425 m Höhe über das Niveau des Meeres, welches mit
61*
[484]Das Mittelmeerbecken.
mächtigem Wogenschlag deren Fundamente umtost, während tödt-
liche Starre und Oede aus den nackten Felswänden blickt.
Das Terrain an der südlichsten Spitze sowie der westliche Ab-
hang des Berges verlaufen jedoch allmälig, und wenn man, westlich
steuernd, die Punta Europa, welche auf hohem Thurme eine der
schönsten Seeleuchten trägt, passirt hat und in die mächtige Bai
von Gibraltar einfährt, bietet sich, wie im Gegensatze zur Starrheit
der östlichen Wand, das anmuthige Bild der stets belebten Rhede und
der malerisch an die sanfte Wand des Berges gelehnten Stadt dar.
Die Bai von Gibraltar, nach dem an ihrer Westseite liegen-
den spanischen Städtchen Algeciras Bahia de Algeciras genannt, ist
von fast unübersehbarer Ausdehnung, denn sie misst 8 Seemeilen von
Ost nach West und 11 von Nord nach Süd. Grosse Tiefe, unguter
Ankergrund lassen es kaum zu, die Bai als eine besonders gesicherte
zu bezeichnen, und nur der Umstand, dass der 4½ km lange Felsen
von Gibraltar wie ein schützender Arm ihren östlichen Abschluss
bildet und die Macht der vorherrschend östlichen Stürme, insbeson-
dere aber die des hohen Seeganges bricht, sichert der Rhede von
Gibraltar den Vorzug vor allen anderen Punkten der Bai.
An die Südspitze des Berges, nächst dem Leuchtthurme, lehnen
sich gewaltige moderne fortificatorische Bauten an, die auch längs des
ganzen Westsaumes weiter geführt sind und in den grandiosen in Felsen
ausgehauenen hochsituirten Gallerien an der Nordseite einen Ab-
schluss finden. Das englische Gebiet reicht noch auf den flachen
Grund nördlich des Felsens etwa 800 m hinaus. Von da an beginnt
der 600 m breite neutrale Grund, der Gibraltar vom spanischen Ge-
biete trennt.
Ein niedriger Erdwall, „la Linea“, der quer über die Landzunge
läuft, bildet im Norden die Grenze des „neutralen Bodens“.
Ein unbedeutendes, durch einen langen Molo geschütztes Re-
gierungsarsenal mit Anlagen für militär-maritime Zwecke, und höher
hinauf prächtige Regierungsgebäude für militärische und humanitäre
Dienste nehmen den südlichen Theil der Uferlände in Anspruch,
während die Stadt mehr an dem nördlichen sich entwickelt hat.
Gibraltar, unter 36° 7′ nördl. B. und 5° 21′ westl. L. v. Gr.
(Arsenals-Molo), geniesst nicht das Glück, einen eigentlichen Hafen zu
besitzen, und es ist fast zu wundern, wie der nicht unbedeutende
Geschäftsverkehr auf der Rhede bewältigt werden kann, da gar
keine Einrichtungen bestehen, die denselben erleichtern können.
Ueberdies ist dieser Verkehr dem strengen Festungsreglement
[485]Gibraltar.
gemäss nur auf die Tageszeit und auf ein einziges Thor beschränkt,
welches durch die umzwingenden Wälle der Stadt führt.
Der Raummangel für grosse Depots am Lande hat auch be-
stimmend dafür gewirkt, dass die hauptsächlichsten Lager von Kohlen
— Gibraltars wichtigstem Handelsartikel — sich schwimmend, d. h.
auf grossen Lichterschiffen befinden, die auf der Rhede stabil ver-
ankert bleiben. Letztere vertreten gleichzeitig die Stelle der Anlege-
plätze für die grosse Zahl der periodisch wiederkehrenden Dampfer,
Gibraltar.
die sich hier mit Heizmaterial versorgen. Die schwimmenden Kohlen-
depots besetzen die besten Liegeplätze der Rhede und verleihen ihr
auch ein charakteristisches Merkmal. Ihre Anzahl (35) darf wegen
Platzmangels nicht mehr vergrössert werden.
Der Mangel an Docks wird empfindlich gefühlt, worunter die
in den letzten Jahren sich immer mehr ausbreitende Localschiffahrt
zu leiden hat, da die Reparaturen der Schiffe auf fremden Werften
ausgeführt werden müssen. Wie so mancherlei andere Uebelstände
dieses Seeplatzes schon behoben wurden, so ist man in neuester Zeit
auch endlich daran gegangen, mit dem Bau von grossen Docks zu be-
[486]Das Mittelmeerbecken.
ginnen. Der praktische Sinn der Briten einerseits, die gänzlich ver-
änderte Vertheidigungsart der Festung andererseits liessen die Be-
deutung des Handelsplatzes gegenüber den Forderungen des Militärs
zur Geltung kommen.
Die höchst reizvoll und malerisch gelegene Stadt ist terrassen-
förmig angelegt, so dass ein grosser Theil derselben von der Rhede
aus übersehen werden kann. Einschliesslich der Garnison von 6003
Mann zählt Gibraltar (1888) 24.467 Einwohner, unter welchen das
spanische Element vorherrschend ist. Dessenungeachtet trägt Alles
das Gepräge einer englischen Colonie.
Die reinlichen, wohlbemalten Häuser sind zumeist im englischen
Style erbaut, die Strassen geräumig und sauber. Die dominirenden
Artikel der Kaufläden, soferne sie nicht die Raritäten abendländischer
Nachbarvölker zur Schau stellen, sind vorzugsweise englischer Pro-
venienz, und die reichhaltigen Geschäftslocale verrathen sofort, dass
man es hier mit Leuten zu thun hat, welche Alles an sich vorüber-
ziehen gesehen, was die Welt an Bedürfnissen und Luxus erzeugt
und von Land zu Land versendet.
Der Umstand, dass Gibraltar Freihafen ist (seit 1706), in welchem
nur Spirituosen, Liqueure, Bier und Wein einem besonderen Zolle
unterworfen sind, lässt die Station geradezu als ein Eldorado für den
Kleinhandel mit Seefahrern erscheinen.
Das eintönige Leben gemahnt allerdings beständig an den Cha-
rakter Gibraltars als Festung; überall begegnet man den schmucken
englischen Soldaten, und ein wärmerer Pulsschlag in der Hauptader
des Stadtverkehrs tritt nur dann ein, wenn beim Spiele der militäri-
schen Retraite auch die geschäftsmüde Menschheit den Heimweg antritt.
Mit unsäglicher Mühe wurden dem sterilen Terrain, den Berg-
länden Plätzchen abgerungen, auf welchen herrliche Oasen erblühen
und zum Besuche einladen. Die lohnendste Partie ist jedoch ein Auf-
stieg nach der Signalstation am Kamme des Berges in 392 m Höhe.
Von dort aus geniesst man eine prächtige Fernsicht über die
weite Bai und das nette spanische Städtchen Algeciras, sieht den
Grund des Meeres zu seinen Füssen und überblickt, die nächsten
Gebiete zweier Welttheile — die südlichen Gebirgszüge Andalusiens
bis Malaga einerseits, und jenseits der hier 20 km breiten Wasserstrasse
die spanische Colonie Ceuta, das marokkanische Tanger und einen
Theil des Atlasgebirges.
Die Signalstation, eine der musterhaftesten, die es gibt, dient
nicht nur militärischen Zwecken, sondern jedes hier vorüberfahrende
[487]Gibraltar.
Schiff kann sich durch internationale Flaggensignale verständigen und
seine Nachrichten befördern lassen, von welcher Wohlthat durch die
Interessenten der Schiffahrt und des Handels auch ausgiebig Gebrauch
gemacht wird.
Südlich der Signalstation erhebt sich die Felsspitze Breakneck-
Stairs bis zur Höhe von 425 m, die bedeutendste des Felsens.
Hier und auf den steilen Klüftungen des östlichen Abfalles
haust eine besondere Gattung schwanzloser Affen, die einzigen frei
lebenden Vertreter dieser possierlichen Vierhänder in Europa, welche
übrigens nebenbei bemerkt durch strenge Gesetze gegen jewede Ver-
folgung geschützt sind.
Unwillkürlich zieht bei Betrachtung des seltsamen Berges und seiner An-
lagen ein Stück Weltgeschichte in das Gedächtniss des Beschauers. Die Merk-
male, dass Gibraltar, der Mons Calpe der Alten, einst eine römische Colonie
gewesen, sind allerdings verwischt, aber noch heute besteht über der Stadt das
von Tarik (710) erbaute maurische Castell, nach welchem auch der jetzige Name
Dschebel al Tarik (Berg des Tarik) als maurische Bezeichnung für Gibraltar ent-
standen ist.
Der Ausblick von der beherrschenden Höhe ist geradezu überzeugend von
dem dominirenden Einflusse, den ihr Besitz auf die Verhältnisse der Meerenge
und die umliegenden Gebiete zu üben berufen ist.
Es ist erklärlich, dass die Mauren, welche mit kurzen Unterbrechungen fast
sieben Jahrhunderte Gibraltar inne hatten, nur nach erbitterten Kämpfen gegen
die Spanier den Stützpunkt für ihre Expansion in Europa aufgaben.
Ebenso lag es im Drange der Zeiten, dass erbitterte Kämpfe zwischen den
Culturstaaten um den Besitz dieses Schlüsselpunktes für die Beherrschung der
Strasse von Gibraltar ausgefochten werden mussten.
Gibraltar gelangte im spanischen Erbfolgekriege am 17. Juli 1704 in eng-
lischen Besitz, und die Briten wussten denselben trotz der Anfechtungen Spaniens
und Frankreichs zu behaupten. Denkwürdig ist die grosse, aber erfolglose Bela-
gerung der Felsenfeste durch die Flotten der genannten Gegner während der
Jahre 1779 bis 1781.
Finster blicken mächtige Geschütze aus den dunklen Höhlen
der berühmten Felsengallerien oder hinter Panzerwehren gegen Land
und See. Noli me tangere scheinen sie drohend zu rufen.
Aber fast ein Jahrhundert ist verflossen, seit die ehernen Schlünde
schweigen, und wie immer man heutzutage über den strategischen
Werth des Besitzes von Gibraltar denken mag — eines bleibt gewiss
— die unschätzbare Bedeutung wird diesem Platze auch in kom-
menden Zeiten gewahrt bleiben als erster und letzter Etape für den
stets zunehmenden Seeverkehr zwischen dem Mittelmeere und dem
Atlantischen Ocean, als Handelsplatz nach Südspanien und Marokko,
und als Station der Engländer auf dem Wege nach Indien.
[488]Das Mittelmeerbecken.
Gibraltar bewacht den Eingang, Malta die Mitte und Cypern
die Osthälfte des Mittelmeeres, und Egypten ist der Schlüssel des
Hauptthores von Indien.
Das Klima Gibraltars muss zwar als ein günstiges bezeichnet
werden, aber die sanitären Verhältnisse sind nicht gerade befriedigend.
Die Canalisirung der Stadt lässt viel zu wünschen übrig und die Wasser-
versorgung liegt im Argen. Wohl reicht die jährliche Regenmenge
aus für den Bedarf der Bevölkerung, aber die unteren Schichten der
Bevölkerung gehen mit dieser Gabe des Himmels nicht sorgsam um
und lassen in die Cisternen auch das Wasser eindringen, welches von
schmutzigen Dächern und noch mehr schmutzigen Terrassen abläuft.
Gibraltars Tonnenverkehr, der sich seit Eröffnung des Suezcanals (1869)
vervielfacht, seit 1879 verdoppelt hat, erreichte im Einlaufe:
| [...] |
doch sind dabei nur die Küstenfahrer der spanischen und portugiesischen Flagge
eingerechnet.
Die britische Flagge nimmt den ersten Platz ein (1887 mit 4,278.313 t),
fast nur auf sie allein entfällt die Zunahme des Tonnenverkehrs des Hafens. Es
liefen hier ferner 1887 ein 667 spanische Schiffe mit 205.363 t, 253 französische
mit 209.586 t, 100 italienische mit 110.143 t, 246 norwegische mit 111.791 t und
111 deutsche mit 81.120 t.
Da in der Meerenge Schiffsunfälle nicht selten sind, hat der „Nordische
Bergungsverein“ zu Hamburg einen Dampfer hieher gesendet.
Mit dem Schiffsverkehre steigt auch der Kohlenhandel (Einfuhr 1888
500.000 t), den England fast ausschliesslich versorgt.
Aber in allen Artikeln ist die Bedeutung Gibraltars als Handelsplatz in den
letzten Jahren stark gesunken. Gibraltar ist nicht mehr der grosse Depotplatz für
Südspanien und Marokko. Die directen Verbindungen der Häfen dieser Staaten
mit dem Auslande mehren sich auf Kosten von Gibraltar.
Die Bestimmung der spanischen Finanzbehörde, dass Spiritus nur über be-
stimmte Häfen eingeführt werden darf, von denen Cádiz am nächsten bei Gibraltar
liegt, hat ihm 1888 auch noch seine Bedeutung als Spiritusdepot für Spanien
geraubt. Doch klagte man, wie es scheint, nicht mit Unrecht in Spanien und Ma-
rokko, dass von dem Freihafen Gibraltar aus, wo mit Ausnahme der geistigen
Getränke der Handel von jeder Controle befreit ist, ein grosser Schmuggel in
ihre Zollgebiete betrieben wird. Namentlich dem Ertrage des spanischen Tabak-
monopols wird durch die Tabakhändler und die zahlreichen Tabakfabriken Gibral-
tars grosser Abbruch gethan.
Nur eine Eisenbahnverbindung Gibraltars mit Spanien könnte dem Platze
seine alte Stellung wiedergeben. Aber England wird eine solche unter keiner Be-
dingung gestatten, und so erwartet die Handelskammer Gibraltars alles Heil von
der bevorstehenden Vollendung der Strecke Bobadilla-Algeciras. Bobadilla liegt
an der Linie Cordoba-Málaga.
[489]Gibraltar.
Zur See nach Gibraltar zu kommen, ist leicht; wer aber zu Lande hin
will, musste bisher auf den nicht guten spanischen Strassen eine langwierige
Wagenfahrt in der mit Recht berüchtigten „Dilegencias“ nach Algeciras unternehmen.
Gibraltar führte 1887 Waaren um 947.129 ₤, 1888 nur um 763.408 ₤ ein
und von diesen kamen 670.195 ₤ aus England, so dass wir das Ursprungsland nur
A Ankerplatz auf der Rhede, A1 temporärer Ankerplatz, B Kohlenschiffe, C Landungsplatz, D Landthor,
E neutraler Grund, F Leuchtfeuer, G englische Grenzlinien, H Rennplatz, I Gallerie-Batterien, J Fried-
höfe, K maurisches Castell, L Gouverneurs-Palais, M Börse, N Kloster, O Südthor, P Grand Parade
Gärten, R Marine-Spital, S Kasernen, T North Front-Camp, U Giesserei, V Schiffswerkplatz, W Vieh-
stallungen, X Arsenals-Gebäude, Y Windmill-Kasernen, Z Meerenge von Gibraltar.
bei jenen Waaren nennen werden, an deren Einfuhr auch andere Länder sich be-
theiligen. Der grösste Theil dieser Waaren geht hier nur durch, denn der Consum
Gibraltars ist ja nach der Grösse seiner Bevölkerung nur ein beschränkter.
Ausser Kohle wurden hier namentlich Baumwollwaaren, darunter auch
aus Deutschland, eingeführt 1888 12,237.100 Yards (Werth 133.244 ₤) gegen
17,319.700 Yards im Jahre 1887.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 62
[490]Das Mittelmeerbecken.
Bier sendet meist London; Einfuhr 1888 15.439 Barrels; Weizen und
Mehl (1888 31.095 q) kommen auch über Hamburg, Marseille und Fiume.
Raffinirten Zucker schickt neben England meist Oesterreich-Ungarn; Ein-
fuhr 1888 36.036 q. Dafür hat letzteres seine frühere dominirende Stellung in
Tabak aus Ungarn an Deutschland und England abgegeben.
Thierische Nahrungsmittel (Provisions), die theilweise auch zur Versorgung
der Schiffe dienen, schickt England, lebendes Rindvieh für den Bedarf der
Garnison Marokko, und Gemüse und Früchte bringen die spanischen Nachbarn aus
dem Städtchen San Roque an die „Linea“, und rächen sich durch hohe Preise
an den Briten, die noch immer diesen Theil des Bodens Spaniens besetzt halten.
Als Importartikel sind noch zu nennen Kaffee, Thee, Tabakfabricafe und
Korkholz für die ansehnliche Stöpselindustrie des Platzes. Ueber Gibraltar kommen
ausser den eigentlich nur transitirenden Artikeln der Einfuhr noch Mandeln, Süd-
früchte und Wein aus Südspanien zur Ausfuhr nach London.
Der regelmässigen Schiffahrtslinien, die Gibraltar berühren, sind mehr
als 20, ihre Namen haben wir bei Egypten und den Plätzen Italiens angeführt.
Mit London und Málaga besitzt Gibraltar auch eine eigene Verbindung durch
die Hall Line, die Compagnie Paquet verbindet es mit Marseille, Ceuta, Tanger
und den anderen Häfen Marokkos, die Cie. Générale Transatlantique mit Oran und
Tanger, und von Algeciras geht täglich ein spanischer Dampfer nach Ceuta.
Gibraltar hat über Spanien und Frankreich eine tägliche Postverbin-
dung mit England, eine Landtelegraphenlinie nach Spanien und Kabel der Eastern
Telegraph Cy. nach Lissabon, nach Villa Real de Santo Antonio in Portugal, nach
Cádiz, Malta und Tanger.
Im Jahre 1888 wurde hier eine Niederlassung der Anglo-Egyptian-Bank
errichtet. Legale Münze ist in Gibraltar die spanische Peseta, daher ist Gold hier
sehr selten, und man sieht nur das minderwerthige 5 Peseta-Stück. In englischem
Gelde werden nur Geldanweisungen und Postaufträge ausgedrückt.
Consulate haben in Gibraltar: Argentina, Belgien, Bolivia, Brasilien,
Columbia (G.-C.), Dänemark, Deutsches Reich, Grossbritannien (G.-C.), Monaco,
Nicaragua, Niederlande, Oesterreich-Ungarn (G.-C.), Peru, Portugal (G.-C.), Schweiz,
Spanien (G.-C.), Uruguay, Venezuela, Vereinigte Staaten von Amerika.
[[491]]
Der atlantische Ocean.
Die Geschichte des atlantischen Meeres taucht in schwer
unterscheidbaren Umrissen aus dem Nebel von Mythen und
Sagen empor, in den es nicht bloss die unwillkürlich dichtende
Phantasie junger Völker, sondern auch die absichtsvolle Fabelei
gewitzter Kaufleute gehüllt hat.
Jenseits der Säulen des Hercules wollte eben der Phönikier
durchaus keinen Concurrenten oder auch nur Beobachter seines
Thuns und Treibens aufkommen lassen. Infolge dessen ist alles, was
uns die Alten von den Küstenfahrten nach den Zinn- und Bernstein-
ländern oder von den Unternehmungen der Carthager an der west-
afrikanischen Küste berichten, dem kritischen Zweifel in höherem
Masse ausgesetzt, als was uns sonst über die maritimen Thaten der
vorchristlichen Völker erzählt wird.
Als die Römer bis zum atlantischen Meere vordrangen, fanden
sie zwar die keltischen Völker an der Küste im Besitze einer Marine,
indessen haben weder die Gallier, noch die Römer sich weiter in
den Ocean hinausgewagt; über ihm schwebten auch weiter die Geister
der Sagen und des Geheimnisses. Zwar wurde es im Norden Europas
immer lebendiger; die Binnenmeere waren der Schauplatz grosser
Wanderungen, kriegerischer Wagnisse, so auch eines regelmässigen
friedlichen Verkehres; aber es verging beinahe das erste Jahrtausend
der christlichen Zeitrechnung, bevor die Vikinger zum erstenmale
mit unzulänglichen Mitteln die endlose Wasserwüste durchschnitten
62*
[492]Der atlantische Ocean.
und an den Küsten Grönlands sowie der Neu-England-Staaten ver-
gängliche Ansiedlungen gründeten. Den Handel treibenden Cultur-
völkern jener Zeit und ihren Nachkommen blieben diese Thaten der
kühnen Normänner unbekannt, den praktischen Erfolgen nach waren
sie für die Menschheit so gut wie nie gethan.
Während des ganzen Mittelalters war die Lage am atlantischen
Gestade für die Anwohner kein Vortheil, keine Schicksalsgunst,
sondern eine Erschwerung ihrer Existenz, sie lagen eben abseits von
der Heerstrasse des damaligen Welthandels. Erst im Zeitalter der
Entdeckungen, seit dem XIV. Jahrhundert also wichen Scheu und
Unkenntniss von dem Unternehmungsgeiste der Italiener, Portugiesen
und Spanier.
Südeuropäische Seefahrer entdeckten die canarischen Inseln.
Madeira, die Azoren, der Infant Heinrich der Seefahrer regte die
Erforschung der Westküsten Afrikas an, und schon beschäftigten sich
Theoretiker wie Praktiker mit den zwei grössten Problemen der
Nautik: mit der Umschiffung Afrikas und der Möglichkeit, die Ost-
küsten Asiens, der allein bekannten alten Welt, direct vom atlan-
tischen Ocean aus zu erreichen.
Die Lösung des ersten Problems, für welches der atlantische
Ocean eben eine unvermeidliche Passage war, und die Ueberraschun-
gen, welche das zweite Problem mit sich brachte, bewirkten die
ungeheuere Schicksalswende nicht allein in der Geschichte des Welt-
handels, sondern ganz besonders in der Geschichte des atlantischen
Meeres und seiner Uferstaaten.
Die grossen Namen Christoforo Colombo, Vasco de Gama
Cabral, Cabot, Magelhaens u. s. w. mögen hier für ihre Thaten
stehen.
Mit dem XVI. Jahrhundert tritt der atlantische Ocean aus
seiner Vorgeschichte in seine geschichtliche Zeit ein, die den er-
freulichen Anblick eines ununterbrochenen Fortschrittes darbietet; der
Schwerpunkt seiner Bedeutung liegt seit jeher im Norden, wo er die
cultivirtesten Erdtheile der alten und neuen Welt verbindet. Jedes
Schiff, das von Europa abfährt oder nach Europa segelt, muss ihn
passiren; drei Viertheile von Europa, die Nil-, Niger- und Congo-
länder in Afrika und die Länder am Lorenzo, Mississippi, Orinoco,
Amazonas und la Plata sind durch die gleichnamigen Flüsse vom
atlantischen Oceane aus in der mannigfachsten Verzweigung auf Tau-
sende von Meilen zugänglich. Auf Grund dieser geographischen Vor-
züge gegenüber dem Indischen oder Stillen hat sich der buchten-
[493]Der atlantische Ocean.
reiche atlantische Ocean zu dem für Handel und Schiffahrt wich-
tigsten Theile des Weltmeeres emporgearbeitet, und nur auf dem
Wege über den atlantischen Ocean hat sich der Europäer zum Herrn
der Erde emporgeschwungen; wo er auf den Thron verzichten musste,
wie in Amerika, da geschah es zu Gunsten seiner eigenen Abkömm-
linge, welch jüngere Vettern bereits vielfach als gefährliche Rivalen
für die älteren Linien auf dem Felde der Weltconcurrenz auftreten.
Fluch und Segen mengen sich aber in die grossen Umgestal-
tungs- und Erneuerungsprocesse der Geschichte.
Wenn der eine triumphirt, muss der andere zu Grunde gehen;
was dem einen Gewinn und Lebensfreude schafft, kostet dem anderen
Freiheit und Eigenthum. So recht mit den Händen können wir zu
beiden Seiten des atlantischen Oceans die belegenden Beispiele für
die Richtigkeit dieses Satzes greifen. Die romanischen und später
auch die germanischen Völker Europas erwarben ein ungeheures
Colonisationsgebiet voll der mannigfaltigsten Erwerbsquellen jenseits
des Oceans — aber die rothe und schwarze Spielart des Menschen-
geschlechtes muss es büssen, dass die Bleichgesichter besser, freier
und energischer leben wollen als bisher. Heute ist die Zeit vorüber,
wo Europa in Behaglichkeit oder auch, wie es zuletzt war, in ner-
vöser Empfindlichkeit dem Kampfe zusehen kann, wie die Weissen
die inferioren Racen unterdrücken oder ausrotten, heute ist der
vorerst wirthschaftliche Kampf zwischen den Weissen Amerikas und
den Weissen Europas ein Programmpunkt im politischen Völker-
concerte geworden.
Gerade der Umstand, dass der atlantische Ocean von verhält-
nissmässig geringer Breite ist, wirkt auf die heutigen Bewohner der
alten und neuen Welt wie das unabwendbare Fatum ein.
Die alte und die neue Welt sind auf einander angewiesen, seit-
dem sie in Verkehr getreten sind und die ersten Producte mit einander
ausgetauscht haben. Am Ausgange des XVIII. und an der Schwelle
des XIX. Jahrhunderts vollzog sich der Process, durch welchen die
transatlantischen Colonialländer — zuerst die englischen, dann die spani-
schen — sich vom Mutterlande unabhängig machten und ein verant-
wortliches Einzeldasein auf eigene Rechnung und Gefahr begannen.
Allerdings ward damals bloss das politische Band zerschnitten, aber
die Bande der Natur, der Interessen, der Bedürfnisse hielten stand,
der Verkehr zwischen Europa und Amerika hat sich in den letzten
fünfzig Jahren verhundertfacht: Dampf und Elektricität haben mittler-
weile die Entfernungen beider Landfesten auf einen Bruchtheil des
[494]Der atlantische Ocean.
früheren Zeitaufwandes reducirt, völkerwanderungsartige Auswanderer-
ströme führen den jungen Staaten nicht nur die unschätzbaren Ar-
beitskräfte, sondern auch die europäische Sitte zu.
Die Gegensätze früherer Epochen haben sich infolge dessen
abgestumpft oder selbst verloren; und doch gelten alte und neue
Welt zu beiden Seiten des intercontinentalen Meeres als Zweierlei.
Der Europäer wie der Amerikaner trägt das lebendige Gefühl
dieser nationalen, politischen Verschiedenheit, namentlich aber das
Gefühl der wirtschaftlichen Rivalität mit sich herum.
Bis jetzt überwiegt noch die Expansion auf der einen und die
Reception auf der anderen Seite. Europa gibt noch immer seinen
Menschenüberschuss und die Erzeugnisse seiner Ueberproduction an
Amerika ab, das eben auch noch in der Lage ist, aufzunehmen und
zu verdauen.
Wenn aber relativ oder gar absolut einmal der Sättigungspunkt
eingetreten ist? Wenn Amerika aus der Reception selbst in die Phase
der Expansion eintritt? Dann dürfte wohl auch der atlantische Ocean in
eine neue Phase seiner Geschichte treten, dürfte er der Schauplatz
von Weltkämpfen werden, welche die Frage entscheiden sollen, ob
die alte und neue Welt wie bisher neben einander leben können
oder die eine ihre Herrschaft auf den Trümmern der anderen wird
begründen müssen.
[[495]]
Cádiz.
Die oceanische Küste des vielbesungenen Andalusien bildet im
Südwesten der iberischen Halbinsel den weiten und kühn geschwun-
genen Golf von Cádiz, in welchen zwei der mächtigsten Ströme:
Guadalquivir und Guadiana sowie einige andere Flüsse von Wasser-
mächtigkeit ausmünden. Zu letzteren gehören der Rio Tinto und der
Rio Odiel, an deren gemeinsamer Mündung Huelva liegt, sowie der
Rio Guadalete, welcher in die Bai von Cádiz sich ergiesst.
Eine über 10 km lange und schmale Halbinsel, deren nörd-
lichstes Felsplateau die Stadt Cádiz trägt, schützt die weite und
reichgegliederte Bai vor dem Ansturm der oceanischen Wogen. Diese
Landzunge gehört zur Isla de Léon, welcher der schmale Canal Pun-
tale, auch San Pedro genannt, vom Festlande trennt.
Für die grosse Schiffahrt ist aber bloss der nördliche Theil der Bai be-
nutzbar, während im Süden ausgedehnte Lagunengebiete nur den Verkehr kleiner
Fahrzeuge zulassen. Versandete Canäle führen nach Puerto de Sta. Maria und
nach Puerto Real. Tiefer ist der zum Arsenale La Carraca und weiterhin zu dem
lieblichen Städtchen San Ferdinando führende Puntale-Canal, dessen wir soeben
gedachten.
Wie unser Plan zeigt, bietet die Einfahrt nach Cádiz vielerlei Fährlich-
keiten, und wenngleich der Ankergrund ein vorzüglicher ist, so ist die Bai doch
bereits so versandet, dass für grosse Schiffe ein im Verhältniss zur Ausdehnung
der ganzen Hafenfläche nur sehr beschränkter Raum erübrigt. Diese Sachlage
entspricht daher keinesfalls mehr dem einstigen Ruf von Cádiz, dass alle Flotten
der Welt im dortigen Hafen vor Anker liegen könnten.
Cádiz, das berühmte, der Volkssage nach von Hercules ge-
gründete Gadîr (römisch Gades), einst der am westlichsten vorge-
schobene Posten der Phönikier, ist zwar eine der ältesten Städte
Europas, trägt aber einen durchaus modernen Charakter, weil sie im
Jahre 1596 von den Engländern fast gänzlich verbrannt und hierauf
nach einem neuen Plane aufgebaut worden ist. Deshalb hat nur der
damals intact verbliebene älteste Theil schmale krumme Gässchen mit
alterthümlichen Häusern.
[496]Der atlantische Ocean.
Die Erinnerung an die einstige Bedeutung der Stadt ist nur
mehr im Stadtwappen erhalten, welches das classische Bild des mit
zwei Löwen kämpfenden Hercules enthält, ihn als Gründer und Be-
herrscher von Gades bezeichnet und so auf den erlauchten Ursprung
der Stadt hinweist.
Die heutige Bewohnerschaft von Cádiz vergleicht die wohlge-
baute, hübsch gepflasterte, reine und gut beleuchtete Stadt mit einer
„taza de plata“, einer Silbertasse.
Und doch, wie fordert schon die Lage der Stadt zu rühm-
licheren Vergleichen völlig auf!
In der That ist ein grandioser Zug der Felsplatte eigen, auf
welcher Cádiz, „die edelste, die loyalste und heldenmüthigste Stadt“
— diese Titel verlieh ihr Karl V. 1524 — thront. Ueber senkrechten
Klüften, an deren Fuss die Brandung tost, gewahrt man die von
zahlreichen Thürmen und Hunderten von „miradores“ oder Aussichts-
thürmchen überragten, hellschimmernden Baulichkeiten der Stadt.
Westwärts schiebt sich ein wildzerklüftetes Felsrevier weit hinaus in
See. Darüber rast im ewigen Kampfe die wilde Jagd der oceanischen
Wogen, die in weissen Schaum zerstoben die steilen Wände erklimmen,
um mit furchtbarem Gedröhne wieder zurückzustürzen und neuer-
dings aufzustürmen.
Aus den Schaummassen ragt von mächtigen Festungswerken
umgeben 44 m hoch die gedrungene Säule des Leuchtthurmes von
San Sebastian empor, dessen rothaufblitzendes Licht auf 20 Seemeilen
in der Runde sichtbar ist.
Seit unvordenklichen Zeiten stand hier stets ein Leuchtthurm.
Im Alterthum hiess das Felscap, welches heute das Castillo San
Sebastian trägt, Promontorio Cronio, vermuthlich weil dort ein Sa-
turnus-Tempel stand.
Fast gänzlich von der See umspült, geniesst die Stadt im Hoch-
sommer die Wohlthat erfrischender Brisen, die regelmässig einsetzen,
sobald die Sonne unter die Linie des Gesichtskreises taucht. Wie
diese Erscheinung, so bietet auch der Wechsel der Gezeiten hier ein
erwähnenswerthes Schauspiel, denn die Springflut erhebt das Meeres-
niveau um fast 4 m. Ueberhaupt waren in alter Zeit die Sonne und
die Gezeiten die Wunderobjecte der Stadt, und Philosophen wall-
fahrteten hieher, die Phänomene zu studiren. Die Beobachtung des
Sonnenunterganges, wie des zu- und abströmenden Gezeitenwassers er-
schöpfte die Einbildungskraft der Weisesten jener Zeit. Apollonius
vermuthete, dass die Gewässer bei Ebbe durch unterseeische Gewalten
[497]Cádiz.
eingesaugt werden, und Solinus meinte, dass riesige Ungeheuer die
Arbeit besorgen. Die spanischen Gothen stellten sich vor, dass die an
der fernen geheimnissvollen Linie des westlichen Horizontes ent-
schwindende Sonne durch unbekannte unterirdische Räume nach
Osten zurückkehre.
Aber die philosophische Grübelei konnte das poesieerfüllte
Räthsel der erhabenen Natur nicht lüften; erst die schrittweise Ent-
wicklung der Naturwissenschaften erhellte das den Alten undurch-
Cȧdiz.
dringlich geschienene Dunkel und zerstörte die wundersamen Gebilde
ihrer Vorstellungskraft.
Seit jeher war indes Cádiz durch geistige Bestrebungen hervor-
ragend, und auch heute, obgleich der Stern seiner commerziellen Be-
deutung den Culminationspunkt überschritten hat, geniessen dort
Künste und Wissenschaften eine gastliche, zum Schaffen ermunternde
Freistatt. Aus der reichen Zahl der höheren Lehranstalten seien hier
genannt die Facultät für Medicin und Chirurgie der Universität von
Sevilla, die Akademie der schönen Künste mit reichen Sammlungen,
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 63
[498]Der atlantische Ocean.
die Specialschule der schönen Künste, das Istituto Provincial, in welchem
die ehemalige Industrie- und Handelsschule mit einer nautischen Schule
verbunden wurde, die neue Handelsschule u. a. Nicht minder erwähnens-
werth sind die öffentlichen Sammlungen, von welchen die Gemälde-
gallerie, das naturhistorische Museum, die Bibliothek erwähnt seien.
Auch auf dem Gebiete der Wohlthätigkeit nimmt Cádiz durch
seine humanitären Anstalten und Gesellschaften einen ehrenvollen
Rang ein, wie er der hervorragenden geschichtlichen Rolle entspricht,
welche der Stadt in den wichtigsten Epochen der iberischen Halb-
insel zugefallen war.
So weit in das Dunkel der Vergangenheit reicht die Gründung von Gadir
zurück, dass diese merkwürdige Colonie der Phönikier bereits 700 Jahre vor der
Entstehung Roms durch ihren Glanz und Reichthum in der alten Welt bekannt
geworden war. Massilia, Carthago und andere mächtige Städte des Alterthums
sind viel jüngeren Ursprungs als Gȧdîr, für dessen Begründer Hercules gehalten
wird, eine Annahme, die indes sehr anfechtbar ist, da sie sich zumeist auf das
vorne erwähnte Stadtwappen bezieht, dessen Motiv jedoch erst der Römerzeit ent-
stammt zu sein scheint.
Gadîr (die „Festung“) war der Markt für Zinn aus Britannien und für
das baltische Ambra, Ausfuhrplatz für die Silberschätze der „Baetica“. Die ihr
Handelsmonopol eifersüchtig schützenden Phönikier gestatteten keinem Fremden,
über Gadîr hinaus vorzudringen. Aber je mehr die Colonie aufblühte, desto mehr
wuchs der Neid Carthagos und Roms, der beiden mächtigen Rivalen, die beide
sich bekämpfend den Besitz des andalusischen Juwels anstrebten. Aus Handels
eifersucht auf das jüngere Carthago trat Gades im zweiten punischen Kriege so-
fort auf römische Seite. Carthago unterlag und die Macht Roms breitete sich in
Hispanien aus. Cäsar, anfangs Quästor daselbst, erkannte die Wichtigkeit von
Gades und befestigte die Stadt durch starke Werke; er gab ihr in der Folge den
Namen „Julia Augusta gaditana“. In der Stadt häuften sich enorme Reichthümer
auf, da es den gewiegten Gaditanern unter anderem gelungen war, in Rom den
Handel mit gesalzenen und geräucherten Fischen an sich zu reissen. Sie brachten
nach Ostia auch Getreide, Wein, Oel, Honig und feine Wolle. Die Kaufleute von Gades
waren Fürsten, ihre Stadt in der Kaiserzeit die vierte des römischen Weltreiches.
Balbus, der berühmte Gaditaner, der einzige Fremde, den Rom mit der
Würde eines Consuls bekleidete, der Günstling Cäsar’s und Freund und Ver-
traute Cicero’s, schmückte seine Vaterstadt mit kostbaren Marmorbauten, die
selbst jene des Augustus in Rom übertrafen.
Aber neben manch Gutem bescherte Gades den Römern auch jene im-
probae Gaditanae, deren lascive, dem Orient entstammende Tänze noch heute von
den Romalis der andalusischen Zigeuner aufgeführt werden.
Die Blüthezeit von Gades sank mit jener von Rom; beiden versetzte die
Erhebung Constantinopels zur Kaiserresidenz den ersten Stoss zum Niedergange.
Nun kamen die Gothen und zerstörten die Stadt; im VIII. Jahrhunderte fiel sie
nach der unglücklichen Schlacht am Rio Guadalete (Jerez) in die Hände der
Mauren, welche sie Djecira Cades nannten und mehr als fünf Jahrhundert be-
herrschten. Von den Normanen 844 geplündert, von den Skandinaviern 859 be-
[499]Cádiz.
droht, sah Cades seinen Handel vernichtet, seine Schätze vergeudet, und als
Alfonso X. el Sabio die Stadt am 14. September 1262 von den Mauren befreite,
war ihre Existenz nahezu völlig zerstört.
Wiederholt sah Cádiz den berühmten Genuesen Christof Colon innerhalb seinen
Mauern. Seine zweite Reise nach der neuen Welt trat er von hier aus an Bord der
Carraca Marigalante in Begleitung von 16 anderen Schiffen am 25. September
1493 an, hieher kehrte er dann am 11. Juni 1496 zurück. Der Hafen von Cádiz
sah den unsterblichen Entdecker am 20. November 1499 an Bord der Karavele
Gorda in Ketten geschlagen und von seinen beiden ebenfalls gefesselten Brüdern
Bartolomeo und Diego begleitet, von der dritten Reise zurückkehren. Hier wurden
die Gefangenen auf Befehl der Königin sogleich in Freiheit gesetzt. Auch die
vierte Reise Colon’s hatte am 9. Mai 1502 Cádiz zum Ausgangsgunkt.
Die Erwerbungen der Spanier in der Neuen Welt liessen Reichthümer nach
Cádiz fliessen; der Handel und die Bevölkerungszahl der Stadt hoben sich rapid.
Diese Blüthe, der schlechte Zustand der Befestigungen von Cádiz und der Mangel
an Kriegsschiffen reizten die Engländer und Holländer zu einem Handstreich. Am
30. Juni 1596 erschien eine grosse Flotte unter Admiral Lord Effingham mit
15.000 Mann Landungstruppen unter Gl. Lord Essex und bemächtigte sich der
Stadt, die geplündert wurde. Die Expedition war so geheimnissvoll betrieben
worden, dass ausschliesslich der genannten Lords Niemand von dem Zwecke der-
selben Kenntniss hatte. Die Beute der Eroberer war enorm. Zwei andere Ueberfälle
der Engländer (1625 und 1702) schlugen indes fehl, weil schon Philipp II. die Stadt
durch starke Befestigungen gegen alle Zwischenfälle zu schützen sich beeilt hatte.
Während aller Kriege Spaniens war Cádiz eine wichtige Rolle zugefallen,
aber die glänzendste Seite seiner Geschichte fällt der heroischen Vertheidigung
der Stadt gegen die Franzosen zu, welche sie vom 6. Februar 1810 bis 25. August
1812 vergebens belagerten, und seit der Zeit spielt Cádiz eine hervorragende Rolle
im politischen Leben Spaniens.
Hier tagte seit 1808 die Centraljunta der Insurrection gegen die Fran-
zosen und hier wurde am 18. März 1812 von den dorthin berufenen Cortez jene
radicale Constitution verkündet, deren Ausführung 1823 zum Einmarsche der
Franzosen unter dem Herzog von Angoulême führte, die im Auftrage des Con-
gresses von Verona (1822) Spanien besetzten und Cádiz am 3. October nach
viermonatlicher Belagerung eroberten.
Cádiz war der Ausgangspunkt der Revolution von 1868, durch welche
Isabella II. vom Thron gestürzt wurde, und im Jahre 1873 stand die Stadt eine
Zeitlang unter der Herrschaft einer Commune.
Die Stadt ist Sitz des Weihbischofs von Sevilla und einer starken
Militär-Garnison. Die in den letzten Jahren erbauten, mit schweren
Geschützen armirten Befestigungen haben Cádiz zu einer starken Vor-
festung umgestaltet.
Einige der 26 Kirchen und Capellen enthalten sehenswerthe
Kunstobjecte. Als Bauwerke interessant sind die beiden knapp an
einander erbauten Kathedralen. „La Vieja“, die alte Kathedrale, ent-
stammt dem XIII. Jahrhunderte, wurde aber während der Attaque
des Lord Essex zerstört und 1597 wieder hergestellt. Im Jahre 1720
63*
[500]Der atlantische Ocean.
beschloss die Stadt, die neue Kathedrale „La Nueva“ zu erbauen; der
Bau wurde indes 1769 eingestellt und erst 1832 wieder aufgenommen.
Die innere Einrichtung ist prächtig und soll über drei Millionen Gulden
gekostet haben. Der Hochaltar wurde 1866 aus weissem Marmor auf
Kosten der Königin Isabella II. errichtet. Ihre Krypta birgt den ein-
zigen Brunnen guten Wassers, den die Stadt aufzuweisen hat.
Die Kirche Santa Catalina (h. Katharina), gewöhnlich Capuchi-
nos genannt, welche zu dem seither aufgehobenem Kloster San Fran-
cisco gehörte, enthält das letzte Werk des grossen Meisters Murillo,
welches den Hauptaltar schmückt und die Vermählung der h. Katha-
rina mit dem Jesuskinde darstellt. Das Werk war nahezu vollendet,
als Murillo von der Höhe der Staffelei hinabstürzte und so schwere
Verletzungen erlitt, dass er, in seine Vaterstadt Sevilla zurückgekehrt,
daselbst am 3. April 1682 starb.
Es wird erzählt, dass einer der grössten Wohlthäter des Klosters
der Jude Pierre Isaac gewesen sei, welcher, um der Verfolgung durch
die Inquisition zu entgehen, die Hälfte seiner Einnahmen dem Kloster
gewidmet hatte.
Im Kloster Capuchinos schlug Lord Essex sein Hauptquartier
auf. Auch die Kirche San Felipe Neri enthält neben anderen Meistern
einen Murillo.
Die Calle Aucha ist die einzige Strasse der Stadt und zugleich
die Hauptverkehrsader derselben. Dort befinden sich die besten und
elegantesten Verkaufsgeschäfte.
Cádiz besitzt keinen jener grossartigen Gärten, die man in an-
deren Städten, wo mehr Raum hiefür vorhanden ist, vorfindet, aber
seine schöne Alameda, welche sich längs des äussersten Absturzes der
Felsplatte hinzieht, entschädigt die lebensfrohen Gaditaner durch den
herrlichen Fernblick auf den unendlichen Ocean, für den Mangel eines
schattigen Bosquets. An derselben Alameda mag Christobal Colon oft
geweilt haben, sinnend über den grossen Plan, dessen Verwirklichung
seinen Namen mit unvergänglichem Ruhm bedeckte.
Auf der Alameda erhebt sich das Standbild des mit zwei Löwen
kämpfenden Hercules. Beachtenswerth ist an der Alameda de Apodaca
die Kirche Nostra Sra. del Carmen, in welcher der unglückliche Ad-
miral Gravina begraben liegt, der bei Trafalgar 1805 die spanische
Flotte befehligte und in dieser Seeschlacht tödtlich verwundet wurde.
Im Centrum der Stadt erhebt sich der Signalthurm (Torre de
Vegia) 34 m über das Strassenpflaster. Der Thurm ist auch unter dem
Namen Tavira bekannt. Von hier aus werden die in Sicht kommenden
[501]Cádiz.
oder einlaufenden Schiffe signalisirt. Die Aussicht von der Plattform
des Thurmes ist eine sehr lohnende. Eigenthümlich ist das Bild, welches
die flachen Dächer der Häuser mit ihren Gärtchen und den schon er-
wähnten eleganten Miradores oder Aussichtsthürmchen darbieten, von wo
aus die Handelsherren ehemals die Ankunft ihrer Galeonen signalisirten.
A Einfahrtslinie, A1 Rhede von Cádiz, B Hafen für kleine Schiffe, C El Carmen, D Tavira-Thurm,
E Eisenbahnstation, F Leuchtfeuer, F1 grosser Leuchtthurm, G Seemarke. H Kathedrale, J neuer Hafen-
damm, K Arena für Stierkämpfe, L Directions-Bojen.
Das gesellige Leben ist auch hier wie in den meisten spanischen
Städten wohl entwickelt. Die Stadt verfügt über mehrere Theater,
unter welchen das Teatro Principal das älteste und grösste ist. Selbst-
verständlich besteht auch eine Arena für Stierkämpfe, allerdings erst
seit dem Jahre 1862. Das grösstentheils aus Holz construirte Gebäude
[502]Der atlantische Ocean.
wurde damals in der Zeit von 28 Tagen fertiggestellt, und hat einen
Fassungsraum für 11.000 Personen.
Cádiz besitzt eine grosse Tabakfabrik, in welcher 2700 Arbeiter
beiderlei Geschlechtes thätig sind, die Zahl kann aber bis auf 4000
gesteigert werden.
An der Festlandsküste gegenüber von Cádiz sowie auf der Insel
Leon entstanden schon im Alterthume einige Städtchen, welche einen
regen Verkehr mit unserer Hafenstadt unterhalten und durch gemein-
same Interessen mit derselben verbunden sind. Unter diesen bereits
Eingangs erwähnten Ortschaften ist San Fernando auf der Insel
Leon hauptsächlich in maritimer Beziehung die wichtigste.
Elf Kilometer südöstlich von Cádiz gelegen, zählt die Stadt
26.300 Einwohner.
Sie lagert von einzelnen niedrigen Flügeln flankirt recht freund-
lich auf dem flachen von zahlreichen Canälen durchzogenen Salinen-
plan, aus welchem die weissglänzenden Salzpyramiden wie Zelte eines
Kriegslagers hervorleuchten. Salz ist denn auch der Haupthandels-
artikel von San Fernando.
San Fernando ist der Sitz des ersten Seedepartements, dessen
Capitán General dort residirt.
Von hervorragender wissenschaftlicher Bedeutung ist die mit den
neuesten Instrumenten reich ausgestattete Sternwarte, welche dort seit
1798 besteht und 1862 sehr erweitert wurde. Die Anstalt, in welcher
ein Curs für spanische Seeofficiere besteht, verfügt über eine vorzüg-
liche Bibliothek.
In der Vorstadt San Carlo ist seit 1868 in einem imposanten
Gebäude die Marine-Akademie (Colegio Naval militare) untergebracht.
Sehenswerth sind die Ruhmeshalle der berühmten Seeleute (Pantéon
de Marinos Illustres) und die Akademie-Capelle, die u. a. auch jenes
Madonnenbild enthält, welches der glanzvolle Don Juan d’Austria
auf seiner Galeere in der Seeschlacht bei Lepanto mit sich führte.
Im Norden von San Carlo, etwa 700 m von diesem entfernt,
liegt das ausgedehnte königliche See-Arsenal La Carraca, welches an
der Stelle eines uralten Werftplatzes im Jahre 1760 durch Karl III.,
der hier ein spanisches Portsmouth und Woolwich plante, gegründet
wurde und drei Trockendocks und zahlreiche dem Kriegsschiff- und
Maschinenbau sowie der Ausrüstung dienende Werften, Ateliers und
Magazine besitzt. Der Name des Arsenals, von Carracas, Galeonen
abgeleitet, ist uralt.
Reiche geschichtliche Erinnerungen knüpfen sich an diese Stelle
[503]Cádiz.
der spanischen Küste. Hier ankerte im Alterthum Mago mit seiner
Flotte und Cäsar mit seinen langen Triremen, hier landeten in unge-
heuren Schiffen (Karaken) die plündernden Normannen, hier lagen die
„Zwölf Apostel“, jene Silbergaleonen Philipp’s, welche Lord Essex
erbeutete, hier endlich vernichtete Drake (1587) die spanisch-fran-
zösische Flotte.
Im Norden des Seearsenals breitet sich am Fusse grüner Hügel
das 1488 von der Königin Isabella, der Beschützerin Colons, ge-
gründete Städtchen Puerto Real (9000 Einwohner) aus, zu welchem
ein Arm des Petera-Canals führt.
Zahlreiche Villen inmitten einladender Gärten umgeben den an-
muthigen Ort, der eine beliebte Sommerfrische der Gaditaner ist.
Noch weiter nördlich an der Mündung des Rio Guadalete, des-
selben Flusses, an dessen Ufern nächst Jerez der Sieg der Mauren
(711) deren Herrschaft in Spanien besiegelte, liegt die räumlich zwar
ausgedehnte, aber nur von 19.500 Seelen bewohnte Stadt Puerto de
Sta. Maria, der Portus Menesthei der Alten, welche durch Local-
dampfer mit Cádiz verbunden ist.
Der heutige Handel von Cádiz ist kaum mehr als eine Er-
innerung an die Zeiten, wo die Stadt, gestützt auf das Privilegium
von 1720, an Stelle von Sevilla allein den Handel mit dem spanischen
Amerika vermittelte. Wenn auch seit 1765 dieses grosse Handels-
gebiet allmälig noch 11 anderen Hafenplätzen des Königreiches zu-
gänglich gemacht wurde, so behauptetete sich doch Cádiz durch seine
günstige Lage zu dem damals spanischen Südamerika noch lange als
Emporium des Handels des ganzen Staates und wusste bis zum An-
fange der Fünfzigerjahre wenigstens eine gewisse Wichtigkeit als
Transitoplatz aufrecht zu erhalten.
Aber seit der Entwicklung der Verkehrsmittel der Halbinsel ent-
standen auf Kosten von Cádiz eine Reihe kleinerer Handelscentren,
und selbst Andalusien wird jetzt über Sevilla, Huelva und Málaga
versorgt.
Der Bau neuer Docks in Gibraltar und die Vollendung der
Eisenbahn Bobadilla Algeciras würden seinen Handel neuerdings em-
pfindlich schädigen.
Durch eigene Kraft aber kann eine Stadt nicht bestehen, deren
Hafen versandet, deren topographische Lage das Aufblühen von
Fabriken nicht zulässt, und der Segelboote und Dampfer täglich aus
Puerto de Sta. Maria das Trinkwasser zuführen müssen.
Naturgemäss nimmt die Bevölkerung stetig ab (1860 75.000
[504]Der atlantische Ocean.
Einwohner, 1887 62.531 Einwohner), die liegenden Gründe sind in
ganz ungeahnter Weise in ihrem Werthe gesunken und die Kaufkraft
der Bevölkerung erheblich zurückgegangen.
Vom industriellen Aufschwunge, welcher in vielen anderen spani-
schen Städten während der letzten fünfzehn Jahre tiefen Friedens
bemerkbar ist, fühlt man in Cádiz nichts, nur eine einzige Schiffs-
werfte wurde gebaut. Cádiz ist eben eine im Rückschritt begriffene
Stadt.
Den wichtigsten Theil der Ausfuhr bildet Wein, und zwar meist von der
Sorte Jerez, welche die Engländer, die ein bekanntes Geschick haben, Worte zu
verstümmeln, Sherry nennen. Diese Sorte führt ihren Namen von der Stadt
Jerez de la Fronterra, einer der reichsten des Landes.
In Jerez und Puerto de Santa Maria sind die grossen Weinlager, von hier
aus treiben Geschäfte, deren Chefs meist Engländer oder deren Nachkommen
sind, und von denen eine Anzahl seit Generationen besteht, den Exporthandel;
Cádiz ist nur Transitoplatz.
Guten Sherry können nur Bodégas liefern, welche grosse und mannigfaltige
Lager von Mutterweinen (Soléras) haben, von welchen den jungen Weinen ½—1 %
zugesetzt werden, um ihnen Geschmack, Gehalt und Duft zu verleihen.
In den Bodégas mancher Weinzüchter, so bei der berühmten Firma Byar
und Gonzalez, lagern tausende Hektoliter von Mutterweinen, deren Basis über ein
Jahrhundert oder nahe daran alt ist. Diese Keller sind über der Erde gebaut,
lassen Licht und Luft frei ein und haben ihrer Höhe wegen Winter und Sommer
gleiche Temperatur. Auch in den Fässern lässt man ein Zehntel des Inhalts leer,
damit bei stetem Zufluss des Sauerstoffes der Wein sich entwickle.
Ueber Cádiz wurden 1888 22.138 hl gewöhnliche Weine, 217.542 hl Jerez
und 2212 hl andere feine Weine, zusammen im Werthe von 29·1 Millionen Pesetas;
1887 insgesammt 242.507 hl Wein nach England, Frankreich, Deutschland, Cuba
und Mexiko ausgeführt. Die Ausfuhr nach England nimmt stetig ab.
Bedeutend ist die Ausfuhr von Weinstein (1888 5095 q, Werth 1·1 Mil-
lionen Pesetas).
Für Olivenöl ist Cádiz Spaniens erster Ausfuhrplatz; Ausfuhr 1888
49.142 q (4·2 Millionen Pesetas), 1887 41.686 q, welche zum weitaus grössten
Theile nach Amerika geht.
Ein wichtiger Ausfuhrartikel, bestimmt für die La Platastaaten und Bra-
silien, wohin mehr als drei Viertel gehen, dann für Neufoundland, Norwegen und
Russland ist das in der Nähe von Cádiz in den Strandsümpfen gewonnene Seesalz;
1888 1,771.398 q (2·6 Millionen Pesetas), 1887 1,865.001 q.
Ferner sind zu nennen silberhältiger Bleiglanz 1888 25.795 q (Werth
1·4 Millionen Pesetas), 1887 52.336 q und silberhältiges Blei 1888 58.361 q (Werth
2 Millionen Pesetas), 1887 52.336 q.
Von Industrieerzeugnissen werden nur ausgeführt Korkstöpsel (1888
46,318.000 Stück), Teigwaaren (10.052 q), Fächer (16.694 kg), für welche Cádiz der
wichtigste Hafen Spaniens ist, und Spielkarten (56.998 kg); Bestimmungsland all
dieser Artikel ist Südamerika.
Mit den wichtigen Artikeln der Einfuhr sind wir bald fertig. Diese sind
[505]Cádiz.
Sprit (1888 42.061 hl, 1887 51.637 hl) aus Deutschland und Schweden, beschränkte
Mengen von Getreide, und zwar Gerste; dann Zucker (1888 23.776 q, Werth
1·4 Millionen Pesetas, 1887 18.538 q) und Kaffee 1888 9119 q, beide meist aus
den Colonien des Mutterlandes stammend.
Ordinäres Holz kommt aus Russland, Schweden und Norwegen, von Fass-
dauben sind nach Dimension und Preis nur die von New-York kommenden
gangbar; 1888 3,091.000, Werth 2,936.480 Pesetas.
In Cádiz kommt sogar Stockfisch nur auf dem Wege des Küstenhandels
an, Tabak von Cuba, Virginia und Kentuky-Tabak (1888 22.236 q) und Schnupf-
tabak aus Brasilien; der Hauptverkehr in Tabak aber wird im Wege des Küsten-
handels durchgeführt, auf ihn entfallen zwei Drittel der Ausfuhr desselben.
Auf diesem Wege erfolgt auch die Einfuhr von Geweben 1888 11.897 q,
Werth 8,050.337 Millionen Pesetas.
Für Cádiz ist die Einfuhr von Maschinen nicht unwichtig.
Steinkohlen kommen aus England 1888 494.976 q (1 Million Pesetas),
1887 421.680 q.
Grösse des Handels in Pesetas:
| [...] |
Das einzige Geschäft, welches hier noch Aussicht auf Bestand hat, ist das
Schiffsgeschäft. Der eigentliche, aber seichte Hafen wimmelt von kleineren
Fahrzeugen, welche täglich in erstaunlicher Menge ankommen, um die Stadt mit
Lebensmitteln, insbesondere mit Fischen zu versorgen, an welchen die Bai selten
reich ist, und auf der weiten Rhede schaukeln sich immer Schiffe verschiedener
Nationen.
Aber hier sind sie allen heftigen Winden ausgesetzt. Die Entladung und
Beladung derselben geschieht durch Lichterfahrzeuge. Bei einigermassen heftigem
Winde aber können die Lichterfahrzeuge nicht zum Schiffe gelangen und müssen
die Arbeit einstellen. Wäre der Hafen leistungsfähig, so könnte er einen grossen
Theil des Schiffsverkehrs an sich ziehen, den heute Lissabon hat.
Der Schiffsverkehr von Cádiz betrug:
| [...] |
Der stärkste Küstenverkehr findet statt mit Barcelona, Sevilla, Santander
und Bilbao.
Die meisten Schiffe führten die spanische Flagge, neben der noch die
britische, französische, italienische und dänische zu nennen sind.
Cádiz hat regelmässige Dampferverbindungen durch französische Dampfer
mit Hâvre, Lissabon und Málaga, durch die englische Hall-Line mit London,
Lissabon, Gibraltar und Málaga, durch deutsche Dampfer mit Bremen, durch
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 64
[506]Der atlandische Ocean.
spanische Schiffe dreimal in der Woche mit Tanger (7—10 Stunden), ferner mit
den Häfen an der Westküste Marokkos, mit Santa Cruz auf Teneriffa und ist
Station der Compañia transatlantica auf ihrer Linie von Santander nach West-
indien. Die neueste Errungenschaft des Hafens bildet die Errichtung einer
Dampferlinie von den baltischen Häfen Russlands nach Frankreich und Spanien.
Cádiz ist eine wichtige Station des Welttelegraphen, denn von hier geht
ein Kabel der Spanisch National Submarine Telegraph Cy (London) über die
Canarischen Inseln nach St. Louis am Senegal und hat Anschluss nach Pernam-
buco und Capstadt.
Consulate haben hier: Argentinien, Bolivia, Columbia, Costarica,
Dänemark, Deutsches Reich, Dominikanische Republik, Frankreich, Griechenland,
Grossbritannien, Guatemala, Honduras, Italien, Mexico, Monaco, Niederlande,
Nicaragua, Oesterreich-Ungarn, Paraguay (G.-C.), Peru, Portugal, Russland (G.-C.),
Salvador, Schweden-Norwegen, Türkei, Uruguay, Venezuela, Vereinigte Staaten
von Amerika.
[[507]]
Sevilla.
Weitab von der atlantischen Küste entstand am Ufer des
schlammigen Guadalquivir in herrlicher Fruchtebene schon in vor-
historischer Zeit ein reiches und blühendes Gemeinwesen der Phö-
nikier. Sie gründeten diesen Ort, dessen Namen man nicht mehr sicher
kennt, offenbar an dieser Stelle, weil nur bis dorthin die oceanische
Flut ihre Seeschiffe trug. An derselben Stelle erblicken wir heute
Sevilla, eine der interessantesten und bedeutendsten Städte Spaniens,
den bewährten Hort der katholischen Kirche und zugleich die nie ver-
siegende Quelle lebensfroher Freude. In dieser uralten Stadt vermuthet
man das Tartessus der heiligen Schrift, welches dem südlichen Theil
der iberischen Halbinsel einst den Namen gab. Nach anderen Deutungen
soll dort das phönikische Sephela, auch Spela (Ebene) gelegen sein,
aus welchen Namen die Römer Hispalis, die Mauren aber Ischbiliah
machten, woraus dann Sibilia und Sevilla entstand.
In ihrer heutigen Gestaltung erinnert die Stadt mit keiner Spur
mehr an die älteste Periode ihres Bestandes; erst aus der Römerzeit
finden sich Monumente der damaligen Baukunst und Baulust vor. So die
grossartige Wasserleitung mit ihren 410 gewaltigen Bogen, auf
welchen das Wasser von Alcala de Guadaira nach Sevilla zu fliesst.
Ein Theil dieses Bauwerkes — das hier Caños de Carmona genannt
wird — stammt von Julius Cäsar her.
Allein kein Zeitabschnitt hat der Stadt ein so specifisches und
unverwüstliches Gepräge zu ertheilen vermocht wie die Glanzperiode
der Maurenherrschaft, die hier einen ihrer wichtigsten Stützpunkte
gefunden hatte.
Viele der grössten Bauwerke Sevillas zeigen noch heute die
charakteristischen Merkmale des Styles dieser Zeit ebenso wie das
Innere der Privathäuser mit ihren marmorgetäfelten, blumenge-
schmückten Höfen (patio) und der leise plätschernden Fontaine.
Jahrhunderte hindurch war hier die katholische Kirche bestrebt,
64*
[508]Der atlantische Ocean.
die Erinnerung an die maurische Cultur zu verwischen, ihre Merk-
male zu beseitigen und den Sieg des Kreuzes über den Halbmond
durch zahllose religiöse Bauwerke zur Ehre Gottes zu verkünden,
aber das orientalische Wesen hatte in der Seele der Andalusier, in
deren Adern nun einmal viel semitisches Blut, das durch die Taufe
der Verbannung oder dem Scheiterhaufen entging, fliesst, zu tiefe
Wurzeln geschlagen, war zu sehr in das Getriebe des Lebens einge-
treten, um noch unterliegen zu können.
Der erste Anblick der Stadt, wenn man am Guadalquivir der-
selben sich nähert, zeigt das reizvolle Bild der Verschmelzung der
beiden erwähnten Culturen.
Da lagert am linken Ufer die eigentliche Stadt und ihr gegen-
über die neuentstandene Vorstadt Triana. Ein dichter Wall üppig
gedeihender Bäume verdeckt uns die Hauptmasse der Gebäude. Wir
sehen indes über ihn ein förmliches Gewirre der verschiedenst ge-
formten Kirchthurmspitzen, aus welchem die imposante Giralda, der
mächtige Thurm der Kathedrale, ein maurisches Werk (Mueddin-
Thurm), auffallend hervortritt. Im Vordergrunde zieht der edelgeformte
Bau des Gold-Thurmes (Torre del Oro) die Aufmerksamkeit auf sich.
Er entstand unter der Maurenherrschaft und bildet das Schlussobject
des Stadtwalles, welches noch 1820 mit dem ehrwürdigen Alcazra,
der einstigen Residenz der maurischen Könige in Verbindung war.
La Torre del Oro (Borju-d-dahab) war damals der Aufbewahrungs-
ort des Staatsschatzes. Peter der Grausame verwendete den Thurm
als Gefängniss für seine Feinde und Maitresssen. Ein anderer näher
an der Münze gelegener Thurm, gleichfalls maurischen Ursprunges,
führt den Namen La torre de Plata (Silberthurm).
Nächst dem Torre del Oro ist der Anlegeplatz der Seedampfer,
längs welchem der liebliche Passo de Cristina zum Palais San
Telmo führt. In diesem 1682 erbauten ausgedehnten Gebäude wurde
jenes nautische Collegium, welches Ferdinando Colon, der Sohn des
grossen Entdeckers, zu Sevilla gegründet hatte, untergebracht. Das
mit einer herrlichen Façade im maurischen Styl gezierte Palais ge-
hörte dem Herzog von Montpensier, welcher dort u. a. eine kostbare
Gemäldegallerie und eine sehenswerthe Antikensammlung aufbewahrte.
Grossartig ist der Reichthum des Parkes an seltenen Pflanzen, Pal-
men und Orangen; die letzteren sollen einen Jahresertrag von 6000
bis 8000 fl. liefern.
An diese Anlagen schliessen sich die prachtvollen Promenaden
Las Delicias an, eine Folge poetisch angehauchter reizender Anlagen
[509]Sevilla.
mit Palmen-, Orangen- und Granatbaumalleen, duftenden Rosenbou-
quets und reichen Blumenparketen. Hier entfaltet sich in lauen Früh-
lings- und Sommernächten der fashionable Corso von Sevilla — ein
märchenhaftes Schauspiel. Es sind nächtliche Feste mit allen Reizen
ausgestattet, die Natur und Empfindung zu bieten vermögen.
Schon die Nacht selbst ist köstlich, wenn das geheimnissvolle
bläuliche Licht des Mondes über die Gegend flutet, wenn die
kühlende Brise uns mit einer Fülle der wunderbarsten Wohlgerüche
Sevilla.
umschmeichelt und von Liebe flüstert! Wie funkelt dann das dunkle
Gazellenauge der graziösen Andalusierin. Kein Stern am Himmelszelt,
kein Edelstein entsendet so feuriges, zum Herzen dringendes Licht.
Nur hier hat die Poesie des Guadalquivir das Hauptquartier,
sonst nirgends, weder gegen See, noch landeinwärts seines Laufes.
Doch kehren wir nach dem Hafen zurück. Eine Eisenbrücke
(Puente de Triana) von beachtenswerther Schönheit verbindet hier
beide Ufer und einen halben Kilometer stromaufwärts von ihr über-
quert die Eisenbahnbrücke den Fluss.
[510]Der atlantische Ocean.
Bis zu den Ufern von Sevilla ist der Pulsschlag der Meeres,
die Ebbe und Flut, fühlbar, und beträgt der Niveau-Unterschied
des Wassers 1·7 bis 2 m, während er an der Mündung des Guadal-
quivir 3·7 bis 4 m erreicht. Die nach je 6 Stunden wechselnde
Gezeitenströmung erleichtert die Schiffahrt auf der über 85 km langen
Flussstrecke sehr wesentlich.
Aber so friedlich und malerisch das Hafenbild unter gewöhn-
lichen Verhältnissen erscheint, ebenso düster wird es bei Hochwässern,
die jährlich im Herbste einzutreten pflegen und die Quais und An-
lagen überschwemmen. Gegen die Wuth des daherstürzenden Wassers
vermögen die Schiffe kaum sich zu erhalten. Eine der furchtbarsten
Ueberschwemmungen, welche die ganze Umgebung von Sevilla ver-
wüstete, war jene des Jahres 1876, wobei der Fluss 9 m über
den höchsten Stand der Springflut aufschwoll und viele Schiffe
strandeten.
Als Julius Cäsar am 9. August 45 v. Chr. Herr von Sevilla geworden war.
verpflanzte er das römische Leben dahin, und kann als zweiter Begründer der
Stadt angesehen werden, wenngleich er das punische Wesen der Bevölkerung
nicht zu verwischen vermochte. Er nannte die Stadt Julia Romula, das heisst
Klein-Rom und machte sie zum Sitze der Gerichtsbarkeit.
Aber der Glanz wurde in der Kaiserzeit verdunkelt durch das benachbarte
Itálica, die Geburtsstadt der Kaiser Trajan, Hadrian und Theodosius.
Später machten die Gothen Sevilla zum Hauptort ihrer Herrschaft, bis im
VI. Jahrhundert Leovigild seine Residenz in dem centraler gelegenen Toledo
aufschlug. In den Religionskriegen jener fernen Zeit waren die Brüder San
Laureano und San Isidoro nach einander Erzbischöfe von Sevilla und kriegs-
kundige Heerführer. Heute werden sie als Schutzpatrone der Stadt verehrt.
Schon in uralter Zeit mit Wällen umgeben, die noch heute einen festen
Gürtel bilden, fiel die Stadt dennoch rasch in die Hände der Mauren, als Don
Rodrick am Guadalete geschlagen war. Die Witwe des enthronten Monarchen
heiratete bald darauf den Sohn Abdul Aziz, des Eroberers Musa-Ibn-Nosseir.
Sevilla blieb bis 756 unter dem Khalifen von Damaskus, und als die Omajaden
das glanzvolle Khalifat von Cordoba errichteten, war es diesem unterthan, bis die
Dynastie 1009 erlosch. Als hier seit 1091 die Almoraviden und die Almohaden
residirten, wurde Sevilla die blühendste und reichste Stadt der Halbinsel und
zählte 400.000 Einwohner. Doch am 28. November 1248 wurde die Capitulation
unterzeichnet, durch welche die Christen unter St. Ferdinand, dem König von
Bon und Castilien, in den Besitz der Stadt kamen.
Der letzte Sultan Sidi Abdul Hassan schiffte sich nach Afrika ein, und bei
300.000 maurische Einwohner verliessen die Stadt und siedelten sich in Granada
an. So verödete die Stadt, trotzdem sie Alonso el Sabio, der Sohn des Eroberers,
mit Privilegien bedachte und wieder zur Residenz machte, was sie blieb, bis
Karl V. den Hof nach Valladolid verlegte. Erst die Entdeckung Amerikas erfüllte
Sevilla wieder mit Glanz und Reichthum.
[511]Sevilla.
Wie unser Plan zeigt, ist die Stadt von einem Netze enger, oft
gewundener Strassen und Gässchen durchzogen, welche im Sommer
durch Ausschliessung der Sonnenstrahlen eine angenehme Kühle be-
wahren. Hohe weissgetünchte Häuserfronten, meist vergitterte Fenster,
über welchen im Sommer luftige Zelte flattern, bilden die Charakteristik
der Gassen.
Das Klima ist so trocken und conservirend, dass noch heute
die besten maurischen Bauten, darunter viele Wohnhäuser, von der
Zeit fast unberührt geblieben sind. Ihre Einrichtung ist reizend und
überging deshalb in den Baustyl der später entstandenen Häuser.
Diese haben einen offenen, schöngepflasterten Hofraum (patio), den
gedeckte Säulengänge (corredores) einfassen und Blumen und ein
Springbrunnen (fuente) zieren. Im Sommer ist dieser Raum durch
ein Zeltdach (toldo) geschützt und bildet das Wohngemach der
Familie.
Häufig findet man an Gebäuden die alte Stadtmarke von Se-
villa theils eingemeisselt, gemalt oder erhaben ausgeführt. Sie war
eine sinnreiche Auszeichnung der Stadt und ist als handelsgeschicht-
liche Erinnerung auch heute noch nicht uninteressant.
Als St. Ferdinand der Eroberer gestorben war, brach ein Bürger-
krieg in Spanien aus, indem das Land gegen Alonso el Sabio, den
Sohn und Nachfolger Ferdinands, sich erklärte. Von allen Städten war nur
Sevilla dem neuen Herrscher treu geblieben. Zu den Privilegien, welche
Alonso der Stadt als Anerkennung für ihre Treue gewährte, zählte
auch die erwähnte Marke, welche durch NO 8 DO dargestellt, ge-
wöhnlich El Nodo (der Knoten) genannt wird. Die Zeichen bedeuten
indes: „No m’ha dexado“ das heisst: Sie (die Stadt) hat mich nicht
verlassen. Madexa, vom gothischen Madaxa abgeleitet, hiess nämlich
im Altspanischen der Knoten (nodo), welcher in der Marke durch 8
dargestellt erscheint.
Interessant ist, dass Alonso, gewiss ohne es beabsichtigt zu
haben, die uralte phönikische Handelsmarke 8 — nodus Herculis —
welche die Echtheit des Inhaltes jedes Waarenballens ausdrückte,
als Auszeichnung für die Stadt gewählt hatte. Die phönikische Marke
8 war auch das Symbol des Friedens, des Handels und des Gottes
der Diebe. Die Griechen vereinigten sie bekanntlich in dem heral-
dischen Doppelornament des Mercurstabes.
Sevilla zählte beim letzten Census (31. December 1887) 143.182
Einwohner. Die Stadt ist der Sitz eines Erzbisthumes mit Weih-
bischöfen in Cádiz, Málaga, Ceuta und auf den canarischen Inseln
[512]Der atlantische Ocean.
(Teneriffa). Hier residiren auch der Generalcapitän und die Provin-
cialbehörden und Vertretungen.
Die katholische Kirche entfaltet in Sevilla zur Zeit der Kirchen-
feste, besonders während der Charwoche und am Johannestage
(24. Juni), einen überaus prunkvollen Glanz, welcher kaum von
jenem übertroffen wird, der die berühmten Festlichkeiten in Rom
auszeichnet. Das Gepräge der feierlichen Procession, die Ausschmückung
des heiligen Grabes in den zahlreichen Kirchen sind vielleicht einzig
in ihrer Art.
Die Kirchenfeste sind stets von Lustbarkeiten aller Art be-
gleitet. Andacht und Vergnügen, Religiosität und höchste, wenn auch
anständige Ausgelassenheit reichen sich hier freundschaftlich die
Hände, und diese frohe Harmonie ist es, welche der Stadt einen
eigenthümlichen Zauber verleiht und ganze Wanderzüge von Fremden
aus allen Theilen der Erde dahin in Bewegung setzt. Am Johannes-
tage, an welchem das magische Eisenkraut (verbena) von beiden
Geschlechtern gepflückt zu werden pflegt, ist die Lustbarkeit sprich-
wörtlich geworden:
Ein Hauptobject des Vergnügungsprogrammes der Festlichkeiten
bilden bekanntlich die Stierkämpfe, und in dieser Hinsicht ist Se-
villa die wahrhafte Alma mater der Matadoren dieses seltsamen
nationalen Sportes, welcher in der für 12.000 Zuschauer ausreichen-
den Arena (Plaza de Toros) den berühmtesten Tempel in Spanien
gefunden hat.
Die Eleganz und Behendigkeit der Kämpfer versteht es meister-
haft, das aufgeregte Publicum über die eminente Gefahr, in welcher
sie sich gegenüber der Wildheit der Stiere befinden, hinwegzutäuschen;
das ist der eigentliche Kern der Tauromachie. Die Stierkämpfe werden
hier von der 1526 gegründeten Gesellschaft Maestranza de Sevilla
Legende zum Plan von Sevilla und Mündung des Guadalquivir.
A Einfahrt nach Sevilla, A, Mündung des Guadalquivir, B eiserne Brücke, C Eisenbahnbrücke, D Torre
del Oro (Goldthurm), E Tabakfabrik, F Leuchtfeuer, G Palais San Telmo, H Zollamt und Maestranza,
J Arena für Stierkämpfe, K Kathedrale, L Eisenbahnstation, M Bd de la Cesteria, N Eisenbahnstation,
O Kirche S. Jacinto, P Gemälde-Gallerie, Q Alameda del Hercules, R Sta. Clara-Kirche, S S. Clemente-
Kirche, T Plaza de Vib-Arragel, U Eisenbahnwerkstätten, V Hospital, W Kapuzinerkloster, X Trinidad-
Kirche, Y Artillerie-Kaserne, Z Gefängniss. — 1 S. Martin-Kirche, 2 Juan de la Palma-Kirche,
3 Espirito Santo-Kirche, 4 Kornbörse, 5 S. Pedro-Kirche, 6 Markthallen, 7 S. Lorenzo-Kirche,
8 S. Vicente-Kirche, 9 ärztliches Collegium, 10 Theater, 11 Madre de Dios-Kirche, 12 S. Maria la
Blanca-Kirche, 13 Cavallerie-Caserne, 14 S. Salvator-Kirche, 15 Rathhaus an der Plaza de la Consti-
tucion, 16 Calle de las armas, 17 Universität, 18 Muro de S. Antonio, 19 Calle de S. Pablo, 20 Calle
de Vicente, 21 Calle de Resolana, 22 Puerta de la Macarena, 23 Pt. de Cordoba, 24 Pt. del Sol, 25 Pt.
del Osario, 26 Pt. de Carmona, 27 Pt. de la Carue, 28 Pt. de Jerez, 29 Gaswerke, 30 Calle de la Mar.
[[513]]
(Legende siehe auf Seite 512).
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 65
[514]Der antlantische Ocean.
geleitet, einer Reiter-Vereinigung, welche ehemals die Pflege der
Turniere und der Ritterlichkeit auf ihr Banner geschrieben hatte.
Sevilla ist aber nicht nur eine Stätte des Vergnügens, sondern
auch einer der bedeutendsten geistigen Vororte des lieblichen Spa-
niens. Die Universität, 1565—1579 von den Jesuiten gegründet, zählt
zu den angesehensten des Landes; in mehr als 40 prunkvollen Kirchen
zeigen Kunstschätze von unberechenbarem Werthe, welche Sevilla seit
Jahrhunderten geschaffen und gesammelt hatte, von der lebhaften
idealen Richtung der Bevölkerung. Murillo, ein Bürger von Sevilla,
beschenkte seine Vaterstadt mit unsterblichen Werken, von welchen.
obwohl General Soult viele nach Frankreich entführte, doch noch
zahlreiche in Kirchen und Gallerien vorhanden sind.
Die andalusische Malerschule prunkt mit ihren Meisterwerken
in der städtischen Gemäldegallerie, welche u. a. 24 Murillo, 19 Zuba-
ran, 12 Herrera, 7 Juan de Castillo (Lehrer Murillo’s, Vos’, Cano etc.),
die zu den Perlen dieser Meister zählen, enthält.
Der Triumph von Sevilla ist aber die imposante Kathedrale,
eines der grössten und schönsten religiösen Bauwerke von Spanien
und der zweitgrösste Dom der Erde, an Flächenmass zweimal so gross
als der Kölner Dom. Gleichwie die Eleganz des Domes von Leon, die
Kraft und Stärke der Kathedrale von Santiago und der Reichthum des
Domes von Toledo die Merkzeichen dieser berühmten Bauwerke sind,
so ist der herrlichen, in ihren Riesendimensionen so hehr harmonischen
Kathedrale von Sevilla der Ausdruck des würdevollen Ernstes, der
echten Grandezza eigen.
An der Stelle einer grossen, 1172 erbauten Moschee, welche
nach der Vertreibung der Mauren bis zum Jahre 1401 als Kathedrale
diente, sollte nach der Absicht des Capitels ein neues, im gothischen
Styl gehaltenes Gotteshaus erstehen, „von einer Grösse und Schön-
heit, wie ein solches niemals zuvor gesehen worden war“.
Der Bau begann 1403 und währte bis 1519. Aussen und innen
überaus reich ornamentirt und geschmückt, stellt der mit Kunst-
schätzen erfüllte Dom ein förmliches Museum der schönen Künste dar;
prächtig ist der aus weissen und schwarzen Marmortafeln gebildete
Boden, dessen Herstellung im Jahre 1793 die damals enorme Summe
von 155.000 Dollars gekostet hat.
Berühmt ist die ungemein grosse Orgel mit ihren 5000 Pfeifen
und ihren bizarren Ornamenten.
In der Kathedrale hat Ferdinando Colon, der Sohn des grossen
Entdeckers, die letzte Ruhestätte gefunden.
[515]Sevilla.
Eine mächtige Steinplatte mit der Inschrift:
bezeichnet den Eingang in die Gruft.
Im Jahre 1889 zeigten sich an zwei Pfeilern der Vierung
dieses wunderbaren fünfschiffigen Domes schwere bauliche Gebrechen.
Das Domcapitel bestand vormals aus mehr denn 130 Priestern
aller Grade und hatte reiche Einkünfte.
Mehr als 900 Häuser in Sevilla waren einst Eigenthum der
Kathedrale. Aber seit 1836 trat durch Confiscation eine bedeutende
Verminderung ein.
Anstossend an die Ostseite der Kathedrale strebt der etwa 100 m
hohe gewaltige Glockenthurm „La Giralda“, das Wahrzeichen von
Sevilla, empor. Seinen Namen erhielt er von der eigenthümlichen
Wetterfahne, welche die Spitze ziert. Diese Wetterfahne stellt —
eigenthümlich genug — eine den Glauben symbolisirende Figur dar,
que gira (welche sich dreht). Der Unterbau des Thurmes ist mauri-
schen Ursprungs (1171). In ihrem oberen Theile zeigt die Giralda
herrliche gothische Ornamente; sie trägt 21 Glocken, deren grösste
Santa Maria oder La Gorda heisst. 1884 wurde die Giralda durch
einen Blitzschlag arg beschädigt, doch wurde der Schade zum grossen
Theil gutgemacht.
Von der Höhe des Thurmes geniesst man einen prachtvollen
Ausblick auf Stadt und Land. Man sieht die von 66 Thürmen ge-
krönten antiken Umwallungen der inneren Stadt, aus deren Thoren die
Strassenzüge hinaus durch die zahlreichen Vorstädte in die üppig
gedeihenden Gärten und Felder führen, und kann das glitzernde Band
des Guadalquivir mit seinen zahllosen Windungen weit verfolgen durch
die endlos scheinende Küstenebene.
Wie die Kathedrale enthalten auch die anderen Kirchen von
Sevilla sehenswerthe Kunstobjecte und bieten Kennern und Laien
gleiche geistige Anregung.
Der Reichthum an religiösen Bauwerken ist staunenswerth; 48
Kirchen und viele Capellen (zu meist Familiengrabstätten) von welch
letzteren einige historischen und Kunstwerth besitzen, liegen im
Weichbilde der Stadt.
Auf dem Platze vor der Südfront der Kathedrale erhebt sich
in classischem Styl die herrliche Lonja, das Börsengebäude, welches
1598 dem Verkehr übergeben wurde.
An der Plaza de S. Tomas, die nächst der Börse liegt, soll der
65*
[516]Der atlantische Ocean.
zur Unsterblichkeit gelangte Figaro, der Barbier von Sevilla, seines
heiteren Amtes gewaltet haben. Leider hat Figaro zum Verdrusse der
Fremden an jener Stelle keinen Nachfolger gefunden.
Ein Gebäude von kunstvoller Architektonik ist das an der Ost-
seite der Kathedrale (1697) erbaute erzbischöfliche Palais. Alle er-
wähnten Bauten übertrifft aber an Ausdehnung der berühmte Alcazar,
das einstige Schloss der maurischen Könige von Sevilla. Diese Resi-
denz — al Kasr, Haus des Cäsar — erhebt sich an derselben Stelle,
wo einstens der Palast des römischen Prätors stand. Obgleich seit
dem X. Jahrhundert wiederholt umgebaut und mit verschiedenen
Stylarten angehörenden Zuthaten versehen, ist der Alcazar mit seinen
reichbewegten Umrissen, seinem prächtigen architektonischen Schmuck
und den seltsamen Cinquecentogärten dennoch ein Bauwerk von hoher
Bedeutung und erinnert in vielen seiner Theile an die berühmte Al-
hambra von Granada.
Peter der Grausame war es, welcher durch maurische Arbeiter
die bewunderungswürdigen Motive dieser grandiosen Königsburg nach
Sevilla verpflanzte.
All die herrlichen Bauten, deren wir bisher gedachten, sind denk-
würdige Monumente eines geistigen Aufwandes von ungewöhnlicher Aus-
dehnung und Dauer und sie rechtfertigen das volksthümliche Sprichwort:
(Wer Sevilla nicht sah,
Hat kein Wunderding gesehen.)
Wie die nächste Umgebung der Kathedrale an den Kunstsinn
weit entfernter Zeitepochen erinnert, so knüpft sich an diese Gegend
auch das Gedenken an eine der grössten Verirrungen des Menschen-
geschlechtes, mit welchen der Fanatismus des Glaubens die Mensch-
heit Jahrhunderte hindurch zu geisseln wusste — die erschütternde
Tragödie des Autodafé! Ausserhalb der Porta S. Fernando lag der
grauenvolle Quemadero, der Platz, auf dem die Märtyrer der Inqui-
sition den Feuertod erlitten. Die Steinplattform, welche einstens die
lodernden Scheiterhaufen trug, ist noch heute sichtbar.
Zu den grössten Gebäuden von Sevilla zählt die bei der letzt-
genannten Porta liegende Tabakfabrik, welche 1757 erbaut, nicht
weniger als 28 Höfe besitzt und 5000 Frauen und Mädchen be-
schäftigt. Hier soll jährlich über eine Million Kilogramm Tabak zu
Cigarren, Cigaretten und Schnupftabak verarbeitet werden. Von
letzterem gelangte der Spaniol zur Berühmtheit.
[517]Sevilla.
In der Vorstadt S. Fernando liegt die grosse Geschützgiesserei
(Fundición de artilleria), welche zu den hervorragendsten des König-
reiches zählt, und in der Nähe des Goldthurmes ist die Maestranza
de Artilleria mit bedeutenden Waffensälen und grossem Geschützpark.
Die Schiffahrtsverhältnisse des Guadalquivir sind nicht die gün-
stigsten. Die Fahrt nach Sevilla ist für Seeschiffe recht beschwerlich,
denn ausser der bedeutenden Entfernung der Flussmündung zur Stadt
(100 km), sind die Tiefenverhältnisse auf einzelnen Punkten dieser
Strecke ungenügend, so dass die Schiffe nur bei Flut die seichtesten
Stellen passiren können, daher viel Zeitverlust erleiden.
Der Guadalquivir, der „grosse Strom“, der Wada-l-Kebir oder
Wada-l-adhem der Mauren, wälzt sich bei geringem Fall in vielen
Windungen dem Meere zu. Die spanischen Zigeuner nennen ihn Len
Baro, also auch den grossen Fluss; bei den Iberiern hiess er Certis,
bei den Römern Baetis.
An seinen fruchtbaren Ufern abwärts von Sevilla lagern von
üppigem Grün umgeben einige kleine Ortschaften, von welchen Corcia
(4576 Einwohner) unter den Römern wegen der dort erzeugten Ziegel
und Erdwaaren viel genannt wurde. Noch heute werden dort jene
riesigen Gefässe (tinajas) erzeugt, welche, zur Aufbewahrung des Oels
und der Oliven verwendet, genau die Form der antiken Amphora
aufweisen.
Bei Puebla spaltet sich der Fluss in drei Arme und bildet die
beiden Inseln Isla Mayor und Menor. Erstere, die Kaptal-Insel der
Mauren, wurde durch eine Gesellschaft mit Baumwolle bepflanzt; ein
von derselben Unternehmung angelegter Canal La Corta nueva von
6 km Länge kürzt die Flussfahrt für kleine Fahrzeuge um 12 km ab.
Nach der Wiedervereinigung seiner Arme wälzt der Guadal-
quivir als breiter Fluss seine trüben Wässer durch ein von Wasser-
und Sumpfvögeln äusserst belebtes Alluvialterrain, dessen Miriaden
von Mücken und Schnacken zur Plage von Mensch und Vieh ge-
worden sind. Das ist die Fiebergegend La Marisma, wo ungeheure
Rinderherden grasen.
Bei Bonanza erblickt man die offene See. Der niedliche Ort,
welcher mit Jerez und Sanlucar de Barrameda durch eine Eisenbahn
verbunden ist, besitzt ein Zollamt und eine Lootsenstation für die
Schiffahrt auf dem Guadalquivir.
Die Mündung des Flusses ist zwar breit, aber, wie aus
unserem Plan zu ersehen, von zahlreichen Bänken und Sandbarren
sehr eingeengt, so dass beim Ein- und Auslaufen der Schiffe die
[518]Der atlantische Ocean.
höchste Vorsicht geboten ist. Die bedeutende Höhe der Flut (2·4 m
bei gewöhnlicher Flut und 3·7 m bei Springflut) kommt dabei sehr
zu statten. Die Beleuchtung der Flussmündung durch weit sichtbare
Leuchtfeuer ist vorzüglich.
Südlich von Bonanza breitet sich in einer baumlosen sandigen
Gegend die alte Stadt Sanlucar de Barrameda aus, deren einstige
Bedeutung für die transoceanische Schiffahrt seither verloren ging.
Philipp IV. erhob die Stadt 1645 sogar zum Sitz des Generalcapitäns
von Andalusien. Gegenwärtig zählt sie 21.918 Einwohner.
Die Sommertemperatur ist zwar sehr hoch, aber dessenunge-
achtet ist die Stadt während der Badesaison ein sehr beliebter Auf-
enthaltsort; denn selbst der reiche Spanier reist nicht gerne und
findet sich lieber mit einer Sommertemperatur, welche die von Habana
übertrifft, ab, als dass er z. B. die Hochthäler der Pyrenäen oder
Alpen aufsuchen würde.
Von hier aus hatte der kühne Ferdinando Magalhaens am
10. August 1519 die denkwürdige erste Weltumseglung angetreten,
von der er nicht mehr zurückkehren sollte. Von seinen Schiffen hat
bekanntlich nur ein einziges, von dem Basken Elcaro geführt, die
Heimat wieder erblickt.
Sevilla wurde bald nach der Entdeckung Amerikas Mittelpunkt
der Unternehmungen zur weiteren Erforschung, hier war der Sitz des
Rathes der beiden Indien, des spanischen Colonialministeriums, dessen
reiches Archiv alle Acten von Columbus bis zum Abfall des spani-
schen Amerika umfasst. Die Stadt hatte ferner vom Jahre 1501 bis
1720 das Monopol des transantlantischen Handels. Sie entsendete
jährlich 12 Galeonen nach Portobello und (seit 1547) 15 nach
Vera Cruz. In Sevilla landeten die Silberflotten und luden ihre
Schätze aus, die im Torre del Oro aufgespeichert wurden. Die Stadt
wurde reich auf Kosten des übrigen Spaniens.
Aber im Laufe der Zeit versandete leider der Guadalquivir
im selben Masse als die Schiffe grösser geworden waren.
Das Monopol des indischen Handels ging 1720 auf Cádiz über,
und immer tiefer sank Sevilla.
Erst in den letzten Jahrzehnten trat Sevilla zum Theile wieder
an die Stelle von Cádiz, vor dem es heute wieder viel voraus hat.
Die nächste Umgebung Sevillas zeichnet sich durch eine grosse
Productionsfähigkeit aus. Hier blühen Acker- und Obstbau und eine
lebhafte Fabriksindustrie. Von diesem Mittelpunkte der südspanischen
Eisenbahnen gehen Linien nach Madrid, Mérida, Málaga, Cádiz und
[519]Sevilla.
Huelva; die Canalisation des Guadalquivir gestattet das Einlaufen
grösserer Schiffe bis in das Herz der Stadt hinein.
So wurde Sevilla das Handelscentrum Andalusiens und als Stadt
des heiteren Lebensgenusses und reicher Kunstschätze auch das Ziel
zahlreicher Reisenden, die erst in Sevilla das Spanien wirklich finden,
das ihnen die Phantasie in ihrer nordischen Heimat als Gesammt-
bild von Spanien vorgaukelt.
Aber trotz Allem ist der auswärtige Handel Sevillas nicht sehr umfang-
reich, denn die Dampfer berechnen für die Fahrt aufwärts nach Sevilla höhere
Frachten als nach anderen spanischen Häfen; so berechnen die Hamburger einen
Zuschlag von 25 %. Das Schwergewicht des Verkehres liegt im Küstenhandel, wie
die folgenden Zahlen (Pesetas) zeigen:
| [...] |
Die Ausfuhr ist der minder wichtige Theil des auswärtigen Handels und
1889 noch weiter zurückgegangen.
Von hier geht Wein (1888 83.118 q, Werth 2·5 Millionen Pesetas) nach
England, Frankreich, Amerika und im Küstenhandel nach Nordspanien (28.391q),
Olivenöl (1888 7143 q) nach England und dem spanischen Amerika. Für Oel
ist Sevilla einer der wichtigsten Plätze Spaniens, und im April 1889 lagerten hier
110.000 q dieser Waare; die Sendungen nach Nordspanien sind sehr bedeutend.
Ein beliebter Artikel Sevillas sind frische und eingelegte Oliven, aus-
ländisches Absatzgebiet New-York, Südamerika und Frankreich (1888 7961 q).
Korkholz und Korkstöpsel werden nach Amerika, England und Russland
gesendet, Organen nach Amerika und England.
Grössere Werthe repräsentirt die Ausfuhr von Mineralien, als Bleiglanz
(1888 13.495 q), Kupferblüthe (93.088 q), Quecksilber (2211 q, Werth 1·2 Mil-
lionen Pesetas) und Blei (97.199 q, Werth 3·2 Millionen Pesetas). Im Jahre 1889
aber wurde das Quecksilber über Huelva, ein ansehnlicher Theil der Bleierze, die
bis dahin Sevilla verschifft hatte, über Málaga und Alicante ins Ausland gesendet.
Knochen und Hadern gehen auf Segelschiffen nach Frankreich.
Hauptartikel der Ausfuhr im Küstenhandel sind neben Wein Getreide und
Hülsenfrüchte, Schafwolle, Bleiglanz, Seife und Droguen.
Mannigfaltiger sind die Artikel der Einfuhr Sevillas aus dem Auslande.
Von Nahrungsmitteln sind zu nennen Stockfische (1888 20.111 q), thierische
Fette, Butter und Reis, von Genussmitteln Zucker (1888 16.640 q, Werth 1 Mil-
lion Pesetas) und Kaffee (5881 q) aus den spanischen Colonien, Spiritus aus
Deutschland (1888 27.745 hl, 1887 45.973 hl).
Für die grossartige Tabakfabrik gelangt Philippinentabak zur Einfuhr.
Holz wird aus Russland, Schweden und Norwegen zugeführt (1888 16.168 m3),
Fassdauben aus Amerika.
Von Industrieartikeln sind hervorzuheben: Glaswaaren 1888 um
321.685 Pesetas aus dem Auslande, um 892.220 Pesetas durch den Küstenhandel,
ferner Eisen und Eisenwaaren, namentlich Nägel, Weissblech (6489 q), Ma-
[520]Der atlantische Ocean.
schinen, und zwar Motoren (5109 q) und Maschinen für industrielle Zwecke
(9105 q) aus dem Auslande.
Dem Reichthume Sevillas entspricht die recht ansehnliche Einfuhr von Ge-
weben aus Baumwolle (1888 für 0·7 Millionen Pesetas), aus Schafwolle (für
1·3 Millionen Pesetas) und aus Seide.
Die Einfuhr von Hanf, Flachs, Jute und daraus gefertigten Garnen (letztere
1888 für 877.851 Pesetas) dient der Versorgung der einheimischen Industrie.
Dieser directen Einfuhr von Geweben und Garnen steht gegenüber die
durch den Küstenhandel, welche 1888 einen Werth von 16·6 Millionen Pesetas
erreichte.
Steinkohlen (1888 563.557 q) werden aus Cardiff und Newcastle eingeführt,
Rohpetroleum (1888 71.628 q, 1887 37.144 q) direct aus Amerika; raffinirtes
Petroleum kommt im Küstenhandel ein (1888 21.864 q).
Nicht unwichtig ist die Einfuhr von Cement und Marmor.
Zu bemerken wäre noch, dass die einst reiche deutsch-böhmische Colonie
von Glashändlern, nach denen noch heute die Calle des allemanos benannt ist,
wegen Mangels an Nachschub aus der Heimat im Aussterben begriffen ist.
Ausser den schon erwähnten Industrien für Hanfwaaren und Tabak sind
noch anzuführen Fabriken für Seife, für Fayence, für Leder und für ganz billige
Ledergalanteriewaaren.
Der Schiffsverkehr von Sevilla betrug:
| [...] |
Mit der Verminderung des Ausfuhrhandels sank 1889 auch die Schiffsfre-
quenz des Hafens.
Den Küstenverkehr beherrscht die spanische Flagge, im Einlaufe ragen
hervor die Verbindungen mit Barcelona und Cádiz, im Auslaufe die mit Barcelona,
Bilbao und Cádiz.
Im ausländischen Verkehre sind neben der spanischen Flagge die englische,
die deutsche (Hamburg und Bremen), die schwedische und norwegische zu
nennen.
Consulate haben hier: Argentinien, Belgien (G.-C.), Bolivia, Columbia,
Costarica, Deutsches Reich, Frankreich, Grossbritannien, Guatemala, Mexico,
Monaco, Niederlande, Oesterreich-Ungarn, Portugal, Russland, Salvator, Türkei,
Uruguay, Venezuela, Vereinigte Staaten von Amerika.
[[521]]
Huelva.
Wo immer wir bisher das Gestade des herrlichen Spaniens be-
treten, überall weht uns inmitten der gegenwärtigen Regsamkeit der
Hauch einer bedeutenden, ja grossen Vergangenheit entgegen. Eine
ungeheuere Culturarbeit wurde seit uralter Zeit auf spanischem Boden
geleistet, auf dem jedes der grossen Völker, die Iberien beherrschten,
in kurzer Zeit zu Kraft und Wohlstand gedieh.
Die brutale Gewalt des Stärkeren unterbrach unzähligemale die
ruhige Betriebsamkeit der intelligenten Bevölkerung und vernichtete
die errungenen Vortheile.
Dem unerschöpflichen Bodenreichthum Spaniens ist es zu danken,
dass das Land alle Krisen, selbst die grossen Fehler der Regierung
während der letzten Jahrhunderte, welche mit Entvölkerung und Ver-
armung drohten, verhältnissmässig gut überstehen konnte. Spanien
besitzt in der That in höherem Masse als viele andere Länder die
Fähigkeit, sich rasch aufzurichten. Die ruhige und glückliche Ent-
wicklung seiner inneren Verhältnisse während der letzten Jahre,
welche schweren politischen Stürmen gefolgt waren, zeigt von der
bedeutenden Kraft seines Stabilitätvermögens.
Handel, Industrie und Verkehr haben sich allerwärts zusehends
gehoben; der Stern Spaniens strebt entschieden aufwärts.
Zu den Punkten, welche in letzter Zeit einen rapiden Auf-
schwung nahmen, dessen Bedeutung selbst über die Grenzen Spaniens
weit hinaus reicht, gehört Huelva; den Ruhm von einem weltver-
gessenen kleinen Hafen zu einem Minenverschiffungsplatze ersten
Ranges emporgestiegen zu sein, verdankt Huelva den Kupferminen
am Rio Tinto, um sie dreht sich, seit fremde Unternehmer sie in
würdiger Weise betreiben, alles Sinnen und Trachten. Huelva selbst
ist unbedeutend. Die heute weltberühmten Rio Tinto-Minen mit ihren
12.000 Arbeitern gehören dem technischen Betriebe nach zu den gross-
artigst eingerichteten Bergbetrieben überhaupt, welche ihrem Ergeb-
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 66
[522]Der atlantische Ocean.
nisse nach nur von den nordamerikanischen Kupferminen übertroffen
werden. Der commerzielle Stützpunkt dieses gewaltigen Unternehmens
ist Huelva.
Das Städtchen lagert etwa 5·5 km im Norden des Zusammen-
flusses des Rio Odiel und Rio Tinto am linken Ufer des erstgenannten
Flusses zu Füssen zweier anmuthiger Höhenzüge, welche hier durch
ein enges Thal geschieden sind.
Die Umgebung entbehrt nicht des Reizes und das Klima ist
äusserst milde. Schon im Februar prangt die Gegend im herrlichsten
Blüthenschmuck und die überall in Spanien gerne gepflegte Rose ent-
faltet um jene Zeit ihre volle Pracht.
Huelva, früher kaum 6000 Einwohner zählend, hatte bei der
letzten Volkszählung (Ende 1887) schon 18.200 Einwohner.
Wie unser Plan zeigt, haben die beiden erwähnten Flüsse
an der gemeinsamen Mündung bedeutende Sandmassen abgelagert.
Der Banco del Manto ist mehrere Kilometer lang, bleibt aber selbst
bei tiefster Ebbe noch vom Meere bedeckt. An der südlich des-
selben gelegenen Haupteinfahrt, Canal del Padre santo (Canal des
heiligen Vaters), bildete sich wie bei allen Flussmündungen eine
Sandbarre, welche bei tiefster Ebbe nur 4·3 m Wassertiefe besitzt.
Da aber die Flut hier 4 m erreicht, so können bei Hochwasser selbst
Schiffe von bedeutendem Tonnengehalt einlaufen. Innerhalb der Barre
ist der Fluss sehr tief, am tiefsten nächst der Gabelung, dann nimmt
die Wassermenge ab, jedoch können Schiffe bis zu 7 m Tauchung
vor Huelva ankern. Am dortigen Quai wurde ein 700 m langes Rostwerk
in Eisenconstruction gebaut, auf welchem das mittelst Bahn aus den
Minendistricten kommende Kupfer und Erz zu den Schiffen geführt wird.
In stiller Verborgenheit liegt am linken Ufer des Rio Tinto am
Eingange eines Thales das denkwürdige Städtchen Palos.
Der Name Porto Palos ist mit der Erinnerung an das Jahrhundert der
grossen Entdeckungen innig verknüpft, denn hier wohnte die einflussreiche und
wohlhabende Schifferfamilie der Pinzone, welche mit ihren Mitteln Colon unter-
stützte und sich erbot in ihren Hauptträgern die kühne Fahrt mitzumachen;
von hier aus setzte Colon am 3. August 1492 mit seinen drei kleinen Fahrzeugen
unter Segel, um eine neue Welt zu entdecken, und hieher kehrte er am 15. März
1493 nach 7 Monaten und 11 Tagen nach Durchführung seines grossen Gedan-
kens zurück.
In Palos landete auch Cortez, der tollkühne Eroberer von Mexico, im Mai
1528. Der Zufall wollte, dass er hier mit Pizarro, dem Conquistador von Peru,
zusammentraf, der eben im Begriffe stand, jene Laufbahn voll Abenteuer, Blut-
vergiessen und Raublust anzutreten, die Cortez zu jener Zeit nahezu abge-
schlossen hatte.
[523]Huelva.
Der Rio Tinto hat bei Palos nur 3 m Wassertiefe (Ebbestand);
grössere Schiffe ankern deshalb ungefähr 3 km stromabwärts des
Städtchens.
Nächst der Ausmündung des Rio Tinto lagert auf einer Anhöhe
das imposante, von zwei Thürmen überragte Kloster Santa Maria de
Rábida, einst das Asyl des grossen Colon und im Besitze des Her-
zogs von Montpensier. Zu Colon’s Zeit war das Kloster befestigt und
von den Ráditos, kriegerischen Mönchen, vertheidigt. Der Name Rábida
ist maurischen Ursprungs und bedeutet: Grenze oder exponirte Gegend.
Hieher hatten Colon und sein jugendlicher Sohn sich 1484 um Schutz
und Unterkunft gewendet. Es wird erzählt, dass der Prior Juan Perez
de Marchena die beiden Fremden liebreich empfing, und von dem
grossen Gedanken Colon’s begeistert, entgegen der Meinung der
weisesten Könige und Rathbeschlüsse, welche ihn als Traumgebilde
bezeichneten, der Ausführbarkeit zustimmte. Er hatte den Muth, das
Project zu unterstützen, und die Macht, dasselbe vorzubereiten, und
im Kloster von Rábida wartete Colon auch auf die Ausrüstung seiner
erfolgreichen Expedition. So gebührt denn diesem weisen und uner-
schrockenen Mönche ein redlicher Antheil an dem Ruhme, welcher so
viel Glanz über Spanien ergossen hat.
Huelva hat Glück. Durch ihre Raubfischerei waren seine Ein-
wohner in der höchsten Gefahr, den Fischfang, die Hauptquelle ihres
Unterhaltes, zu verlieren, als fremdes Capital sich daran machte, die
uralten Bergwerke an den Ausläufern der Sierra Morena wieder aus-
zubeuten.
Da die Gesellschaft der benachbarten Grube Tarsis 1872 40 %
Dividende zahlte und der Staat aus seinen Werken fast gar keine
Erträgnisse erzielen konnte, so verkaufte er seinen Besitz 1873 an ein
Syndicat von Bremer und Londoner Firmen um 38·4 Millionen Gulden.
Die mächtigsten Minen sind jene von Rio Tinto (Minas de Rio Tinto),
einem von 3300 Einwohnern bewohnten Orte, der ungefähr 70 km nordöstlich von
Huelva in einer wildromantischen Gegend liegt. Die Bergwerke waren schon der
antiken Welt bekannt, Phönikier, Römer und Mauren bearbeiteten sie, welche
Thatsache aus den fortwährenden Entdeckungen uralter Schachte und Gallerien
sich ergibt.
Während der französischen Invasion in Spanien kam der Betrieb der
Minen ins Stocken, bis er 1829 von der Regierung verpachtet wurde.
Seither hat der Betrieb grosse Dimensionen angenommen und beschäftigt
viele tausend Arbeiter. Das reinste Kupfer wird indes aus dem Wasser des Rio
Tinto, welches ausserordentlich kupferhältig und deshalb tödtlich giftig ist, ge-
wonnen.
Die Minen von Tarsis gehören einer französischen Gesellschaft und sind
66*
[524]Der atlantische Ocean.
gleichfalls phönikischen Ursprungs. Man entdeckte dort Gänge mit geraden und
gewölbten Wänden; erstere werden den Phönikiern, letztere den Römern zuge-
schrieben.
Tarsis gilt als das Tarschisch der Bibel; seine Bedeutung und die Schätze,
welche der Boden barg, waren gänzlich in Vergessenheit gerathen, bis Anfangs
der Sechzigerjahre die Aufmerksamkeit der Localität sich zugewendet hatte. Inter-
essant ist die Thatsache, dass in der uralten Schlackenablagerung nicht der ge-
ringste Kupfergehalt vorgefunden wurde, was beweist, dass die Alten das Extrac-
tionsverfahren vollkommen beherrscht haben.
Huelva.
Englischen Gesellschaften gehören die Minen von Buitron, Lapilla, Con-
cepcion und Poderosa, wohingegen die Minen von Carpio, Caronada, Sotice, San
Miguel und Saluco in spanischen Händen sich befinden. Endlich werden die Minen
von Lagunago und Targa von Gesellschaften betrieben, deren Mitglieder verschie-
denen Staaten entstammen.
Die hier gegrabenen Pyrite enthalten etwa 3 % Kupfer, 48—50 % Schwefel,
und 42—43 % Eisen. Sie werden pyramidenförmig, zu sogenannten „Teleras“ auf-
gehäuft, in freier Luft geröstet und das Kupfer wird durch Wasser auf Eisen-
barren zum Niederschlag geleitet. Die Schwefelgase, welche sich beim Rösten
entwickeln, werden neuester Zeit aufgefangen und in Schwefelsäure verwandelt;
deren Ertrag ist allein grösser als früher der Gesammtertrag aller Minenproducte
für die Spanier gewesen ist. Viele schädliche Gase entweichen naturgemäss aber
[525]Huelva.
immerhin in die Luft und zerstören die Vegetation, wie die gebrauchten Wässer die
Bäche untauglich für Bodencultur, Vieh- und Fischzucht machen. Eine heftige Agita-
tion der ackerbauenden Bevölkerung der Provinz hat in der That erreicht, dass der
Gesellschaft das Rösten der Erze im Freien von der Regierung verboten wurde.
A äussere Boje an der Einfahrt, A1 innere Boje, B Canal del Padre Santo, B1 Zufahrt nach Palos und
Huelva, C Ankerplatz bei Huelva, D Canal Estero del Burro, E Canal Est. del Burrillo, F Leuchtfeuer,
G Mühlen, H Canal Estero del Molino del Pasage, J Canal Est. de las Metas, K Bank la Balena.
Damit aber werden ihre Betriebskosten erhöht und sie remonstrirt gegen das
Verbot, weil es im Widerspruch mit ihrem Kaufvertrage stehe. Es muss zu dieser
Streitfrage ausdrücklich bemerkt werden, dass der eigentliche Minendistrict von
[526]Der atlantische Ocean.
Natur für die Landwirthschaft ungeeignet ist. Viele dieser Klagen entstammen
bloss der Missgunst, welche Fremden einen Gewinn nicht gönnt, den die Ein-
heimischen nicht zu heben verstehen. Die Blüthe Huelvas ist schon durch die enorm
steigende Nachfrage nach Kupfer, welches an wenigen Plätzen der Erde so nahe
am Meere liegt wie hier, gesichert, allein seine Hoffnungen können höher ge-
spannt werden.
Um die Ausfuhr der Bergproducte zu erleichtern, baute man
von Huelva aus Eisenbahnen in die Minendistricte, verfolgte 1878
die Bahnverbindung nach Sevilla und erreichte am 1. Jänner 1889
die Vollendung der Eisenbahn Huelva-Zafra.
Durch diese Linie wurde die Lage der Provinz und des Hafens
Huelva gänzlich verändert. Bisher ausschliesslich Hafen für einen be-
schränkten Verkehr mit den tief liegenden Bergbauregionen, ist Huelva
jetzt Haupthafen für die Einfuhr und Ausfuhr von Estremadura.
Für Handel und Industrie eröffnet sich ein vielseitiges Feld. Ausser-
dem ist dadurch das Bergbaugebiet des Hochgebirges der Sierra
Morena, die von der Bahn in ihrer ganzen Breite (90 km) durch-
schnitten wird, zugänglich gemacht.
Grosse Brüche auf weissen und bunten Marmor liefern das Roh-
materiale für die Sägewerke und Schleifereien von Huelva, die später
als die grossen Ziegelwerke der Stadt entstanden.
Da die Bergwerke die Grundlage des Handels von Huelva sind, so über-
wiegt natürlich die Ausfuhr bedeutend gegenüber der Einfuhr und viele Schiffe
laufen in Ballast ein.
Der Handel Huelvas betrug in Pesetas:
| [...] |
In diesen Ziffern kommen die Folgen der Eröffnung der Bahn nach Zafra
noch nicht zum Ausdrucke.
Es wurden 1888 7,981.417 q (Werth 31·9 Millionen Pesetas), 1887
7,196.898 q Kupfererze nach England, Frankreich und Deutschland ausgeführt.
Dem Werth nach folgt Cementkupfer 1888 289.523 q (Werth 25·5 Millionen
Pesetas), 1887 298.900 q.
Geringer ist die Ausfuhr von Kupfer (1888 43.622 q), von Eisenerzen (1888
451.677 q), Manganeisen, bedeutend die von Quecksilber 1888 7846 q (Werth
4·3 Millionen Pesetas), 1887 7377 q; letztere ist 1889 sehr gestiegen.
Auch der Weinbau hat von der Verbesserung der Verkehrswege Nutzen
gezogen und wird immer weiter ausgedehnt. Ausgeführt wurden 1888 255.942 hl
(Werth 7·7 Millionen Pesetas), 1887 230.396 hl, meist nach Frankreich.
Die Hauptartikel der Einfuhr aus dem Auslande sind Steinkohlen und
Coaks (1888 948.676 q, 1887 884.290 q) aus England, Gusseisen in Barren für
[527]Huelva.
die Zwecke der Kupfergewinnung aus England mit 200.264 q im Jahre 1888 (das
ist der grösste Theil der Einfuhr Spaniens), ferner Roheisen und Schmiedeisen.
Noch sind zu nennen Sprit (1888 8938 hl) aus Deutschland und Schweden,
Holz aus Nordeuropa und Böttcherwaaren zum Reexport. Im Wege des Küsten-
handels werden Wein, Weizenmehl und Eisen zugeführt.
Der Schiffsverkehr von Huelva erreichte:
| [...] |
Die wichtigste Flagge ist die englische, neben ihr sind noch zu nennen
die spanische, französische, deutsche, die schwedische und norwegische.
[[528]]
Lissabon.
Ein Bild von seltener Schönheit entrollt sich an der breiten
Mündung des vielbesungenen Tejoflusses, welcher einst den unsterb-
lichen Vasco da Gama nie welkendem Ruhme entgegengetragen und
dem Dichterfürsten Camoëns den letzten Gruss geboten, als er ver-
bannt das heissgeliebte Vaterland verliess.
Weit im Landesinnern hat der Tejo die Zaubergärten von
Aranjuez umspült und mit den Fluten des Manzanares auch dessen
Poesienschatz empfangen, er sah die alte und glänzende Königstadt
Lisboa in einer der furchtbarsten Katastrophen in Trümmer sinken
und wälzt nun sein Gewässer an dem herrlichen Gebilde des ver-
jüngten Lissabon vorbei dem Meere zu.
Auf sieben Hügeln hingestreckt entfaltet die Stadt über der
prächtigen Quaifront das Heer ihrer formenreichen Bauten. Im Osten
ist um das Castell S. Georg das Gewirre der alten Stadt gelagert,
hieran schliesst sich westwärts die in edler Regelmässigkeit angelegte
Neustadt, und als deren Glanzpunkt der herrliche Quaiplatz Praça de
Commercio mit seiner monumentalen durch zwei Säulen geschmückten
Anlegetreppe (Caes das Columnas), seinem stylvollen Triumphbogen,
den prächtigen Arcaden, welche entlang den drei von schönen Ge-
bäuden eingefassten Seiten des Platzes führen.
Die Mitte der Praça de Commercio nimmt die mit allegorischen
Figuren reich gezierte gewaltige Reiterstatue des König Dom José I.
ein, welche 1775 von den Einwohnern als Zeichen der Dankbarkeit
für den raschen Wiederaufbau der Stadt nach dem furchtbaren Erd-
beben (1755) errichtet worden war.
Auf diesem grossen Platze, der heute ein Bild der erhabensten
Ruhe bietet, hatte während des Erdbebens eine grosse Menge Volkes
aller Schichten vor den zusammenstürzenden Gebäuden Rettung ge-
sucht; da öffnete sich plötzlich die Erde und Tausende Menschen
verschwanden spurlos in einem gähnenden Schlund über dem alsbald
[529]Lissabon.
die herangebrauste Sturmflut zusammenschlug. Einige Jahre später,
als die Arbeiten dort aufgenommen wurden, fand man nicht eine
Spur der früheren Fundamente, nicht ein Zeichen der ungezählten
Opfer jener entsetzlichen Katastrophe.
Ostwärts begrenzt den Platz das grosse Zollamt (Alfandega),
im Westen aber das Seearsenal der Kriegsmarine, wo auch das Co-
lonialmuseum Platz gefunden hat.
Längs des nördlichen Tejostrandes dehnen sich die Häuser-
massen in regelmässiger Anordnung über die Abhänge der Höhen
oder an der Sohle von Thälern; Gärten und Anlagen mit frischem
Baumschmucke bilden eine wohlthuende Unterbrechung des endlos
scheinenden Häusermeeres, in welchem zahlreiche Klöster und Kirchen
durch Form und Grösse hervortreten. Charakteristisch im Gesammt-
bilde der Stadt ist das fast gänzliche Fehlen bedeutender Thürme,
denn die Furcht vor einer Wiederholung des Erdbebens hat seit
mehr als einem Jahrhundert von der Erbauung höherer Thürme ab-
gehalten.
Indes scheint man doch dem Wagnisse zuzuneigen und begann
einzelne Kirchen, wie die weit sichtbare Egreja da Estrella und
andere mit mässig hohen Thürmen, ja sogar mit Kuppeln zu
schmücken.
Auf einer flachen Landzunge im Westen erhebt sich S. Vicente
de Belem mit dem gewaltigen Thurme eines der malerischesten Ob-
jecte an den Ufern des Tejo. Einst im Flusse selbst erbaut, gehört
Belem infolge massenhafter Anschwemmung nun dem Festlande an.
Es wurde während der Regierung Dom Manoel’s erbaut und diente
ehemals als Staatsgefängniss. Heute aber enthält das umfangreiche,
im maurisch-gothischen Style gebaute feste Schloss die Bureaux
einiger Departements des Seedienstes, dann eine Marineschule, Maga-
zine u. dgl.
Auf seiner Plattform, welche als Aussichtspunkt genannt zu
werden verdient, ist ein herrlicher Leuchtapparat installirt.
In der Nähe der Belemspitze hat sich die Vorstadt Belem an-
gesiedelt, über welcher der imposante königliche Marmorpalast (Paço
Real d’Adjuda) inmitten prächtiger Anlagen erglänzt. Eine breite
Strasse führt von dort herab zu der am Strande schön gelegenen Praça
de D. Fernando, in deren Nähe das königliche Lustschloss Quinta de
Baixo in einem Parke sich erhebt, in welchem einstens eine Mena-
gerie unterhalten wurde.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 67
[530]Der atlantische Ocean.
Ein zweites Lustschloss der königlichen Familie, die Quinta de
Cima, liegt nördlich von Baixo.
Zwischen Belem und Lissabon hat an den Ufern des Flüsschens
Alcantara die gleichnamige Vorstadt Raum gefunden. Das königliche
Palais, „das Necessidades“, die ständige Residenz der königlichen
Familie, erhebt sich dort auf stolzer Höhe und blickt herab auf den
von Schiffen und Fahrzeugen belebten Tejo und auf dessen linkes
Ufer, hier Outra Banda (andere Seite) genannt, wo über den see-
artig erweiterten Strom hinweg die Städtchen Almada und Trafaria
und zahlreiche Villen auf grünen Höhen schimmern, ohne im Detail
erkennbar zu erscheinen.
Das von Dom Joao V. erbaute Palais verdankt seine Entstehung
einem wunderthätigen Madonnenbilde und war ursprünglich der Annex
eines Nonnenklosters, das dieser Regent zur Ehre des Gnadenbildes
gegründet hatte. Nach Aufhebung des Klosters wurde letzteres um-
gebaut und dem Schlosse einverleibt.
Längs der ganzen Küste zwischen Belem bis ostwärts der vorne
erwähnten Praça de Commercio sind ausgedehnte Hafenbauten im
Zuge, die wir auf unserem Plane angedeutet haben. Den Handels-
operationen werden hier alle Bequemlichkeiten und Erleichterungen
geboten werden, welche der moderne Verkehr erfordert. Geräumige
Bassins, Docks und Schleusenwerke werden die Schiffe vor den vielen
Unannehmlichkeiten schützen, welche die Ankerplätze im Strome mit
sich bringen.
Die Tiefe des Tejo, welcher, wie erwähnt, östlich von Lissabon
eine seeartige Ausweitung bildet, variirt, wie unser Plan zeigt, sehr
bedeutend. Zwischen Belem und Trafaria liegt eine Einsenkung des
Bodens bis zu 47 m Tiefe und ost- und westwärts derselben nimmt
die Wassertiefe ab, ohne dass sie jedoch dem Anlaufen des Hafens
irgend welche Schwierigkeit bieten würde.
Selbst an der äussersten Mündung des Tejo, wo bedeutende
Ablagerungsbänke an beiden Flussseiten sich gebildet haben, ist eine
breite Fahrstrasse offen, welche bei jedem Wetter die Zufahrt ge-
stattet.
So erscheint Lissabon vom rein maritimem Standpunkte als einer
der geräumigsten, sichersten und bequemsten Häfen von ganz Europa,
aber auch hinsichtlich seiner landschaftlichen Schönheit und der
Ueppigkeit des Pflanzenwuchses wetteifert die Stadt in jeder Weise
mit den herrlichsten Punkten Europas und darf ohne weiteres an
die Seite Constantinopels und Neapels gestellt werden.
[531]Lissabon.
Ihre geographische Lage unter 38° 42′ nördl. Breite und 9° 5′
westl. Länge von Greenwich sichert der Stadt ein mildes Winterklima
(+ 8°C. Jännertemperatur); dagegen ist der Hochsommer heiss (40°C.).
Nach der allgemeinen Gepflogenheit der Geschichtsschreiber Iberiens, haben
einige Historiker von Lissabon die Entstehung der Stadt weit in das graueste
Alterthum zurückverlegt und lassen einen Urenkel Abraham’s die ersten Funda-
mente zu derselben in dem mit wundersamer Gründlichkeit berechneten Jahre
3259 v. Chr. legen. Andere sind genügsamer und erklärten Ulysses als den Gründer
der Stadt, indem sie aus dem Namen Olisippo durch Corruption Lisboa ent-
stehen lassen.
Als ursprüngliche Bewohner werden die Lusitanier genannt, welche unter
Viriathus (150—140 v. Chr.) das mächtigste Volk der ganzen Halbinsel waren;
ihre alte Hauptstadt war Olisippo. Julius Cäsar erhob die Stadt zu einem Muni-
cipium und gab ihr den Namen „Felicitas Julia“, aber Provinzialhauptstadt blieb
Emerita Augusta (Mérida).
Die Zeit der Völkerwanderung bereitete der römischen Herrschaft mit dem
Erscheinen der Alanen (409), Vandalen und Anderer ein rasches Ende. Unter den
Gothen bildete Portugal einen Theil ihres Reiches, fiel jedoch 713 in die Gewalt
der Mauren, welche Lissabon befestigten. Wiederholt wurde die Stadt im XI. und
XII. Jahrhunderte von den Spaniern genommen und wieder verloren, bis Alfonso
Henriques, der erste König von Portugal, sie 1147 endgiltig errang. Aber erst
unter Dom Joao I. wurde Lissabon an Stelle von Coimbra die Hauptstadt des
Königreiches. 1394 ward sie zum Range eines Erzbisthums erhoben. Seitdem nahm
die Stadt an Reichthum und Glanz zu und zählte zu den prächtigsten Städten
Europas.
Von hier segelte 1497 Vasco da Gama zu seiner Ruhmesfahrt aus, die
die Portugiesen zur ersten seefahrenden Nation und Lissabon zum ersten Markte
von Europa erhob.
Während der spanischen Occupation sank Lissabon zum Range einer Pro-
vinzialstadt herab und erlangte erst 1640 als Residenz der neu eingesetzten Könige
von Portugal die frühere Würde, und Dom Joao V. schmückte die Stadt mit einer
Reihe herrlicher öffentlicher Gebäude. Um die Mitte des XVIII. Jahrhunderts
hatte Lissabon die Höhe seines Glanzes erreicht, als das bereits Eingangs er-
wähnte schreckliche Erdbeben in der Zeit von wenigen Minuten der ganzen Herr-
lichkeit ein furchtbares Ende bereitete.
Die Gegend um Lissabon war früher schon wiederholten Erderschütterungen
ausgesetzt gewesen. Die Chronik berichtet von Erdstössen in den Jahren 1069,
1117, 1146, 1356, 1531, 1579, in welchem Jahre drei Strassenzüge zerstört wurden,
1699 und 1722.
Nun folgte das Erdbeben von 1755, welches die Stadt vollkommen zer-
störte und zahllose Menschenopfer forderte. Die Schätzungen dieses Verlustes
schwanken zwischen 80.000 und 100.000 Todten. Das Erdbeben erstreckte sich über
halb Europa, und wurden die Stösse im Norden auf den Orkney-Inseln, im Westen
auf Jamaica gefühlt.
Die trostlose Lage der in Trümmer gelegten Stadt wurde durch das Treiben
zahlloser Räuberbanden noch unseliger gestaltet, jedoch gelang es der Energie
Carvalho’s durch eiserne Strenge bald Ordnung zu schaffen.
67*
[532]Der atlantische Ocean.
In kurzer Zeit erhob sich durch die Energie Pombal’s aus den Ruinen eine
neue glänzende Stadt, aber noch heute erblickt man manche aus jenen Tagen des
Unglücks herstammende Ruine. Seither wurde die Stadt noch in den Jahren 1761,
1796, 1807 und 1858 durch starke Erdstösse heimgesucht.
Lissabon zählt 243.000 Einwohner und ist in vier Districte
(bairros) eingetheilt, deren erster den östlichsten und ältesten Theil
der Stadt, in welchem das Castell St. Georg und die Kathedrale
liegen, in sich begreift.
Westlich des ersten Districtes breitet sich die neue Stadt mit
ihren regelmässigen Strassenzügen, schönen Plätzen und der prächtigen
Avenide (S) aus. Das ist jener Stadttheil, welcher bei dem grossen
Erdbeben am härtesten mitgenommen worden war.
Hieran schliesst sich der dritte District, in welchem die fashio-
nableste Strasse Rua Chiado, die National-Bibliothek, die N. S. de
Loreto, die beliebteste aller Kirchen der Stadt, einige der ersten
Hotels, die königliche Akademie der Wissenschaften u. a. sich be-
finden.
Noch weiter westlich ist der District Buenos Ayres mit den
Residenzen der Gesandten, der englischen Estrellakirche, dem Parla-
mentsgebäude (São Bento) und dem Palais Necessidades, welches
nächst dem Bahnhofe von Alcantara gelegen dem westlichsten Theile
des Districtes angehört.
Lissabon bietet durch den amphitheatralischen Aufbau der über-
einander liegenden Strassen nicht nur ein sehr malerisches Bild von
aussen, die Stadt ist auch im Innern sehr schön und freundlich. Auf-
fallend sind die vielfach mit glasirten Ziegeln belegten Häuser, an
denen jedes Thor, auch jeder Eingang in ein Magazin die fortlau-
fende Nummer trägt, so dass manches Haus 20 Nummern hat. Die
Steilheit mancher Strassen zwingt die Tramway bergan mit 8 Maul-
thieren zu fahren, während bergab die Thiere freigehen und die Wa-
gen durch die mittelst Bremsen regulirte eigene Schwere laufen.
Lissabon besitzt zahlreiche geräumige Kirchen, von welchen aber
nur wenige von Interesse sind.
Die Vermeidung von Säulen, das Fehlen von Sitzbänken, das
System der eigenthümlichen Anordnung der Seitencapellen, geben den
Kirchen ein meist nüchternes, wenig zur Andacht stimmendes Aus-
sehen.
Weitaus zu den sehenswerthesten Gotteshäusern zählt die Ka-
thedrale Sé oder Basilica de Santa Maria, obgleich sie in beschei-
denen Dimensionen gehalten ist und mit ihren massigen unausgebauten
[[533]]
Lissabon.
[534]Der atlantische Ocean.
Thürmen und der nüchternen Façade den Eindruck des Unfertigen
ausübt. Die Kirche wurde an Stelle einer noch vor der arabischen
Domination dort erbauten durch Alfonso Henriques errichtet, erlitt
aber im Laufe der Jahrhunderte mancherlei Modificationen.
Von der Höhe des einen der Thürme wurde 1383 der Bischof
D. Martinho, weil er die Partei der Castilianer begünstigte, durch
den aufgeregten Pöbel herabgestürzt und sein Leichnam durch die
Strassen geschleift.
In der Sé werden die Reliquien des heiligen Vincenz, welcher
bei dem nach ihm genannten Cap den Märtyrertod erlitt, aufbe-
wahrt. An diesen Heiligen knüpft sich die Legende, dass eine Zahl von
Raben seinen Leichnam am Cap bewachte, und als Alfonso Henriques
diesen nach Lissabon überführen liess, hätten diese Thiere das Schiff
begleitet. Seither werden in den Cloisters der Kathedrale zwei Raben
unterhalten. Die beiden Raben im Stadtwappen beziehen sich ebenfalls
auf obgedachte Legende.
Die Igreja de S. Roque, 1567 durch die Gesellschaft Jesu er-
baut, enthält die von Joao V. errichtete sehenswerthe Capelle des
heiligen Johannes des Täufers, welche vermöge ihres Reichthums an
Kunstwerken und kostbarem Marmor mit der Sixtinischen Capelle
in Rom wetteifert.
Die Perle unter allen Bauten der Stadt durch Schönheit des
Styles und Reichthum an Ausschmückung ist jedoch die Kirche und
das Kloster des Jeronymos von Belem, welches der König D. Manuel
in dankbarer Erinnerung an die Entdeckung Ostindiens durch Vasco
da Gama nach den Plänen des Italieners Potassi (1500) erbauen liess.
Weit reicher als die religiösen Bauten der Stadt sind die der
Wissenschaft geweihten Stätten. Lissabon besitzt viele Sammlungen
und Gallerien mit Objecten von unschätzbarem Werth. Die Bibliotheca
Nacional, eine Schöpfung der Königin D. Maria I. (1776) ist in dem
aufgelassenen Kloster S. Francisco untergebracht und zählt über
200.000 Bände, 38.200 Medaillen, zahlreiche Manuscripte, Bibeln,
darunter eine von Gutenberg gedruckte. In demselben Gebäude hat
auch die Bibliotheca da Academia das Bellas Artes mit 12.000 Bän-
den Kunstliteratur eine Unterkunft gefunden.
Von Bedeutung ist die Bibliotheca da Academia im Terceira-
Kloster, welche über 80.000 Bände zählt und kostbare altarabische
und persische Manuscripte besitzt. Sehenswerthe Kunstobjecte und
Seltenheiten werden in der Bibliotheca da Ajuda im gleichnamigen
königlichen Palais aufbewahrt.
[535]Lissabon.
Im Nationalarchiv (Archivo da Torre do Tombo) sind die wich-
tigsten Documente, welche bis zur Zeit der Begründung des portu-
giesischen Königreiches zurückreichen, aufbewahrt.
Zahlreiche Museen und Bildergallerien sowie gelehrte Gesell-
schaften zeigen von dem lebhaften Interesse, welches die Dynastie
und die Einwohnerschaft Lissabons der Pflege der Wissenschaft und
Kunst entgegenbringen.
Bei den lebhaften geistigen Bestrebungen ist indes der Anfor-
derung des Vergnügens nicht vergessen worden, und verfügt die Stadt
über eine Reihe hübscher Theater, von welchen das Theatro de São
Carlos (italienisches Opernhaus) das grösste und vornehmste ist.
Dass es in Lissabon auch eine Arena für Stierkämpfe (Circo
dos Touros) gibt, ist selbstverständlich. Die portugiesischen Kämpfe
unterscheiden sich jedoch wesentlich von den spanischen dadurch,
dass die Hörnerspitzen der Stiere mit grossen Holzkugeln verkleidet
sind, durch welchen Schutz weder die kämpfenden Männer noch die
Pferde und Stiere in besondere Lebensgefahr gerathen; dafür bietet
der portugiesische Stierkampf keine jener abstossenden Scenen, wie
sie der spanischen Arena eigen sind. Interessant, aber auch beunruhi-
gend ist für den Fremden der ganz aus Holz erbaute Circus, welcher
mehrere tausend Zuseher fasst, von denen mindestens die Hälfte Ciga-
retten raucht und dabei die allgemein benützten Wachszünder herum-
wirft, als ob noch nie in der Welt ein Theater abgebrannt wäre.
Wohlthätigkeitsanstalten, Spitäler und Asyle sind reichlich vor-
handen. Dem Seeverkehr dient ein grossartiges Lazareth, das am
linken Tejoufer gegenüber der Belemspitze gelegen Raum für 1000
Passagiere bietet.
Von seiner Terrasse ist ein herrliches Panorama über die ganze
Ausdehnung von Lissabon und über die Höhen von Cintra zu ge-
niessen.
Was Gott für dieses schöne Land gethan!“’
singt Lord Byron.
Die Ausflüge in die paradiesische Umgebung machen für die
Reisenden das Verweilen in Lissabon zum höchsten Genusse. Die
entzückenden Höhen am Tejoufer, die Höhen von Cacilhas mit ihrer
unvergleichlichen Aussicht, der Gebirgszug von Cintra mit seinen
phantastischen Schlössern, dem alten Kloster und den märchenhaften
Kameliengärten; auf der anderen Seite der Bai das kleine Setubal,
das Caetobriga der Römer, heute das Prototyp einer altportugiesischen
[536]Der atlantische Ocean.
Stadt, und das Alles in wenigen Stunden zu erreichen: Fürwahr
keine andere Stadt Europas kann sich mit der alten „Königin der
iberischen Halbinsel“ messen, von der Philipp III., der König Spaniens
und Portugals, 1619 sagte, „nur in Lissabon habe er empfunden,
dass er König von Hesperien sei“.
Dieses Paradies ist den weniger bemittelten Reisenden aus
Mitteleuropa noch halb verschlossen, weil es von Wien und Berlin
selbst mit dem Schnellzuge nicht unter dreimal 24 Stunden ununter-
brochener Fahrt zu erreichen ist. Nichtsdestoweniger wird Lissabon
mit jedem Jahre von mehr Fremden, zumeist Engländern, besucht,
welche sehr gut gehaltene Hotels sowie andere den Fremdenverkehr
belebende Einrichtungen finden. Freilich für den grossen Fremden-
verkehr liegt Lissabon mehr seitwärts als Norwegen.
Man spricht daher bei uns weniger von der landschaftlichen
Schönheit Lissabons als von seiner günstigen Weltstellung. An seinen
Gestaden ziehen alle Schiffe aus dem Westen und Norden Europas
vorüber, welche den indischen Ocean aufsuchen, ob sie den neuen
Weg durch den Suezcanal einschlagen oder die Strasse Vasco da
Gamas um das Cap der guten Hoffnung verfolgen; wie für die West-
küste Afrikas ist Lissabon auch für Südamerika und den Verkehr
nach Westindien der am weitesten nach dem Westen vorgeschobene
Platz Europas.
Die hohen Gipfel des Cabo da Roca (des Vorgebirges des
Felsens) im Norden und das Cabo de Espichel (des Vorgebirges des
Zapfens) sind natürliche weithin sichtbare Landmarken der „Entrada
do Tajo“. Aber der vielgefeierte König der Flüsse, „o rey dos rios“,
wie die Portugiesen den Tejo nennen, dessen waldumgebene Ufer den
grössten Haupttheil des Holzes zum Bau der grossen spanisch-portu-
giesischen Armada lieferten, die 1588 England bedrohte, ist oberhalb
Lissabon nur 74 km weit, bis Santarem für grosse Dampfer und bis
Abrántes für kleine Schiffe regelmässig fahrbar und führt überdies
nur in das Innere der pyrenäischen Halbinsel. Lissabon hat daher
kein grosses Hinterland und ist weit abseits von dem Herzen Eu-
ropas.
Seine Lage sichert Lissabon wohl für immer eine bedeutsame Stel-
lung selbst in den Dampfschiffahrtslinien der Erde, im internationalen
Verkehr der Posten und Telegraphen, aber nicht im Handel mit den
Massengütern, welche den Welthandel bestimmen.
Diese Behauptung wird durch den Verlauf der Geschichte des
Handels von Lissabon bestätigt, sie beweist aber auch, dass ein
[537]Lissabon.
so kleines Volk, wie die Portugiesen, nicht nur nicht im Stande sei,
den Welthandel zu monopolisiren, wie man dieses in Lissabon so
lange anstrebte, sondern nicht einmal seine wirtschaftliche Unab-
hängigkeit behaupten kann.
Mit Hilfe bewaffneter Kriegsscharen aus Niederland, Westfalen, Friesland
und den Rheingegenden, die in Verbindung mit britischen Kreuzrittern auf eng-
lischen und flandrischen Schiffen nach Palästina zogen, um dort die Ungläubigen
zu bekriegen, wurde die Stadt 1147 den Mauren entrissen. Seitdem blieb sie eine
wichtige Etape für den Verkehr der Segelschiffe zwischen den Niederlanden und
Venedig, und unter dem strengen und gerechten Dom Pedro I. (1357—1367) zählte
man nicht selten im Hafen von Lissabon 400—500 ausländische und inländische
Kauffahrteischiffe, welche die Landesproducte, besonders Wein, Oel und Salz, und
den überaus reichen Ertrag des Küstenfischfanges nach allen Weltgegenden aus-
führten und Gold und Silber in Menge einbrachten.
Dann kam das Jahrhundert der grossen Entdeckungen, das Heldenzeitalter
des portugiesischen Volkes, dem Camoens in den Lusiaden ein unvergängliches
Denkmal gesetzt hat.
Die Portugiesen waren damals noch nicht besonders seetüchtig, sie über-
liessen noch immer den Verkehr nach dem Norden und dem Osten fremden
Schiffen. Nur auf Marokko und die südwärts gelegenen Küstenländer richteten sie
aus religiösen Beweggründen ihr Augenmerk.
Erst 1434 brachte der beharrliche Infant Heinrich (Dom Enrique) „der
Seefahrer“ seine Portugiesen über das berüchtigte Cap Bojador hinaus. Nun
wurden Schritt für Schritt die Gestade Afrikas enthüllt, der Seeweg nach Indien
1498) und (1500) die waldigen Küsten Brasiliens entdeckt.
Als dann im Anfange des XVI. Jahrhunderts durch die Besetzung des
Zuganges in das Rothe Meer der alte Verkehr zwischen Malabar und Egypten ver-
nichtet war, wurde Lissabon der Sitz eines unermesslichen Waarenumsatzes, die
Niederlage und der Stapelplatz mehrerer Welttheile, den die orientalischen
Völker Pae takht Frang, „die Residenz von Europa“ nannten. Hier mussten alle
Nationen des Abendlandes ihre Gewürze holen, denn die Portugiesen verschmähten
es, die Gewürze von Lissabon weiter zu führen.
Rasch sank jedoch die Macht des kleinen Portugal. Die unglückselige Ver-
einigung mit Spanien (1584) beschleunigte den Verfall, weil Philipp II. die
Handelsschiffe der Niederländer, welche seit Jahrzehnten gegen ihn im Aufstande
waren, von dem Markte Lissabons ausschloss und dadurch diese unternehmenden
Seeleute zwang, direct nach Indien zu segeln und ein holländisches Colonialreich
auf dem Boden des alten portugiesischen zu errichten.
Das seit 1640 wieder selbständige Portugal gab im Osten den „Koloss, der
keinen Nutzen gewährte“, auf und vereinigte seine ganze Kraft auf Brasilien, das
1654 den eingedrungenen Holländern entrissen wurde. Bald entstanden dort grosse
Zuckerplantagen, deren Ernten über Lissabon nach dem übrigen Europa gelangten
der Verkehr mit Westafrika stieg durch den Sclavenhandel nach Brasilien, und die
Entdeckung von Goldlagern und Diamantenlagern machten den Ausspruch Joao IV.
wahr, welcher Brasilien seine „Melkkuh“ nannte.
Grosse Reichthümer gingen seit 1700 alljährlich nach Lissabon, sie wan-
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 68
[538]Der atlantische Ocean.
derten aber sofort nach England und die Nation verarmte. Denn durch den
„Methuen-Vertrag“ von 1703 war bestimmt worden, dass portugiesische Weine in
England ein Drittel weniger Zoll zahlen sollten als französische, und dass dafür
englische Wolle in Portugal zu dem Zollsatze von 15 % eingeführt werde. Infolge
dieses Vertrages entwickelte sich übermässig die Weincultur im Norden Portugals
zur Plantagenwirtschaft, die den kleinen Grundbesitzer auskaufte, und bald
deckte das Land nicht mehr seinen eigenen Bedarf an Fleisch und Brot, und die
Erzeugnisse der englischen Industrie überschwemmten Portugal und vernichteten
seine Industrie.
An den Zuständen, die dieser Vertrag geschaffen, krankt Portugal heute
noch, und nur unter dem Minister Pombal (1750—1777), der mit starker Hand
England zurückdrängte, hoben sich wieder Handel, Industrie und Reichthum des
Landes und Lissabons.
Aber als 1807 die königliche Familie vor Napoleon nach Rio Janeiro
flüchtete, von wo sie erst 1821 zurückkehrte, und Portugal in der Zeit unter einem
englischen Landstatthalter stand, wurde das Land neuerdings den englischen Inter-
essen dienstbar gemacht. Im Jahre 1822 riss sich Brasilien vom Mutterlande los
und fügte dadurch dem Handel Lissabons unendlichen Schaden zu, der erst seit
einigen Jahren durch den gesteigerten Verkehr gut gemacht wird, den die Ent-
wicklung der portugiesischen Besitzungen in Westafrika mit sich bringt. Denn die
Portugiesen erinnern sich wieder der Thaten ihrer Vorfahren und bemühen sich,
die wirtschaftlichen Folgen des Methuen-Vertrages zu verwischen. Bei jedem
Handelsartikel Lissabons und Oportos ist man gezwungen, den einen oder den
anderen dieser beiden Sätze zu berücksichtigen. Aber man darf nicht vergessen, dass
die wirtschaftlichen Beziehungen Portugals und England so zahlreich sind, dass
eine rasche Aenderung der heutigen Verhältnisse einfach unmöglich ist.
Lissabon ist Portugals erster Hafenplatz; es vermittelt gut die
Hälfte des Verkehres des Königreiches und den ganzen Waarenumsatz
nach den portugiesischen Colonien. Mehr als zwei Fünftel der Einfuhr,
ein Viertel der Ausfuhr fallen auf den Verkehr mit England.
Frankreich behauptet nur in der Ausfuhr den Vorrang vor
Deutschland, und das auch nur dann, wenn es viel Wein braucht. In
der Einfuhr ist es aber bereits von Deutschland geschlagen, das
tüchtige Vertreter in Portugal hat und die Dampferverbindungen da-
hin vermehrt, um von dem Streite, der zwischen Portugal und Eng-
land wegen der portugiesischen Ansprüche auf das Land am Shire
in Ostafrika entbrannt ist, mehr Nutzen zu ziehen als Frankreich.
Bedeutend ist auch der Handelsverkehr mit Spanien.
Auch von fremden Ländern ausser Europa sind die Union und
das stammverwandte Brasilien hervorzuheben, wohin zahlreiche Portu-
giesen auswandern, um dann mit den dort gemachten Ersparnissen in
der Heimat ein Weingut zu kaufen.
Der Handel Lissabons (Münzen ausgenommen) betrug in Milreïs (1 Mil-
reïs = fl. 2·225 = 4·45 Reichsmark):
[539]Lissabon.
| [...] |
Das ist Alles, was die officielle Statistik Portugals über den Verkehr des
Hafens bringt, daher werden wir im Folgenden bei den einzelnen Waaren nur
Schätzungen geben können.
Bei der Beschreibung des Handels Lissabons halten wir uns an die An-
ordnung der officiellen Statistik und behandeln zunächst die Ausfuhr einheimischer
Producte.
Portugal hat nur wenige, aber werthvolle Artikel der Ausfuhr.
Bei der unnatürlichen Begünstigung, deren sich in Portugal der Weinbau
seit Jahrhunderten zu erfreuen hat, ist Wein der wichtigste derselben, trotzdem
der portugiesische Bauer zu jeder Tageszeit Wein trinkt und Kaffee erst Abends
geniesst. Für den Export kommt Estremadura, das Land zu beiden Seiten des
unteren Tejo mit seinem Hafen Lissabon besonders in Betracht. Ueber diesen
Hafen wurden beiläufig 1888 1·3 und 1887 1 Million hl Wein nach Frankreich
und Brasilien ausgeführt.
Dem Werthe nach folgen in der Ausfuhr Portugals Kork und Kork
waaren, für welche Lissabon der Haupthafen ist, weil die grössten Bestände der
Korkeiche im Süden Portugals sich finden.
Im Jahre 1887 führte das Land 235.979 q Kork (Werth 2·1 Millionen Milreïs)
und 28.585 q Korkfabricate (Werth 0·5 Millionen Milreïs) aus. Man nimmt an,
dass der angegebene Werth um die Hälfte zu niedrig ist. Die Ausfuhr geht nach
Deutschland und England, in die Union und nach Russland. Dieser Zweig der
Ausfuhr hat 1888 und 1889 ansehnliche Fortschritte gemacht.
Ueber Lissabon gehen ferner ein Theil der Ausfuhr getrockneter Feigen,
Zwiebel nach England, frische Trauben, Ananas und frühreife Kartoffel.
Das im Inlande in Menge erzeugte Oel ist nicht gut und wenig geeignet
zum Einlegen der Sardinen, wofür in Setubal und Algarve grosse Etablissements
bestehen.
Ueber Lissabon geht auch viel von dem ausgezeichneten Seesalze, das in
den Marinqas von Setubal, dem St. Yves der Engländer, gewonnen wird, nach
Nordeuropa und Brasilien. Nur dieses Salz verwenden die Holländer zum Ein-
pökeln der Häringe.
Von den Erzeugnissen der Industrie Portugals, wie Hüten und Schuh-
waaren, gehen nur mehr kleine Mengen nach Brasilien, weil jetzt in diesen Ar-
tikeln Deutschland den Markt beherrscht.
In der Einfuhr Portugals und daher auch Lissabons zum Verbrauche
nehmen Nahrungs- und Genussmittel die erste Stelle ein, denn fast die Hälfte
des Landes ist unbebaut; weit verbreitet ist noch der zur Römerzeit üblich
gewesene Pflug, das Korn lässt man durch Pferde und Ochsen ausstampfen, und
das Land wird in der Dreifelderwirthschaft unter Cultur genommen.
Das Hauptbezugsland für Weizen ist die Union (Einfuhr Portugals 1888
1,008.707 q, 1887 1,253.920 q), für Mais Rumänien und Marokko (Einfuhr 1888
125.896 q).
Man verwendet jetzt zum Transporte des Getreides aus Amerika meist nur
68*
[540]Der atlantische Ocean.
Dampfer. Durch hohe Einfuhrzölle fördert man den Anbau des Weizens in Por-
tugal und will die Müller zwingen, portugiesischen Weizen zu vermahlen, der sich
aber nicht für die Verarbeitung auf den modern eingerichteten Mühlen Portugals
eignet. Diese müssen oft den Betrieb einstellen, weil ihnen das Arbeitsmateriale
fehlt, und so ist es zu erklären, dass die Einfuhr von Weizenmehl in Portugal
1888 wieder auf 47.369 q gestiegen ist. Herkunftland ist die Union. Von der Ein-
fuhr von Getreide und Mehl kommen etwa vier Fünftel über Lissabon ins Land.
Grosse Bedeutung hat die Einfuhr von Zucker, der aus England, Deutsch-
land, Brasilien und Egypten kommt; von der Gesammteinfuhr (1887 257.333 q)
gehen drei Viertel nach Lissabon.
Die Einfuhr von Thee (1887 2810 q, Werth 0·5 Millionen Milreïs) aus
England und China ist wichtiger als die von Kaffee (1887 21.444 q), welchen
meist die portugiesischen Inseln S. Thomé und Principe liefern.
Da der Anbau des Tabaks, welcher seit 1888 Gegenstand eines Staats-
monopols ist, in Traz oz montes sich fortdauernd ausbreitet (1887 1,501.903,
1888 2,238.810 Pflanzen), so muss die Einfuhr sinken.
Bauholz kommt zu drei Vierteln aus Schweden und Norwegen, zu einem
Viertel aus Canada und Mobile, und war 1889 ziemlich theuer. Die meisten Fass-
dauben schickt Nordamerika; Einfuhr Portugals 1887 3·2 Millionen Stück.
Von thierischen Nahrungsmitteln sind in erster Linie Stockfische aus
England, Schweden und Norwegen zu nennen (1887 214.680 q, Werth 3·6 Millionen
Milreïs), ferner Butter aus Irland und Holland (1887 12.793 q), dessen Einfuhr
jedoch stetig sinkt.
Lissabon ist ein wichtiger Platz für die Einfuhr von rohen Fellen und
Häuten aus Brasilien und vom La Plata, für Baumwolle und für Flachs aus
Russland.
Cement kommt aus Frankreich, England und Deutschland, Petroleum
aus der Union, Steinkohle (1887 3·3 Millionen q) meist aus England.
Der Anlauf, den jetzt Portugal nimmt, um zu einer Industrie zu gelangen,
wird nicht so bald die Einfuhr ausländischer Industrieartikel besonders herab-
drücken.
Baumwollgarne und Stoffe sendet England, mit dem nur Frankreich
und Deutschland concurriren (Einfuhr in Portugal 1887 für 7·4 Millionen Gulden).
Auch in Schafwollstoffen dominirt Grossbritannien, nur in Shawls und
Wirkwaaren ist Deutschland voraus.
Seidenstoffe kommen aus Frankreich, Leder aus Deutschland und
Frankreich. Deutschlands Antheil an diesen Artikeln steigt.
Glas wird aus Deutschland, Frankreich und England eingeführt, mit Thon-
und Porzellanwaaren versorgen Frankreich, England und Deutschland den Markt
Portugals, so weit ihn nicht die Industrie Lissabons deckt.
Dass England hier auch in Eisen- und Eisenwaaren die erste Rolle spielt,
versteht sich von selbst, doch treten in Roheisen auch Schweden, Belgien und
Spanien, Deutschland in Eisendraht und Stahl in Mitbewerb.
Im Jahre 1887 wurden in Portugal 505.447 q Roheisen, 9447 q Stahl,
153.000 q Fabricate eingeführt, auch die Einfuhr von Industriemaschinen aus
England, Frankreich, Deutschland und Belgien ist ansehnlich.
Ueber Lissabon geht fast der ganze Reexport Portugals, den in die
portugiesischen Colonien ausschliesslich die nationale Flagge vermittelt. Der wich-
[[541]]
A Ankerplätze, B Zollamtsgebiet, C gemessene Seemeile, D Seearsenal, E Zollamt, F Leuchtfeuer, G Praça do Commercio, H Kathedrale, J Akademie der schönen Künste,
K Kirche S. Roque, L Kloster, M Eisenbahnstation, N Tabakfabrik, O Hospital Estephania, P Schlachthaus, Q Ost-Friedhof, R West-Friedhof, S Avenua da Liberdade,
T Arena, U Praça D. Pedro IV., V Palacio das Cortes, W Kirche von Estrella, X Augusta-Strasse, 1, 3, 4 Docka de Mares (Bassin), 2 D. de Fluctuacion.
[542]Der atlantische Ocean.
tigste Artikel dieses Handels sind Baumwollgewebe, meist englischen Ursprungs,
bestimmt für Angola und die portugiesischen Inseln im Westen Afrikas. Diese
Wiederausfuhr des Königreiches erreichte 1887 17.153 q, Werth 1·9 Millionen
Gulden.
Grössere Werthe repräsentiren noch englische Steinkohlen, Cement und rohe
Metalle.
Von Nahrungsmitteln sind hervorzuheben Stockfische, die von hier nach
Brasilien und Westafrika gehen, umgekehrt gehen aus den westafrikanischen
Besitzungen über Lissabon nach Deutschland und England: Cacao (1886 16.619 q)
von S. Thomé und Principe, Kaffee (1887 36.751 q) von Angola, Borracha
(1887 7318 q, Werth 1·6 Millionen Gulden) und Wachs (7166 q, Werth 0·6 Mil-
lionen Gulden).
In Lissabon werden Reis und Fischöle umgeschifft, im internationalen
Transito sind Barrensilber (1887 22.455 kg), Schafwoll- und Baumwollstoffe aus
England, und deutsche Glaswaaren, alle nach Spanien bestimmt, die wichtigsten
Artikel.
Für diesen Theil des Handels sind Porto, Huelva und Cádiz als Con-
currenten für Lissabon nicht ungefährlich.
Bei der günstigen Weltstellung Lissabons ist der Schiffsverkehr
verhältnissmässig viel bedeutender als der Handel. Lissabon ist aber
der am meisten gegen Südwest vorgeschobene grössere Hafen, welcher
die Schiffe aller Nationen zwingt, hier die letzte europäische Post
einzunehmen, oder wenn sie gegen Europa steuern, abzugeben. Man
braucht nur in Lissabon spazieren zu gehen und alle die Papageien
und Affen zu sehen, die an den Fenstern der Privatwohnungen spielen,
man braucht nur die vielen sonnverbrannten Creolen und die Neger
zu betrachten, um zu erkennen, dass man sich in einem Hafen bewegt,
dessen nächste Station jenseits des Weltmeeres liegt.
Schiffsverkehr Lissabons:
| [...] |
Der Gesammtverkehr des Jahres 1888 war etwas grösser als der von 1887.
Die Küstenfahrt beider Kategorien ist den portugiesischen Schiffen vorbehalten.
Im auswärtigen Verkehr spielt sie nur eine kleine Rolle; hier ist die wichtigste
Flagge die englische, auf sie folgen die deutsche, die französische, dann die
Schwedens und Norwegens. Im auswärtigen Verkehr ist auch die Schiffahrt der
„delegaçoes“ von Lissabon enthalten, auf die etwa 160.000 Tons entfallen.
Als die für den überseeischen Verkehr wichtigsten Dampfschiffslinien sind
folgende zu nennen:
Die Empresa Insulana de Navegaçao verbindet Lissabon mit den Azoren
und mit Madeira.
[543]Lissabon.
Die Empresa nacional besorgt über Madeira die Verbindung Lissabons mit
den portugiesischen Besitzungen an der Westküste Afrikas bis Mossamedes.
Der gesteigerte Verkehr mit Portugiesisch-Westafrika führte 1889 zur Er-
richtung einer neuen Linie, der von der Regierung subventionirten „Mala Real
Portuguesa“, die ihre Fahrten um die Südspitze Afrikas herum über Laurenço
Marques hinaus auf das ganze portugiesische Ostatrika ausdehnt.
Auch eine französische Gesellschaft, die Chargeurs réunis, geht von Bor-
deaux über Dakar längs der Westküste Afrikas bis Mossamedes.
In Lissabon laufen die Union Steam Ship Cy. und die Castle Mail Packets
Cy. auf ihren Fahrten von England nach dem Caplande an, wie auch die in
Hamburg neu errichtete „Deutsche Ostafrikalinie“.
Die zahlreichsten Verbindungen bestehen mit Brasilien. Seit 4. März 1890
geht Mala Real Portuguesa von Lissabon nach Brasilien. Lissabon ist ferner
Station der Messageries maritimes auf ihren Linien von Bordeaux über Dakar in
Senegambien nach Brasilien und an den La Plata, der Royal Mail Steam Packets
Cy. (Southampton—Buenos Ayres), der Hamburg-südamerikanischen Dampfschiffahrts-
Gesellschaft und des Norddeutschen Lloyd (Bremerhaven—Antwerpen—Santos)
und endlich der Chargeurs réunis (Hâvre—Santos).
Mit der Ost- und Westküste Südamerikas endlich ist Lissabon durch die
Pacific Steam Navigation Cy. (Liverpool—Bordeaux—Callao) verbunden.
Neben diesen Linien besorgen den Verkehr mit europäischen Hafenplätzen
noch die Linie „Slomann“ (Hamburg—Messina), der „Atlas“ (Hamburg—Marokko),
die „Oldenburg-portugiesische Dampfschiffs-Rhederei“ (Hamburg-Brake), der
„Neptun“, die „Hall-Line“ (London—Malaga) und eine Reihe französischer Unter-
nehmungen.
Lissabon ist Endpunkt einer wichtigen internationalen Schnellzugslinie Euro-
pas, welche die Post des nördlichen Europas über Bordeaux, Medina, Madrid nach
Lissabon bringt, eine zweite kürzere Verbindung besteht über Coimbra—Salamanca.
Diese letztere vermittelt neben einer zweiten Linie den Verkehr Lissabons mit
dem Norden Portugals, und von Barreiro, auf der Südseite des Tejo, geht eine
Eissenbahn nach Faro.
Auch eine der wichtigsten Kabelstationen Europas ist Lissabon, weil hier
die Eastern Telegraph Cy. landet, welche über Egypten den englisch-indischen
Verkehr besorgt, und die zwei Kabel der Brazilian Submarine Telegraph Cy. über
Madeira und St. Vincent nach Pernambuco ihren Ausgang nehmen. In St. Vincent
ist Anschluss mit der Westküste Afrikas.
Lissabon ist Sitz einer Börse und der erste Bankplatz Portugals.
Consulate haben in Lissabon: Argentinien (G.-C.), Belgien, Bolivia (G.-C.),
Brasilien (G.-C.), Chile, Columbia, Costarica (G.-C.), Dänemark (G.-C.), Deutsches
Reich, Dominikanische Republik (G.-C.), Ecuador, Frankreich (G.-C.), Griechen-
land (G.-C.), Grossbritannien, Guatemala (G.-C.), Hawaï, Italien, Liberia, Mexiko
(V.-C.), Monaco (G.-C.), Niederlande (G.-C.), Nicaragua (G.-C.), Oesterreich-Ungarn
(G.-C.), Peru (G.-C.), Russland (G.-C.), Salvador, Schweden und Norwegen (G.-C.),
Schweiz (G.-C.), Siam, Spanien (G.-C.), Südafrikanische Republik (G.-C.), Türkei,
Uruguay (G.-C.), Venezuela, Vereinigte Staaten von Amerika.
[[544]]
Porto.
Während der maurischen Herrschaft hatte sich Porto, auch
Oporto genannt, zu grosser Wichtigkeit erhoben, als Almansor von
Cordoba die Stadt im Jahre 820 zerstörte.
Erst 999 wurde sie durch eine gallische Expedition wieder auf-
gebaut und bevölkert. Portus Gallorum ward die neue Gründung ge-
nannt, von welchem Namen einige Historiker jenen Portugals ableiten
wollen.
Porto führt übrigens den officiellen Beinamen: „Leal e invicta
cidade“ (loyale und unbesiegte Stadt) und könnte wegen seiner vielen
mit Kamelien geschmückten Gärten die Kamelienstadt heissen. Mit
seinen 120.000 Einwohnern ist es die zweitgrösste Stadt Portugals.
Seine Lage ist überaus malerisch. An den steilen Abhängen eines
Höhenzuges baut sich am rechten Ufer des Douroflusses die Häuser-
masse bis zu einer Höhe von nahezu 100 m sehr effectvoll auf. Zahl-
reiche Kirchen, darunter die Kathedrale, dann auch der 64 m hohe
Torre dos Cleriges, der zweithöchste Thurm Portugals, treten beson-
ders hervor. Letzterer wurde 1779 auf Kosten der portugiesischen
Geistlichkeit aufgeführt und bietet als kostspielige Landmarke gewiss
mehr Interesse, als er es vermöge seiner architektonischen Gestaltung
beanspruchen könnte.
Das Hafenbild erhält durch den pittoresken Hintergrund der
formreichen Bauwerke der Stadt einen ganz besonderen Reiz.
Beiderseits von steilen Höhen begleitet, windet sich tief unten
der mit Schiffen aller Nationen und Booten jeder Grösse bedeckte
Douro dem Meere zu. Ostwärts schwingt sich der wundervolle Bau
der Brücke Dom Luiz I. 60 m hoch über dem Ebbestande des Flusses
von der Stadt zum gegenüberliegenden Kloster da Serra de Pilar (N),
und 1300 m flussaufwärts überquert ihn eine imposante Eisenbahn-
brücke.
Die Luiz-Brücke wurde am 1. November 1886 dem Verkehr
[545]Porto.
übergeben, nachdem ihr Bau eine Zeit von fünf Jahren beansprucht
hatte. Die Brücke hat ein Doppelniveau. Oberhalb verkehren die
Tramway und Fussgänger, 10 m tiefer nur Fussgänger. Zum Baue
wurden 3300 t Eisen und Metall verwendet.
Wenngleich Porto einen durchwegs commerciellen Charakter be-
sitzt, so ist es doch auch vermöge seiner lebhaften geistigen Bestrebun-
gen und historischen Erinnerungen eine sehr interessante Stadt, die
Porto.
über sehenswerthe Sammlungen, wissenschaftliche Anstalten und eine
reichhaltige Bibliothek verfügt.
Ebenso ist dem edleren Vergnügen durch den Bestand einiger
guten Theater und hübschen Promenaden Rechnung getragen. Zu den
besuchtesten der letzteren zählen die schönen, mit subtropischen
Pflanzen gezierten Anlagen, welche den Krystallpalast umgeben. Von
der Terrasse des Parks geniesst man einen prächtigen Ausblick auf
die reizende Scenerie, welche die Umgebung bietet.
Westlich des Parkes und von diesem durch einen tiefen Einriss,
Entre Quintas genannt, getrennt, schimmern im dunklen Grün zauber-
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 69
[546]Der atlantische Ocean.
voller Gärten einladende Landhäuser und Villen. Riesige Magnolien
und Tulpenbäume streben hier mit mächtigen Kronen empor.
In einer dieser Villen starb der unglückliche König Karl Albert
von Sardinien, dessen Andenken seine Schwester, die Prinzessin von
Montlear, durch Errichtung einer kleinen Capelle im Parke des Kry-
stallpalastes geehrt hat.
In vergangener Zeit zählte Porto bei 80 Kirchen und Klöster;
seither büsste die Stadt den ausgeprägt kirchlichen Charakter ein,
und es bestehen heute nur mehr verhältnissmässig wenige Kirchen.
Sehenswerth ist die aus Granit aufgeführte Kathedrale, ein ehrwür-
diges Bauwerk, welches, mehreren Stylarten angehörend, an der Stelle
eines antiken Castells der Sueven entstanden ist und manche Sehens-
würdigkeiten enthält.
Einzelne Kirchen, wie die dem S. Martinho de Codofeita geweihte
(XII. Jahrhundert), entstammen weit vergangenen Zeiten und sind be-
sonders für Architekten sehenswerth.
Das prächtigste Gebäude der Stadt ist der Börsepalast (Palacio
da Bolsa), welcher über Räumlichkeiten von solcher Ausdehnung
verfügt, dass in demselben 1861 die grosse Ausstellung abgehalten
werden konnte. Der schöne Ballsaal ist im Style der berühmten Al-
hambra decorirt.
Die Strassen und Gassen der Stadt sind meist steil und vielfach
gewunden, die Anlage von Treppenfluchten ist des Terrains wegen
an vielen Stellen nicht zu umgehen gewesen. Indes verdienen ein-
zelne in neuerer Zeit regulirte Strassen das Interesse des Besuchers,
so die hübsche von palastartigen Häusern mit vergoldeten Balconen ein-
gefasste Rua Infante D. Henrique, gewöhnlich als Rua dos Inglezes
bekannt, eine der Hauptverkehrsadern der Stadt. In der breiten Rua
das Flores, die eigentlich Goldschmiedgasse heissen sollte, haben sich
ausschliesslich nur Goldarbeiter angesiedelt, welche die berühmten
Goldfiligranarbeiten von Porto erzeugen und in reicher Auswahl in
den Schaukästen exponiren.
Gegenüber von Porto ist die Vorstadt Villa Nova de Gaya ent-
standen, wo die Weinhändler ihre grossartigen Lager und Kellereien
erbaut haben. Mindestens 200 grosse Weingeschäfte, darunter 50
englische Häuser, besorgen von hier aus den Vertrieb der Weine
vom oberen Douro (circa 300.000 hl). Zumeist geht derselbe nach Eng-
land und Brasilien. Dort liegt auch das uralte Gaya, die Pflanzstadt
von Porto mit 8000 Einwohnern, eine schmutzige Vorstadt, welche die
Ehre in Anspruch nimmt, Portugal den Namen gegeben zu haben.
[547]Porto.
Allerdings konnte aus Portus Cales leicht Portugal entstehen, doch
ist die Ableitung aus Portus Gallorum, deren wir Eingangs Erwähnung
thaten, ebenso berechtigt.
Ganz an der Mündung des Douro liegt am rechten Ufer die
Hafenstadt S. Joao de Foz, welche mit Porto durch eine Dampf-
tramway verbunden ist und sich als herrlicher Badeort grosser Be-
liebtheit erfreut.
Vom Hafen aus überblickt man die ausgedehnte Sandbarre des
Douro (Banco da Barra), auf welcher schon so manches Menschen-
leben verloren ging. Eine der entsetzlichsten Katastrophen ereilte am
29. März 1852 einen der zwischen Porto und Lissabon verkehrenden
Dampfer, welcher, auf die nahen Riffe geschleudert, mit 60 Personen —
vor den Augen der entsetzten Zuschauer am Lande — förmlich zertrüm-
mert worden war. Seit diesem Unglücksfalle organisirte sich in Foz
eine Rettungsgesellschaft. Die Barre, auf welcher man oft fünf bis
sechs Schiffe gestrandet erblickt, hat nur 3·6 m Wassertiefe im Ma-
ximum und bei Springflut ungefähr 6·3 m, sie kann daher nur von
kleinen Schiffen bis zu 600 Tonnen Gehalt übersetzt werden. Bei
stürmischer Witterung und Seegang bildet die Barre aber ein ernstes
Hinderniss, welches den Seeverkehr vollends unterbindet. Es ereignet
sich oft, dass angekommene Schiffe tagelang die See halten müssen,
bevor selbe die Bank übersetzen und einlaufen können.
Eine Flussregulirung durch den Bau parallel laufender Dämme
ist projectirt. Man beabsichtigt, durch die Eindämmung des Douro
eine schärfere Strömung zu erzielen, durch welche die Barre mit der
Zeit entweder beseitigt oder doch bedeutend vertieft werden würde.
Neuestens hat der 5 km nördlich von Foz gelegene Hafenort
Mathosinhos die Aufmerksamkeit der portugiesischen Regierung auf
sich gezogen, und ist dort ein grosser Kunsthafen im Baue, welcher
bei Benützung einer parallel zur Küste laufenden Kette von Riffen
durch den Zubau von langen Wellenbrechern einer der grössten Eu-
ropas zu werden verspricht.
Französische und belgische Ingenieure sind die Erbauer, und
wird der Bau, welcher 1890 beendigt sein soll, mehr als 40 Millionen
Gulden an Baukosten erfordern.
Der Hafen, dessen officieller Name Leixões ist, wird den grössten
Seeschiffen Zugang gewähren und dürfte in kurzer Zeit die Bedeutung
von Porto herabdrücken. Mit Mathosinhos wird das Hafengebiet durch
einen Canal und eine Eisenbahn verbunden werden
69*
[548]Der atlantische Ocean.
Mathosinhos besitzt ein wunderthätiges Madonnenbild, zu dem
jährlich bei 30.000 Pilger wallfahren.
Porto ist der zweite Handelsplatz von Portugal und der Aus-
fuhrhafen des weltberühmten Portweines, dessen Heimat etwa 80 km
stromaufwärts von der Stadt, an den felsigen Ufern des Douro, in der
Landschaft Paiz do Vinho, mit dem Mittelpunkte Villa Real liegt.
Den meisten Portwein produciren Grossgrundbesitzer, wie die Vicom-
tesse d’Alpendura, der Vicomte de Villaverda u. A.
Nachdem der Wein zwei Gährungen durchgemacht hat, führt man ihn auf
Barken den Douro hinab in die hohe Schule der Weinhändler von Porto und Villa-
Nova, die ihn nicht etwa in Kellern, sondern in langen, aus Backsteinen erbauten und
mit Dachpappe gedeckten luftigen Schuppen aufbewahren. Hier, wo selbst
bei der grössten Hitze die Temperatur nicht über 19°C. steigt, empfängt der
Portwein seine eigentliche Ausbildung, welche grosse Sorgfalt und Sachkenntniss
verlangt. Denn der junge Wein, der in den Niederlagen ankommt, ist fast ge-
schmacklos und mehr einem Beerensafte als einem Weine, ähnlich. Erst nach fünf
Jahren wird er trinkbar und erreicht im 50. Jahre seinen Höhepunkt. In den Nieder-
lagen von Porto sind 100- und 120jährige Weine keine Seltenheit.
Die erste Pipe (à 500 l) Portwein soll ihm Jahre 1678 ins Ausland verschifft
worden sein, den Höhepunkt aber erreichte die Ausfuhr erst 1799 mit 57.000
Pipen durch die Thätigkeit der von Pombal 1757 gegründeten Alto Duoro Cie.,
welche bis 1833 bestand.
In unserem Jahrhunderte sank die Ausfuhr beständig. Man half sich
1833—1843 ohne Compagnie und liess sie in den Jahren 1843—1867 wieder auf-
leben, ohne einen besonderen Erfolg zu erzielen. Die Compagnie hatte das Ver-
dienst, dass nur guter Wein ausgeführt worden, weil ohne ein Bilhete der Gesell-
schaft, das heisst ohne eine Bescheinigung der Güte des Weines, kein Tropfen ins
Ausland geführt werden durfte. Aber jeder Weinbauer war auch ohne Gnade der
Gewalt dieser Gesellschaft ausgeliefert und mit den Bilheten wurde in Oporto
Handel getrieben, wie mit Eisenbahnactien an der Börse. Die im Jahre 1889 von
Seite der Regierung an eine neue Compagnie ertheilte Concession begegnete dem
heftigsten Widerstande in Porto.
Die Ausfuhr hat sich unter der Freiheit des Handels seit 1867 neuerdings
gehoben und erreichte in den-letzten Jahren folgende Höhe: 1888 269.277 hl,
1887 281.320 hl (Werth 5·2 Millionen Milreïs), 1886 401.400 hl.
Ausser Portwein gehen über Porto noch 100.000—130.000 hl gewöhnlicher
Weine nach Brasilien und Frankreich.
Der Portwein ist ein Weltwein im wahren Sinne des Wortes. In England
war die Vorliebe für ihn ehedem so gross, dass man unter einem „Glase Wein“
nur „Port“ verstand; die Engländer kauften die schönsten Weinlagen am Douro
auf und bis jetzt war auch das ganze Weingeschäft in englischen Händen; neuer-
dings machen ihnen deutsche Firmen erfolgreiche Concurrenz. Mit den Engländern
ist er über die ganze Welt verbreitet und überall zu finden, wo sie anzu-
treffen sind.
London ist daher noch heute der bedeutendste Markt für Portwein. Grössere
Mengen gehen auch nach Brasilien (1887 65.269 hl) und Deutschland (27.290 hl),
[[549]]
A Vorhafen, B B1 neue Hafendämme, C Wasserstrasse, D Contareirastrasse, E Sobreirasstrasse, F Leuchtfeuer, G Rettungsbootstation, H Praia da Fonte Nova, J Kathedrale, K Krystall-
palast, L Eisenbahn-Station, M Friedhof, N Serra-Kloster. — Leuchtfeuer Folgueiras: 41° 9′ n. und 8° 40′ w. v. Gr.
[550]Der atlantische Ocean.
Porto verschickt Erdbeeren in ganzen Ladungen nach Lissabon und Eng-
land, Hollunderbeeren in die Centren des französischen Weinhandels und andere
Gartenfrüchte.
Viel wichtiger sind aber die Ochsen, welche von hier nach England gehen,
und Schafwolle, denn in Entre Douro e Minho finden sich reich bewässerte Weide-
gebiete, und die Einwohner sind ein fleissiger Menschenschlag. Bedeutend ist
auch die Ausfuhr von Korkholz, Stöpseln und Erzen.
In der Einfuhr sind hervorzuheben Zucker (ein Drittel der Einfuhr
Portugals), Weizen für die Dampfmühlen der Stadt, Mehl, dann Reis, der fast
nur über Porto nach Portugal gelangt. Bedeutend ist auch die Einfuhr von
Thee, dann von Tabak, für die grosse Tabakfabrik in Porto bestimmt; Fassdauben
kommen zum Theile über Lissabon, die sehr grosse Einfuhr von Stockfischen
findet aber direct statt.
In Porto und Umgebung bestehen vier Baumwollfabriken, daher landet
hier der grössere Theil der etwa 50.000 q betragenden Einfuhr Portugals an Baum-
wolle; der industriellen Bedeutung der Stadt entsprechend erreicht die Kohlen-
einfuhr mehr als 1·1 Million q.
In Porto erwartet man als Folge der Bahnverbindung mit Spanien eine
Steigerung der internationalen Durchfuhr nach diesem Lande.
Der Handel Portos betrug in Milreïs:
| [...] |
Der Schiffsverkehr von Oporto betrug:
| [...] |
Im auswärtigen Verkehre ist auch die unbedeutende Schiffsbewegung der
„delegaçoes“ von Porto enthalten.
Die portugiesische Flagge besorgt fast nur den geringen Küstenverkehr;
den auswärtigen Verkehr beherrschen die englische, die deutsche, die französische,
die schwedische und norwegische Flagge. Regelmässige Verbindungen mit Porto
unterhalten der „Neptun“ aus Bremen, die Oldenburg-portugiesische Dampfschiff-
Rhederei aus Hamburg und Brake, der „Atlas“ mit Hamburg, Antwerpen und
Marokko und die Gesellschaft Coverley und Westray.
Porto ist Station der Eisenbahn, welche das nördliche Portugal mit
Lissabon verknüpft, und besitzt nach Osten über Medina Anschluss an die grosse
internationale Linie Irun— Madrid—Lissabon.
In Porto besteht eine Börse.
Consulate haben hier: Argentinien, Belgien, Bolivia, Brasilien (G.-C.),
Dänemark, Deutsches Reich, Dominikanische Republik, Ecuador, Grossbritannien,
Guatemala, Hawaii, Italien, Mexiko (V.-C.), Nicaragua, Paraguay, Peru, Spanien,
Türkei, Uruguay, Venezuela, Vereinigte Staaten von Amerika.
[551]Porto.
An der Westküste der iberischen Halbinsel muss unter den
durch herrliche Lage und Reichthum an Naturproducten ausgezeich-
neten Orten Spaniens die anmuthig an einem tief ins Land reichenden
Fjord unter 42° 12′ nördl. Breite gelegene Stadt Vigo genannt
werden.
Obgleich sie nur 13.200 Einwohner zählt, hat ihr Handel in der
letzten Zeit einen namhaften Aufschwung genommen. Gleich wie
Coruña ist sie einer der Hauptpunkte der spanischen Viehausfuhr
nach London, die stark unter der Concurrenz der Union zu leiden hat.
Vigo, ein uralter Hafenplatz und Endpunkt einer Eisenbahn-
linie, breitet sich zwischen blumengeschmückten Gärten und Bosquets
höchst effectvoll am Südufer des Rias (Fjord) aus.
Zu Füssen der hochgelegenen Altstadt ist eine neue Stadt mit
hübschen Häusern und Strassen entstanden. Die Kastelle San Se-
bastian und Del Castro krönen die Höhen im Rücken der Stadt. Von
den Wällen des letztgenannten ist ein prächtiges Panorama über die
weite Einbuchtung mit ihrem fruchtbaren, malerisch bewegten Küsten-
saum, an welchem allenthalben Ortschaften und Gehöfte uns entgegen-
schimmern, zu geniessen.
Im Hafen von Vigo haben die Engländer mit 25 Schiffen die spanische
Silberflotte angegriffen und zerstört (1585). Acht mit Silberbarren geladene
Galeonen und 12 französische Schiffe gingen bei dem Kampfe unter, und andere
11 Schiffe wurden erbeutet. Viele Abenteurer versuchten, nach den versenkten
Schätzen zu tauchen, ja selbst ganze Unternehmungen wurden organisirt, aber die
„purpurne Tiefe“ verwahrt noch heute und wohl für alle Ewigkeit das kost-
bare Gut.
Im nordwestlichsten Theile der spanischen Küste haben drei
tief eingerissene Rias eine herrliche Bai gebildet, der es jedoch an
einem gemeinsamen Namen gebricht. Gegen Süden dehnt sich der
Ria von Coruña, gegen Südosten das weite Wasserbecken des Ria
von Betanzo, endlich gegen Osten der Ria von Ferrol. Von den
Städten, welche den erwähnten Rias die Namen geben, beansprucht
Coruña das meiste Interesse.
Die Stadt ist eine phönikische Gründung, die in der Folge unter die
Herrschaft der Römer gerieth und unter dem Namen Ardobicum Corunium bekannt
geworden war. Den heutigen Namen leiten einige von Columna ab, das ist der
phönikische Leuchtthurm, der jetzt Herculesthurm genannt wird und am Eingang
zum Hafen sich erhebt. Trajan liess das Bauwerk ausbessern.
Die Stadt liegt malerisch an der herrlichen Bucht, deren Ein-
gang (Boca del Porto) die Forts San Anton und Santa Cruz be-
herrschen; andere Befestigungen nehmen die Seefront der Stadt ein.
Coruña besitzt einige sehenswerthe Kirchen, unter welchen jene von
[552]Der atlantische Ocean.
Santiago aus dem XII. Jahrhundert, die Colegiata de la Santa Maria
del Campo aus dem XIII. Jahrhundert stammen.
Man unterscheidet die obere und die untere, die alte und die
neue Stadt. Die letztgenannte, La Pescaderia, einst ein von Fischern
bewohnter Vorort, ist gegenwärtig das elegante Quartier von Coruña,
dessen schönste Strasse, die Calle Real, und baumgezierte Marina zu
den beliebtesten Promenaden der liebenswürdigen Bevölkerung zählen.
Coruña war im Laufe der Zeit manch hervorragende geschichtliche Rolle
zugefallen. Von hier segelte die unbesiegbare Armada am 26. Juli 1588 zur Er-
oberung und Romanisirung Englands ab, um grösstentheils in sturmbewegten
Fluten ein jähes Ende zu finden.
Im April 1589 bemächtigten sich Drake und Norris mit einer englischen
Flottenabtheilung und 1200 Mann Landungstruppen der Stadt.
Während der französischen Occupationen von Spanien erschienen hingegen
die Engländer (October 1809) unter Sir David Baird, 6000 Mann stark, zur Unter-
stützung der spanischen Sache. In einer brillanten Affaire auf den Höhen von
Elvira nächst Coruña wurde Soult’s mit überlegenen Kräften geführter Angriff
durch Moore abgewiesen (16. Jänner 1809). Es war der letzte harte Kampf
zwischen Engländern und Franzosen auf der iberischen Halbinsel.
Coruña, die Hauptstadt der Provinz Galicia, zählt 37.000 Ein-
wohner.
Eine grosse Tabakfabrik (La Palloza), in welcher mehr als
300 Frauen und Mädchen beschäftigt werden, liegt in der Vorstadt
Santa Lucia.
Coruñas Handel ist für spanische Verhältnisse bedeutend, denn 1888 wurden
im auswärtigen Handel wohl nur um 10,397.417 Pesetas Waaren eingeführt und
um 6,657·874 Pesetas ausgeführt, aber im Wege des Küstenhandels erreichte die
Einfuhr 23,932.140, die Ausfuhr 20,892.027 Pesetas.
Lebendes Vieh, bestimmt für England, und Spitzen sind die Hauptartikel
der Ausfuhr ins Ausland. An der Einfuhr aus dem Auslande sind gesalzene und
Stockfische, Zucker, rohe Häute aus Südamerika, Steinkohlen, Petroleum und
englische Baumwollwaaren am stärksten betheiligt.
Der Schiffsverkehr umfasst etwa eine Million Tons, weil diesen günstig
gelegenen Platz die Cie. Générale Transatlantique auf ihrer Linie Havre-Bordeaux-
Havaña und die Compañia transatlantica auf der Linie Santander-Havaña anlaufen,
während der Norddeutsche Lloyd und die Messageries maritimes auf ihren La
Plata-Fahrten abwechselnd hier und in Vigo anlegen. Diese Gesellschaften, zu
denen noch die Royal Mail kommt, verdienen viel durch die starke Auswande-
rung, welche von Galicien an den La Plata, nach Brasilien und Havaña gerichtet
ist. Im Jahre 1889 zählte Coruña allein 19.254 Auswanderer, ungerechnet die
Plätze Vigo und Carril.
El Ferrol, eine Schöpfung Karl III., hat als Kriegshafen nur
militärische Bedeutung. Die in reizender Umgebung gelegene Stadt
hat 22.500 Einwohner.
[[553]]
Santander.
Gewaltig brandet die oceanische See an der nördlichen Steil-
küste Spaniens, die in wildromantischer Gliederung zu dem gewal-
tigen Randgebirge der cantabrischen Kette aufsteigt, deren im Sonnen-
glanze leuchtende Schneehäupter dem Seemanne schon von weiter
Ferne sichtbar werden.
Die Küstenformation, die wenigen, aber bei Sturm schwer anzu-
laufenden Häfen, dann die ebenfalls hafenlose Flachküste von Frank-
reich, welche im östlichsten Theile des Golfes von Viscaya senkrecht
abbiegt, gestalten die Navigationsverhältnisse im Cantabrischen Meere
sehr ungünstig. Die hier mit ungeheurer Gewalt wüthenden West-
und Nordweststürme wälzen enorm hohe oceanische Wogen vor sich
her und zwingen jene Schiffe, welche die See nicht mehr zu halten
vermögen, in einem der wenigen Häfen an dieser 550 km langen
Küstenstrecke Schutz zu suchen, ein Unternehmen, welches Segel-
schiffen schon oft den Untergang brachte.
Von Ferrol bis zur französischen Grenze gibt es eigentlich nur
die Häfen von Santander, Santona und Passages (östlich von San
Sebastian), welche Schiffen in solchen Fällen Zuflucht gewähren.
Nach Ausbau der äusseren Wellenbrecher bei Portugalette
(Bilbao) wird auch dort ein gesicherter Hafen entstanden sein. Ein
Blick auf die Karte sagt uns aber, dass die genannten Häfen nur
im östlichsten Theile des Cantabrischen Meeres auf einer Strecke von
170 km liegen, während der ganze westliche Verlauf von Santander
an bis Cap Ortegal (380 km) hafenlos verlauft. Diese Umstände machen
es wohl klar, warum die Nordküste von Spanien besonders bei der
Segelschiffahrt arg verrufen ist.
Bei Santander ebenso wie bei den anderen Häfen bricht die
See bei West- und Nordweststürmen mit solcher Gewalt an der
Einfahrt, dass Segelschiffe oft die Steuerkraft einbüssen und schliess-
lich stranden.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 70
[554]Der atlantische Ocean.
Deshalb ist es in solchen Fällen rathsam, die See zu halten
bis das Wetter ausgetobt hat.
Muss aber ein Segler um jeden Preis einlaufen, weil er dem
Sturme nicht mehr zu widerstehen vermag, so wählt er bei San-
tander die schmale Einfahrt zwischen der Felseninsel Mouro und
dem Festlande, luvt knapp unter Pt. del Puerto an und ankert so-
gleich, wenn er aus den Bereich der brechenden Wellen gekommen
ist. Bei solchen Gelegenheiten soll mit dem günstigen Flutstrom
eingelaufen werden, denn der hinausführende Ebbestrom würde das
Schiff unfehlbar auf die gefährliche Quebrantas-Bank (siehe unseren
Plan) treiben.
Von der Gewalt der furchtbaren Roller auf dieser Bank zeugt
die Thatsache, dass ein daselbst gestrandetes Schiff, die italienische
Bark „La Pace“ von 900 t Gehalt in der Zeit von einer Stunde gänz-
lich zertrümmert war und nur einzelne Spantengruppen von dem
Schiffe sichtbar blieben. Von der Bemannung konnten nur zwei Mann
gerettet werden.
Jeder Winter häuft an dieser Küste eine beträchtliche Zahl
von Schiffsverlusten und tausende braver Seeleute haben hier das
nasse Grab gefunden. Der Hafen selbst gehört aber seiner Grösse
und Sicherheit wegen zu den spanischen Häfen erster Classe.
Santander, in welcher Stadt man den Portus Blendium der
Römer vermuthet, ist sowohl der herrlichen Lage wegen als auch
seiner modernen schönen Anlage nach eine der schönsten Städte
Spaniens, wobei nicht unerwähnt bleiben kann, dass Santander, ähn-
lich wie Barcelona, gerade durch die modernen Bauten, wie die
ganze Quaifront, weit mehr das Aussehen einer französischen als
einer spanischen Stadt hat. Santander lagert anmuthig an der Süd-
seite einer Halbinsel, welche den fjordartig eingerissenen, aber ver-
sandeten und nur von Wasseradern durchzogenen Ria (Fjörd) gleichen
Namens bildet. Ein etwa 70 m hoher Hügelzug dessen gartenbedeckte
Abhänge reizende Villen zieren, deckt Stadt und Hafen gegen die ge-
fürchteten Nordwest- und Weststürme. Von jenen Höhen aus über-
blickt man den von steilen Ufern eingefassten Plan des Ria in seiner
ganzer Ausdehnug.
Im Nordosten schimmert die helle Sandfläche der Playa del
Sardiniero, ein köstlicher Badestrand mit kräftigstem Wellenschlag.
Dort entstand eine ganze Colonie von Hôtels, Badehäusern und an-
deren dem Comfort dienenden Gebäuden. Hieher und zum Leucht-
feuer an den Pt. del Puerto führen hübsche Promenaden, welche
[555]Santander.
im Vereine mit der Alameda primera nnd secunda die beliebtesten
und besuchtesten der Stadt sind. Die letztere bietet eine grossartige
Aussicht über die Bay, das Meer und die abgrenzende Gebirgskette
gegen Süden.
Ein zweiter Badestrand besteht an der Playa Magdalena west-
lich der Puerto-Spitze, jedoch ist dieser Platz bestimmt, einen Theil
der Hafenanlagen aufzunehmen, welche zum Schutze und zur Be-
quemlichkeit der ladenden und löschenden Schiffe in Ausführung be-
griffen sind. Von diesen Bauten gibt unser Plan eine übersichtliche
Darstellung.
Die Stadt liegt unter 43° 38′ nördl. Br. und 3° 48′ w. v. Gr.,
es gedeihen hier die Orange und Limonie äusserst üppig im Freien
und bilden einen immergrünen Schmuck der anmuthigen Umgebung
der Stadt.
Santander zählt 42.000 Einwohner und ist der Sitz der Pro-
vincialbehörden, eines Weihbischofs von Burgos und einer Schif-
fahrtsschule.
Von hier aus segelte die Flotte des heiligen Ferdinand (1248) zur Blockade
von Sevilla ab, hier landete Karl V. am 16. Juli 1522, um von Spanien Besitz zu
ergreifen, von diesem Hafen aus kehrte Karl I. von England nach seinem roman-
tischen Besuche von Madrid in seine Heimat zurück. Bei seiner Einschiffung (1623)
entging er mit knapper Noth dem Tode des Ertrinkens.
Im Jahre 1753 wurde Santander zu einem puerto habilitado, das ist einem
für den Handel mit Südamerika befugten Hafen ernannt, und zwei Jahre später
erhielt es den Titel einer Stadt (ciudad).
Ueber die Stadt selbst ist nicht viel zu berichten, doch ist die
in gothischem Style aufgeführte Kathedrale, namentlich deren effect-
voll ornamentirte Krypta sehenswerth. Dort werden die Häupter der
beiden um das Jahr 300 n. Ch. enthaupteten Märtyrer S. Emeterio und
S. Celedonio als kostbare Reliquien aufbewahrt. Das Baptisterium ist
arabischen Ursprunges und dürfte von Andalusien, vielleicht von
Sevilla herrühren.
In dem aufgelassenen Kloster de Santa Cruz ist gegenwärtig
eine Tabakfabrik eingerichtet, welche 1000 Arbeiter beschäftigt.
Wichtig sind hier die Dampfmühlen, die Wollfabriken, die
Papierfabriken, Erzeugung von Hanfschuhen und die in der Nähe ge-
legenen Schiffswerften und Eisengiessereien.
Der Hafen der Stadt Santander ist der wichtigste der Halbinsel
für den Verkehr Nordspaniens mit Nordeuropa, speciell für die Ver-
sorgung der Hauptstadt Madrid, mit der ihn eine 503 km lange Eisen-
bahnlinie verbindet.
70*
[556]Der atlantische Ocean.
Nach Santander geht der grösste Theil der für Madrid be-
stimmten Frachten aus England, Belgien und Deutschland.
Ueber Hamburg, Bremen und Antwerpen treten auch die Er-
zeugnisse des nördlichen Böhmens via Santander in Spanien ein.
Es ist ferner Haupteinfuhrplatz für Waaren aus Westindien, welche
zwei Fünftel der Einfuhr aus dem Auslande umfassen. Frankreich
benützt für alle werthvolleren Artikel den Eisenbahnweg über Irun.
Santander.
Von der Ausfuhr ins Ausland entfallen fünfzehn Sechzentel auf
Cuba, Portorico und Südamerika.
Hauptartikel der Ausfuhr sind Producte des Ackerbaues, denn in den
baskischen Provinzen und in Altcastilien wird von altersher der Getreidebau in
ausgedehntem Masse betrieben und das Land kann Brotfrüchte an die anderen
Provinzen Spaniens und an das Ausland abgeben.
In Santander bestehen grosse Mühlen, und Weizenmehl geht einerseits
nach Cuba und Portorico und andererseits im Wege des Küstenhandels in die
spanischen Häfen. Ausfuhr ins Ausland 1888 176.169 q (Werth 5·6 Millionen Pe-
setas), 1887 158.371 q; Ausfuhr im Küstenhandel 1888 156.455 q (Werth 5·3 Mil-
lionen Pesetas).
[[557]]
A äusserer Hafen von Santander, B innere Hafen C Signalstation am Cast. S. Ano, D Puorto Chico, E Darsena, F Leuchtfeuer, G H Eisenbahnstationen, J projectirte Docks,
K bei Hochwasser überschwemmtes Terrain, L Schutzdämme Maliano, M Wachethurm, N Stierkampf-Arena, O Kastell S. Martin, P Pulvermagazin, Q Castella de Cerda.
[558]Der atlantische Ocean.
Bis zu dem Vertrage vom 27. October 1886 zwischen Spanien und den
Vereinigten Staaten von Amerika, durch welchen die spanischen Erzeugnisse und
die spanische Flagge die Begünstigungen verloren, welche sie bis dahin in Cuba
und Portorico genossen hatten, war der Export Santanders dahin weitaus grösser
als heute.
Andere wichtige Ausfuhrartikel sind Wein (1888 32.540 hl) und conservirte
Nahrungsmittel, welche im Wege des Küstenhandels zugeführt werden.
In zweiter Linie sind zu nennen Mineralien, wie Eisenerze (1888 495.100 q),
altes Eisen (78.424 q) und Quecksilber. Eisen bildet auch einen wichtigen Gegen-
stand des Küstenhandels.
Unter den ausgeführten Industrieartikeln ragen hervor Feuerwaffen (1888
293 q, Werth 0·9 Millionen Pesetas), leere Säcke, Spagatschuhe (Alpargatas 1888
für 0·5 Millionen Pesetas), und Papier, namentlich Cigarettenpapier, ferner Bücher
und Musikalien, zusammen im Werthe von 0·6 Millionen Pesetas.
Absatzgebiet all der Waaren, welche ins Ausland gehen, sind die spanischen
Colonien.
Wir müssen bemerken, dass 1888 von der Ausfuhr durch den Küstenhandel
10·4 Millionen Pesetas, also zwei Fünftel des Gesammtwerthes auf Tabak
entfallen.
Der Schwerpunkt des Handels von Santander ist die Einfuhr aus dem
Auslande, der Werthziffer nach ist dieselbe recht bedeutend, aber sie setzt sich
aus einer Unzahl kleiner Posten zusammen. Nur Nahrungs- und Genussmittel,
ferner Steinkohlen und Petroleum ragen durch grössere Mengen und Werthe hervor.
Für die Einfuhr von Cacao (1888 25.862 q, Werth 5·2 Millionen Pesetas),
aus welchem Chocolade, das Nationalgetränke der Spanier, bereitet wird, ist San-
tander der erste, für Zucker (1888 75.887 q, Werth 4·5 Millionen Pesetas) und
Kaffee (1888 12.726 q), die aus den nationalen Colonien stammen, der zweite
Platz Spaniens.
Von allen drei Artikeln gehen grössere Mengen im Wege des Küstenhandels
wieder hinaus. Auch Reis und Weizenmehl gelangen zur Einfuhr.
Für unbearbeitetes, gewöhnliches Holz ist Santander nicht unwichtig; Ein-
fuhr 1888 22.819 m3, Werth 1·1 Million Pesetas.
In der Gruppe der Textilindustrie sind besonders hervorzuheben Schaf-
wollwaaren (1888 für 1·2 Millionen Pesetas) und Baumwollstoffe mit der
Hälfte des Werthes der ersteren.
Die Einfuhr von Papier erreichte 1888 knapp 300.000 Pesetas.
Hervorzuheben sind Pflanzenöle, ausgenommen Olivenöl, das im Küsten-
handel zugeführt wird, dann Stärke und Dextrin.
Von thierischen Nahrungsmitteln sind hervorzuheben Fette, Schwein-
schmalz und Fleisch, vor allem aber Stockfische (1888 44.865 q) aus Norwegen.
Sardinen kommen im Wege des Küstenhandels.
Für Tabak und Tabakfabricate ist Santander der wichtigste aller
spanischen Häfen. Im Jahre 1888 wurden 49.805 q (Werth 7·1 Millionen Pesetas),
Blättertabak von Habana und den Philippinnen eingeführt, die Einfuhr von
Fabricaten erreichte einen Werth von beinahe 4 Millionen Pesetas.
Die Einfuhr von Eisen, Stahl und aus diesen gefertigten Waaren über-
steigt nicht den Werth von 2 Millionen Pesetas; Nägel, Weissblech und Eisen-
bahnschienen sind die wichtigsten Einfuhrartikel dieser Gruppe.
[559]Santander.
Die Einfuhr von Thon- und Glaswaaren ist ziemlich beschränkt.
Von englischer Kohle wurden 1888 668.138 q eingeführt, von amerika-
nischem Petroleum 55.168 q.
Aus dem Auslande kommt meist Rohpetroleum, im Küstenhandel wird
raffinirtes versendet.
Handel in Pesetas:
| [...] |
Der Schiffsverkehr erreichte folgende Höhe:
| [...] |
Nach der spanischen sind die französische und die englische die wichtigsten
Flaggen.
Da Santander der erste spanische Hafen ist, welchen Echelleslinien, deren
Kopfstation im nördlichen Europa liegt, anlaufen, so wird eine Reihe von
Dampfern, welche im internationalen Verkehre einlaufen, beim Auslaufen beim
Küstenverkehre verzeichnet.
Santander steht in regelmässiger Dampfschiffsverbindung mit Hamburg,
Bremen, französischen und englischen Häfen, ist ferner Station der Linie Hâvre—
Bordeaux—Habana—Veracruz der Compagnie générale transatlantique und Kopf-
station der Compañia transatlantica, welche von hier über Coruña und Vigo nach
Portorico und Habana geht.
Santander ist Landungsstelle von zwei Kabeln der Direct Spanish Tele-
graph Cy., welche von Falmouth in England ausgehen.
Consulate haben in Santander: Argentinien, Belgien, Deutsches Reich,
Frankreich, Grossbritannien, Guatemala, Italien, Mexico, Niederlande, Peru, Sal-
vador, Türkei, Venezuela.
[[560]]
Bilbao.
Zu den bedeutendsten Einrissen der nordspanischen Küste zählt
der Ria (Fjord) von Bilbao, in welchen der Gebirgsfluss Nervion, auch
Ausa genannt, einmündet. In vielfach gewundenem Laufe und von
fruchtbaren Vegas begleitet durchfliesst dieser ein blühendes, stellen-
weise schluchtartig eingeengtes Thal, welches vermöge seiner gross-
artigen und wechselvollen Naturscenerien zu den landschaftlich schönsten
Gebieten Spaniens gezählt werden kann. Dort thront, 12 km von der
Mündung bei Portugalete entfernt, in reizender Umgebung und male-
risch zu beiden Seiten des Flusses aufgebaut, die Stadt Bilbao, die
Unbesiegte, deren Bedeutung als wichtigster Exportplatz Spaniens
für Eisenerze, bearbeitetes Eisen und Stahl in der letzten Zeit wesent-
lich zugenommen hat.
Der Hafen wird durch die Berge d’Orchanda im Norden, de
Morro im Osten und Maravilla im Süden geschützt; gegen Nordosten,
woher eben die meisten Winde und eisigen Stürme kommen, ist er ganz
offen. Diese ursprünglichen Verhältnisse waren der Schiffahrt durch-
aus abträglich gewesen, aber seit dem Jahre 1878 hat die spanische
Regierung durch kostspielige Kunstbauten zahlreiche Verbesserungen
geschaffen und andere in Aussicht genommen, so dass der Seeverkehr
hier binnen Kurzem die weitesten Erleichterungen finden wird. Die
Flussregulirung, der Bau des neuen Dammes (Eisenrostwerk) bei Por-
tugalette, die Baggerungen an der Flussbarre daselbst, die Errichtung
von Bassins am Flusslaufe, die prächtige elektrische Beleuchtung
durch eine grosse Zahl von Bogenlichtern, welche das linke Ufer des
Rio bis Desierto markiren, all diese Werke haben Bilbao erst den
Charakter eines modernen Seehafens aufgeprägt. Neuestens wird an die
Abschliessung eines äusseren Hafens durch den Bau zweier mächtiger
Dämme, und zwar des Rompeolas (Wellenbrecher) im Süden und des
Contramuelle (Gegendamm) im Norden geschritten, wodurch ein gross-
artiges gegen den Ansturm der hohen See geschütztes Becken ge-
[561]Bilbao.
wonnen werden wird, wie ein solches in dieser Ausdehnung kein
anderer Kunsthafen der atlantischen Küste aufweist.
Auf unserem Hafenplane haben wir die Strecke von Portugalete
bis einschliesslich Desierto, dann den projectirten Vorhafen und end-
lich die Stadt und Umgebung von Bilbao dargestellt, so dass wir uns
in der nachfolgenden Schilderung hierauf beziehen können.
Bilbao (baskisch Ibaizabel) entstand um das Jahr 1300 n. Chr.,
ist also im Vergleiche zu den bisher besprochenen Handelsplätzen
Bilbao.
eine jüngere Schöpfung, welche erst während der letzten Jahrzehnte
die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hat.
Durchaus Handelsstadt, besitzt sie nur wenige Objecte von
wahrem Kunstinteresse; mehrere ihrer älteren Kirchen und Klöster
gingen während des Carlistenkrieges zu Grunde oder wurden aufge-
hoben, so dass gegenwärtig nur die drei Kirchen: Santiago, San
Antonio und Arrichinaga, sämmtlich dem XIV. Jahrhundert entstam-
mend, einen Besuch lohnen. Dagegen muss erwähnt werden, dass
Bilbao vielleicht die regelmässigst gebaute, reinlichst gehaltene, best
gepflasterte Stadt von ganz Spanien ist.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 71
[562]Der atlantische Ocean.
Höchst effectvoll ist das Bild der Stadt von einer der vier
Brücken, welche hier den Nervion übersetzen. Steile Abhänge, mit
reichem Pflanzenwuchs bedeckt, blühende Promenadengärten bilden
die anziehende Umgebung der Stadt, deren einfach, aber fest gebaute
Häuser hinabblicken auf den in scharfen Windungen dem Meere zu-
eilenden Fluss. Dampfer qualmen und Schiffe lüften die Segel, wäh-
rend Eisenbahnzüge das schwere Erz herbeibringen, damit es durch
die mächtigen Krahne, welche hier in grosser Zahl vorhanden sind,
rasch eingeladen werde.
So ist denn Bilbao, dem einst die Rolle einer stillen Fluss-
sperre zugefallen war, zu frischem Leben erwacht und betrat mit
seinem materiellen Aufschwung die Bahn einer unabsehbaren Ent-
wicklung.
Die unerschöpflichen Erzlager in der Nähe des linken Flussufers
waren die Wünschelruthe, welche die Stadt aus langem Schlummer
erweckte und welche der Stadt eine glänzende Zukunft sichert. Bilbao,
welches 1870 erst 20.000 Einwohner hatte und gegenwärtig bereits
53.000 zählt, nimmt an Ausdehnung rasch zu; neue Stadttheile mit
hübschen breiten Strassen sind vornehmlich am linken Nervionufer
entstanden, eine katholische Universität erhebt sich am rechten Strande
und schattige Promenaden begleiten den Flusslauf. Was aber der
Stadt und ihrer Umgebung so recht den Charakter eines modernen
Handelsgebietes aufprägt, das ist der Reichthum an Eisenbahnen.
Ausser den nach Durango und in das Ebrothal führenden Schienen-
strängen, ist Bilbao durch beiderseits des Flusses laufende Linien
mit dem Seehafen verbunden und fünf Bergwerksbahnen, welche die
ausgedehnten Minendistricte durchziehen, münden an den Quais im
Unterlaufe des Nervions.
Dort haben sich knapp am linken Ufer grosse Hüttenwerke,
Fabriken und Ladestationen installirt, in welchen ein Theil des Erzes
verarbeitet, der Ueberschuss aber exportirt wird: zunächst an Bilbao
die Giesserei „El Nervion“, dann weiter gegen El Desierto die Lade-
quais und Magazine der Minen von Orconera und Luchana, dann jene
der Compania Franco-Belga, woran die grossartigen Etablissements
der Eisen- und Stahlfabrik der Gesellschaft Altos Hornos grenzen.
Zu Füssen der Höhe von El Desierto rauchen die Hohöfen von S.
Francisco, und Schienenstränge laufen zu weiten Quais; weiter gegen
See hat sich die Giesserei D. Fernando Alonso und nächst derselben
auf der Fläche der Playa de Lestao die Eisengewerkschaft der
„Sociedad-Vizcaya“, welche auch ein weitläufiges Bassin für eine
[563]Bilbao.
grosse Zahl von Seeschiffen erbaut, angesiedelt; endlich zunächst des
Ortes Portugalete mündet die Bahn der Minen von Galdames zur
gleichnamigen Ladestation, welche auch mit dem Schienenstrange der
Bahn nach Bilbao in Verbindung steht.
Bei Portugalete steht das grosse Maschinenhaus, in welchem
die Dynamos zur Erzeugung des elektrischen Lichtes für die splendide
Hafenbeleuchtung betrieben werden.
Man kann sich bei der sonst in Spanien selten anzutreffenden
lebhaften industriellen und Handelsthätigkeit das bewegte Treiben an
den Ufern des Nervion wohl vergegenwärtigen. Allmälig beginnen
denn auch die beiden Städtchen Portugalete und Las Arenas,
besonders letzteres, an Umfang zuzunehmen und werden als die eigent-
lichen Hafenplätze von Bilbao gewiss zur Blüthe gelangen.
Portugalete wurde während des Carlistenkrieges in den Jahren
1873 bis 1876 durch ein Bombardement (1874) hart mitgenommen,
worauf die Carlisten capitulirten. Beachtenswerth ist die im gothischen
Style erbaute Kirche Sta. Maria.
Las Arenas ist die Villenstadt von Bilbao und ein beliebter
Badeort, der über einen prächtigen sandigen Badestrand verfügt.
Die beiden Hafenorte sind durch Tramwaylinien mit Bilbao und
durch Ferryboote miteinander verbunden.
Bilbao wurde während des Carlistenkrieges viel genannt, und
aus jener Zeit stammt der Beiname „la invicta“, die Unbesiegte, her.
Von 10.000 Mann Miliztruppen vertheidigt, hielt die Stadt eine Be-
lagerung durch das Carlistenheer standhaft aus, bis am 2. Mai 1874
ein spanisches Corps nach dem Siege bei La Muñecao zum Entsatz
herbeieilte und die Carlisten zum Rückzug zwang.
Bilbao war in früherer Zeit ein wichtiger Werftenplatz, und um das Jahr 1500
muss der Handel hier sehr lebhaft gewesen sein, weil damals ein eigenes Handels-
amt (Consulado de Comercio) zur Regelung der Handelsoperationen durch den
König eingesetzt worden war, welches bis 1844 existirte und dann den Titel
„Junta de Comercio“ annahm.
Die Weisungen (Ordonanzes) des Consulado scheinen wohl erwogen gewesen
zu sein, denn nach deren Sanction durch den Habsburger Philipp II. (15. Decem-
ber 1560) wurden sie zu Vorbildern für die Handelsgesetze und Verfügungen der
wichtigsten Seehäfen des Auslandes.
All dieser alte Glanz ist aber nicht zu vergleichen mit der
Entwicklung in unseren Tagen, welche Blüthe, wie schon erwähnt,
mit der Nachfrage nach den reichen Lagern chemisch reiner Eisen-
erze, die in nächster Nähe von Bilbao schlummerten, zusammenhängt.
Wesentlich gefördert wurde dieser Aufschwung durch den Umstand,
71*
[564]Der atlantische Ocean.
dass Bilbao inmitten der fleissigen baskischen Bevölkerung liegt, wie
denn überhaupt der Nordspanier, ähnlich wie der Norditaliener,
an Energie und Arbeitskraft seinen südlichen Compatrioten weitaus
überragt.
Im Nordwesten in Galicien wohnen die ernsten Gallegos, die
wir in ganz Spanien als Lastträger, Dienstmänner, Wasserträger un-
ermüdlich thätig finden. Sie suchen zu ersparen, was nothwendig
ist, um sich in ihrer Heimat ein kleines Stück Land zu kaufen und
dann in verhältnissmässiger Ruhe die Früchte der schweren Arbeit
zu geniessen.
Fleissig sind auch die Bewohner von Asturien und der Provinz
Santander, aber allen voran gehen die Basken, in deren Lande Bilbao
liegt. Ihre schlanken, wohlproportionirten grossen Gestalten bekunden
in ihren Gesichtszügen die zähe Willenskraft, die Verschmitztheit und
Schlauheit, welche sie befähigt hat, selbst mit den Catalonen in der
Pflege des Handels und der Industrie mit dem besten Erfolge zu
wetteifern. Ihrer Arbeitslust und Energie verdanken sie auch das An-
sehen, das sie im Auslande, besonders in Argentinien geniessen, wo-
hin sie, unzufrieden mit der Regierung Spaniens, zahlreich ausge-
wandert sind. Ihre dortigen Landsleute gehören zu den einflussreichsten
und am meisten begüterten der spanischen Colonie.
Die Basken sind seit urdenklichen Zeiten befähigte Arbeiter in
Eisen, denn ihr Land ist ein Eisenland, und seine unerschöpflichen
Schätze werden nirgends stärker ausgebeutet als bei Bilbao.
Der Schiffsverkehr Bilbaos ist daher grösser als der irgend
eines spanischen Hafens, ganze Flotten sind dem Transporte des
Eisens gewidmet.
Mit Vollendung des neuen Hafens wird Bilbao auf der ganzen
Strecke von Cherbourg bis Vigo an der Nordwestspitze Spaniens der
einzige Zufluchtshafen sein, der diesen Namen wirklich verdient. Dann
ist die Möglichkeit gegeben, dass Bilbao an Stelle von Santander
ein wichtiger Einfuhrhafen Spaniens, der Ausgangspunkt der trans-
atlantischen Dampfer werde. Jetzt aber ist Bilbaos gesammter Ver-
kehr vollständig abhängig von der Gewinnung des Eisens.
Anfangs der Siebzigerjahre lenkte der grosse Eisenbedarf in England die
Aufmerksamkeit der Eisenwerksbesitzer auf die Production des Auslandes hin, um
den bedeutenden Engagements nachkommen zu können. Da war es denn, dass
Krupp in Essen, John Brown, die Dowlais Iron Co., Messrs. Bolkow \& Vanghan,
die Societé Montataire und andere englische und französische Firmen, auf die
reichen Erzlager von Sommorostro aufmerksam geworden, in Gemeinschaft mit der
Firma Ibarra in Bilbao und anderen localen Firmen daselbst eine Reihe von
[[565]]
A Bay von Bilbao, A1 projectirter Aussenhafen, B Südwest- oder Portugalete-Molo, C Mojajonera-Steinwurf, D Bäder, Eisenbahnstation, E Station der Galdames-Bahn,
F elektrische Geleitfeuer, F1 grosses elektrisches Leuchtfeuer, F2 äussere elektrische Leitfeuer zur Hochwassermarkirung, G projectirtes Bassin La Vizcaya, H projectirte
Bauten, J Darsena de Axpe, K Kloster S. Nicola, L Eisengiesserei N. S. del Carmen, M Darsena (Bassin), N Ria de Galindo, O Eisenbahn Bilbao-Portugalete, P Triano-
Eisenbahn, Q Mallona-Friedhof, R projectirte Station der Bahn nach Portugalete, S Abando-Kirche, T Eisenbahnstation, U Arena, V Arenal-Brücke, W Achuri-Brücke, X Calle
de la Ribera, Y Gefängniss, Z Passeo del Campo del Volantin. — 1 Paseo de lo Caños, 2 Wehrdämme im Rio Nervino, 3 Portlandcement-Fabrik, 4 Miravilla-Tunnel
5 Eisenbahnstation nach Arenas, 6 projectirte Bahn nach Lezama, 7 8 9 Batterie.
[566]Der atlantische Ocean.
Bergwerksgesellschaften gründeten. Diese Gesellschaften statteten das Minengebiet
mit Eisen- und Drahtseilbahnen aus. Die beiden Qualitäten: billige Herstellungs-
kosten und vorzüglichc Eignung zur Stahlbereitung liessen immer mehr Con-
currenten um die überaus reichen Minen erstehen.
Manche Minen, wie die von Galdames, Gallarta und Sommorostro, sind in-
folge der starken Ausbeute fast erschöpft, ihr Inhalt ist in den Werken von
Middlesborough, Cardiff, Glasgow, Newcastle, Sunderland, in Seraing und von
Krupp in Essen verarbeitet worden, und selbst die Union tritt hier als Käufer auf.
Nun kommt der Sopuerta-District an die Reihe, und Bilbao, das heute durch
eine Zweigbahn nach Miranda an die Schnellzugslinie Bayonne-Madrid angeschlossen
ist, will durch das Sopuerto-Thal einen neuen Anschluss an die Bahn Santander-
Valladolid gewinnen.
Die drei grössten Gesellschaften, welche Roheisen produciren, heissen
Vizcaya, San Francisco und Altos Hornos. Sie beziehen Kohlen und Coaks aus
England, und Kohlen in steigenden Mengen aus den Bergwerken Asturiens, von
wo 1889 schon 360.000 q kamen. Sobald die im Bau begriffene schmalspurige
Bahn von Bilbao nach Asturien (200 km) fertig sein wird, hofft man, aus Asturien
und Palencia 4,000.000 q Kohlen beziehen zu können. Die Vizcaya hat jetzt
144 Oefen zum Vercoaksen von Steinkohlen aufgestellt und eine Reihe ist im Bau.
Als die grössten Eisen- und Stahlwerke Europas einmal Käufer baskischer
Erze waren, lag es diesen Leuten nahe, an Ort und Stelle grossartige Fabriken
zur technologischen Verarbeitung der Erze in Stahl, Bleche, Schienen etc. anzu-
legen und so mindestens Transportkosten zu ersparen.
Die industrielle Thätigkeit Bilbaos umfasst denn nun auch eine ganze Reihe
von Zweigen der Eisenindustrie. Ausser Roheisen wird Stahl dargestellt und
anfangs 1889 erschien eine kleine Sendung desselben sogar auf dem englischen
Markte. Es wird wohl bei diesem Versuche bleiben, weil die englischen Kohlen
in Bilbao theuer sind. Für den spanischen Markt erzeugt man hier seit 1887
Stahlschienen, Stahlblech und Weissblech unter Leitung englischer Ingenieure.
Englisches Capital hat daselbst die Naval Construction and Armament Cy ins
Leben gerufen, welche eiserne Schiffe baut und den lange schon erloschenen Ruf
von Bilbao als Werftenplatz, der es in früheren Jahrhunderten war, wieder er-
neuert. Eine spanische Compagnie will Waffen erzeugen.
Eisen und eine kleine Menge Wein sind die einzigen Artikel, welche Bilbao
ins Ausland führt.
Es wurden ausgeführt Eisenerze 1889 ungefähr 39,000.000 q, 1888 36,305.330 q
(Werth 36·3 Millionen Pesetas), 1887 41,022.206 q, Roheisen 1888 732.679 q
(Werth 4·8 Millionen Pesetas), 1887 1,141.426 q.
Für Eisenerze sind noch zu nennen der kleine Flusshafen Poveña und Castro
Urdiales, das wohl schon in der Provinz Santander, aber nahe bei Bilbao liegt.
Ausfuhr des letzteren 1888 2,781.210 q.
Die Ausfuhr Bilbaos im Wege des Küstenhandels erreichte in Roheisen
1888 668.135 q, in Stahl 88.704 q, in Eisenfabricaten 3352 q.
Der Gesammtverkehr dieser Producte betrug 1888 14·8 Millionen Pesetas.
Ins Ausland wurden 1888 35.757 hl, im Küstenverkehre 38.084 qWein
ausgeführt. Der Haupthafen für den Weinexport dieser Gegend ist das östlich
von Bilbao gelegene Pasajes (Ausfuhr 1888 642.882 hl). Die Ausfuhr von Schaf-
wolle ins Ausland betrug 1888 6182 q.
[567]Bilbao.
Wichtige Ausfuhrartikel des Küstenverkehres sind ferner Weizenmehl, Seife,
Sardinen, die seit einigen Jahren in bedeutenden Mengen an der Nordküste
Spaniens gefangen werden, Dynamit, raffinirtes Petroleum und Schafwollstoffe.
Die Einfuhr Bilbaos dient nur der Versorgung der Umgebung.
Bilbao hat wegen seiner Eisenindustrie unter allen spanischen Häfen die
grösste Einfuhr von Cement (1888 74.153 q), von feuerfesten Ziegeln (58.740 q),
von Steinkohlen (1888 1,211.583 q, 1887 1,213.280 q) und von Coaks (1888
2,182.916 q, 1887 1,611.030 q).
Im Wege des Küstenhandels wurden 1888 299.561 q spanischer Kohlen und
107.224 q Cement zugeführt. Nicht minder wichtig ist Bilbao für die Einfuhr von
Eisen und Eisenwaaren. Nach dem allgemeinen Zolltarife gingen 1888 besonders
Stangeneisen, Röhren, Weissblech (14.444 q) und andere Eisenwaaren (15.136 q) ein
für die Zwecke der Eisenbahnen, im Ganzen 52.240 q im Werthe von 1 Million Pesetas.
Zu nennen ist noch die Einfuhr von Zinn und Zink aus dem Auslande,
von Zink und Blei durch den Küstenhandel.
Den Zwecken des Ackerbaues dient die Einfuhr von salpetersaurem Natron
(1888 57.817 q), denen der Industrie die von Pulver, chemischen Producten,
Paraffin, Palm- und Cocosnussöl (1888 10.498 q), ferner die von Rohjute, von
Hanf- und Leinengarnen (1888 14.061 q). Wir heben hervor, dass Alpargatas
(Hanfschuhe) auch in den baskischen Provinzen mit Vorliebe getragen werden.
Von Geweben sind zu nennen Baumwollstoffe, besonders aber Schafwoll-
stoffe, letztere 1888 um 968.000 Pesetas. Glaswaaren, feine Thonwaaren und
flache Gläser kommen meist im Wege des Küstenhandels ein.
Der Industriebezirk von Bilbao muss viele Nahrungsmittel einführen. Es
ist im ausländischen Handel Spaniens erster Einfuhrplatz für Stockfische aus
Schweden und Französisch-Neufoundland, von denen grosse Quantitäten im Wege
des Küstenhandels umgesetzt werden (1888 94.583 q, Werth 6 Millionen Pesetas).
Bilbao ist ein wichtiger Ort für Reis, Weizen und Hülsenfrüchte (Einfuhr
der letzteren 1888 62.305 q aus Rumänien, Italien, Marokko und Frankreich), für
Zucker (18.020 q), Cacao (1888 7322 q), Kaffee, Sprit (17.701 hl), für Schwein-
fleisch und thierisches Fett. Im Wege des Küstenhandels werden Hülsenfrüchte
und Sardinen eingeführt.
Holz schickt meist Schweden; die Einfuhr geht zurück.
Wir schliessen mit der Einfuhr von Petroleum; rohes kommt aus Amerika
(1888 75.224 q), raffinirtes im Wege des Küstenhandels.
Der Handel von Bilbao betrug in Pesetas:
| [...] |
Schiffsverkehr von Bilbao:
| [...] |
Der stärkste Küstenverkehr findet statt mit Barcelona, Santander, Gijón
und Sevilla.
Im auswärtigen Verkehr herrscht die englische Flagge vor, welche das
baskische Eisen nicht allein nach England bringt, sondern auch einen grossen
Theil desselben nach den anderen Ländern.
Auf die englische Flagge folgt die spanische, welche überwiegend den
Küstenverkehr besorgt, hierauf die französische, dann die deutsche, meist reprä-
sentirt durch Dampfer der Firma Krupp und durch die Linie „Roca“ aus Ham-
burg, endlich die niederländische und die belgische.
Durch die günstigen Verhältnisse ist der Reichthum der Provinz Viscaya
gestiegen, den Beweis dafür gibt der Ausweis der Bank von Bilbao für das Jahr
1888, nach welchem sie 100 Millionen Gulden Depositen verwahrt. Nicht zum kleinsten
Theile verdankt sie diese Blüthe der Freundschaft, die sie dem ausländischen
Capitale entgegenbringt, welches hier eine Anlage in industriellen Unternehmun-
gen sucht.
Aber auch die Energie der Bevölkerung ist nochmals rühmend hervorzu-
heben. Um ihre überschüssigen Capitalien anzulegen, gründet sie Papier-, chemi-
sche und Waffenfabriken und schafft normal- und schmalspurige Eisenbahnverbin-
dungen.
Consulate haben hier: Belgien, Dänemark, Deutsches Reich, Frankreich,
Grossbritannien, Mexico, Niederlande, Nicaragua, Paraguay, Peru, Salvador,
Schweden-Norwegen, Türkei, Uruguay, Venezuela.
[[569]]
Bordeaux.
Von der Höhe der imposanten Steinbrücke Pont de Bordeaux,
welche mit 17 elegant geführten Bögen die Garonne übersetzt, erhält
der Beschauer wie von keinem anderen Punkte der Stadt aus einen
herrlichen Ueberblick über das reiche Gemeinwesen von Bordeaux,
das unter dem Segen eines blühenden Seehandels 100 km von der
oceanischen Küste entfernt an den rebenumsäumten Ufern des mäch-
tigen Stromes entstanden ist.
Die glänzende Häuserfront des 7 km langen Quais ist das Spie-
gelbild des gediegenen Welthandels, welcher Bordeaux zur einer der
schönsten und prächtigsten aller Städte Frankreichs emporgehoben hat.
In der That gestattete der in Bordeaux zusammenfliessende Reichthum,
die Stadt durch prunkvolle Kunstbauten und Anlagen zu schmücken,
welche, mit unvergänglicher Anziehungskraft bestechend, der Welt-
handelsstadt einen vornehmen Charakter aufprägen. Eine Zahl
breiter, schnurgerader Strassenzüge, von hohen palastartigen Gebäuden
mit mehrfachen Balconreihen und platten Dächern eingefasst und
schön gepflastert, münden am Quai aus, den sie mit den öffentlichen
Plätzen im Innern der Stadt verbinden.
Meist sind es die Pulsadern des grossen Verkehrs, wo der Glanz
reicher Kaufhallen in verschwenderischer Pracht uns fesselt. Herr-
liche Kirchen, Theater, Triumphbögen, Statuen und Bildsäulen, Wasser-
werke, stylvolle Anlagen und Prunkbauten zieren allenthalben Plätze
und Strassen. Der Gesammteindruck ist in hohem Grade bezaubernd.
Ausserhalb der alten Stadt sind die Häuser meist einstöckig und
besitzen fast durchwegs kleine Gärten, wodurch die Stadt eine verhält-
nissmässig bedeutende Ausdehnung gewonnen hat.
Die Stadt ist auf flachem Terrain erbaut, welches von 7 m
Höhe am Quai bis 23 m am Boulevard Tondu am westlichen Stadt-
ende aufsteigt.
Gegen Norden des Pont de Bordeaux liegt das eigentliche Hafen-
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 72
[570]Der atlantische Ocean.
gebiet der Stadt. Hunderte von Schiffen beleben die Ufer oder sind
im Flusse selbst vertäut. Hier herrscht ein lebhaftes Treiben, ein
reger Verkehr, denn hier laufen die Handelswege aus allen über-
seeischen Ländern, aus allen Meeren zusammen. Die Schätze aller
Welttheile und die Erzeugnisse der eigenen Landesindustrie lagern in
ambulanten Waarendepôts auf den breiten Quaiflächen, über welche
der Schienenstrang führt.
Ort, Inhalt und Form häufig wechselnd, sind diese fliegenden
Depôts eine malerische Staffage des Quaibildes, dessen Effecte durch
das Zusammenströmen der verschiedenartigsten Volkstypen zu eigen-
artigem Interesse gesteigert werden.
Ueber die Brücke selbst wogt der rege Verkehr, der zwischen
der Vorstadt La Bastide und Bordeaux sich entwickelt hat. Die breite
Avenue Thiers, welche die genannte Vorstadt in einer Länge von
mehr als einem Kilometer durchschneidet, stellt sich von der Brücke
aus in schöner Perspective dar. Der Thurm der sehenswerthen Marien-
kirche, eines erst 1886 beendigten stylvollen Bauwerkes von Abadie,
ist über der nördlichen Häuserzeile sichtbar.
Gegen Westen in der Verlängerung der Brücke öffnet sich der
breite und glänzende Cours Victor Hugo, an dessen Eingange ein an
Stelle der bestandenen Porte de Bourgogne errichteter Triumphbogen
sich erhebt; Napoleon I. liess denselben für den feierlichen Durchzug
der zur Occupation von Spanien bestimmten Truppen erbauen.
Solcher Triumphbögen besitzt die Stadt mehrere, und deren
Anlage war durch die herrlichen Strassenzüge begünstigt, welche
durch ihre reizenden perspectivischen Fernsichten so trefflich die
Grösse und den Prunk Bordeaux zur Anschauung bringen.
Die Ausmündung der prächtigen Avenue Alsace-Lorraine am
Quai liegt, wie unser Plan zeigt, etwas nördlich der Brücke. Die
Avenue führt in einer Länge von etwa 1 km zur Kathedrale, deren
gothische Thürme hoch über das Stadtniveau emporragen.
Einen prächtigen Anblick gewährt die Place de la Bourse, die,
von der Douane und dem mit herrlichem plastischen Schmuck ge-
zierten Börsengebäude flankirt, sich gegen den Quai öffnet. Neben
der Börse mündet auf den Richelieu-Platz der Cours du Chapeau-
Rouge, eine breite, unter wechselnden Namen (Cours de l’Intendance,
Rue Judaïque) gegen West weiterziehende Strasse von fast 3 km Länge.
Sie bildet den vornehmsten Zugang zum Geschäftsviertel der Stadt,
denn merkwürdigerweise ist der so herrlich gelegene Quai weder das
Quartier der vornehmen Welt, noch jenes des Handels von Bordeaux.
[571]Bordeaux.
Das geschäftliche Leben hat sich in der Umgebung des oben er-
wähnten Strassenzuges im Innern der Stadt concentrirt und auf dem
Gebiete zwischen dem Jardin Public, der Place Gambetta, der Rue
Ste. Cathérine gegen den Quai zu, findet man ebenso die ersten
Hôtels der Stadt, wie die glänzendsten und am besten ausgestatteten
Waarenmagazine. Das ist auch der Stadttheil, den zu gewissen Tages-
stunden und bei Nacht das grossstädtische Leben durchflutet.
Noch weiter nordwärts fällt der Blick auf die stylvolle Anlage
der Place des Quinconces, die auf den Quai Louis XVIII. mit schönen
Monumentaltreppen ausmündet. Es ist der grösste Platz der Stadt.
Hier stand einstens das alte Castell Trompette. Von schönen Gebäuden
flankirt, die an der Ostseite des Platzes halbkreisförmig zurücktreten
und eine reizende Fontaine umschliessen, ist die Anlage von einem
Saum schattiger Baumpflanzungen umgeben, wohingegen die höher-
liegende Mittelterrasse die Marmorstatuen Montesquieus und Mon-
taignes sowie zwei schöne Säulen (Colonnes rostrales) mit den allego-
rischen Figuren des Handels und der Schiffahrt trägt.
An der Quaiseite haben zwei hübsche Badehäuser Platz ge-
funden.
Die Namen einzelner Theile der Anlage erinnern an das orlea-
nische Königthum, so die Allée d’Orléans, die Allée de Chartres,
Cours XXX-Juillet u. a.
Auf der Höhe der Place des Quinconces wendet sich die Garonne
in leichter Curve gegen Nordost. Hier erstreckt sich nun der Quai
des Chartrons, an welchem die Dampfer für den Verkehr auf der
Gironde anlegen; weiter folgt der Quai de Bacalan, das Hauptquartier
der grossen Dampfschiffahrt-Gesellschaft Messageries maritimes.
In dem hieran grenzenden Stadttheil, also am Nordende von
Bordeaux, befinden sich die wunderbarsten Kellereien der Welt, die
Depôts der hiesigen Weinfürsten, ebenso berühmt durch Ausdehnung
wie durch Einrichtung und enormen Umsatz; in manchem derselben
liegen Weine für 2—3 Millionen Francs.
Die Firmen Calvet, Guestier, Crouse, Journu, A. Lalande, Damas
et Paris, Eschenauer, Keyl, Blanchy, Johnston, Richard et Muller
u. a. zählen zu den bedeutendsten des Weingeschäftes.
Längs des Hafenquais können Schiffe bis zu 2500 Tonnen Ge-
halt anlegen, grösseren Schiffen dient das geräumige Bassin à Flot,
welches, durch ein Schleusenwerk mit dem Flusse verbunden, das
Niveau des Hochwassers behält. Die Gezeiten sind nämlich hier noch
sehr fühlbar und bringen im Hafen einen Niveauunterschied bis zu
72*
[572]Der atlantische Ocean.
4·3 m mit sich. Die wechselnde Stromrichtung ist den ein- und aus-
laufenden Schiffen von grossem Nutzen.
Der Hafen ist mit stabilen und laufenden Krahnen von 1·5, 3
und 6 t Tragfähigkeit reichlich versehen. Für sehr schwere Lasten
bis zu 50 t dient ein grosser Krahn, im Bassin endlich stehen vier
mobile Dampfkrahne mit je 1·5 t Tragfähigkeit zur Verfügung der
Schiffe.
Die Navigationsverhältnisse von Bordeaux sind recht ungünstig.
Grosse Schiffe haben bedeutende Schwierigkeiten zu überwinden,
bevor sie die herrliche Stadt erreichen, dazu sind die Pilotenge-
bühren hoch.
Die Mündung der Gironde ist zwischen den Leuchtfeuern des
Städtchens Royan im Norden und der Pointe de Grave im Süden
ungefähr 5·5 km breit; von hier aus weitet sie sich gegen den Ocean
zu trichterförmig aus. Ausgedehnte Barren und Riffe hat der wasser-
mächtige Fluss hier abgelagert, zwischen welchen die Fahrstrassen
Passe du Nord mit 8·6 m und Passe de Sud 6·4 m Wassertiefe bei
Ebbe hindurchführen. Die ganze Umgebung der Mündung ist durch ge-
eignet situirte Leuchtschiffe, Leuchtbojen und Leuchtthürme markirt.
Das bedeutendste der Feuer wird auf dem Riff Cordouan 59 m hoch
über dem Meere gezeigt und ist auf 39 km sichtbar.
Innerhalb der Barren ist bis zu 30 m tiefes Wasser vorhanden,
jedoch schon auf der Höhe von Richard steigt der Grund bedeutend
auf. Man findet dort nur mehr 6 m Wassertiefe und weiterhin zwi-
schen den Bänken und Inseln der Gironde gegen den Zusammenfluss
der Garonne und Dordogne (26 km von Bordeaux entfernt) sinkt die
Tiefe des Fahrwassers auf 4, ja selbst auf 3 m herab, so dass
grössere Schiffe nur bei Hochwasser vorzudringen vermögen, welches
das Niveau des Flusses bei Springflut um 4·3 m erhebt. Doch wurde
im Frühjahr 1889 das ärgste Hinderniss, die Ablagerungen im schiff-
baren Canal auf der Strecke zwischen Brazil und Pauillac, entfernt.
Aber ganz grosse Schiffe, wie die der Pacific Steam Navigation Cy.,
bleiben draussen im Vorhafen Pauillac, der durch die Médoc-
Eisenbahn mit Bordeaux verbunden ist.
Die Entwicklung des Handels von Bordeaux drängt, weil der
Hafen im Verhältniss zu seinem Verkehr denn doch zu beschränkt
ist, zu vielfachen Ameliorationen. Ausser einer durchgreifenden Bag-
gerung, wird die Erweiterung des Bassins à Flot und die Verbindung
desselben durch einen Canal und eine Schleuse mit der Einbuchtung
von Grattequina geplant, wo die grossen Schiffe eine Wassertiefe
[[573]]
Bordeaux.
[574]Der atlantische Ocean.
von 7·5 bis 8 m finden würden. Neue Quais an beiden Flussufern in
der Gesammtlänge von 2·1 km sind im Bau, und man schätzt die
Kosten der erwähnten Erweiterungsarbeiten auf 40 Millionen Francs.
Es steht zu erwarten, dass die Stadt hiedurch gegen Norden zu an
Ausdehnung gewinnen wird.
Wenden wir uns von dem Pont de Bordeaux gegen Süden, so
fällt unser Blick vor Allem auf die schöne Eisenbahn-Röhrenbrücke,
welche, auf 7 Pfeiler gestützt, mit doppeltem Schienenstrang die
Bahnhöfe Gare d’Orléans und Gare du Midi verbindet. Breiter als
anderwärts erstreckt sich dort am linken Ufer die Fläche des Quais,
dessen weitaus grösster Theil zu beiden Seiten der Eisenbahnbrücke
den Namen Quai de Paludate führt.
Nächst dem Quai de la Grave gewahrt man den Prachtbau des
isolirt stehenden im gothischen Style aufgeführten Thurmes der Kirche
St. Michel, und südwärts bemerkt man die dunklen Umrisse der wegen
ihrer sonderbar concipirten Façade berühmt gewordenen Kirche Sainte-
Croix, eines dem XII. Jahrhundert entstammenden interessanten Bau-
werkes.
Zu den hervorragendsten religiösen Bauten der Stadt zählt die
im gothischen Style aufgeführte Kathedrale Saint-André, deren Bau,
zu Ende des XI. Jahrhunderts begonnen, im Laufe der Zeit den ein-
heitlichen Charakter einbüsste und selbst Renaissance-Zubauten er-
hielt. Indes ist der Dom, wie er heute, auf einem geräumigen Platze
stehend, mit dem reizenden Motive seiner Façade und dem schönen
Doppelthurm an derselben sich darstellt, ein herrliches Denkmal alter
Baukunst. An der Ostseite der Kathedrale erhebt sich 30 m von
letzterer entfernt der unvollendet gebliebene Thurm Pey-Berland,
welcher eine Kolossalstatue der Muttergottes in vergoldeter Bronze
auf seiner Höhe führt.
Der nach seinem Erbauer, dem renommirten Erzbischof Pey-
Berland (1440), benannte Thurm enthält die 11 t schwere Glocke von
Saint-André.
Eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges ist die dem XIII. Jahr-
hundert entstammende Kirche Saint-Seurin auf der mit reichen Baum-
anlagen geschmückten Place oder Allée Damour. Raymond de Lafont
liess den Tempel auf seine Kosten erbauen und mit reichen Sculp-
turen verzieren. In der Krypta de Saint-Fort ist das Grab dieses
Heiligen, mehrere Sarkophage und ein hübsches zu seiner Erinne-
rung im XVII. Jahrhundert aufgeführtes Ehrengrabmal (Cenotaphe).
Die Kirche Saint-Seurin war ehemals die erste Kathedrale der Stadt
[575]Bordeaux
und ihr Schutzpatron der heilige Seurin oder Severin wirkte im
V. Jahrhundert als Bischof von Bordeaux.
Zu dem äusseren Glanz der Stadt trägt die Pracht vieler öffent-
lichen Gebäude wesentlich bei. Viele derselben entstammen dem
XVIII. Jahrhundert und sind durch stylvolle Architektur ausge-
zeichnet. Zu diesen gehören die Präfectur (1775 gebaut); das Hôtel
de Ville (1770—1781), in welchem das Museum der schönen Künste
untergebracht ist; die Börse (1749) mit reichem plastischen Schmuck
auf ihren vier Façaden; das Zollamt (Douane), ein Pendant zum Börse-
gebäude und wie dieses reich geziert; das Grand-Théâtre (1773
bis 1780 gebaut) mit 12 korinthischen Säulen und ebensovielen
Kolossalstatuen an der Façade und schönem säulengeschmückten
Vestibule; vor Erbauung der grossen Oper in Paris galt das Theater
in Bordeaux als das schönste Schauspielhaus Europas.
Neueren Ursprungs ist das Justizpalais (1839—1846 gebaut)
in dorischem Styl mit Kolossalstatuen der Malesherbes, D’Aquesseau,
Montesquieu und L’Hôpital geschmückt.
Das geistige Leben ist in Bordeaux sehr entwickelt, worauf
schon der allenthalben zutage tretende Kunstsinn der Bevölkerung hin-
weist. Die Stadt verfügt über Facultäten für Medicin, Jurisprudenz,
Literatur und Naturwissenschaften, die Museen enthalten kostbare
Gemälde und Sculpturen (Musée de peinture et de Sculpture), Anti-
quitäten, Waffen und Inschriften (Musée des antiques), naturhistori-
sche, ethnographische und vorgeschichtliche Objecte (Musée d’histoire
naturelle) von grossem Werth, und die 1738 gegründete Bibliothek
besitzt über 170.000 Bände und 1500 kostbare Manuscripte.
Als Handelsplatz ersten Ranges hat Bordeaux auch eine höhere
Fachschule für Handel und Industrie.
Aus der Römerzeit hat sich nur die sorgfältig gepflegte Ruine
eines Amphitheaters erhalten.
Als die Römer den keltischen Ort Burs-Wall besetzten, erkannten sie
sogleich die Gunst seiner Lage und gründeten hier ihr Burdigala, welches bald
zu einer der ersten Städte Galliens anwuchs. Im III. und IV. Jahrhundert war
Burdigala eine Stätte geistigen Strebens geworden, das Christenthum hatte
dort zahlreiche Anhänger gefunden, und Bildungsanstalten blühten, welche nach
Rom und Byzanz ihre Meister entsendeten. Schriftsteller und berühmte Dichter,
wie Ausone und der Bischof St.-Paulin, hoben das Ansehen der Stadt.
In der Zeit der Völkerwanderung erschienen die überall plündernden
Horden der Vandalen (408) und Gothen (413), und 507 wurden die Franken
Herren der vielgeprüften Stadt. In der Folge gehörte Bordeaux den Herzogen
von Toulouse an, wurde dann von Pipin und Karl dem Grossen beherrscht, von
den eingefallenen Normannen geplündert und zerstört, welche hier ihren Haupt-
[576]Der atlantische Ocean.
waffenplatz ein halbes Jahrhundert hindurch etablirten. Nach deren Vertreibung
erholte sich die Stadt und fiel den Grafen von Poitou zu, deren letzter, Guil-
laume X., dieselbe 1137 seiner Tochter Eleonore vermachte, welche im selben
Jahre Louis VI., Sohn Louis le Jeune, der im Juli zum König von Frankreich
proclamirt wurde, in der Kathedrale Saint-André ehelichte. 1152 von diesem ge-
schieden, vermählte sie sich mit Henri Plantagenet, Herzog von Anjou, der König
von England wurde und dem das ganze westliche Frankreich als Mitgift zufiel.
Die dreihundertjährige Herrschaft der Engländer und die Kämpfe jener
Zeit berührten den Wohlstand der Stadt nur wenig.
Unter Ludwig XI., welcher Bordeaux die alten Rechte verlieh, begann
ein neuer Aufschwung. Er setzte ein Parlament ein und stellte die 1441 ge-
gründete Universität wieder her, aber erst unter Franz I. erhob sich die Stadt
zu ihrem früheren Glanz.
Die Reformationszeit sah die grausamste Verfolgung der Calvinisten (1548
und 1572), und während der Regierungsperiode Ludwig XIII. und der Unmündig-
keit Ludwig XIV. war Bordeaux der Schauplatz verheerender Bürgerkriege, die
bis 1653 währten.
Unter Ludwig XV. und Ludwig XVI. schuf Louis-Urbain Aubert, Marquis
de Tourny, dessen Namen ein Platz und ein Cours in der Stadt führen, aus Bor-
deaux in wenigen Jahren eine der prächtigsten Städte Frankreichs und begründete
deren Handelsblüthe.
Als Hauptstützpunkt der heldenmüthigen Girondisten hatte das besiegte
Bordeaux während der grossen französischen Revolution die ganze Härte und
Grausamkeit des Nationalconvents zu erleiden.
Das napoleonische Kaiserreich untergrub den Seehandel, raubte der Stadt
die Stütze ihres Wohlstandes, weshalb sich die Sympathien derselben dem König-
thum zuwendeten und geheime Conspirationen der eigenthümlichsten Art gegen
Napoleon I. und die Officiere seiner Armee dort entstanden.
Am 9. December 1870 wurde Bordeaux der Sitz der Delegation der pro-
visorischen Regierung. Am 12. Februar 1871 versammelte sich dort die National
Assemblée, welche M. Thiers zum Präsidenten der Republik erhob und am 1. März
die Präliminarien des Friedens mit Deutschland votirte.
Bordeaux unter 44° 50′ nördl. Breite und 0° 35′ westl. Länge
von Greenwich (Kathedrale Saint-André) gelegen, ist die Hauptstadt
des Departement der Gironde, der Sitz eines Erzbischofs, eines Appella-
tionsgerichtshofes und des Generalcommandos des 18. Armeecorps
sowie einer Handelskammer.
Die Stadt zählt 240.600 Einwohner. Das Klima ist oceanisch,
der Winter so milde (+ 6°C. Jännertemperatur), dass im Jardin
public grosse Palmenanlagen im Freien gedeihen.
Zu den Zeiten des Augustus und gewiss schon weit früher war
Burdigala, das heutige Bordeaux, der grösste Handelsplatz der ganzen
oceanischen Küste Galliens als End- und Umladepunkt für die Fluss-
schiffahrt und den Verkehr über den Isthmus zum Mittelmeere. Der
unter Ludwig XIV. vollendete Canal du Midi, der in Cette endet,
[577]Bordeaux.
belebte den Handel von Neuem. Aber diese Wasserstrasse genügt
schon lange nicht mehr den gesteigerten Anforderungen des modernen
Verkehres, und der „Canal des Deux Mers“, ein Seeschiffahrtscanal
zwischen Bordeaux und Narbonne, mit welchem man sich besonders
stark zu der Zeit beschäftigte, als die Deutschen an den Bau ihres
Nord-Ostsee-Canales gingen, wurde als Project schon ziemlich bald
begraben. Das heutige Handelsgebiet Bordeaux’ ist gegen das Land
hin hauptsächlich auf den Südwesten Frankreichs beschränkt.
Im überseeischen Verkehre bestehen die lebhaftesten Handels-
beziehungen mit Grossbritannien, Spanien, Senegambien, den La
Plata-Staaten, Westindien, Mexico und den Ländern, welche das
caraibische Meer begrenzen. Den Küstenhandel endlich beschäftigt
der Verkehr mit den grossen Häfen Nordfrankreichs, mit Nantes,
Marseille und selbstverständlich mit den benachbarten Plätzen.
Bordeaux ist heute dem Werthe und dem Umfange seines Ver-
kehres nach der dritte Hafen Frankreichs; vier Fünftel seiner
Ausfuhr sind französischen Ursprungs, und ein ebenso grosser Theil
seiner Einfuhr ist für den Verbrauch in Frankreich bestimmt.
Die Grundlage seines Handels ist der Weinbau an der Gironde.
Schon die gallischen Biturger haben den Weinbau betrieben, und als ihn
dann am Ende des III. Jahrhunderts Kaiser Probus überall ausserhalb Italien
gestattete, nahm er sofort einen neuen Aufschwung.
Im Laufe des Mittelalters entwickelte er sich derart, dass man schon im
Jahre 1372 im Hafen von Bordeaux 200 Schiffe mit Weingebinden befrachtete.
Heute geht über Bordeaux weit mehr als die Hälfte der Weinausfuhr Frankreichs,
und Frankreich ist doch für Wein der erste Ausfuhrstaat der Welt. Hier wachsen
aber auch im Médoc, der Landspitze zwischen dem linken Ufer der Gironde und
dem Golfe de Gascogne, die berühmten Rothweine: Chateau Lafitte, Chateau Mar-
gaux, Chateau Latour und Haut-Brion, und in Bordeaux steht die Kellerwirth-
schaft auf einer selbst für Frankreich selten hohen Stufe.
Der Ertrag der Ernte des südwestlichen Frankreichs entscheidet in viel-
facher Beziehung den Gang des Handels von Bordeaux für das nächste Jahr.
Der Weinhandel Bordeaux’ betrug:
| [...] |
Vorrath am 1. Januar 1888 2,017.116 hl, am 31. December 1888 1,715.624 hl.
Für das Jahr 1889 wird die Weinausfuhr ins Ausland mit 1,105.911 hl in
Fässern und 79.408 hl in Flaschen, die Einfuhr mit 1,763.260 hl angegeben.
Es ist bekannt, dass seit den Verwüstungen der Phylloxera der Wein-
handel von Bordeaux nicht mehr im Stande ist, aus dem Inlande jene Menge von
Rothwein zu beziehen, welche seine Abnehmer in allen Theilen der Erde bei ihm
bestellen.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 73
[578]Der atlantische Ocean.
So bezog man 1889 aus Spanien 675.318 hl, aus Portugal 622.390 hl, aus
Algier 259.300 hl, aus Italien 14.523 hl und aus allen übrigen Ländern 191.729 hl;
von diesen ist der wichtigste Staat Oesterreich-Ungarn, woher 1888 175.915 hl
kommen.
Aus den wohlfeilsten Gattungen französischer, spanischer, portugiesischer
und früher auch italienischer Weine werden die sogenannten „Vins de Cargaison“
bereitet, die nach Argentina und Uruguay, aber auch in die europäischen Staaten
gehen. Die Engländer, welche doch die besseren Sorten von Bordeaux-Wein be-
ziehen, dem sie den Namen Claret geben, rechnen, dass nur 50—60 % der in
ihren Häfen eingeführten Menge im Weingebiete von Bordeaux gewachsen seien.
Unausgesetzt steigt in England der Verbrauch von Bordeauxwein, der den Sherry
und den Portwein verdrängt.
Im Jahre 1889 gingen von Bordeaux nach England 188.198 hl, nach
Deutschland 191.530 hl, aber minder werthvolle Weine, nach den Niederlanden
72.482 hl, nach Belgien 67.045 hl.
Die Ausfuhr in die europäischen Staaten steigt, aber nicht in dem Masse,
als die nach Südamerika gesunken ist, denn 1887 führte man nach Argentinien
471.713 hl, nach Uruguay 91.058 hl aus, 1889 nach Argentinien 385.510 hl, nach
Uruguay 73.084 hl, 1888 war der Ausfall gegen das vorhergehende Jahr sogar
viel grösser. Die Erklärung dafür liegt darin, dass infolge des Zollkrieges mit
Italien den Weinen derselben Frankreich fast verschlossen wurde, und dass daher
Italien seine Weine direct an den La Plata führt. Auch entwickelt sich die Wein-
production Argentiniens durch eingewanderte Italiener und Basken.
Einen grossen Werth erreicht auch die Ausfuhr von Branntwein, aus Wein
hergestellt, als Cognac, Armagnac und Weinsprit, ferner die von Industriesprit
und von Liqueuren.
Die Ausfuhr aller Sorten zusammen erreichte 1889 175.321 q, 1888 171.173 q
(im Werthe von 20,083.586 Francs), 1887 197.110 q.
Weinsprit geht in erster Reihe nach den Niederlanden, nach England,
Deutschland, Schweden, Argentinien, den Vereinigten Staaten von Amerika, Däne-
mark, Norwegen und Belgien.
Von Tafelfrüchten wurden 1888 210.000 q im Werthe von 15,058.879
Francs, 1887 174.252 q ausgeführt.
In diese Gruppe gehören Wallnüsse (1888 45.267 q), und getrocknete
Pflaumen, die seit 1887 ihr Absatzgebiet in der Union zum grossen Theile
an die bosnischen Pflaumen verloren und daher 1889 im Preise stark herunter-
gehen mussten. Ausfuhr 1886 112.036 q, 1888 63.875 q; von den letzteren
ging die Hälfte nach Grossbritannien.
Von Nahrungs- und Genussmitteln sind ferner zu nennen grüne Gemüse
(1888 95.186 q, Werth 4,831.947 Francs, 1887 141.410 q), Kartoffel und Hülsen-
früchte (1888 100.792 q) und raffinirtes Oel (1888 66.107 q, Werth 5,402.533
Francs, 1887 72.864 q).
Die Ausfuhr von Olivenöl ist zurückgegangen, weil die Einfuhr des Oeles
aus Italien gesunken ist; Erdnussöl, auf welches mehr als die Hälfte obiger Ziffer
entfällt, geht in die Niederlande, die Erdnusskuchen, ein Nebenproduct der
hiesigen Fabriken, übernimmt zum grössten Theile Deutschland.
Wichtige Exportartikel von ausschliesslich ausländischer Herkunft sind
Kaffee, dessen Menge 1888 auf 3886 q gesunken ist, dann roher und raffinirter
[579]Bordeaux.
Zucker (1888 69.193 q, Werth 2,781.722 Francs, 1887 40.233 q), der seinen
stärksten Abnehmer in Chile findet, Cacao (1888 11.719 q, Werth 2,039.063
Francs) in erster Linie für die Schweiz bestimmt, und Vanille nach Belgien
und Deutschland und nach dem Senegal, ferner Getreide und Mehl.
Von den thierischen Nahrungsmitteln erreichten im Exporte Fische den
höchsten Werth, denn 1889 wurden 487.391 q, 1888 167.217 q (Werth 17,707.939
Francs), 1887 172.342 q ins Ausland versendet.
Bordeaux versorgt Spanien und Italien mit Stockfischen aus Neufundland
und Island (Ausfuhr 1888 110.486 q); im Lande bereitet ist der weitaus grösste
Theil der ausgeführten Sardinen in Oel eingelegt (1888 53.088 q), von denen
das meiste nach Grossbritannien, Deutschland, Argentinien und den Vereinigten
Staaten von Amerika geht.
Ausser dem Fange von Sardinen wird von La Teste und Arcachon aus
auch eine bedeutende Hochseefischerei an der Küste von dem Ausflusse der Gi-
ronde bis zur spanischen Grenze betrieben; weit wichtiger aber sind die grossen
Austernbänke in der Bai von Arcachon, in welche auch eine Zweigbahn der
Linie Bordeaux-Bayonne führt. In diesem seichten Bassin, dessen Wasserfläche
bei der Flut dreimal so gross ist als bei der Ebbe, sind die grössten Austern-
bänke Europas, welche 1881 mit 268,082.500 Stück die stärkste Ergiebigkeit
zeigten; 1888 wurden nur 203.279.000 Stück zum Durchschnittswerthe von
22 Francs für das Tausend gefischt.
Ins Ausland gingen über Bordeaux 1888 22·2 (1887 31·2) Millionen Stück,
und zwar nach England und Spanien. Die letzteren dienten zur Besetzung der
von Züchtern Arcachons an der spanischen Küste angelegten Bänke.
Die planmässige Bepflanzung der ausgedehnten Dünenlandschaften (les lan-
des) im Süden der Mündung der Gironde mit Strandkiefern und Strandföhren bleibt
ein unauslöschliches Verdienst Napoleon III. und der folgenden Regierungen
Frankreichs. Ein wenig ergiebiges Land wirft heute an Holztheer, Terpentinöl und
Harzkolophonium einen Ertrag von 30 Millionen Francs ab.
Ueber Bordeaux wurden 1888 46.803 q einheimischer Harze nach den
Niederlanden, Belgien und Grossbritannien verschifft, von Terpentinöl 16.162 q,
von Holztheer 2907 q.
Im Jahre 1889 war die Ausfuhr grösser, hatte aber mehr zu leiden unter
dem Mitbewerb der südöstlichen Staaten der Union.
Ueber Bordeaux werden auch exotische Gummisorten, meist Senegalgummi
(1888 6928 q, Werth 2,826.432 Francs, 1887 12.109 q) nach Grossbritannien und
der Union gesendet.
Die Ausfuhr von gemeinem Holz stammt ebenfalls meist aus dem Lande;
sie wird für 1888 mit 2,230.280 q (Werth 5,870.647 Francs), für 1887 mit
2,546.015 q angegeben. Ihren Haupttheil bildete Grubenholz für die Kohlenplätze
Grossbritanniens, Fichtenschwellen für Spanien, Algier und Columbien, Eichen-
schwellen, endlich Fassreifen, von welchen 1888 10,396.089 Stück nach Gross-
britannien und Guadeloupe versendet wurden.
Die Ausfuhr von rohen Fellen und Häuten. die überwiegend vom La Plata
stammen, erreichte 1888 44.977 q im Werthe von 9,082.703 Francs, 1887 31.814 q
und geht nach Grossbritannien, Deutschland und Belgien.
Ein Product der grossartigen Leder- und Fellbereitung und die Erzeugung
von Schuhwaaren des südwestlichen Frankreich ist die Ausfuhr dieser Artikel
73*
[580]Der atlantische Ocean.
über Bordeaux. welche 1888 8173 q im Werthe von 12,968.327 Francs, 1887
7545 q betrug, deren Hauptabsatzgebiet Südamerika und Westindien mit Mexico sind.
Denselben Weg nehmen Kleider und Wäschwaaren (1888 3599 q, Werth
6,420.879 Francs, 1887 7490 q), Baumwollgewebe (1888 35.224 q, Werth 19,937.920
Francs, 1887 31.921 q), Wollwaaren (1888 5528 q, Werth 8,009.388 Francs, 1887
9266 q) und Seidenwaaren (1888 142 q) und gemischte Stoffe. Ein grosser Theil
der Baumwollwaaren ist ausländischer Herkunft.
Andere Artikel sind chemische Producte (1888 116.857 q, Werth 9,236.844
Francs), darunter Weinstein, ferner Glas- und Thonwaren (1888 211.388 q, Werth
4,985.953 Francs), von welchen weisses Porzellan nach den Vereinigten Staaten,
Grossbritannien, Südamerika und Mexico, decorirtes Porzellan vor Allem nach
Chile, Fayence in das ganze romanische Amerika, nach Algier, Martinique und
Guadeloupe geht.
Für Flaschen sind die ersten Absatzländer Argentinien, Chile und
Spanien.
Bedeutende Artikel der Ausfuhr sind noch Papier und Papierwaaren (1888
32.748 q, Werth 2,670.052 Francs), Korbwaren (1888 95.186 q, Werth 4,831.947
Francs), Möbel 1888 53.401 q, Werth 2 Millionen Francs), Kurzwaaren (1888
44.977 q, Werth 9,082.703 Francs) und Hüte.
Bearbeitetes Korkholz, das unter der Concurrenz Spaniens leidet, geht
nach Grossbritannien und den Vereinigten Staaten (1888 5358 q, Werth 3,214.728
Francs).
Einer der wichtigsten Artikel sind auch Kupfer, Metallwaaren (1888
48.490 q, Werth 5,307.637 Francs), ferner Stahl und Eisen.
Die zweite Stelle in der Ausfuhr von Bordeaux nehmen Juwelierarbeiten
ein (1888 140 q, Werth 37,420.867 Francs), diese sind aber zu 16/17 ausländischer
Herkunft; ebenso wie Schirme (1888 6928 q, Werth 2,826.432 Francs), und
finden Absatz in Mexico, Westindien und Südamerika.
Die Ausfuhr im Wege des Küstenhandels umfasste vornehmlich Wein,
gemeines Holz, Kohle, Getreide und Mehl, Harze, Salz, von Industrieartikeln in
erster Linie Glas- und Porzellanwaaren.
Die Betrachtung der Einfuhr zeigt uns Wein, den wir schon behandelt
haben, als den wichtigsten Einfuhrartikel von Bordeaux.
Von Nahrungs- und Genussmitteln sind noch hervorzuheben Getreide und
Mehl (1888 1,534.140 q. Werth 28,823.785 Francs, 1887 1,499.385 q), aus den Ver-
einigten Staaten und vom Schwarzen Meere her, Reis (1888 207.584 q) und
Tafelfrüchte (1888 120.965 q, Werth 5 Millionen Francs) aus Spanien und Por-
Legende zum Plan von Bordeaux.
A Bojen für Schiffe, A1 Dampfer-Quai des Gironde-Dienstes, B Hafenstation der Pariser-Bahn, C Pont
de Bordeaux, D Pont Métallique, E Hafenstation (Gare Maritime) v. Brienne, G Flut-Bassin, H Bassin
d’Alimentation, J Messagerie Marit. (Quai de Bacalan), K Quai des Chartrons, L Place des Quinconces,
M Jardin public, N Banque de France, O Börse, P Zollamt, Q Grand Théâtre, R Quai de Gueyries,
S Quai Dechamps, T Eisenbahnstation de la Sauve, U Quai de Paludate, V Place de Pont, X Avenue
Thiers, Y Kaserne Maréchal Niel, Z Place de Bourgogne. — 1 Kathedrale Saint-André, 2 Hôtel de
Ville und Museum, 3 Justiz-Palais. 4 Hospital St. André, 5 Faculté de Droit, 6 Cours Victor Hugo,
7 Cours d’Alsace-Lorraine, 8 Rue St. Project, 9 Route de Toulouse, 10 Cours St. Louis, 11 Station der
Bahn du Medoc, 12 Cours de Tornay, 13 Place Gambetta, 14 Tabakfabrik, 15 katholischer Friedhof,
16 Taubstummen-Institut, 17 Reservoir der Wasserleitung Paulin, 18 Kirche St. Seurin, 19 Faculté
des lettres et des sciences, 20 Lyceum, 21 Faculté de Médecine, 22 Cours St. Jean, 23 Petit Seminaire,
24 Eisenbahnstation du Midi, 25 jüdischer Friedhof, 26 Boulevard de Talence, 27 Boulevard, 28 College
Tivoli, 29 Kirche St. Michel, 30 Kirche Notre Dame, 31 Allée de Boutaut.
[[581]]
(Legende siehe auf Seite 580.)
[582]Der atlantische Ocean.
tugal, bis auf den dritten Theil von Reis alles bestimmt für den Consum in
Frankreich.
Die Einfuhr von Sprit (1888 146.465 q, Werth 6,513.338 Francs) ist unter
dem Einflusse der hohen Zölle gesunken. Die Hauptbezugsländer sind für
Industriesprit Deutschland und Schweden, für reinen Alkohol Algier, Spanien,
Rumänien, Oesterreich-Ungarn.
Die ganze Physiognomie des Hafens verräth aber den intensiven Handel
dieses Platzes mit den Tropenlandschaften, speciell Westafrika und Centralamerika;
Neger tummeln sich auf den Quais, und Dampfkrahne entnehmen den tiefen Schiffs-
körpern tropische Producte. Die wichtigsten Stapelartikel dieser Provenienz sind:
Kaffee (1888 43.192 q, Werth 8,379.248 Francs) aus Brasilien, Rohr-
zucker (1888 254.472 q, Werth 9,424.197 Francs) aus Martinique, Guadeloupe
und Réunion; auch Melasse (1888 155.123 q) wird zur Verarbeitung in den
hiesigen Destillerien eingeführt.
Bordeaux ist ein Hauptplatz für Cacao von der Nordküste Südamerikas
und aus Westindien (Einfuhr 1888 32.842 q), wovon nur ein Drittel zum Consum
für Frankreich bestimmt ist, für Vanille von den Mascarenen und Mexico und für
Blättertabak (1888 35.407 q), zum Verbrauch in Frankreich; die eingehenden
Tabakfabricate sind für Südamerika bestimmt.
Die Einfuhr von Oel (1888 25.786 q), umfasst Palmöl vom Senegal und
Olivenöl; umfangreicher aber ist die Einfuhr von Erdnüssen und ölhältigen
Samen (1888 238.898 q), welche in Bordeaux verarbeitet werden.
Die Indigoeinfuhr (1888 37.318 q) ist ganz für Frankreich bestimmt.
Exotische Gummen und Harze wurden 1888 in der Menge von
23.377 q (Werth 9,537.820 Francs) zumeist vom Senegal eingeführt.
Von thierischen Nahrungsmitteln sind vor Allem Fische (1888 294.285 q.
Werth 21,569.409 Francs) zu nennen, denn für den Stockfischfang bei Neufund-
land ist jetzt Bordeaux der wichtigste Hafen Frankreichs.
Schweineschmalz kommt direct und über England aus den Vereinigten
Staaten nach Bordeaux, Speck aus Liverpool, Oesterreich-Ungarn und Dänemark.
Die Einfuhr von Fett, ausgenommen Fischthran, erreichte 1888 64.685 q, Werth
5,623.417 Francs.
Auch die Einfuhr von Fleisch in Büchsen und von gesalzenem Fleisch
(1888 29.147 q, Werth 3,829.274 Francs) sowie die von Käse (1888 15.761 q)
ist ansehnlich.
Die Einfuhr von gemeinem Holz, und zwar von Bauholz bestimmt für
den Consum in Frankreich, ist vielmal grösser als die oben angegebene Ausfuhr.
Sie betrug 1888 1.534.140 q im Werthe von 28,823.785 Francs, 1887 1,540.882 q,
und war 1889 um ein Drittel kleiner als 1888. Weitaus das meiste von gesägtem
Fichten- und Tannenholz kommt aus Schweden, ferner aus Russland, den Ver-
einigten Staaten, Neu-Braunschweig und Norwegen, gehobelte Fussbodendielen
sendet Norwegen, Stabholz Oesterreich-Ungarn, und zwar 1888 19,684.265 Stück
bei einer Gesammteinfuhr von 22,683.331 Stück.
Die Einfuhr von unbearbeitetem Kork aus Spanien und Portugal, von be-
arbeitetem aus Spanien übersteigt die Ausfuhr Bordeaux’, wie sich das bei dem
starken Bedarfe des dortigen Weinhandels an Stöpseln von selbst versteht.
Bedeutend ist auch die Einfuhr Bordeaux’ an Farbhölzern, besonders
von Campêcheholz von den Antillen und von Gelbholz aus Maracaibo; doch in
[583]Bordeaux.
letzterem hat Bordeaux seine früher führende Stellung an Hâvre und Rouen ab-
getreten.
Die zahlreichen Dampfschiffverbindungen mit den La Platastaaten haben
die Folge, dass ungefähr 60 % der Ausfuhr dieser Gebiete an Schaffellen nach
Europa in Bordeaux gelandet werden. Früher waren Liverpool und Antwerpen die
wichtigsten Empfangshäfen. Da Südamerika den Bedürfnissen der Fabriken Frank-
reichs nicht mehr genügen kann, so zieht man auch Schaffelle aus Australien
heran. Von Häuten und Fellen wurden 1888 193.145 q (Werth 34,776.494 Francs),
1887 195.973 q eingeführt.
Für La Plata-Wolle (1888 9807 q) vermochte Bordeaux keine grössere Be-
deutung zu erlangen.
In Bordeaux — als einem Ausgangshafen nicht nur Frankreichs, sondern auch
Mitteleuropas für Westindien und Südamerika — wurden eingeführt 1888 20.278 q
(Werth 10,762.607 Francs), 1887 22.972 q Baumwollfabricate, ferner Juwelen
(1888 124 q, Werth 35,529.740 Francs), und Uhren (1888 153 q, Werth
2,961.596 Francs). Dagegen sind Rohjute und Jutestoffe fast ausschliesslich für
den französischen Markt bestimmt. Dasselbe gilt von Maschinen, eisernen Schiffen
und von Metallarbeiten.
Die ganz bedeutende Einfuhr chemischer Producte (1888 369.308 q, Werth
8,768.097 Francs) und von Schwefel umfasst in der Hauptsache Mittel zur Be-
kämpfung von Phylloxera und anderer Feinde des Weinstockes.
In den Consum Frankreichs gehen auch über die eingeführten Mengen von
Blei, Zink, Kupfer (1888 49.791 q, Werth 9,211.317 Francs), dann drei Viertel der
Einfuhr von Kohlen (1888 4,283.211 q, 1887 3,978.530 q).
Von der Einfuhr im Wege des Küstenhandels kommen zwei Fünftel der
Menge auf Baumaterialien; wichtig sind noch Eisen und Stahl, Getreide, Wein,
Sprit, endlich Seife von Marseille.
In Bordeaux tritt die Industrie gegen den Handel, speciell gegen das
Weingeschäft ganz zurück.
In drei grossen Etablissements werden Thonwaaren erzeugt, es bestehen
ferner eine Staatsfabrik für Tabak, mehrere chemische und Maschinenfabriken,
drei Schiffbauanstalten, Oelraffinerien, Biscuitfabriken.
In zahlreichen kleineren Unternehmungen werden besorgt das Conserviren
von Gemüsen, Früchten, Fische und Fleisch, die Erzeugung von geschätzten
Liqueuren, von Seidenwaaren und jene anderen Industrien, die mit dem Wein-
handel im Zusammenhang stehen.
Somit erfährt durch die einheimische Industrie der Handel Bordeaux’ keine
besondere Förderung, dafür der Schiffsverkehr durch die Auswanderung, welche
1887 11.802, 1888 18.719 und 1889 28.905 Menschen umfasste und nur nach
Südamerika, vornehmlich nach Argentinien gerichtet war. Die stärkste Zunahme
entfällt auf Franzosen, den Rest bilden Spanier (1889 7459) und Italiener (1233).
Der Handel von Bordeaux ohne Edelmetalle betrug:
| [...] |
Ueber Bordeaux findet auch ein nicht unbedeutender Verkehr in Edel-
metallen statt, welcher 1888 10,684.047 Francs in der Ausfuhr und 5,945.168
Francs in der Einfuhr umfasste.
In den Entrepôts von Bordeaux lagerten 1888 mit Einschluss des Stockes,
der vom Jahre 1887 herübergenommen wurde, 2,482.900 q ausländische Waaren
im Werthe von 74,114.600 Francs.
Der Schiffsverkehr von Bordeaux betrug:
| [...] |
Ueberraschend gross ist der Antheil der britischen Flagge an dem Ver-
kehre Bordeaux mit dem Auslande, da sie mehr als die Hälfte der ganzen Tonnen-
zahl stellt, und 31 % Schiffe, welche den Hafen besuchen, vermitteln den Verkehr
mit England. Immer stärker wird das Uebergewicht der englischen Schiffe, heute
erreicht im Auslandsverkehre die französische Flagge nur mehr zwei Drittel der
Tonnenzahl der englischen.
In geringem Masse sind betheiligt die Flaggen von Schweden, Norwegen,
Deutschland, Spanien und Dänemark.
Mit dieser Zunahme der englischen Flagge steht im Zusammenhang der
Rückgang der Marine der Stadt, die am 31. December 1888 54 Dampfer mit
26.778 t und 101 Segelschiffe mit 44.357 t zählte.
Die Postdampferverbindungen von Bordeaux sind der Lage des
Hafens entsprechend nach Westafrika, Südamerika und Westindien gerichtet. Die
Chargeurs réunis besuchen die Plätze Westafrikas bis Loango hinunter; die
Messageries maritimes gehen über Dakar in Senegambien und Brasilien bis Buenos
Ayres; die Pacific Steam Navigation Cy. kommt aus Liverpool, läuft Lissabon, die
Häfen Brasiliens und Montevideo an und endet ihre Fahrt auf der Westküste
Südamerikas in Callao; auch die Chargeurs réunis aus Hâvre berühren Bordeaux.
Die Compagnie Générale Transatlantique lässt in drei Linien ihre Schiffe aus
Hâvre über Bordeaux nach Westindien verkehren; eine Linie verfolgt die Nord-
küste Südamerikas und endet in Colon-Aspinwall an der Landenge von Panama,
die zweite geht über St. Thomas nach Haïti und die dritte über Habana nach
Vera-Cruz.
Nach Colon und Vera-Cruz fahren ferner von hier die West India and
Pacific Steam Ship Gy. und die Harrison Line aus Liverpool.
Andere Schiffahrtsgesellschaften sind die Compagnie bordelaise de naviga-
tion à vapeur, welche nach New-York fährt, die Compagnie générale des bateaux
à vapeur à hélice du nord, welche nach Nordfrankreich, dann nach Marseille geht
und Güter in Durchfracht für die Messageries maritimes aufnimmt. Ferner be-
stehen Dampfschiffsverbindungen nach Spanien, Portugal, Algier, Italien, Gross-
britannien, Antwerpen, Amsterdam, Bremen, Hamburg und Canada. Eine neue
Linie ins Mittelmeer mit der Endstation Fiume wird errichtet.
Flussdampfer fahren die Gironde-Garonne aufwärts, der Binnenhandel
aber stützt sich zumeist auf die Eisenbahnlinien, welche den Hafen mit Nantes,
[585]Bordeaux.
Tours, Orléans, Clermont, St. Etienne, Toulouse und Bayonne verbinden, und die
linke Seite der Mündung des Flusses begleitet bis Le Verdon eine siebente Linie,
die Médoc-Eisenbahn, welche auch Pauillac, den Vorhafen von Bordeaux, berührt,
wo ganz grosse Schiffe, wie die der Pacific Steam Navigation Cy., das Ende ihrer
Fahrt erreichen.
Bordeaux ist ein wichtiger Platz für Nordspanien, eine wichtige Station
des internationalen Schnellzuges Paris-Bayonne-Madrid-Lissabon, und mit der Aus-
führung von Bahnen über die Pyrenäen, von denen zwei durch Staatsverträge
zwischen Frankreich und Spanien genauer bestimmt sind, würde seine Bedeutung
für den Norden und Südosten des Nachbarlandes ungemein steigen, und durch
die Linie Noguera-Pallaresa werden Calais und Cartagena die Endpunkte der
Ueberlandroute zwischen England und Algier werden.
In Bordeaux bestehen 23 Schiffsagenturen und Seeassecuranzen, hier hat
die Bank von Frankreich eine Succursale, neben der 4 andere Banken und zahl-
reiche Privatgeschäfte dem Verkehr dienen.
Es entspricht der Bedeutung des Verkehres mit Spanien, dass hier ausser
einer nationalen auch eine spanische Handelskammer besteht.
Consulate haben in Bordeaux: Argentinien, Belgien, Bolivia, Brasilien
(V.-C.), Chile, Columbia, Costarica, Dänemark, Deutsches Reich, Dominikanische
Republik (G.-C.), Ecuador (V.-C.), Griechenland, Grossbritannien, Guatemala, Haïti,
Havaii, Honduras, Italien, Liberia, Mexico, Monaco, Nicaragua, Niederlande, Oester-
reich-Ungarn, Paraguay (G.-C.), Persien, Peru, Portugal, Russland (G.-C.), San
Marino, Schweiz, Serbien, Spanien, Türkei (G.-C.), Uruguay, Venezuela, Vereinigte
Staaten.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 74
[[586]]
Nantes.
Wir stehen Nantes gegenüber mit theilnahmsvollem Blicke voi
einer gefallenen Grösse. Die Stadt hat ihre Bedeutung als Seehandels-
platz durch die Ungunst der hydrographischen Verhältnisse völlig
eingebüsst, und wenn die Stadt heute noch genannt wird, so dankt
sie es ihrer Transformation in eine Industriestadt. Wenn es eine Ironie
des Schicksals gibt, so hat sie sich hier bethätigt.
Dasselbe unternehmende Nantes, welches heute durch die ver-
sandete Loire von dem Meere fast abgeschnitten ist, hatte, in der
Meinung, dass Saint-Nazaire sein natürlicher Hafenplatz werden könne,
die Gründung desselben lebhaft begünstigt, bald aber musste man
zugeben, dass man eine gefährliche Nebenbuhlerin grossgezogen
hatte. Für die modernen Schiffe ist der seichte Hafen von Nantes un-
nahbar geworden, während sie in Saint-Nazaire bequem ankern können.
Nantes liegt ungefähr 53 km flussaufwärts von Saint-Nazaire und
ist nur für Schiffe bis 3 m Tauchung ohne Gefahr erreichbar; grössere
Schiffe dagegen finden in den zahllosen Sandbänken des Flusses
ernstliche und gefährliche Verkehrshindernisse.
Einst die viertgrösste Seehandelsstadt Frankreichs, rangirt Nantes
gegenwärtig ungefähr auf dem achtzehnten Platz.
Auch der grosse Passagierverkehr nach Amerika hat die Stadt
umgangen und Saint-Nazaire zur Kopfstation erwählt, wo die mäch-
tigen Postdampfer der Compagnie Transatlantique anlegen.
Dessenungeachtet besitzt Nantes noch immer eine beträchtliche
Rhederei, allein der Schiffsverkehr hat bedenklich abgenommen.
Die Hauptmasse der Stadt liegt am rechten Ufer der Loire,
während auf den vorliegenden Flussinseln und am linken Ufer, wie
unser Plan zeigt, einzelne Stadttheile und Vorstädte lagern, die durch
zahlreiche Brücken, meist Steinbauten, untereinander verbunden sind.
Von einem Punkte des Hafens nördlich der kleinen Insel Lemaire
aus gesehen, bietet Nantes ein recht malerisches Bild. Rechter Hand
[587]Nantes.
liegen die Schiffsbauwerften der Insel Prairie du Duc, vor uns das
Quartier der Insel Madeleine mit ihren effectvollen Brücken, daneben
die kleine Insel Feydeau mit alterthümlichen Gebäuden, dann wieder
die regelmässigen Bogenreihen der Brücken, welche zum herrlichen
Quai führen, der in einer Erstreckung von 4 km durch seine pracht-
volle Häuserfront die Aufmerksamkeit fesselt. Eine reiche architekto-
nische Ausstattung mit figuralem Schmuck ist den meisten Gebäuden
der Quaifront eigen. Im XVIII. Jahrhundert entstanden, als der Handel
der Stadt den Höhepunkt erreichte, ist der Quai noch heute das her-
vorragendste und interessanteste Gebiet von Nantes.
Eisenbahn und Tramways (mit comprimirter Luft betrieben)
führen längs demselben und tragen sehr viel zu seiner Belebung bei.
Im nördlichen Theile des Quais erhebt sich am Ufer des Canals
St. Felix das von tiefen Gräben umgebene alterthümliche Schloss,
eigentlich die Burg von Nantes, gewöhnlich Le Château genannt,
ein düsteres Bauwerk, das robuste Vertheidigungsthürme flankiren.
Seine Entstehung wird in das IX. oder X. Jahrhundert verlegt. Die
Herzoge von Bretagne residirten hier wiederholt, und Duc François
liess 1466 das Schloss umbauen. Der Bau der noch heute bestehen-
den drei Thürme wird der Herzogin Anna, der letzten Beherrscherin
der Bretagne, zugeschrieben. Im Innern des Château erhebt sich das
stylvolle Gebäude des Grand logis, die eigentliche Residenz, mit
hübschen Giebelfenstern und Zierwerk. Viele Erinnerungen knüpfen
sich an diesen Bau. Zwei vielgenannte Damen beherbergte derselbe:
Madame de Sevigné wohnte hier 1675, und die Herzogin von Berry
ward 1832 hier in Gewahrsam gehalten, bevor man sie in die Cita-
delle von Blaye abführte. Auch andere Staatsgefangene, wie Floquet,
der Cardinal de Retz, weilten in dem Schlosse.
Anstossend an dasselbe eröffnet sich mit wirksamem Contrast
die einladende Promenade Cours Saint-Pierre und in ihrer Verlänge-
rung der Cours Saint-André; zwischen beiden liegt der Platz
Louis XVI. Die Standbilder Anna von Bretagne, Arthur III., du
Guesclin und Olivier de Clisson zieren die schönen Baum- und Blu-
menanlagen, im Centrum des Platzes aber erhebt sich eine 28 m hohe
Säule mit der Statue des unglücklichen Königs Ludwig XVI.
Nächst dem Platze gewahrt man den hohen Bau der gothischen
Kathedrale mit den beiden massigen Thürmen von 63 m Höhe. Das
interessante Gebäude ruht auf alten Fundamenten. Schon gegen Ende
des III. Jahrhunderts stand dort die erste Kathedrale von Nantes,
welche um das Jahr 570 durch den heil. Felix in eine Basilica um-
74*
[588]Der atlantische Ocean.
gebaut und mit einem Thurme geschmückt wurde. Im XII. Jahrhun-
dert trat an ihre Stelle ein romanischer Bau, bis auch dieser 1434
zum grossen Theil demolirt werden musste, um der heutigen Kathe-
drale Raum zu geben.
Die Kirche besitzt mehrere geschätzte Bilder, sehenswerthe Bas-
reliefs und plastische Werke. Unter letzteren sind das 1507 von
Michel Colomb geschaffene, in edelstem Styl gehaltene Grabmal
Franz II. Herzog von Bretagne und jenes des zu Nantes geborenen
Generals Lamoricière, ein Werk Paul Dubois’ (1879), würdig, beson-
ders hervorgehoben zu werden.
Ausser der Kathedrale und der 1469 erbauten Kirche der un-
befleckten Empfängniss sind die zwölf anderen katholischen Kirchen,
der protestantische Tempel und die Synagoge im Laufe der letzten
50 Jahre entstanden.
Eine Sehenswürdigkeit der Stadt ist die monumental angelegte
Passage Pommeraye, welche die beiden Gassen Rue Fosse und Rue
Santeuil nächst der Rue Crébillon durch drei Gallerien miteinander
verbindet. Die oberste der letzteren zieren die Medaillonbilder be-
rühmter Bretonen. Von der zweiten, Galerie des Statues genannt, führt
eine Treppe von 52 Stufen hinab zur Galerie de la Fosse. Das
ganze Bauwerk ist sehr effectvoll durchgeführt.
Die Geschichte der Stadt führt zurück in die Zeit der Römerherrschaft.
Condivicuum war, nach der Darstellung Joannes, der vornéhmste Ort der Nam-
neten, er lag aber ferne von der Loire. An dieser dagegen war der Portus Nam-
netum entstanden und zu Bedeutung gelangt. Die beiden Orte verbanden sich in
der Folge, und wurde Nantes der Mittelpunkt der römischen Verwaltung jenes
Gebietes, bis die Uebergriffe der letzteren die Vertreibung der Römer (407) her-
beiführte. Nantes gelangte nun unter die Herrschaft der Bretonen, deren Regenten
die Stadt zu ihrer Residenz erwählten. Schon damals hatte das Christenthum
dort feste Wurzel gefasst, nachdem der h. Clarus um die Mitte des III. Jahr-
hunderts die neue Lehre dort verkündete und die beiden Brüder Donatin und
Rogatin (299) den Märtyrertod erleiden mussten.
Nantes hatte ebenfalls die Schrecken der Völkerwanderung zu erdulden.
In den Kämpfen der späteren Zeit war Nantes unter den Königen und
Herzogen von Bretagne eine wichtige Rolle zugefallen. Während des Krieges
zwischen Jean de Montfort gegen Charles de Blois im XIV. Jahrhundert hatte
die Stadt für ersteren Partei ergriffen, fiel jedoch (1342) in die Gewalt der
Gegner.
Als Montforts Sohn endlich siegte und Herzog von Bretagne wurde, ver-
band er sich mit England, aber Nantes verwehrte letzterem den Einzug.
Von den Engländern angegriffen, widerstand die Stadt heroisch, nachdem
sie schon 1345 erfolglos von Eduard III. belagert worden war.
Die letzte Herzogin von Bretagne, Anna, ehelichte Karl VIII. von Frank-
reich (1491) und brachte ihm die Bretagne als Mitgift zu.
[589]Nantes.
Im Jahre 1598 unterzeichnete hier Heinrich IV. das für die Rechte der
Evangelischen so wichtige Edict.
Die französische Revolution am Ende des vergangenen Jahrhunderts er-
füllte Nantes mit Schrecken und Elend. Die Stadt wurde eine der am ärgsten
heimgesuchten Gegenden Frankreichs. Hier mordete 1793 der berüchtigte Carrier,
welchen der Pariser Wohlfahrtsausschuss nach Nantes delegirt hatte, mit Guillo-
tine und den barbarischen Noyaden oder sogenannten republikanischen Hochzeiten
(mariages républicaines).
Die Schiffe konnten damals keinen Anker lichten, ohne dass ein Leichnam
Nantes.
am selben heraufbefördert wurde. Vier Monate währte die Infamie des Carrier,
bis auch diesen die Willkür des Convents ereilte.
Das Kaiserreich brachte Nantes, wie allen Seestädten Frankreichs, den
Ruin seines Seehandels, und es scheint, dass die Anlage des grossartigen Canals,
der die Stadt mit dem Hafen von Brest verbindet (Canal de Bretagne), als Ent-
schädigung für die Verluste gelten sollte, welche sie erlitten hatte.
Nantes unter 47° 13′ nördl. Breite und 1° 33′ westl. Länge von
Greenwich gelegen, zählt (1886) 127.500 Einwohner und zeichnet
sich durch eine für eine Seestadt auffallende Nettigkeit und Sauber-
keit der Strassen und Plätze aus.
[590]Der atlantische Ocean.
Die Stadt besitzt werthvolle Sammlungen, unter welchen das
Musée de Tableaux et de Sculptures durch eine reiche Zahl von
Kunstwerken, die Bibliothèque publique (100.000 Bände) durch seltene
Manuscripte, das Musée d’histoire naturelle und das Musée archéolo-
gique durch sehenswerthe Objecte sich auszeichnen.
Nantes verfügt über ein Lyceum, eine École de médecine et de
pharmacie, eine hydrographische Schule, dann über Gewerbe- und
Zeichenschulen u. dgl.
Zu erwähnen wäre noch der landschaftlich schön angelegte
Jardin des Plantes am Nordende der Stadt, der herrliche Bäume,
namentlich Magnolien, schattige Wege, Teiche, Cascaden und male-
rische Grotten enthält, überhaupt einer der prächtigsten öffentlichen
Gärten Frankreichs ist.
Wie bereits erwähnt ist die commercielle Situation von Nantes
durch die veränderten Navigationsverhältnisse von Jahr zu Jahr eine
misslichere geworden. Es mangelte deshalb nicht an Projecten, die-
selbe zu bessern. Alle drehen sich darum, die grosse Schiffahrt bis
Nantes zu ermöglichen. Ausser verschiedenen projectirten Strom-
regulirungsarbeiten, die allmälig durchgeführt werden, verspricht man
sich durch die Herstellung eines Schiffscanals, der zwischen La
Martinière und Paimboeuf längs dem linken Ufer der Loire ausge-
hoben werden soll und auf 14 km Länge projectirt ist, eine kräftige
Abhilfe. Der Canal, dessen Bau 1882 begann, soll 4·4 m Tiefe
erhalten.
Die Gezeiten sind bis oberhalb Nantes fühlbar; im letztgenannten
Hafen steigt die Springflut 5·9 m. Die Flutwelle legt den Weg von
Saint-Nazaire bis Nantes in 2 Stunden 45 Minuten (5 m in der Se-
cunde) zurück.
Nantes, der alte Sammelplatz und Ausfuhrhafen für das frucht-
bare und reiche Becken der Loire, hat seit der Schaffung seines
Vorhafens St. Nazaire jede Bedeutung für die Ausfuhr ins Ausland
verloren, weil dieser Theil des Verkehres durch grosse Schiffe ver-
mittelt wird; nur die Ausfuhr im Küstenhandel, vorab nach Bordeaux
und Bayonne belebt seinen Hafen.
Dafür ist die Einfuhr aus dem Auslande, zumal aus Westindien,
wohl nicht auf der alten Höhe geblieben, aber sie übertrifft die Ein-
fuhr dem Werthe nach um das Vierfache, und alle diese Waaren
sind für den Verbrauch in Frankreich und nicht zum kleinsten Theile
für die Bedürfnisse der ausgebreiteten und mannigfaltigen Industrie
von Nantes bestimmt.
[591]Nantes.
Auf seiner commerciellen und seiner Fabriksthätigkeit, der auch
die bedeutende Einfuhr im Wege des Küstenhandels dient, und auf
den Capitalien und Verbindungen seiner alten Kaufmannshäuser be-
ruht das Uebergewicht von Nantes gegenüber dem jungen Saint-
Nazaire. Denn die Kaufleute, die Agenten der Seeassecuranzen, alle
jene Einrichtungen, welche zum Wesen einer Handelsstadt gehören,
befinden sich in Nantes und fehlen in St. Nazaire; dieses ist die
richtige Succursale, der Hilfsplatz der Mutterstadt, die ihn ja ge-
schaffen hat.
Nantes erwartet sogar von der oben angeführten Vertiefung der
Unter-Loire eine Steigerung seines Handels auf Kosten von Saint-
Nazaire; doch diese dürfte sich kaum bei der Ausfuhr ins fern gelegene
Ausland geltend machen, dafür aber um so kräftiger für den Küsten-
verkehr und die Ausfuhr von Nahrungsmitteln nach England, die
heute über St. Nazaire hinausgehen.
Den werthvollsten Theil der Ausfuhr ins Ausland bilden die Erzeugnisse
der Industrie, und zwar Farbholzextracte (1888 10.127 q, Werth 1,286.118 Francs)
französischen Ursprungs, dann Maschinen (8566 q, Werth 1,134.850 Francs) und
Metallwaaren (33.314 q, Werth 1,017.184 Francs), beide zum grösseren Theile aus-
ländischer Herkunft.
Die übrigen Artikel der Ausfuhr sind nationalen Ursprungs. Wir nennen
als solche zunächst Getreide und Mehl, gewöhnliche Hölzer und Möbel sowie
andere Arbeiten aus Holz.
Auch die in Nantes conservirten Nahrungsmittel, dann Düngemittel bilden
einen ansehnlichen Posten der Ausfuhr.
Die Ausfuhr im Wege des Küstenhandels übertrifft der Menge nach die
Ausfuhr ins Ausland um die Hälfte; ihre wichtigsten Artikel sind Getreide und
Mehl, Baumaterialien, Zucker und Düngemittel.
Nantes ist im Stande, auch neben St. Nazaire seine Stellung als Entrepôt für
den Eintritt der Colonialwaaren in das Loirebecken zu behaupten; das beweist
die Zunahme der Einfuhr von westindischem Rohrzucker, dem wichtigsten Ar-
tikel der Einfuhr unseres Hafens (1888 401.737 q, Werth 14,864.260 Francs,
1887 343.205 q).
Aus Westindien kommen auch Cacao (1888 40.678 q, Werth 7,078.007
Francs) und Kaffee.
Wichtige Einfuhrartikel sind ferner Wein aus Portugal und Spanien (1888
126.926 q, Werth 4,077.554 Francs), Tafelfrüchte (1888 56.625 q, Werth
1,866.552 Francs), Olivenöl (1888 14.610 q), ölhältige Samen, Fette und Fische.
Zu nennen sind noch gewöhnliche Hölzer (1888 247.017 q, Werth
2,262.057 Francs) aus Nordeuropa und Nordamerika, dann für die Verarbeitung
in den Fabriken von Nantes Hanf (1888 29.012 q, Werth 2,249.762 Francs, 1887
42.780 q) aus Russland, Hadern, Gusseisen und Stahl (1888 130.237 q), Kupfer
und Blei.
[592]Der atlantische Ocean.
Die Einfuhr im Wege des Küstenhandels kommt zumeist aus Dünkirchen
und Boulogne, dann aus Bordeaux und Marseille und umfasst Steine und Erde
zum Verbrauche in der Industrie, Eisen und Stahl, Baumaterialien, Fette und
Weine.
Die Bedeutung der Industrie für den Handel von Nantes wurde bereits
hervorgehoben.
In der Stadt selbst und in dem benachbarten Chantenay sind grosse me-
tallurgische Fabriken, Giessereien für Blei, Eisen und Kupfer, Fabriken für
Ackerbaumaschinen, Schiffsbauanstalten und ein grosses Etablissement für Glas-
malerei.
Hier werden Baumwoll-, Schafwoll- und Leinenwaaren, besonders Netze
und Segeltuch, Seidenwaaren, ferner Leder und Möbel erzeugt; aber die Textil-
industrie wird von der Uebermacht der in der Normandie angesiedelten zurück-
gedrängt.
Bedeutend ist die Fabrication von Seife, Oel und Oelkuchen, dann die
Tabakfabrik, welche 1800 Arbeiter beschäftigt.
Für die Versorgung der Schiffe bestehen grosse Anstalten zur Conservi-
rung von Gemüse und Fleisch; hochberühmt sind endlich die „Sardinen von
Nantes“.
Seit der Stockfischfang auf der Neufundlandbank betrieben wird, streichen
an den südwestlichen Küsten die Sardinen. Ihr Fang bildet die Grundlage einer
einträglichen Industrie, und nirgends versteht man sich besser darauf, die kleinen
zarten Fische in Oel einzulegen, als in Nantes.
Aber seit 1879 sind die Sardinen den Gestaden untreu geworden, die sie
seit Jahrhunderten aufgesucht haben, sie weilen mit Vorliebe an den Küsten von
Portugal und Spanien, und erst 1888 erschien wieder der Fisch in grossen Mengen
an der Mündung der Loire.
Man nimmt an, dass der Golfstrom, der die Abfälle der gefangenen Fische
von Neufundland an die Küsten Frankreichs bringt, seinen Lauf geändert habe
und dass mit ihm die Sardinen dem Futter nachziehen.
Bis 1878 blühten in Nantes die Raffinerien des westindischen Rohrzuckers,
man nannte es mit Recht die „Zuckerstadt“.
Aenderungen des Steuersystems haben den Schwerpunkt der Raffinerien
nach Paris verlegt.
Legende zum Hafen von Nantes.
A Einfahrt nach Nantes, B Seehafen, C Insel Feydeau, D Flusshafen (Port fluvial) E Bras de l’Hopita
F Leuchtfeuer, G Pont de la Rotonde, H Bras de la Bourse, I Pont de la Belle-Croix. J Pont d’Aiguillon
K Docks, L Pont Mandit, M Pont de la Bourse, N Pont Haudaudine, O Pont de la Madeleine, P Eisen
bahnbrücke, Q Pont de Pirmil, R Canal Cadet-Dubois, S Canal de Chantenay, T Canal Nord-Sud
U Canal Est-Ouest, V Canal Pelloutier, W Canal Blanchard, X Dämme (Digues submersibles) Y Cana
von Nantes nach Brest, Z Pont de Trachtir am Malakoff-Quai. — 1 Château (Burg), 2 Kathedrale
3 Ronde de la Duchesse Anne, 4 Cours St. Pierre, 5 Place Louis XVI., 6 Lyceum, 7 Friedhof, 8 Boule-
vard Sébastopol, 9 Personenbahnhof der Comp. d’Orleans, 10 Tabakfabrik, 11 Hôtel Dieu, 12 Chaussée
de la Madeleine, 13 Kirche St. Croix, 14 Hôtel de Ville, 15 Préfecture, 16 Gaswerke, 17 Kirche St. Similien,
18 Theater de la Renaissance, 19 Justiz-Palais, 20 Gefängniss, 21 Boulevard Delorme, 22 Kirche
St. Nicolas, 23 Grand Théâtre in der Place Graslin, 24 naturhistorisches Museum, 25 Börse, 26 Hallen,
27 Place Royale und Rue Crébillon mit Gallerien der Passage Pommeraye, 28 Rue Voltaire, 29 Cours
Cambronne, 30 Zollamt, 31 Station de la Bourse, 32 Notre-Dame de Bon-Port (Place du Sanitat),
33 Place Launay, 24 Avenue Launay, 35 Rue Jean Jacques Rousseau, 36 Banque de France, 37 Boule-
vard St. Aignan, 38 Place Canelaux, 39 Friedhof Ste. Anne, 40 Station von Chantenay, 41 allgemeines
Hospital de St. Jacques, 42 Friedhof St. Jacques, 43 Schiffswerften, 44 Steinbruch von Mizery.
[[593]]
(Legende siehe auf Seite 592.)
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 75
[594]Der atlantische Ocean.
Der Waarenhandel von Nantes betrug:
| [...] |
Schiffsverkehr:
| [...] |
Nantes steht in Dampfschiffsverbindung mit Hâvre, mit England, den
spanischen Plätzen, Marseille, Algier, Smyrna und den Mascarenen.
Den Dienst auf der Loire besorgen 4 Unternehmungen.
Eisenbahnverbindungen besitzt Nantes mit St. Nazaire, seinem Vorhafen
auf dem rechten Ufer der Loire und mit Paimboeuf auf dem linken. Diese sind
Flügel von zwei der sieben Bahnen, welche von Nantes in das Innere des
Landes führen. In die Bretagne besteht überdies die bereits erwähnte Canalver-
bindung bis Brest.
In Nantes bestehen Succursalen der Bank von Frankreich und von drei
anderen Banken.
Nantes ist Sitz einer Handelskammer und eines Handelsgerichtes.
In Nantes bestehen Consulate folgender Staaten: Argentinien, Belgien,
Chile, Costarica, Dänemark, Deutsches Reich, Grossbritannien, Haïti, Niederlande,
Oesterreich-Ungarn, Paraguay, Peru, Schweden und Norwegen, Schweiz, Türkei,
Uruguay, Venezuela.
[[595]]
Saint-Nazaire.
Wie die meisten atlantischen Häfen Frankreichs, leiden auch
jene des Gebietes der Loire unter der Calamität eines geringen
Wasserstandes, ein Uebelstand, der mit der wachsenden Grösse der
Seeschiffe und der fortschreitenden Versandung sozusagen im qua-
dratischen Verhältnisse wächst. Nantes und sein einstiger Vorhafen
Paimboeuf büssten durch die gedachten ungünstigen Verhältnisse ihre
Stellung als grosse Hafenplätze vollständig ein, wohingegen Saint-
Nazaire mit seinem geräumigen Kunsthafen zu dem Range einer für
Frankreich höchst wichtigen Echelle emporgestiegen ist.
Indes sind die Schiffahrtsverhältnisse für grosse Seedampfer
auch dort nicht günstig zu nennen, denn die ausgedehnte Versandung
an der Mündung der Loire liess nur längs des nördlichen Ufers eine
schmale Wasserstrasse von 7 bis 11 m Tiefe offen, allein um in die-
selbe zu gelangen, müssen die Schiffe nächst dem Cap Chemoulin
eine Barre übersetzen, welche bei tiefstem Ebbestande nur 3·4 m
Wasser hat, daher von grossen Schiffen nur bei Hochwasser, welches
hier 4·1 bis 6·1 m (Springflut) ansteigt, zu passiren ist.
Die Loire-Mündung hat an ihrer äussersten Erstreckung zwi-
schen Cap Chemoulin im Norden und der Pointe de Saint-Gildas eine
Breite von 12 km. Mehrere Riffe, wie die beiden Charpentier, le Vert,
les Jardinets, la Truie und der Fels des Morées entsteigen aus den
sandigen Ablagerungen. Man hat die meisten der Riffe mit Leucht-
feuern ausgestattet. In das Labyrinth der Sandbänke führen zwei
Fahrstrassen: im Norden der Grand Chenal du Nord, der nach
Saint-Nazaire geleitet, und südlich desselben der Grand Chenal de la
Loire, auch Chenal du Sud genannt.
Saint-Nazaire ist eine Schöpfung der neuesten Zeit. Noch zu
Beginn der Fünfzigerjahre war der Hafen ein bescheidener Zu-
fluchtsort für Fischerbarken und Lootsenboote, dem jede Handels-
bedeutung abging, heute dagegen ist der mit ausgedehnten Flut-
75*
[596]Der atlantische Ocean.
bassins von mehr als 33 ha Oberfläche ausgestattete Platz einer der
wichtigsten Verschiffungshäfen Frankreichs, insbesondere einer der
bedeutendsten Ausgangspunkte des grossartigen Passagierverkehrs
zwischen Europa und Nordamerika geworden. Ein so rascher Auf-
schwung ist sonst nirgends an der französischen Küste vorgekommen *).
Die grossartigen Hafenbauten in Saint-Nazaire und die umfas-
sendsten Vorstudien für dieselben, welche von berufenen Persönlich-
keiten ein halbes Jahrhundert lang gepflogen wurden, haben in oro-
Saint-Nazaire.
graphischer und ethnographischer Hinsicht äusserst werthvolle Re-
sultate geliefert. Es wurde dadurch festgestellt, dass der Boden, auf
dem Saint-Nazaire steht, zu den ältesten cultivirten Plätzen von ganz
Europa gehört, indem das Gebiet, auf dem der südliche Theil der
Stadt heute sich befindet, schon in der Bronzezeit besiedelt war, und
es konnte durch scharfsinnige Beobachtungen ermittelt werden, dass die
[[597]]
A grosse Rhede, B kleine Rhede, C Einfahrt zu den Bassins (Chenal d’accès), D Bassin à flot de
Saint-Nazaire, E Schleussen in der Einfahrt, F Leuchtfeuer, G Schleusse von Penhouët, H Drehbrücke,
J Bassin à flot de Penhouët, K Zufluss, L Trockendocks, M Ebbestrand, N Port d'échouage, O Schutz-
damm (Cavalier d’abri), P Wertten der Comp. Transatlantique, Q Werften der Loire, R Gürteldamm
(Digue de ceinture), S Personenbahnhof, T Waarenbahnhof, U Hafenbahnhof und Zollamt, V Bureaux
und Werkstätten der Comp. Transatlantique, W Kaserne der Zollwächter, X Waarenbahnhof des Local-
verkehrs, Y Boulevard Leferme, Z Hafenamt. — 1 Boulevard de l’Océan, 2 Stadthaus (Mairie), 3 Jardin
public, 4 Gebäude der Comp. Transatlantique, 5 Place Marceau, 6 St. Godard-Kirche, 7 Justiz-Palais,
8 Gefängniss, 9 Post und Telegraph, 10 Rue de haute, 11 Préfecture, 12 Holzpark.
[598]Der atlantische Ocean.
durchschnittliche Zunahme der Anschwemmungsschichte im Laufe eines
Jahrhunderts nur 0·33 m betragen hat. Wir müssen hier beifügen,
dass zwischen den Hügeln, die im Terrain der Stadt aufragen, damals
ein vielfach verzweigter Hafen mit einzelnen Inseln sich befand.
Die Römerzeit war auch hier eine Periode der Blüthe, und es darf ange-
nommen werden, dass die Ansiedlung Brivates Portus mit dem Orte des heutigen
Saint-Nazaire identisch ist. Die Versandung machte hier rapide Fortschritte. Im
III. Jahrhundert hatte Brivates nur mehr 1·5 m Wassertiefe und zu Ende der
Römerherrschaft (V. Jahrhundert) war von einem Hafen keine Rede mehr. Das
heutige Brivetflüsschen, welches nördlich von Saint-Nazaire mündet, hatte seinen
Namen ohne Zweifel dem römischen Hafen entlehnt.
Das Christenthum fand noch während des letzten Abschnittes der Römer-
herrschaft in Brivates Eingang, und schon damals ward die Pfarre Saint-Nazaire
gegründet, die bald zu Ansehen und Bedeutung gelangte.
Der Graf von Vannes (Waroch), ein gallisch-romanischer Führer, erbaute
dort Befestigungen und hob Schiffahrtszölle ein. Doch wurde der Ort in der Folge
mehrmals durch die Normannen geplündert und stellte sich schliesslich unter den
Schutz der Herzoge von Bretagne, welche Saint-Nazaire durch Ertheilung von Pri-
vilegien zu unterstützen trachteten.
Im Jahre 1375 wehrte der Ort den Angriff der Spanier heldenmüthig ab.
Bis in die neueste Zeit hatte Saint-Nazaire die Rolle eines militärischen Schlüssel-
punktes der Loire innegehabt — die Stadt führt vielleicht deshalb einen Schlüssel
im Wappen — und niemals erwähnt die Geschichte von handelsmaritimen An-
stalten, welche dort frühererzeit gegründet worden wären, wohingegen die 12 km
flussaufwärts am linken Ufer liegende Stadt Paimboeuf, weil weniger den Raub-
zügen der Piraten und in Kriegszeiten den Angriffen feindlicher Flotten ausgesetzt,
bis in unser Jahrhundert hinein ihre Stellung als Vorhafen von Nantes behaupten
konnte.
Erst im Jahre 1802 wurden die ersten Vorerhebungen zur Schaffung eines
Hafens in Saint-Nazaire gepflogen. Dort sollte ein Waffenplatz entstehen, allein
das betreffende Project der Ingenieure Groleau und Goury wurde nicht ausgeführt.
Es ist begreiflich, dass auch Napoleon I. derselben Frage sich bemächtigte; der
Kaiser soll im August 1808 nach Nantes gekommen sein und hätte die Loire bis
Saint-Nazaire befahren. Bei dieser Gelegenheit habe er den Minister Decrès beauf-
tragt, die Schiffahrtsverhältnisse der Loire und die Anlage eines befestigten See-
hafens durch die begabten Ingenieure Sganzin und Prony studiren zu lassen. Diese
erklärten, dass man auf eine Melioration der Loire zwischen Nantes und Saint-
Nazaire wohl verzichten müsse, ferner dass Paimboeuf nur mit einem Quai aus-
zustatten wäre, endlich dass der einzige Ort, wo ein grosses Etablissement
errichtet werden sollte, Saint-Nazaire sei. Dort projectirten sie ein grosses Bassin
mit Schleussen, dessen Herstellung im Vereine mit jener der Dämme und Schutz-
bauten 8 Millionen Francs gekostet haben würde. Der Kaiser erkannte, dass
Saint-Nazaire nicht die strategische Bedeutung habe, welche er hinter dem Platze
vermuthete, und unterliess es deshalb in gewohnter Weise, grosse Opfer für einen
halben Zweck zu bringen.
Vom Jahre 1822 bis in die Fünfzigerjahre jagte ein Project das
andere bis am 25. December 1856 das erste grosse Flutbassin
[599]Saint-Nazaire.
(Bassin à Flot) bei 10 ha Wasserfläche und 25 m Weite der Schleusse
thatsächlich eröffnet werden konnte.
Mit der Eröffnung der Eisenbahn nach Nantes (10. August 1857)
war die Zukunft von Saint-Nazaire gesichert. Der Schiffahrtsverkehr
hatte übrigens zur Zeit, als das Bassin noch nicht ganz vollendet
war, so zugenommen, dass der Bau eines zweiten Beckens in Aus-
sicht genommen werden musste. Die Initiative hiezu ging von der
Eisenbahngesellschaft Nantes-Saint-Nazaire aus, welcher es daran ge-
legen war, einen günstig situirten und möglichst frequentirten Hafen-
bahnhof zu erlangen. So entstand das grosse Bassin von Penhouët
mit seinen Trockendocks, Krahnen und Magazinen.
Die Comp. Maritime hatte in Saint-Nazaire sich etablirt, und am
14. April 1862 lief unter grossen Festlichkeiten das erste Paketboot
„La Louisiane“ nach Mexico aus.
Als dann dieselbe Gesellschaft in die grosse Cie. Générale
Transatlantique umgewandelt war und die Verpflichtung hatte, die
Hälfte ihres schwimmenden Flottenmaterials in Frankreich zu er-
bauen, schuf sie in Saint-Nazaire ihre grossartigen Werften und
Werkstätten, welcher Umstand den schnellen Aufschwung des Städt-
chens sehr begünstigte.
Ueber die Hafenanlagen gibt unser Plan ausreichende Details.
es sei nur beigefügt, dass das grösste der im Bassin de Penhouët
erbauten Trockendocks 150 m Länge, 18 m Breite und 7·3 m Tiefe
besitzt, daher für die grössten Seedampfer ausreicht. Das zweit-
grösste Dock hat 140 m Länge, 25 m Breite und 7·3 m Tiefe.
Die Gesammtkosten des Hafens beliefen sich bis zum Jahre 1882
auf 37·7 Millionen Francs.
Saint-Nazaire zählte 1837 nur 3800 Einwohner, 1866 schon
deren 18.879 und 1886 bereits 25.575.
Ueber die Stadt selbst ist wenig zu berichten, sie ist, wie ihr
Hafen, eine neue Schöpfung, mit rein mercantilem Ausdruck.
Unter 47° 16′ nördl. Breite und 2° 12′ westl. Länge von Green-
wich gelegen, kann die Stadt keinen Anspruch auf besonders günstige
klimatische Verhältnisse erheben.
Saint-Nazaire ist Sitz eines Unterpräfecten, eines Gerichtshofes
erster Instanz und einer Handelskammer; die Stadt verfügt über eine
hydrographische Schule, ein städtisches Collegium und ein Handels-
museum.
Der Werth des Handels von Saint-Nazaire, das 60 km von Nantes und
466 km von Paris entfernt ist, hat den von Nantes, namentlich in der Ausfuhr,
[600]Der atlantische Ocean.
schon lange überflügelt. Aber Saint-Nazaire ist doch bis heute nur der Vorhafen
von Nantes geblieben, in welchem sich der Waaren- und der Schiffsverkehr, aber
nicht der Handel vollziehen. Beweis dafür ist die geringe Ausdehnung des Entre-
pôtverkehres.
Die Ausfuhr beruht auf dem Reichthum der Umgebung der unteren Loire
an Producten des Ackerbaues und der Viehzucht, welche meist auf Schiffen der
Cie. Générale Transatlantique nach England geschickt werden, und auf der Aus-
fuhr von Industrieerzeugnissen Frankreichs und anderer Staaten Europas nach
Westindien und den angrenzenden Theilen des romanischen Amerikas, die mit Saint-
Nazaire in regelmässiger Dampfschiffahrtsverbindung stehen. Der Küstenhandel
spielt in Saint-Nazaire keine grosse Rolle.
Die Producte der Viehzucht und des Fischfangs, nämlich gesalzene Butter,
Eier und Fische zusammen bildeten 1888 mehr als den fünften Theil der Aus-
fuhr von Saint-Nazaire ins Ausland. Die Ausfuhr von gesalzener Butter er-
reichte 1888 27.144 q (Werth 7,193.094 Francs), 1887 25.426 q, die der Eier, von
Geflügel und Wildpret 1888 53.914 q (Werth 6,469.633 Francs), 1887 58.311 q.
Für die berühmten Sardinen von Nantes ist Saint-Nazaire der Ausfuhrplatz,
denn von marinirten oder in Oel eingelegten Fischen wurden 1888 33.977 q
(Werth 3,788.871 Francs), 1887 17.360 q ausgeführt. Ein regelmässiger Ausfuhr-
artikel von Saint-Nazaire sind Austern für Brutzwecke (1888 2818 q, Werth
3,100.108 Francs).
Von Producten des Ackerbaues sind zu nennen Wein, der auch im Wege
des Küstenhandels zugeführt wird (1888 33.977 q, Werth 3,788.871 Francs) und
der aus Wein dargestellte Cognac (1888 9197 q), dazu Tafelfrüchte (23.814 q).
Nicht französischen Ursprungs sind Getreide und Mehl, Tabakfabricate
(1888 23.814 q), Cacao und Kaffee.
Im Jahre 1888 erscheint Saint-Nazaire auch als wichtiger Durchfuhrhafen
für Schwämme mit 762 q (Werth 1,528.812 Francs).
Auch die Ausfuhr von Kohlen (1888 645.475 q) ist erwähnenswerth.
Die Ausfuhr von Erzeugnissen der Textilindustrie hat 1888 einen höheren
Werth erreicht als in früheren Jahren. Es wurden 18.437 q (Werth 9,136.784 Francs),
1887 11.625 qBaumwollstoffe ausgeführt; die Steigerung des Werthes um
3 Millionen Francs entfällt ausschliesslich auf französische Erzeugnisse.
Auch die Ausfuhr von Schafwollwaaren ist von 2196 q im Jahre 1887
auf 5517 q im Jahre 1888 gestiegen; die von Kleidern und Wäsche erreichte
1888 2293 q (Werth 3,135.080 Francs), die von Modewaaren 2159 q (Werth
2,170.204 Francs).
Diese Waaren sind fast alle französische Erzeugnisse, wie auch Arbeiten
aus Fellen und Leder (1888 2878 q, Werth 6,490.270 Francs), zubereitete
Felle, Papier (9418 q, Werth 1,631.122 Francs), Kurzwaaren (1943 q, Werth
1,399.212 Francs), Farbholzextracte (12.488 q), Medicamente (4241 q), endlich
Glas und Porzellan.
Nicht französischer Herkunft sind der weitaus grösste Theil der Gold- und
Silberwaaren (1888 9 q, Werth 1,614.703 Francs), die Uhren und ein Theil der
Metallwaaren und Maschinen, welche den Hafen von Saint-Nazaire verlassen.
Die Ausfuhr im Wege des Küstenhandels umfasste 1888 266.328 q; Metall-
arbeiten, Kohle, Getreide und Mehl bildeten den Haupttheil derselben. Fast die
Hälfte des Verkehres ging nach Hâvre.
[601]Saint-Nazaire.
Den Hauptstock der Einfuhr von Saint-Nazaire bilden Nahrungs- und Genuss-
mittel, vor Allem Getreide und Mehl (1888 330.376 q, Werth 6,574.041 Francs,
1887 486.073 q), dann Reis und Hülsenfrüchte, Tabakfabricate aus Westindien
(1888 1807 q, Werth 2,127.027 Francs), Wein (1888 38.741 q) aus Spanien und
Portugal, Cacao und Kaffee aus Westindien. Wichtig sind ferner ölhaltige Pflanzen;
Bauholz kommt aus Nordeuropa und Nordamerika (1888 209.360 q, Werth
1,562.186 Francs).
Erheblich ist auch die Einfuhr von Jute (1888 16.541 q) und neuseelän-
dischem Hanf, ferner die von neuseeländischem Flachs und Manilahanf.
Aus dem Thierreiche sind zu nennen Fettwaaren nordamerikanischer Pro-
venienz und von Mineralien englische Kohlen, der erste Artikel der Einfuhr von
Saint-Nazaire (1888 5,810.652 q, Werth 8,715.978 Francs, 1887 5,291.539 q) für
die Versorgung der von hier ausgehenden Dampfer und Blei (1888 35.437 q).
Man erkennt in der Einfuhr den Einfluss der Industrien von Nantes.
Unter den eingeführten Erzeugnissen der Industrie sind die für das Aus-
land bestimmten die wichtigeren. Dahin gehören Baumwollwaaren (1888 7875 q,
Werth 4,024.542 Francs, 1887 6859 q), Schafwollwaaren, Schwämme, Gold- und
Silberwaaren, Metalle und Metallarbeiten. Für den Verbrauch in Frankreich sind
bestimmt Garne und eiserne Schiffe, beide Erzeugnisse Grossbritanniens.
Die Einfuhr im Wege des Küstenhandels (1888 153.992 q) umfasst fast nur
Rohproducte, von welchen Baumaterialien, Wein, Salz, Stahl und Eisen die wich-
tigsten sind.
Der auswärtige Waarenhandel von Saint-Nazaire betrug:
| [...] |
In Saint-Nazaire, als einem wichtigen Einschiffungsorte der Weltpost, ist
auch der Verkehr mit Edelmetallen von einem grossen Umfange; er erreichte
1888 die auffallende Höhe von 36,220.078 Francs in der Ausfuhr und von
45,217.049 Francs in der Einfuhr.
Der Schiffsverkehr betrug:
| [...] |
Von dem auswärtigen Schiffsverkehre entfällt der Haupttheil beim Einlauf
auf Grossbritannien, beim Auslauf auf Grossbritannien und Spanien. Die britische
Flagge stellt dazu eine grössere Zahl von Tonnen als die französische.
Saint-Nazaire ist Frankreichs Haupthafen für den Postverkehr mit
Westindien, welchen die Cie. Générale Transatlantique vermittelt. Eine Linie
geht über Guadeloupe und Martinique und die Nordküste Südamerikas nach Colon;
in Martinique schliesst eine Zweiglinie nach Cayenne an. Die zweite Linie führt
über Santander und Habana nach Veracruz, und auch die Linie Hâvre-Bordeaux-
St. Thomas-Haïti landet in Nantes.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 76
[602]Der atlantische Ocean.
Die Cie. Générale Transatlantique unterhält aber auch Fahrten an die
Westküste von Südamerika.
Saint-Nazaire ist ferner Station der Cie. Hâvraise Péninsulaire de Naviga-
tion à vapeur, welche regelmässige Fahrten nach Hâvre, Belgien, Portugal,
Spanien und Algier, ferner nach Mauritius, Réunion und Madagaskar unternimmt.
Die Häfen Europas von Belgien bis Marseille besucht die Société Navale
de l’Ouest.
Die eigene Marine von Saint-Nazaire umfasste Ende 1888 23 Dampfer
mit 17.243 Tons und 71 Segelschiffe mit 5344 Tons.
In Saint-Nazaire besitzt die Bank von Frankreich eine Nebenstelle (bureau
auxiliaire).
Consulate haben an diesem Platze folgende Staaten: Belgien, Chile,
Columbia, Deutsches Reich (V.-C.), Dominikanische Republik, Ecuador, Gross-
britannien (V.-C.), Guatemala, Haïti, Honduras, Mexico, Nicaragua, Niederlande
(V.-C.), Peru (V.-C.), Russland (V.-C.), S. Domingo, S. Salvador, Schweden und
Norwegen (V.-C.), Spanien, Uruguay (V.-C.), Venezuela.
[[603]]
Le Hâvre.
Mit unübertrefflichem Scharfblick und Geist charakterisirte Na-
poleon I. die wirthschaftliche Situation des Gebietes der unteren
Seine. „Paris, Rouen und Hâvre bilden nur eine Stadt, deren Haupt-
strasse die Seine ist“, war sein Ausspruch, und wenn wir die seither
eingetretenen grossartigen Veränderungen an den Ufern der Seine, den
Aufschwung des Verkehrs, das Anwachsen der Städte und das leb-
hafte Drängen nach Schaffung eines Seehafens in Paris beachten,
so muthet es uns heute an, als ob der gewaltige Mensch, vor dem
Europa erbebte, einen prophetischen Blick in eine glänzende Zukunft
geworfen hätte, allerdings in eine Zukunft der friedlichen Arbeit und
Entwicklung, die sein Unstern dem französischen Kaiserreiche nicht
gegönnt hatte.
Die Dampfschiffahrt und der Eisenbahnbau, die Zeit und Weg
abkürzenden Elemente des heutigen Verkehrs, haben denn auch die
Bedeutung von Hâvre rasch gehoben und die glücklich gelegene
Stadt zu einem Welthandelsplatz erster Ordnung umgeschaffen.
Am westlichen Ende des tief eingeschnittenen Limans der Seine
breitet sich am Nordufer unter 49° 29′ nördl. Breite und 0° 7′ östl.
Länge v. Gr., zu Füssen einer mässig hohen Terrainwelle, die von
schönen Boulevards und breiten Strassen durchzogene Stadt Le Hâvre
aus. Ein grossartiges System von geräumigen Bassins, in welchen
ein äusserst lebhafter Verkehr pulsirt, ist tief in das Weichbild hin-
eingeführt; es ist ihr Herz, dessen Thätigkeit das Leben der Stadt
bedeutet.
Breite Quais, meist von Schienenwegen durchschnitten, führen
längs der Bassinufer hin und gestatten den Einblick in das vielfache
und fesselnde Getriebe eines lebensvollen Handelsplatzes. Wo immer
hin wir die Schritte lenken, überall zeigt uns das Hafenbild neue
Reize, gewährt es dem Geiste neue Anregungen.
Sehr besucht sind die beiden Schutzdämme der etwa 75 m
76*
[604]Der atlantische Ocean.
schmalen Hafeneinfahrt, namentlich die weit in See geführte Jetée
du Nord, zu deren Leuchtthurm bei jeder Tageszeit die schaulustige
Menge wogt.
Auf hohen Masten werden die gesichteten Schiffe signalisirt,
der Stand der Gezeiten durch Flaggensignale bekanntgegeben und
herannahende Stürme angezeigt. Hier defiliren alle die vielen an-
kommenden nnd auslaufenden Schiffe und wechseln den ersten oder
letzten Gruss.
Der nördliche Damm gewährt auch einen lohnenden Blick auf die
Rhede von Hâvre, mit der Fernsicht gegen die offene See; in maleri-
scher Perspective entwickelt sich die Westseite der Stadt zur Seite
der hellen Strandfläche, auf welcher die schäumenden Wogen in ewigem
Spiele sich brechen. Das ist der Boulevard maritime, der hinausführt
nach der Villenstadt Sainte-Adresse, einem sehr beliebten Ausflugsorte
der grossen und kleinen Welt. Im Hintergrund zeigen das Cap la Hève,
die Hügel von Sainte-Adresse und der langgestreckte Rücken von
Ingonville mit ihren Villen und Gärten hübsche Contouren, und im
Vordergrunde entsteigt neben den gewaltigen Erdwällen einer Batterie
der weitläufige Palast des grossartigen Hôtels Frascati dem sandigen
Strande. Eine luftige Brücke verbindet das Gebäude mit der in See
erbauten Badeanstalt.
Gegen die Stadt zu fällt der Blick auf den sehr belebten Grand
Quai, welcher die Nordseite des Vorhafens einnimmt. Die Häuser-
front zeigt meist hohe, schmucklose Gebäude, und nur das Museum,
welches die glänzende Rue de Paris flankirt, zeigt mit seinem plasti-
schen Schmuck, seinen Säulen und breiten Fenstern einen ausge-
sprochenen Styl.
Am Grand Quai haben die nach Trouville, Honfleur und Caen
verkehrenden Dampfer den Anlegeplatz. Der Menschenstrom flutet
von hier grösstentheils in die oben erwähnte Rue de Paris, die
schönste und belebteste Verkehrsader von Hâvre, wo die elegantesten
und grössten Verkaufsmagazine zu finden sind. Man überblickt die
Strasse ihrer ganzen Länge nach bis zu den prächtigen Parkanlagen
der Place de l’Hôtel de Ville. Der schöne Renaissancebau des Stadt-
hauses entstand in den Jahren 1855 bis 1859; er kehrt seine durch
plastischen Schmuck gezierte Hauptfront dem Parke zu. Ein 42 m
hoher Thurm krönt den Mittelpavillon des Gebäudes.
Durch die Rue de Paris gelangt man zu der Place Gambetta,
welche sich gegen die weite Wasserfläche des Bassins du Commerce
öffnet. Der Platz ist von stattlichen Gebäuden mit Laubengängen und von
[[605]]
Le Hâvre.
[606]Der atlantische Ocean.
Baumanlagen eingefasst, unter welchen der Blumenmarkt abgehalten
wird. Das Hauptgebäude ist hier das Grand Théâtre, welches, 1825
errichtet, im Jahre 1843 niederbrannte und hierauf reconstruirt wurde.
Wie unser Plan zeigt, durchschneidet der mit breiten Baum-
alleen gezierte Boulevard de Strassbourg die Stadt von der Rhede
bis zur Passagierstation der Eisenbahn nach Paris. Diese mehr als
2 km lange Strasse schliesst sich an der Seeküste an den Boulevard
maritime, im Osten aber an den Cours de la Republique an. Zum Vor-
hafen zweigt noch der Boulevard François I. ab. Alle diese Strassen
sind imposante Verkehrswege, die man am liebsten Völkerstrassen für
den Massenverkehr nennen möchte, wenn diese Bezeichnung hier zu-
lässig wäre. Sie prägen Hâvre einen gewissen grossstädtischen Zug auf.
Am Boulevard de Strassbourg liegt der reizende Square Saint-Roch
mit prächtigen Gartenanlagen; dort sind in einem hübschen Gebäude
das Aquarium und eine maritim-physiologische Versuchsstation unter-
gebracht. Ein Theil des Parkes ist in einen botanischen Garten um-
gewandelt, ein anderer in einen jardin ornithologique d’acclimatation,
der eine hübsche Volière, Fasanerie u. dgl. enthält.
Im östlichen Theile desselben Boulevards liegt das im Styl
Ludwig XIII. erbaute Palais der Sous-Préfecture, und vor der Front
desselben öffnet sich die mit Baumanlagen ausgestattete Place de la
Sous-Préfecture und deren Fortsetzung die Place du Commerce, welche
am gleichnamigen Bassin ausmündet. In der Mitte hat man das frei-
stehende Börsengebäude, einen 1878 bis 1880 entstandenen Monu-
mentalbau mit zwei Hauptfaçaden errichtet. Es ist ein imposantes
Gebäude mit geschmackvollen architektonischen Details und plasti-
schen Allegorien. Die beiden Haupteingänge im Norden und Süden
führen durch Säulenhallen. Hohe Dome krönen den Bau.
Im Gebäude der Börse haben unter anderem die Gesellschaft
für Handelsgeographie, die Handelskammer, die Mustersammlung, das
Handelsmuseum, Gallerien und Bibliotheken u. dgl. Platz gefunden.
Ein sehenswerthes Gebäude ist das erst 1876 fertiggestellte
Palais de Justice, das seine in griechischem Styl gehaltene Haupt-
front dem Boulevard zuwendet. Die monumentale, zum Atrium führende
Treppenflucht bewachen zwei gewaltige decorative Löwen.
Hâvre ist im Allgemeinen eine neue Stadt, und was sie an Bau-
werken für den bürgerlichen Dienst und zu wissenschaftlichem Zwecke
besitzt, ist, wie wir gesehen haben, in den letzten Jahrzehnten ent-
standen. Darin liegt ein untrügliches Zeugniss ihrer Kraft und
Energie und ihres Wohlstandes.
[607]Le Hâvre.
Aus älterer Zeit stammt die Kathedrale Notre-Dame, welche
in der Zeit von 1574 bis 1636 in einem aus Gothik und Re-
naissance gemischten Styl nach den Plänen des Nicolas Duchemin
aufgeführt wurde. Sie wendet das Hauptportal gegen die Rue de
Paris. Die Kirche enthält einige sehenswerthe ältere Bilder und
Sculpturen, ihre Glasmalereien, welche unter anderem Episoden aus
der Geschichte Hâvres darstellen, sind jedoch Werke der neuesten Zeit.
Aelterer Zeit gehören ferner die Kirche Saint-François (XVI.
und XVII. Jahrhundert), Saint-Michel (XVII. Jahrhundert) und die
1856 im romanischen Styl reconstruirte Kirche Saint-Nicolas an
Letztere entstand an der Stelle der alten Église de Leure. Alle an-
deren Gotteshäuser der Stadt, einschliesslich der protestantischen
und amerikanischen Kirchen, der anglikanischen und skandinavi-
schen Tempel und der Synagoge wurden in der neueren Zeit erbaut.
Erwähnt sei noch die in Sainte-Adresse 1857 durch Fräulein
Hélène Marquis aus Paris gestiftete Chapelle de Notre-Dame des
Flots, die zu einem vielbesuchten Wallfahrtsort für Seeleute ge-
worden ist und von der Höhe hinausblickt weit in die unendliche
See. In der Nähe des schmucken Kirchleins errichtete die Gattin
des auf der See gestorbenen Generals Lefévre-Desnouettes demselben
ein weit sichtbares Denkmal, welches seiner Form wegen Pain de
Sucre (Zuckerhut) genannt wird und abseits des pietätvollen Ge-
dankens auch bestimmt gewesen sein soll, den Seefahrern als Leit-
marke zu dienen. So haben zwei Frauen in Saint-Adresse ihren
edlen Herzensregungen bleibend Ausdruck zu geben gewusst.
Unter den wissenschaftlichen Sammlungen wäre noch das natur-
historische Museum zu nennen, welches im alten Justizpalaste (gebaut
1758) untergebracht wurde und nebst anderem eine sehr reiche
Muschelsammlung besitzt.
Die 40.000 Bände und seltene Manuscripte sowie eine reiche
Medaillensammlung enthaltende Bibliothek, das städtische Museum
und dessen Bildergallerie und die bereits vorne erwähnten wissen-
schaftlichen Anstalten zeigen, dass die emporblühende Stadt auf dem
Gebiete der geistigen Bestrebungen ebenso vorwärts schreitet, wie auf
jenem der materiellen Entwicklung.
Die ersten Anläufe zur Errichtung eines Hafens in Hâvre de Grâce — so
hiess ehemals der unbedeutende Ort an der Seinemündung, an dessen Stelle die
heutige Stadt entstanden ist — erfolgten 1517 unter König Franz I., welcher
der Stadt zahlreiche Privilegien gewährte. Die Bevölkerungszahl hob sich dadurch
zusehends. Der damals entstandene Hafen wurde in der Folge immer mehr er-
weitert und befestigt; namentlich waren es Richelieu und Colbert, welche zur
[608]Der atlantische Ocean.
Hebung des Verkehrs sehr viel beitrugen. Das dieserwegen eifersüchtige England
entsendete 1694 eine Flotte von 24 Linienschiffen, 12 Fregatten und 13 Bom-
bardièren und versuchte sich der Stadt zu bemächtigen. 800 Bomben wurden
in die Stadt geworfen, viele Gebäude zerstört, aber die vorzügliche Haltung der
Bevölkerung zwang die Engländer zum Abzug.
Hundert Jahre vorher, während der Religionskriege (1562), waren die
Engländer, von den Protestanten gerufen, in Hâvre erschienen, aber der Conne-
table Montmorency, Brissac und andere Heerführer zwangen sie im folgenden
Jahre zur Capitulation.
Der unglückliche Ludwig XVI. war der Stadt sehr zugeneigt und trug auch
viel zu ihrer Hebung bei, allein die Revolution unterbrach plötzlich die damals
wieder aufgegriffenen Erweiterungsarbeiten des Hafens und der Befestigungen.
Gegenwärtig zählt Hâvre bereits 120.000 Einwohner und ist
Sitz eines Civiltribunals und eines Handelstribunals, einer Handels-
kammer und einer höheren Handelslehranstalt.
Wenn wir einen Blick auf unseren Plan werfen, so sehen wir
die weitläufige Verzweigung der 10 Hafenbassins, welche unter-
einander und mit dem der Ebbe und Flut ausgesetzten Vorhafen
durch 13 kunstvolle Schleussen verbunden sind. Die Flut erreicht
hier eine Höhe von 6·15 bis 7·85 m (Springflut), wodurch das Ein-
laufen in den bei Ebbe sehr seichten Einfahrtscanal selbst für die
grössten Schiffe ermöglicht wird. Selbstverständlich werden die ange-
kommenen Schiffe sogleich in die Bassins aufgenommen und es
müssen noch vor dem Beginne der Ebbe die Schleussen geschlossen
werden. Die ankommenden und die zur Abfahrt bereiten Schiffe
sind deshalb genöthigt, den Eintritt des Hochwassers abzuwarten,
welcher Umstand natürlich den eigentlichen Schiffsverkehr immer auf
einige Stunden der Hochfluthen zusammendrängt.
Die grossen prächtigen Dampfer der Cie. Générale Transatlantique
landen im Bassin de L’Eure, an dessen Ostseite drei gewaltige Trocken-
docks für Reparaturen u. dgl. erbaut wurden. Drei andere Docks be-
finden sich im Bassin de la Citadelle, welches die Mitte des Hafen-
systems einnimmt.
Grossartig sind die Waarendépôts (Magasins généraux) nächst
dem Bassin Vauban und Bassin Dock, deren Baulichkeiten eine
Fläche von 23 ha einnehmen und Raum für die Unterbringung von
130.000 t Handelsgüter bieten.
Seinen inneren Einrichtungen nach gehört Hâvre heute zu den
ersten Häfen Europas, wo der Seemann wie der Kaufmann jede
mögliche Bequemlichkeit findet. Doch diese Sicherheit und Bequem-
lichkeit müssen sich die Schiffe mühsam erkämpfen. Die ungünstigen
Tiefenverhältnisse an der Seinemündung sind natürlich dem An-
[609]Le Hâvre.
laufen von Hâvre sehr abträglich. Eine Kette von Sandbarren
umschliesst vom Cap de la Hève längs der West- und Südseite
der Stadt bis zum linken Seine-Ufer, ein weites Gebiet, welches
grosse Schiffe nur bei Hochwasser zu durchschneiden vermögen.
Die Barren reichen bis auf eine Entfernung von 3·7 km von der
Küste, und ist die äussere Contour im Westen durch zwei grosse
Gaslichtbojen markirt, welche in 10 m Wassertiefe (Ebbestand) ver-
ankert liegen. Ein anderes Gaslicht zeigt eine südwest der Einfahrt
nach Hâvre in 3·5 m Tiefe vertäute Boje. Eine Zahl grosser Mark-
bojen, die weiteste 8 km von der Küste entfernt, bezeichnen die
günstigsten Zufahrten in das Labyrinth der Barren. Einige der ge-
nannten Bojen haben Läutewerke oder Nebelpfeifen, welche als Er-
kennungsignale, wie auch als Warnzeichen den Seefahrern dienen.
Von der Höhe des Cap de la Hève zeigen zwei Thürme je
ein auf 50 km Entfernung sichtbares Leuchtfeuer. Die Deckungslinie
dieser Feuer ist eine wichtige Route für das Anlaufen des Barren-
gebietes.
Der Handel war schon im vorigen Jahrhundert nicht unbe-
deutend, aber die Kriege Napoleon’s mit England unterbrachen die
Entwicklung. Besonders verderblich wurde für die Stadt der Krieg
von 1805; viele Kaufleute verliessen den Ort und siedelten sich in
Nantes an.
Erst mit der Wiederkehr des Friedens hob sich der Verkehr
allmälig und wurde mit der Eröffnung der Eisenbahn über Rouen
nach Paris (1847) und durch die Gründung des grossen Schifffahrts-
unternehmens der Cie. Générale Transatlantique in die modernen
Bahnen geleitet.
Das Ende Jänner 1881 verkündete Gesetz über die Handels-
marine, welches den Schiffen, die lange Seereisen machen, für
10 Jahre eine Prämie gewährte, begünstigte die Entstehung neuer
Dampfschiffslinien. In Hâvre wurde auf dieser Basis die Gesellschaft
der Chargeurs Réunis gebildet, welche den Verkehr von Südamerika
nach Hâvre lenkt.
Da aber in letzterer Zeit diese staatliche Fürsorge etwas abge-
nommen hat, ist der Handelsstand von Hâvre vielfach unzufrieden.
Man findet, dass auf die Verbesserung anderer Häfen des nördlichen
Frankreich mehr verwendet wurde als auf Hâvre. Man wehrt sich
mit Recht dagegen, dass die Kosten der Ausführung neuer Hafen-
bauten durch die Erhöhung der Hafengebühren ausgeglichen werden,
denn schon jetzt kommt im Allgemeinen die Benützung des Hafens
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 77
[610]Der atlantische Ocean.
von Hâvre durch hohe Hafen- und Schiffahrtsgebühren, durch hohe
Maklergebühren theurer zu stehen, als die der Concurrenzplätze Dün-
kirchen, Antwerpen und Hamburg.
Die französische Westbahn, in deren Gebiet Hâvre liegt, hat
hohe Frachtentarife, und eine Reihe für Hâvre wichtiger Einfuhrartikel
sucht die für sie günstigeren Verbindungen über Dünkirchen und
Antwerpen auf. Ueberdies sind auch die Eisenbahnverbindungen
Hâvres ungenügend, denn der Stadt stehen nur zwei Verbindungen
mit Paris und eine nach Amiens zur Verfügung.
Es fehlt sogar noch eine kurze Verbindung mit Dieppe, und das
südliche Ufer der Seine ist mit der Eisenbahn erst oberhalb Rouen
zu erreichen.
Etwas mehr ist in den letzten Jahren auf dem Gebiete der
Wasserstrassen geschehen, da der Canal von Tancarville, welcher
Hâvre nach Osten hin mit der Seine verbindet, entsprechend vertieft
wurde. Sollte der Plan, die Tiefenverhältnisse der Seine, welche jetzt
schon bis Rouen mit kleinen Seeschiffen befahren wird, für den grossen
Seeverkehr fahrbar zu machen, zur Ausführung kommen, so hätte der
Handel von Hâvre unter der Concurrenz von Rouen schwer zu leiden,
noch mehr aber, wenn die Franzosen wirklich daran gingen, den
Seecanal bis Paris zu verlängern, wodurch diese Stadt zum Theile
auf Kosten von Hâvre zu einem Marktplatze ohne Gleichen ge-
macht würde.
Am meisten hat aber Hâvre dadurch gelitten, dass viele deutsche
Chefs, welche halbnaturalisirt und vielfach mit Französinnen ver-
heiratet, nach dem Jahre 1871, um dem wüthenden Deutschenhasse
der Franzosen zu entgehen, ihre Comptoirs nach Antwerpen verlegten
und so ein gutes Stück französischen Handels nach Belgien ver-
pflanzten.
Aber trotz allem dem ist Hâvre der zweite Hafen Frankreichs.
Es ist im wesentlichen Einfuhrplatz, beziehungsweise Markt für
überseeische Producte und Ausfuhrhafen für die reich entwickelte
Industrie des Nordens und der Hauptstadt, wie auch für Nahrungs-
mittel, welche in diesem Theile Frankreichs in solchen Mengen er-
zeugt werden, dass trotz der grossen Nähe von Paris noch eine starke
Ausfuhr nach England stattfinden kann.
Im Export ist Hâvre im Wesentlichen nur Speditionsplatz, so dass
die Hauptelemente des hiesigen Platzes Importhandel und Schiffahrt
sind und mit letzterem im Zusammenhang die Beförderung von Rei-
senden nach England, von Auswanderern und Passagieren I. Classe,
[611]Le Hâvre.
welche die relativ gefährliche Fahrt durch den Canal vermeiden
wollen, an die jenseitigen Gestade des atlantischen Oceans.
Die locale Industrie ist verhältnissmässig wenig entwickelt und
tritt mehr in den Hintergrund.
Die Stellung Hâvres im Ausfuhrhandel Europas und insbesondere
Frankreichs wird klar bezeichnet durch die Thatsache, dass von hier 1888 nur an
Erzeugnissen der Textilindustrie, an Kleidern, Wäsche, künstlichen Blumen,
Schmuckfedern und Hüten ein Werth von 437,781.052 Francs ausgeführt wurde,
wovon 235,258.206 Francs französischen Ursprungs waren. Also die Industrie-
artikel liefern die grössten Ziffern zur Ausfuhr und mit ihnen muss daher die Be-
schreibung anheben.
Die Seidenindustrie, der Glanzpunkt der gewerblichen Thätigkeit Frank-
reichs hat den Löwenantheil an der Ausfuhr von Hâvre, denn 1888 wurden von
Seidenstoffen, Bändern und Passementerien 18.669 q im Werthe von 105,608.908
Francs ausgeführt, 12.074 q im Werthe von 61,493.510 Francs waren französi-
scher Herkunft, der Rest kam aus Rheinpreussen und der Schweiz.
Die Ziffern des Jahres 1887 sind 18.066 q im Werthe von 107,737.600 Francs
für die allgemeine Ausfuhr und 11.783 q im Werthe von 62,454.331 Francs für
die nationale Ausfuhr.
An dem Werthe der Ausfuhr von Baumwollstoffen über Hâvre ist
Frankreich ungefähr in demselben Verhältnisse betheiligt, wie an dem der Seiden-
stoffe. Es waren nämlich im Jahre 1888 von 106.798 q im Werthe von
87,785.273 Francs, 62.994 q im Werthe von 31,830.486 Francs französischer Her-
kunft; 1887 erreichte die allgemeine Ausfuhr 117.697 q (Werth 90,963.277 Francs),
die französische 75.203 q (Werth 32,613.787 Francs).
An der dritten Stelle stehen 1888 Schafwollwaaren, die manchmal auch
die zweite Stelle einnehmen und ebenso wie die gemischten Stoffe zu weitaus
grösstem Theile in Frankreich gearbeitet wurden. Die Ausfuhr der Schafwoll-
waaren erreichte 1888 91.557 q (Werth 86,221.543 Francs), 1887 93.010 q (Werth
95,491.054 Francs).
Gegen die eben genannten Artikel steht weit zurück die Ausfuhr der be-
rühmten Leinenwaaren Frankreichs, deren Erzeugungsgebiet in den Land-
schaften am Canale liegt; sie betrug 1888 7757 q (Werth 3,994.931 Francs),
1887 6755 q (Werth 3,432.174 Francs).
Da Hâvre der Hafen von Paris ist, so versteht sich von selbst, dass der
grösste Theil der Ausfuhr von Kleidern und Wäsche, und die ganze Ausfuhr
von Modewaaren und künstlichen Blumen und Schmuckfedern aus Frank-
reich stammt.
Von den ersteren Artikeln wurden 1888 16.529 q (Werth 32,360.456 Francs),
1887 19.089 q (Werth 35,235.557 Francs); von den Modes und künstlichen Blumen
1888 6909 q (Werth 7,002.631 Francs), 1887 6310 q (Werth 6,066.182 Francs)
und von Schmuckfedern 1888 2669 q (Werth 4,985.295 Francs) ausgeführt.
Die Ausfuhr von Garnen wird für 1888 mit 6048 q (Werth 2,068.290 Francs),
die von Jutesäcken mit 12.606 q angegeben.
Die Ausfuhr von Hüten reiht sich an die schon genannten Artikel; sie
erreichte 1885 für Stroh- und Basthüte 2371 q (Werth 3,653.894 Francs), von
77*
[612]Der atlantische Ocean.
denen kaum die Hälfte französische Erzeugnisse waren, und betrug für die Filz-
hüte 1382 q (Werth 2,591.719 Francs).
In der Verarbeitung von Fellen und Pelzen, in Leder, besonders in den
vielen Gattungen des Luxusleders, in Lederarbeiten, unter denen Damen-
schuhe nicht zuletzt angeführt werden, nimmt Frankreich den ersten Rang
in der Welt ein. Hâvre führte von all diesen Waaren 1888 36.185 q (Werth
68,784.720 Francs), 1887 37.474 q aus. die bis auf einen Werthantheil von etwa
4 Millionen Francs von der französischen Industrie stammten.
Von den ausgeführten Kurzwaaren, Knöpfen. feinen Tischler- und
Drechslerarbeiten, Fächern und Bürsten entfielen 1888 etwa fünf Siebentel auf
französische Erzeugnisse; die allgemeine Ausfuhr dieser Gruppe wird für 1888
mit 41.042 q (Werth 36,717.896 Francs), für 1887 mit 40.319 q (Werth 27,950.382
Francs) angegeben. Die ansehnliche Steigerung des Werthes im Jahre 1888 gegen
das Vorjahr entfällt ausschliesslich auf ausländische Waaren.
Wir fügen hier die Ausfuhr von Möbeln und anderen Holzarbeiten, also
von Erzeugnissen der Pariser Kunstindustrie bei, die 1888 38.025 q (Werth
6,592.548 Francs) erreichte. Die ausgeführten Flechtwaaren sind ausländischer
Herkunft.
Von Metallarbeiten und Werkzeugen wurden auch 1888 135.989 q im
Werthe von 17,462.456 Francs, 1887 100.311 q im Werthe von 14,203.440 Francs
ausgeführt. Die Zunahme der schon früher sehr bedeutenden Ausfuhr französischer
Waaren ist die Ursache der Steigerung des Werthes im Jahre 1880.
Auch von den über Hâvre ausgeführten Bijouterien aus unedlen Metallen
sind elf Zwölftel französischer Arbeit. Ausfuhr 1888 892 q, Werth 11,949.852 Francs
Aehnlich günstig für Frankreich ist das Verhältniss bei Maschinen (1888
71.578 q, Werth 10,777.581 Francs), bei Waffen und Munition (1888 4035 q,
Werth 4,112.448 Francs), bei Glas- und Thonwaaren (1888 136.435 q, Werth
7,236.922 Francs), bei Waaren aus Kautschuk und endlich bei Papier und Papier-
waaren (1888 63.587 q, Werth 12,247.930 Francs).
Ausschliesslich von Frankreich stammen folgende Artikel des Exportes:
optische Instrumente (1888 2384 q, Werth 2,288.246 Francs), musikalische In-
strumente (1888 2373 q, Werth 2,499.775 Francs), und Wagen (16.611 q, Werth
2,307.096 Francs).
Von Bijouterien aus Edelmetallen (1888 14 q, Werth 2,164.451 Francs),
wird mehr als die Hälfte von Frankreich geliefert.
Legende zum Plan von Le Hâvre.
A La Petite Rade, A1 Strandlinie bei tiefster Ebbe, B Einfahrt in den Hafen, C Vorhafen (Avant-Port)
C1 Anlegeplätze der Dampfer nach Honfleur, Trouville und Caen, D Bassin de la Citadelle, E Bassin
Vauban, F Leuchtfeuer, G Bassin Dock, H Bassin du Commerce, J Bassin du Roi, K Bassin de la
Barre, L Annexe de l’Avant-Port, M Bassin de Mi-Marée, M1 Schleuse St Jean (Écluse), N Bassin de
L’Eure, N1 Quais des Transatlantiques, O Bassin Bellot, P Trockendocks, Q Schwimmdock. R Bassin
Sas, S Dock-Lagerhäuser (Entrepôt), U General-Magazin, V Écluse de Chasses, V1 Écl. de
la Barre, W Écl. de la Floride, W1 Écl. des Transatlantiques, X Écl. Notre-Dame, X1 Écl. Lamblandie,
Y Écl. d’Augoulême. Y1 Écl. Vanban, Z Écl. de la Citadelle, Z1 Écl. du Dock, Z2 Écl. de l’Eure. —
1 Hafenbahnhof (Gare Marit.), 2 Waarenbahnhof (Gare des Marchandises). 3 Personenbahnhof, 4 Kirche
Notre-Dame, 5 St. François-Kirche, 6 St. Joseph-Kirche, 7 St. Michel-Kirche, 8 St. Marie-Kirche,
9 St. Nicolas-Kirche, 10 St. Vincent de Paul-Kirche, 11 amerikanische Kirche, 12 Anglik.-Kirche,
13 Protest. K., 14 Synagoge, 15 Arsenal- und Marine-Hôtel, 16 Börse, 17 Hôtel de Ville und Square,
18 Liceum, 19 Hospital, 20 Kaserne der Zollwächter, 21 Gefängniss, 22 Tabakfabrik, 23 Museum und
Bibliothek, 24 Justizpalast und Handelsgericht, 25 Préfectur, 26 Boulevard de Strassbourg, 27 Post
und Telegraph, 28 Place Gambetta, 29 Boulevard François I., 30 Seebäder, 31 Cours de la République
32 Quai d’Orléans, 33 Rue Thiers, 34 Rue de Paris, 35 Aquarium und Square St. Roch, 36 Rue de
St. Quintin.
[[613]]
(Legende siehe auf Seite 612.)
[614]Der atlantische Ocean.
Interessant ist die Ausfuhr der Uhren; es gingen 1888 über Hâvre
4195 q derselben im Werthe von 14,925.457 Francs ins Ausland, von diesen waren
3081 q, die aber nur einen Werth von 2,635.672 Francs hatten, französischen
Ursprungs. Frankreich exportirt eben überwiegend Standuhren.
Wenden wir uns nun zur Gruppe der chemischen Erzeugnisse, so sehen wir,
dass auf den Luxusartikel Parfumerien mit (1888) 14.263 q ein Werth von
4,872.045 Francs entfällt.
Farbholzextracte erreichten 1888 84.888 q (Werth 10,782.112 Francs), 1887
89.090 q, Farben 1888 30.049 q, Medicamente 1888 31.872 q (Werth 9,491.351 Francs),
1887 26.212 q, chemische Producte 1888 60.501 q (Werth 4,179.562 Francs).
Von Getränken sind zu nennen Wein 1888 106.100 q (Werth 13,536.579
Francs), 1887 94.447 q, dann Cognac und Liqueure.
Raffinirter Zucker aus französischer Herkunft wurde 1888 in der Menge
von 113.253 q (Werth 4,767.946 Francs), 1887 in der von 138.286 q ausgeführt.
Die Ausfuhr von Kaffee erreichte 1888 408.967 q (79,339.604 Francs), 1887
425.038 Francs. Die Bedeutung von Hâvre als Kaffeeplatz wollen wir bei der
Einfuhr besprechen.
Die Ausfuhr von Cacao wird 1888 mit 34.978 q (Werth 6,086.217 Francs)
angegeben.
Als Umschiffungsplatz für Baumwolle versendete Hâvre von dieser 1888
128.788 q (Werth 15,840.915 Francs), 1887 139.852 q.
Von Producten des Thierreiches sind hervorzuheben Seide und Seiden-
abfälle (1888 2807 q, Werth 9,169.587 Francs), dann rohe Felle und Häute mit
129.380 q (Werth 22,542.447 Francs) im Jahre 1888 und 106.805 q im Jahre 1887.
Die Normandie als werthvolles Gebiet der französischen Viehzucht, schickte
1888 über Hâvre meist nach England die gewiss bedeutende Menge Butter von
41.071 q (Werth 10,884.030 Francs), 1887 32.811 q.
Auch die Ausfuhr von Käse (1888 35.884 q, Werth 5,025,118 Francs) ist
sehr bemerkenswerth.
Der Werth der ausgeführten Pferde erreichte 1888 4,401.250 Francs, die
Menge der Schafwolle 22.381 q (Werth 4,588.210 Francs).
Eine auffallende Angabe der Ausfuhr lautet: Haare jeder Sorte 1888
10.435 q (Werth 6,092.696 Francs), fast ganz französischer Herkunft.
Hâvre ist nicht mehr Hauptsitz des französischen Walfisch- und des Stock-
fischfanges an den Küsten von Neufundland und sogar in dem Consum der
frischen Fische abhängig von Honfleur, Trouville und Fécamp. Doch wurden von
hier aus 1888 Fische im Werthe von 2,641.331 Francs versendet.
Hâvre ist endlich ein wichtiger Versandtplatz für englische Kohlen (1888
2,348.172 q, 1887 2,207.764 q), war es 1888 auch für Kupfer; Ausfuhr 28.960 q.
Die Hauptartikel der Ausfuhr im Wege des Küstenhandels sind Weizen
und Weizenmehl, Wein, exotische Hölzer, Oel und ölhältige Früchte, und Baum-
wolle, also zum Theile Artikel, die nach Hâvre von dem Auslande eingeführt
werden.
In der Einfuhr von Hâvre treten die Rohproducte in den Vordergrund.
Gleich an der Spitze der Liste finden wir 1888 Kaffee mit 834.291 q (Werth
161,833.062 Francs), 1887 mit 754.085 q.
In diesem Artikel hat Hâvre in den letzten Jahren die führende Stellung
auf dem Continente Europas übernommen und die grossen Kaffeeplätze Europas
[615]Le Hâvre.
gezwungen, ihren Kaffeehandel so zu organisiren wie Hâvre, um ihre alte Bedeu-
tung in diesem Zweige des Welthandels behaupten zu können. Und diesen Ein-
fluss auf den Kaffeehandel verdankt Hâvre der Initiative seiner Kaufleute.
Wir geben im Folgenden die Darstellung der Organisirung des Kaffee-
handels von Hâvre nach Dr. R. Sonndorfer’s „Technik des Welthandels“.
Als im Jahre 1882 die Kaffeepreise auf die Hälfte der Höhe von 1877
gesunken waren und in Hâvre sich ein Stock angesammelt hatte, welcher den
Consum von Frankreich auf 14 Monate decken konnte, gingen die grossen Kaffee-
häuser von Hâvre an eine neuartige Reorganisirung des bisher üblichen Kaffee-
handels.
Die Hâvreser Kaufleute begnügten sich nämlich nicht damit, für Kaffee
das börsemässige Termingeschäft einzuführen, bei welchem die Schlüsse durch
Vermittlung eines Maklers gemacht werden, aber der dabei gewinnende Theil nicht
in den Besitz des rechnungsmässigen Ueberschusses gelangt, wenn die verlierende
Partei nicht zahlt. Um dies zu vermeiden, gründete man in Hâvre die „Caisse de
liquidation des affaires en marchandises“, eine Actiengesellschaft mit einem
Capital von 4 Millionen Francs, von welchem zunächst nur die Hälfte ausge-
geben wurde.
Termingeschäfte in Kaffee dürfen nur bei dieser Casse abgeschlossen
werden, und jeder der beiden Contrahenten, also der Käufer und der Verkäufer,
müssen zur [Sicherung] für die der Casse ihnen gegenüber etwa erwachsenden An-
sprüche zugleich mit der Uebergabe der Schlussnoten für jeden Sack (60 kg)
Kaffee einen Betrag in barem Gelde oder in anderen Sicherheiten leisten, der von
3 bis 12 Francs variirt. Ueberdies muss jede Veränderung des Preises, wenn sie
mindestens 1 Franc pro 60 kg beträgt, von demjenigen Contrahenten, zu dessen
Ungunsten dieselbe ausgefallen ist, innerhalb 24 Stunden ausgeglichen, beziehungs-
weise nachgeschossen werden.
Mit dieser Einrichtung ist dem Termingeschäfte eine möglichst reelle Basis
gegeben, die dem fremden Capitalisten und Speculanten alle wünschenswerthe
Sicherheit bietet, so dass heute nicht nur französisches, sondern auch englisches
Geld in hervorragender Weise an dem Markte von Hâvre betheiligt ist.
Die Grundlage des Termingeschäftes bildete bis anfangs 1889 Santos-Kaffee,
gute Durchschnittsqualität, und ist jetzt auch die Lieferung anderer Kaffeesorten
gestattet, von welchen in Hâvre besonders die Gattungen Haïti, Puerto Cabello,
Nicaragua und Malabar gehandelt werden.
Auch für Cacao ist Hâvre disponirender Platz; über diesen Hafen bezieht
die berühmte Pariser Chocoladen-Industrie ihr Rohproduct, die Fabrikanten lassen
den Cacao in den hiesigen Entrepôts lagern. Einfuhr 1888 505.315 q im Werthe
von 18,843.239 Francs, 1887 93.786 q.
Die Einfuhr von Zucker (1888 40.883 q) geht zurück, weil Martinique
und Guadeloupe ihren Zucker lieber in die Union als nach Frankreich schicken.
Zum Nachtheile von Bordeaux nimmt die Einfuhr von Pfeffer in Hâvre zu.
Getreide und Mehl meist nordamerikanischen, aber auch rumänischen
(Mais) und russischen Ursprungs und für die grossen Mühlen von Corbeil und den
Consum des industriellen Nordfrankreichs bestimmt, nahmen 1888 in der Einfuhr
von Hâvre mit 1,546.518 q (Werth 28,868.448 Francs) die sechste Stelle ein.
Einfuhr 1887 1,929.836 q im Werthe von 35,976.543 Francs.
Zu nennen sind ferner die Einfuhr von Reis und von Tapioca.
[616]Der atlantische Ocean.
Von Wein, aus Spanien und Portugal stammend und für den einheimischen
Consum bestimmt, wurden 1885 505.315 q (Werth 18,843.239 Francs), 1887
328.703 q, von norddeutschem und schwedischem Spiritus 1888 81.867 q (Werth
3,465.287 Francs) eingeführt.
Eine wichtige Rolle spielen ölhaltige Samen und Palmöl, von welchen 1888
552.762 q (Werth 15,023.254 Francs), 1887 501.422 q eingeführt wurden. Die Ein-
fuhr von Oel erreichte 1888 166.538 q (Werth 10,618.585 Francs), die von
Blättertabak 96.346 q (Werth 12,043.309 Francs).
Von thierischen Nahrungsmitteln müssen wir hier anführen Fette und
Speck aus der Union (1888 164.968 q im Werthe von 15,076.731 Francs, 1887
215.256 Francs), Käse (1888 32.636 q), der hier nur transitirt, frisches und con-
servirtes Fleisch (1888 30.141 q), für den Consum in Frankreich bestimmt,
Hummern und Fische.
Schon seit mehr als 10 Jahren verlässt der Handel mit Schafwolle den
hiesigen Platz, weil die Wollindustrie des nördlichen Frankreichs sich lieber über
Dünkirchen versorgt, denn die hohen Eisenbahntarife der Westbahn entziehen
dem Hafen sein natürliches Absatzgebiet. In Hâvre besteht für Schafwolle das
Termingeschäft und es werden grosse Wollauctionen gehalten, auf denen ein-
heimische, spanische, levantinische und russische Wollen, dann solche von La
Plata, von Chile und Peru zum Verkaufe kommen. Einfuhr aus dem Auslande 1888
141.102 q (Werth 27,514.974 Francs), 1887 129.124 q.
Auch in Baumwolle vermag der hiesige Markt wegen der hohen Eisenbahn-
tarife nur mit Mühe seine alte Stellung als erster Baumwollhafen Frankreichs zu
behaupten; das südwestliche Deutschland und die Schweiz sind dem hiesigen
Markte bereits zumeist an Antwerpen, Hamburg und Bremen verloren gegangen.
Baumwolle, deren Einfuhr 1888 973.527 q im Werthe von 126,558.216
Francs erreichte und die somit der zweite Einfuhrartikel Hâvres war, wird
meist auf britischen Schiffen aus Indien und der Union gebracht.
Im Jahre 1887 betrug die Einfuhr 1,287.913 q und stand an der Spitze der
Einfuhr dieses Hafens, die eine Baumwollbörse besitzt.
Die Einfuhr von Phormium, Abaca und anderen Faserstoffen erreichte 1888
24.443 q, die von Seide 1750 q (Werth 5·5 Millionen Francs).
Piassava, die ursprünglich als Verpackung des Zuckers aus Brasilien kam,
wird jetzt für die Bastindustrie eingeführt.
Die Einfuhr von Faserstoffen erreicht in Hâvre einen sehr grossen Um-
fang, gibt aber trotzdem zu denken.
In der Einfuhr von rohen Fellen und Häuten ist wieder Antwerpen ein
gefährlicher Concurrent, 1888 wurden aus den La Platastaaten, aus Rio grande
Mexico 211.835 q (Werth 26,398.299 Francs), 1887 232.118 q eingeführt.
Die eben genannten Länder liefern auch Hörner, Klauen und Knochen,
so 1888 40.883 q.
Die Einfuhr von Perlmutterschalen und Muscheln wird für 1888 mit
13.471 q (Werth 3·7 Millionen Francs) angegeben.
Indigo wurde 1888 in der Menge von 8340 q (Werth 10 Millionen Francs)
eingeführt und war für den inländischen Verbrauch bestimmt. Die wichtigsten
Sorten sind Guatemala und Nicaragua und erst in zweiter Linie ostindischer Indigo.
Auch der eingeführte Kautschuk (1888 13.585 q, Werth 7,770.586 Francs)
bleibt in Frankreich, ebenso die hereingebrachten exotischen Hölzer. Im ein-
[617]Le Hâvre.
zelnen sind zu nennen Blauholz (Campêche) aus Haïti, Gelbholz und Rothholz,
die in Frankreich auf Farben verarbeitet werden, ferner feine Hölzer für Tischler
und Drechsler, wie Mahagoni aus Westindien, Palissander aus Südbrasilien, Cedern-
holz aus Westindien und Mexico, davon manches für die Bleistiftfabriken Deutsch-
lands bestimmt; ferner Ebenholz aus Ceylon und von Gabon, Guayakholz, Rosenholz,
Buchsbaumholz und Ahornholz. Einfuhr 1888 1,002.220 q (Werth 20,014.128 Francs),
1887 964.412 q. Gewöhnliches Holz (1888 678.714 q) kommt aus Nordeuropa und
Nordamerika.
Einen auffallend hohen Antheil an dem Einfuhrhandel von Hâvre haben
Metalle, vor Allem Kupfer mit 399.566 q (Werth 73,919.682 Francs) im Jahre
1888, wo es als Folge der Wirksamkeit des Pariser Kupfersyndicats der dritt-
wichtigste Einfuhrartikel wurde und von dem zwei Fünftel in Frankreich blieben;
1887 war die Einfuhr nicht grösser als 114.983 q. Dann folgen Rohzinn (1888
22.352 q), Blei (1888 93.207 q) und Zink.
Die Einfuhr von Kohlen aus England betrug 1888 5,062.180 q, 1887
4,706.083 q, die von amerikanischem Rohpetroleum 1888 272.757 q, 1887 285.960 q.
Hâvre ist der erste Platz Europas für die Einfuhr dieses Artikels.
Die Einfuhr von Industrieartikeln ist zum grössten Theile nicht für
Frankreich bestimmt, sondern für jene Länder, mit denen Hâvre in regelmässiger
Verbindung steht.
Dies gilt von Baumwollwaaren (1888 52.255 q, Werth 59,756.129 Francs,
1887 43.656 q), Seidenwaaren (1888 6700 q, Werth 43,801.165 Francs, 1887
6358 q) und Schafwollstoffen (1888 7091 q, Werth 7,206.647 Francs), ferner von
Uhren (1888 1248 q, Werth 12,797.142 Francs), Stroh- und Basthüten, Flecht-
waaren, bearbeiteten Fellen und Lederarbeiten.
Von den eingeführten Fahrzeugen (Werth 1888 4 Millionen Francs) blieben
alle, von den chemischen Producten vier Fünftel, von Maschinen und Metall-
arbeiten etwa die Hälfte in Frankreich.
Von der Industrie Hâvres empfängt der Handel der Stadt keine besondere
Förderung. Die wichtigsten grössten Unternehmungen sind zwei Schiffbauanstalten,
Maschinenfabriken, die etwa 1200 Arbeiter beschäftigen, Mühlen für Mehl, Fabriken
für Gewinnung von Farbholzextracten, eine Petroleumraffinerie, eine Zucker-
raffinerie und eine grosse staatliche Tabakfabrik.
Der Waarenhandel von Hâvre betrug:
| [...] |
Diese Ziffern sind wahrhaft imponirend. Sie finden ihre Ergänzung durch
die Feststellung des Entrepôtsverkehres, der im Eingange 1888 eine Höhe von
313,102.800 Francs, 1887 von 303,009.200 Francs umfasste. Der Stock hatte am
31. December 1888 einen Werth von 100,949.600 Francs und am 31. December
1887 einen solchen von 81,191.700 Francs.
Als Kopfstation vieler Postlinien hat Hâvre auch einen bedeutenden Verkehr
in Edelmetallen, der 1888 42,087.310 Francs in der allgemeinen Ausfuhr und
8,088.947 Francs in der Einfuhr erreichte.
Die Grösse des Schiffsverkehres von Hâvre ist in erster Linie durch die
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 78
[618]Der atlantische Ocean.
Höhe des Importes bedingt, denn dieser umfasst Güter, welche Raum einnehmen,
wie Petroleum, Hölzer, Getreide.
Am Ende des Jahres 1888 besass Hâvre eine eigene Marine von
169 Dampfern mit 153.477 Tons und von 167 Segelschiffen mit 31.808 Tons.
Die Schiffahrt von Hâvre weist folgende Ziffern aus:
| [...] |
1889 erreichte der Gesammtverkehr etwa 5·6 Millionen Tons.
Im auswärtigen Verkehr entfällt die grösste Zahl der Tonnen auf England
(1888 1,455.993 Tons), dann folgen die Vereinigten Staaten (862.777 Tons) und
Deutschland (416.545 Tons).
Die wichtigsten Flaggen sind die französische, knapp auf sie folgt die
englische, dann die deutsche, die spanische, die norwegische.
Hâvre ist Ausgangspunkt einer so grossen Reihe von Dampferlinien,
dass wir uns mit einer kurzen Auswahl derselben und ihrer Schiffscurse begnügen
müssen.
Von Hâvre gehen dreimal in der Woche Postschiffe nach Southampton
(110 Seemeilen) an der Küste Englands in 8 Stunden, und von hier bestehen
directe Verbindungen fast mit allen grösseren Häfen des britischen Reiches. Zahl-
reiche Linien knüpfen die französischen Häfen, wie Bordeaux, Bayonne, Nantes,
Brest, Dünkirchen und andere, an Hâvre. Hervorzuheben sind die Cie. Générale des
bateaux à vapeur à hélice du Nord aus Dünkirchen; die Sociéte Navale de l’Ouest
geht nach den französischen Häfen bis Marseille, dann nach Antwerpen, Portugal,
Spanien und Marokko; die Cie. Hâvraise Péninsulaire de Navigation à Vapeur führt
nach der pyrenäischen Halbinsel bis Málaga, nach Algier, Italien und der Levante;
die General Steam Navigation Cy. vermittelt den Verkehr mit Porto, Edinbourg,
Stettin, die „Adria“ aus Fiume mit dem adriatischen Meere. Andere Gesell-
schaften laufen Italien an, eine alle grösseren Häfen des Schwarzen und des
Asow’schen Meeres.
Nach Nordeuropa führen die Cie. det Forende Dampskibsselskab aus Kopen-
hagen, die Cie. Gothenburg, die Cie. der Sonendenfjelds Norske Dampskibsselskab
aus Christiania und andere.
Wir wenden uns nun zu den Verbindungen mit den fremden Continenten
und sehen von Nordafrika ab, dessen Hafenplätze schon genannt wurden.
Von besonderer Bedeutung ist der Verkehr mit New-York. Diesen ver-
mittelt zunächst eine nationale Gesellschaft, die Cie. Générale Transatlantique
welche in 7—8 Tagen den Weg nach New-York (3187 Seemeilen) zurücklegt, und
jeden Dienstag die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actiengesellschaft auf ihrer
Linie Hamburg-New-York. Auch die anderen Häfen der Union und Canada haben
Verkehr mit Hâvre.
Besonders zahlreich sind die Verbindungen mit Westindien.
Hâvre ist Kopfstation von drei Linien der Cie. Générale Transatlantique;
die eine geht über Bordeaux und Port de France (franz. West-Indien) nach Colon,
[619]Le Hâvre.
die zweite über St.-Nazaire und Bordeaux nach St.-Thomas, Portorico und Haïti,
die dritte über Bordeaux nach Cuba und Vera-Cruz.
Hier laufen die Dampfer der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-
Gesellschaft auf ihren Linien nach St.-Thomas-Cartagena und St.-Thomas-Colon an
und andere Hamburger Dampfer auf ihren Linien nach Habana—Vera-Cruz und
Progresso.
Auch der Koninklijke-West-Indische Maildienst, der von Amsterdam nach
Niederländisch-Guyana, La Guayna und New-York geht, berührt Hâvre.
Auch die Atlas-Linie geht über New-York nach den Antillen, ebenso be-
stehen über Liverpool Verbindungen.
Auch an französischen Verbindungen mit Guyana ist kein Mangel.
Interessant ist übrigens die grosse Anzahl von Segelcursen, welche Hâvre
mit Westindien unterhält.
Den Verkehr Hâvres mit den Häfen Brasiliens und dem La Plata beherr-
schen zumeist mit drei Linien die Chargeurs réunis.
In Hâvre hält auch die deutsche Linie nach Westafrika „Woermann“
aus Hamburg zweimal im Monate an, und nach Mauritius und Madagaskar fährt
die Compagnie Hâvraise Péninsularie de Navigation à Vapeur.
Auch mit Indien, China und Australien bestehen Verbindungen zunächst
durch die Messageries maritimes, welche die Schiffe der Linie Marseille-London in
Hâvre anlaufen lässt.
Wir haben oben gesehen, dass die Küstenschiffahrt in Hâvre recht an-
sehnlich ist, vielfach wohl deshalb, weil Hâvre einer jener der Häfen ist, welche
ungenügende Eisenbahnverbindungen haben. Tarif-Herabsetzungen der mäch-
tigen Westbahn sowie der Ausbau einiger Linien sind in Wahrheit Lebensfragen
für die künftige Blüthe Hâvres geworden.
Wegen seiner guten Dampfschiffverbindungen wird Hâvre auch von Aus-
wanderern und Reisenden stark benützt. Im Jahre 1888 gingen 38.525, 1889
38.665 Emigranten aus Frankreich, Italien, der Schweiz und Elsass-Lothringen
über den Ocean, davon drei Viertel nach New-York, ein Viertel nach Argentinien.
Die Cie. Générale Transatlantique unternahm 1889 52 Fahrten nach New-York und
beförderte 33.228 Passagiere, darunter 9835 der ersten Classe.
Die wichtigsten Banken sind eine Succursale der von Frankreich und
Agenturen des Crédit Lyonnais, des Crédit Foncier de France, der Société
Générale pour favoriser le Développement du Commerce et de l’Industrie en
France und die bei Kaffee genannte Caisse de liquidation des affaires en
marchandises.
Die Zahl der in Hâvre ansässigen Gesellschaften für Seeversicherungen
allein beträgt 36.
In Le Hâvre haben Consulate: Argentinien, Belgien, Columbia, Costarica,
Deutsches Reich (G.-C.), Ecuador, Griechenland, Grossbritannien (G.-C.), Guatemala,
Hatïi, Hawai, Italien, Mexiko, Monaco, Niederlande, Nicaragua, Oesterreich-Ungarn,
Paraguay, Persien, Peru (G.-C.), Portugal, Russland, Salvador, San Marino,
Schweden und Norwegen (G.-C.), Schweiz, Spanien, Türkei, Uruguay, Venezuela,
Vereinigte Staaten von Amerika.
78*
[620]Der atlantische Ocean.
Wie schon erwähnt, war Hâvre früher nur Vorhafen für Rouen,
welches die kleinen, nicht tief gehenden Schiffe der früheren Jahr-
hunderte ganz bequem anlaufen konnten.
Das grosse und reiche Rouen, erbaut in günstiger Lage am
rechten Ufer der unteren Seine, war einst nicht nur die Hauptstadt,
sondern auch die Handelsmetropole der Normandie.
Seine alte Handelsstellung als Hafen des Seinegebietes hat es an
das jüngere Hâvre abgetreten. Aber bei dem Reichthume dieses Theiles
von Frankreich hat sich Rouen nach der Tonnenzahl der hier ver-
kehrenden Seeschiffe doch noch immer in dem Range des fünften
Hafens Frankreichs, nach dem Werthe seines Handels als sechster
Platz (1888) behauptet.
In der Hauptsache beruht die Bedeutung der Stadt auf ihrer
Stellung als einer der ersten Fabriksstädte Frankreichs, an die sich
bis Paris hin (126 km) Fabriksgebiete an Fabriksgebiete reihen.
Der stärkste Verkehr des in jeder Weise gut eingerichteten
Hafens, der ein eigenes Holz- und ein Petroleumbassin besitzt, geht nach
den englischen Häfen London, Hull, Goole und Liverpool; England
legt ein grosses Gewicht auf den Markt von Rouen. Ferner bestehen
Linien nach Bordeaux und den nordspanischen Plätzen.
Selbstverständlich geniesst Rouen auch die Vortheile der Nähe
von Hâvre, von wo so viele überseeische Linien ausgehen. Dies er-
klärt auch die grosse Bedeutung des Absatzgebietes von Indochina
für Rouen.
Die Tiefeverhältnisse der Seine sind einer weiteren Entwicklung
des Seeverkehres nicht besonders günstig, dafür gehen Flussdampfer
aufwärts bis Paris. Paris als Seehafen, was einflussreiche Kreise an-
streben, würde den Handel von Rouen zu einem reinen Localhandel herab-
drücken. Von Rouen und Umgebung gehen fünf Eisenbahnlinien aus,
die wichtigsten führen nach Hâvre, Amiens und Paris.
Beginnen wir mit einer kurzen Darlegung der Industrie von Rouen.
Rouen nimmt heute in allen Zweigen der Baumwollindustrie Frank-
reichs dieselbe Stellung ein, die früher Mühlhausen hatte. Die feinen Baumwoll-
stoffe dieses Platzes werden geradezu Rouennerien genannt. Eine Specialität sind
die Taschentücher.
Wichtig ist die Lederindustrie, grossartig die Spiritusindustrie, welche auf
der Einfuhr von Mais beruht. Man begreift daher die Aufregung, welche jede
Nachricht auf die Einführung eines Zolles auf Mais in Rouen hervorruft.
Zu nennen sind ferner die Industrien in Seifen, in Chemikalien und in
Maschinen. In der letzteren sind erwähnenswerth die Construction von Gaskraft-
maschinen und Schiffsmaschinen.
[621]Le Hâvre.
Der Handel Rouens ist, wie der von Nantes, wesentlich Einfuhrhandel,
welcher die sechsfache Höhe des Werthes der Ausfuhr erreicht. Sein Umfang
wird bestimmt durch die Getreideeinfuhr, also mittelbar durch die Ernte Frank-
reichs.
Die Einfuhr von Getreide, welche 1888 etwa zwei Drittel der von Marseille
erreichte, betrug in diesem Jahre 5,350.747 q (Werth 91,249.607 Francs), 1887 aber
nur 2,565.029 q.
Von Reis wurden 1888 99.716 q, Hülsenfrüchte 92.641 q eingeführt.
Sehr wichtig ist auch Wein, 1888 mit 1,336.153 q (Werth 40,884.381 Francs),
1887 mit 1,140.413 q.
Die Einfuhr gemeiner Hölzer wird für 1888 mit 735.939 q (Werth
7,231.760 Francs) angegeben, die von Holzstoff mit 233.123 q (4,679.241 Francs).
Rouen ist schon seit langem ein wichtiger Einfuhrplatz für Kupfer; natür-
lich sind die Ziffern für 1888 von besonderer Höhe. Einfuhr 1888 204.115 q
(Werth 40,884.381 Francs), 1887 103.448 q.
Auch Blei (1888 71.007 q), Schwefel (83.210 q) und Zink werden in grös-
seren Mengen eingeführt.
Die Einfuhr von bituminösen Mineralien weist 1888 die Höhe von 380.170 q
(4,844.776 Francs), 1887 von 419.821 q aus. Für die Einfuhr von amerikani-
schem Rohpetroleum ist Rouen der dritte Hafen Frankreichs.
Kohlen wurden 1888 3,080.030 q, 1887 3,108.244 q über Rouen ins Land
gebracht.
Die eingeführten Industrieartikel, meist englischer Herkunft, sind aus-
schliesslich für den Verbrauch in Frankreich bestimmt. Dahin gehören Garne
(1888 21.691 q, Werth 9,424.269 Francs), Schafwollgewebe (9420 q, Werth
7,895.735 Francs), Baumwollwaaren (5444 q), Leder und Felle, chemische Producte
(1888 122.367 q, Werth 3,180.262 Francs) und Maschinen (17.005 q).
Dass im Wege des Küstenhandels aus Hâvre allein 1,248.384 q Waaren zu-
geführt werden, unter denen Getreide, Wein, Taue und Hadern, Baumwolle und
exotische Hölzer die hervorragendsten sind, zeigt, in welchem Grade Rouen im
auswärtigen Handel von Hâvre abhängig ist.
Aus der Ausfuhr französischer Artikel sind hervorzuheben Zucker (1888
190.258 q, Werth 7,574.619 Francs), Möbel und Holzarbeiten (164.132 q, Werth
3,375.564 Francs), chemische Producte, Kautschukwaaren, rohe Felle (1888
18.243 q) und Hadern (56.279 q, Werth 3,386.677 Francs).
Unter den Waaren, welche überwiegend aus dem Auslande stammen, sind
die wichtigsten Kupfer (1888 20.568 q) und Maschinen.
Baumaterialien, chemische Producte und Getreide sind die Hauptartikel
der Ausfuhr des Küstenhandels, der hauptsächlich mit Hâvre und Bordeaux be-
trieben wird.
| [...] |
Die Seeschiffahrt von Rouen betrug:
| [...] |
Hiebei ist der sehr lebhafte Flussverkehr nicht eingerechnet.
Von der Tonnenzahl der im auswärtigen Handel beschäftigten Schiffe sind
50—60 % englische.
Rouen ist Sitz einer Handelskammer und ein wichtiger Bankplatz. Hier
bestehen eine Succursale der Bank von Frankreich, Agenturen des Crédit Lyonnais
und der Société Générale pour favoriser le Développement du Commerce et de
l’Industrie en France, ausserdem zwei Localbanken.
In Rouen haben Consulate: Belgien, Costarica, Griechenland, Gross-
britannien, Haïti, Hawai, Monaco, Paraguay, Russland, San Marino, Türkei, Vene-
zuela, Vereinigte Staaten von Amerika.
[[623]]
Boulogne-sur-Mer.
Die Küste zwischen Cap Gris-Nez und der Mündung des Somme-
Flusses, der, wie alle Wasserläufe dieser Gegend, das Hügelland des
Departements Pas-de-Calais entwässert, verläuft ohne nennenswerthe
Einbuchtungen in nord-südlicher Richtung und senkrecht gegen
dieselbe wüthen die häufigen Weststürme des Canals mit ihren ver-
heerenden Wogen. Ein Saum von Sandbarren ist der Küste vorge-
gelagert, wodurch das Anlaufen derselben sehr erschwert, bei stürmi-
scher Witterung sogar höchst gefährlich wird. So ist die äussere
Situation von Boulogne-sur-Mer, dieser uralten Hafenstadt, beschaffen,
und es ist begreiflich, dass zu verschiedenen Zeiten grossartige An-
strengungen gemacht wurden, die Zufahrt zu verbessern und geschützte
Hafenbecken zu schaffen, denn Boulogne hat im Gegensatz zu vielen
anderen Verkehrsplätzen niemals seine Handelswichtigkeit eingebüsst.
Zu jeder Zeit war sein Hafen eines der grossen Ausfallsthore des
europäischen Continentes für den Wanderzug der Menschen und für
den Handelsverkehr nach England gewesen. 127.000 Reisende
durchziehen alljährlich die Stadt. Der Menschenstrom wogt hier zu-
meist über den Canal hinüber zu den grossbritannischen Häfen und
von dort zurück. Dieser Verkehrsrichtung sowohl wie nicht minder
den alten Coalitionen mit Albion, ist es wohl zuzuschreiben, dass eine
starke englische Colonie in Boulogne den Sitz aufgeschlagen hat.
Gegenwärtig zählt dieselbe 6000 Personen, welche zumeist die untere
Stadt bewohnen und englische Sprache, Sitte und Lebensweise in der
ganzen Stadt verbreiteten.
Die Wichtigkeit von Boulogne wies der Stadt in früheren Zeiten
eine bedeutende militärische Rolle zu, die nicht ohne Einfluss auf die
Erweiterung des Hafens geblieben war. Boulogne erhielt auch fortifica-
torischen Schutz.
Die Stadt breitet sich am rechten Ufer des Liane-Flusses, der
südlich des Cap Gris-Nez in den Canal einmündet, auf hügeligem
[624]Der atlantische Ocean.
Terrain unter 50° 43′ nördl. Br. und 1° 37′ östl. L. v. Gr. aus. Der
Fluss ist hier, wie unser Plan zeigt, durch Kunstbauten in einen
geräumigen Hafen mit Bassins und Schleussen verwandelt worden und
steht durch den zwischen zwei langen Wellenbrechern geführten so-
genannten Chenal mit der offenen See in Verbindung. Die grossen
Schleussen des Arrière-Port bilden zwei Communicationen über den
Fluss und die grosse Eisenbahnbrücke Pont de la Liane überquert
denselben in einer schönen Bogenlinie.
Es ist ein anziehendes Bild, das vom Hafen aus die Stadt
bietet. Längs des Quai Gambetta liegen theils in tieferem Wasser ge-
ankert, theils am trockenen Strand aufgefahren zahlreiche Fischer-
barken in jener malerischen Unordnung, welche, so ganz der Pedanterie
entkleidet dem Künstler reiche Motive zu Studien bietet. Die Fischer-
barken bilden hier eine bleibende Staffage, denn das Küstengebiet
von Boulogne bis einschliesslich Dünkirchen zählt nicht weniger als
358 Fischerfahrzeuge jeder Grösse, mit 4852 Mann Bemannung,
welche die Hochsee- und Küstenfischerei sowie den Häringfang be-
treiben.
Im Hafen sieht man auch die Dampfer, welche den täglichen
Verkehr mit Folkstone und London vermitteln, während im Flut-
hafen die Frachtschiffe löschen und laden. Am linken Ufer der Liane
führt der Schienenstrang längs des ganzen Quais vorbei, von der
Passagierstation bis zum Hafenbahnhof. Dort hat denn auch der ge-
sammte Waarenverkehr sein bewegtes Hauptquartier aufgeschlagen.
Ueber dem Hafen baut sich die Stadt auf, aus deren obersten
Partien Thürme und die hohe Kuppel der Notre Dame-Kirche sehr
effectvoll emporragen.
Boulogne wird durch eine etwa 100 m hohe Terrainwelle, an
deren Fusse und Gelände die Stadt sich gebettet hat, in zwei mar-
kante Theile geschieden, und zwar in die untere (Ville basse) und in
die obere Stadt (Ville haute).
Die erstere ist zunächst von regelmässig angelegten Strassen-
zügen durchschnitten, und haben dort die Comptoirs, grossen Hôtels,
Kaffeehäuser und hübsche Waarenmagazine Platz gefunden. Auch
die nicht unbedeutende Industrie von Boulogne hat zumeist in der
unteren Stadt sich etablirt. Im nördlichen Theile derselben liegt das
Quartier der Seeleute (Quartier des marins), in dessen Mitte die Kirche
Saint-Pierre des Marins, ein 1850 vollendeter Bau, auf Stadt und Hafen
blickt. Alljährlich am ersten Sonntage des Monats Juli pilgert
von der Kirche aus eine feierliche Procession hinab zum Meeres-
[625]Boulogne-sur-Mer
strand; der Priester segnet das Meer, damit der Fischfang gut
gedeihe.
Die Hauptverkehrsstrasse Rue Faidherbe führt von der Place
Frédéric-Sauvage (an der Schleussenbrücke Marguet) in das Innere
der unteren Stadt.
Frankreich errichtete dem in Boulogne geborenen genialen
Sauvage, welcher in seinem Vaterlande den Ruhm des Erfinders der
Schiffsschraube genoss, auf dem erwähnten Platze ein Marmorstandbild.
Die obere Stadt ist in eine aus dem XIII. Jahrhundert stam-
mende Umwallung, welche die Höhe eines Hügels krönt, eingebaut.
Boulogne-sur-Mer.
Auf dem 17 m hohen gemauerten und von halbrunden Bastionen
flankirten Wallgang hat man eine hübsche Baumanlage gepflanzt,
von der aus ein lohnender Ausblick auf Boulogne und seinen Hafen
zu geniessen ist.
Das Hauptgebäude der oberen Stadt ist die massige, im griechisch-
romanischen Styl gehaltene Notre Dame-Kirche deren hohe, säulen-
geschmückte Kuppel weithin sichtbar ist. Der Bau entstammt dem
Jahre 1827, wurde aber erst 1866 beendigt.
In der oberen Stadt liegen ferner das Justizpalais, das Hôtel
de Ville, dann ein Kloster der Ursulinerinnen, die Josefskirche und
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 79
[626]Der atlantische Ocean.
das sogenannte Château, eine 1231 von dem Grafen Philippe de Bou-
logne erbaute Burg, die gegenwärtig als Artilleriemagazin und Kaserne
verwendet wird. Louis Napoleon wurde hier nach seinem verfehlten
Putsch im August 1840 einige Tage hindurch detenirt.
Als interessantestes Bauwerk darf der hinter dem Stadthaus
stehende 47 m hohe, massige Thurm Le Beffroi, ein aus dem XIII. Jahr-
hundert stammender Bau, bezeichnet werden. Sein oberer, in einer ge-
räumigen Plattform endigender Theil rührt indes aus einer späteren
Zeit her.
Boulogne war zu Römerzeiten als Stützpunkt der Herrschaft in Britannien
der wichtigste Hafen Nord-Galliens. Hier lag das alte Caesariacum; hier liess
Caligula im Jahre 40 n. Chr. einen Leuchtthurm errichten, der bis ins XVII. Jahr-
hundert hinein verwendet wurde. Claudius schiffte sich (46) im Hafen ein und
errichtete der Stadt einen Triumphbogen, und Hadrian schmückte sie mit schönen
Monumenten.
In späterer Zeit herrschten dort nach mancherlei Wandlungen die Grafen
von Boulogne. Die Stadt hatte bereits unter Karl dem Grossen Befestigungen
erhalten. Im Jahre 1339 wehrte sie sich erfolgreich gegen die Engländer, zwei
Jahrhunderte später fiel sie aber dennoch nach heldenmüthiger Vertheidigung in die
Gewalt des Königs Heinrich VIII. von England, der die Stadt mit 30.000 Mann
belagert hatte (1544). Heinrich II. von Frankreich erwarb hierauf 1550 die Stadt
für einen Kaufschilling von 400.000 Ducaten wieder zurück.
Eine hervorragende Rolle spielte der Hafen während der Revolutionskriege
gegen England, und es wird berechnet, dass vom 4. bis zum 9. Jahre der fran-
zösischen Republik die Corsaren von Boulogne englische Handelsschiffe und
Ladungen im Werthe von 13 Millionen Francs gekapert und 2000 Gefangene
gemacht haben.
Bekanntlich hatte der erste Consul Bonaparte (1801) Boulogne zum Aus-
gangspunkt der Unternehmung gegen England, wozu der Hafen vorzüglich sich
eignete, erwählt. Mittelst einer grossartigen Flotille von mehr als 2000 armirten
Fahrzeugen sollte eine Landung auf der englischen Küste durchgeführt werden.
Marschall Soult und Viceadmiral Bruix waren die Führer der Expedition. Als
Vorbereitung für dieselbe liess Bonaparte den Hafen erweitern und durch starke
Befestigungen schützen. Dreimal inspicirte Napoleon das dortige Feldlager. Die
Expedition unterblieb aber infolge des englischen Seesieges bei Trafalgar (1805)
und der neuen Coalition, die gegen Napoleon sich gebildet hatte.
Boulogne zählt gegenwärtig 45.916 Einwohner, wovon 6000
englischer Nationalität.
Die Stadt besitzt prächtige Seebäder am offenen Strande, die
ihr viele Gäste zuführen.
Auch verfügt sie über hübsche öffentliche Sammlungen, wie das
Museum, das Industrie-Museum, die Bibliothek u. a.
Auf unserem Plane haben wir das neue in der Ausführung be-
griffene Project eingezeichnet, welches, wenn verwirklicht, die Stadt
[627]Boulogne-sur-Mer.
mit einem ausserordentlich geräumigen äusseren Hafen bereichern, und
dessen breite Einfahrt die Gefahr beseitigen wird, welche bisher das
Anlaufen des alten Hafens begleitete. Die Tiefe des neuen Hafens
wird durch Baggerungen auf 5 bis 8 m gebracht werden.
Der Wohlstand von Boulogne hängt ab von der Fischerei, der
Localindustrie, den im Sommer stark besuchten Seebädern und end-
lich vom Localverkehre mit England. Der Verkehr ist nur Transito-
verkehr und selbst von diesem geht nach und nach manches auf
Dünkirchen über.
Der grösste Theil des Verkehres ist nach England gerichtet.
Boulognes erste Ausfuhrartikel sind Schafwollgewebe, fast ausschliesslich
französischen Ursprungs, ferner Seidenstoffe, von denen aber manchmal die Hälfte
auf deutsche und schweizerische Erzeugnisse entfällt. Die Ausfuhr erreichte bei
Schafwollstoffen 1888 66.097 q (Werth 72,085.169 Francs), 1887 58.917 q, bei
Seidenstoffen 1888 6393 q (Werth 39,856.899 Francs), 1887 4164 q.
Grössere Werthziffern weisen noch auf bearbeitete Felle und Lederarbeiten
(1888 12.773 q, Werth 14,133.164 Francs), Kleider und Wäsche (1888 1301 q,
Werth 7,050.866 Francs), Garne jeder Gattung (1888 8314 q, Werth 5,929.345 Francs),
Knöpfe und Kurzwaaren, Glas und Porzellan, endlich Bijouterien aus edlen Me-
tallen, Alles Artikel französischer Provenienz.
Zum grossen Theile ausländischer Herkunft sind Uhren (1888 4905 q, Werth
11,674.944 Francs), Seide und Seidenabfälle (1888 4608 q, Werth 6,577.909 Francs),
ganz aus dem Auslande stammt bearbeitetes Korkholz.
Alle diese Waaren kommen auch, soweit sie französischen Ursprungs sind,
aus einer grösseren Entfernung nach Boulogne. Aus der Nähe wird hieher
gebracht Portland-Cement, dessen Ausfuhr 1888 mit 368.734 q (Werth
1,585.556 Francs) angegeben wird und 1889 weit über diese Ziffer hinausging.
Das Eisenwerk zu Marquise bringt gusseiserne Röhren und Candelaber nach
Portugal und den Niederlanden zur Ausfuhr.
Auch Korbweiden und Bastgeflechte sind nicht unwichtige Ausfuhrartikel.
Die zweite grosse Gruppe der Ausfuhrartikel bilden Producte des Acker-
baues und der Viehzucht. Die grössten Ziffern entfallen auf Wein mit 84.110 q)
(Werth 15,356.720 Francs) im Jahre 1888 und 76.092 q im Jahre 1887. Die Aus-
fuhr des Jahres 1889 bleibt weit hinter diesen Mengen zurück.
Zu nennen sind noch Tafelfrüchte (1888 51.879 q), condensirte Milch
(9910 q), die aber hier nur in der Durchfuhr vorkommt, und Eier (1888 10.301 q)
für den Markt von England.
Im Wege des Küstenhandels werden in grossen Mengen ausgeführt Bau-
materialien, Steine für industrielle Zwecke.
Sowohl im Wege des Küstenhandels als im ausländischen Verkehr werden
Seefische ausgeführt, aber unter der Concurrenz der englischen Fischerei, die
zu gewissen Zeiten des Jahres den hiesigen Markt ganz beherrscht, geht dieser
Zweig des Handels zurück.
Boulogne ist einer der wichtigsten Fischereihäfen Europas; der Werth des
Fischfanges dieser Stadt und ihrer Nebenplätze umfasst den dritten Theil dieses Zwei-
ges der Urproduction von Frankreich. Die Fischereiflotte von Boulogne erzielte 1888
79*
[628]Der atlantische Ocean.
einen Fang von 326.737 q Fischen im Werthe von 12·1 Millionen Francs, gegen
365.695 q im Jahre 1886. Bedeutende Mengen Fische gehen täglich als billig
befördertes Eilgut nach Paris.
Betrachten wir nun jene Einfuhrartikel, welche den Hauptheil der ansehn-
lichen Einfuhr bilden, so müssen wir merkwürdigerweise wieder zuerst Schafwoll-
stoffe nennen, die meist für den Consum in Frankreich bestimmt sind (1888
34.956 q, Werth 29,683.524 Francs, 1887 34.945 q), dann Seidenstoffe (1888 3633 q,
Werth 23,169.563 Francs), von denen etwa der vierte Theil für Frankreich be-
stimmt ist.
In früheren Jahren war Schafwolle der zweite Einfuhrartikel, 1888 aber
nur der dritte mit 109.655 q (Werth 21,745.811 Francs), und der Rückgang dürfte
andauern. Die Zufuhr der Schafwolle besorgt die Niederländisch-amerikanische
Dampfschiffahrts-Gesellschaft, die auf ihrer Linie Amsterdam-La Plata Boulogne
anläuft.
An der vierten Stelle in der Einfuhr stehen Baumwollstoffe (1888 13.685 q,
Werth 14,484.517 Francs), zu einem Drittel für Frankreich bestimmt, und dann
folgen englische Garne (1888 16.200 q, Werth 9,444.095 Francs), welche fast
alle in Frankreich verarbeitet werden.
Für Frankreich sind ferner bestimmt der grösste Theil der bearbeiteten
Felle und Lederarbeiten und der Leinengewebe.
Die Einfuhr von Jute aus Indien (1888 42.856 q) steigt seit Jahren.
Zur Verarbeitung in Frankreich sind bestimmt Elfenbein, Perlmutterschalen,
Kautschuk und Guttapercha.
Um wieder ausgeführt zu werden, erscheinen hier condensirte Milch, Kork-
waaren, Steinkohlen aus England, Rohseide und Uhren.
Die Einfuhr von Eisenerzen aus Bilbao, die in den Stahlwerken zu
Isbergues verarbeitet werden, hat sich nach dem Hafen Dünkirchen gewendet;
auch die Einfuhr von Roheisen ist in den letzten Jahren bedeutend gefallen.
Bauholz (1888 279.012 q) wird von der Ostsee und von Norwegen zu-
geführt.
In neuerer Zeit hat auch die Industrie in Boulogne an Ausdehnung ge-
wonnen. In der Stadt und deren nächster Umgebung bestehen gegen 50 Fabriken
für Conservirung von Lebensmitteln, Werften für Bau, Reparatur und Ausrüstung
von Schiffen, eine grosse Böttcherei, 2 Hohöfen und Giessereien, 3 Baumwoll-
Schafwolle- und Jutespinnereien, davon eine mit Segeltuchweberei, 3 Dampfholz-
sägen, mehrere Marmorbearbeitungswerkstätten, 3 Stahlfederfabriken, die 2·5 bis
3 Millionen Gros Stahlfedern im Jahre produciren, 3 Wagenfabriken, 3 Schuh-
fabriken, 3 Cementfabriken, 3 Oelfabriken und Fabriken für Seife, Fayence, che-
mische Producte, Papier, Zucker, Seilereien etc.
Der allgemeine Waarenverkehr von Boulogne betrug:
| [...] |
Der Menge nach bedeutend ist auch die Ausfuhr Boulognes im Küsten-
handel, sie betrug 1888 816.869 q.
Die Schiffahrt von Boulogne weist eine ansehnliche Zahl von Tonnen auf,
[629]Boulogne-sur-Mer.
aber nur deshalb, weil der Localverkehr mit England sehr stark ist. Ihm gehört
der grösste Theil der 127.430 Passagiere, welche 1889 über Boulogne gingen.
Die Endpunkte dieses Verkehres mit England sind Folkestone, London und
Goole. Für den überseeischen Verkehr ist besonders wichtig die Niederländisch-
amerikanische Dampfschiffahrts-Gesellschaft, welche hier ihre Linie Rotterdam-
New-York landen lässt, um Passagiere und Auswanderer aus der Schweiz und
Italien in die Union zu bringen; auch die Linie Amsterdam-La Plata läuft
hier aus.
A Hafen (project.), B Digue Sud-Ouest (SW), B1 projectirte Molen, C Traverse, D Strand bei Ebbe,
E Strand bei Flut, F Leuchtfeuer, G Arsenal d’Artillerie, H Gaswerke, J Casino, K Friedhöfe, L Hôtel
Imperial, M la Liane-Fluss, N Quai des Paquebots, O Quai de la Douane, P Arriére-port, Q Hopital
Duflos, R Rue Faidherbe, S Grande Rue, T Boulevard Auguste Mariette, U Notre Dame de Boulogne,
V Château, W Kirche St. Vincent de Paul, X Waarenmagazine, Y Pont de la Liane.
Der Schiffsverkehr von Boulogne betrug:
| [...] |
Die Marine von Boulogne umfasste am 31. December 1888 317 Schiffe mit
10.384 Tons, fast nur Segler.
Boulogne ist Sitz einer Handelskammer und einer Succursale der Bank von
Frankreich.
In Boulogne-sur-Mer haben Consulate: Belgien, Deutschland, Gross-
britannien, Niederlande, Türkei und Venezuela.
[[630]]
Calais.
Seitdem Grossbritannien zur ersten Handelsmacht der Erde
emporgestiegen ist, zählt die Enge von Calais zu den am meisten be-
fahrenen Wasserstrassen. Der enorme Seeverkehr von London, von
der Ostküste Englands und Schottlands, dann fast dem gesammten
nordeuropäischen Küstengebiete nimmt seinen Weg durch den Pas-
de-Calais (Strait of Dover). Senkrecht auf seine Richtung überquert
ihn der bedeutende englisch-französische Verkehr in mehreren Linien.
Zu jeder Tageszeit sind dort hunderte von Schiffen aller Nationen
unterwegs, und verriethen auch die Kreidefelsen Dovers, die Dünen
von Calais nicht die Nähe zweier Welthandelsstaaten, so vermöchte
man aus der ungeheueren Frequenz der Meerenge auf den ersten
Blick die grossartigste Völkerstrasse der Gegenwart zu erkennen,
die nirgends sonst ihres Gleichen hat.
An dieser wichtigen Communication gelegen erlangte Calais be-
reits im Mittelalter eine grosse Bedeutung und ward von den Eng-
ländern als einer der Schlüsselpunkte Frankreichs angesehen, den sie
bis 1558 zu behaupten wussten.
Calais liegt an einem flachen und morastigen Dünenstrande
nächst der Mündung der Verzweigungen des Saint-Omer-Canales und
der Rivière-Neuve. Starke Befestigungen umschliessen die Stadt: das
älteste Bollwerk, das Fort Risban, welches den Hafen und die Küste
beherrscht, stammt aus dem Jahre 1231, die Citadelle aber aus dem
Jahre 1560. In neuerer Zeit hat man Calais und die Schwesterstadt
Saint-Pierre-les-Calais mit einem Gürtel von Forts umgeben, dafür
aber einen Theil der ursprünglichen Umwallung aufgelassen, wodurch
Calais sich etwas, wenngleich nur unbedeutend, ausbreiten konnte.
Ueberhaupt hatte der Festungsgürtel die Stadt seit jeher in der
räumlichen Entwicklung sehr gehindert, so dass Calais nicht
emporwachsen konnte. Dagegen begann das im Süden der Stadt ge-
legene einstmalige Dorf Saint-Pierre-les-Calais, ein in alter Zeit Pe-
[631]Calais.
tressa oder Peternesse genannter Ort, der noch im Jahre 1800 nicht
mehr als 2600 Bewohner hatte, immer mehr sich auszubreiten. Bald
war Calais durch die neue Schwesterstadt, die zu imposanter Grösse
anwuchs, weit überflügelt, und da die Stadt auf einem ausgedehnten
Gebiete angelegt worden, welches ihrer Ausbreitung kein Hinderniss
entgegensetzt, so ist unter dem günstigen Einflusse ihrer Lage eine
weitere Entwicklung mit Bestimmtheit zu erwarten.
Die Gründung von Calais erfolgte in einer nicht bestimmbaren Zeitperiode.
Die geographische Lage der Stadt erklärt es, dass hier die Grafen von Flandern
und von Boulogne nacheinander die Herrschaft ausübten. Unter den letzteren er
hielt Calais im XII. Jahrhundert die ersten Communalrechte und trat 1303 dem
grossen Hansa-Bund bei.
Zu Handelsbedeutung emporgeblüht, lenkte die wichtige Stadt alsbald die
begehrlichen Blicke der Engländer auf sich.
Als Eduard III. die französische Armee bei Crécy vernichtet hatte, schritt
er zur Belagerung von Calais, während gleichzeitig eine Flotte von 700 Fahr-
zeugen der Stadt jede Verbindung mit der See abschnitt. Ein volles Jahr wiesen
die Vertheidiger die Angriffe der Engländer heroisch zurück, wurden aber schliess-
lich durch die äusserste Noth zur Capitulation gezwungen. Eduard III. begnadigte
Calais auf die Fürbitte seiner Frau, doch mussten die Bewohner der Stadt aus-
wandern. Englische Colonisten wurden statt ihrer angesiedelt. Eduard III. errichtete
in Calais die Etape des laines, ein Entrepôt, welches den Wohlstand der Stadt
mächtig gefördert hat.
In die Zeit der englischen Herrschaft fällt 1436 der missglückte Versuch
des Herzogs Philipp des Kühnen von Burgund, sich der Stadt zu bemeistern.
Mehr als ein Jahrhundert später (1558) büssten die Engländer Calais, ihren letzten
Besitz auf französischem Boden, wieder ein.
Für kurze Zeit (1596) bemächtigten sich die Spanier der Stadt, bis der
Friede von Verviers dieselbe Heinrich IV. zurückgab. In Calais hatte sich am
15. August 1560 Maria Stuart nach dem Tode ihres Bräutigams des Königs
Franz II. eingeschifft, um nach Schottland zurückzukehren.
Calais besitzt mit Ausnahme einzelner ehrwürdiger Bauwerke,
die in architektonischer Hinsicht von Interesse sind, keine hervor-
ragenden Sehenswürdigkeiten. Die Notre Dame-Kirche nächst dem
Cours Berthois, der älteste Bau der Stadt, entstand in der Zeit von
1180—1224, wurde aber im XIV. Jahrhundert durch die Engländer
einem gründlichen Umbau unterzogen, und trägt noch heute das
robuste Gepräge jener Bauperiode zur Schau. Einige Kunstobjecte
zieren das Innere der Kirche.
Das Stadthaus an der Place d’Armes ist im Jahre 1740 durch
Reconstruction eines 1295 gegründeten Gebäudes entstanden und be-
sitzt am rechtsseitigen Ende der Façade einen Uhr- und Glocken-
thurm (Beffroi), dessen Obertheil aus einem System von drei über-
einander liegenden Ausbauchungen und zahlreichen Seitenthürmchen
[632]Der atlantische Ocean.
besteht. Das Glockenspiel desselben ist eines der berühmtesten und
ältesten des französischen Flandern.
Im Stadthaus ist die öffentliche Bibliothek mit 10.000 Bänden
und kostbaren Manuscripten untergebracht.
Ein ehrwürdiges Bauwerk ist auch der Wachtthurm (tour du
Guet) von Calais, von welchem es heisst, dass er unter Karl dem
Grossen (810) zur Bewachung der Küste gegen die Normanen ent-
standen sei; doch dürfte sein Bau in eine spätere Zeit, etwa zu Be-
Calais.
ginn des XIII. Jahrhunderts, mit mehr Wahrscheinlichkeit zu verlegen
sein. Im Jahre 1580 durch ein Erdbeben zerstört, lag er Jahrhunderte
lang als Ruine da, wurde aber 1806 wieder aufgebaut und diente
bis zum Jahre 1848 als Leuchtthurm. Der jetzige Hauptleuchtthurm
von Calais erhebt sich von der Höhe einer Bastion (58 m über dem
Meere) und zeigt ein prächtiges elektrisches Licht erster Ordnung.
Noch sei das alterthümliche Hôtel de Guise erwähnt, welches
ehemals unter dem Namen Pilori oder Etape des laines (Wollnieder-
lage) durch Eduard III. für die Zwecke des Handels gegründet wurde.
[[633]]
A Rhede von Calais, A1 Signalstation, A2 Küstenlinie bei tiefster Ebbe, A2 Küstenlinie bei höchstem
Wasserstand, B B1 Wellenbrecher (Digues basses), C Piloten-Station, C1 Schleusse (Écluse) Raffeneau,
D Bassin des Chasses, D1 Wasserarm des Fort Nieulay, E Port d’échouage, E1 Fluthafen, F Leucht-
feuer an der Einfahrt, F1 grosser Leuchtthurm, G Schleusse, G1 Schleusse der Citadelle, H Eisenbahn-
Hauptstation, J Bassin du Petit Paradis, K Säule Ludwig XVIII., L Schleusse von Courgain, M neues
Bassin im Bau, N Dock, O inneres Bassin, P alter Flussarm (Crucifix), Q Friedhof, R Eisenbahn-
stationen, S grosses Bassin im Bau, T Place d’Armes, U Kathedrale, V Hospital, W Promenade, X Cours
Berthois, Y Esplanade, Z Bade-Etablissements, Z1 Rettungsboot-Station.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 80
[634]Der atlantische Ocean.
Unter den Neubauten von Calais und der aufblühenden Schwester-
stadt beansprucht keine eine höhere Beachtung. Beide Städte be-
sitzen hübsche, gerade laufende Strassen mit anmuthigen Prome-
naden.
Auf dem Strande zwischen der See und dem grossen Bassin
des Chasses, welches im Nordosten von Calais erbaut wurde, liegen
die eleganten Gebäude der Seebäder, welche viel und gerne besucht
der Vereinigungsort der schönen Welt zur Zeit der Saison gewor-
den sind.
Der Hafen hat sehr viel durch die Versandung gelitten. Aus
unserem Hafenplan ist seine Situation und Eintheilung zu ersehen.
Neuester Zeit wurde der Hafen durch das grosse Bassin, dessen wir
bereits erwähnten, erweitert.
Calais liegt nur 40·7 km von Dover, dessen Kreidefelsen an
hellen Tagen sichtbar sind, entfernt, ist daher der am nächsten gegen
die englische Küste vorgeschobene Hafen des französischen Gebietes
und des europäischen Continentes überhaupt. Dieser Umstand erklärt
die bedeutende Frequenz von Calais durch den Personenverkehr zwischen
England und Frankreich. Interessant ist, dass der Passagierverkehr von
und nach England ab Dieppe, Hâvre und Dünkirchen zusammenge-
nommen kaum den fünften Theil desjenigen ausmacht, welcher
durch Calais und Boulogne den Weg zu nehmen pflegt. So lange
man kein Remedium gegen die Seekrankheit hat, wird wohl dieses
Verhältnis sich erhalten.
Die Schiffahrt an der französischen Küste des Canals begegnet
vielerlei Beschwerlichkeiten. Der flachen Dünenküste sind langgestreckte
Hochgründe mit zahlreichen Sandbänken vorgelagert und bilden gegen
Osten eine sehr gefährliche Barrière, durch welche hindurch nur mit
grösster Vorsicht das Fahrwasser aufgefunden werden kann. Leucht-
schiffe und grosse Bojen, die bis auf 37 km in See vertäut sind,
markiren den Lauf der Durchfahrten oder die Position von besonders
gefährlichen Untiefen.
Aber auch das nächste Seegebiet an der Küste weist infolge
der Gezeiten, die Niveauunterschiede bis zu 6·5 m herbeiführen, eigen-
thümliche Erscheinungen auf.
Zur Zeit der Ebbe liegt ein breiter Strandsaum trocken; bei
Calais erreicht derselbe 1·4 km Breite, und eine starke Gezeitenströ-
mung macht sich bis weit in See fühlbar.
Die sandige Beschaffenheit der Küste machte es nothwendig,
die Häfen durch lange Dämme zu schützen, deshalb haben alle Häfen
[635]Calais.
der Flachküste, wie Calais, Gravelines, Dünkirchen, Nieuport, Ost-
ende etc., sehr schmale, durch Dämme eingeengte Zufahrten, ein Um-
stand, welcher die Schiffahrt vielen Gefahren aussetzt.
Die französische Regierung hat viel Geld auf den neuen Hafen von Calais
verwendet und ihn mit allen modernen Hilfsmitteln ausgestattet, aber der Handel
nimmt trotz alledem nicht den erwarteten Aufschwung, denn Dünkirchen übt
ein zu grosses Uebergewicht aus.
Aber als Fabriksplatz sind Calais—Saint-Pierre gross, und in Maschinspitzen
bestimmen sie mit Nottingham in England den Weltmarktpreis.
Die Hauptindustrie von St.-Pierre-les-Calais ist die Tullefabrication. Man
erzeugt Woll- und Seidentulle, welche mit den Maschinspitzen lebhaft rivalisiren;
1600 Werkstühle, von 80 Dampfmaschinen und 12.000 Arbeitern beiderlei Ge-
schlecht betrieben und 390 Fabrikanten gehörend, repräsentiren 40 Millionen en-
gagirtes Material und 60 Millionen Francs jährlicher Tulleproduction.
In St.-Pierre sind ferner: 12 Maschinen-Constructionswerkstätten, 3 Dampf-
sägen, 2 Eisen- und Kupfergiessereien, 1 grosse Biscuitfabrik (300—400 Arbeiter),
grossartige Holzdépôts (aus Schweden und Norwegen).
Für die arbeitende Bevölkerung von Calais sind Schiffbau, Fischerei und
die Bereitung von eingesalzenen Lebensmitteln (Salaison) die Hauptbeschäfti-
gungen.
Die Zahl der Reisenden, welche Calais auf dem Wege nach England oder
von dort her passirten, stieg 1889 unter dem Einflusse der Weltausstellung von
Paris auf 346.934 gegen 248.001 im unmittelbar vorangehenden Jahre. Doch auch
abgesehen von dem Einflusse der Ausstellung ist im Allgemeinen in Calais die
Zahl der Reisenden in Zunahme begriffen. Den Reisenden stehen täglich in jeder
Richtung drei mit allem Comfort ausgestattete Linien zur Verfügung, die nach
allen Richtungen des Continentes und Englands Anschlüsse haben.
Im Sommer 1889 wurde dazu noch der sogenannte Clubtrain als tägliche
Verbindung eingerichtet; nur Sonntag geht er nicht von London, Samstag nicht
von Paris ab.
Von den Artikeln der allgemeinen Ausfuhr von Calais entfielen 1888 auf
die Erzeugnisse der Textilindustrie über 60 Millionen Francs oder sieben Zehntel
der ganzen Summe.
Die Schafwollwaaren (1888 18.566 q) und die Garne (8793 q) sind aus-
schliesslich, die Seidenwaaren (4640 q) zu zwei Dritteln französischer Herkunft,
die Baumwollwaaren (3393 q) aber ausländischen Ursprungs. Das letztere gilt auch
von einem grossen Theile der ausgeführten Seide (1888 1669 q). Auch die Ausfuhr
bearbeiteter Felle ist zu erwähnen.
Auch an der seit 1871 rapid steigenden nordfranzösischen Bierproduction
hat Calais seinen bedeutenden Antheil. Die im Departement Pas-de-Calais be-
stehenden Brauereien haben 1888 gegen 1 Million hl Bier producirt. Das erklärt,
dass Calais 1888 21.226 q (Werth 1.913.967 Francs) Hefe ausführte.
Von Nahrungs- und Genussmitteln französischen Ursprungs, bestimmt für
England, erreichte Wein 1888 28.554 q (Werth 5,198.494 Francs), 1887 26.859 q,
frisches und gesalzenes Fleisch zusammen 1888 5407 q und Eier 6341 q.
Nun wollen wir die Einfuhr betrachten, die für den Consum in Frank-
reich bestimmt ist. Hier erscheint rohe Schafwolle 1888 mit 201.224 q (Werth
80*
[636]Der atlantische Ocean.
39,247.077 Francs), 1887 mit 167.440 q als der wichtigste Artikel von Calais
überhaupt. Die grossen Schafwollfabriken von Roubaix und Tourcoing beschäftigen
also auch den Hafen von Calais.
Von der Menge der eingeführten Rohseide (1888 2763 q, Werth 8,438.125
Francs) bleibt mehr als die Hälfte in Frankreich, von Jute (1888 45.740 q), Phor-
mium und von Garnen Alles.
Das gilt auch von gewöhnlichem Holz (1888 790.704 q, Werth 6,282.224
Francs); dieses umfasst viel Grubenholz, auf englischen Dampfern von Skandi-
navien gebracht für die zahlreichen Kohlenbergwerke des „Pas-de-Calais“ und des
Departements „du Nord“.
Es wurden 1888 in Calais 740.963 q Steinkohlen eingeführt.
Die eingeführten Maschinen und Fahrzeuge sind für Frankreich bestimmt,
ebenso der grössere Theil von Stahl und Eisen, dafür werden die aus der Fremde
kommenden Baumwollgewebe (1888 3685 q, Werth 8,621.442 Francs) und Seiden-
stoffe (1457 q, Werth 9,128.441 Francs) wieder ausgeführt.
Der auswärtige Waarenhandel von Calais betrug:
| [...] |
Der Schiffsverkehr findet wegen des starken Localverkehrs mit England,
der hauptsächlich nach Dover, doch auch nach London und Goole geht, über-
wiegend unter englischer Flagge statt, auf welche die französische folgt. Er umfasste:
| [...] |
Der Küstenverkehr von Calais ist unbedeutend.
Von Calais geht ein Kabel der Submarine Telegraph Cy. nach Dover und
ein Kabel der Great Northern Telegraph Cy. über die Insel Farö nach Jütland.
Calais ist Sitz einer Handelskammer und einer Succursale der Bank von
Frankreich.
In Calais haben folgende Staaten Consulate: Belgien, Brasilien (V.-C.),
Niederlande (V.-C.), Oesterreich-Ungarn (V.-C.), Portugal (V.-C.), Türkei, Vene-
zuela, Vereinigte Staaten (C.-A.).
[[637]]
Dünkirchen.
Jahrhunderte hindurch war Dünkirchen die Rolle eines wich-
tigen Waffenplatzes zugefallen. Auf einem exponirten Gebiete nächst
des Pas-des-Calais entstanden, war die Stadt das Angriffsobject der
Franzosen, Engländer und Holländer, und so tüchtig, heldenmüthig
und ausdauernd die Bewohnerschaft sich stets bewährte, war ihr
doch ein dauernder Wohlstand nicht beschieden. Erst in der neuesten
Zeit sehen wir die Stadt zu einem bedeutenden Seehandelsplatz er-
blühen.
Was die Befestigungskunst des berühmten Vauban, welcher
Dünkirchen mit einem Gürtel unbezwingbarer Fortificationen umgab,
nicht zustande bringen konnte, hat die Friedensarbeit der modernen
Technik erzielt. Durch die grossartigen Hafenbauten und durch den
Ausbau der Communicationen wurde der Platz weit angesehener und
mächtiger, als er es jemals durch seine Wälle geworden, die immer
nur Unglück und Niedergang herbeiführten.
In der That setzt sich die Geschichte von Dünkirchen aus
einer langen Reihe von Plünderungen, Ueberfällen, Brandschatzungen,
Belagerungen und anderen kriegerischen Actionen zusammen. Sie
nennt berühmte Seeleute und Generale, aber keine Millionäre!
Noch heute ist indes Dünkirchen als Festung beachtenswerth,
obgleich weniger durch seine Wälle und Forts als durch die Ein-
richtung, dass ein weites Gebiet ausserhalb des Platzes bis nach
Bergues mit 1·5 m tiefen Wasser überschwemmt werden kann.
Uns interessirt aber vornehmlich der reich ausgestattete Hafen,
zu dessen Ausbau die französische Regierung grossartige Mittel ver-
wendet hat.
Wie unser Plan zeigt, besitzt der Hafen eine zwischen sehr
langen Wellenbrechern geführte, nur 80 m breite Einfahrt (chenal),
wie wir ähnliche in Boulogne und Calais angetroffen haben.
Hieran schliesst sich ein lang gestreckter Vorhafen, welcher
[638]Der atlantische Ocean.
durch kostspielige Schleussenwerke mit den Bassins de l’Est, dem
Bassin de Freycinet und dem System des Bassin du Commerce in
Verbindung steht. Die beiden erstgenannten Becken sind neuesten
Ursprungs, während das letzterwähnte System das Centralgebiet des
alten Hafens bildet, welcher an der Westseite der Stadt sich hin-
zieht.
Man unterscheidet dort das Bassin du Commerce, den Arrière-
Port und das Bassin de la Marine, längs welchem grossartige Maga-
zine angelegt wurden. Der Arrière-Port steht mit den bei Dünkirchen
sich vereinigenden Binnen-Canälen durch die Schleusse von Bergues
in Verbindung. Diese Canäle sind: Canal de Mardick, de Bourbourg,
de Bergues, de Moëres und de Furnes. Dieselben sind wichtige Ver-
kehrsadern für Massenartikel und speisen nicht nur die vorne er-
wähnten Bassins, sondern auch die ausgedehnten Wassergräben der
Befestigungen.
Ueber die Stadt selbst ist nur wenig zu bemerken, ihre Aus-
breitung hat die Umwallung, durch welche neun Thore ins Freie
führen, gehindert. So besteht Dünkirchen, wie alle alten Festungs-
städte, deren Wälle jetzt hinausrücken, aus einer alten engen, den
heutigen Ansprüchen nicht mehr genügenden und einer neuen Stadt.
Im Allgemeinen bietet Dünkirchen einen freundlichen Anblick, die
meist gerade geführten Strassen sind rein gehalten und von hüb-
schen Häusern flankirt.
Man unterscheidet die eigentliche Ville, das ist der nördlich der
Canäle Mardick und Furnes liegende Theil, dann die Basse ville,
welche südlich dieser Canäle liegt und endlich das kleine Quartier
de la Citadelle auf der Halbinsel im Westen des Bassin du Com-
merce, wo ehemals die Citadelle von Dünkirchen sich erhob. Die
Basse ville ist der Sitz der vornehmsten Industrie-Etablissements und
hat breite und gerade Strassen, wo hingegen das dürftig aussehende
Quartier de la Citadelle der Wohnplatz der Arbeiterschaft und der
Matrosen ist.
Sämmtliche Quais sind durch mehrfache Schienenstränge mit
dem grossen Bahnhof der Eisenbahn nach Lille verbunden und mit
Krahnen ausgestattet. Ausgedehnte Magazine, welche auf den breiten
Molen des Bassin de Freycinet errichtet werden, sind projectirt; über-
haupt ist Dünkirchen für seinen grossartig angewachsenen See-
verkehr vollkommen gerüstet.
Allerdings theilt auch dieser Hafen den Mangel an genügender
Wassertiefe mit den französischen Seeplätzen der atlantischen Küste,
[639]Dünkirchen.
welcher Umstand den Verkehr grösserer Oceandampfer nur auf die
Zeit des Hochwassers beschränkt, das hier bei Springflut 5 m über
den Ebbestand ansteigt. Doch sind Baggerungen und der Bau einer
neuen Schleusse für tiefgehende Schiffe im Zuge.
Auch die äussere Zufahrt zum Hafen ist durch die der Flach-
küste vorgelagerten, weit ausgedehnten Sandbänke sehr umständlich
und namentlich bei bedecktem und stürmischem Wetter mit Gefahr
verbunden, obgleich alle Hilfsmittel angewendet wurden, um den
Seefahrern das Erkennen und Anlaufen des Hafens zu erleichtern.
20 km nordwestlich liegt das auf hoher See verankerte Leuchtschiff
Ruytingen; dieses und zwei andere Leuchtschiffe: Snow und Dyck,
beleuchten die von Westen zur Hafeneinfahrt führende Wasserstrasse;
sie trotzen allen Stürmen, widerstehen dem furchtbaren Andrang der
wild bewegten See.
Welche Erlebnisse vor der Seele der Feuerwächter, deren Leben
an einer Ankerkette hängt, während eines Jahres vorüberziehen und
wie überhaupt die Welt dieser wetterharten Menschen mit den ehernen
Zügen aussieht, mag sich die Phantasie leicht ausmalen.
Der Hafen selbst ist durch vier Leuchtfeuer, wovon jenes nächst
dem Bassin Freycinet auf einem 59 m hohen Thurme gezeigte, ein
elektrisches ist, beleuchtet. Ausserdem bestehen Nebelglocken, Nebel-
hörner zur Warnung und Leitung der Schiffe bei trübem Wetter.
Die flache Dünenküste, die ost- und westwärts der Stadt in
grandioser Trostlosigkeit sich dehnt, haben die Sturmfluten ange-
schwemmt, und die heulende Windsbraut bedeckte sie mit regellosen
Sandhügeln; eine tiefe Melancholie lagert über der Gegend. Man ge-
wahrt an diesem öden Strande nur die Häuschen der Küstenwache,
hie und da die geometrische Figur irgend einer Marke für Küsten-
fahrzeuge, die gespensterhafte Silhouette einer Windmühle oder die
Spitze eines weit im Binnenlande stehenden Kirchthurmes. Wenn
neue Stürme losbrechen, geräth der Sandboden in Bewegung, ein un-
heimliches Treiben beginnt, die furchtbaren Roller der Brandung
mengen den Gischt mit den emporgerissenen Sandmassen, neue Hügel
entstehen, um beim nächsten Anprall des Sturmes wieder entführt zu
werden.
Wehe dem Schiffe, das hier bei Sturm auf Grund geräth; es
ist verloren. Die längs der Küste eingerichteten Rettungsbootstationen
haben indes die Aufgabe, die Gestrandeten dem Tode zu entreissen.
Mit antiker Seelenstärke folgen beherzte Männer diesem edlen Berufe,
das eigene Leben für fremdes gefährdend.
[640]Der atlantische Ocean.
Dünkirchen wird bereits zur Zeit der Kreuzzüge genannt. Philipp von Elsass
rüstete hier im XII. Jahrhundert eine Flotte zum Transport seines Heeres nach
Palästina aus. Schon damals besass die Stadt einige Befestigungen.
Unter der Oberhoheit der Grafen von Flandern stehend, gehörte Dünkirchen
nacheinander verschiedenen Adelsfamilien an. Philipp der Schöne hielt den Platz
von 1299—1305 besetzt, und in den Jahren 1325 und 1357 plünderten die Vlämen
die Stadt. 1488 kamen die Franzosen neuerdings und belagerten dieselbe, obzwar
erfolglos, aber 1558 fiel sie in die Hände des Marschalls Termes, dessen Truppen
während der Plünderung die grässlichsten Grausamkeiten begingen und die Stadt
niederbrannten. Graf Egmont übte hiefür nach seinem Siege bei Gravelines an
den gefangenen Franzosen furchtbare Vergeltung. Kaum war die Stadt wieder er-
standen, ward sie von dem Herzog von Alençon überfallen und besetzt; gleich
darauf bemächtigte sich ihrer der Herzog von Parma. Während der Regierungs-
zeit Ludwig XIV. spielte Dünkirchen eine wichtige Rolle und manch glänzendes
Blatt seiner Geschichte erzählt von den ruhmvollen Thaten der Bewohnerschaft.
Zuerst kam 1646 der Prinz von Condé und belagerte die Stadt, und Ad-
miral Tromp blockirte sie mit einer holländischen Flotte. Nach heldenmüthiger
Gegenwehr fiel die Festung. Sechs Jahre später bemeisterten die Spanier sich
derselben, und 1658 bezwang sie Turenne nach der berühmten Dünenschlacht, in
welcher der Prinz Condé die Partei der Spanier verfocht.
Ludwig XIV. kam persönlich, um die Stadt in Besitz zu nehmen. Er
musste sie aber sogleich an Cromwell übergeben, weil ihm dieser ein Corps von
10.000 Mann unter der Bedingung beigestellt hatte, dass der König die erste
von den Franzosen eroberte Stadt an England abtrete. Die Engländer befestigten
Dünkirchen noch mehr, verkauften es aber (Karl II.) um fünf Millionen Livres an
Ludwig XIV.
Nun umgürtete der berühmte Vauban die Stadt mit unbezwingbaren Be-
festigungen, der Hafen wurde vertieft und mit Bassins versehen und Dünkirchen
erhob sich bald zu einem der wichtigsten Plätze Frankreichs. In dem darauf-
folgenden Kriege gegen England und Holland zeichneten sich die Dünkirchener
Corsaren, an deren Spitze der heldenmüthige Jean Bart glänzte, durch Tollkühn-
heit und Unternehmungslust aus. Es wird berichtet, dass sie in den Jahren 1688
bis 1697 den feindlichen Handel völlig lahm legten und für 22 Millionen Livres
Schiffe und Waaren kaperten. Während dieser Zeit bombardirten die Engländer
die Stadt zweimal erfolglos (1694 und 1695).
Der Frieden von Utrecht (1712) enthielt die demüthigende Bestimmung,
dass die Stadt desarmirt, die Bassins, Schleussen, Dämme und alle Fortificationen
demolirt werden müssen. Ludwig XIV. schuf nun einen Hafen in Mardick und
verband ihn durch einen Canal mit Dünkirchen, doch mussten auch diese Werke
infolge des Protestes Englands 1717 zerstört werden.
Erst 1741 zu Beginn des neuen Krieges liess Ludwig XV. die Befesti-
gungen und den Hafen wieder herstellen. Nach dem Friedensschlusse sollte Dün-
kirchen neuerdings desarmirt und seine Werke zerstört werden, und auch im Pariser
Tractat 1763 forderten die Engländer, welche in dem Platze einen gefährlichen
Rivalen ihres Verkehrs erblickten, die Schleifung der Wälle.
Die Regierungszeit Ludwig XVI., besonders nach dem amerikanischen
Kriege, wurde für die Stadt zu einer Periode des Aufschwunges und der Blüthe,
allein die französische Revolution vernichtete nur gar zu rasch den glänzenden
[641]Dünkirchen.
Aufschwung. Auch in jener Kriegsepoche zeichnete sich die Seemannschaft Dün-
kirchens durch beherzte Thaten aus. 1793 belagerte der Herzog von York die
Stadt, als aber die Franzosen bei Hondschoote siegten, musste er abziehen.
Der neue Aufschwung des Platzes datirt seit den Sechzigerjahren unseres
Jahrhunderts, zu welcher Zeit die grossen Hafenbauten begannen. Einen rascheren
Flug hat aber die Entwicklung erst in den jüngst verflossenen Jahren genommen.
Dünkirchen liegt unter 51° 15′ nördl. Breite und 2° 23′ östl.
Länge von Greenwich und zählt ungefähr 38.000 Einwohner.
Die Stadt besitzt nur wenige öffentliche Plätze, unter welchen
Dünkirchen.
die Place Jean Bart, auf welcher sich das Standbild des vorne ge-
nannten Seehelden erhebt, das Centrum der eigentlichen Ville ein-
nimmt.
Unter den öffentlichen Bauwerken verdient die Kirche Saint-
Eloi, welche im XVI. Jahrhundert umgebaut wurde und einige sehens-
werthe Kunstwerke und Denkmäler, worunter das Grabmal Jean
Bart’s, enthält, genannt zu werden.
Der westliche Theil der Kirche wurde im XVIII. Jahrhundert
abgetragen, um Raum für die Gasse Rue de l’Église zu gewinnen,
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 81
[642]Der atlantische Ocean.
infolge dessen der zur Kirche gehörende Glockenthurm (Beffroi) jetzt
isolirt steht. Dieser ist ein imposanter Bau von 90 m Höhe, welcher
ein Glockenspiel enthält, das sich durch die unter dessen Namen
(Carillon) volksthümlich gewordene Arie einer gewissen Berühmtheit
erfreut.
Von Interesse ist auch die Capelle Notre-Dame des Dunes am
nördlichsten Ende der Stadt. Dieselbe stammt aus dem Beginn des
XV. Jahrhunderts, als im Sande der Dünen eine Statuette der Mutter
Gottes an der Küste aufgefunden worden war. Die Capelle ist seit-
her ein sehr besuchter Andachtsort, besonders für Fischer, welche
dort einen reichen Stockfischfang erflehen, und für Seeleute. Zahlreiche
Votivgaben, bestehend aus Schiffsmodellen, Bildern, Kerzen, bedecken
die Wände oder hängen an Schnüren befestigt von der Decke herab.
Das Musée communal enthält gegen 250 Oelgemälde und einige
Sculpturen, eine Medaillensammlung, verschiedene Antiquitäten und
eine naturhistorische Sammlung. Im Museumsgebäude ist auch die
20.000 Bände zählende städtische Bibliothek untergebracht.
In der nächsten Umgebung der Stadt entstanden einige öffent-
liche Gärten, und nächst der Villenstadt Rosendaël wurde eine präch-
tige und mit allem Comfort ausgestattete Badeanstalt errichtet, welche
unter dem Namen Casino-Hôtel de Rosendaël in bestem Rufe steht.
In dem nächstliegenden schönen Cursaale werden Concerte, Bälle
und sonstige Unterhaltungen gegeben, überhaupt ist Rosendaël mit
seinen malerischen Villen und Gärten, seinem herrlichen Badestrand
und dem animirten Leben, das sich dorthin verpflanzt, ein sehr be-
suchter und beliebter Ausflugsort für Einheimische und Fremde.
Dünkirchen hat letzterer Zeit auch als Industrieplatz einen be-
deutenden Aufschwung genommen. Es besitzt Spinnereien und Webe-
reien, eine Dampfmühle, Werften, Schmieden und Giessereien, Seile-
reien, Brauereien, Oel- und Seifenfabriken.
Dünkirchens Einfuhr hat sich in den letzten Jahren derart ge-
steigert, dass ihr Werth achtmal so gross ist als der Werth der
Ausfuhr. Als Einfuhrplatz hat Dünkirchen bereits Bordeaux über-
flügelt. Diesen Aufschwung als Importplatz verdankt Dünkirchen in
erster Linie seiner günstigen geographischen Lage gegenüber den
Hinterländern, deren guten Binnenverbindungen und endlich der
Rührigkeit seiner durch Staatshülfe unterstützten Kaufleute.
Leider machte 1889 der Bau der neuen Schleusse, welche
Schiffen, die bis 10·4 m tauchen, den Zugang sichern soll, nur wenig
Fortschritte, und die Erfüllung des Traumes der Handelskammer von
[643]Dünkirchen.
Dünkirchen, welche in der Zukunft ihren Hafen als das Liverpool
von Frankreich sieht, ist dadurch unangenehm verzögert.
Der Vorrang, welchen in Dünkirchen die Einfuhr gegenüber der Ausfuhr
besitzt, zwingt uns, die Einfuhr vor der Ausfuhr zu behandeln.
Es fällt uns dabei sofort auf, dass dieselbe bis auf ein Zwanzigstel ihres
Werthes für den Verbrauch des industriereichen Nordfrankreichs bestimmt ist. In
immer weitere Kreise dehnt sich hier das Handelsgebiet von Dünkirchen auf
Kosten der anderen französischen Häfen bis Hâvre hinab aus, wie wir bereits ge-
sehen haben, weil Dünkirchen von dem Eisenbahnknotenpunkte Hazebrouck, diesem
wichtigen Vorwerke der Industriemetropole Lille nur 40 km entfernt ist.
Die Einfuhr von Schafwolle, für welche Dünkirchen sich zum ersten
Hafen des Landes entwickelt hat, betrug 1888 671.417 q (Werth 130,526.514
Francs), 1887 663.347 q und ist 1889 gegen das Vorjahr neuerdings gestiegen.
In immer grösseren Mengen landet hier La Platawolle in directem Ver-
kehre. Die australischen und Capwollen gehen aber zunächst nach London und
kommen von dort, zum grossen Schaden der französischen Häfen, über Antwerpen,
Terneuzen und Gent in das nördliche Frankreich.
Für die französische Textilindustrie sind ferner bestimmt Flachs und
Werg aus Russland, 1888 mit einer Einfuhr von 363.099 q (Werth 30,474.947
Francs), 1887 221.310 q. Baumwolle aus Egypten, der Union und Indien mit
84.984 q (Werth 11,047.863 Francs) im Jahre 1888 und 98.199 q im Jahre 1887.
Jute, 1888 mit 145.004 q (Werth 6,235.166 Francs) und Hanf 1888 mit 10.625 q.
Von Cerealien wurden 1888 3,810.429 q (Werth 64,371.068 Francs), 1887
3,240.171 q eingeführt. Weizen und Mais kommen aus der Union, aus Rumänien
und Argentinien, Gerste aus Algier. Viel Mais findet Verwendung in den Spiritus-
brennereien.
Die Einfuhr von Hülsenfrüchten betrug 1888 109.195 q.
Leinsaat und Raps werden aus Indien, Russland und Argentinien zuge-
führt. Die Einfuhr Dünkirchens erreichte in diesen Waaren 1888 schon die Hälfte
der entsprechenden Einfuhr Marseilles. Einfuhr 1888 1,474.252 q (Werth
40,411.524 Francs), 1887 1,088.581 q.
Für Melasse, die im Lande auf Spiritus verarbeitet wird, ist Dünkirchen
der erste Einfuhrhafen Frankreichs; auf ihn entfällt gut die Hälfte der Einfuhr
des ganzen Landes. Melasse kommt aus Deutschland und Dänemark.
Die Einfuhr von Oel betrug 1888 78.129 q (Werth 5,050.795 Francs), die
von Fett ausser Fischöl 63.886 q (Werth 4,825.286 Francs), die von Fischöl
13.490 q.
Bauholz und Grubenpfähle kommen aus Schweden, Norwegen und Finn-
land; Einfuhr 1888 676.574 q (6,384.322 Francs), 1887 689.728 q, die Einfuhr
exotischer Hölzer wird für 1888 mit 54.355 q angegeben.
Von Producten des Thierreiches sind noch anzuführen Fische (1888
67.267 q, Werth 4,409.669 Francs), weil Dünkirchen für die grosse Fischerei
bei Island und auf der Doggerbank der Nordsee ein wichtiger Platz ist, und rohe
Hänte und Felle aus Südamerika (1888 17.393 q, Werth 3,246.358 Francs).
Seit Jahren steigt in Dünkirchen die Einfuhr von Salpeter aus Chile, der
in Nordfrankreich bei dem Baue der Zuckerrüben Verwendung findet, und erreichte
so die Einfuhr 1889 die enorme Höhe von 1,600.000 q, 1888 die von 1,439.936 q
(Werth 33,118.524 Francs), das ist mehr als Grossbritannien und Irland aufnehmen.
81*
[644]Der atlantische Ocean.
Als Dungmittel finden ferner Verwendung ammoniaksaure Salze (Einfuhr
1888 66.063 q) und Oelkuchen (194.011 q).
Die grossartigen Operationen des französischen Kupferringes werden durch
die Thatsache illustrirt, dass in Dünkirchen 1887 1144 q, 1888 aber 56.793 q
Rohkupfer im Werthe von 10,506.633 Francs eingeführt wurden.
Von Blei kamen hier 1888 46.554 q, von spanischen Eisenpyriten
226.959 q, von bituminosen Mineralien, Erdpech, Petroleum u. s. w. 604.788 q
(Werth 4,744.301 Francs), für Steinkohle 805.569 q aus England und von Mine-
ralien ohne nähere Bezeichnung 2,162.262 q (Werth 6,009.780 Francs) zur Einfuhr.
Dünkirchen ist nach Hâvre Frankreichs wichtigster Hafen für die Einfuhr
von amerikanischem Rohpetroleum.
Es charakterisirt den Hafen Dünkirchen, dass die Einfuhr von Industrie-
artikeln beschränkt ist auf Eisen und Stahl (1888 173.147 q), die wieder ausge-
führt werden, dann auf Maschinen (1888 30.505 q, Werth 3,221.690 Francs),
Garne (10.365 q) und auf Leinen und Hanfgewebe, die für den französischen Markt
bestimmt sind. — In der Einfuhr des Küstenhandels sind Getreide und Wein die
wichtigsten Artikel.
Wie schon erwähnt, tritt in Dünkirchen die Ausfuhr völlig in den
Hintergrund.
Von den Artikeln der Ausfuhr sind Zucker, Heu, Garne, Schafwollstoffe
und Schafwolle fast ausschliesslich, Oel und Maschinen je zu einem Drittel, Eisen
und Stahl nur zu einem Fünftel französischer Herkunft, Cerealien fast durch-
gehends ausländischen Ursprungs.
Die Ausfuhr von Zucker ins Ausland betrug 1888 176.434 q (Werth
6,571.980 Francs), 1887 188.082 q und ist abhängig von dem Ertrage der ein-
heimischen Rübenernte, deren Hauptsitz das nördliche Frankreich ist. Absatz-
gebiete sind England und Italien.
Die Ausfuhr von Garnen, von welchen Jutegarne für Dundee die wich-
tigsten sind, hat sich in den letzten Jahren gehoben. Nach England gehen auch
Leinengarne und Schafwollgewebe. Ausfuhr 1888 32.377 q (Werth 4,611.958 Francs),
1887 26.016 q.
Heu und Stroh gingen 1888 in einer Menge von 227.590 q (Werth
1,559.241 Francs) nach England.
Natürliche Phosphate, welche aus dem Departement de la Somme stam-
men, werden in immer grösseren Mengen nach England und Deutschland ausge-
führt, so 1888 schon 238.025 q.
Stahlschienen, zum Theil belgischer Erzeugung und nach Argentinien be-
stimmt, haben den Hauptantheil an dem Posten Eisen und Stahl, von welchem
1889 232.422 q (Werth 7,218.235 Francs), 1887 188.082 q ausgeführt wurden.
Die Ausfuhr von Oel erreichte 1888 33.768 q und ging nach England und
den Niederlanden, die der Fette betrug in demselben Jahre 24.487 q, endlich die
von Cerealien 125.940 q.
Ausfuhrartikel französischen Ursprungs sind Schafwolle (1888 7383 q),
Flachs und Pottasche (34.899 q).
Eine nothwendige Ergänzung bildet die sehr umfangreiche Ausfuhr im Wege
des Küstenhandels, deren wichtigste Bestimmungsorte Bordeaux, Nantes, Mar-
seille, Brest, Lorient und Cherbourg sind; er beförderte 1888 418.938 q Stahl und
Eisen, 148.629 q Gusseisen, 407.556 q Kohle und 272.397 q Branntwein.
[[645]]
A Einfahrtscanal, A1 Küstenlinie bei tiefster Ebbe, B Vorhafen (Avant-Port, project.), C Ost-Bassin
(project), C1 Erweiterung des Ost-Bassins (project.), D Port d’Échouage, D1 Darse Nr. 1, D2 Darse Nr. 2,
D4 Darse Nr. 3, D4 Darse Nr. 4, E Bassin Freycinet, F Leuchtfeuer, G Bassin de la Marine, H Bassin
du Commerce, J Bassin de l’arrière Port, K Platz Jean Bart, L Kirche St. Eloi, M Parc de la Marine,
N Kirche St. Jean, O Canal de Mardyk, P Jonction des Canaux, Q Gefängniss, R Eisenbahnhof (v. Lille),
S Palais de Justice, T Arrière Bassin de L’Est, U Hôtel de Ville, V Theater, W Place Calonne,
X Badestrand und Casino de la Ville des Dunes, Y Friedhof, Z Kursaal.
[646]Der atlantische Ocean.
Die recht ansehnliche Industrie Dünkirchens bilden Spinnereien für Leinen,
Hanf, Jute und Baumwolle, die Erzeugung von Spitzen, Seilereien, Oel- und
Seifenfabriken, Giessereien, Schiffswerften.
Der Waarenhandel von Dünkirchen umfasste:
| [...] |
Der Schiffsverkehr von Dünkirchen betrug:
| [...] |
Die Handelsflotte von Dünkirchen zählte am 31. December 1888 168 Segel-
schiffe mit 17.025 Tons und 47 Dampfer mit 12.667 Tons.
Im Einlaufe sehen wir die stärkste Tonnenzahl im Verkehre mit England
(1888 158.750 Tons), Argentinien, Spanien, den russischen Häfen des Schwarzen
und des Baltischen Meeres, mit Schweden, Peru und Englisch-Indien.
Im Auslaufe überwiegt der Verkehr mit England (1888 744.234 Tons) alle
anderen Beziehungen.
Selbst wenn man den Küstenhandel einrechnet, der den französischen
Schiffen vorbehalten ist, so zeigt sich, dass in Dünkirchen die Frequenz der bri-
tischen Flagge grösser ist als die der französischen. Eine geringe Tonnenzahl
entfällt auf die anderen Flaggen, von denen nur die deutsche Erwähnung verdient.
Der regelmässige Küstenverkehr erstreckt sich über alle französischen Häfen
bis Marseille und Algier und wird in erster Linie durch die Cie. Générale des
Bateaux à Vapeur à Helice du Nord vermittelt.
Von Dünkirchen gehen wöchentlich dreimal Dampfer nach London (115 See-
meilen).
Auch mit den anderen Häfen von England, Spanien, Portugal, wie mit
denen Nordeuropas bestehen lebhafte Verbindungen. Für diesen Dienst ist die
Cie. Hâvraise péninsulaire de Navigation à Vapeur das wichtigste Unternehmen.
Den Verkehr mit Brasilien und dem La Plata vermitteln die Chargeurs
Réunis, die Allan-Line.
Dünkirchen ist Station der Küstenbahn, welche die Nordwestküste Frank-
reichs bis Dieppe herab begleitet, und hat über den Knotenpunkt Hazebrouck zahl-
reiche Verbindungen nach dem Südosten.
Hier treffen die Canäle von Bergues, Furnes und Saint-Omer zusammen
und ermöglichen einen billigen Verkehr mit Massenartikeln.
Dünkirchen ist Sitz einer Handelskammer, einer Bourse de commerce.
Hier haben die Bank von Frankreich, der Crédit Lyonnais und die Société
Générale pour favoriser le Développement du Commerce et de l’Industrie en France
Succursalen und 30 Seeassecuranzgesellschaften ihre Vertretungen.
In Dünkirchen haben Consulate: Argentinien, Belgien, Chile, Costa-
rica, Dänemark, Griechenland, Grossbritannien, Italien, Niederlande, Oesterreich-
Ungarn, Peru, Schweden und Norwegen, Türkei, Uruguay, Venezuela.
[[647]]
Antwerpen.
Nach einer Sage soll in grauer Vorzeit an der Stelle des heutigen
Antwerpen eine Burg gestanden sein, welche der ebenso grausame
wie habgierige Riese Druon Antigon bewohnte. Dieser behob von
allen die Schelde flussauf- oder abwärts passirenden Waaren einen
Zoll. Wehe dem Handelsmanne, der zu zahlen sich weigerte; ihm
hieb der Riese die rechte Hand ab und warf diese in den Fluss. So
trieb er es lange Zeit, bis Salvius Brabo, ein Statthalter Caesars,
erschien, die Burg erstürmte und den Riesen enthauptete. Obgleich
in dieser Legende eigentlich das Sinnbild der schon im Alterthume
ganz besonders wichtigen Lage Antwerpens zu suchen ist, welche den
Besitzer zum Herrn und Gebieter eines ganzen Landes machte, so
fehlte es nicht an Versuchen, die Entstehung des Namens Antwerpen
aus der Sage selbst ableiten zu wollen, denn die Worte „Hand“ und
„werpen“, d. i. werfen, waren aus der Erzählung leicht herauszufinden,
und ebenso schienen die Burg und die Hände des Stadtwappens von
Antwerpen auf die Grausamkeit des mythischen Riesen hinzuweisen.
Mit grösserer Berechtigung darf indess die Ableitung des Namens
von Werf oder Werp, d. i. Anlegeplatz und im weitern Sinne Hafen,
geltend gemacht werden, denn die Ansiedlung an der Scheldemündung
am Ende des grossartigen, tief eingeschnittenen Golfes, den seither
die massenhaften Ablagerungen der Schelde und ihrer Nebenflüsse
einengten, bedurfte offenbar, weil weit und breit ein ähnlich wichtiger
Hafenort nicht bestand, keiner anderen Bezeichnung als der Worte
„ane de werp“, d. i. am Hafen, woraus der Name Antwerpen ent-
standen sein mochte.
Unter allen Emporien der Nordsee, selbst Hamburg inbegriffen,
besitzt Antwerpen als Welthandelsplatz die günstigste geographische
Lage; vermöge ihrer Verbindung mit dem grossartigen Netze der
schiffbaren Wasserstrassen, welche Belgien durchziehen und das Land
mit Frankreich, Holland und Deutschland verbinden, sowie als hervor-
[648]Der atlantische Ocean.
ragender Eisenbahnknotenpunkt erfreut sich die Stadt der glücklichsten
Verkehrsverhältnisse, wie solche kaum ein anderes See-Emporium des
europäischen Festlandes aufzuweisen hat. Dazu tritt der höchst wichtige
Umstand, dass der ausserordentliche Wasserreichthum der unteren
Schelde und namentlich ihrer breiten Mündungen die Entwicklung des
Schiffahrtverkehres begünstigt, im Gegensatz zu vielen anderen an
Flüssen liegenden Seehäfen, wo die Schwierigkeit der Zufahrt dem
Aufblühen oft unüberwindliche Hindernisse entgegensetzt.
Das gewaltige Delta der Schelde (Escaut), welches mit dem
System der Rheinmündungen in natürlicher und künstlicher Verbindung
steht, setzt sich, wie unser Plan zeigt, aus zwei tief in das Land
gerissenen breiten Armen zusammen, die jeder für sich das Ansehen
und für die Schiffahrt auch die Bedeutung von Meerbusen haben.
Weist doch der südliche Arm, die West-Schelde, eine Mündungsbreite
von nahezu 14 km und an der Verengung bei Vlissingen von 4·6 km
auf. Der nördliche Arm, die Ost-Schelde, weitet sich an der Mündung
bis zu einer Breite von nahezu 8 km aus. Beide Scheldearme stehen
durch natürliche Wasserrisse in Verbindung, wodurch die drei be-
deutenden Flachinseln Walcheren, Nord- und Süd-Beveland gebildet
werden. Für die Schiffahrt günstig sind die Verhältnisse an der im-
posanten West-Schelde, in welche die drei Zufahrten: Ost-Gat (Galgen-
put) mit durchwegs mehr als 8 m Tiefe bei Ebbe; Beurloo mit 5 bis 8 m
und im Süden der 2 bis 4 km breite Wielingen-Canal mit Tiefen von
9 bis 30 m bei tiefster Ebbe für die Seeschiffahrt in Betracht kommen.
Innerhalb der Mündungsbarren senkt sich der Boden zu nicht
unbedeutenden Tiefen herab (45 m im Maximum).
Der Wielingen-Canal bildet die Hauptzufahrt in die Schelde und
nach Antwerpen (Anvers, spanisch Ambéres), welches unter 51° 14′
nördl. Breite und 4° 24′ östl. Länge von Greenwich (Kathedrale) liegend,
ungefähr 80 km flusseinwärts von Vlissingen entfernt ist Die Zufahrt
wird durch das 78 km westwärts der Mündung verankerte grosse
Leuchtschiff Westhinder markirt, welches ein auf 12 Seemeilen (22 km)
sichtbares Blinkfeuer zeigt; dann folgen gegen die Mündung zu noch
die beiden Leuchtschiffe Wandelaar und Wielingen, worauf die Leucht-
feuer von Vlissingen und des gegenüberliegenden Schelde-Ufers in Sicht
gelangen. Grosse Bojen markiren überdies an einzelnen Punkten die
Grenzen der Sandbänke.
Gegen Antwerpen zu beschreibt die Schelde mehrfache Windungen;
das Fahrwasser ist gut markirt und auf allen Punkten für die grössten
Oceandampfer navigabel. Eine Unterbrechung der Schiffahrt durch
[[649]]
Antwerpen.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 82
[650]Der atlantische Ocean.
die Eisverhältnisse kommt nur selten vor. In den letzten 35 Jahren
war der Schiffsverkehr im Ganzen nur während 135 Tagen infolge
Eises gesperrt. Es müssen eben ausserordentlich rauhe Winter und
ungewöhnlich lange andauernde Fröste eintreten, um eine Störung der
Schiffahrt zu verursachen.
Die Scheldemündungen und das nächstgelegene Terrain gehören
einschliesslich der Inseln zur holländischen Provinz Seeland. Eine
endlose Flachküste erblickt der in die Schelde Einfahrende vor sich.
Es ist die grossartige charakteristische Tiefebene der Niederlande mit
ihren Canälen, stehenden Gewässern, Dämmen, ihrem fruchtbaren
Marschland, wo üppige Weizenfelder und saftiges Wiesenland mit
sumpfigen Strichen abwechseln.
Einzelne Häuschen, Baumgruppen, besonders aber zahlreiche
Windmühlen, hin und wieder ein Kirchthurm, die geometrische Figur
einer Landmarke, oder die Umwallungen eines Forts sind von See
aus erkennbar, während die bekannten Staffagen der holländischen
Landschaft: die weidenden Rinder, die künstlichen Hügel, auf welchen
die einladenden Gehöfte der Bewohner sich erheben, dem Blicke
entzogen bleiben. Erst an Stellen des Flusslaufes, wo das Fahrwasser
ganz nahe am Ufer vorbeiführt, erhalten wir in die Details des land-
schaftlichen Zubehörs einen tieferen Einblick. Wir sehen die mitunter
kunstvollen Schleussenwerke, welche theils den Einlass der Fahrzeuge
in die Canäle vermitteln, theils die Entwässerung bewirken. Manchmal
gewahrt man über Land die geschwellten Segel von Schiffen, oder
die qualmenden Schlote kleiner Dampfer, denn auf den breiteren
Canälen besorgen neben Segelfahrzeugen auch Dampfer den Binnen-
verkehr. Das Hinzutreten der auf Beveland dahinbrausenden Eisen-
bahnzüge steigert wesentlich den eigenthümlichen Charakter der vor
uns liegenden Landschaft. Zugleich ist die Schelde als Zufahrtsstrasse
nach der verkehrsreichen Handelsmetropole Belgiens von Schiffen
jeder Art und Grösse belebt. Auf ihrem mächtigen Gewässer kreuzen
sich die prächtigen Oceandampfer mit den stolzesten Seglern der
Weltmeere, ganze Flotten von Fischerfahrzeugen, Frachtbarken, von
Luxusbooten und Localdampfern scheinen sich hier ein Rendezvous
gegeben zu haben, und je näher man nach Zurücklegung der Fluss-
windungen gegen Antwerpen vordringt, desto lebhafter wird das
Getriebe auf dem immer mehr eingeengten, aber noch genügend tiefen
Strome. Immer deutlicher erkennt der Fremde, dass er sich einem
Welthandelsplatze nähert. Indes erblicken wir schon von grosser
Entfernung aus weit über die Ebene die Thürme und Hochbauten der
[651]Antwerpen.
berühmten Vaterstadt der unsterblichen Rubens und Van Dyck, deren
Namen nicht wenig dazu beitrugen, Antwerpen mit blendendem Glanze
zu erfüllen.
Als aufstrebende Erbin des einst mächtigen Brügge sah Antwerpen
mit dem Wohlstande auch die Kunstliebe bei sich einziehen und ward
während seiner ersten Glanzperiode (XV.—XVII. Jahrhundert) der
Vereinigungspunkt des industriellen und künstlerischen Lebens der
Niederlande. Die jener Zeit entstammenden Meisterwerke der Bau-
kunst: die herrliche gothische Kathedrale mit dem kühn aufragenden
Thurm, der Renaissancebau des Rathhauses, die St. Paulskirche, die
Fleischhalle, die Jakobskirche und viele andere Baudenkmäler, dann
die in den Museen überreich aufgestapelten Kunstwerke der Malerei
und Plastik erregen die Bewunderung des Beschauers. Antwerpen
konnte damals als industrielle Hochschule für ganz Europa gelten,
hier blühten die Diamantschleiferei, die Glasmalerei, die Spitzen- und
Teppichweberei, die Schönfärberei, die Druckerei und andere Industrien.
Antwerpen versorgte die Niederlande und andere Länder mit berühmten
Glockenspielen; seine Erzeugnisse in Stoffen, Gold- und Silberwaaren
fanden den Weg nach Arabien, Persien und Indien.
Die damalige Herrlichkeit Antwerpens fand ihr jähes Ende
durch den Abfall der nördlichen Niederlande. Die Mündungen der
Schelde fielen den Holländern zu und wurden von diesem kalt be-
rechnenden Handelsvolke für Antwerpen bis zu Anfang unseres Jahr-
hunderts auf das strengste gesperrt. Damit war die nährende Ader
unterbunden, und die 100.000 Einwohner zählende Stadt verfiel zu
einer Provinzstadt mit kaum 40.000 Bewohnern (1800).
Länger als seine Handelsblüthe hatte sich jedoch Antwerpens
Bedeutung in der Kunst erhalten, die in neuerer Zeit aus dem Nieder-
gange, welchem sie ausgesetzt war, wieder zu neuer Kraft auflebte.
Auch der riesige Wiederaufschwung seines Handels ist eine Er-
scheinung der neueren Zeit, eine Erscheinung, welche das äussere Bild
der Stadt und des Hafens in überraschendster Weise veränderte.
Welch herrliches Bild kraftvollsten Lebens entrollt sich vor
uns, wenn wir an der letzten scharfen Biegung der Schelde, die
nördlichsten Bastionen der Befestigung zur Linken lassend, dem Hafen
uns nähern. Eine endlos scheinende Masse von Schiffen aller Nationen
der Erde nimmt die Quais ein; der traditionelle Mastenwald liegt
vor uns, wir sehen sein Gewirre über Wällen und Häusern aus dem
Labyrinth der weitläufigen Bassins im Nordtheile der Stadt empor-
ragen, wir erblicken ihn längs der fast 4 km langen Quaifront wie
82*
[652]Der atlantische Ocean.
einen aus wirren Fäden gewobenen Schleier, das prächtige Bild der
Stadt geheimnissvoll verschliessend; kurz, Schiffe und Masten überall,
so weit das Auge reicht. Den schönen Strom durcheilen Dampfer
und Segler, Trajectboote und Flussfahrzeuge aller Art, das Spiegelbild
von Arbeit und Leben. Die Hochbauten der Stadt, ihre Thürme und
Dome, ihre Paläste und monumentalen Quais, Treppen und Rampen
ergänzen die malerische Wirkung des Ganzen.
Antwerpens jüngster Aufschwung datirt vom Jahre 1803, als
Napoleon I., die äusserst günstige Weltlage der Stadt erfassend,
in Antwerpen ein „London des Continentes“ und einen Haupt-
stützpunkt für sein System der Continentalsperre schaffen wollte.
Vor Allem erklärte er Rhein und Schelde zu freien offenen Strömen,
dann legte er ein grosses See-Arsenal und Werften für die Flotte
an. Er liess die prächtigen gemauerten Quais Jordaens und Van Dyck
(nächst der Kathedrale) und die zwei älteren Bassins, die lange Zeit
seinen Namen führten, ausheben; er war es auch, der den Plan
fasste, das linke Ufer mit der Stadt durch eine Brücke zu verbinden
und dort eine neue befestigte Stadt zu erbauen, er plante endlich
auch die Verbindung des Hafens mit dem Rhein und jene des Rheins
mit der Maas und Schelde, sowie mit der Rhone durch navigable
Wasserstrassen, wodurch die Nordsee mit dem Mittelmeere verbunden
sein würde. Wenn auch viele dieser Projecte durch den Sturz des
Eroberers damals nicht ausgeführt wurden, so blieb für Antwerpen
doch die wichtigste Errungenschaft der napoleonischen Zeit, die freie
Schiffahrt auf der Schelde, erhalten.
In eine neue Phase trat Antwerpen nach der Revolution des
Jahres 1830. Es entstanden weitere Bassins an der Nordseite der
Stadt, die Quais wurden ausgebaut, Eisenbahnverbindungen mit
Frankreich und Deutschland geschaffen, und die Bevölkerung stieg
bis 1860 auf 112.000 Einwohner.
Im Jahre 1866 wurden die beengenden alten Umwallungen
geschleift und weit hinausgelegt, wodurch die Fläche des Weich-
bildes mit einem Schlage eine fünffache Vergrösserung erlangte.
Die Stadt begann sich nun auszudehnen, neue Stadttheile mit schönen
Strassenzügen und öffentlichen Gärten entstanden, maritime Etablisse-
ments, Magazine und Dépôts, neue Bassins wurden geschaffen (1881
jene im Süden, 1887 Bassin Amerika und Afrika im Norden), und bis 1885
war die Bevölkerung auf 201.000 Einwohner angewachsen. Gegenwärtig
kann sie mit 250.000 Einwohnern nicht zu hoch veranschlagt werden.
Die Stadterweiterung regte die Baulust bedeutend an. Auch die älteren
[653]Antwerpen.
Theile der Stadt verjüngten sich, und es schien, als ob eines zweiten
Haussmann energische Hand gewaltet hätte. So wurden 1877 bis
1881 mehr als 700 Häuser demolirt, um die neue Rue Nationale durch
das Quartier südlich der Kathedrale durchzubrechen, und ebenso
mussten zur Erweiterung der Quais etwa 650 Gebäude expropriirt
werden.
Die erweiterte Stadt bot nun auch den Communicationen den
genügenden Raum; es entstanden grossartige Bahnhofanlagen, die
sämmtlich unter einander und mit allen Bassins in Verbindung stehen.
Der Hafenquai erhielt eine ununterbrochene Reihe von Hangars, längs
der Bassins schuf man Magazine und stattete alle Anlegeplätze mit
starken, auf Schienen laufenden hydraulischen Krahnen behufs Ein-
und Ausladens schwerer Güter aus; die Benützung eines Krahnes
kostet 20 Francs den Tag. Die grössten derselben haben eine Trag-
fähigkeit von 40 Tonnen, und ein fixer Krahn von riesigen Dimensionen
vermag Lasten bis zu 140 Tonnen zu heben. Dampfgangspille und
andere Apparate und Maschinen vervollständigen die Ausstattung.
Dadurch gewann der Handelsverkehr alle möglichen Hilfsmittel, und
muss der Hafen zu den am besten eingerichteten der Erde ge-
zählt werden. In Transit an- und abgehende Waggonladungen
lagern in den Hangars längs der Quais unter Controle der Zoll-
behörde, so dass die Platzkosten auf ein Minimum beschränkt sind.
Selbstverständlich verjüngte und verschönerte sich die Stadt,
und in der neuen Umgebung erhöhte sich umsomehr der Glanz ihrer
alten Kunstdenkmäler.
Das grösste Interesse beansprucht vor Allem die berühmte
Kathedrale Liebfraukirche (7), die imposanteste und schönste Kirche in
Belgien und vermöge des Adels ihrer Ausführung und der prächtigen
inneren Ausstattung eines der bedeutendsten Denkmäler kirchlicher
Baukunst in Europa überhaupt. Ihr Bau wurde 1352 begonnen und
währte bis 1616. Von den beiden Thürmen verblieb der südliche
unvollendet, der nördliche misst aber 123 m in der Höhe. Dessen
Schönheit und Zierlichkeit lobend, meinte Karl V., der Thurm ver-
diene in ein Schmuckkästchen gestellt zu werden. Die siebenschiffige
Basilika bietet durch die Grossartigkeit ihrer Verhältnisse wie nicht
minder durch die höchst malerische Perspective der 125 die Gewölbe
stützenden Säulen einen selten schönen Anblick. Unter der reichen
Zahl von Kunstwerken, welche die Kathedrale birgt, nehmen die
drei Meisterwerke von Rubens: die Abnahme vom Kreuz, die Auf-
richtung des Kreuzes und Himmelfahrt Mariae den ersten Rang ein.
[654]Der atlantische Ocean.
Das Glockenspiel des Thurmes ist das berühmteste in den Nieder-
landen.
Auf dem nächst der Kathedrale gelegenen Groenplaats (9) erhebt
sich inmitten von Gartenanlagen das Standbild Rubens’.
Im Norden des Domes weitet sich der Groote Markt, dessen
grösste Zierde das 1561—1565 entstandene, in streng classischem
Renaissancestyl gehaltene Rathhaus bildet. Das seit 1882 in Restan-
rirung begriffene Innere desselben enthält reichen figuralen Schmuck
und herrliche Gemälde. Am grossen Platze liegen auch viele der ehe-
maligen Gildenhäuser, welche dem XVI. und XVII. Jahrhunderte ent-
stammen und durch malerische Architektur ausgezeichnet sind. Hervor-
ragend ist das Gildenhaus der Schützen (Oude Kolveniersgilde).
Erwähnt sei auch der dem Jahre 1501 entstammende spät-
gothische Bau der ehemaligen Fleischhalle, den vier sechseckige
Thürmchen zieren.
Ausser der Kathedrale gereichen der Stadt auch noch andere
ältere kirchliche Bauten zur Zierde.
Der schöne spätgothische Bau der Jakobskirche entstand 1491:
er birgt die Familiengruft der Rubens. Die einige Kunstwerke ent-
haltende Andreaskirche wurde 1523 vollendet; die kleine Kapuziner-
kirche (St. Antoniuskirche) entstand 1589. Die prachtvoll mit
Marmor und Kunstwerken gezierte Jesuitenkirche wurde 1614 bis
1621 nach Plänen von Rubens erbaut, welcher dem Werke 39 seiner
Bilder weihte; der Bau brannte leider 1718 infolge eines Blitz-
schlages ab und wurde im gleichen Style, aber minder luxuriös
wieder reconstruirt.
Zu den älteren Bauten zählt auch die 1615 erbaute Augustiner-
kirche, wohingegen die St. Georgskirche mit ihren beiden spitzen Thürmen
der neuesten Zeit (1853) angehört und durch prächtige Wandgemälde
von Guffens und Swerts ausgezeichnet ist.
Den Hauptstolz der Antwerpner bildet aber das Museum mit
seiner grossartigen Sammlung niederländischer Meister, voran Quintin
Massys’, Rubens’, Van Dyck’s, Rembrandt’s herrliche Werke, dann
Schöpfungen der neueren Zeit.
Das Museum ist in einem ehemaligen Franziskanerkloster unter-
gebracht, in welchem sich auch die im XVII. Jahrhundert gegründete
berühmte Akademie der schönen Künste und das moderne Museum
befinden.
Eine hervorragende Sehenswürdigkeit ist auch das 1875 von der
Stadt angekaufte Haus und Museum Plantin-Moretus mit 14 Porträts von
[655]Antwerpen.
Rubens. Das Haus ist heute noch in demselben Zustande, in welchem
es sich im XVI. Jahrhunderte befand, die berühmte Druckerei dieser
Zeit kann jeden Augenblick die Arbeit, der Laden den Verkauf be-
ginnen.
Nennen wir noch den Königspalast (ein im Rococostyl 1755
erbautes Patricierhaus), die prächtige neue Börse, welche an Stelle
des 1858 abgebrannten alten herrlichen Baues sich erhebt, die
Nationalbank, das neue Justizpalais, die französische Oper, das
niederländische Schauspielhaus, so haben wir die Aufzählung der
sehenswerthesten Gebäude noch nicht erschöpft.
Weisen die vorne genannten Kunstdenkmäler auf die grosse
Vergangenheit Antwerpens hin, so bekunden andere Werke der Neuzeit
das rege Interesse der Stadt für Kunst und Wissenschaft.
Reich ist denn auch die Zahl der Standbilder, welche hervor-
ragenden Söhnen Antwerpens und anderen um ihr Aufblühen verdienten
Persönlichkeiten von dem dankbaren Gemeinwesen errichtet wurden.
Von Interesse ist das Leopold I., dem ersten Könige von Belgien,
1868 gesetzte Reiterstandbild.
Mit seinen Parkanlagen, worunter der zoologische Garten, der
herrliche, an malerischen Partien reiche Park, endlich der Park des
Neijverheidspaleis hervorgehoben werden müssen, durch seine schönen
Avenuen und Strassen ist Antwerpen eine ebenso elegante und an-
genehme Stadt, wie es durch den seltenen Reichthum seiner Kunst-
schätze eine der interessantesten, als Rivalin von Liverpool und
Hamburg einer der wichtigsten Handelsplätze der Erde ist.
Die wunderbare Handelslage der Niederlande an der Stelle, wo die Rhein-
strasse, die nach England weist, gekreuzt wird von der Verbindung der Nordsee
mit dem Canal la Manche, wurde bald von den Flamändern benützt, und deren
Vorort Brügge wird schon 1042 „Famosissimum“ genannt.
Im Hafen von Damme, eine Stunde nordöstlich von Brügge, sammelten sich
die Schiffe der nördlichen Staaten und die des Mittelmeeres. Aus dem grossen
Dammer Zolltarife von 1252 sowie aus einem ungefähr gleichzeitigen Waaren-
verzeichnisse erkennt man hier den Sitz eines wahren Welthandels, und Flandern
bleibt bis in das XV. Jahrhundert der Mittelpunkt alles Handels zwischen Gibraltar
und Finnland, Sitz der vlämischen Hansa und zahlreicher Factoreien aus siebzehn
Königreichen, der Kaufleute von 32 Städten.
Seine Kaufleute durften frei den Rhein hinauffahren, und seine Seefahrer
entdeckten die Azoren.
Früh schon sehen wir hier eine Waarenbörse und den Gebrauch von
Wechselbriefen. Reichthum und Luxus seiner Bürger waren so gross, dass Jo-
hanna von Navarra, die Gemahlin Philipp IV. von Frankreich, 1301 daselbst
klagte: „Ich glaubte allein Königin zu sein, hier aber sehe ich sechshunderte
wie mich.“
[656]Der atlantische Ocean.
Die höchste Blüthe in Handel und Industrie erreichten die Niederlande,
als sie 1384 unter das Haus Burgund kamen, weil eine kräftige landesfürstliche
Gewalt den Kriegen der Städte unter einander steuerte.
Als aber nach dem Tode Karl des Kühnen die jugendschwachen Hände der
schönen Maria von Burgund, der Braut Maximilian’s, des letzten Ritters, das
Scepter führte, da brach der Uebermuth der Bürger, vorab jener von Brügge, rück-
sichtslos hervor.
Viele Kaufleute verliessen 1488 die wegen ihrer beständigen Bürgerkämpfe
ungastliche Stadt und zogen nach dem an der tiefen Schelde gelegenen Antwerpen.
Schon 1490 finden wir hier einen portugiesischen Handelsconsul, 1503 er-
scheinen an seinem Gestade portugiesische Schiffe mit indischen Specereien,
welche der Antwerpener Nicolau’s Rechtergem der Erste nach Deutschland weiter
spedirte und die an den reichen Augsburger Häusern Fugger und Höchstetter,
welche Filialen in Antwerpen hatten, ihre Hauptabnehmer fanden. Den Portugiesen
folgten die Italiener und die Ostseekaufleute.
Unter Karl V., der sich bekanntlich als Niederländer fühlte, sehen wir
Antwerpens glänzendste Periode.
Damals nannte man die Stadt das „Tyrus des Nordens“, die „Welt einen
Ring und Antwerpen den Edelstein darin“.
Es lagen oft 2500 Schiffe in der Schelde, und fast alle Zweige des Gewerbe-
fleisses waren hier eingebürgert. Bei dem Florentiner Guicciardini erscheint Ant-
werpen 1566 nicht nur als die erste Handelsstadt der Niederlande, sondern
Europas, charakterisirt durch die Theuerung der Wohnungen, die unvergleichliche
Freiheit, deren die Fremden genossen, die fast beliebige Zinshöhe und den Ruhm,
keine Aufstände und Plünderungen erlebt zu haben.
Doch bald hörte dies Alles auf. Unter Philipp II., dem sein Vater Karl V.
erst in der letzten Stunde vor seiner Abreise die Niederlande übergeben hatte, be-
gannen die Kriege zwischen den Spaniern und den Protestanten des Landes,
zwischen dem Könige, der nach absoluter Gewalt strebte, und dem selbstbewussten
Bürgerthume, das nichts mehr hasste als Auflagen auf Handel und Verkehr, wie
Philipp II. sie einführte, wohl in der Absicht, dadurch die Niederländer zahm
zu machen.
Schon damals verliessen viele Kaufleute die Stadt, welche 1576 von den
Spaniern erobert und durch drei Tage geplündert wurde, wobei 7000 Menschen
das Leben einbüssten. Und im August 1585 fiel nach einer 14 Monate währenden
ruhmwürdigen Vertheidigung und Belagerung, welche als die hohe Schule für die
Militärs aller Völker betrachtet wurde, die Stadt durch Capitulation in die Hände
des Alexander Farnese (Herzog von Parma). Damit war entschieden, dass Ant-
werpen unter den Spaniern verbleibe.
Alexander Farnese zeigte sich wohl mild und grossmüthig gegen die Unter-
worfenen, aber die katholische Religion wurde zur ausschliesslichen in Antwerpen
erklärt und allen Ketzern eine gewisse Frist gesetzt, bis zu welcher sie die Stadt
verlassen haben müssten. Diese Bestimmung war nach Dr. Martin Philippson
(Westeuropa im Zeitalter Philipp II.), dem wir hier folgen, das Todesurtheil für
die reichste und lebhafteste Stadt Europas. Die thätigsten und begütertsten
Handelsherren und mit ihnen 19.000 Andere wanderten nach Amsterdam und den
übrigen Handelsstädten des protestantischen Holland aus, andere Flüchtlinge
gingen nach England.
[[657]]
A Nordsee, B Canal und Eisenbahn nach Middelburg, C Middelburg-Haven, D Süd-Beveland-Canal, E Hooge Springer-Bank, F Leuchtfeuer, F1 Leuchtschiff
Wielingen, G Telegraph, H Galgenput-Canal, J Fransche Pass, K Roompot-Pass, L Terneuse-Canal, M Baarland-Canal, N Middel-Canal, O Waarde-Canal.
Die Seehäfen des Weltverkehrs I. Band. 83
[658]Der atlantische Ocean.
Die norddeutschen, englischen und hugenottischen Kaufleute gaben den
Verkehr mit Antwerpen auf, um ihn gleichfalls nach Holland zu verlegen. Mehr
und mehr verödeten der Hafen, die Strassen und Häuser von Antwerpen, das, wie
schon erwähnt, im XVII. Jahrhunderte statt der früheren 100.000 nur 40.000
Einwohner zählte.
Jede Hoffnung auf Besserung blieb geschwunden, weil die Holländer die
Lebensader Antwerpens, die Schelde, geschlossen hielten und diese durch den
westfälischen Frieden (1648) beschlossene Sperre 1713 in Utrecht wiederholt wurde.
Handel und Industrie blühten nur mehr im Andenken. Bis zur Zeit
Joseph II. wagte es Niemand, dieses Recht der Niederländer anzutasten.
Auf seinen Befehl wurde 1783 zu Antwerpen ein Schiff ausgerüstet und
fuhr mit der kaiserlichen Flagge die Schelde hinab. Aber es wurde von den Hol-
ländern beschossen und aufgebracht, und da Joseph II. Frankreich, England und
Preussen auf Seite der Holländer fand, musste er nachgeben.
Den Jahrhunderte langen Druck lösten erst die Kriege, welche auf die
französische Revolution folgten, Napoleon I. verdankt die Stadt den Anfang ihres
heutigen Reichthums. Er hatte Verständniss für die Wichtigkeit der Lage Ant-
werpens, und seinem Urtheile: „Hier ist noch Alles zu thun“ folgte der Bau von
zwei grossen Docks und zwei Quais.
Carnot vertheidigte die Stadt (1814) gegen die Alliirten.
Als dann nach dem Sturze des gewaltigen Mannes Belgien mit den Nieder-
landen vereinigt wurde (1815), um so einen grösseren Staat an Frankreichs
Grenzen zu schaffen, wurden die Arbeiten von den Niederländern nicht fortgesetzt,
und erst nach der 1831 erfolgten Trennung Belgiens von Holland (Londoner Ver-
trag vom 15. November 1831) konnte Antwerpen als Rivale der holländischen
Seestädte, namentlich Rotterdams, auftreten, und zwar hauptsächlich dadurch, dass
König Leopold I. 1835 mit dem Eisenbahnbau begann und so durch die be-
queme moderne Verbindung mit Frankreich und Deutschland Antwerpen ein ge-
waltiges Hinterland schuf, während Holland immer an seiner theuren, langsam
arbeitenden Canalschiffahrt festhielt.
Doch noch immer führte Antwerpen ein kleinliches Dasein bis zur Ab-
lösung des Scheldezolles (1863), weil bis dahin die Schiffahrt für jede Tonne
stromaufgehender Waare mit 2·20 Francs, für jede Tonne stromabgehender Waare
mit 0·80 Francs belastet war.
Nach dem Aufhören des Scheldezolles entwickelte sich Ant-
werpens Handel in einer ähnlichen sprunghaften Weise wie in unseren
Tagen der von Hamburg.
Belgien allein konnte nicht die Güter schaffen für einen neuen
grossen Verkehr. Denn Belgien ist klein, aber die Welt ist gross; es
war, wies ich immer deutlicher herausstellte, vor Allem der Durchgangs-
verkehr, dessen Beherrschung die Lebensfrage für die alte Handels-
stadt bildete. Um diesem nun die erforderlichen Vorbedingungen für be-
quemes Laden, Löschen, Bergen und Versenden zu bieten und ihn damit
von Rotterdam und Amsterdam abzulenken, dazu reichten die Capitals-
kräfte der Stadt Antwerpen nicht aus.
[659]Antwerpen.
Der Staat übernahm die neuen Bauten am Ufer der Schelde,
die Stadt die nöthigen Einrichtungen an hydraulischen Werken,
Krahnen u. s. w. und die Hochbauten.
Seit 1870 wurden jene herrlichen Hafenbauten geschaffen, die
wir oben geschildert haben.
In Antwerpen finden die grossen überseeischen Dampfer, wie
unser Plan zeigt, so tiefes Wasser, dass sie bei Flut wie bei Ebbe
sofort nach dem Eintreffen an den Schelde-Quais anlegen und mit
dem Entladen beginnen können. Kein Hafen des Festlandes bot seit
1880 für transatlantische Verbindungen dieselben Vortheile wie Ant-
werpen, das dadurch einer der wichtigsten Commissionsplätze, einer
der ersten Transitohäfen Europas wurde.
Die Rheinprovinz, Westfalen, Süddeutschland mit Einschluss von
Elsass-Lothringen, die Schweiz und das nördliche und östliche Frank-
reich benützten den Hafen von Antwerpen. Die Jahre 1883 und 1884
bezeichnen den Höhepunkt Antwerpens, der nur mit grösster Mühe
erhalten wird, denn Hâvre, Hamburg, Rotterdam und Dünkirchen setzen
Alles daran, eine Reihe von Waaren von Antwerpen ab in ihre Häfen
zu ziehen. In vielen Artikeln, wie Schafwolle und Petroleum, macht Ant-
werpen seit Jahren keine nennenswerthen Fortschritte. Insbesondere
nützt Rotterdam seine günstige Lage als Rheinhafen gegen Ant-
werpen aus.
Und schon droht eine neue Gefahr, die Ausführung des
Planes, durch Verbreiterung und Vertiefung des jetzigen Willebrouk-
Canals, der unmittelbar mit der Mündung der Schelde verbunden
werden soll, aus Brüssel einen Seehafen zu machen.
Dieser Canal soll 5⅓ m tief werden, so dass er für Schiffe von
2000 t zugänglich sein wird.
Dem sucht Antwerpen durch eine neue Vergrösserung seiner
Hafenanlagen entgegenzuwirken, die Quais sollen noch um die Hälfte
ihrer jetzigen Ausdehnung, also auf zwei Wegstunden verlängert
werden.
Aber der Krebsschaden Antwerpens sind die hohen Schiffs-
gebühren. Ein Dampfer von 1800 Registertons und 21 englischen Fuss
Tauchung zahlt in Antwerpen bei der Ankunft und Abfahrt zusammen
3446 Francs, in Rotterdam 1562 Francs, in Hamburg 1022 Francs.
Diese Hafengebühren müssen zunächst erniedrigt werden, und sie
werden auch schon herabgesetzt, wie man sie den Schiffen des Nord-
deutschen Lloyd sogar ganz erlassen hat, damit sie auf ihren ostasiati-
schen und australischen Fahrten in Antwerpen anlegen.
83*
[660]Der atlantische Ocean.
Man kann sicher hoffen, dass es der Einsicht vorurtheilsfreier
staatlicher und communaler Behörden gelingen werde, die Einflüsse zu
bannen, welche sich den nothwendigen Aenderungen entgegenstellen,
damit die Arbeitskraft dieser geschäftstüchtigen Bevölkerung wieder
so voll zur Geltung komme wie jene des ganzen Landes.
Ueberall sehen wir ja Belgien durch sein Handelsmuseum,
durch Musterlager, die in fremden Städten errichtet sind, durch
besondere Agenten an der Arbeit, sein Handelsgebiet und damit das
seines einzigen bedeutenden Hafens zu vergrössern. Wie intensiv
dieses Streben ist, beweist die Thatsache, dass Belgien auf den Zufahrts-
linien zur Gotthardbahn eigene Agenten aufgestellt hat, damit diese
über alle Tarifänderungen berichten.
Die Verbindung Antwerpens mit der See wurde schon beschrieben.
Für die Verbindung mit dem Innern ist zunächst die Schelde hervor-
zuheben, welche bis nach dem 87 km oberhalb Antwerpen liegenden
Gent direct für Flussschiffe fahrbar ist. Bei Gent beträgt die Fluthöhe
noch 1·40 m, und hier ist die Schelde durch eine Schleusse abgesperrt.
Die aufgestaute Schelde und ihre canalisirten Nebenflüsse stellen hier
die Verbindung mit dem französischen Canalnetz her. Nach dem
westlichen Belgien führt von Antwerpen aus der von Gent über Brügge
nach Ostende gehende Canal. Mit dem südlichen Holland endlich
steht Antwerpen durch die Kempische Vaart (Canal de la Campine),
welche die Maas mit der Schelde vereinigt, und durch den Sud-
Beveland’schen Canal, welcher etwa 38 km unterhalb Antwerpen von
der West-Schelde abzweigt (s. Plan) und in die Ost-Schelde führt,
in Verbindung.
Durch die Annexe des erstgenannten Canals ist auch eine Ver-
bindung mit dem Rheine erzielt.
Ebenso steht die Schelde durch den Meercanal von Gent
nach Brügge und den Anschluss nach Ostende mit dem westlichen
Legende zum Plan von Antwerpen.
A Einfahrt, B Hangars am Quai, C Bassin Afrika, D Bassin Amerika, E Bassin Katendyk, F Leucht-
feuer, G Trockendocks, H Bassin Sas, J Holzbassin, K Bassin Asia, L Bassin de la Campine,
M Grand Bassin. N Petit Bassin, O Canal de la Campine, P Bassin de Battelage (Nord), Q Kohlen-
bassin, R Bassin des Bateliers, S Bassin aux Briques, T Bassin d’echouages, U Hansa-Haus,
V Regierungsmagazin (Entrepôt Royal), W projectirte Brücke, X Schleussen, Y Eisenbahnstation du
Sud, Z Station Principal. — 1 Station du Stuivenberg, 2 Gare de Transbordement, 3 Station der
Vicinalbahn gegen Brasschact und Holland, 4 Petroleummagazin, 5 Staatsbahnhof, 6 Waas-Bahnhof,
7 Liebfraukirche, 8 Stadthaus, 9 Groenplaats, 10 Börse, 11 Kirche St. Jakob, 12 Gefängniss,
13 königliches Theater, 14 königliches Palais, 15 Nationaltheater, 16 Athenäum, 17 Kirche St. Paul,
18 Akademie, 19 Kaserne Falcon, 20 zoologischer Garten, 21 Gaswerk, 22 Justizpalast, 23 Museum,
24 Industriepalais, 25 Place Marnix, 26 Place S. Jean, 27 Place de la Commune, 28 Avenue du Commerce,
29 Avenue des Arts, 30 Avenue de l’Industrie, 31 Avenue du Sud, 32 Nationalbank, 33 Boulevard
Leopold, 34 Chaussée des Malines, 35 Bäder, 36 Ferry-Boote, 37 Constructionsarsenal, 38 Elisabeth-
hospital, 39 Kriegsarsenal, 40 Pépinière (Baumschule).
[[661]]
(Legende siehe auf Seite 660).
[662]Der atlantische Ocean.
Belgien, und durch die Einmündung des Veurne-Canals in das
Canalsystem mit Dünkirchen in Verbindung.
Die Gesammtlänge der belgischen Schiffahrtscanäle beträgt nahezu
2100 km.
Bisher ist noch immer keine geeignete Wasserstrasse für die
directe Verbindung des rheinisch-westfälischen Industriebezirkes mit
dem belgischen Canalnetze vorhanden, welche die Concurrenz mit
Rotterdam erleichtern würde.
Antwerpen ist ferner das Centrum von fünf Hauptbahnen und
einer Nebenlinie, welche im Vereine mit den Canälen den Hafen mit
dem grössten Theile von Mitteleuropa direct verbinden. Man plant
schon seit längerer Zeit eine Abkürzung der Eisenbahnverbindungen
gegen den Gotthard hin, um theilweise den verloren gegangenen
Verkehr zwischen England und Oberitalien via Gotthard wieder zu
gewinnen.
Die Seele des Handels von Antwerpen ist die Einfuhr, die wir daher
auch an die Spitze stellen.
In der Einfuhr von Cerealien, die sich im Laufe der Zeit gewaltig ge-
steigert hat, besonders infolge der grossen Ausdehnung der Branntweinbrennereien,
hat Amerika gegen früher seinen führenden Platz an Europa wieder überlassen
müssen, und zwar stehen in der Einfuhr von Weizen zur See mit 9,325.307 hl im
Jahre 1889 gegen 10,192.013 hl im Jahre 1888, die Donaufürstenthümer mit einer
Einfuhr von 5,204.852 hl an erster Stelle, dann folgen Südrussland, Britisch-Indien
und die Union.
Roggen liefern Russland und Rumänien, es kamen 1889 1,484.381 hl nach
Antwerpen, 1888 2,126.846 hl.
Dieselben Länder lieferten auch Gerste, und zwar 1889 2,125.443 hl, 1888
2,636.756 hl, während die Hafereinfuhr allein auf Russland entfiel mit 1,880.588 hl
im Jahre 1889, 3,347.975 hl im Jahre 1888.
Die Einfuhr von Mais aus den Vereinigten Staaten, aus Südrussland und
Uruguay betrug 1889 2,185.657 hl, 1888 893.547 hl.
Alles in Allem betrug die durchschnittliche Einfuhr an allen Cerealien
1849—1853 1,052.174 hl, 1870—1879 8,540.080 hl, 1888 19,197.177 hl und 1889
17,003.376 hl.
Die Zufuhr von Mehl betrug 1887 330.641, 1888 280.063 und 1889
261.828 Säcke. Die Hauptlieferanten sind die Union und Deutschland.
Die Zufuhr von Reis erreichte 1888 mit 1,031.165 Säcken ihren Höhe-
punkt, 1889 wurden nur 519.646 Säcke zugeführt. Hauptimportland ist Birma,
gegen dieses steht Siam weit zurück, 1860 betrug die Zufuhr nur 184.664 Ballen.
Die Steigerung hängt mit der Errichtung einer Anzahl von Reisschälmühlen und
Reisstärkemehlfabriken in Antwerpen zusammen.
Von Genussmitteln werden in Antwerpen in grösseren Mengen Kaffee,
Cacao, Zucker und Tabak eingeführt.
Antwerpen ist einer der wichtigten Plätze Europas für Brasilkaffee und
hat nach dem Beispiele von Hâvre in diesem Artikel auch das Termingeschäft
[663]Antwerpen.
eingeführt und zur Abwicklung der Geschäfte eine „Caisse de liquidation“ er-
richtet. Es wurden hier 1888 3,216.500 Säcke Santoskaffee umgesetzt, das entspricht
etwa dem fünften Theile des Geschäftes von Hamburg und dem vierten Theile
desjenigen von Hâvre.
Eingeführt wurden in Antwerpen 1889 616.347 Säcke, 1888 624.241 Säcke
und 1887 428.809 Säcke. Die Hauptsorte war Santoskaffee, auf welche 1889
285.266 Säcke entfielen, seit 1888 gewinnt Riokaffee seine alte Stellung wieder.
Andere Sorten des hiesigen Platzes sind Bahia, Domingo und afrikanische
Kaffees.
Cacao ist fast ausschliesslich Transitartikel. Selbst die belgischen Fabri-
kanten kaufen nicht in Antwerpen, sondern in London, Hâvre und Bordeaux.
Im Jahre 1889 wurden hier 14.771 Ballen eingeführt, davon 7345 Ballen aus
Frankreich.
In Antwerpen wird Rohrzucker aus Habana und Java eingeführt, Rüben-
zucker ausgeführt. Die Einfuhr findet meist über England statt. Die Einfuhr be-
trug 1888 35.929 Säcke und 30.383 Kisten.
Für Tabak ist Antwerpens Bedeutung seit 1887 stark zurückgegangen,
ebenso für Hopfen; Belgien besitzt selbst ausgebreitete Hopfenanlagen. Von
Tabak wurden früher nur nordamerikanische Sorten gehandelt, welche die Schiffe
der Red Star Line als Rückfracht bringen. Durch den Norddeutschen Lloyd
kommen Java- und Sumatra-Tabak auf den hiesigen Markt.
Olivenöl kommt meist direct aus Marseille, Leinsamen senden Nord-
russland und der La Plata, Raps und Rübensamen Ostindien und die Länder an
der unteren Donau.
Im Ganzen kommen hier von ölhältigen Samen 1889 2·7 Millionen Säcke
zur See an.
Wegen seiner Verbindungen mit dem La Plata wurde Antwerpen das Haupt-
dépôt Europas für Liebig’schen Fleischextract aus Fray Bentos.
Antwerpen hat sich zum bedeutendsten Platz Europas für raffinirtes
Schweineschmalz emporgearbeitet, von welchem 1889 86.155 grosse Fässer
und 170.174 kleine Collis eingeführt wurden. Von amerikanischem Pökelfleisch kamen
1889 61.549 Kisten und 1349 Fässer nach Antwerpen, die Einfuhr steigt seit
Jahren.
Unter den Rohstoffen, die nach Antwerpen eingeführt werden, spielt Holz
eine grosse Rolle, aber der Handel sinkt andauernd; dagegen entwickelt er sich in
Gent, wo er allein von 1887 auf 1888 um 40 % zugenommen hat. Es fehlt eben
in Antwerpen an geeigneten Vorrichtungen zum Abladen von Balken. Das Holz,
russischer Provenienz, kommt theils direct, theils über Danzig, Memel, Königs-
berg und Stettin; auserdem sind an der Holzeinfuhr betheiligt Norwegen, Schweden
und Finland. Es gingen 1889 im Ganzen ein 279.499 m3.
Von Tischlerhölzern sind Cedern- und Ebenholz für Antwerpen besonders
wichtig.
Was die Einfuhr von Farbhölzern betrifft, so ist an die Stelle der Ein-
fuhr von Campêcheholz die von Campêcheholzextract aus Frankreich und Amerika
getreten; Campêcheholz hat sich nach Rotterdam gewendet. Aehnlich sieht es in
den anderen Zweigen des Handels mit Farbhölzern aus.
So versorgt sich der Platz mit Rothholz vorzugsweise in Hamburg und
London. Die Einfuhr aller Gattungen ist in den letzten Jahren gestiegen.
[664]Der atlantische Ocean.
Von Gerbstoffen erschienen in der Einfuhr afrikanische Rinden, soge-
nannte Garouille, 1888 2000—3000 q, 1887 19.100 q, dann Smyrnaer Valonea 1888
7500 q, Quebrachoholz 66.100 q und besonders Eichenholzextract, der eine immer
grössere Ausdehnung gewinnt, Einfuhr des letzteren 1888 28.400 q.
Antwerpen ist der wichtigste Platz Europas für südamerika-
nische, insbesondere für La Plata-Wolle, die dort in Auctionen umgesetzt
wird, welche von englischen, französischen, deutschen und österreichischen Käufern
besucht werden.
Im Terminhandel in Kammzug aus La Plata-Wolle wurden hier 56.240.000 kg
umgesetzt.
Der Wollhandel Antwerpens zeigt seit 1886, in welchem Jahre für Wolle,
die über Antwerpen nach Nordfrankreich transitirt, seitens der französischen Re-
gierung eine hohe taxe d’entrepôt eingehoben wird, eine Abnahme.
Jetzt kommt fast nur noch ein Drittel der früheren Quantität auf den Ant-
werpener Markt; das Meiste geht direct über Dünkirchen nach Frankreich.
Die Einfuhr Antwerpens betrug 1889 244.066, 1888 213.256 Ballen. Versorgt
wird der Antwerpener Platz vom La Plata; ferner von Australien über London
und direct durch die Dampfer des Norddeutschen Lloyd.
Als Handelsplatz für Häute und Felle sowie für Hörner behauptet
Antwerpen selbst Hâvre und Liverpool gegenüber siegreich seinen Rang und ver-
anstaltet häufig Auctionen. Nur 300.000 Stück sind directes Transitogut.
Im Jahre 1889 sandten die La Plata-Staaten 1,263.868 Stück Häute und
Felle, gegen 1,246.182 im Jahre 1888, dann Hörner schweren Gewichts 1889
1,506.000 Stück gegen 1,610.000 Stück im Jahre 1888 nach Antwerpen, allerdings
weniger als 1880, wo 2,058.000 Stück hier ausgeschifft wurden.
Im Jahre 1889 fanden fünf grosse Auctionen für Häute statt.
In einem Lande mit so hoch entwickeltem Bau von Zuckerrüben wie
Belgien steigt unausgesetzt die Einfuhr von Düngmitteln, besonders die von
Chilesalpeter. Die Einfuhr erreichte 1889 87.000 t gegen nur 9000 t im Jahre 1880.
Auch für Guano ist Antwerpen sehr wichtig, es befinden sich hier eine der vier
Niederlagen der Anglo-continentalen (vormals Ohlendorff’schen) Guanowerke und
zahlreiche Düngerfabriken.
Die Gründung des Congostaates durch Leopold II., den König der Belgier,
dessen ganzes Sinnen und Trachten darauf gerichtet ist, die Bedeutung seines
Vaterlandes für den Welthandel zu befestigen und zu erweitern, hatte die Folge,
dass seit 30. Juli 1889 in Antwerpen umfangreiche Auctionen von Elfenbein,
und zwar von Congo-Elfenbein, veranstaltet werden. Jetzt sendet auch die London
Royal Niger Cy. ihr Elfenbein nach Antwerpen. Damit ist dieser Hafen von den
grossen Elfenbeinmärkten in London und Liverpool emancipirt. Die Einfuhr betrug
1889 50.600 kg gegen 6377 kg im Jahre 1888.
Antwerpen ist ferner ein wichtiger Hafen für Congo-Kautschuk.
Die Einfuhr von Hanf schwankt zwischen 27.000 (1888) und 34.000 (1889)
Ballen und erfolgt meist aus Russland und Bombay; Jute (1889 7362 Ballen)
wird über England gebracht.
Antwerpen war früher ein bedeutender Baumwollhafen. Das Meiste geht
jetzt in transito nach Deutschland und der Schweiz. Die Einfuhr erreichte 1888
354.048 Ballen, 1889 390.574 Ballen. Von den letzteren kamen 51.000 Ballen über
England; 52 % der gesammten Einfuhr stammten aus Britisch-Indien.
[665]Antwerpen.
Petroleum kommt zumeist aus Nordamerika und meist in kleineren Mengen
aus dem Kaukasus. Im Jahre 1889 sendete die Union 855.273, in 1887 852.239
in 1888 793.054 Barrels raffinirten Petroleums nach Antwerpen. Die Einfuhr
mittelst sogenannter Tankschiffe nimmt langsam, aber stetig zu.
Naphtha wurde aus Amerika eingeführt, 1889 8577 und 1888 12.250 Barrels.
Antwerpen ist endlich einer der wichtigsten Einfuhrhäfen Europas für Erze
aus Nordspanien.
Die Ausfuhr Antwerpens setzt sich zusammen aus den belgischen Pro-
ducten und den grossen Massen reiner Transitogüter, zu denen zum Beispiele Baum-
wolle und andere bereits behandelte Artikel gehören.
Einer der wichtigsten Artikel der Ausfuhr ist Zucker.
Von Rübenrohzucker wurden 1889 bis 30. November zur See und zu Lande
624.290 q exportirt; im selben Zeitraume des Jahres 1888 368.598 q. Es gingen 1889
391.042 q nach England, das Uebrige nach Nordamerika, den Niederlanden, Chile,
Argentinien, Marokko, Italien. Die Ausfuhr von raffinirtem Zucker erreichte
1. Jänner bis 30. November 1889 164.990 q, 1888 198.380 q. Belgien ist bekannt-
lich einer der wichtigsten Zuckerstaaten Europas.
Sehr ansehnlich sind noch immer trotz des allmäligen Rückganges die Pro-
duction und Ausfuhr Antwerpens an Branntwein. Die Ausfuhr betrug 1886 noch
24.814 hl zu 50 %, 1887 nur noch 19.496 und 1888 gar nur 17.045 hl; die deutsche
und schwedische Concurrenz drückt zu stark auf Belgien. Die Provinz Antwerpen
mit ihren 11 Brennereien liefert etwa ein Drittel des ganzen Erzeugnisses von
Belgien, das fast ausschliesslich aus Genever, Kornbranntwein besteht; nämlich
1888 820.696 hl von der Totalsumme von 2,739.515 hl.
Unter den weiteren Industrien Antwerpens, deren Producte zur Ausfuhr ge-
langen, sind noch Diamantschleifereien zu nennen. Jetzt ist diese Industrie
hier wie in Amsterdam nothleidend.
Die Tabakfabricate Antwerpens finden Absatz in Argentinien und Chile.
Bei der ausgedehnten Textilindustrie Belgiens und seines Hinterlandes
ist natürlich auch der Export an Textilartikeln nach dem Auslande sehr ansehnlich.
Die grosse Wollwäscherei in Schooten arbeitet meist auf Bestellungen
aus Deutschland, Frankreich, England, Italien, Schweiz und den Niederlanden.
Tuchwaaren und Kammgarne sind die wichtigsten Artikel.
Die Teppichfabrication wurde in Antwerpen fast aufgegeben, dafür
nimmt die Ausfuhr von Wachsleinwand von Jahr zu Jahr zu; die Holzschneide-
werke Antwerpens behaupten sich, die Ziegeleien, welche längs der Schelde er-
richtet sind, exportiren nach den Niederlanden.
Die Ausfuhr von Portlandcement nach Südeuropa ist sehr bedeutend.
Die Schwefelraffinerie Antwerpens bezieht das Rohmaterial (7000 t)
direct aus Sicilien. Der grösste Theil der Ausfuhr geht nach Indien und Amerika
zu pharmaceutischen Zwecken und zur Bereitung von vulcanisirtem Kautschuk;
ein kleiner Theil, Sublimatschwefel, nach Deutschland und nach französischen
Märkten, wo er zur Behandlung des Weinstocks und Hopfens sehr gesucht ist.
Dynamit geht nach England, Griechenland, Sardinien und nach Panama.
Selbstverständlich ist die Ausfuhr von Maschinen, Eisenbahnschienen und
Werkeisen, von Glaswaaren, besonders Spiegeln, von Thon- und Porzellanwaaren,
in denen Belgien, Nordfrankreich, die Rheinlande und Westfalen Musterhaftes
Die Seehäfen des Weltverkehrs I. Band. 84
[666]Der atlantische Ocean.
leisten, eine sehr bedeutende und nach den Gebieten gerichtet, die mit Antwerpen
in Dampferverbindung stehen.
Auch die neu errichtete Schiffbauanstalt der Gebrüder Cockerill in Hoboken,
die sich älteren solchen Etablissements anreiht, arbeitet bereits für das Ausland,
ebenso wie die Eisenwerke und Maschinenfabriken Antwerpens.
Der Handel von Antwerpen betrug in 1000 von Francs:
| [...] |
Heute ist Antwerpens Schiffsverkehr der Hauptsache nach gleich dem
Belgiens, denn Ostende kommt nur in Betracht für den Personenverkehr mit
England und für die Fischerboote, und Gent, das man wieder zu einem Seehafen
umgestaltet hat, erreichte 1888 erst einen Verkehr von 364.252 t.
Der Schiffsverkehr Antwerpens mit dem Auslande betrug:
Die Durchschnittsgrösse der hier verkehrenden Dampfer ist 1889 auf 1040 t
gestiegen.
Zu diesem bedeutenden Schiffsverkehr zur See muss man noch die Schiffe,
die auf den Canälen und Flüssen nach Antwerpen gelangen, hinzurechnen, da
ihre Bedeutung für den Handel Antwerpens nicht zu unterschätzen ist. Es liefen
an kleineren und grösseren Fahrzeugen aller Art aus dem Innern, aus Holland,
Deutschland und Frankreich 1889 nicht weniger als 29.003 Schiffe mit einem
Gehalt von 2,745.389 t ein und 30.165 Schiffe mit 2,963.023 t aus.
Die Handelsmarine Antwerpens selbst belief sich 1889 nur auf 39 Dampfer
und 5 Segelschiffe von zusammen 69.644 t.
An der Spitze des auswärtigen Verkehres steht, wie in den meisten Häfen
Westeuropas, die britische Flagge, mit der 1889 2545 Schiffe mit 2,357.839 t in
den Hafen von Antwerpen einliefen, das sind 5½ mal so viel Tonnen als solche
belgischer Flagge.
Und da muss man noch beachten, dass die Red Star Line und die Firma
Lamport und Holt englisch sind und vertragsmässig unter belgischer Flagge
fahren.
Dank den grossen Dampfern des Norddeutschen Lloyd steht 1889 das
erstemal die deutsche Flagge mit 617.755 t der einlaufenden Schiffe an der zweiten
Stelle, dann folgen die belgische, norwegische, französische und dänische Flagge.
Antwerpen hat auch grosse Bedeutung als Auswanderungshafen. 1889 wan-
derten hier 39.298 Personen direct, 1518 indirect, 1888 36.098 Personen direct
[667]Antwerpen.
und 3425 indirect aus; jene, welche aus Deutschland und der Schweiz stammten,
meist auf den Schiffen der Red Star Line nach New-York.
Das Jahr 1888 zeigte zum erstenmale das Beispiel einer sehr starken Aus-
wanderung von Belgiern, die an den La Plata gingen. Doch die ungünstigen
Verhältnisse daselbst lenken den Zug wieder nach den Vereinigten Staaten.
Antwerpen unterhält lebhafte regelmässige Verbindungen mit England, und
zwar die stärksten mit dem Hafen Harwich, der nur 122 Seemeilen entfernt ist;
die Schiffe gehören der englischen Great Eastern Railway. Ausserdem gehen
Schiffe nach London (General Steam Navigation Cy.), Hull, Grimsby, Newcastle,
Leith, Plymouth, Bristol, Dublin, Belfast, Greenock und Glasgow, dann nach
Rotterdam, Rouen-Paris, Hâvre, Bordeaux und Bayonne.
Nach Quebeck und Montreal gehen die „Hansa“ aus Hamburg und Bossière
frères et Cie. aus Hâvre, nach New-York die Red Star Line (3343 Seemeilen) in
12—13 Tagen, nach New-Orleans eine französische Gesellschaft, nach Montevideo
und der Westküste von Südamerika der „Kosmos“ und die Hamburg-Pacific-
Dampfschiffslinie aus Hamburg.
Den starken Verkehr mit Brasilien und dem La Plata vermitteln der Nord-
deutsche Lloyd aus Bremerhaven und die Liverpool-Brazil and River-Plate Steamers
(Lamport und Holt) von Antwerpen als Kopfstation und mit Nordbrasilien über
Lissabon die Red Cross Line.
Antwerpen ist Station der Neptunlinie und der Société navale de l’Ouest,
die nach Portugal und Spanien, ferner der Atlaslinie aus Hamburg, die nach Por-
tugal und Marokko geht; portugiesische Dampfer fahren an den Congo, die So-
ciété maritime algérienne nach Algier, die Johnston-Line nach dem Pyräus, Sa-
lonich, Galatz und Braila. Die ostasiatischen und australischen Linien des Nord-
deutschen Lloyd, ferner der Deutsch-Australischen Dampfschiffsgesellschaft in
Hamburg laufen gleichfalls Antwerpen an.
Zwei regelmässige Linien führen nach Indien, China und Japan, und ab-
wechselnd mit Rotterdam besteht von hier eine Verbindung nach Java mit Escalen
in Southampton und Marseille.
In Antwerpen bestehen eine Handelskammer und ein bekanntes Institut
su̇périeur de commerce.
Grosse Bedeutung hat die hiesige Börse; ferner ist Antwerpen Sitz einer
Succursale der Banque Nationale von Brüssel und von sieben Banken.
Consulate haben in Antwerpen. Argentinien (G.-C.), Bolivia, Brasilien
(G.-C.), Chile, Costarica, Dänemark (G.-C.), Deutsches Reich (G.-C.), Dominicani-
sche Republik (G.-C.), Ecuador (G.-C.), Frankreich (G.-C.), Griechenland (V.-C.),
Grossbritannien (G.-C.), Guatemala (V.-C.), Haïti (G.-C.), Hawaii (G.-C.), Italien
(G.-C.), Japan, Liberia (G.-C.), Mexico, Monaco, Niederlande (G.-C.), Nicaragua,
Oesterreich-Ungarn, Paraguay (G.-C.), Persien, Peru, Portugal (G.-C.), Rumänien,
Russland, Salvador, Schweden und Norwegen (G.-C.), Siam, Spanien, Türkei,
Uruguay (G.-C.), Venezuela, Vereinigte Staaten von Amerika.
Am Südufer der Insel Walcheren, dort wo die Scheldemündung
sich gegen die See zu trichterförmig auszuweiten beginnt, liegt die
früherer Zeit stark befestigt gewesene Stadt Vlissingen (franz.
Flessingue, engl. Flushing), die Geburtsstadt des berühmten hollän-
84*
[668]Der atlantische Ocean.
dischen Admirals de Ruyter. Mit dem am gegenüberliegenden Ufer
gelegenen starken Fort Frederik Hendrik bildete Vlissingen die haupt-
sächlichste militärische Sperre der Schelde. Gegenwärtig überwiegt
aber bei weitem das Handelsinteresse, und hat die Stadt dieser Rück-
sicht wegen ihre an der Nordostseite nächst dem Bahnhofe gelegenen
Hafenbassins wesentlich erweitert und vermehrt, wodurch sie in den
Besitz eines der besten Seehäfen Hollands und prächtiger Hafenwerke
kam, die nicht nur gestatten, bei jeder Zeit und Witterung die grössten
Seedampfer aufzunehmen, sondern auch im Winter bei stärkstem Eis-
gange für die Schiffahrt offen bleiben. Vlissingen ist der einzige eis-
freie Hafen an der belgisch-holländischen Küste.
Die Schelde hat bei Vlissingen 4·6 km Gesammtbreite, ein Fahr-
wasser von 3 km Breite und eine Tiefe von 14 m bei niedrigem
und 17 m bei hohem Wasser, ein Vorzug, welchen wenige Häfen
dieser Küste aufweisen, und welcher der Schiffahrt zu grossem Vor-
theile gereicht, weil die tiefstgehenden Schiffe unmittelbar an den
Hafenquais anlegen können, um ihre Ladung zu löschen, respective
einzunehmen.
Den Haupthandel und Verkehr von Vlissingen vermitteln die
Dampferlinien „Zeeland“ (Verbindung zwischen England und dem
Continent) und die „Castleline“ (Verbindung zwischen England, Holland
und den ostafrikanischen Häfen), von welchen Linien die Direction
der Dampfschiffahrtsgesellschaft „Zeeland“ die Hauptagentur in
Vlissingen unterhält. — Die Dampferlinie „Zeeland“, welche im Jahre
1875 unter dem Protectorate seiner kgl. Hoheit des Prinzen Heinrich
der Niederlande eröffnet wurde, hat in der kurzen Zeit ihres Be-
stehens einen Weltruf erlangt, und wird diese Linie mit Recht als
die sicherste, comfortabelste und schnellste Verbindung zwischen Eng-
land und dem Continent gerühmt; ihre nach den neuesten Principien
der Technik gebauten Dampfer können an Schnelligkeit den besten
Dampfern dieser Art gleichgestellt werden und gelten, was Einrichtung
und Comfort anbelangt, als Muster. In der That trifft man solch
pompöse Schiffseinrichtung und Bequemlichkeit für eine so kurze
Seefahrt nirgendwo anders an.
Ein neuerdings errichteter Dienst ab diesem Hafen ist der der
Woermannlinie, welche regelmässig bei ihren Reisen nach dem Congo
im hiesigen Hafen anlegt, um die hier zu verschiffenden Sendungen
aufzunehmen.
Gegenwärtig zählt die Stadt ungefähr 12.000 Einwohner.
[669]Antwerpen.
Vlissingen spielte wiederholt eine wichtige Rolle in der Geschichte; die
Stadt war die erste der Niederlande, welche 1572 den freiheitlichen Ideen sich
anschloss.
Im dortigen Hafen hatten sich 1556 Karl V. und 1559 Philipp II. ein-
geschifft, um die Niederlande nie mehr zu betreten. 1809 wurde die Festung von
den Engländern beschossen und zur Capitulation gezwungen.
Ueber die Stadt ist nicht viel zu berichten. Sehenswerth sind
jedoch die aus dem XV. Jahrhundert stammende St. Jakobskirche
und die im Rathhause aufbewahrten Antiquitäten.
De Ruyter wurde 1841 nächst dem Hafen ein Erzstandbild ge-
setzt. Auch die Erinnerung an die holländischen Dichterinnen El. Wolff-
Becker und Ag. Becker und den zu Vlissingen 1757 geborenen Dichter
Jac. Bellamy ist durch Monumente geehrt.
Der Hafen von Vlissingen steht mit Middelburg, der Haupt-
stadt der Provinz Zeeland, durch einen 1872 vollendeten Schiffahrts-
canal in Verbindung, längs welchem, wie unser Plan der Schelde-
mündung zeigt, die Eisenbahn fährt. Middelburg besitzt ausserdem
eine Seeverbindung nach Nordosten, den sogenannten Middelburg-
Haven.
Mehrere sehenswerthe Baudenkmale und Sammlungen bilden
eine Zierde der Stadt. Zu erwähnen ist die grosse Schiffswerfte „De
Schelde“, von welcher mehrere grosse Seedampfer vom Stapel liefen,
während andere dort noch im Bau begriffen sind.
Vlissingen dürfte bald als Badeort eine nicht geringe Stellung
einnehmen; schon vor einigen Jahren wurde ein prächtiges Badehôtel
in unmittelbarer Nähe der Stadt am Strande eröffnet, dessen ausge-
dehnte Räumlichkeiten einer grossen Zahl von Badegästen Unterkunft
zu bieten vermögen. Die Aussicht auf die See von diesem prächtig
gelegenen Punkte ist eine überaus fesselnde.
Um einen Theil des Handels von Antwerpen auf holländisches
Gebiet abzulenken, bauten die Niederländer eine Eisenbahn nach
Vlissingen, ihren am weitesten nach West vorgeschobenen Hafen an
der Schelde. Zwei breite Arme des Mündungsgebietes dieses Flusses
mussten auf hohen Dämmen überschritten und grossartige Hafenan-
lagen, welche 1873 dem Verkehre übergeben wurden, errichtet werden.
Die Bassins von Vlissingen sind belebt, sein Schiffsverkehr
steigt ungewöhnlich rasch, weil Vlissingen als Platz für die Ueber-
fahrt nach London immer mehr in Aufnahme kommt.
Die Benützung der Route Vlissingen-Queenborough (108 Seemeilen) bietet
die kürzeste Fahrt auf den Strecken Berlin-London (24 Stunden) und Wien-
London (33 Stunden). Es gelang der niederländischen Gesellschaft „Zeeland“ mit
[670]Der atlantische Ocean.
ihren kräftigen Schiffsmaschinen, welche das pünktliche Eintreffen sichern, die
deutsch-englische Post von dem Hafen Ostende abzulenken, und da überdies ab
Vlissingen der kaiserlich deutsche ambulante Postwagen mit den deutschen Be-
amten verkehrt, die während der 4 Stunden, die der Schnellzug auf niederländi-
schem Gebiete zurücklegt, die Poststücke bearbeiten, so wird Ostende nicht so-
bald die alte Stellung zurückgewinnen.
Mit Queenborough besteht täglich zweimal Verbindung. Die günstige Lage
Vlissingens in Bezug auf das mittlere Europa ist auch entscheidend dafür, dass
die Castle Mail Packets Cy. hier zweimal im Monate landet, auf ihren Linien
London-Capstadt-Delagoa-Bai-Madagaskar-Mauritius, und als die ostasiatische
und australische Linie des Norddeutschen Lloyd eingerichtet wurde, trat
Vlissingen als Anlaufshafen für Westdeutschland mit Antwerpen in Mitbewerb,
ohne jedoch sein Ziel zu erreichen.
Der Petroleumhandel nimmt hier immer mehr Bedeutung an; an dem am
weitesten nördlich gelegenen Hafentheile ist bereits ein Petroleumbassin vollendet
und ein zweites ist im Bau begriffen. — Die Anlagen sind gross und ausgedehnt
und mit den neuesten Einrichtungen für die gefahrlose Ausladung des Steinöls
ausgestattet. Die in unmittelbarer Nähe der Bahnhöfe gelegenen, mit Schienen-
strängen versehenen Anlagen gestatten ein Aus- und Einladen der Waaren in
der kürzest möglichen Zeit, wobei die Zufuhr, respective der Abgang, meistens zu
Wasser, mit speciell zu solchen Zwecken erbauten Schiffen stattfindet.
Der Schiffsverkehr von Vlissingen betrug:
| [...] |
Die niederländische Flagge beherrscht diesen Verkehr.
Folgende Staaten sind durch Consulate in Vlissingen vertreten: Deutsches
Reich, Frankreich (V.-C.), Belgien (V.-C.), Russland (V.-C.), Vereinigte Staaten
von Nordamerika (V.-C.), Venezuela (V.-C.), Italien (V.-C.), England (V.-C.),
Oesterreich-Ungarn (V.-C.), Spanien (V.-C.), Portugal (V.-C.).
[[671]]
Rotterdam.
Der weitgedehnten holländischen Tiefebene hat die Natur den
Reiz der Abwechslung versagt. Wie die bestrickende Schönheit des
Golfes von Neapel, das grossartige Bild Constantinopels, die gewal-
tige Natur des Hochgebirges oder die Herrlichkeit von Rio Janeiro
in unserer Vorstellung leben, ebenso ist uns die völlig heroische Ein-
tönigkeit der holländischen Landschaft bekannt. Hier scheint die
Natur sich Enthaltsamkeit auferlegt zu haben, aber Fleiss und Künstler-
hand haben gleichwohl den Boden mit dem Reize der Poesie geziert,
und holländische Art hat ihn geadelt.
So klein das Land, so gross ist seine Geschichte, so bedeu-
tend seine Stellung auf allen Gebieten des menschlichen Schaffens.
Holland ist nicht allein das Land der Tulpen und der Häringe,
sondern auch des Fleisses und der zähen Ausdauer, und die lebens-
frohen Söhne dieses den Wellen abgerungenen Bodens sind ebenso
tüchtig am Pfluge wie auf hoher See, ebenso gross als Entdecker
wie als Seehelden. Ihr Handel war Welthandel, ihre Kunst ein Ele-
ment des Glanzes wie ihre Leistung auf rein wissenschaftlichem
Gebiete.
Mit bewunderungswürdiger Zähigkeit vertheidigt der Holländer
die Deiche und Polder seines geliebten Vaterlandes gegen die zer-
störende Gewalt des Meeres, und mit Stolz gedenkt er des althollän-
dischen Spruches: „Gott hat die See, wir die Küsten geschaffen.“
Wie frivol musste Napoleon I. dem tüchtigen Volke erscheinen
als er Holland „für eine Anschwemmung der französischen Flüsse“
erklärte und der ehrwürdigen Tradition spottend das Land mit seinem
Reiche vereinigte!
In seinen Schutzbauten und Canälen hat Holland eine enorme
Arbeit aufgespeichert. Namentlich ist der Reichthum an Canälen be-
wunderungswürdig. Was die alte Republik Venedig auf dem Gebiete
der künstlichen Wasserstrassen geleistet hat, erscheint mit dem hol-
[672]Der atlantische Ocean.
ländischen Canalnetze verglichen unbedeutend. Freilich zwang die
Natur des Bodens in Holland zur Schaffung von Canälen, und so
finden wir das Land von Wasserwegen nach allen Richtungen durch-
zogen. Die Canäle sind theils Schiffahrtstrassen, theils Ableitungen
des überflüssigen Wassers, oder auch nehmen sie die Stelle von Ein-
friedungen von Feldern und Gehöften ein, sind also „Wasserzäune“.
Am hervorragendsten durch seine Wichtigkeit für den Seeverkehr von
Amsterdam ist der neue Nordseecanal, die eigentliche Lebensader des
holländischen Venedigs. Bedeutend sind auch der nordholländische
Canal, der neue in Bau stehende Rheincanal (Merwede), der grosse
Wilhelmcanal in Nordbrabant u. a.
Wichtige Communicationen bilden nach Durchführung gross-
artiger Regulirungsarbeiten die der Nordsee zuströmenden Flüsse,
welchen vorzugsweise Rotterdam seine mächtige Anziehungskraft ver-
dankt, denn nächst dieser aufstrebenden Stadt vereinigen sich die
Gewässer der Maas, Waal, der westlichen Yssel und des Leck, wo-
durch Rotterdam zur eigentlichen Rheinmündungsstadt und zum ersten
Hafenplatze Hollands geworden ist.
Ein Schiffsverkehr von mehr als 16 Millionen Tonnen im Ein-
und Auslauf bewegt sich alljährlich durch das West-Gat und Brielle-
Gat in die Maasmündungen von und nach Rotterdam. Fürwahr eine
grossartige Schiffahrtsbewegung!
Wie unser Plan der neuen Maas zeigt, liegt Rotterdam unter
51° 55′ nördl. Breite und 4° 29′ Ost von Greenwich und ungefähr
36 km flussaufwärts der Maasmündungen an beiden Ufern der neuen
Maas. Die letztere empfängt nächst Vlaardingen die Oude-Maas (alte
Maas) und theilt sich in zwei Arme, zwischen welchen die langge-
streckte Insel Rozenburg liegt. Beide Wasserwege sind für Seeschiffe
praktikabel, jedoch hat die Nieuwe Maas (neue Maas), auch Nieuwe
Waterweg genannt, durchwegs tieferes Fahrwasser (im Minimum
6·5 m) welches bei Hochwasser (die Flut steigt im Durchschnitte
1·7 m) selbst für die grössten Handelsschiffe ausreicht.
Die Schiffbarmachung des neuen Wasserweges von Rotterdam
zur See kostete mit Schluss des Jahres 1887 bereits 27·7 Millionen
holländische Gulden. Es muss hier bemerkt werden, dass das West-
Gat ein künstlich hergestellter Durchbruch des Gebietes bei Hoek van
Holland, somit eine Ableitung der Maas ist.
Nächst der Gabelung der beiden Maasarme, und zwar westlich
von Wel Plaat, mündet der breite und schnurgerade Voorne-Canal
(H), welcher die gleichnamige Insel durchschneidend, nach der am
[[673]]
Rotterdam.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 85
[674]Der atlantische Ocean.
Südufer derselben liegenden Festung Hellevoetsluis führt, wo sich die
Reichsmagazine, grosse Schiffswerften und Docks befinden.
Die Uferlandschaften der Maas gleichen im Allgemeinen jenen,
welche wir an der Schelde gemustert haben, jedoch herrscht auf erst-
genannter mehr Leben und Abwechslung, denn am Nordufer haben
sich mehrere Städtchen angesiedelt, deren Thürme und Häusergruppen
über den Deichen sichtbar sind. Maassluis, Vlaardingen und Schiedam
liegen am nächsten und stehen durch Canäle mit dem Flusse in
directer Verbindung. In weiter Ferne glänzen die Baulichkeiten der
auf dem flachen Plan zerstreuten Gehöfte und Ortschaften, von welch
letzteren das freundliche, nordwestlich von Rotterdam liegende Delft
wegen seiner Porzellanindustrie eines guten Rufes sich erfreut und
gegenwärtig etwa 28.000 Einwohner zählt. Eine Ufereisenbahn, welche
längs des Nordufers der Maas von Rotterdam bis zur Mündung bei
Hoek van Holland in Ausführung begriffen ist, wird die Uferstädte
mit einander verbinden und einen Anschluss an die nach Haag,
Leiden und Amsterdam führende Bahn herstellen.
Ein schöner Canal verbindet Delft mit der Maas und sendet
Abzweigungen nach Schiedam, Rotterdam und nach Delfshaven,
einem Städtchen von etwa 14.000 Einwohnern, welches seit 30. Jänner
1886 mit Rotterdam zu einer Communität vereinigt ist und bedeutende
Hafenanlagen besitzt. Durch die Einbeziehung von Delfshaven hat
Rotterdam die Ausdehnung seines Hafens und der nutzbaren Quai-
flächen ausserordentlich erweitert und wird nach Ausbau der projec-
tirten neuen Bauten einen der grossartigsten Häfen der Erde besitzen,
dessen Quais und Bassins längs beider Ufer der Maas auf einer
Länge von 7 km sich erstrecken.
Während die Regulirung der Maas die Stadt Rotterdam nur mit
10 % des aufzuwendenden Baucapitales belasten wird, ist die Her-
stellung und Verbesserung des eigentlichen Hafens grösstentheils ihrer
Initiative und Opferwilligkeit überlassen, und es muss anerkannt
werden, dass die Gemeinde hierin in grossartiger Weise thätig war,
was aus der Betrachtung hervorgeht, dass die Stadt 1852 nur Bassins
mit einer Fläche von 27·7 ha und eine Quai-Entwicklung von 10·3 km
besass, gegenwärtig aber
| [...] |
dem Verkehr zur Verfügung zu stellen vermag.
[675]Rotterdam.
Das ganze System der Hafenbassins ist aus unserem Stadtplan
von Rotterdam zu ersehen.
Die grosse Entwicklung der Hafenanlagen datirt aus der Zeit,
in welcher die Staatseisenbahnlinie von Dortrecht nordwärts mitten
durch Rotterdam hindurch geführt und mit den nordholländischen
Bahnen verbunden worden war. Der Staat war dadurch gezwungen,
die Maas zu überbrücken (Legende V) und infolge dieses Baues
wieder genöthigt, für jene Schiffe, welche keine umlegbaren Masten
haben, einen neuen Wasserweg, den Koningshaven, zu schaffen. Der
Koningshaven ist ein grandioser 150 m breiter Durchstich der Insel
Feijenoord, wodurch in der Maas die Insel Noordereiland entstan-
den ist.
Die über den Koningshaven führenden Brücken haben in der
Mitte zum Oeffnen eingerichtete Constructionen (Drehbrücken). An der
Seite der Eisenbahnbrücken erbaute Rotterdam die stabile Willems-
brug und die Koningsbrug; die Stadt durchbrach Strassen, errichtete
Quaimauern und Magazine. Unterdessen hatte die Staatseisenbahn den
mächtigen, die Stadt hoch über dem Strassenpflaster in einer Länge
von 1·5 km durchschneidenden Eisenbahnviaduct errichtet, und all-
mälig wurden (1879) die grossen Bassins Spoorweghaven (Eisenbahn-
hafen) und Binnenhaven mit ausgedehnten Magazinen und Schienen-
wegen durch die Rotterdam’sche Handelsvereinigung mit einem Auf-
wande von 13 Millionen Gulden erbaut, gelangten aber 1882 bei
dem Zusammenbruche derselben um 4 Millionen Gulden in den Be-
sitz der Stadt.
Auch die rheinische Eisenbahn hat die Linie nach Rotterdam ver-
längert und die Communicationsmittel der Stadt wesentlich erweitert.
Zu Gunsten des Petroleumhandels wurde bereits 1874 am linken
Maasufer gegenüber von Delfshaven ein Petroleumhafen gebaut, wel-
cher über 6 Reservoirs in Eisenconstruction (19 m Durchmesser und
10 m Höhe) verfügt, deren jedes 2·8 Millionen Liter fasst. Drei dieser
Tanks sind in den Boden eingesenkt, die anderen aber oberirdisch.
Eines der grössten noch gegenwärtig in Ausführung begriffenen
Werke ist der neue Rijnhaven (Rheinhafen, R), dessen Bau 1884
begonnen hat. Dieses grossgeplante Bassin ist dazu bestimmt, um
den zahlreichen Rheinfahrzeugen einen geschützten Winterhafen zu
bieten. Bis jetzt mussten jene Fahrzeuge, welche in Rotterdam Ladung
suchten oder durch die Eisbildung an der Rückfahrt verhindert
wurden, im offenen Hafen, wo sie allen Gefahren des Eisganges aus-
gesetzt waren, verweilen.
85*
[676]Der atlantische Ocean.
Der Rijnhaven, von welchem gegenwärtig mehr als 11 ha mit
3 m Tiefe ausgehoben sind, kann bis zu einer Wasserfläche von
30 ha erweitert werden. Es liegt aber ein Project vor, welches den
Ausbau auf 14 ha Fläche bei 7 m Wassertiefe zum Gegenstande hat,
wodurch das geräumige Bassin auch für grosse Seeschiffe prakti-
kabel wäre. So drängt ein Project das andere, jedes grösser als sein
Vorgänger.
Der Grossartigkeit der Hafenanlagen entsprechend ist auch der
Reichthum an Maschinen und sonstigen Hilfsmitteln für den Handels-
verkehr. Nächst der rheinischen Eisenbahnstation sind 10 Krahne thätig,
davon drei mit einer Hebefähigkeit von 10, 20 und 25 t; am linken
Ufer bestehen 43 Dampfkrahne, von welchen der grösste 30 t zu
heben vermag, und 8 Dampfgangspille.
Die Werfte und Maschinenfabrik der 1823 gegründeten Neder-
landsche Stoomboot-Maatschappij (X) besitzt auf Feijenoord einen
Dampfkrahn für 60 t, und die Gesellschaft zur Hebung gesunkener
Schiffe einen solchen für 20 t Last.
Im Jahre 1886 liess die Stadt einen hydraulischen Kohlenele-
vator im Binnenhafen erbauen, mittelst welchem die Seedampfer 200 t
Steinkohle in einer Stunde einzuladen vermögen, auch besteht ein
Waggonhebewerk (Tragfähigkeit 15 t) zur schnellen Einschiffung des
Oels in die Flussdampfer.
Dagegen bestehen am rechten Ufer der Maas keine öffentlichen
Waarenmagazine, jedoch besitzen die Kaufherren von Rotterdam
theils private Magazine längs der älteren Bassins der Stadt, theils
lassen sie ihre Waaren an den Quais unter freiem Himmel lagern.
Am linken Ufer hingegen bestehen Hangars mit einer Gesammt-
bodenfläche von 56.367 m2, von welcher 16.800 m2 der Staatsbahn,
der Rest aber der Stadt gehören.
Für die Vertäuung der Schiffe sind auf der Maas 56 Bojen
verankert worden. Eine eigene Gesellschaft (Berging-Maatschappij)
befasst sich wie der 1886 gegründete Nordische Bergungsverein in
Hamburg mit der Hebung der an der holländischen und belgischen Küste
oder in den Flüssen gesunkenen Schiffe und Bergung der Ladungen.
Die Stadt besitzt zwei eiserne Schwimmdocks, eines von 90 m
und eines von 48 m Länge; diese können auch für die Benützung
durch grössere Schiffe vereinigt werden und haben dann eine Ge-
sammtlänge von 138 m. Ein drittes Dock von 110 m Länge ist im
Bau begriffen. In Privatbesitz stehen ein schwimmendes Holzdock,
eine Aufholwerfte und mehrere Bauwerften.
[677]Rotterdam.
Für den Piloten- und Schleppdienst ist bestens vorgesorgt, und
seit 1824 besteht eine Rettungsgesellschaft, welche eine Zahl von
Rettungsbootstationen an der Küste unterhält, die unter einander in
telegraphischer Verbindung stehen und eine segensreiche Wirksamkeit
entfalten.
Aus der Aufzählung der enormen Hilfsmittel, über welche der
Hafen von Rotterdam verfügt, welche Hilfsmittel das Werk eines
verhältnissmässig kurzen Zeitabschnittes sind, ist das zielbewusste
Streben der leitenden Persönlichkeiten seines Gemeinwesens zu
ersehen. Aber aus all dem vermag man sich auch einen Begriff von
A Norddamm, B Süddamm, C Pan-Arm, D Bank-Arm, E Bassin, F Leuchtfeuer, G Rettungsbootstation
Langedoen, H Vornecanal und neue Schleusse, J Oude Maas, K Wracks gestrandeter Schiffe.
dem kräftigen Pulsschlag des Verkehres zu bilden, welcher in
Rotterdam concentrirt ist.
Eine Promenade längs der Bassins und Canäle, welche die
ganze Stadt durchziehen, dann an den breiten Quais der imposanten
Wasserfläche der Maas, auf welcher Schiffe jeder Grösse und allen
Nationen angehörend sich zusammengefunden haben, ist ein ab-
wechslungsreicher und anregender Zeitvertreib. Durch die Grösse
der Dampfer, die dort anlegen, ist hauptsächlich der Quai zwischen
dem Westerhaven (B) zur Willemsbrug sehr interessant, und zwar
legen am Willemskade die nach Bordeaux und Liverpool verkehren-
den Dampfer, am Boompjesquai die nach Hull, Hâvre und London
bestimmten an. Die Dampfer für Antwerpen haben den Anlegeplatz
am Eingange zum Oude Haven (H), wovon sich gegen den Bahnhof
[678]Der atlantische Ocean.
der rheinischen Eisenbahn jene für den Verkehr mit Brielle, Middel-
burg, Dortrecht und Gouda anreihen.
Die grossen Auswandererschiffe kann man an der Südseite von
Noordereiland nächst dem Gebäude der Niederländisch-Amerikanischen
Schiffahrtsgesellschaft sehen, und in den verschiedenen Hafenbassins
liegen die West- und Ostindienfahrer, welche die reichen Producte
dieser Gebiete, Thee, Gewürze, Kaffee, Reis, Tabak u. a. nach Hol-
land bringen.
Im Hafen herrscht ein ausserordentlich reges Treiben; die an-
kommenden und abfahrenden Schiffe, die Dampfer des Localverkehres,
Fluss- und Seefahrzeuge jeder Art kreuzen sich hier unausgesetzt,
und mitten durch verfolgt das Auge die ebenmässigen Formen der
den Fluss überspannenden Eisenbrücken, die an die malerische Quai-
front der alten Stadt sich anschliessen.
Rotterdam ist vielfach von Canälen durchzogen, in welche
das Rotteflüsschen einmündet. Schleussen und zahlreiche Drehbrücken
und Ueberwölbungen vermitteln den Verkehr auf dem Wasser und
zu Lande. Die Strassen sind gerade geführt und manche, wie z. B.
die prächtige Hoogstraat, von imponirender Länge. Im westlichen
Theile derselben befindet sich die im Renaissancestyl 1879 erbaute
reizende Passage.
Eine eigentliche Charakteristik erhält das Bild der Stadt durch
den genial angelegten Viaduct der Staatsbahn, dessen wir oben be-
reits gedachten. Die Hauptstation dieser Bahn liegt nächst der Börse,
die, 1722 erbaut und 1868 reconstruirt, eines der vornehmsten Ge-
bäude von Rotterdam ist. In der Nähe befindet sich das grosse
freistehende Post- und Telegraphengebäude und nächst des Blaak-
havens (E) erhebt sich der sehenswerthe, mit Bronzereliefs gezierte
Seefischmarkt.
Unter den 18 Kirchen der Stadt ist die Groote-Kirche (Lauren-
tius-Kirche) die grösste und sehenswertheste. Dieselbe ist ein gothi-
scher Ziegelbau, der 1477 vollendet wurde. Von der Höhe des 64 m
hohen unvollendeten Thurmes geniesst man eine Fernsicht in die
holländische Ebene bis Leiden, Haag und Dortrecht. Im Inneren der
Kirche befinden sich die marmornen Grabmäler einiger holländischer
Seehelden, wie des Viceadmirals Witte Cornelisz van de Witte (gest.
1658), Cortenaer (gest. 1665), des Contreadmirals van Brakel (gest.
1690) u. a. m. Berühmt ist die grosse Orgel, welche 72 Register und
4782 Pfeifen bei drei Claviaturen zählt und an Umfang und Ton
jener zu Haarlem gleicht.
[679]Rotterdam.
Eine Sehenswürdigkeit der Stadt ist auch das Museum Boymans
(17), welches eine sehr interessante Bildergallerie meist niederländi-
scher Meister enthält.
Das alte Gebäude wurde 1864 durch eine Feuersbrunst einge-
äschert, wobei nur 163 Gemälde gerettet wurden. Seither ist die
Gallerie durch Schenkungen auf 350 Nummern bereichert worden.
Im Museum voor Geschiedenis en Kunst ist eine werthvolle
Antiquitätensammlung untergebracht, und das maritime Museum im
ehemaligen Gebäude des Yachtclub enthält eine reiche ethnogra-
phische Sammlung und eine Collection die Entwicklung der Schiffahrt
betreffender Objecte.
Ein malerisch angelegter zoologischer Garten (Diergaarde), dann
der grosse mit Restaurationen, Cafés und Pavillons ausgestattete Park,
endlich im Osten der Stadt die neue Plantage sind die beliebtesten
Versammlungsorte der lebensfrohen Bevölkerung und der zahlreichen
Fremden. Im Parke wurde 1860 dem Liebling des Landes, dem
Dichter Henrik Tollens ein Marmorstandbild errichtet. Das Andenken
an Erasmus von Rotterdam, den berühmten Humanisten, einen Sohn
dieser Stadt (geb. 23. October 1466 und gestorben zu Basel 12. Juli
1536) ist durch das am Grossen Markt 1622 errichtete Bronzestand-
bild des Gelehrten in dankbarer Erinnerung gehalten.
Rotterdam hatte am 1. Jänner 1889 eine Bevölkerung von
197.722 Einwohnern. Neue Stadttheile und ein reizendes Villenviertel
entstehen, und keine fortificatorischen oder Terrainhindernisse stehen
der fortschreitenden Erweiterung entgegen. Entsprechend der rapiden
maritimen und commerciellen Entwicklung des Platzes schreitet auch
die räumliche Entfaltung der eigentlichen Stadt selbst voran.
Die Geschichte Rotterdams lässt sich bis in das XI. Jahrhundert zurück-
führen, in welchem die Stadt zum erstenmale genannt wird. Im Jahre 1272 mit
Mauern umgürtet, erhielt sie die Stadtrechte und stieg von da ab bald zu An-
sehen auf. 1480 eroberte sie Franz von Brederode und vertheidigte sie gegen
den Erzherzog Maximilian von Oesterreich. Nun gerieth Rotterdam 1572 für kurze
Zeit in die Gewalt Spaniens, schloss sich hierauf den Generalstaaten an, welche
ihr 1580 Sitz und Stimme im Senat verliehen.
Rotterdam ist ein alter Handelsplatz der Niederlande, der aber
im Mittelalter von Dortrecht und seit der Unabhängigkeit der Nieder-
lande von Amsterdam gedrückt wurde; nur ein Sechzehntel des Ca-
pitales der holländisch-ostindischen Cie. von 1602 war den Kauf-
leuten von Rotterdam vorbehalten.
Der Aufschwung des Rotterdamer Hafens begann in der zweiten
Hälfte unseres Jahrhunderts nach einer langen Zeit des Stillstandes,
[680]Der atlantische Ocean.
welchen Antwerpen zur Begründung seines neuerlichen Glanzes ge-
schickt benützte. Die riesigen Anstrengungen der Rotterdamer Kauf-
leute, durch Verbesserung des Fahrwassers des Rhein-Maas-Stromes
und Schaffung wohldurchdachter Eisenbahnverbindungen der Nieder-
lande mit den Nachbarstaaten die geographische Lage ihrer Vater-
stadt voll und ganz auszunützen und Rotterdam „zum Hamburg am
Rhein“ zu erheben, haben einen offensiven Charakter gegenüber
Amsterdam, der alten Capitale des holländischen Handels, und einen
defensiven gegenüber dem jüngeren Rivalen Antwerpen. Heute ent-
fallen auf Rotterdam 54 %, also mehr als die Hälfte des Schiffsver-
kehres, und 42 % der Einfuhr des ganzen Staates.
Von Rotterdam, dem Mündungshafen der Maas und des Rheines,
fahren die Dampfschiffe auf dem letzteren aufwärts bis Mannheim,
und wenn das Project, die Erbauung eines Seitencanales von Lud-
wigshafen bis Strassburg, zur Ausführung kommt, wird Strassburg
das Ende der Dampfschiffahrt auf dem Rheine sein, und Strassburg
ist von der schweizerischen Einbruchstation Basel nur mehr 141 km
entfernt und der Ausgangspunkt des Rhein-Rhône- und des Rhein-
Marne-Canales.
In kurzer Zeit werden drei Eisenbahnlinien parallel mit den
Mündungsarmen des Rheines nach Osten führen, eine vierte und fünfte
Linie machen die Gebiete im Norden und Süden Rotterdams diesem
dienstbar.
In der nächsten Zeit können nur die Bemühungen Amsterdams,
das 1891 eine gute Canalverbindung zur Merwede bei Dortrecht er-
hält, und die weitere Entwicklung der directen Seeschiffahrt aufwärts
bis Köln dem Handel Rotterdams Eintrag thun, der nach der Union,
nach Westafrika und vor allem nach Niederländisch-Indien ge-
richtet ist.
Wir werden nun die einzelnen Handelsartikel durchgehen und auch die
Stellung Rotterdams zu Amsterdam genauer ins Auge fassen.
Bei der Einfuhr müssen wir in erster Linie die Colonialwaaren nennen
besonders Kaffee, für welchen Artikel Rotterdam einer der Hauptstapelplätze
Europas und wichtiger als Amsterdam ist. Derselbe stammt zum Theile aus den
niederländischen Colonien, besonders aus Java.
Seit der Einführung des Termingeschäftes wird auch etwas Santoskaffee
gehandelt, was um so nothwendiger ist, als die Ernten auf Java besonders seit
1886 nicht mehr so viel liefern, um die Märkte der Niederlande zu versorgen.
Die Niederländische Handelsgesellschaft (Nederlandsch Handel-Matschappij)
besorgt den Verkauf der Regierungsernten Javas und bringt vertragsmässig 15/42
derselben nach Rotterdam, 2/42 in das benachbarte Schiedam. Sie veranstaltete in
Amsterdam und Rotterdam Auctionen, brachte aber 1888 in letzterem nur 332.001
[[681]]
cirt; 2·2 m Hochwasser).
A Ankerbojen, B Westerhaven, C Zalmhaven, D Leuvehaven, E Blaakhaven, F Leuchtfeuer, G Wijn-
haven, H Oude Haven (alter Hafen), J Scheepmakershaven, K Nieuwe-Haven, L Haringvliet, M Boerengat,
N Buizengat, O Entrepôthaven, P Binnenhaven, Q Waarenbahnhof der Staatsbahn, R Rijnhaven,
S Eisenbahn (project.), T Canäle und Brücken (project), U Koninginnenbrug, V Eisenbahnbrücke,
W Willemsbrug, X Werfte der Nederlandsche Stoomboot-Maatschappij, Y Goudschevert-Can., Z De
Rotte, Z1 Cool Vest, Z2 Schiedamsche Vest — 1 Willemskade, 2 Park, 3 Diergaarde (Thiergarten), 4 Central-
eisenbahnstation, 5 Station der rheinischen Eisenbahn, 6 Boompjesquai, 7 Oosterkade (Quai), 8 Börse,
9 Hoogstraat, 10 deutsche Kirche, 11 Groote K., 12 Prinsen K., 13 Schutsche K., 14 Wester K.,
15 S. Anthonius K., 16 Het Heilige Hart K., 17 Museum Boymans, 18 Museum v. Onderw. en kunst,
19 Nederl. Bank, 20 Academie v. beeld. Kunsten, 21 Schouwburg (Theater), 22 Weeshuis, 23 Yachtclub,
24 Nieuwe Plantage, 25 Gasfabrik, 26 Groot Zickenhuis (Siechenhaus).
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 86
[682]Der atlantische Ocean.
Ballen, die Privaten in erster Hand auch nur 363.061 Ballen, also zusammen
695.062 Ballen zum Verkaufe gegen 1,507.457 Ballen im Jahre 1883.
Man sieht, Rotterdams Bedeutung als Kaffeeplatz ist in den letzten Jahren
stark gesunken. Die Errichtung einer Dampferlinie nach Buenos Ayres mit Sta-
tionen in Brasilien im December 1888 wird vielleicht den Kaffeehandel auf Basis
brasilianischer Lieferungen neu beleben.
In Rotterdam erscheinen ferner die Kaffeesorten von Macassar, Afrika und
La Guayra.
Die Kaffee-Einfuhr von Rotterdam betrug 1889 405.904 q, 1888 423.760 q,
1887 419.920 q, 1886 464.131 q.
Ueber Rotterdam erfolgt die Hälfte der Gesammteinfuhr von Thee mit
2,932.000 kg im Jahre 1888.
Die Einfuhr aus Java ist doppelt so gross wie die aus China.
In Rohzucker ist Rotterdam weniger wichtig als Amsterdam, in Raffi-
nade geht es diesem voran.
Die Einfuhr von Rohzucker belief sich 1889 auf 394.256 q, 1888 auf
568.420 q, 1887 auf 377.220 q und die von Raffinade 1888 auf 174.380 q, 1887
auf 164.620 q, die erstere kam aus Deutschland und Belgien, letztere fast aus-
schliesslich aus Deutschland.
Die Einfuhr von Tabak und Cigarren ist in Rotterdam ungefähr der
Amsterdams gleich; sie betrug 1889 213.142 q, 1888 204.100 q, 1887 223.760 q
und erfolgte aus Java, Sumatra und Nordamerika. Grosse Mengen Java- und
Sumatratabak werden in Rotterdam verarbeitet.
Die Einfuhr von Gewürzen betrug 1888 2,255.000 kg und stammte aus
Englisch- und Niederländisch-Hinterindien; die wichtigsten Artikel sind Muscat-
nüsse und Blüthen, Gewürznelken und Pfeffer.
Rotterdam ist der erste Platz der Niederlande für Droguen mit
einer Einfuhr von 1,438.620 q im Jahre 1888 und 1.469.710 q im Jahre 1887.
Aus dieser Gruppe sind besonders hervorzuheben Cajaputiöl, Cassia vera
aus Sumatra, Benzoë, Copalgummi von Macassar und Portugiesisch-Westafrika,
Damargummi aus Niederländisch-Indien und Gummi elasticum aus Westafrika und
Nicaragua.
Zu nennen ist endlich Indigo aus Java (Einfuhr 1888 11.240 q).
Sehr bedeutend ist die Einfuhr von Cerealien aus dem Auslande, da
Holland seinen eigenen Bedarf nicht decken kann; der grössere Theil der Einfuhr
geht aber weiter nach Deutschland. Rotterdam erhielt an Weizen 1888 4,077.050 q,
1887 4,472.100 q aus Südrussland und von der unteren Donau, Nordrussland und
die deutschen Häfen treten ganz zurück.
Aus denselben Ländern kommen auch Roggen 1889 3,367.971 q, 1888
4,157.470 q und Gerste 1889 4,282.447 q, 1888 1,500.250 q.
Hafer (1889 1.151.167 q, 1888 1,709.270 q) wird fast nur über Rotterdam
in die Niederlande eingeführt. Viel Hafer kommt aus Libau und Riga.
Rotterdam führt nicht mehr Reis ein als Zaandam. Bezugsländer sind
Englisch-Hinterindien, dann Japan und Java. Die Einfuhr erreichte 1888 489.360 q,
1887 359.680 q.
Auf die übrigen Getreidegattungen entfielen 1888 434.370 q, das ist wie bei
Mehl die Hälfte der Einfuhr der Niederlande. Mehl wird aus Deutschland über
Hamburg, aus Nordamerika, Belgien gebracht. Einfuhr 1888 590.530 q.
[683]Rotterdam.
Von der Einfuhr der Niederlande an frischen wie getrockneten Früch-
ten aller Art entfällt auf Rotterdam ungefähr ein Drittel. Frisches Tafelobst liefert
besonders Preussen, Südfrüchte Italien, und viel davon kommt über Belgien und
Grossbritannien ins Land; Columbia und Venezuela sind betheiligt an der Ein-
fuhr von 84.660 q. Getrocknete Früchte senden die Türkei und die jonischen
Inseln, ferner Belgien, Deutschland und England. Einfuhr 1888 102.130 q.
Von Wein in Fässern gingen 1888 170.310 q über Rotterdam nach Holland;
sie stammten aus Frankreich, Deutschland, Portugal, Spanien und Italien, Flaschen-
weine (1888 54.800 q) liefert fast ausschliesslich Deutschland vom Rheine her.
Auch vegetabilische Oele, besonders Palmöl, sind ein wichtiger Artikel
Rotterdams. Ein grosser Theil des eingeführten Palmöls (1888 12.857 t) wird in
den benachbarten Fabriken von Schiedam und Gouda verarbeitet.
Von Spinnstoffen ist nordamerikanische Baumwolle zu nennen, deren
Einfuhr seit 1886 um die Hälfte gestiegen ist und 1888 151.940 q erreicht.
Rotterdam ist der erste Einfuhrplatz der Niederlande für Flachs und
Hanf mit 64.680 q im Jahre 1888 und für Schafwolle mit 101.900 q.
Verhältnissmässig bedeutend (93.320 q) ist auch die Einfuhr von Lumpen
aus Preussen, Belgien und England.
An Saaten und Sämereien führte Rotterdam 1888 834.310 q, etwa 30 % der
Gesammteinfuhr, ein, den Haupttheil bilden Lein- und Hanfsamen aus Russland.
Die Einfuhr von Kartoffelmehl und Stärke aus Deutschland erreichte die
Höhe von 91.870 q, gleich der Hälfte der Gesammteinfuhr des Landes.
An Schiffbau- und Zimmerholz etc. kommt über Rotterdam nur die
Hälfte dessen zur Einfuhr, was über Amsterdam geht, 1888 841.800 q, welche aus
Schweden, Russland, Norwegen und Deutschland stammten. In feinem Werkholz
aber ist Rotterdam der erste Platz der Niederlande, 1888 mit 55.660 q aus Belgien
und Nordamerika. Die Einfuhr von Farbhölzern aus Haïti und Mexiko entfällt
fast allein auf Rotterdam, das den Handel Antwerpens in Campecheholz an sich
gezogen hat. Einfuhr 1888 253.650 q.
Auch die Einfuhr von Harzen aus Nordamerika entfiel fast ganz auf Rotter-
dam, 1888 218.220 q.
Terebinthenöl kommt aus der Union, Theer und Pech aus demselben Lande
über England und aus Russland.
Dagegen entfällt von Stuhlrohr aus Java und Sumatra auf diesen Hafen
die Hälfte der Einfuhr des Reiches, 1888 15.160 q.
Von thierischen Producten sind bemerkenswerth Fischöl, Thran (1888
160.030 q) und Fische (55.220 q), besonders Stockfische aus Norwegen.
Die Einfuhr von Margarin, das nur theilweise auf dem Seewege nach
Rotterdam gelangt, weist eine stetige Steigerung auf. Die Union allein sendete
1889 368.000 q, 1888 259.500 q hieher; an sie reihen sich Frankreich und Oester-
reich-Ungarn.
Die Einfuhr von Schmalz amerikanischer Provenienz, von Talg und
anderen Fetten ist eine beträchtliche, mit 415.530 q im Jahre 1888 und 477.840 q im
Jahre 1887, also mit mehr als der Hälfte der Gesammteinfuhr. Häringe und Stock-
fische aus Norwegen, Grossbritannien und Deutschland. Auch von der Einfuhr von
Schlachtvieh aus Belgien, Dänemark und von conservirtem Fleisch aus Nord-
amerika entfällt die Hälfte der Gesammteinfuhr auf Rotterdam.
86*
[684]Der atlantische Ocean.
Häute, Felle und Leder aus Belgien, Grossbritannien, Marokko und
Russland erscheinen 1888 in der Einfuhr mit 146.670 q, 1887 mit 153.220 q.
Rotterdam ist auch der erste Ort Hollands für Düngmittel; Einfuhr 1888
270.450 q.
Steinkohlen (1888 2,326.370 q, 1887 2,178.130 q) kommen aus England
und Deutschland. Für Petroleum ist Rotterdam wichtiger als Amsterdam, da 1888
381.650 q zum Verbrauch eingeführt wurden, also fast so viel wie in Amsterdam;
ausserdem war aber hier die Durchfuhr nach Deutschland 1888 nur um ein Viertel
kleiner als die für den Consum bestimmte Menge. Durch Errichtung passender
Hafeneinrichtungen für den Petroleumverkehr und die Einführung von Tankschiffen
auf dem Rheine wird die Einfuhr weiter steigen.
Der Salzhandel der Niederlande concentrirt sich am Rheine und an der
Maas, vorab in Rotterdam, das 1888 205,680 q und 1887 152.440 q einführte.
Wenige Kilometer stromabwärts liegt Vlaardingen mit einer Einfuhr von
161.680 q im Jahre 1888. Das hier eingeführte Salz stammt aus Südeuropa und
aus Preussen.
Als Rheinhafen ist Rotterdam das Eingangsthor für die grossen Mengen
nordspanischer Eisenerze, welche zumeist von Krupp in Essen verarbeitet
werden. Deren Einfuhr betrug 7,969.234 q, 1888 7,418.930 q, 1887 6,834.760 q.
Auch für unbearbeitete Metalle, unter denen Eisen und Stahl hervor-
ragen, für Metallarbeiten und Maschinen ist Rotterdam ungemein wichtig.
Unbearbeitete Metalle werden aus Deutschland, Grossbritannien und Belgien
zugeführt, Zinn aus Niederländisch-Indien; Einfuhr 1888 2,677.130 q, 1887
1,884.880 q.
Die Einfuhr von verarbeitetem Eisen betrug 1888 1,003.090 q, 1887
762.300 q, die von Maschinen 1888 120 180 q, 1887 105.840 q.
An der Einfuhr des Jahres 1888 an Porzellan und Thonwaaren aus Bel-
gien und Deutschland von 1,265.354 q hatte Rotterdam nur einen Antheil von
210.330 q, an Glas und Glaswaaren, aus denselben Ländern stammend, einen
solchen von 77.820 q.
Mehr als die Hälfte der Einfuhr der Niederlande an Garnen (1888
221.530 q), fast ein Drittel der von Manufacturen (1888 138.360 q) und zwei
Fünftel der Kurzwaaren (93.510 q), in Holland Kramerij genannt, entfallen auf
Rotterdam. Das meiste kommt aus Deutschland und England.
Bedeutend ist die Einfuhr von Tauen aus Grossbritannien und Deutsch-
land (19.590 q), auch für Papier (110.560 q) muss man Rotterdam an erster Stelle
nennen.
Dasselbe gilt für Spirituosen (1888 141.600 q, 1887 114.740 q) aus Deutsch-
land, aber nicht für Bier (1888 33.410 q).
Die Gesammteinfuhr Rotterdams wird für das Jahr 1889 mit 3,880.107 t,
für 1888 mit 3,703.956 t angegeben.
Gehen wir nun zum Ausfuhrhandel Rotterdams über, so spielen
natürlich auch hier die Colonialwaaren eine grosse Rolle, von Kaffee wurden
1888 356.960 q, 1887 320.160 q nach Deutschland und Belgien, einiges auch nach
Nordamerika, Dänemark, Oesterreich-Ungarn und Schweden versendet.
In der Ausfuhr von Tabak und Cigarren, welche 1888 104.790 q betrug,
steht Rotterdam Amsterdem nach. Die Absatzgebiete sind dieselben wie für
Kaffee.
[685]Rotterdam.
Auch im Export von raffinirtem Zucker bleibt Rotterdam hinter Amster-
dam mit einer Ausfuhr von nur 284.750 q im Jahre 1888 und 282.140 q im Jahre
1887 zurück, dafür ist es im Exporte des Rohzuckers (1888 172.980 q, 1887
237.640 q) weit voraus. Die ganze Ausfuhr geht nach den drei Nachbarländern.
Gewürze (1888 19.570 q) exportirt Rotterdam fast nur nach Deutschland
und England.
Unter den Nahrungsmitteln steht im Export Butter in erster Linie mit
380.310 q im Jahre 1888 und 504.840 q im Jahre 1887.
Auch für Käse ist Rotterdam weit wichtiger als Amsterdam, Ausfuhr 1888
170.400 q.
Dasselbe gilt für die Ausfuhr von Fischen (1888 286.170 q); man muss be-
denken, dass das Fischerdorf Vlaardingen in der Nähe liegt und Scheveningen
nicht gerade weit von hier entfernt ist.
Der Hauptabnehmer für holländisches Vieh, besonders Schlachtvieh, ist
England, daher Rotterdam (1888) an der Ausfuhr von 220.074 q mit 149.420 q
den Löwenantheil hat.
An der ziemlich ansehnlichen Ausfuhr Hollands von frischem Obst war
Rotterdam 1888 mit 169.200 q, an getrocknetem Obst 1888 mit 64.100 q be-
theiligt. Das erstere geht fast ausschliesslich nach England und Preussen, das
letztere findet in Deutschland seinen Abnehmer.
Der Export von Bier und Malzextract erreichte 1888 47.310 q und war
nach Belgien, England, besonders aber nach Java und den anderen holländischen
Besitzungen gerichtet.
Den zahlreichen überseeischen Verbindungen Rotterdams entspricht die
Grösse der Ausfuhr von Spirituosen. Arac und Rum gehen nach Belgien, Eng-
land, Preussen und Nordamerika, während Branntwein aller Art, darunter besonders
viel Genever, nach der Westküste von Afrika, nach Java und Canada geführt
wird. Schiedam, der erste Ort der Niederlande für Branntweinbrennerei, ist
keine 5 km von Rotterdam entfernt. Von der Gesammtausfuhr Hollands im Jahre
1888 mit 487.918 q versandte Rotterdam 231.850 q, im Jahre 1887 222.380 q.
Auch die Weinausfuhr, die nach den eben genannten Ländern, dann auch
nach Deutschland gerichtet ist, bildet beinahe Monopol des Rotterdamer Handels.
Von Fassweinen gingen 1888 125.060 q, von Flaschenweinen 52.760 q über Rotter-
ins Ausland.
Sehr bedeutend ist auch die Ausfuhr von verschiedenen Mineralwässern
Deutschlands nach Belgien, Grossbritannien, Java neben Nordamerika mit 84.390 q
im Jahre 1888.
Die Ausfuhr von Petroleum nach Deutschland wurde schon bei der Ein-
fuhr angeführt.
Die Ausfuhr der Niederlande an Thran, besonders an norwegischem Leber-
thran, entfällt fast ganz auf Rotterdam, nämlich Ausfuhr 1888 47.480 q.
Auch geschälter Reis wird mit nur 135.504 q angegeben.
Von der Mehlausfuhr der Niederlande geht fast ein Drittel über Rotter-
dam, so 1888 333.160 q, 1887 231.010 q. Dieser Hafen versorgt ausser Preussen
und Belgien noch England, Java und die Straits Settlements, auch Finnland und
Schweden.
Samen und Sämereien sind Gegenstand der Durchfuhr nach den Nachbar-
ländern, 1888 175.660 q.
[686]Der atlantische Ocean.
Rohbaumwolle, Flachs und Hanf, endlich Schafwolle werden in der Aus-
fuhr Rotterdams mit nicht sehr hohen Ziffern genannt. Bedeutender war die
Ausfuhr von Lumpen (1888 130.210 q).
Wie Getreide geht auch Holz an Rotterdam einfach vorbei; die Ausfuhr
von Holz ist in der Station Lobith vereinigt. Nur für Farbholz, nach Preussen
bestimmt, kommt Rotterdam als Handelsplatz zur Geltung. Ausfuhr 1888 115.320 q.
Stuhlrohr (1888 12.620 q) verschickt Rotterdam fast nur nach Hamburg.
Rohe Häute, Felle getrocknet und gesalzen sowie Leder und Lederwaaren
aller Art versandte Rotterdam 1888 109.720 q, 1887 125.130 q nach den Nachbar-
staaten. Mit Rotterdam concurrirt in diesem Artikel Hansweert an der Schelde.
Die Ausfuhr von Schmalz, Talg und thierischen Fetten 1888 mit
172.930 q ist hier die stärkste unter den Zollämtern der Niederlande.
Dasselbe gilt für Droguen, Farbwaaren und Chemikalien (1888 mit
1,031.130 q), die, ausser in die Grenzstaaten, ihren Weg auch nach Russland, Java
und Frankreich finden; ferner für Harze (209.360 q).
Die Ausfuhr von Steinkohlen beschränkt sich auf die Versorgung der
Schiffe.
Für die Wiederausfuhr von unbearbeiteten Metallen ist Rotterdam nicht
so wichtig wie für die von Metallwaaren, weil von den ersteren viel im Lande
verarbeitet wird. Die Ausfuhrziffer für das Jahr 1888 umfasst 1,050.460 q für un-
verarbeitete Metalle, die zumeist, wie die Eisenbahnschienen und Baueisenwaaren
ausser nach den Nachbarstaaten auch nach Italien, Russland, Frankreich, Nord-
amerika und Java gingen, für Metallwaaren 1,126.160 q.
Auch für Maschinen (1888 72.240 q) ist Rotterdam ein sehr wichtiger
Durchfuhrhafen.
Beiläufig ebenso gross (78.020 q) ist das Gewicht der exportirten Thon- und
Porzellanwaaren, bestimmt für die Nachbarreiche, für Java, Russland und Nord-
amerika, wohin auch (1888 85.740 q) Glas und Glaswaaren gehen. Für Papier ist
Harlingen wichtiger als Rotterdam.
Für Kurzwaaren (1888 77.720 q, 4887 95.710 q) und Manufactur-
waaren (139.130 q) ist Rotterdam Hauptausfuhrplatz der Niederlande.
Daneben wollen wir noch die Ausfuhr der (1888 21.610 q) Tauwerke nach
Deutschland und England erwähnen und die der Garne (156.370 q) nach Deutschland.
Die wichtigsten Fabriken Rotterdams sind Schiffswerften, Branntwein-
brennereien und Brauereien, eine Zuckerraffinerie, zahlreiche Tabakfabriken, che-
mische und Lederfabriken, Erzeugung von Thonwaaren, Kattundruckereien, Tauereien
und in der Umgebung Oelfabriken.
Die rasch steigende Bedeutung Rotterdams, seit 1886 die Einfahrt ver-
bessert wurde, spiegelt sich deutlich wieder in seinem Schiffsverkehr.
Der Seeschiffsverkehr von Rotterdam betrug in Cubikmeter (2·83 m3 =
1 Reg.-Ton.):
| [...] |
Im Jahre 1889 liefen von der See 4547 Schiffe mit 7,950.044 m3 ein.
Auffallend stark ist die Abnahme der Segelschiffahrt.
[687]Rotterdam.
Wie in fast allen Häfen Westeuropas nimmt England auch in Rotter-
dam die erste Stelle ein, 1888 mit 9,965.608 m3, dann folgt die holländische
Flagge mit 2,333.784 m3. An dritter Stelle steht die deutsche Flagge mit
1,591.300 m3. Grössere Wichtigkeit besitzen noch die dänische, norwegische und
spanische Flagge.
Die wichtigsten Schiffahrtsgesellschaften auf dem Rhein sind die
Köln-Düsseldorfer und die Niederländische Rhederei.
Zahlreiche Seeverbindungen bestehen nach den übrigen niederländischen,
nach englischen und deutschen Häfen.
Als Reiselinie wird die Verbindung Rotterdam-Harwich (-London)
stark benützt.
In England werden ausserdem regelmässig angelaufen London, Grimsby,
Hull, Goole, Newcastle, Leith, Glasgow, Grangemouth, Liverpool, Southampton,
Plymouth und Bristol, in den übrigen Ländern Europas Bergen, Christiania,
Hamburg, Bremen, Dünkirchen, Hâvre, Bordeaux, Oporto und Genua.
Abwechselnd mit Amsterdam gehen von hier die Schiffe der Nieder-
ländisch-Amerikanischen Dampfschiffahrt-Gesellschaft nach New-York
(3407 Seemeilen) und nach Brasilien, Montevideo und Buenos Ayres.
Die Verbindung mit Java unterhält hauptsächlich der „Rotterdamsche
Lloyd“ über Southampton und Marseille. Im Jahre 1889 wurden 15.252 Aus-
wanderer über Rotterdam nach der Union und Buenos Ayres (2420) befördert.
Die Zahl der hier verkehrenden Flussschiffe lässt sich nicht genau er-
mitteln, weil diese Fahrzeuge seit 1866 das Hafengeld im Jahresabonnement be-
zahlen dürfen. Man nimmt an, dass in Rotterdam 1889 72.351 Schiffe mit 6,695.556 m3
Gehalt auf den Binnengewässern angekommen sind; diese Ziffern wundern Einen
nicht mehr, wenn man hört, dass Rotterdam mit 65 Plätzen des Inlandes regel-
mässige Dampferverbindungen hat.
Die wichtigsten Banken sind die Bijbank der Nederlandsche Bank und die
Rotterdamsche Bank.
Am 1. Januar 1890 besass Rotterdam eine Seehandelsmarine von 52 Dampfern
mit 88.191 Reg.-Tonnen und von 34 Segelschiffen mit 23.042 Reg.-Tonnen, zu-
sammen 86 Schiffe mit 111.233 Reg.-Tonnen.
Consulate haben in Rotterdam: Argentinien, Belgien, Bolivia, Brasilien
(G.-C.), Chile, Columbia, Dänemark (G.-C.), Deutschland, Dominik. Republik, Frank-
reich (G.-C.), Griechenland, Grossbritannien, Guatemala, Honduras (G.-C.), Italien,
Congo-Staat, Liberia (G.-C.), Mexico, Monaco, Nicaragua, Oesterreich-Ungarn, Ru-
mänien, Russland, Salvador, Schweiz, Siam, Spanien, Türkei, Uruguay (G.-C.),
Venezuela, Vereinigte Staaten.
[[688]]
Amsterdam.
Im grossen Festsaale des königlichen Palastes von Amsterdam
sieht man die allegorische Gestalt der Stadt umgeben von der Kraft, der
Weisheit und dem Ueberflusse. Besser konnte die Bedeutung Amsterdams
im Culturleben der Gegenwart kaum dargestellt werden, denn Kraft
und Weisheit schufen hier Reichthum und häuften ihn zu Ueberfluss.
Obgleich fernab von der offenen See gelegen, ist Amsterdam
doch eine glänzende Königin der Meere; durch den Hafen, durch die
ruhigen Grachten, ja durch die entlegensten Gässchen streicht der
unendliche Hauch der Oceane, und der geheimnissvolle Geist Neptuns
scheint Stadt und Hafen in ewiger Gunst zu umschlingen.
Das goldene Schiff auf der Spitze des Palastthurmes verkörpert
keine Künstlerlaune, sondern symbolisirt die weltumfassende Handels-
thätigkeit Amsterdams.
Weit mehr verdient die Stadt ihres commerciellen Geistes wegen
mit Alt-Venedig verglichen zu werden, als wegen ihrer zahlreichen
Inseln, Canäle und Brücken, welche sie gleich wie die Dogenstadt
an der Adria besitzt. Auf Schritt und Tritt begegnen wir den glor-
reichen Traditionen der einstigen Heldenzeit Hollands und seiner
reichen Hauptstadt, wir sehen die Grabstätten der berühmten Admi-
rale, worunter de Ruyter, dessen Grabschrift ihn „immensi tremor
Oceani“ nennt; wir betrachten die Monumente der grossen Meister
und Gelehrten des Landes, und die Namen der Strassen und Plätze
verherrlichen die ruhmvollsten Bürger der merkwürdigen Niederlande.
Das Leben der Gegenwart, Amsterdams commercielle Macht,
tritt uns aber in der Lebhaftigkeit des Verkehres entgegen, welcher
in den grandiosen Hafenanlagen pulsirt. Zwischen einst und jetzt
liegt ein langer Weg der Entwicklung und des Fortschrittes.
Im XII. und XIII. Jahrhunderte noch ein armes Fischerdorf,
hat Amsterdam sich zu einem der ersten Handelsplätze der Erde auf-
geschwungen.
[[689]]
Amsterdam.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 87
[690]Der atlantische Ocean.
Die Stadt breitet sich am Südufer des Y (Het I J) halbkreis-
förmig aus und wird durch das Flüsschen Amstel in einen östlichen
und westlichen Theil geschieden.
Die Amstel steht mit dem vielverzweigten Canalsysteme in Ver-
bindung, welches die Stadt nach allen Richtungen durchzieht und in
die Hafenbassins ausmündet.
Wie unser Stadtplan zeigt, treten unter den Canälen, welche
hier Grachten genannt werden, jene hervor, welche den Stadtkern,
d. i. die alte Stadt, in sechs regelmässigen polygonalen Ringen um-
spannen und unter einander durch andere Grachten in Verbindung
stehen. Auf diese Weise entstanden die 90 Inseln, welche die Häuser-
masse von Amsterdam tragen, und etwa 300 Brücken mussten für
den Verkehr hergestellt werden.
Unter den Grachten sind die Heerengracht, Keizersgracht und
Prinsengracht, dann der breite äusserste Wasserring, die Singelgracht,
die hervorragendsten.
Meist von Ulmenalleen eingefasst, gewähren die Grachten einen
freundlichen Anblick und bieten recht malerische Effecte, besonders
dort, wo der Verkehr der Lastfahrzeuge zu den Waarenmagazinen die
spiegelglatte Wasserfläche belebt. Doch auch tiefe Melancholie ruht
auf manchen dieser Wasserläufe.
Das gesammte System der Grachten wird durch die Amstel
und das Y gespeist und durchgeschwemmt, wodurch man die Bil-
dung von miasmatischen Ausdünstungen thunlichst zu verhindern
trachtet.
Die Keizers- und Heerengracht ziert manch ansehnliches, dem
sogenannten holländischen Backsteinstyl des XVII. und XVIII. Jahr-
hunderts angehörendes Haus. Im allgemeinen sind jedoch die Häuser
schmale mit der Giebelseite der Strasse zugewendete Backsteinbauten
mit weiss gehaltenen Fugen. Dieselbe Phantasie, welche die hohen
Giebeldächer, wunderlich geformten Schornsteine und das meist barock
gehaltene Zierwerk der Häuser schuf, hat auch die Kirchthürme der
Stadt mit allen erdenklichen architektonischen Zuthaten ausgestattet.
Da sieht man Spitzchen und Säulchen, Kuppelchen und Erkerchen
wie eine duftig leichte Filigranarbeit am Thurme emporranken, alles
vergoldet und niedlich, wie das Spielzeug der Prinzessin in einem
Kindermärchen. Die in den Niederlanden so beliebten Glockenspiele
sind hier sehr zahlreich anzutreffen.
Ausserhalb der oben genannten etwa 10 km langen Singelgracht
ist Neu-Amsterdam im Entstehen begriffen, dort liegt das Terrain,
[691]Amsterdam.
auf welchem die Stadt sich zu erweitern, zu dehnen beginnt, dort
wurden auch schöne Parkanlagen geschaffen, unter welchen der an
hübschen Partien reiche, etwa 2 km lange Vondels-Park der be-
suchteste ist. Ein 1867 dem bedeutendsten niederländischen Dichter
Joost van den Vondel (gest. 1679) errichtetes Denkmal ziert den
schönen Park.
Der durchsumpfte Moorboden, auf welchem Amsterdam erbaut
wurde, legt jedem Bau grosse Hindernisse in den Weg. Noch mehr
als in Venedig, wo eine starke Anschwemmungsschicht den Boden
der Lagune bildet, häufen sich beim Bau der Häuser die Schwierig-
keiten. In Amsterdam muss der schlammige Boden ausgehoben
werden, bis man die Sandunterlage erreicht. In diese werden nun
etwa 8 m lange Pfähle eingerammt und schliesslich zu einem Rost
verbunden, auf dem erst die Fundamente des aufzuführenden Baues
zu liegen kommen. So steht der königliche Palast, einst das Stadt-
haus Amsterdams, auf einer gewaltigen Pilotenterrasse von 14.000
Pfählen. Die Rostwerke haben sich aber nicht immer als genügend
widerstandsfähig erwiesen; wiederholt kamen Senkungen und Zu-
sammenbrüche vor, und 1822 versank ein grosser Kornspeicher gänz-
lich in dem Schlamm, nachdem das Rostwerk nachgegeben hatte. Es
ist begreiflich, dass unter diesen Verhältnissen schwere Bauten sehr ge-
fährliche Unternehmungen sind. Ein gefürchteter Schädling von
Amsterdam ist der Holzwurm, der schon oft viele Gebäude gefährdet
hat. Bei der erwähnten Bodenbeschaffenheit verschlingen der Bau,
die Erhaltung und Beaufsichtigung der Brücken, Canäle, Deiche
und Hafenbauten enorme Summen.
Zur Beurtheilung der äusseren Lage von Amsterdam, die bei
der Schaffung der grossartigen Hafenanlagen bestimmend einwirkte,
ist es nothwendig, einen Blick auf dieselbe zu werfen.
Die Stadt liegt, wie unser Uebersichtskärtchen von Ymuiden
zeigt, an der Mündung des Y und des Amstelflusses in die Zuider-
see. Da nun diese letztere auf weite Strecken versandet ist und
grösseren Schiffen die Zufahrt nicht gestattet, so mussten künstliche
Wasserwege geschaffen werden, da anderenfalls Amsterdam vom See-
verkehre ausgeschlossen geblieben wäre. Zuerst wurde zwischen 1819
und 1825 der grosse, 80·4 km lange Nord-Holland’sche Canal
mit einem Kostenaufwande von 8 Millionen Gulden geschaffen. Derselbe
verbindet den Hafen von Helder mit Amsterdam und mündet, nachdem
er die ganze Provinz Nord-Holland durchzogen, mittelst des gross-
artigen Kunstbaues der Willemsschleusse gegenüber dem Central-
87*
[692]Der atlantische Ocean.
bahnhofe in das Y. Der Canal ist durchwegs 5·5 m tief und oben
35—40 m, an der Sohle aber nur 10 m breit.
Am nördlichen Ende dieses Canals liegt bei Helder der Hafen-
platz Nieuwe-Diep (Willemsoord) mit dem Seearsenale und der Ca-
dettenschule der holländischen Kriegsmarine.
Der wachsende Verkehr von Amsterdam, die zunehmende
Grösse der Schiffe und die Nothwendigkeit einer Abkürzung der
Canalfahrt führten bald zur Verwirklichung des alten Projectes eines
Durchstiches der schmalsten Stelle der nordholländischen Halbinsel.
So entstand, nachdem die Arbeiten im Jahre 1865 begonnen hatten,
der ungefähr 27 km lange Noordzee-Canal, welcher am 1. November
1876 dem Verkehre übergeben wurde. Wie unser Plan von Ymuiden
zeigt, hat der Canal eine Breite von 68 bis 125 m, vor Amsterdam
von 275 bis 1100 m; die Tiefe unter Canalwasser ist wenigstens
7·70 m zwischen Amsterdam und Ymuiden und 4 m zwischen Am-
sterdam und Schellingwoude. Zwischen Amsterdam und Ymuiden wird
als grösste Tauchung der Schiffe bei dem gewöhnlichen Canalstande
7 m zugelassen.
Zum Schutze der Canalmündung an der Nordseeküste wurde
gleichzeitig ein grosser Kunsthafen geschaffen, dessen beide Wellen-
brecher je 1880 m Länge haben und eine Einfahrtsöffnung von 260 m
bilden, welche durch zwei Leuchtfeuer markirt ist.
In das 100 ha grosse Bassin dieses Hafens mündet der Caual.
Drei Kunstschleussen, wovon zwei Schiffschleussen sind, sperren
denselben ab, und zwar eine grosse von 18 m und eine kleine von
12 m Durchlassbreite, bei 7·40 m und 4·45 m Tiefe unter Canalstand.
An den Schleussen ist der Ort Ymuiden, der gegenwärtig etwa
1500 Einwohner zählt, entstanden, und wurde derselbe mit der Eisen-
bahnstation Velzen der holländischen Bahn in Verbindung gebracht.
Ebenso verkehrt zwei- bis dreimal im Tage eine Dampfschiffahrts-
unternehmung nach Amsterdam.
Bald zeigte sich infolge des Anwachsens der Dimensionen der
Seeschiffe die grosse Schleusse von Ymuiden und die Wassertiefe des
ganzen Canals für die Bedürfnisse der Schiffahrt ungenügend, und es
musste zum Bau einer grösseren Schleusse geschritten werden. Um
aber durch das neue Werk den Canalverkehr nicht zu unterbrechen,
war man gezwungen, nächst Ymuiden eine Abzweigung des beste-
henden Canals in einer Erstreckung von 2000 m herzustellen und auf
dieser die neue Schleusse zu errichten. Dieselbe wird bei 9·2 m
Tiefe unter dem gewöhnlichen Ebbestande und 9·50 m unter dem
[693]Amsterdam.
Canalstande eine Breite von 25 m und eine Schleussenkammer von
225 m Länge erhalten. Der Canal soll auf 8·5 m Wassertiefe unter
Canalstand und der Hafen von Ymuiden auf 8·70 m unter dem ge-
wöhnlichen Ebbestande gebracht werden. Zugleich ist bei Ymuiden
der Bau eines Fischerhafens mit 4·20 m Tiefe unter dem gewöhn-
A Zufahrt zum Ymuidenhafen, A1 nördl. Wellenbrecher, A2 südlicher Wellenbrecher, B Nord-Crib.
B1 Süd-Crib, C Dükdalben, D Nordseeschleusse des Canals, D1 Caualabzweigung zur neuen Schleusse,
D2 projectirter Fischerhafen, E Gaswerk, F Leuchtfeuer, G Zollamt, H Rettungsbootstation, J Land-
marken, K Amsterdam-Nordseecanal, L Nord-Holland-Canal, M weissschwarze Boje, M1 Boje mit Pfeife,
N Wrack.
lichen Ebbestande projectirt. Die erwähnten Arbeiten bei Ymuiden
sind gegenwärtig in Ausführung begriffen, werden eine Summe von
mehr als fünf Millionen Gulden erfordern und, wie man hofft, 1892
beendigt sein.
Durch den Noordzee-Canal hat die Lage Amsterdams als See-
[694]Der atlantische Ocean.
handelsplatz wesentlich gewonnen, welche Thatsache aus dem Ver-
gleiche mit anderen Häfen der Nordsee am besten hervorgeht. Es
liegen Amsterdam 25 km, Rotterdam 31, Antwerpen 75, Bremen 75
und Hamburg 112 km vom Meere entfernt. Am günstigsten ist Bre-
merhaven an der Wesermündung situirt.
Wenden wir uns nun zu den grossartigen Hafenanlagen von
Amsterdam, welche theils durch den Staat, theils durch die Gemeinde
mit grossen Kosten hergestellt worden sind.
Das Centrum der Anlagen bilden die drei hergestellten Stations-
eilande (D, E, G), auf deren mittlerem die Centralstation (Cen-
traal-Spoorweg-Station) errichtet wurde. Am nördlichen Quai (De
Ruyter Kade) dieser Insel befinden sich die Anlegeplätze der auf der
Zuidersee nach Ymuiden und Nordholland, ferner nach Hull und
Leith verkehrenden Dampfer. Die östliche Insel ist auch der End-
punkt des königlich westindischen Maildienstes. Beiderseits der Sta-
tionseilande liegen die Oster- und Westerdocks (K, H), welche für
die Umladeoperationen der minder grossen Seeschiffe in die Fahr-
zeuge des Binnengewässerverkehres dienen und durch eine günstige
Lage sich auszeichnen.
Gegen Osten liegt der grosse neue Handelsquai (C) mit dem
Binnenhafen für die Lastfahrzeuge, der seit 1885 mit hydraulischen
Lademechanismen und einem fixen Krahn von 30 t Hebekraft ausge-
stattet und zum grössten Theile dem Betriebe übergeben ist. Der
Handelsquai ist für die grossen Ostindiendampfer etc. bestimmt und
wurde 1881 eröffnet. Hieran schliesst sich die geräumige Dijks-
gracht (L) und dann das grosse Bassin der Kriegsmarine mit
dem Arsenal (M). Südlich desselben sind die beiden Kattenburger-
und Wittenburgergrachten (L1, L2) und das langgestreckte Bassin der
Nieuwe Vaart (Neue Fahrt) (N) entstanden, welch letzteres an der
Nordseite mit hydraulischen Krahnen, Waarenmagazinen u. dgl. durch
die holländische Eisenbahn- und die königliche Dampfschiffahrts-
Gesellschaft eingerichtet wurde, woraus diese für ihre europäischen
Linien Nutzen zieht. Die Südostseite der Vaart hat die Niederlän-
disch-rheinische Eisenbahn-Gesellschaft mit allen erforderlichen Me-
chanismen ausgestattet. Seit 1874 wurde dieses Bassin durch die
Gemeinde vertieft und für Seeschiffe eingerichtet. In Verbindung mit
der Vaart steht das dem Staate gehörende Entrepôtdock (O) mit
ausgedehnten Speichern. Dieses Entrepôt hat 14·6 ha Fläche, bei
4 ha Bassinoberfläche, 1·7 km Quaientwicklung und 140.000 m2
Speicherfläche.
[695]Amsterdam.
Ostwärts des Handelsquais liegt der Eisenbahnhafen (siehe den
Plan des östlichen Hafentheiles) Spoorwegbassin mit 7·5 m Tiefe,
welcher, für die Erz- und Kohlenumladung und Rohstoffe bestimmt, an
der Nordseite der ganzen Länge nach, an der Südseite aber nur auf
200 m Länge mit einer Quaimauer versehen ist. Seit 16. April 1880
wird die Nordseite von der holländischen, die Südseite aber von
der Niederländisch-rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft verwaltet. Das
Bassin ist mit Dampfkrahnen und Dépôts ausgestattet und durch
Schienenwege mit allen einmündenden Bahnen verbunden. Bereits
1879 konnten die Schiffe der Dampfschiffahrtsgesellschaft „Neder-
land“ von hier aus nach Indien abdampfen.
Nächst der Einmündung des Spoorwegbassin läuft die grandiose
Abdämmung des hier 1 km breiten Y gegen die Sturmfluten der
Zuidersee. Der Damm enthält nächst Schellingwoude die schönen
Oranienschleussen (Oranjesluizen), wovon die grosse bei 18 m Breite
auf 4·2 m unter den Ebbestand geführt ist und Kammern von 96 m
Länge enthält. Die beiden kleinen Schleussen sind 14 m weit, 4·2 m
unter dem Ebbestand und haben Kammern von 73 m Länge. Durch
diese Schleusse verkehren die Zuiderseedampfer und kleinen See-
schiffe. Eine Entwässerungsschleusse dient zur Regulirung des Wasser-
standes. Die Schleussenanlagen beanspruchten mehr als 5 Millionen
Gulden an Bauauslagen.
An der Ostseite des Dammes ist das Bassin des neuen Merwede-
canales im Bau begriffen. Dieser Canal wird Amsterdam mit Utrecht
und dadurch mit dem Rhein verbinden.
Im Westen der Stationseilande liegen die Suezcanal-Ladeplätze
(H1), welche, 1877 erbaut, seit 1880 von der Niederländisch-rheini-
schen Eisenbahn-Gesellschaft betrieben werden. Hievon hat einen
dermalen die Niederländisch-amerikanische Dampfschiffahrts-Gesell-
schaft in Gebrauch.
Hieran schliesst sich (siehe Plan des westlichen Hafentheiles
von Amsterdam) der grosse Holzhafen (Hout-Haven), dessen östliche
Bassins auch für die Umladung von sonstigen Waaren, hauptsäch-
lich der nach Nordholland bestimmten, dient, sowie auch für die Ein-
lagerung der Waaren in die an der Westseite der Stadt gelegenen
Speicher, oder Ueberschiffung in die Fahrzeuge der Binnengewässer
verwendet wird. Der Holzhafen wurde 1873 bis 1876 erbaut und
1878 bis 1883 erweitert. Mit dem zugehörigen Terrain nimmt er
eine Fläche von 126 ha ein.
Noch weiter im Westen wurde von 1885 bis 1889 der geräu-
[696]Der atlantische Ocean.
mige Petroleumhafen erbaut, in welchem 14 transatlantische Dampfer
Platz finden. Tiefe 8·2 m.
Noch verfügt Amsterdam über die grosse Wasserfläche des Y
(Gesammtfläche des Y 645 ha), von welcher 42 ha nördlich des
Handelsquai auf 7 m und östlich davon 16 ha auf 5 m Wassertiefe
ausgebaggert wurden und als Umladeplätze für an Bojen vertäute
Schiffe verwendet werden.
Betrachtet man nun die gesammte Entwicklung der Hafen-
installationen, so ergibt sich, dass Amsterdam ohne Einbeziehung der
Brouwers-, Prinsen- und Singelgrachten und der Amstelquais, welche
dem binnenländischen Verkehre dienen, dann der Dijk-, Kattenburger-
und Wittenburgergrachten und anderer, welche den Fabriken und
Werften dienen, 137 ha taugliche Bassinoberfläche für die grosse und
kleine Seeschiffahrt besitzt. Rotterdam hat (ohne Rheinhafen) 69·6 ha,
Antwerpen 71 ha, Bremerhaven 22 ha, Hamburg 139 ha Bassin-
fläche, wobei die Rheden in den Flüssen nicht einbezogen sind.
Davon entfallen für die grosse Schiffahrt in Amsterdam mit Aus-
schluss des Entrepôtdocks 105 ha und 2·6 km Quais, Rotterdam
49·5 ha und 7·6 km, Antwerpen 65 ha und 7·6 km, Bremerhaven
22 ha und 4·3 km, Hamburg 156·7 ha und 11·4 km Quais. Rechnet man
die Wall- oder Dammböschungen, insoweit diese als Landungsplätze
verwendbar sind, hinzu, so vergrössert sich die Quaislänge in Amster-
dam um 1·5 km.
Der grossen Schiffahrt dienen in Amsterdam die Oster- und
Westerdocks, die Nieuwe Vaart, das Eisenbahnbassin, die Liegeplätze
östlich vom Holzhafen, die westlichen Bassins desselben und der
Petroleumhafen.
Es gibt übrigens nur wenige Bassins für die grosse Schiffahrt,
welche mit Quais oder Rostwerken für das Laden und Löschen aus-
gestattet sind. Einige derselben haben Wälle in Böschung, welche
Form gewöhnlich bei den Holz- und Petroleumhäfen vorkommt, aber
auch für jene Bassins gewählt wurde, die ausschliesslich für die Um-
ladung der Waaren in Lichter- und Flussfahrzeuge dienen, wo acco-
stable Wälle entbehrt werden können.
Amsterdam besitzt ferner an Quais und Ladeplätzen längs der
Canal- und Flussufer 3 km Länge, Rotterdam 6·1, Antwerpen 3·5
und Hamburg 1·8 km Länge. Dazu kommen in Amsterdam noch 4 km
Länge an der offenen Hafenfront für den Verkehr auf den Binnen-
gewässern.
Wie sehr der Verkehr von Amsterdam durch die Herstellung
[[697]]
A Zufahrt zum Nordseecanal, A1 Petroleum-
hafen, B Zufahrt zur Zuidersee, B1 Nord-
Holland-Canal, C Handelsquai, D östliche
Stationsinsel, D1 Anlegeplätze der Dampfer,
E Central- (Eisenbahn-) Stationsinsel,
G westliche Stationsinsel, H Westerdock,
H1 Suezcanal-Anlegeplätze, J Damrak,
K Osterdock, L Dijks Gracht, L1 Katten-
burger G., L2 Wittenburger Gracht, M Rijks-
arsenal (Kriegsmarine), N Nieuwe Vaart,
O Entrepôtdock, P Kloveniersburgwal,
Q Binnenamstel, R Heerengracht, S Kei-
zersgracht, T Prinsengracht, U Lijngbaans-
gracht, V Singelgracht, W Gedempte Voor-
burgwal, X Paleis voor Volksvlijt, Y Station
der rheinischen Eisenbahn, Z Kwakers Poel.
— 1 Königl. Palais, 2 Regynhof, 3 Athenäum
(Univers.-Bibl.), 4 Börse, 5 Bank, 6 Uni-
versitätsgebäude, 7 Justizpalast, 8 Staats-
bibliothek, 9 Leesmuseum, 10 Reichs-
museum, 11 gr. Theater, 12 Post- und
Telegraphenamt, 13 Zeemanshoop. 14 Ka-
valleriekaserne, 15 Oranje Nassau-Kaserne,
16 Kweekschool v. d. Zeevart, 17 Reichs-
entrepôt, 18 Hospital, 19 Zellen-Ge-
fängniss, 20 Schreyerstoren, 21 Schleussen-
brücke, 22 Geschut. Werf der Marine,
23 Diamantschleiferei, 24 neue Kirche, 25 alte
Kirche, 26 Amstelkirche, 27 Inselkirche,
28 Nordkirche, 29 Ostkirche, 30 Westkirche,
31 Zuiderkirche, 32 Walenkirche (alt),
33 Walenkirche (neu), 34 Englsch. Episcop.-
K., 35 Ev. Luth. K. (neu), 36 Remonstranten
K. 37 Chr. Afgescheiden-K., 38 H. Antonius
v. Padua, 39 H. Ignatius, 40 H. Joseph,
41 Onze Lieve Vrouwe-K., 42 H. Thomas v.
Aquinem, 43 Jansenisten-K., 44 armenische
K., 45 griechische K., 46 hochdeutsche Syna-
goge, 47 portugiesische Synagoge, 48 Ge-
dempt Damrak, 49 Waterlooplatz, 50 Fried-
richsplatz, 51 Rembrandtplatz, 52 neuer
Markt, 53 Marnixstrasse, 54 Kerkstrasse, 55
Weesperstrasse, 56 Westerstrasse, 57
Bloemstrasse, 59 Muiderthor, 60 Weesper-
thor und -Platz, 61 Weteringthor, 62 Zaag-
thor, 63 Wilhelmsthor, 64 Kettenbrücke,
65 neue Brücke, 66 zoologischer Garten, 67
Park, 68 Vondelpark, 69 Buitengasthaus, 70
Gaswerke, 71 östl. Friedhof, 72 westl.
Friedhof.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 88
[698]Der atlantische Ocean.
des Nordseecanals und durch die grossen Hafenbauten zugenommen
hat, erhellt aus nachfolgender Zusammenstellung:
Vor Eröffnung des Canales liefen in Amsterdam im Mittel jährlich
4000 Schiffe mit ungefähr 4·6 Millionen Cubikmeter ein und aus.
Dagegen passirten die Schleusse von Ymuiden
- im Jahre 1883 .... 5594 Schiffe mit 5,437.291 m3
- „ „ 1886 .... 5942 „ „ 6,253.125 „
- „ „ 1887 .... 6256 „ „ 8,214.732 „
- „ „ 1888 .... 6859 „ „ 8,653.521 „
- „ „ 1889 .... 6794 „ „ 8,891.011 „
In diesen Zahlen sind auch die Fischerfahrzeuge einbegriffen.
Durch die Oranienschleusse verkehrten nach beiden Richtungen
- im Jahre 1884 .... 120 Seeschiffe mit 56.451 m3
- „ „ 1886 .... 67 „ „ 38.170 „
- „ „ 1887 .... 56 „ „ 27.260 „
Dieselbe Schleusse passirten nach beiden Richtungen
- im Jahre 1883 .... 91.216 untergeordnete Fahrzeuge
- „ „ 1886 .... 85.207 „ „
- „ „ 1887 .... 89.406 „ „
- „ „ 1888 .... 77.546 „ „
Die Seeschiffe für sich betrachtet, liefen in Amsterdam ein:
- im Jahre 1877 ...... 1540 Schiffe mit 1,768.520 Netto-Tonnen
- „ „ 1880 ...... 1614 „ „ 2,143.392 „
- „ „ 1883 ...... 1607 „ „ 2,635.806 „
- „ „ 1886 ...... 1576 „ „ 2,692.162 „
- „ „ 1887 ...... 1600 „ „ 2,686.330 „
- „ „ 1888 ...... 1576 „ „ 2,779.200 „
- „ „ 1889 ...... 1642 „ „ 2,833.000 „
Seit dem Jahre 1886 wird der Netto-Tonnengehalt gewonnen,
wenn man die Brutto-Tonnen durch 1·375 dividirt. Dieser Coëfficient
bildet die Grundlage für die Gebührenbemessungen des Staates und
der Gemeinde.
Am Nordufer des Y liegt das grosse schwimmende Dock,
welches zu Ehren der Königin Emma 1·879 den Namen Koninginnen-
dock erhalten hat und der Amsterdamer Dockgesellschaft gehört.
Dasselbe hat 122 m Länge, 28 m Breite und kann Schiffe bis
zu 5·2 m Tauchung und bis zu einem Gehalte von 4000 t aufnehmen.
Vier andere Docks befinden sich in der Dijksgracht und im Wester-
dock.
Für die holländische Kriegsmarine dienen die Docks und Werften
[699]Amsterdam.
des Seearsenals. Dieses Etablissement gehörte einstens der ostindi-
schen Compagnie; dort rüsteten im XVII. Jahrhundert die berühmten
Admirale de Ruyter und de Tromp die siegreichen Flotten aus.
Die Handelsthätigkeit des nördlichen Theiles der Niederlande setzt etwas
später ein als die des heutigen Belgien.
So entstand auch Amsterdam erst um 1204, und der damals angelegte
Damm (niederländisch Dam) gab der Stadt den Namen und bildet auch in der
Gegenwart noch ihren Mittelpunkt.
Gysbrecht II., Herr von Amstel, erbaute damals ein festes Schloss am Dam.
Um 1275 erlangte Amsterdam die Zollfreiheit für Holland und Zeeland und im
XIV. Jahrhundert nahm es, nachdem 1311 die Vereinigung mit Holland voll-
zogen war, viele Brabanter Kaufleute auf.
Und zweihundert Jahre später, 1411, verliessen die Häringe die Küste
Schoonens und zogen sich nach der holländischen Küste; die deutsche Hansa war
dadurch schwer geschädigt, die Grundlage der Blüthe der an dem Zuider-See ge-
legenen Städte Nordhollands gesichert.
Kaiser Maximilian I. verlieh 1490 der Stadt die kaiserliche Krone als
Helmschmuck des Stadtwappens. Damals, in der Zeit der grossen Entdeckungen,
da die Welt vertheilt wurde, wussten die Holländer zuzugreifen, damals legte
Amsterdam den Grund zu seiner nachherigen Bedeutung für den europäischen
Handel, und seine Verhältnisse wurden nach der Losreissung Nordhollands von
dem niederländischen Reiche der Habsburger so gut entwickelt, dass die Stadt
1585 unvermittelt an Stelle Antwerpens die Leitung des Welthandels antreten
konnte. Von Moriz von Oranien begünstigt, dehnte sich Amsterdam von 1585—1595
fast um das Doppelte aus.
Durch die rücksichtslose Sperrung der Schelde sicherte man sich vor dem
Wiederaufleben des nun spanischen Antwerpen, dessen reichste und tüchtigste
Kaufleute nach Amsterdam zogen. In wenigen Jahren war die Handelssuprematie
der Generalstaaten organisirt und durch die Gründung der holländisch-ostindischen
Compagnie am 20. März 1602 besiegelt; die Hälfte der Antheile der Gesellschaft
blieb Amsterdam vorbehalten.
Durch Philipp II. von dem Besuche des Gewürzmarktes von Lissabon aus-
geschlossen, gründeten die Holländer mit Hilfe dieser Compagnie ein eigenes
Colonialreich in Indien, das in verkleinertem Umfange heute noch fortblüht, einen
grossen Theil des holländischen Handels nährt und, Dank einer musterhaften Ver-
waltung seit jenen Tagen Holland ungezählte Millionen eingetragen hat.
Die niederländisch-westindische Compagnie von 1621 regelte den Verkehr
mit Westafrika, den in der Gegenwart noch zahlreiche holländische Factoreien
betreiben und der durch die Gründung der Neuen afrikanischen Handelsgesell-
schaft weiter entwickelt wird.
Von dem grossen Reich der Compagnie in Amerika sind nur Surinam
und einige Inselgruppen im Besitze der Holländer geblieben.
Auch in England, in Nordeuropa, in der Levante und im Gebiete des
Rheins und Mains dominirte der Einfluss der Holländer.
Amsterdam war der Mittelpunkt dieses Welthandels, der Sitz zahlreicher
Fabriken, Assecuranzen und Geldinstitute, unter denen die 1609 gegründete Giro-
bank hervorragte.
88*
[700]Der atlantische Ocean.
Die Stadt bereicherte sich durch einen ausgebildeten Commissionshandel,
durch ein weitverzweigtes Frachtengeschäft, das seine zahlreichen Handelsschiffe
vermittelten.
Reiche Ausländer übertrugen ihr Vermögen nach Holland, weil die Am-
sterdamer Bankeinlagen arrestfrei waren.
Die Vorherrschaft im Handel, in erster Linie im Zwischenhandel, verlor
das menschenarme Holland seit der Navigationsacte Cromwell’s allmälig an Eng-
land, aber ein hervorragender internationaler Geld- und Diamantenmarkt ist
Amsterdam noch in unseren Tagen, obwohl die französische Revolution seinem
Reichthume und jenem des Landes schwere Wunden geschlagen hat.
Nach dem Sturze der batavischen Republik (1806) wurde Amsterdam 1808
die Residenz des Königs Ludwig Napoleon.
Sonden in Metern).
A Zufahrt zum Nordseecanal, B Zufahrt nach Amsterdam, C Zijcanal, D Petroleumhafen, E Scheepslig-
plaats (Liegeplätze) für Schiffe, G Fluthafen, H Westerdock, H1 Suezcanal-Anlegeplätze, J Holz-
hafen (Hout H.), K Königsdock, L Westercanal, M Realengracht, N Eilandsgracht, O Brouwersgracht,
P Inselkirche, Q westl. Friedhof, R Wilhelmsthor, S westl. Stationsinsel.
Als 1815 der Weltfriede hergestellt war, wurde Amsterdam durch den Bau
des grossen nordholländischen Canals und später des Nordseecanals mit grossen
Geldopfern vor dem Schicksale bewahrt, ebenfalls eine der todten Städte an
der Zuidersee zu werden, wie Hoorn oder Enkhuizen.
Die Abschaffung der Gebühren auf dem Nordseecanal hat den Hafen sehr
billig gemacht, die 1892 zu erhoffende Vollendung des sogenannten Merwedecanals von
Amsterdam südwärts über Utrecht zum Leck und zur Merwede sichert ihm eine
bequeme Wasserstrasse zum Rhein und damit eine wohlfeilere Verbindung zu einem
grossen Theile seines Handelsgebietes, als die Eisenbahnen sind. Mit stolzen Hoff-
nungen mag die Hauptstadt der Niederlande der Zukunft ihres Handels entgegen-
sehen, der in der Hauptsache auf den niederländischen Colonien in Ostindien und
auf dem deutschen Hinterlande beruht. Die Vermehrung der regelmässigen
Dampfschiffsverbindungen Amsterdams zeigt, dass man dem neuen Wasserweg zum
[701]Amsterdam.
Rheine grössere Mengen von Gütern zuführen will, als heute Amsterdam zur Ver-
fügung stehen.
Amsterdam zählte am 1. Jänner 1890 eine Bevölkerung von
406.300 Einwohnern, worunter etwa 80.000 Katholiken und 34.000
Juden. Die Stadt nimmt einen Flächenraum von 3262 ha ein.
Gross ist die Zahl ihrer öffentlichen Gebäude und Kirchen, und
berühmt ist die Stadt wegen der bedeutenden Menge ihrer Wohlthätig-
keitsanstalten und Kunstsammlungen, die Schätze von unberechen-
barem Werthe bergen.
A Zufahrt nach Amsterdam, B Oranjeschleusse (Zufahrt zur Zuidersee), C Handelsquai. D Dijksgracht,
E Wittenburgergracht, G Oostenburgergracht, H Eisenbahnbassin, J Nieuwe Vaart, K Loozingscanal,
L Merwedecanal, M russisches Petroleumentrepôt, N Oranje-Nassaukaserne, O Dapperstrasse, P Ost-
friedhof, Q Ostpark, R Gaswerk, S Ringstoot, T project. Rheincanal n. Utrecht, U Hydraulik, V Exercir-
platz, W Militärschiessplatz, X israelit. Friedhof, Y Viehmarkt, Z Ostbahn.
Der Centralpunkt des sehr animirten städtischen Lebens ist der
sogenannte Dam, ein weiter Platz, welchen das königliche Palais
(1), die neue Kirche (Nieuwe Kerk, 24), die Börse (4) und andere
Gebäude umgeben.
Der Platz bildet die Fortsetzung des 1880 verschütteten Theiles
der Damrakgracht (Gedempte Damrak, 48), auf dem der Bau einer
neuen Börse im Zuge ist. Das ist derselbe Dam, an dessen Stelle die
ersten Bauten von Amsterdam entstanden waren.
[702]Der atlantische Ocean.
Das älteste Gebäude am Dam ist die neue Kirche, welche zu
den schönsten Kirchen von Holland zählt und in der Zeit von 1408
bis 1470 im spätgothischen Style entstanden ist. Wiederholten
Bränden und Zerstörungen ausgesetzt gewesen, wurde die Kirche
stets wieder hergestellt.
Das Innere derselben enthält vielerlei Kostbarkeiten und besitzt
in mehreren Denkmälern einen hervorragenden Schmuck. Unter den
letzteren sind die Denkmäler de Ruyter’s, der 1676 an den in der
Schlacht bei Syracus erhaltenen Wunden starb, des Viceadmirals
W. Bentinck, welcher 1781 in der Schlacht an der Doggersbank
gefallen ist, und andere bemerkenswerth.
Das königliche Palais stammt aus der Zeit 1648 bis 1655 und
wurde gleich nach Abschluss des westfälischen Friedens als Rath-
haus erbaut. Es ist ein hervorragender Bau mit reichem plastischen
Schmuck. 1808 wurde das Gebäude die Residenz des Königs Ludwig.
Der volle Glanz des reichen Gemeinwesens, welches das Bauwerk
errichtet und geschmückt, kommt im Innern desselben zum Vorschein.
Von der Höhe des Thurmes, den, wie bereits erwähnt, ein
goldenes Schiff ziert, geniesst man einen herrlichen Ausblick auf
Stadt, Land und See.
Man gewahrt auch das freundliche Städtchen Zaandam im
Nordwesten von Amsterdam, wo der Czar Peter der Grosse 1697 auf
der Werfte des Mynheer Kalf als Zimmermann arbeitete und die
Schiffbaukunst erlernte. Das vom Czar damals bewohnte Holzhaus
ist noch erhalten und bildet einen Attractionspunkt von Zaandam,
welches Städtchen übrigens auch den Ruf besitzt, unter seinen 13.000
Einwohnern viele Millionäre zu zählen.
Vor dem königlichen Palais erhebt sich am Dam das hohe
1856 vollendete Denkmal zur Erinnerung an die während des belgi-
schen Aufstandes 1830—1831 bewiesene Treue des holländischen
Volkes.
Das gegenwärtige Rathhaus wurde aus dem ehemaligen Admi-
ralitätshof geschaffen.
Die Börse wurde 1845 vollendet und ist ein ansehnliches
säulengeschmücktes Gebäude, welches auf einem Rostwerk von 3470
Pfählen ruht. Eine eigenthümliche Sitte ist es, dass alljährlich wäh-
rend einer Woche die Börse den Kindern als Spielplatz freigegeben
wird. Der Gebrauch soll daran erinnern, dass 1622 ein geplanter
Ueberfall der Spanier durch Knabenspiel beizeiten entdeckt und ver-
eitelt wurde.
[703]Amsterdam.
Eines der ältesten Bauwerke von Amsterdam ist die alte Kirche
(Oude Kerk, 25), welche im Jahre 1300 im gothischen Style erbaut
wurde. Sie birgt unter anderem Schmuck die Denkmäler der Admirale
Heemskerck (berühmter Seefahrer, gest. 1607 in der Seeschlacht bei
Gibraltar), van der Hulst (gest. 1666), Sweers (gest. 1673), van der
Zaan (gest. 1669), Cornelis Jansz (gest. 1633) und jene anderer be-
rühmter Männer und Frauen.
Von höchstem Interesse sind die wissenschaftlichen Anstalten
und Kunstsammlungen. Einen ehrenvollen Platz nimmt die von 600
Studirenden besuchte Universität ein, die über reich dotirte natur-
wissenschaftliche Anstalten verfügt, von welchen der prächtige bota-
nische Garten (67) seiner herrlichen Palmen und seines Victoria
Regia-Hauses wegen eine Sehenswürdigkeit Amsterdams ist. Die Uni-
versitätsbibliothek besitzt neben 100.000 Bänden auch eine Samm-
lung werthvoller Handschriften, und wurde ihr anlässlich der 1881
erfolgten Neuordnung die berühmte „Rosenthal’sche Bibliothek“ mit
mehr als 8000 Bänden über indische Literatur geschenkt und einver-
leibt. Der 11 ha weite zoologische Garten (66) ist einer der bedeu-
tendsten von Europa. Er wurde 1836 angelegt und galt lange Zeit
seiner seltenen Thierexemplare wegen als der berühmteste seiner Art
auf dem Continente; er enthält auch gegenwärtig noch eine reiche
Sammlung lebender Thiere aller Classen, sowie interessante Präparate,
ein ethnographisches Museum, Aquarium u. a.
Bedeutend und sehenswerth ist die Salmen- und Forellenzucht
des zoologischen Gartens. Alljährlich werden hunderttausende der
jungen Fische in den Flüssen Hollands in Freiheit gesetzt.
Wahre Glanzpunkte Amsterdams sind die Museen, vor allem das
in altholländischem Renaissancestyl 1877—1885 erbaute imposante
Rijksmuseum (11), welches mit reichem plastischen und Mosaik-
schmuck ausgestattet und von Gartenanlagen umgeben ist. Dasselbe
enthält höchst interessante und kostbare Sammlungen aus allen Ge-
bieten der darstellenden Kunst, des Waffenwesens, der Marine u. dgl.
Besonders reich ist die Gemäldegallerie, die hervorragendste von
Holland.
Das Kupferstichcabinet enthält eine Sammlung von 150.000
Kupferstichen, 400 Sammelwerke, viele Handzeichnungen, eine grosse
Porträtsammlung u. a.
Auch das Museum Fodor, die Stiftung des 1860 verstorbenen
Kaufherrn Ch. Jos. Fodor, ist durch eine schöne Collection meist
moderner Werke ausgezeichnet, und nicht minder interessant ist die
[704]Der atlantische Ocean.
grosse Sammlung kostbarer Gemälde im Hause des Herrn J. P. Six,
welche 1618 durch Jan Six, den Gönner und Freund Rembrandt’s,
angelegt wurde.
Beachtenswerth ist die historische Gallerie des Malervereines
Arti et Amicitiae.
Ein in seiner Art hervorragendes Gebäude ist das Paleis voor
Volksvlijt (X), ein 1855—1864 entstandener Bau in Eisen- und Glas-
construction, dessen Hallen für Concerte, Theater, Ausstellungen u. dgl.
Verwendung finden. Der grosse Saal fasst 12.000 Personen. Die
zugehörigen Parkanlagen, an deren Südseite die gedeckten Gallerien
mit Kaufläden und Restaurants sich befinden, sind ein beliebter Pro-
menadeort geworden. Vor dem Hauptgebäude breiten sich die An-
lagen des Friedrichsplatzes (Fredericksplein, 50) aus.
Zu den grösseren Plätzen der Stadt zählt der Rembrandtsplein
(51), welchen das 1852 errichtete Erzstandbild Rembrandt’s ziert.
Der Waterlooplatz (49) liegt im Judenviertel von Amsterdam,
einem gegen die sprichwörtliche holländische Sauberkeit sehr ab-
stechenden, höchst unsauberen Stadttheil. Man unterscheidet dort por-
tugiesische Juden (4000) und deutsche Juden (30.000), welchen zehn
Synagogen zur Verfügung stehen. Die grösste derselben gehört den
portugiesischen Juden und wurde als Nachbildung des salomonischen
Tempels 1670 erbaut und reich ausgestattet. Es gab eine Zeit, wo
die Juden, in Amsterdam tolerant aufgenommen, die Stadt als „zweites
Jerusalem“ priesen. Bekannt ist, dass einer der schärfsten Denker,
Baruch Spinoza, der Philosoph, 1632 zu Amsterdam geboren, der
Sohn eines portugiesischen Juden war. Die Juden besassen in alter
Zeit das Geheimniss der Diamantschleiferei, und heute noch gebieten
sie über die bedeutendsten Anstalten dieser Art (23).
Wie bereits erwähnt, ist Amsterdam durch die Hochherzigkeit
und den Edelsinn der Bürgerschaft mit einer grossen Zahl von milden
Anstalten ausgestattet worden. Man zählt deren mehr als 100, welche
den Kranken, Siechen, Armen, Waisen, Witwen, Findlingen etc. zu
Gute kommen. Hervorragend ist die 1784 gegründete und über ganz
Holland verbreitete Gesellschaft zur Beförderung der allgemeinen
Wohlfahrt (Maatschappij tot Nut van ’t Algemeen), welche über
17.400 Mitglieder zählt und sich durch segensreiche Wirksamkeit
auszeichnet.
Wenden wir unsere Aufmerksamkeit nun der nährenden Ader Amsterdams,
dem Handel zu, so müssen wir vor allem feststellen, dass wir nach der Natur
des Handels von Amsterdam mit der Einfuhr beginnen müssen.
[705]Amsterdam.
Für den Amsterdamer Markt sind Colonialwaaren ostindischer Herkunft von
ausschlaggebender Bedeutung. Die Nederlandsche Handels-Maatschappij bringt auf
holländischen Schiffen 21/42 der Regierungsproducte von Niederländisch-Indien auf
den Markt von Amsterdam, ohne dass die Kaufleute Hollands sich deshalb irgend-
wie zu bemühen brauchen.
Unter den Colonialwaaren muss wieder in erster Linie Kaffee genannt werden.
Es wurden eingeführt 1888 304.490 q gegen 383.230 q im Jahre 1887, wäh-
rend Rotterdam 1888 um etwa 120.000 q mehr einführte. Den Stock der
Amsterdamer Lager bildete früher ausschliesslich Kaffee von Java und Celebes.
Aber der Rückgang der Kaffeecultur auf Java und die Einführung des Terminge-
schäftes wie eines Clearinghouse in Amsterdam hatten die Folge, dass jetzt auch
Brasilkaffee, speciell die Sorte Santos für Amsterdam wichtig ist. Die Auctionen von
Javakaffee in Amsterdam und Rotterdam sind bei der secundären Bedeutung des
Anbaugebietes von Java nur mehr für Javakaffee von entscheidendem Einflusse.
Thee aus Java, wo man glückliche Versuche mit der Anpflanzung dieses
Strauches gemacht hat, kommt direct, indischer und kleine Mengen chinesischen
Thees gelangen über London nach Amsterdam, wo in diesem Artikel Auctionen
veranstaltet werden. Einfuhr 1888 23.610 q, 1887 23.560 q.
Mehr als die Hälfte des hier eingeführten Rohtabaks kommt aus Java
und Sumatra, zum Theile auch über die englischen Besitzungen an der Malakka-
strasse; ferner wird Tabak direct aus der Union, endlich über Grossbritannien,
Deutschland und Belgien, Tabakfabricate von und über Bremen und Grossbritannien
eingeführt. Die Einfuhr betrug 1888 206.870 q, 1887 216.290 q.
Für Rohzucker ist Amsterdam der erste Einfuhrplatz der Niederlande
mit 766.280 q im Jahre 1888. Von dem eingeführten Zucker ist viel für die
Raffinerien Amsterdams bestimmt. Am 15. Februar 1889 lagerten in Amsterdam
4399 q Colonialzucker, 209.036 q ausländischer und 160.532 q inländischer Rüben-
zucker. Die Niederlande gehören zu den sechs grossen Producenten von Rüben-
zucker in Europa.
Hier wurden 1888 ferner 26.410 q raffinirter Zucker und 26.950 q Melasse
eingeführt.
Die Einfuhr von Droguen, Farbwaaren und Chemikalien erreichte
1888 258.300 q, 1887 212.160 q.
In diese Gruppe gehören Chinarinde aus Niederländisch-Indien und Gross-
britannien, ferner Opium, Kautschuk und auch Alaun.
Die Einfuhr von Spezereien belief sich 1888 auf 14.540 q.
Hievon kommt Cacao aus Java und Gayaquil zur Einfuhr. Ostindischer
Pfeffer und andere Gewürze des indischen Archipels sind ebenfalls wichtige
Handelsartikel für den Amsterdamer Markt.
Harze, besonders Kopalharze, kamen aus Nordamerika, Belgien und
Frankreich; 1888 25.430 q.
Theer und Pech bringt man aus Russland, Schweden und Grossbritannien,
1888 28.070 q.
Für Baumwolle ist Amsterdam kein hervorragender Platz. Es wurden
hier 1888 81.640 q eingeführt gegen 128.570 q im Vorjahre, davon kam das
Meiste aus England, kleinere Mengen direct aus Amerika.
Auch Flachs und russischen Hanf schicken die englischen Häfen. Einfuhr
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 89
[706]Der atlantische Ocean.
1888 47.650 q gegen 27.130 q 1887. Wolle hat sich stark von Amsterdam nach
Rotterdam gewendet.
Die Niederlande gehören unter die Staaten, welche regelmässig Getreide
einführen müssen. Die wichtigste Frucht ist Roggen, der zum Theil in den
Brennereien verarbeitet wird. Von diesem wurden 1888 1,293.890 q, 1887 832.270 q
eingeführt, von Weizen 1888 476.711 q, 1887 598.910 q, Gerste 1888 114.900 q,
1887 129.920 q und Buchweizen 1887 noch 33.690 q aus Deutschland. Die
Hauptbezugsländer für Getreide sind Russland, die Donaufürstenthümer und
Amerika. Die Einfuhr aus Deutschland ist ebenfalls russischen Ursprungs.
Die Mehleinfuhr Amsterdams mit 333.510 q 1888 und 273.160 q 1887
ist bedeutend. Das Meiste kommt aus der Union und aus dem Deutschen Reiche.
Im Jahre 1890 wurde hier eine Mühle nach dem Systeme von Budapest errichtet,
deren Product in Ungarn mit Nr. 7 bezeichnet würde.
In Amsterdam wird Reis von Java, Japan und Rangoon gehandelt; die
Einfuhr erreichte 1888 300.430 q, 1887 353.910 q. Viel grösser ist die Zufuhr in
Zaandam, wo die Reismühlen als Industriezweig noch wichtiger sind als in
Amsterdam, es wurden dort 1888 498.180 q eingeführt.
Sämereien und Saaten wurden 1888 733.680 q, 1887 699.010 q einge-
führt. Leinsaat kommt aus Russland und Ostindien, letztere meist über England.
Wir fügen hier gleich die Einfuhr von Oel an, weil Rapsöl und Leinsaatöl
aus Russland, Preussen, Belgien und Grossbritannien wichtige Artikel von Amster-
dam sind.
Ueber Amsterdam geht die Hälfte der Einfuhr des Staates an frischen
Früchten ins Land. Nur aus Italien findet eine stärkere directe Zufuhr statt.
Einfurh 1888 91.750 q, 1887 96.160 q.
Für getrocknete Früchte ist Amsterdam der erste Platz der Niederlande
mit einer Einfuhr von 213.030 q im Jahre 1888 und 270.350 q im Jahre 1887.
Der grösste Theil kommt aus der Türkei, da in Smyrna eine ansehnliche hol-
ländische Colonie ist, und von den jonischen Inseln.
Wein in Fässern kam 1888 in der Menge von 115.400 q aus Frankreich,
Deutschland, Spanien nach Amsterdam, von Wein in Flaschen wurden 1888
12.330 q, 1887 13.290 q zugeführt, davon war der grössere Theil aus Deutsch-
land; es war viel künstlicher Schaumwein darunter.
Für die Einfuhr von Schiffsbau- und Zimmerholz sind die Nieder-
lande einer der wichtigsten Staaten der Erde. Denn zunächst fehlen dem Lande
grössere Wälder, und dann werden bei der wenig festen Beschaffenheit des
Grundes in dem überwiegenden Theile des Landes sämmtliche Hauptmauern der
Gebäude auf Piloten gestellt und Stiegen und Zwischenwände von Holz auf-
geführt.
Für die Holzimporte ist das 9 km nordwestlich liegende Zaandam ein
Hilfshafen Amsterdams. Beide zusammen führen den dritten Theil des Holzes
ein, welches die Niederlande verbrauchen. 1888 wurden in Amsterdam 1,656.150 q,
in Zaandam 1,059.580 q Holz eingeführt, 1887 in Amsterdam 1,723.230 q.
Das meiste Holz kommt aus Russland und Finnland, von wo auch ein
grosser Theil der Einfuhr aus Preussen stammt, dann sind zu nennen Schweden
und Norwegen mit halb bearbeiteten Waaren und endlich die Vereinigten Staaten
mit pitch pine Holz.
[707]Amsterdam.
Feines Werkholz, 1888 28.360 q, 1887 47.250 q, kommt meist indirect
über Grossbritannien, Bremen und Hamburg.
Der Import von Stuhlrohr erfolgt meist direct aus Sumatra und den
englischen Besitzungen an der Malakkastrasse, ferner aus Ostindien und erreichte
1888 12.930 q gegen 16.610 q im Jahre 1887.
Die Einfuhr von Fellen, Häuten, Leder und Lederwaaren betrug
1888 nur mehr 26.640 q. Rohhäute kommen aus Indien und Belgien.
Von Schmalz, Talg und Fett wurden 1888 192.450 q, 1887 170.200 q ein-
geführt. In dieser Summe sind auch ansehnliche Mengen Margarin aus Oesterreich-
Ungarn und den Vereinigten Staaten enthalten.
Einfuhrartikel des Mineralreiches sind Salz aus England, Portugal,
Preussen (1888 57.120 q), Schwefel aus Italien und Belgien (44.707 q).
Petroleum kommt zumeist aus der Union, zum kleineren Theile auch aus
Russland, Einfuhr zum Verbrauch 1888 394.960 q. In der allgemeinen Einfuhr
steht Amsterdam hinter Rotterdam zurück.
Durch die Vollendung des neuen Petroleumhafens am Nordseecanal, der
mit Amsterdam durch eine Eisenbahn verbunden ist und wo man Tanks miethen
kann, wird der Petroleumhandel von Amsterdam sicher bald aufblühen.
Von Steinkohlen wurden aus England und auf den Binnengewässern aus
Deutschland 1888 2,233.920 q zum Verbrauche eingeführt.
Erze führte Amsterdam 1888 1,466.710 q meist aus Spanien ein.
Von Metallen wurden besonders Stab- und Roh- und Schmiedeisen, ferner
Banca- und Biliton-Zinn eingeführt, und zwar [zusammen] 1888 615.030 q,
1887 476.260 q, und zwar das Eisen direct aus Deutschland und aus Schweden
über Deutschland, ferner aus England und Belgien.
Bearbeitete Metalle lieferten dieselben Länder, zusammen 1888 495.090 q
gegen 418.710 q im Jahre 1887.
Werkzeuge und Maschinen werden aus dem Deutschen Reiche, Gross-
britannien und Belgien eingeführt, 1888 58.960 q und 1887 40.740 q.
Glas und Glaswaaren kommen aus Deutschland und Belgien; Einfuhr
1888 52.360 q, 1887 48.900 q.
Papier (1888 71.620 q) senden Deutschland und Belgien.
Manufacturwaaren aller Art kamen 1888 73.030 q nach Amsterdam
gegen 71.230 q im vergangenen Jahre. Deutschland lieferte davon ungefähr zwei
Drittel, England und Belgien den Rest.
Die Garneinfuhr erreichte 1888 55.470 q und stammte überwiegend aus
Grossbritannien.
Ebenso vertheilt sich auch die Einfuhr von Kurzwaaren auf dieselben
Staaten; Einfuhr 1888 34.070 q, 1887 31.190 q.
Von geistigen Getränken sind zu nennen Bier und Malzextracte aus
Preussen, 1888 43.220 q, 1887 43.200 q, Kornbranntwein, Arac, Rum etc. aus
Norddeutschland (Hamburg) und den aussereuropäischen Ländern, mit 44.280 q im
Jahre 1888 und 39.870 q im Jahre 1887.
Ein grosser Theil der eingeführten Rohstoffe passirt Amsterdam als Tran-
sitogut, zumeist mit der Bestimmung nach Deutschland. Viele werden im Lande,
zu dessen ersten Industrieplätzen Amsterdam zählt, verarbeitet. Deutsche, schweize-
rische und österreichische Industrieartikel gehen in die überseeischen Länder, be-
sonders in die niederländischen Besitzungen.
89*
[708]Der atlantische Ocean.
Zu den Ausfuhrgütern der ersten Gattung gehören rohe Baumwolle (1888
36.890 q), Stuhlrohr, feine Hölzer nach Deutschland, gewöhnliche Chemikalien und
Farbwaaren.
Unter den Colonialwaaren nimmt der Kaffee die bedeutendste Stelle ein
mit einer Ausfuhrziffer für 1888 von 239.730 q, für 1887 184.620 q. Diese Ziffer
entspricht ungefähr einem Drittel des Gesammtexports Hollands in diesem Ar-
tikel. Die Ausfuhr ist nach Deutschland, den Vereinigten Staaten und nach Däne-
mark gerichtet.
Für die Ausfuhr von Thee ist Amsterdam erster Platz mit einem Export
von 16.640 q im Jahre 1888 gegen 12.880 q im Jahre 1887.
Ebenso entfällt von Tabak und Cigarren mehr als die Hälfte von der hollän-
dischen Gesammtausfuhr auf Amsterdam, nämlich 1888 157.540 q gegen 158.210 q
im Vorjahre. Diese Artikel gehen fast ausnahmslos nach Deutschland und Nord-
amerika, nur geringe Quantitäten nach England und Belgien. In diesen Artikeln
steht Amsterdam über Rotterdam.
Zu beachten ist ferner, dass auch grosse Mengen von Cigarren, die in
Amsterdam erzeugt wurden, ausgeführt werden.
Für den Export von Zucker, der in Holland raffinirt worden ist, steht
Amsterdam mit einer Ausfuhrziffer von 713.850 q im Jahre 1888 gegen 734.970 q
im Jahre 1887 an der Spitze der Ausfuhr des Landes, während Rotterdam unge-
fähr nur ein Drittel dieser Quantität ausführt. Dieser Zucker geht nach England,
Skandinavien, an den La Plata und nach Deutschland.
Rohzucker wird weniger über Amsterdam exportirt, so 1888 nur 48.850 q.
Auch die Producte der Amsterdamer Chocoladefabriken finden Absatz auf
der ganzen Welt. Ebenso sind in den Niederlanden erzeugte Oele, wie Raps- und
Leinsaatöl zu nennen.
Ansehnlich ist die Ausfuhr von Gewürzen.
Die Ausfuhr von Cerealien umfasst fast ausschliesslich Reis, von der
ungefähr die Hälfte der Gesammtausfuhr des Landes über Amsterdam geht, 1888
233.060 q, 1887 175.490 q. Fast der ganze Reis ist geschält und geht nach
Deutschland, England und Belgien.
Bedeutender ist dafür Amsterdams Antheil an der Mehlausfuhr, da 1888
86.610 q, 1887 68.970 q nach den obengenannten Ländern gingen.
Von Saaten und Sämereien, besonders Oelsaaten, Lein- und Hanfsaat, gingen
nur 53.070 q über Amsterdam ins Ausland, während 1887 der Verkehr in diesen
Artikeln gleich Null war.
Frische Früchte, besonders Obst und Weintrauben, gingen 1888 28.050 q
und getrocknete Früchte 92.900 q nach den obengenannten Bestimmungsländern
des Mehls.
Wein in Gebinden und Fässern wurde von Amsterdam 1888 51.760 q gegen
47.270 q im Jahre 1887 und in Flaschen 1888 12.200 q gegen 12.350 q im Jahre
1887 vorab nach Niederländisch-Indien und Südamerika verschifft.
Von Getränken kommen noch zur Ausfuhr Rum, Arac, Branntwein 1888
48.810 q gegen 48.370 q im Jahre 1887 nach den Nachbarländern Belgien,
Deutschland und Grossbritannien. Ein Drittel der Ausfuhr ist niederländisches Er-
zeugniss.
Unter diesem ragen hervor Genever, ein Wachholderbranntwein, und Amster-
damer Liqueure der dortigen weltberühmten Firmen.
[709]Amsterdam.
Bier und Malzextract wurden 1888 55.630 q gegen 53.440 q im Jahre
1887 nach Belgien, Niederländisch-Indien und Frankreich ausgeführt. Von der Aus-
fuhr war mehr als die Hälfte deutscher Provenienz.
Die Ausfuhr von thierischen Nahrungsmitteln, deren Hauptabnehmer
die Fünfmillionenstadt London ist, hat bei der ausgedehnten Viehzucht Hollands
von jeher grosse Bedeutung.
So wurden noch 1887 23.000 qButter nach England und Indien ausge-
führt. 1888 gehört aber Amsterdam nicht mehr zu den wichtigeren Ausfuhrhäfen.
Dagegen ist die Ausfuhr von Käse, besonders die von Eidamer Kugelkäse,
sehr umfangreich, sie betrug 75.510 q im Jahre 1888 und 76.510 q im Jahre 1887.
Aus Amsterdam wurden 1889 9505, 1888 8772 Kälber, ferner 1889 83.059,
1888 129.587 Schafe nach England gesendet.
Sonst ist noch die Ausfuhr von Häringen, Anchovis und Austern nach
England mit 81.280 q 1888 und 56.820 q 1887 erwähnenswerth.
Die Ausfuhr von Industrieartikeln ist recht ansehnlich, aber nur zum Theile
holländischer Herkunft.
Manufacturwaaren exportirte man 1888 61.750 q gegen 74.060 q 1887
nach Niederländisch- und Britisch-Indien und nach England.
Von der Summe des Jahres 1888 waren 38.780 q Baumwollstoffe holländische
Fabricate.
Die Ausfuhr von Glas und Glaswaaren, die meist nach den niederländisch-
indischen Colonien gerichtet ist, betrug 1888 nur 25.760 q und stammte nur zu
einem kleinen Theile aus Holland.
Die Ausfuhr von irdenem Geschirr meist geringer Gattung und von
billigem Porzellan belief sich 1888 auf 37.260 q gegen 45.360 q im Jahre 1887
und war hauptsächlich nach Niederländisch-Indien gerichtet. Auch hier ist wie in
Glas Amsterdams Antheil an der Gesammtausfuhr unbedeutend.
Etwas beträchtlicher ist die Ausfuhr von Papier, besonders von Schreib-
papier nach England, Belgien und Deutschland, nämlich mit 41.970 q im Jahre
1888 gegen 38.040 q im Jahre 1887, so dass hieraus eine Steigerung zu consta-
tiren ist. Aber nur ein Theil stammt aus den Niederlanden.
Häute, Felle und Leder finden wir 1888 mit einem Export von 26.650 q.
Von Rohmetallen wurden Schmiede-, Stab- und Stangeneisen 1888 in der
Menge von 400.200 q gegen 883.700 q im Jahre 1887 nach Belgien, England und
Deutschland durchgeführt.
Die Ausfuhr von Rohzinn wird 1888 mit 20.330 q angegeben.
Bearbeitete Metalle gingen 1888 330.020 q, 1887 305.070 q zumeist nach
England und den Colonien der Niederlande.
Erze kamen nur 301.230 q nach Preussen und Belgien zur Ausfuhr oder
besser gesagt zur Durchfuhr.
Maschinen für die Landwirthschaft, Locomotiven und Maschinenbestandtheile
gelangten 1888 nur mit 36.990 q meist nach Java und den anderen niederlän-
dischen Colonien zur Ausfuhr.
Die allgemeine Einfuhr von Amsterdam erreichte 1889 975.940 t, 1888
946.544 t, die allgemeine Ausfuhr 1889 441.856 t, 1888 386.233 t.
Die Darstellung des Handels wollen wir mit der Aufzählung der Industrie-
zweige Amsterdams abschliessen.
[710]Der atlantische Ocean.
Die Zuckerraffinerien, Chocolade-, Liqueur-, Tabak- und Cigarrenfabriken
haben wir bereits genannt. Ausser ihnen sind dort eine Borax- und eine Kampher-
raffinerie, Oel- und Kerzenfabriken, Bierbrauereien, Mühlen und Brotfabriken;
letztere sind eine Specialität Hollands; ferner Fabriken für Segeltuch, für Gold-
und Silberwaaren, Eisengiessereien, eine Reihe grosser Maschinenfabriken und
Schiffbauanstalten und endlich die berühmten Diamantenschleifereien. Diese
beschäftigten noch 1886 7000—8000 Arbeiter, denen an Löhnen über sechs Mil-
lionen Gulden ausbezahlt wurden. Kaum der sechste Theil derselben findet momentan
Arbeit, weil ein Ring der Besitzer der Diamantengruben im Caplande die Preise
des Rohmateriales sehr hoch hält. Diese Krisis trifft hart die Colonie portugiesi-
scher Juden in Amsterdam, die dort seit Jahrhunderten Schutz und Freiheit der
Religion gefunden haben, welche ihnen in Portugal versagt waren; dafür ver-
pflanzten sie die Fertigkeit, Diamanten zu schleifen, in die neue Heimat; sie
wird nur noch in Antwerpen, London und New-York in grossem Style betrieben.
Doch steht Amsterdam noch immer an der Spitze dieses Industriezweiges.
Der Schiffsverkehr von Amsterdam betrug:
| [...] |
Auch im Hafen von Amsterdam entfällt der grösste Antheil an der Tonnen-
zahl auf die englische Flagge (1888) mit 41 %, während die niederländische
Flagge kaum 39 % erreicht und auf die nächststehende deutsche Flagge nur mehr
7·6 % entfallen; ihnen reihen sich an die norwegische und die spanische Flagge.
Amsterdam ist auch ein bekannter Auswandererhafen. Im Jahre 1889
gingen ihrer 5058 nach New-York und 2024 nach Südamerika.
Die Marine von Amsterdam bestand Ende 1889 aus 50 Segelschiffen mit
41.041 m3 und 62 Dampfschiffen mit 93.136 m3, zusammen aus 112 Seeschiffen
mit 134.177 m3.
Amsterdam hat eine Reihe von regelmässigen Postverbindungen im Inlande,
so nach Harlingen und Zwolle. Ebenso wichtig ist die Einrichtung einer regel-
mässigen Verbindung auf Flüssen und Canälen von Amsterdam zum Oberrhein
durch die Amsterdamer „Reijnbeurtvaart“ und die „Amstel-Reijn-Main“-Dampf-
schiffgesellschaft.
Nach New-York (3428 Seemeilen), Montevideo und Buenos-Ayres gehen von
hier abwechselnd mit Rotterdam Schiffe der Niederländisch-amerikanischen Dampf-
schiffahrts-Gesellschaft, nach Westindien und New-York der Koninklijke West-
indische Maildienst, nach Java die Stoomvart-Maatschappij „Nederland“, die
letztere läuft Southampton und Genua an.
Nach Niederländisch-Indien gehen ferner die Gesellschaften „Java“ und
„Insulinde“.
Von den zahlreichen anderen Verbindungen Amsterdams heben wir hier
die mit den englischen, deutschen und nordischen Plätzen, mit Hâvre, der py-
renäischen Halbinsel und der Levante hervor.
Unter den Gesellschaften, welche diesen Verkehr vermitteln, ist die wich-
tigste die Koninklijke Nederlandsche Stoomboot-Maatschappij, den Verkehr mit
London insbesondere vermittelt die Hollandsche Stoomboot-Maatschappij.
Amsterdam ist Knotenpunkt von fünf Eisenbahnlinien.
[711]Amsterdam.
Von dem Seebade Zandvort, das 27 km westlich von Amsterdam liegt,
gehen zwei Kabel der Submarine Telegraph Cy. nach dem englischen Fischerei-
platz Lowestof.
In Amsterdam haben sieben Banken ihren Sitz; unter diesen die Neder-
landsche Bank, die Nederland-Indische Handelsbank und die Surinamsche Bank.
Consulate haben in Amsterdam folgende Staaten: Argentinien, Belgien
(G.-C.), Chile, Columbia, Dänemark, Deutsches Reich (G.-C.), Dominikanische Re-
publik, Frankreich (G.-C.), Griechenland, Grossbritannien, Guatemala, Haïti, Italien
(G.-C.), Kongostaat, Liberia, Mexico, Monaco, Oesterreich-Ungarn (G.-C.), Paraguay
(G.-C.), Persien (G.-C.), Peru, Portugal (G.-C.), Russland (G.-C.), Schweden und
Norwegen (G.-C.), Schweiz, Siam, Spanien, Türkei (G.-C.), Uruguay, Venezuela,
Vereinigte Staaten.
[[712]]
Bremen.
Mit dem Namen Bremen verknüpft sich die Erinnerung an den
gewaltigen Städtebund der deutschen Hansa, eine der bedeutendsten
und wichtigsten Erscheinungen in der Geschichte Deutschlands.
Während mehr als 400 Jahren übte der Bund der freien Hanse-
städte einen gewaltigen Einfluss in commercieller und auch in poli-
tischer Hinsicht in Nordeuropa aus. Als 1669 die von den Zeitver-
hältnissen überholte Hansa sich auflöste, blieben als eine Art Reliquie
die drei Hauptstädte als souveräne Reichsstädte übrig. Anfangs lebten
sie in treuer Bundesgenossenschaft, zu welchem Verhältnisse allerdings
die gemeinschaftliche freie reichsstädtische Stellung dieselben hinge-
drängt hatte. Mit der Gewalt ihrer Sonderinteressen hatte die neue
Zeit das Freundschaftsband der drei Städte zerrissen und verwies jede
derselben, auf eigenen Wegen zu wandeln.
Doch die Geschichte hat die Rollen unter den Hauptstädten
neu vertheilt. Nicht mehr die Ostsee, sondern die Nordsee und der
Atlantische Ocean sind die Hauptschaubühne des Weltverkehrs,
darum musste das alte Haupt der Hansa, Lübeck, sinken, und dem
geographisch so ausserordentlich günstig gelegenen Hamburg fiel die
commercielle Führerrolle in Deutschland zu. Bremen und das junge
Bremerhaven, durch die natürliche Lage minder begünstigt, folgten
am zweiten Ehrenplatz.
Da es ein Flusshafen wie die anderen Handelsmetropolen an
der südöstlichen Küste der Nordsee ist, beruht die Handelsstellung
Bremens auf seiner Lage an der schiffbaren Weser. Aber eingekeilt
zwischen Rhein und Elbe, diesen beiden prachtvollen, bis weit ins
Innere des Continentes schiffbaren Strömen, welche unter allen Ge-
wässern Mitteleuropas den grössten Waarenverkehr aufweisen, kann die
verhältnissmässig kurze Weser nicht recht zur Geltung kommen, sie
leidet vorab im Westen unter der Concurrenz des Rheines. Was die
[713]Bremen.
Natur Bremen gegen die Landseite hin versagt hatte, ersetzte die
Energie seiner Bürger doppelt gegen die See hin. Man errichtete 1827
den Vorhafen Bremerhaven für die neuen grossen Seeschiffe, die Bremen
nicht mehr erreichen konnten, pflegte den Verkehr nach Nordamerika
und lenkte schon früh den Strom der deutschen Auswanderung in
die Union über Bremen. Als Rückfracht verlud man um billiges Geld
Tabak und machte so Bremen zum ersten Tabakmarkte des Conti-
nentes. Es folgten in späterer Zeit Getreide, dann Baumwolle, Reis und
Petroleum. Der Norddeutsche Lloyd gab dem Verkehre nach Nord-
amerika einen grossen Aufschwung, durch seine Fahrten nach Süd-
amerika wurde Schafwolle für den Markt Bremen als Stapelartikel
gewonnen. Die Thätigkeit von Bremer Häusern in Westafrika zog
diese Länder in das Handelsgebiet von Bremen, die Errichtung der
subventionirten Linien des Lloyd nach Ostasien und Australien ent-
wickelte den Verkehr nach diesen entfernten Welttheilen. Neue Linien
nach Vorderindien folgten, der Aufschwung, welchen Russland als Aus-
fuhrland für Getreide gewonnen, förderte den Verkehr mit dem Schwarzen
Meere, und eine regelmässige Verbindung Bremens mit Westindien ist
schon seit Jahren ein Bedürfniss. Aber trotz Allem ist die Hauptstütze
des überseeischen Handels der Verkehr mit den Vereinigten Staaten,
nur tritt dieser für die Ausfuhr etwas zurück, in demselben Masse, als
diese in jene europäischen Staaten grösser wird, für die Bremen disponi-
render Markt ist. Dass es Bremen verstanden hat, den nordamerikani-
schen Verkehr bis Oesterreich-Ungarn und Russland auf dem Wege
der Eisenbahnen, die bereits 1847 eröffnet wurden, an sich zu fesseln,
zeugt für die gute kaufmännische Leitung des Platzes.
Die Vereinigung mit dem deutschen Zollgebiete (15. October
1888), dem ursprünglichen und wichtigsten Handelsgebiete Bremens,
muss dessen Bedeutung als Handelsplatz, noch mehr aber als Indu-
strieplatz heben, die Vertiefung der Weser und die Anlage eines
grossartigen Hafens seine Concurrenzfähigkeit gegenüber Hamburg
im europäischen Verkehre stärken, weil sie die natürliche Ungunst
der Lage Bremens beseitigt.
Die Zeit der Gründung von Bremen ist durchaus unbekannt. Die Geschichte
der Stadt reicht nur bis zum Jahre 788 zurück, in welchem Karl der Grosse dort
ein Erzbisthum errichtete, unter dessen Schutze Bremen in den folgenden Jahr-
hunderten zu Ansehen gelangte; aber im XIII. und XIV. Jahrhundert wusste es
sich der geistlichen Gewalt immer mehr zu entziehen. Unterdessen war 1241 der
Hansa-Bund entstanden, welchem Bremen zwar beitrat, aber von welchem es schon
1285 ausgeschlossen und erst 1385 wieder aufgenommen wurde. Auch später
musste die Stadt ihrer spröden Haltung wegen wiederholt „verhanst“ werden.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 90
[714]Der atlantische Ocean.
Indes ward Bremen durch die Hansa auf den Weg der politischen Freiheit und
materiellen Entwicklung gelenkt und erhob sich zu grosser Bedeutung.
1522 trat die Stadt der Reformation bei, ward 1547 von einem kaiser-
lichen Heer erfolglos belagert, erwehrte sich 1666 tapfer gegen die Schweden,
welche seit 1648 (westfälischer Friede) das Bisthum innehatten.
1640 als freie Reichsstadt anerkannt, wusste Bremen das hohe Gut durch
Klugheit und Ausdauer zu behaupten. Viel hatte die Stadt während der napo-
leonischen Kriege und der Franzosenherrschaft zu leiden, doch wurde sie dadurch
nicht so hart wie Hamburg betroffen.
Der gegenwärtige Aufschwung Bremens wurde durch die Gründung der
rasch emporgeblühten Hafenstadt Bremerhaven eingeleitet. Das Gebiet, auf
welchem dieselbe entstanden war, hatte der weitblickende Bremer Bürgermeister
Smidt im Jahre 1827 von Hannover erworben. Das Gebiet von Bremerhaven bildet
eine Exclave des deutschen Freistaates Bremen, welch letzterer in das Land- und
Stadtgebiet zerfällt. Seit 1888 gehört Bremen dem Zollvereine an.
Bremen zählt gegenwärtig 122.000 Einwohner und breitet sich
unter 53° 6′ nördl. Breite und 8° 43′ östl. Länge von Greenwich an
beiden Seiten der Weser aus.
Ein Blick auf unseren Plan zeigt uns den ehemals befestigten,
von breiten gewundenen Wassergräben umgebenen Kern des älteren
Bremen. Am rechten Ufer liegt innerhalb der Umwallungen die Alt-
stadt mit ihren prächtigen alten Gebäuden, welche die Blüthe der
Stadt im Mittelalter bezeugen; gegenüber am linken Weserufer dehnt
sich die Neustadt aus. Ein Kranz belebter Vorstädte mit hübschen
Neubauten hat sich namentlich um die Altstadt gelagert, und im
Westen der Stadt ist der Glanzpunkt des materiellen Lebens, der
schöne und geräumige Kunsthafen, entstanden.
Bremen hat seit langer Zeit die Kriegsrüstung abgelegt und
tritt uns verjüngt und geschmückt wie wenige andere Städte ent-
gegen. Die herrlichen Wallanlagen mit ihren landschaftlich schönen
Partien, prächtigen Blumenbeeten, Monumenten und plastischen
Gruppen und ihren schattigen Promenaden, die längs des Silber-
bandes der von Wasservögeln belebten Gräben die ganze innere
Stadt umgeben, sind in der That unvergleichlich. Die Windungen
der Wassergräben zeigen die Contouren der ehemaligen Befestigung
an. Sechs Uebergänge führen aus der Altstadt in die von breiten
Strassenzügen durchschnittenen Vorstädte. Die wichtigsten dieser
Passagen, welchen man die Namen der dort gestandenen Thore ge-
geben hatte, sind: im Westen das Doventhor, nächst dem die Büste
Altmann’s, dessen Werk die Wallanlagen sind, errichtet wurde; das
Ansgariithor, zu welchem von der Kaiserbrücke die schöne breite
Kaiserstrasse führt. Nächst dem Ansgariithore erhebt sich seit 1871
[715]Bremen.
das prächtig ausgeführte Bronzedenkmal für die 1870 und 1871 ge-
fallenen Bremer von Professor Keil, ein sehenswerthes und bedeu-
tendes Werk.
Weiter ostwärts liegt in der Verlängerung der Sögestrasse das
Heerdenthor, durch welches man zum Centralbahnhofe gelangt. Zu-
nächst ist das Bischofsthor mit dem inmitten der Anlagen freistehen-
den Stadttheater, und am östlichsten liegt das Osterthor mit der
Kunsthalle.
Während den Vorstädten ein durchaus moderner Charakter auf-
geprägt ist, hat die Altstadt die ursprüngliche bremische Eigenart
sich bewahrt. Hier stehen sie, die berühmten Geschlechterhäuser der
alten Hansestadt, hochaufragend mit ihren verzierten Giebeln, und er-
zählen von tüchtigem Bürgersinn und Beharrlichkeit.
In der Altstadt sind denn auch jene denkwürdigen Monumente
alter Baukunst, deren Namen die Runde um die Erde machten; voran
das ehrwürdige Rathhaus am Marktplatz, ein Bauwerk, welches
selbst der glänzendsten der modernen Städte zur Zierde gereichen
würde.
In seinem Kerne als gothischer Bau von 1405 bis 1410 er-
richtet, erhielt das Rathhaus 1609 bis 1612 an der Südwestseite
einen Vorbau in Renaissancestyl. Diese neuere Façade ruht auf
12 dorischen Säulen und weist einen hochaufragenden Hauptgiebel und
reichgeschmückten Erker auf. Seine statuengezierten, reich durchbro-
chenen Fensterfronten und die prächtige Arcadenreihe des Erdge-
schosses geben dem Gebäude den Ausdruck würdigen Ernstes.
In der grossen Halle des Rathhauses wurde das Marmorstand-
bild des um Bremens Blüthe hochverdienten Bürgermeisters Smidt
errichtet, und Gemälde und Medaillons zieren die Wände und die
Decke des weiten Raumes.
Zu einem Weltruf ist der vielbesungene Rathskeller gelangt, in
welchem nur Rhein- und Moselweine Eingang finden. Hauff’s wein-
duftige „Phantasien im Bremer Rathskeller“ haben in der Reihe un-
zähliger Gedichte und Lieder den Ruf der unterirdischen Räume be-
gründet. Ein eigenartiges Relief bilden die prächtigen Fresken des
geschätzten Bremer Malers und Dichters Arthur Fitger.
In besonderen Abtheilungen des Kellers liegen die „zwölf
Apostel“, dickleibige, mit altem Weine gefüllte Fässer. Hauff nennt
diesen Raum das unterirdische Himmelsgewölbe, den Sitz der Selig-
keit, wo die Zwölfe hausen. „Was seid ihr Trauergewölbe und
Grüfte alter Königshäuser gegen diese Katakomben! Da liegen
90*
[716]Der atlantische Ocean.
sie in ihren dunkelbraunen Särgen, schmucklos, ohne Glanz und
Flitter. Kein Marmor rühmt ihr stilles Verdienst, ihre anspruchslose
Tugend, ihren vortrefflichen Charakter. Dort Andreas, hier Johannes,
in jener Ecke Judas, in dieser Petrus. Wen rührt es nicht, wenn er
dann hört: Dort liegt der Edle von Nierenstein, geboren 1718, hier
der von Rüdesheim, geboren 1726. Rechts Paulus, links Jakob, der
gute Jakob!“ Das älteste edle Nass (vom Jahre 1615) enthält aber
„die Rose“, welche in einem separaten Gewölbe, dessen Decke das
Bild einer Rose ziert, untergebracht ist. In dem Raume wurden ehe-
mals die Geheimsitzungen des edlen Stadtsenates abgehalten; daher
noch heute die Bezeichnung „sub rosa“.
Von der Rose singt Hauff:
Vor dem alten Rathhause erhebt sich die aus dem Beginne des
XV. Jahrhunderts stammende steinerne, 5·6 m hohe Bildsäule Roland’s,
das Sinnbild der städtischen Freiheit und das älteste Monument dieser
Art in Deutschland.
An der Nordseite des Rathhauses wurde das grosse neue
Stadthaus angebaut. Vor demselben liegt die aus dem XII. und XIII.
Jahrhundert stammende Liebfrauenkirche.
Der Marktplatz besitzt in dem Wunderbau der prächtigen Börse
einen herrlichen Schmuck.
Nach Heinrich Müller’s Plänen 1861 bis 1862 erbaut, ist die
Börse ein reicher modern-gothischer Prachtbau mit geschmackvollen
[717]Bremen.
allegorischen Figuren. Die imposante, reich ausgestattete und mit
herrlichen Wandgemälden und der Statue der Brema gezierte Börsen-
halle ist höchst sehenswerth.
Zu den ältesten Bauwerken der Stadt zählt der Dom, dessen
Kern, eine romanische Pfeilerbasilika, aus dem XI. Jahrhundert
stammt. Die Kirche wurde durch Zubauten und Reconstructionen im
Style sehr verunstaltet. Die beiden Thürme, von welchen der süd-
liche 1638 einstürzte, der andere aber 1767 abbrannte, werden seit
1888 wieder aufgebaut.
Bremen.
Der Dom besitzt mancherlei sehenswerthe Ausstattung in seinem
Innern, so eine schöne Kanzel, welche die viel verlästerte Königin
Christine von Schweden 1654 gespendet, ein bronzenes Taufbecken
aus dem XI. Jahrhundert u. a.
Interessant ist der Bleikeller, welcher die Eigenschaft besitzt,
die dort beigesetzten Leichen unverwest zu erhalten. Man zeigt dort
einige lederartig vertrocknete Leichname, von welchen der älteste
400, der jüngste 100 Jahre alt ist.
Der Centralpunkt des städtischen Lebens liegt im Umkreise des
Marktplatzes, von wo aus die vielbegangenen Verkehrswege: die
[718]Der atlantische Ocean.
Langenstrasse gegen Stephanikirche und die die Obernstrasse zur
Ansgariikirche führen. Letztere Kirche entstammt dem XIII. Jahr-
hundert und wurde neuester Zeit restaurirt. Ein Altarbild von Tisch-
bein und neue Glasmalereien zieren sie. Von dem 94 m hohen
Thurme geniesst man eine lohnende Fernsicht.
Nächst dem Marktplatz öffnet sich der weite Platz des Doms-
hof, welchen einige schöne Gebäude flankiren. Durch inneren Schmuck
ausgezeichnet ist dagegen das sehenswerthe Museum.
Der dritte der belebtesten Plätze Bremens ist die Domshaide,
welche das 1856 errichtete Bronzestandbild Gustav Adolf’s ziert. Das
Hauptobject ist dort das stattliche, im Renaissancestyle erbaute, 1878
vollendete Postgebäude.
Die Altstadt erhält durch ihre vielen alterthümlichen Gebäude,
welche zwischen modernen Prachtbauten sich erheben, eine reiche
Abwechslung, und wenn man der zahlreichen Monumente gedenkt,
mit welchen Bremen sich schmückte und in welchen uns der Edel-
sinn seiner Bewohner entgegenleuchtet, so wird man die Stadt nicht
allein bewundern, sondern auch liebgewinnen.
Vereine und Sammlungen tragen bei, das geistige Leben zu
kräftigen. Der Künstlerverein hat sich ein im gothischen Style ge-
haltenes Heim aufgeführt, in welchem sehenswerthe naturhistorische
Sammlungen untergebracht sind; die Kunsthalle nächst dem Oster-
thore enthält unter andern eine ansehnliche Gemäldegallerie und
Handzeichnungen Dürer’s, das Kunstgewerbemuseum; die städtische
Bibliothek erreichte einen Bestand von mehr als 100.000 Bänden u. s. w.
Einen hervorragenden und in Handels- und maritimen Ange-
legenheiten massgebenden Platz im Reiche der deutschen Presse
hat die Bremer Journalistik sich errungen, wie dies der Bedeutung
Bremens als Welthandelsstadt entspricht.
Wir haben bereits die Ursachen berührt, welche den com-
merciellen Aufschwung Bremens lange Zeit gehindert hatten, und
gedachten auch der erfolgreichen Energie und des Unternehmungs-
geistes der Bremer Kaufherren, welchen es gelang, die Nachtheile
der ungünstigen Lage abzuwenden.
Es sind hauptsächlich drei grosse Werke, welche Bremen
geschaffen hat, und zwar die Anlage von Bremerhaven, die Regu-
lirung der unteren Weser zwischen Bremen und der Mündung
derselben und die Errichtung eines neuen Hafens für Seeschiffe
in Bremen selbst. Wenden wir uns im Anschlusse an die Schil-
derung der Stadt vorerst der letztgenannten grandiosen Schöpfung zu.
[719]Bremen.
Der am 15. October 1888 erfolgte Anschluss Bremens an das
deutsche Zollgebiet bedingte zunächst die Auflassung des Freihafens;
um aber den Transitoverkehr zu erleichtern, wurde ein besonderes
Freihafengebiet geschaffen, innerhalb welchem die Waaren der zoll-
ämtlichen Behandlung nicht unterworfen sind. Dieses Gebiet, von
ungefähr 100 ha Fläche, befindet sich, wie unser Plan zeigt, im
Westen der Stadt nächst der Eisenbahnbrücke und dehnt sich
westwärts bis unterhalb des Winterhafens aus (die Grenzlinien
haben wir mit N bezeichnet), die Wesser nicht inbegriffen.
Auf diesem Terrain, von welchem die Stadt 55 ha angekauft
hatte, wurde das neue Hafenbassin ausgehoben. Dasselbe hat, der
geometrischen Form des Terrains entsprechend, eine Länge von
2 km bei einer durchschnittlichen Breite von 120 m und einer
Tiefe von 6·8 m, welch letztere aber auf 7·8 m gebracht werden
kann. An der Einfahrt, welche 70 m Weite hat, wurde wegen
der grossen Niveauschwankungen der Weser (7 m) und angesichts
der Schwierigkeit, ein so grosses Bassin zu speisen, keine Schleusse
errichtet.
Beiderseits der Langseiten des Bassins wurden Hangars mit
46.600 m2 Grundfläche zur Aufnahme der Transitowaaren und hinter
diesen Bauten erst die Kornspeicher und Magazine mit 14.000 m2
Grundfläche erbaut. Die Hangars haben an den vorderen und hinteren
Fronten breite Perrons in Eisenconstruction, auf welchen Dampf-
krahne in grosser Zahl in Betrieb gesetzt sind. Die Drehkrahne sind
so eingerichtet, dass sie die Waaren aus dem Schiffsraum entweder
direct in die Hangars oder in die Waggons zu schaffen vermögen.
Mit ähnlichen Krahnen werden die Waaren bis in das zweite
Stockwerk der Magazine gehoben. Mehrfache Eisenbahngeleise laufen
längs der genannten Bauten, und wir sehen in der ganzen Anlage
ein eben so grosses wie sinnreich erdachtes und solid durchgeführtes
Werk vor uns.
Der Anschluss des Schienennetzes im Freihafengebiet an die in
Bremen einmündenden Eisenbahnen hat bedeutende Schwierigkeiten
geboten; man musste im westlichen Stadttheile Strassen verlegen, über-
setzen und theilweise sogar abbrechen.
Der hafenbau verursachte eine Materialbewegung von 2·5 Mil-
lionen Cubikmetern; die Arbeiten begannen im Juli 1885 und bereits
im August 1887 konnte der Schutzdamm nächst der jetzigen Ein-
fahrt durchstochen werden. Bis zum October 1887 hatte die Stadt
[720]Der atlantische Ocean.
Bremen die Summe von ungefähr 25 Millionen Mark für den Hafen
verausgabt.
Das grosse Bassin bietet, vom östlichsten Ende aus betrachtet,
ein imposantes Bild mit prächtiger Perspective dar.
Eine Erweiterung der Hafenanlagen ist projectirt, und zwar soll
westwärts des grossen Bassins an der Stelle des Winterhafens ein
zweites grosses Bassin (C) erbaut werden. Ein anderes Project (D) ist
bereits ausgeführt und zwar in Form eines Holz- und Fabrikshafens,
der 1890 dem Verkehre übergeben wurde. Seine Länge beträgt
1500 m, die Breite 80 m und die Tiefe 6 m. Ferner besteht die Ab-
sicht, die grossen Etablissements im Westen von Bremen durch einen
Canal mit der Weser zu verbinden. Von den projectirten Bauten würde
nur das zweite Bassin in das bisherige Freihafengebiet fallen.
Am linken Ufer der Weser mündet dort, wo die grosse und
kleine Weser sich scheiden, der sogenannte Canal von Woltmers-
hausen, welcher den Sicherheitshafen (K) abzweigt und dann, von der
Eisenbahn übersetzt, zum Stadtgraben der Neustadt wird.
Ein schöner Anblick bietet sich dem Beschauer von einer der
beiden schönen Brücken, welche die Weser zwischen der Alt- und
Neustadt überspannen. Malerisch liegen die Häuserfronten, überragt
von Thürmen und Hochbauten, längs der beiden Ufer, und davor regt
sich die lebhafte Bewegung des Flussverkehres.
Gegenwärtig ist das grosse Werk der Vertiefung der unteren
Weser in einer Ausdehnung von mehr als 60 km noch im Zuge; es
wird eine Vertiefung angestrebt, welche es gestattet, den grösseren
Seeschiffen mit einem Tiefgang bis zu 5 m die Zufahrt nach Bremen
zu ermöglichen, ein Unternehmen, welches bei der bedeutenden Ent-
fernung Bremens von dem südlich von Bremerhaven beginnenden
Gebiete des tieferen Wasserlaufes der Weser mit grossen Kosten ver-
bunden sein wird.
Vorderhand ist Bremerhaven noch immer die eigentliche
Hafenstadt Bremens für den Verkehr der grössten Oceandampfer. Die
Zufahrt von See aus bietet bei normalem Wetter keinerlei Schwierig-
keiten, denn das Fahrwasser ist durch Leuchtschiffe, Leuchtthürme,
Tonnen und Marken vorzüglich geklart.
Die Wesermündung liegt nächst dem Jadebusen, von welchem
sie nur durch eine Barrière von Sandbänken getrennt ist. Ausserhalb
der Mündung trotzt das drei Leuchtfeuer tragende Leuchtschiff
„Weser“ und 18 km östlich desselben der Leuchtthurm „Rother Sand“
(Signalstation) den Stürmen, und 7·5 km südöstlich ist das Leucht-
[721]Bremen.
schiff „Bremen“, welches die eigentliche Mündung der Weser be-
zeichnet, verankert. Von hier aus führt das Fahrwasser in einer Tiefe
von 7 bis 16 m bei Ebbestand nach dem noch 42 km entfernten
Bremerhaven. Auch diese Route ist durch Leuchtfeuer, Marken und
A Winterhafen, B grosses Hafenbassin, C zweites Bassin (project.), D drittes Bassin (vollendet), E Canal
zu den Werkstätten (project.), G Schwimmdock, H Landungsplatz, J Eisenbahnbrücke, K Zufluchtshafen,
L Woltmerschausen-Can., M project. Verbindungsbahn, N Grenze des Freihafengebietes, O Waaren-
magazine und Speicher, P Weserbahnhof, Q Neustadtbahnhof.
Tonnen sehr gut kenntlich gemacht. Die meisten Leuchtfeuer sind
mit Nebelhorn und Nebelglocke versehen. Das tiefe Fahrwasser er-
streckt sich noch bis auf etwa 15 km flussaufwärts von Bremerhaven.
An dem letzten Buge der Weser liegt unter 53° 33′ nördl. Br.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 91
[722]Der atlantische Ocean.
und 8° 35′ östl. Länge von Greenwich die zusehends aufblühende Stadt
Bremerhaven, welche gegenwärtig bereits 16.000 Einwohner zählt;
sie ist die Hauptstation der grossen Dampfschiffahrtsgesellschaft des
Norddeutschen Lloyd, welcher hier seine sehenswerthen Etablisse-
ments, Werkstätten und Trockendocks errichtet hat.
Das Gebiet von Bremerhaven wurde, wie erwähnt, im Jahre
1827 durch die Initiative des Bürgermeisters Smidt von Bremen
käuflich erworben, und alsbald ward mit dem Baue des Hafens be-
gonnen. Gegenwärtig verfügt Bremerhaven, wie unser Plan zeigt, über
drei grosse Bassins, die mit schönen Kunstschleussen geschlossen
sind. Der 1827 bis 1830 erbaute „alte Hafen“ besitzt bei 730 m
Länge eine Breite von 84 bis 115 m; der „neue Hafen“ entstand in
den Jahren 1847 bis 1851 und hat 840 m Länge bei 87 bis 115 m
Breite; das neueste Bassin ist der „Kaiserhafen“, welcher 600 m
Länge und 115—142 m Breite besitzt. Die Tiefe beträgt 7·6 m. Die
Bassins werden für den Durchlass der Schiffe nur bei Flut geöffnet
und sogleich wieder geschlossen, denn der Unterschied der Niveau-
höhe der Gezeiten beträgt hier 3·6 m. Die Erweiterung des Kaiser-
hafens und die Anlage einer neuen tiefen Hafeneinfahrt ist in der
Ausführung begriffen.
Auch Bremerhaven erhielt ein besonderes Freihafengebiet, wel-
ches die Mündung der Geeste und die vorne genannten Bassins in
sich schliesst.
Ueber die Stadt Bremerhaven ist nicht viel zu berichten; sie
liegt auf ebenem Terrain hinter dem hohen Damme, welcher längs
des Flussufers aufgeführt wurde. Der weit sichtbare durchbrochene
Thurm der Kirche der unirten Gemeinde ist das höchste Bauwerk
des durch seine Sauberkeit und die fast holländische Nettigkeit
seiner Häuser und Strassen ausgezeichneten Städtchens; einen schönen
Anblick gewähren die beiden Leuchtthürme. Am belebtesten ist die
längs des Hafens laufende Hauptstrasse, welche der Zusammenkunfts-
ort der Seeleute aus allen Theilen der Erde, der von Hoffnung er-
füllten Auswanderer u. dgl. ist.
Dem um die Gründung von Bremerhaven hochverdienten Bürger-
meister Smidt wurde 1888 auch hier ein Denkmal errichtet.
Südwärts der Stadt gründete am linken Ufer der Geeste die
ehemalige hannoveranische Regierung den Concurrenzplatz Geeste-
münde und stattete selben mit einem Hafen aus, der 1863 voll-
endet wurde.
Obgleich dieser mit vorzüglichen Anstalten versehen ist und
[723]Bremen.
auch ein Petroleumbassin besitzt, so hat er doch nicht jenen Auf-
schwung nehmen können, dessen Bremerhaven sich erfreut. Geeste-
münde ist hingegen durch seine Hochseefischerei und seinen Fisch-
handel zu Bedeutung gelangt. Jüngster Zeit wurde Geestemünde mit
dem nahen Geestendorf zu einer Gemeinde vereinigt, die ungefähr
15.000 Einwohner zählt.
Der Handel Bremens ist in weit grösserem Umfange Einfuhr- als Aus-
fuhrhandel. Sein Einfuhrhandel beschränkt sich nur auf wenige Artikel, in diesen
aber nimmt er eine Stellung ersten Ranges ein. In zwei Artikeln ist Bremen der
grösste Markt der Welt, in Reis und Tabak; für Baumwolle und Indigo stellt
unser Platz den ersten Markt des europäischen Festlandes dar; in Schafwolle
und Petroleum rivalisirt er erfolgreich mit Antwerpen und Hamburg.
Die Gesammteinfuhr von Getreide und Hülsenfrüchten erreichte 1889
2,210.578 q (Werth 23·7 Millionen Mark). Bis auf Malz kommt fast Alles auf dem
Seewege herein. Der Markt wird mit Roggen, Gerste, Hafer und Weizen zumeist
von Russland versorgt, mit Mais von den Vereinigten Staaten. Ausser diesen sendet
Rumänien Roggen, die europäische Türkei Weizen.
Es wurden eingeführt Gerste 1889 522.143 q, 1888 472.835 q, Hafer 1889
171.455 q, Mais 1889 497.940 q, 1888 179.266 q, Roggen 1889 803.680 q, 1888
1,077.218 q, Weizen 1889 129.243 q, 1888 nur 62.984 q. Getreide blieb früher
meist in Bremerhaven, seit Vertiefung des Fahrwassers der Weser kommen aber
die Schiffe nach Bremen hinauf.
Die Mehleinfuhr, welche 1889 einen Werth von 4,466.800 Mark hatte
stammt aus Norddeutschland, Weizenmehl kommt auch aus Oesterreich-Ungarn
und der Union. Einfuhr von Roggenmehl 1889 56.335 q, von Weizenmehl 1889
123.739 q, 1888 135.862 q.
Die Einfuhr von ostindischem, japanischem und Siam-Reis betrug 1889
2,433.570 q (Werth 36,186.424 Mark), 1888 2,511.913 q. Diese Steigerung verdankt
Bremen seinen grossen Reisschälfabriken, in welchen gegenwärtig so viel Reis
polirt wird, wie in London und Liverpool zusammen.
Von thierischen Nahrungsmitteln sind zu nennen Butter (1889
25.924 q) aus Norddeutschland, Käse aus Holland und der Schweiz und Schmalz
aus der Union (1888 54.905 q, 1887 83.539 q).
Die Einfuhr von Fischen ist nicht bedeutend. Es mag hier erwähnt
werden, dass dieselbe an der Weser über Geestemünde stattfindet, welches eine Reihe
von Fischdampfern aussendet, die nach achttägigen Reisen ganz bedeutende Mengen
von Speisefischen bringen, so dass von Geestemünde 1889 60.000 q frische Fische
ins Inland exportirt wurden. In Geestemünde ist eine Fischauctionshalle.
Die Einfuhr von Schlachtvieh, das nach England transitirt, hat sich
von einem Werthe von 6·4 Millionen Mark im Jahre 1887 auf fast 12 Millionen
Mark im Jahre 1889 gehoben, die von Ochsenfleisch 1889 auf 22.406 q.
Unter den Colonialwaaren müssen wir in erster Linie Kaffee aus Brasilien
(1889 43.722 q) und Centralamerika nennen. Kleine Posten kommen auch aus
Domingo, Haïti, Columbien, bedeutende indirecte Zufuhren über Hamburg und
Portugal, Alles zusammen 92.285 q (Werth 17,397.442 Mark) gegen 126.468 q im
Jahre 1886.
91*
[724]Der atlantische Ocean.
Die Einfuhr von Thee und Gewürzen (1889 9100 q) ist klein, viel wich-
tiger die von Hopfen aus Bayern und Preussen; Einfuhr 1889 7125 q.
Von Spirituosen wurden 1889 42.728 hl (Werth 3,431.601 Mark) einge-
führt. Die langsam steigende Einfuhr von Bier erreichte 1889 68.122 hl.
Von Rübenzucker wurden 1889 164.252 q (Werth 6,359.426 Mark), 1888
148.694 q, von raffinirtem 1889 55.343 q aus Norddeutschland zugeführt.
Mit der Vertiefung des Fahrwassers dürfte es möglich sein, einen Theil
des Hamburger Zuckerhandels nach Bremen zu ziehen.
Wein kommt aus Frankreich (1889 44.231 hl), aus Spanien, Portugal,
Oesterreich-Ungarn und Italien, zusammen 1889 81.771 hl (Werth 5,470.252 Mark),
1886 63.773 hl; der deutsche Wein (1889 10.943 hl) umfasst meist Rhein- und
Frankenweine.
Tabak und Tabakstengel sind die wichtigsten Handelsartikel von Bremen.
Den Markt beherrschen durch ihre Menge noch immer die nordameri-
kanischen Sorten, insbesondere Kentucky (1889 82.111 q, 1886 197.903 q), Seed-
leaf (1889 53.015 q, 1888 29.624 q) und Virginia (1889 26.687 q, 1886 80.219 q),
welche wie Habana-, Cuba- und Columbiatabake direct gebracht werden.
Domingotabak kommt meist über Hamburg.
Es wurden eingeführt von Habanatabak 1889 18.789 q (Werth über fünf
Millionen Mark), von Domingotabak 1889 25.291 q, 1887 66.238 q.
Steigende Bedeutung gewinnen Java (1889 25.829 q), vor Allem aber das
durch seine leichten Deckblätter berühmte Sumatra (1889 30.655 q, Werth
11·5 Millionen Mark).
Die Gesammteinfuhr von Rohtabak betrug 1889 406.242 q (Werth
47,261.209 Mark).
Viel davon wird in Bremen und den von ihm abhängigen Tabakfabriken
verarbeitet, das Meiste jedoch wieder ausgeführt.
Die Einfuhr von Cigarren stieg 1889 bis auf 106.586 Mille (Werth 5·4 Mil-
lionen Mark) gegen 50.312·2 Mille im Jahre 1885. Die grösste Anzahl kommt
aus Preussen und Baden, die werthvollsten aus Spanisch-Westindien.
Rohe Droguen kamen 1889 in der Menge von 44.211 q im Werthe von
4,665.988 Mark nach Bremen, darunter ist hervorzuheben das Gummi elasticum
mit 5378 q (Werth 1,572.874 Mark).
Präparirte Droguen weist die Statistik 1889 mit 158.765 q (Werth
12,199.347 Mark) in der Einfuhr aus, darunter Borax und andere Salze 114.226 q,
Chinin 1017 q (Werth 8,607.150 Mark).
Die Einfuhr der Düngesalze aus Preussen steigt.
Legende zum Bremerhaven mit Bremen.
A Neuer Hafen, B Alter Hafen, C Kaiserhafen, D Hafenbassin, E Freigebietsgrenze, F Leuchtfeuer,
G Bahnhof, H Centralbahnhof, J Venlo-Hamburger Bahnhof, K Weserbahnhof, L Neustadtbahnhof,
M Stephanithor, N Doventhor, O Ansgariithor, P Heerdenthor, Q Bischofsthor, R Osterthor, S Werder-
thor, T Buntethor, U Hohe Thorstrasse, V Grüne Strasse, W Kaiserstrasse, X Georgsstrasse, Y Düstern-
strasse, Z Falkenstrasse. — 1 Birkenstrasse, 2 Bismarckstrasse, 3 Feldstrasse, 4 Humboldtstrasse, 5 Nordstrasse,
6 Olbersstrasse, 7 Langenstrasse, 8 Rembertistrasse, 9 Meinkenstrasse, 10 Kohlhökerstrasse, 11 Kreuzen-
strasse, 12 Prangenstrasse, 13 Sielwallstrasse, 14 Am Doben, 15 Auf der Haferkamp, 16 Hollerallee,
17 Grosse Allee, 18 Am Deich, 19 Osterdeich, 20 Am Wall, 21 Contrescarpe, 22 Osterthorsteinweg,
23 Kaiserbrücke, 24 grosse Brücke, 25 kleine Brücke, 26 Holzhafen, 27 Neustadtgraben, 28 Bade-
anstalten, 29 Stephanikirche, 30 St. Ansgariikirche, 31 Liebfrauenkirche, 32 Domkirche, 33 Friedhöfe,
34 Seefahrt, 35 Stadtbibliothek, 36 Casino, 37 Börse, 38 Rathhaus.
[[725]]
Bremerhaven und Bremen (Sonden in Metern).
Färbestoffe erhielt Bremen 1889 23.778 q (Werth 4,769.301 Mark). Der
einzige wichtige Artikel dieser Gruppe ist Indigo, der direct aus Ostindien und
über England und Hamburg kommt. Einfuhr 1889 4.179 q (Werth 4,113.707 Mark),
1888 472.990 q.
Die Einfuhr von Farbwaaren belief sich 1888 auf 55.203 q (Werth
7,248.583 Mark).
Felle und Häute kommen auch vielfach in den Bremer Handel; gesalzene
Häute aus den La Platastaaten 1889 19.529 q, getrocknete aus Ostindien und Bra-
silien 13.864 q, ferner rohes Pelzwerk 4631 q (Werth 3,633.724 Mark) aus Nord-
amerika und Sachsen.
Holz, Bau- und Nutzholz wurden 1889 für 9,194.530 Mark aus Russland,
Schweden und Norwegen eingeführt, besonders Dielen, Planken und Tischlerhölzer.
Korkholz kommt aus Portugal 33.184 q (Werth 2,118.805 Mark).
Der wichtigste Zweig der Einfuhr von Rohöl (1889 1,849.192 q, Werth
22,759.761 Mark) ist Petroleum. Dieses gehört unter die ersten Stapel-
artikel Bremens, welches eine eigene Petroleumbörse und ein Testbureau be-
sitzt. Die Petroleumeinfuhr Bremens sank 1886 bis auf 1,005.344 q herab, und es
ist wohl nur der Einführung des Transportes mit Tankschiffen und Tankwaggons
durch hiesige Firmen zu danken, dass sie sich 1888 auf 1,465.054 q, 1889 auf
1,769.705 q hob.
Die Standard Oil Cy. in New-York misst Bremen eine grosse Bedeutung zu;
sie gründete 1890 eine deutsch-amerikanische Petroleum-Gesellschaft mit dem
Hauptsitze in Bremen und Zweigniederlassungen in Harburg und Geestemünde und
erwarb die Anlagen und Schiffe der zwei grossen deutschen Firmen, welche den
Tanktransport hier eingeführt haben.
Von russischem Petroleum kamen hier 1889 34.709 q zur Einfuhr.
Von Pflanzenölen sind anzuführen Leinöl englischer und holländischer
Proveniez (1889 13.852 q), Palmöl, Cocosnussöl, Baumöl und ätherische
Oele; aller Art, letztere kommen aus Sachsen und China. Ferner müssen wir die
Einfuhr von Maschinenfetten (35.798 q) und Oelkuchen (130.271 q) erwähnen.
Kleesamen werden aus den Vereinigten Staaten eingeführt und Stuhlrohr
direct aus Ostindien und über England und Holland.
An Gespinnststoffen aller Art erhielt Bremen 1889 1,946.446 q im
Werthe von 224,822.791 Mark.
Bremen hat sich bereits zu einem ansehnlichen Baumwollmarkte ent-
wickelt, der den Bedarf Rheinpreussens, Westfalens und des Elsasses, der
Schweiz und der nördlichen Theile Böhmens an sich gezogen und von Liverpool
theilweise unabhängig gemacht hat. Ja, es tritt sogar in West-Russland mit Odessa
in Concurrenz.
Die Bemühungen der Bremer Baumwollbörse, deren zuverlässige Classifi-
cirung der Baumwolle allgemein angenommen wurde, sind mit Glück auf die Er-
mässigung der Eisenbahntarife gerichtet.
Schon geht Baumwolle consignationsweise nach Bremen, die 1890 eröffnete
Linie der Hansa, welche in den fünf Monaten der Baumwollsaison von hier aus
Bombay besucht, wird auch die ostindische Baumwolle auf den hiesigen Markt
bringen, den die nordamerikanische Baumwolle beherrscht.
Die Einfuhr erreichte 1889 1,329.174 q (Werth 136,750.130 Mark), ist aber
[727]Bremen.
grossen Schwankungen unterworfen; sie umfasste 1885 938.415 q, 1886 896.158 q,
1887 1,345.010 q, 1888 912.400 q.
Aehnlich schwankte die Hanfeinfuhr aus Russland, welche 1889 wieder
14.654 q erreichte.
Die Einfuhr von Jute hat bedeutend abgenommen, weil die Fabriken diesen
Artikel der niedrigen Seefrachten wegen über Hamburg beziehen. Sie betrug 1886
166.542 q, 1889 nur 78.118 q im Werthe von 4,330.091 Mark. Ein Drittel geht
direct aus Ostindien ein, zwei Drittel kommen über Grossbritannien.
Durch die Verbindung mit China und Japan steigt die Einfuhr von Roh-
seide, 1887 42.098 kg, 1889 74.657 kg.
Die directe Einfuhr von Schafwolle aus den La Platastaaten (1889 die
Hälfte der ganzen Einfuhr), der Capcolonie und Australien, die indirecte über
England und Belgien zeigt seit 1883 stetig wachsende Ziffern. 1885 betrug diese
Einfuhr 273.166 q, 1888 schon 337.536 q und 1889 510.293 q im Werthe von
81,787.741 Mark.
Seit der Norddeutsche Lloyd nach Australien geht, treten die directen
Zufuhren von dort allmälig an die Stelle der indirecten über London.
Von den mineralischen Rohstoffen ist die Einfuhr von Roheisen
1889 mit 63.972 q, die von Erzen aller Art mit ungefähr 75.000 q, von Schwer-
spath, Thon und Porzellanerde und die von Zinn (6661 q) zu nennen.
Die Einfuhr von Halbfabricaten aus Eisen umfasste 1889 einen Werth
von 5,736.135 Mark gegen 3,958.105 Mark im Jahre 1888; darunter befanden
sich Eisendraht 1889 173.253 q (Werth 2,646.657 Mark), 1888 120.068 q, Stangen-
eisen 1889 106.044 q, 1888 119.366 q, Eisenblech 1889 27.947 q und Stahl 1889
60.790 q, 1888 39.973 q, Alles aus Preussen mit Ausnahme von (1889) 12.738 q
Stahl, die Grossbritannien lieferte. Alle diese Posten zeigen seit 1885 eine be-
deutende Steigerung, die bis über 50 % ausmacht. Von anderen Metallhalbfabri-
caten nennen wir nur noch Kupfer und Kupferdraht aus Australien, 1889
7384 q.
Unter den Rohstoffen erscheinen 1889 Baumaterialien mit 4,625.886 Mark
in der Gesammteinfuhr, darunter Cement aus Pommern und England (333.899 q),
Asphalt (156.056 q) und Ziegeln.
Steinkohlen importirte Bremen 1889 6,066.708 hl, 1888 5,522.797 hl zu
zwei Drittel aus Westfalen und zu einem Drittel aus Grossbritannien.
Bremen liegt dem westfälischen Kohlengebiete viel näher als Hamburg,
deshalb treten die englischen Kohlen mehr zurück. Von der Vollendung des Ruhr-
Ems-Canales, an den Verbindungen nach Bremen anschliessen, werden die deutschen
Kohlen grossen Vortheil ziehen.
Unter den Halbfabricaten stehen Garne und Twists mit einer Import-
ziffer von 33.798 q (Werth 10,850.897 Mark) an der Spitze. Es entfielen auf
Wollengarn aus England, Sachsen und Preussen 1889 13.162 q (Werth 5,163.261
Mark), 1886 17.774 q. Auch die Einfuhr von Baumwollengarn und Twists, die
fast allein aus Grossbritannien erfolgt, zeigt einen bedeutenden Rückgang seit
1886, von 26.410 q auf 17.748 q (Werth 3,925.117 Mark).
Unter den Ganzfabricaten nehmen Manufacturwaaren den ersten Platz ein.
Wollen und Halbwollenwaaren wurden 1889 38.059 q (Werth 21,471.324 Mark),
1888 37.329 q, 1885 18.641 q aus Sachsen, Preussen und Thüringen eingeführt.
Tuch lieferte Preussen 1889 3619 q (Werth 3·3 Millionen Mark), 1888 6275 q.
[728]Der atlantische Ocean.
Baumwollenwaaren, etwa drei Viertel der ganzen Einfuhr, liefert Sachsen,
neben ihm Preussen, 1889 im Ganzen 57.017 q (Werth 16,911.502 Mark). Dieser
Artikel zeigt gegen alle Vorjahre, besonders gegen 1886 mit einer Einfuhr von
71.850 q einen bedeutenden Rückgang, ebenso wie Seiden- und Halbseidenwaaren,
die von 7369 q (Werth 12,067.431 Mark) im Jahre 1885 auf 5549 q (Werth
8,668.123 Mark) im Jahre 1889 gesunken sind. Dieselben liefern Rheinpreussen
(Krefeld), Oesterreich-Ungarn und Sachsen.
Dagegen hat sich die Einfuhr von Leinen und Leinenwaaren seit 1885 von
12.041 q bis 1889 auf 22.384 q (Werth 5,355.697 Mark) stetig gehoben. Diese
Waaren sind vorzugsweise preussischer, sächsischer und auch englischer Pro-
venienz.
Die Gruppe der „anderen“ Manufacturwaaren weist 1889 eine Import-
ziffer von 5007 q (Werth 2,484.726 Mark) auf, oder einen Zuwachs von 100 %
gegen 1885. Sachsen und Preussen sind die Absender.
Die Einfuhr von gewöhnlichem und lackirtem Leder betrug 1889
9519 q (Werth 3,599.513 Mark). Dasselbe wird von Preussen, Belgien und Eng-
land geliefert. 1885 betrug die Gesammteinfuhr nur 3.232 q.
Im Handel von Hamburg und von Bremen spielt die Einfuhr von Papier-
waaren, Büchern, Gemälden eine grosse Rolle. Sie belief sich für Papier 1889 auf
circa 46.232 q, die aus Norddeutschland und Bayern kommen, für Drucksachen
auf 14.749 q (Werth 3,322.135 Mark), 1885 auf 11.468 q, welche Sachsen, Preussen
und Württemberg sendeten.
Unter den Metallfabricaten sind erstlich Eisenwaaren, 1889 zusammen
für 11,760.668 Mark gegen 14,166.931 Mark im Jahre 1888 zu nennen, Nägel
wurden 71.560 q aus Preussen zugeführt; 1885 betrug die Einfuhr nur ungefähr
ein Siebentel der von 1889.
Stahlwaaren 1889 32.014 q (Werth 4,337.845 Mark) kamen ebenfalls aus
Preussen und zeigen in der Quantität eine Zunahme von circa 150 %, im Werthe
von mehr als 100 % gegen das Jahr 1885.
Auch die Einfuhr von Gusseisen, aus Preussen zumeist, hat sich von
18.801 q im Jahre 1885 auf 24.448 q im Jahre 1889 gehoben, die von Eisenbahn-
schienen (1889 43.435 q) bleibt mehr stationär.
Von Maschinen wurden aus England etwa 70 % der Einfuhr, der Rest aus
Preussen, Sachsen, Bayern, Hamburg und der Union gebracht; 1889 74.310 q
(Werth 5,548.829 Mark) gegen 50.471 q im Jahre 1885.
Ebenso ist die Einfuhr von Messingwaaren im Jahre 1889 seit 1885 auf
das Vierfache und die anderer Metallwaaren in demselben Zeitraume auf das
Dreifache, bis auf 8990 q (Werth 2,911.922 Mark) gestiegen. Dieselben waren
vornehmlich preussischer, dann bayrischer, englischer und amerikanischer Pro-
venienz.
Glaswaaren erreichten 1889 in der Gesammteinfuhr 4,101.271 Mark, darunter
Flaschen aus Preussen, Oldenburg und Norddeutschland 1,827.653 Mark, ferner
sind zu nennen Spiegel und alle anderen Glaswaaren, letztere mit 1,514.740 Mark.
Porzellanwaaren sandten Thüringen, Bayern, Preussen 1889 26.114 q
(Werth 1,677.239 Mark), 1885 17.868 q, ferner Steingut aus Preussen 1889
12.143 q (Werth 504.168 Mark).
Schliesslich sei noch der Einfuhr von Kleidern 1889 5039 q (Werth
3,065.145 Mark) gedacht.
[729]Bremen.
Handschuhe kamen aus Preussen, Sachsen und Oesterreich (1889 3458 q,
Werth 5,670.679 Mark, 1885 1141 q) und andere Lederwaaren aus Oesterreich,
Preussen, der Schweiz und Hessen-Darmstadt; Einfuhr 1889 5667 q (Werth
2,270.368 Mark), 1888 1978 q.
Auch Galanterie- und Kurzwaaren sind in der Einfuhr bedeutend ge-
stiegen, 1889 bis auf 30.976 q (Werth 6,624.843 Mark) gegen 17.419 q im Jahre
1885. Die Herkunftsländer waren der Reihe nach Oesterreich, Preussen, Hamburg,
Japan, Thüringen, Bayern und Sachsen.
Die Einfuhr von Gummiwaaren erreichte 1889 5162 q (Werth 1,479.461
Mark), die von Spielwaaren aus Thüringen (Sonneberg) 1889 38.314 q (Werth
3,942.286 Mark).
Grössere Werthe zeigen auch Holzwaaren und musikalische Instru-
mente aus Sachsen und Hamburg, 1889 3740 q, Werth 1,578.280 Mark.
Wir schliessen die Einfuhr Bremens mit einer Uebersicht der Waaren nach
ihren Hauptgruppen. Es entfielen 1889 auf Verzehrungssteuergegenstände
6,754.398 q, Werth 190,575.147 Mark, auf Rohstoffe 14,686.745 q, Werth
322,954.243 Mark, auf alle Halbfabricate und Fabricate zusammen 1,479.614 q
im Werthe von 142,010.249 Mark.
Der Bremer Handel mit Verzehrungssteuergegenständen und Rohstoffen ist
nun vorwiegend Eigenhandel, also der werthvollste Theil des Handels unseres
Hafens.
Wir stellen sie daher auch bei der Ausfuhr Bremens an die Spitze.
Die Ausfuhr von Stärke erreichte 1889 47.191 q (Werth 1,871.028 Mark),
die von Bier 141.309 hl (Werth 6,535.616 Mark); der grösste Theil des Bieres ist
deutsches Bier, viel davon in Bremen selbst gebraut. 1885 wurden 93.683 hl,
1889 schon 137.222 hl deutschen Bieres ausgeführt; von letzterem nach Britisch-
Ostindien 23.649 hl, über 34.000 hl nach Südamerika, grössere Mengen auch nach
Grossbritannien, den Vereinigten Staaten, Niederländisch-Indien, kurz, in alle
Theile der Welt.
Von Hopfen gingen 1889 noch 5964 q (Werth 1,590.908 Mark) nach Eng-
land, Australien und den Vereinigten Staaten.
Die Ausfuhr von Gewürzen (1889 10.378 q) ist seewärts bedeutender als
landwärts.
Deutschen Rübenzucker beziehen die La Platastaaten, Ostindien,
Schweden, zusammen 1889 32.887 q, Rohzucker wurde in der Menge von 164.013 q
nach Grossbritannien und Nordamerika ausgeführt.
Die Gesammtausfuhr von Rohtabak betrug 1889 457.009 q (Werth
57,693.489 Mark). Hievon ging die Hauptmasse nach Deutschland und Oesterreich-
Ungarn, grössere Quantitäten auch in folgende Länder: Sumatratabak nach Hol-
land und den Vereinigten Staaten; Habana nach Portugal; Domingo nach der
Schweiz und Holland; Brasil nach Holland und Portugal; Kentucky nach der
Schweiz, Skandinavien, Italien, Portugal; Maryland und Seedleaf nach Holland
und Dänemark; Virginia nach Skandinavien, der Schweiz, La Plata, Belgien.
Fremde Cigarren (15 Millionen Stück) gingen nach Deutschland und den La
Platastaaten, deutsches Fabricat (86,735.500 Stück) nach allen europäischen
Ländern, der Rest (15,892.500 Stück) nach Australien, an den La Plata, nach dem
Cap, Ostindien, den Vereinigten Staaten und Brasilien.
Für Deutschland und dessen Hinterländer, dann für Nordeuropa sind be-
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 92
[730]Der atlantische Ocean.
stimmt Kaffee, Ausfuhr 1889 80.225, 1886 113.623 q, ebendahin gehen Thee
und die verschiedenen Gattungen von Spirituosen, deren Ausfuhr 1889 28.401 hl
(Werth 3·1 Millionen Mark) erreichte, endlich Gewürze.
Das Deutsche Reich ist das Hauptbestimmungsland für Getreide und Hül-
senfrüchte, 1889 im Ganzen 1,912.634 q (Werth 21 Millionen Mark), für Kleie
und Mehl (1889 18.922 q), für die Reisabfälle (359.655 q) und für fremde Weine
(1889 59.295 hl). Deutsche Weine werden vorzugsweise in die Union ausgeführt.
Dorthin ging auch der grössere Theil der Anilinfarben (1889 11.965 q,
Werth 2,810.802 Mark), Ultramarin nach Ostasien und Ostindien.
Trockene Früchte (1889 21.313 q) gehen meist nach Deutschland.
Für Reis, der hier erst geschält wird, ist Bremen ein disponirender Platz.
Von der Ausfuhr des Jahres 1889 (2,045.495 q) gingen 221.067 q in die Union,
129.882 q nach Brasilien, 129.598 q nach Portugal, 100.187 q an den La Plata,
grössere Mengen nach Nordeuropa, Westindien und Spanien. Auf dem Landwege
werden Deutschland, Oesterreich und die Schweiz versorgt.
Ueberwiegend zur See gehen ferner aus: Schlachtvieh nach England, 1889
mit Dampfern des Norddeutschen Lloyd 134.612 lebende und 18.159 geschlachtete
Hammel; Ochsenfleisch und Schmalz, von letzterem 1889 45,118 q, 1887 81.655 q
nach Hamburg.
In der Ausfuhr von Rohstoffen nennen wir zuerst Baumaterialien für
2,112.837 Mark, darunter Asphalt 151.246 q, Cement 198.887 q und Dachschiefer,
ferner Holz für 5,538.047 Mark, darunter besonders Dielen, Planken und
Cedernholz.
Deutsche Steinkohlen 1,943.752 hl (Werth 1,908.039 Mark) für den
Schiffsbedarf.
Droguen 41.526 q (Werth 4,833.881 Mark) folgen, darunter Gummi
elasticum 5337 q (Werth 1,604.188 Mark) nach Norddeutschland und den Ver-
einigten Staaten, dann Schellak, Weinstein und Pottasche.
Von präparirten Droguen gingen ins Ausland 164.250 q (Werth 12,567.343
Mark), darunter 10.943 q Salze und für 8,607.160 Mark Chinin.
Düngesalze wurden 88.866 q ausgeführt, meist nach Nordeuropa, Russland
und Norddeutschland, daneben 124.067 q anderer Dünger, auch Chilisalpeter,
Schwerspath, Thonerde und Porzellanerde.
Farbhölzer und Farbstoffe führte Bremen 23.081 q (Werth 4,749.254
Mark) aus, darunter besonders Indigo 4002 q (Werth 4,115.011 Mark) nach
Deutschland, Oesterreich, Schweden, Frankreich, Italien.
Korkholz wurde für 2,114.456 Mark nach Norddeutschland und Russland,
Harze 50.774 q nach Hamburg, Lumpen zur Papierbereitung 73.217 q exportirt.
Die Oelausfuhr 1,473.225 q im Werthe von 21,993.895 Mark entfiel fast
ganz auf Petroleum (1,411.928 q) nach Deutschland, der Schweiz und Skan-
dinavien.
In der Ausfuhr von Fellen ist die von Pelzwerk 4592 q (Werth 3,618.441
Mark) nach Sachsen und den Vereinigten Staaten und die von gesalzenen Häuten
(25.435 q, Werth 2,044.267 Mark) nach Deutschland und Belgien, und von ge-
trockneten (14.344 q) nach Thüringen zu bemerken.
Die Ausfuhr von Spinnstoffen umfasste 1,835.819 q im Werthe von
218,439.623 Mark; davon gingen 1,256.913 q Baumwolle nach Deutschland, Oester-
reich, Russland; Schafwolle 497.181 q (Werth 82,761.490 Mark) fast nur nach
[731]Bremen.
Norddeutschland, Jute und Hanf, zusammen etwa 60.000 q, ebendahin, sowie die
ganze Einfuhr von Rohseide.
Die ganze oben genannte Einfuhr von Oelkuchen und Kleesamen, dann von
Rohzinn war für Deutschland bestimmt.
Unter den Halbfabricaten der Ausfuhr ist zu nennen Eisen 1889 für
3,833.075 Mark, der grösste Theil entfällt auf Eisendraht, 1889 169.242 q (Werth
2,549.164 Mark), 1888 117.900 q, nach den La Platastaaten, Portugal, China und
Australien bis zu den Sandwichinseln in immer steigenden Quantitäten.
Von Garnen und Twisten gingen 1889 43.193 q (Werth 11,036.170 Mark)
ins Ausland, darunter Baumwollengarne 1889 17.445 q (Werth 3,843.479 Mark),
1888 13.187 q und Wollengarne 12.643 q (Werth 4,939.585 Mark), hauptsächlich
nach Sachsen. Der bei weitem grössere Theil ist fremdes Product.
Die Lederausfuhr umfasste 1889 7819 q (Werth 3,014.955 Mark). Die aus-
ländische Waare geht nach Deutschland, die deutscher Provenienz nach den Ver-
einigten Staaten.
Unter den Ganzfabricaten nennen wir zuerst Baumwollenwaaren 1889
49.723 q (Werth 14,924.788 Mark), 1888 55.543 q nach den Vereinigten Staaten,
Ostindien, Ostasien, Leinenwaaren 1889 32.151 q (Werth 5,408.390 Mark), 1888
32.251 q nach Deutschland, den Vereinigten Staaten und dem La Plata, Seiden-
waaren 1889 5478 q (Werth 8,533.822 Mark), ebenfalls nach den Vereinigten
Staaten, Wollentuche 1889 2716 q (Werth 2,563.348 Mark), nach demselben
Lande und China, Wollen und Halbwollenwaaren 34.269 q (Werth 19,577.520 Mark),
1888 4156 q nach denselben Ländern, besonders in die Union.
Bücher und Drucksachen gingen von Bremen aus 1889 13.735 q (Werth
3,105.215 Mark) in die Union; Papier 21.989 q (Werth 1,001.406 Mark) nach
England, Ostindien, La Plata, Australien und den Sundainseln.
Auch die Ausfuhr von Galanterie- und Kurzwaaren ist bedeutend, 1889
29.312 q (Werth 6,369.518 Mark), denen wir gleich Gemälde hinzuziehen, die
1889 im Werthe von 1,030.864 Mark ebenfalls meist nach der Union und den La
Platastaaten gingen.
Glaswaaren wurden 1889 für 2,251.524 Mark ausgeführt; Bouteillen nach
Portugal, Grossbritannien und den Vereinigten Staaten, fremde Glaswaaren nach
den Vereinigten Staaten und Britisch-Ostindien.
Porzellanwaaren 1889 22.420 q (Werth 1,451.327 Mark) und Stein-
waaren gehen besonders nach England und der Union.
Gummiwaaren 1889 circa 4760 q (Werth 1,360.000 Mark) und Leder-
waaren, darunter namentlich Handschuhe deutschen Fabricats für ungefähr
5½ Millionen Mark und andere Lederwaaren für circa 2 Millionen Mark gehen
nach der Union und Australien in steigenden Quantitäten.
Auch die Ausfuhr von Maschinen, die aber nur zu einem Drittel deutscher
Provenienz sind, ist im Steigen und erreichte 1889 4,157.224 Mark; sie gehen nach
der Union, nach Hamburg, Südamerika, Norddeutschland, Russland und Australien,
die Metallwaaren (Werth 1889 3,053.606 Mark) fast ausnahmslos nach den Ver-
einigten Staaten.
Die bremische Grossindustrie war bisher in den meisten Fällen auf die
Verarbeitung von Rohproducten gegründet, welche dem bremischen Grosshandel
angehören und von demselben eingeführt werden.
Die Grundlage dieser Industrie bildete früher die Verarbeitung von Tabak
92*
[732]Der atlantische Ocean.
doch geht die Cigarrenfabrication seit 1852 beständig zurück. Wer ihren
Umfang richtig beurtheilen will, muss die zahlreichen über ganz Deutschland
verbreiteten Filialen berücksichtigen, in denen Bremer Häuser arbeiten lassen.
Sehr wichtig sind Reismühlen und im Zusammenhang mit ihnen die Erzeugung
von Stärke und die Verwendung der Reisabfälle als Viehfutter; ferner die Bier-
brauereien.
Zu nennen sind die Wollkämmereien und Kammgarnspinnereien, die Jute-
spinnerei und Weberei der Umgebung.
Die grosse Petroleumraffinerie hat zur Folge die Erzeugung von
Fässern, die Tabak- und Cigarrenfabriken brauchen gewöhnliche Kistchen aus
Cedernholz. Man verarbeitet hier Farbhölzer, Indigo und Schellack.
Im Zusammenhang mit dem Rhedereigeschäfte stehen die Tauwerk-
fabriken hier und in Vegesack, die Erzeugung von Segeltuch, der Schiffbau, die
Herstellung von Giessereiproducten, von Maschinen und Werkzeugen.
In dieser reichen Stadt blüht auch seit alters die Gold- und Silber-
schmiedekunst.
Der Waarenhandel von Bremen betrug in Tausenden von Metercentnern
und Mark:
| [...] |
Den Schiffsverkehr Bremens für die Jahre 1889, 1888 und 1887 zeigen die
folgenden Tabellen, wobei zu bemerken ist, dass hier der Verkehr der zum Ge-
biete Bremens gehörigen kleineren Hafenplätze Vegesack, Bremerhaven und auch
der Hafenorte Geestemünde, Braake, Elsfleth, Nordehamm etc. einbezogen ist,
welche zur Provinz Hannover und zu Oldenburg gehören.
Der Seeschiffsverkehr Bremens und seiner Beihäfen betrug im Ein- und
Auslauf:
| [...] |
Die Weserschiffahrt umfasste 1889:
| [...] |
Der Haupttheil des Seeverkehres entfällt auf Bremerhaven, denn im ganzen
Handelsgebiete Bremens liefen 1889 2883 Schiffe mit 1,682.726 Reg.-Tons ein,
davon kamen auf Bremerhaven 1357 Schiffe mit 1,209.515 Tons, auf Vegesack
53 Schiffe mit 5851 Tons, auf Geestemünde 275 Schiffe mit 214.361 Tons, auf
[733]Bremen.
Braake 109 Schiffe mit 59.500 Tons, auf Nordenhamm 69 Schiffe mit 55.148 Tons
und auf Bremen selbst 1889 1020 Schiffe mit 138.351 Tons, 1888 910 Schiffe mit
113.247 Tons. Der Schiffsverkehr, der an die Stadt Bremen selbst herankommt,
steigt in gleichem Masse mit der Verbesserung des Fahrwassers der Unterweser,
denn eine Reihe von Artikeln sucht immer den am weitesten gegen das Innere
zu gelegenen Platz auf.
Einen grossen Aufschwung wird auch das oldenburgische Nordenhamm
nehmen, welches der Norddeutsche Lloyd zum Ausgangspunkte seines überseeischen
Schnellverkehres macht.
Nach Flaggen geordnet stellt sich die Reihenfolge der Nationen im See-
verkehr Bremens mit seinen Vorhäfen folgendermassen dar: Im Hafen von Bremen
selbst verkehren fast nur deutsche Schiffe; im bremischen Seehandelsgebiete, wie
wir es oben beschrieben haben, steht die deutsche Flagge an der Spitze 1889 mit
4216 Schiffen und 2,183.739 Registertonnen.
Die Schiffe Bremens nehmen mit circa 900.000 Registertonnen den Haupt-
platz ein. Es folgen die britische mit 917 Schiffen und 938.275 Tonnen, dann
Norwegen, Dänemark und Holland. Zu bemerken ist, dass fast die ganze englische
Bremen anlaufende Handelsflotte in Ballast ausgeht.
Die stärkste Tonnenzahl der einlaufenden Schiffe kommt aus der nord-
amerikanischen Union (1889 344 Schiffe mit 694.582 t), und zwar die meisten aus
dem Hafen New-York. Im Auslaufe sehen wir die stärkste Tonnenzahl nach Gross-
britannien (593.501 t) und dann erst nach der Union gehen.
Regelmässige Verbindungen bestehen nach den englischen Häfen Hull,
London und Southampton. Die Gesellschaft „Neptun“ betreibt regelmässige Fahrten
nach Amsterdam, Portugal, Spanien, geht nach Köln am Rhein und will auch
Kopenhagen und Stockholm in ihren Fahrplan aufnehmen. Sie besitzt 16 Dampfer,
2 sind im Bau.
Der Hauptträger des transatlantischen Handels von Bremen ist der „Nord-
deutsche Lloyd“; er wurde im Jahre 1857 gegründet, und im Juni 1858 trat sein
Dampfer „Bremen“ die erste Reise nach New-York an; am 31. December 1889
besass er 40 grosse transatlantische Dampfer mit 148.342 Registertonnen, im
Ganzen 146 Fahrzeuge mit 182.817 t; sechs grosse Dampfer waren im Bau. Mit
dieser mächtigen Flotte und ihren gewaltigen Leistungen steht der „Norddeutsche
Lloyd“ an zweiter Stelle unter allen Dampfschiffrhedereien der Welt, allein an
Umfang übertroffen von der „Peninsular and Oriental Company“.
Er unterhält ohne die Extrafahrten regelmässig zwei- bis dreimal in der
Woche Verbindungen von Bremerhaven über Southampton nach New-York (3558 See-
meilen) fahrplanmässig in 9—10 Tagen, einmal in der Woche nach Baltimore.
Auf beiden Linien zusammen beförderte er 1889 138.075 Personen und überflügelte
im Verkehre mit New-York die ältesten englischen Gesellschaften. Eine directe
Verbindung Bremen-New-York dient Frachtzwecken. Nach Südamerika bestehen
Postlinien über Antwerpen an den La Plata und über Antwerpen und Lissabon
nach Bahia, Rio und Santos. Der Personenverkehr stieg 1889 auf 49.681 Personen.
Für die Fahrten nach Ostasien und Australien geniesst der Norddeutsche
Lloyd eine bedeutende Subvention des Deutschen Reiches.
Die ostasiatische Linie berührt Antwerpen, Southampton, Genua und Port
Saïd, geht durch den Suezcanal und über Colombo, Singapore, Hongkong nach
[734]Der atlantische Ocean.
Shanghai, wo eine Seitenlinie nach Yokohama anschliesst. Stationsdampfer ver
mitteln den Verkehr zwischen Singapore und Sumatra.
Bis Colombo hält die australische Linie denselben Curs ein, um über Ade-
laide, Melbourne nach Sydney zu gehen, von wo eine Zweiglinie nach Samoa geht.
Der ostasiatischen und australischen Linie führt eine Nebenlinie Brindisi-Port
Saïd die Post zu.
Im Verkehr mit Ostasien und Australien befördert der „Lloyd“ die Güter
von und nach Hamburg zu denselben Frachtsätzen wie für Bremen.
Die Dampfer der transatlantischen Fahrt des „Lloyd“ durchliefen 1889
im Ganzen 2,380.067 Seemeilen oder rund 110 mal den Umfang der Erde.
Die deutsche Dampfschiffahrts-Gesellschaft „Hansa“ unterhält eine regel-
mässige Fahrt zwischen Bremen-Calcutta via Madras und Bremen-Bombay.
Die Handelsflotte Bremens umfasste:
| [...] |
Leichterfahrzeuge besass Bremen 1889 127 mit 15.567 t.
Rechnen wir zur Flotte Bremens noch die der anderen Häfen der Unter-
weser, so erhalten wir eine Seeflotte von 513 Schiffen mit 459.505 t und
260 Leichterschiffe mit 22.178 t. Die rasche Zunahme der Handelsflotte Bremens
muss besonders hervorgehoben werden.
Bremen ist der wichtigste Auswandererhafen des Deutschen Reiches.
Im Jahre 1889 wurden 48.622 Passagiere aus dem Deutschen Reiche, 54.301 aus
anderen Ländern, zusammen 102.923 Passagiere auf 207 Schiffen direct und 1142
indirect über englische Häfen befördert. 1888 erreichte die directe Auswanderung
95.270, 1887 99.350 Personen.
Die Auswanderung deutscher Unterthanen weist über Bremen allein für den
Zeitraum 1851—1889 1,569.718 Personen aus.
Von Bremen gehen fünf Eisenbahnen ab, und zwar nach Geestemünde,
nach Oldenburg-Leer mit einer Abzweigung nach Nordenhamm, nach Osnabrück-
Münster-Duisburg, über Langwedel nach Berlin mit einer Abzweigung von Lang-
wedel nach Hannover und nach Minden und endlich die Bahn über Harburg nach
Hamburg.
In Bremen finden wir zahlreiche Assecuranzen für jeden Geschäftszweig
Im Seeversicherungsgeschäfte waren 1888 403,287.000 Mark versichert, davon
103,893.900 Mark bei den vier bremischen Assecuranzcompagnien, 197,855.500 Mark
bei den 44 Agenturen fremder Gesellschaften, der Rest bei bremischen Privat-
Assecuradeurs.
Die Börse von Bremen vereinigt alle Gattungen von Börsegeschäften, cul-
tivirt aber seit Jahren mit Glück die Bildung von Specialbörsen, wie die für Pe-
troleum, Baumwolle und Tabak.
Bremen ist Sitz einer Reichsbankhauptstelle; ausserdem haben ihren Sitz
in Bremen die Bremer Bank, die deutsche Nationalbank, die bremische Hypothe-
kenbank und die Gewerbebank. Ferner sind zu nennen die Filiale der Deutschen
Bank aus Berlin und die der Niederländischen Bank.
[735]Bremen.
In Bremerhaven bestehen der Bremer Bankverein und die Bremerhavner
Bankfiliale der Geestemündner Bank.
In Bremen sind Consulate folgender Staaten: Argentinien, Baden, Bayern
(G.-C.), Belgien, Bolivia, Braunschweig, Chile, Columbia, Costarica, Dänemark,
Dominikanische Republik, Ecuador, Frankreich, Griechenland, Guatemala (G.-C.),
Haïti, Hawaiï, Hessen, Honduras, Italien, Liberia, Lippe-Detmold, Mecklenburg-
Schwerin, Niederlande, Nicaragua, Oldenburg, Oesterreich-Ungarn (G.-C.), Paraguay,
Preussen (G.-C.), Russland (G.-C.), Sachsen, Salvador, Schaumburg-Lippe, Schweden
und Norwegen, Schweiz, Spanien, Türkei, Uruguay, Venezuela, Vereinigte Staaten
von Amerika, Württemberg.
[[736]]
Hamburg.
Als Karl der Grosse zu Beginn des IX. Jahrhunderts an der
Stelle des heutigen Hamburg ein festes Schloss erbaute, leiteten ihn
hauptsächlich militärische Gründe. Durch eine Reihe längs der Elbe
angelegter Befestigungen sollte den Raubzügen der Wenden begegnet
werden. Von einem Handelsverkehr im grossen Style, oder gar von
einem Weltverkehr, wie die Neuzeit ihn geschaffen, konnte damals,
wo die Ostsee und das Mittelmeer den europäischen Handel be-
herrschten, und selbst viele Jahrhunderte später natürlich nicht die
Rede sein. Selbst in der Blüthezeit der Hansa konnten die weitest-
blickenden Kaufherren Hamburgs nicht ahnen, dass einstens die
Stadt an der Elbemündung einen völlig fabelhaften Aufschwung
nehmen und zu einem der mächtigsten Thore des europäischen Con-
tinentes anwachsen solle, durch welches Güter und Menschen in
buntem Gedränge in enormen Massen aus- und einströmen werden.
Die Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Indien war das
Morgenroth für Hamburgs Grösse, und wirklich ist das heutige Ham-
burg eine der grossartigsten Werkstätten moderner Arbeit und Thätig-
keit, eine der imposantesten Metropolen des Welthandels geworden.
Das Walten des schöpferischen Geistes begegnet man auf Schritt
und Tritt, im Weichbilde der Stadt ebenso wie in ihrer reizvollen
Umgebung, vornehmlich aber in den ausgedehnten, mit Schiffen und
Fahrzeugen jeder Art erfüllten Hafenbassins.
Im Hafen wird vor aller Augen unschätzbare Arbeit in Reich-
thum umgesetzt, der in tausend Formen zur Geltung kommt.
Ein Wohlstand, ein Reichthum, der völlig an Ueberfluss grenzt,
erfüllt die äusserst belebte Stadt, die sich wie eine jugendliche Braut
zu zieren, zu schmücken versteht und mit ihren prächtig malerischen
Villen, Gärten und Anlagen sich einen der herrlichsten Myrthenkränze
um den Scheitel wand. Nichts Reizenderes in der That als das breite,
grüne Land, welches Hamburg umgibt und das weite Becken der
[[737]]
Hamburg (Sandthor-Hafen).
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 93
[738]Der atlantische Ocean.
Alster so verführerisch umsäumt. Paradiesische Musseplätze sind dort
entstanden, jeder ein kleines Sanssouci, ein Aufenthalt für träumende
Philosophen und Dichter, aber auch für reichgewordene Kaufherren,
welche in Hamburg, wie in wenigen Plätzen, es verstehen, „nach
des Tages Müh’ und Lasten sich behaglich auszurasten“.
Der grandiose Hafen mit seiner lärmenden Wirklichkeit, seiner
rastlosen Bewegung, mit seinem ganzen ausgedehnten Apparat an
baulichen und mechanischen Hilfsmitteln bleibt aber als Quelle des
Guten und Schönen, welches Hamburg zu schaffen verstand, doch
der interessanteste Theil des Gebietes der freien Stadt.
Wie unser Plan zeigt, erstreckt sich der Hafen auf beiden Ufern
der Elbe zwischen Altona im Westen bis über Rothenburgsort im
Osten in einer Ausdehnung von mehr als 7 km.
Wie in anderen Häfen wurde zur Erleichterung des Handels auch
in Hamburg ein ausgedehntes Freihafengebiet geschaffen, dessen Be-
grenzung wir durch den Legendebuchstaben A anzeigen.
Im äussersten Westen des Hafens ankern die Kohlenschiffe
aus England, welche ungeheure Mengen der „schwarzen Diamanten“
für den Bedarf der Schiffahrt und den Stadtconsum einführen.
Zunächst liegt innerhalb des Freihafengebietes das gegen den
Eisgang der Elbe geschützte, 10 ha umfassende Gebiet des Nieder-
hafens (B) mit seinen Abtheilungen: Jonas-, Hull-, Brandenburger-
und Blockhaus-Hafen, die sämmtlich 5 m Wassertiefe bei Ebbe be-
sitzen.
In den Niederhafen münden die sogenannten „Flethe“, das sind
Canäle, auf welchen die Waaren mittelst flachgebauten „Schuten“ zu
den Magazinen und Speichern gebracht werden. Am Kehrwieder-
fleth und Brooksfleth (C), welche 2 m Wassertiefe haben, liegen
zu beiden Seiten die grossen Lagerhäuser (Blöcke genannt) der Ham-
burger Freihafen-Lagerhaus-Gesellschaft. Auch der Staat erbaute dort
einige Speicher, in welchen auch das Postamt und die Maschinen-
station für den hydraulischen und elektrischen Betrieb untergebracht
wurden.
Hieran schliesst sich südwärts der 10 ha grosse Sandthorhafen
(D), ein 5·6 m tiefes Bassin von 116·5 m grösster Breite und einer
Quaientwicklung von 2058 m Länge mit Speichern von 27.360 m2
Fläche an den beiden Langquais (Sandthor- und Kaiserquai). Der
Sandthorhafen ist für Dampfschiffe bestimmt. Südlich desselben ist
das 6·5 ha grosse Bassin des Grasbrookhafens (G) mit 6 m Tiefe
und an dessen Eingang der Schiffbauerhafen (E), an dessen
[739]Hamburg.
nördlichen und südlichen Quais (Dalmann-Quai und Hübner-Quai)
hauptsächlich die transatlantischen Dampfer anlegen, welchen Speicher
von 27.132 m2 Fläche zur Verfügung stehen. An der Spitze beim
Schiffbauerhafen erhebt sich das gewaltige rothe Gebäude des vom
Staate verwalteten Quaispeichers mit hohem Thurme. Einschliess-
lich der Kellerräume hat das riesige Bauwerk sechs Geschosse mit
18.972 m2 Grundfläche und vermag eine Waarenbelastung von mehr
als 30.000 t auszuhalten.
Acht hydraulische Hebevorrichtungen stehen dort zur Ver-
fügung.
Weit sichtbar und von jedem Punkte des Hafens zu beobachten
ist der am Thurme des Speichers functionirende Zeitball. Unter
53° 32′ 32″ nördl. Br. und 9° 58′ 57″ östl. L. v. Gr. gelegen, wird
derselbe von der Sternwarte (9) aus auf elektrischem Wege täglich
um 12 Uhr Greenwicher Zeit (12h 39m 54s Hamburger Ortszeit) fallen
gelassen und dient auf diese Art den Schiffen zu Zeitvergleichen.
Ausserhalb des Grasbrookhafens liegt der Strandhafen (H)
mit 530 m Quailänge und Speichern von 9786 m2 Fläche. Er ist
6 m tief.
Oestlich der grossen Bassins liegt der 5 m tiefe Magdeburger
Hafen (J) mit 2·4 ha Fläche und Magazinen von 10.000 m2 über-
dachter Lagerfläche.
An das System der bis jetzt genannten Häfen reiht sich der
17·7 ha grosse und 6 m tiefe Baakenhafen (K), dessen nördlicher
Quai (Baakenquai) erst 1888 eröffnet wurde; der südliche (Petersen-
Quai) mit 1220 m Länge sowie der äussere 1205 m lange Kirchen-
pauer-Quai sind bereits seit 1886, beziehungsweise 1887 dem Betriebe
übergeben.
Am linken Elbeufer liegt gegenüber den vorgenannten Bassins
der ausgedehnte, 26·5 ha messende Oberländer Hafen (L), vorläufig
nur 2·3 m tief und in den äusseren und inneren Hafen unterschieden.
Mit letzterem steht der Veddelcanal (W) mit 13·1 ha Fläche
in Verbindung, der seinerseits wieder in den der Elbe zufliessenden
Reiherstieg (V) einmündet.
Einen grossartigen Umfang hat das 34·6 ha messende Bassin des
Segelschiffhafens (M), welcher, 6·3 m tief, eine Quaientwicklung
von 3199 m Länge aufweist und an der Einfahrt 160 m breit ist.
Dieser Hafen ist für eine Flotte von 100 bis 110 grossen Ocean-
fahrern bestimmt und wurde 1887 eröffnet. Seine Speicheranlagen
sind erst zum Theil vollendet.
93*
[740]Der atlantische Ocean.
An diesen schliesst sich der 13·4 ha grosse Petroleumhafen
(N) an, welcher, 6·3 m tief, im Jahre 1887 umgebaut wurde und grosse
Lagerräume und Tanks besitzt.
Weiter nach Westen sind auf dem „Kleinen Grasbrook“
die grossen Holzhäfen und zu Steinwärder noch eine Zahl von
Flethscanälen für kleinere Schiffe.
Die Gesammtlänge der für die Seeschiffahrt bestimmten Ham-
burger Quais beträgt 11.456 m, jene der Quai-Schuppen und Speicher
4690 m und die Gesammtwasserfläche der Häfen und Canäle des
hamburgischen Freihafengebietes 156·7 ha.
Die hier gegebenen Daten über die Eintheilung und Grösse des
Hafens beziehen sich auf den Stand der Arbeiten zu Ende des Jahres
1889. Es ist selbstverständlich, dass bei dem regen Schaffenstriebe
der Hamburger und infolge des riesigen Aufschwunges des Verkehrs
ein Stillstand in den Hafenarbeiten nicht eintreten kann und fort-
währende Veränderungen stattfinden. So sind im Laufe des Jahres
1890 zwei neue Bassins zwischen dem Segelschiffhafen und dem
Petroleumhafen in Ausführung begriffen, welche grösstentheils für
Seeschiffe bestimmt sind.
Das Freihafengebiet umfasst circa 1000 ha, wovon etwa 300 ha
Wasser und 700 ha Landfläche sind.
Ausserhalb des Freihafengebietes münden in die Elbe aus dem
Stadtcentrum kommend eine Zahl von Canälen, darunter die Alster-
arme, deren System mit dem sogenannten Oberhafen (R, S) in Ver-
bindung steht und vornehmlich für Flussfahrzeuge bestimmt ist.
Ein zweites System von Canälen, welches ebenfalls mit dem Ober-
hafen communicirt, ist jenes des Bille-Flüsschens. Bei Rothenburgsort
ist das 2 m tiefe Bassin des Zollhafens (Y).
Der Hafen von Hamburg ist selbstverständlich mit allen Hilfs-
mitteln ausgestattet, welche die Schiffahrt an ein so gewaltiges Ver-
kehrsemporium zu stellen berechtigt ist. Eisenbahnschienen führen an
alle Quais und an den Speichern vorbei; sie sind untereinander und
mit den acht Bahnhöfen der Stadt in Verbindung. Eine 1887 dem
Betrieb übergebene 600 m lange Brücke (13) und neben derselben
die Eisenbahnbrücke (12) überschreiten ausserhalb des Freihafen-
gebietes die Elbe. Gross ist die Zahl der vorhandenen Docks, deren
grösstes bei 167·5 m Länge Schiffe von 5000 t Gehalt aufzunehmen
vermag.
Sechs Aufholspligs für Schiffe bis zu 1150 t Gehalt, dann Dampf-
krahne und hydraulische Hebevorrichtungen stehen zur Verfügung.
[741]Hamburg.
Der riesige, 31 m über dem Quai hohe Dampfkrahn auf der Land-
spitze zwischen dem Oberländer und dem Segelschiff-Hafen besitzt
eine Tragfähigkeit von 150 t und ist der grösste der Erde.
Der Bedeutung Hamburgs und dem gerühmten Unternehmungs-
geiste seiner Söhne entsprechend ist auch die Ausdehnung seiner Rhe-
derei und seines Schiffbaues. Beachtet man, dass in Hamburg 11 Schiffs-
werften für Stahl-, Eisen-, Holzschiffbau mit Maschinenfabriken und
zahllose Werkstätten für Schiffsreparaturen bestehen, so erkennt man
erst, welch ungeheurer Apparat zur Bewältigung des angewachsenen
Verkehres zu Hamburg in Betrieb gesetzt werden muss.
Hamburg (Alster).
Welch grossartiger Schauplatz voller Thätigkeit und voll des
buntesten Lebens ist dieser Hafen!
Feenhaft erglänzt er des Nachts, wenn ihn das elektrische Licht
aus zahllosen Sonnen überflutet.
Gegenüber der Fülle des Sehenswerthen im Hafen und der Aus-
dehnung desselben tritt die Bedeutung der Stadt Hamburg, in welcher
sich trotz ihres hohen Alters nur wenige Erinnerungen aus vergan-
genen Jahrhunderten erhalten haben, erheblich weit zurück.
Der Umgestaltungstrieb der Hamburger, dann auch der furcht-
bare Brand im Jahre 1842, welcher nahezu ein Viertel der Stadt
[742]Der atlantische Ocean.
verwüstete und zu Neubauten trieb, wirkten als verjüngende Elemente,
wodurch die Handelsmetropole an der Elbe ein völlig modernes
Aussehen gewonnen hat. In der That haben sich nur hie und da
einzelne Bürgerhäuser aus dem XVII. und XVIII. Jahrhundert er-
halten.
Um die einst mit Befestigungen umgürtet gewesene Alt- und
Neustadt lagern am rechten Ufer im Nordosten die ehemalige Vor-
stadt St. Georg und im Westen die Vorstadt St. Pauli, welche wie
ein zwischen Hamburg und Altona eingetriebener Keil betrachtet
werden kann. Gegen Norden aber liegt das Doppelbassin des Alster-
Flüsschens, deren südliches Becken „Binnenalster“ weit in die Stadt
hineinreicht und einen höchst malerischen Schmuck derselben bildet.
15 andere Vororte lagern um die erwähnten Vorstädte.
Am linken Elbeufer sind in Steinwärder und Kleiner Grasbrook
innerhalb des Freihafengebietes ansehnliche Fabriksdistricte mit aller-
hand industriellen Etablissements entstanden. Ausser Schiffswerften und
Maschinenfabriken findet man dort Guano-, Kerzen-, Spiritus-, Butter-
fabriken, Reismühlen, Oelraffinerien, Brauereien, Kupferhütten u. dgl.
Die Gründung Hamburgs reicht weit in das Mittelalter zurück, doch fehlt
es an urkundlichen Nachrichten über dieselbe. Gewiss ist, dass, wie eingangs
erwähnt, Karl der Grosse in der Hamma, einem Walde nächst des heutigen Ham-
burg, eine feste Burg erbaute, die, von Sachsen vertheidigt, sich mannhaft gegen
die anstürmenden Wenden hielt, so dass der eifrige Christenbote St. Ansgar schon
im Jahre 833 den Hauptsitz der skandinavischen Mission nach Hamburg verlegte.
So entstand dort ein Erzbisthum mit einer Kirche; als 1223 an Stelle Ham-
burgs die Stadt Bremen zum Sitz des Erzbisthums gewählt wurde, erlosch der
kirchliche Glanz der Elbestadt.
Das erstarkende Dänemark hatte unterdessen Holstein genommen, 1201
Hamburg erobert und die Stadt 1216 an den Grafen Schaumburg Orlemünde ab-
getreten. Doch kaufte sich Hamburg gegen eine Summe von 15.000 Mark Silber
frei, und Kaiser Otto IV. bestätigte die Reichsfreiheit.
Die Grafen von Holstein, besonders Adolf III. und Adolf IV., unter deren
Oberherrlichkeit Hamburg stand, verliehen derselben namhafte Privilegien, die
Anfänge ihrer Selbständigkeit. Die Einwohnerzahl vermehrte sich zusehends. Vor-
her war Bardowiek, die stolze Handelsstadt, durch den geächteten Heinrich den
Löwen (1189) gestürmt und zerstört worden, wodurch der Bestand einer wichtigen
Nebenbuhlerin Hamburgs aufhörte und infolge des Zuzuges von Niederländern
die Betriebsamkeit der Stadt rasch zunehmen konnte.
Beizeiten war Hamburg der Hansa beigetreten und nahm in der Folge an
den gegen Dänemark im XIII. und XIV. Jahrhundert geführten Kämpfen der
Handelsverbindung und an der Bekämpfung der Piraterie rühmlichen Antheil.
In dem Zeitpunkte aber, als die Bedeutung der Hansa zu sinken begann,
brachten die Entdeckung von Amerika und des Seeweges nach Ostindien dem
Handel der Stadt einen neuen Aufschwung.
[743]Hamburg.
Die Reformation wurde 1529 eingeführt, und bevor das wirre Kämpfen des
30jährigen Krieges begann, hat sich Hamburg mit starken Festungswerken um-
geben, welchem Umstande die Stadt es dankte, dass sie von jedem Ungemach
verschont blieb.
Nach einem Stillstand in der Entwicklung hob sich infolge der mit Amerika
im XVIII. Jahrhundert angeknüpften Verbindungen der Wohlstand der Stadt,
wozu auch die Kriege in den Niederlanden und am Rhein beitrugen, welche den
Handel nach dem neutralen Hamburg, dessen vorzügliche geographische Lage an
der Mündung der Elbe immer mehr zur Geltung kam, abgelenkt hatten. Da-
mals erhob es sich zur ersten Seehandelsstadt Deutschlands.
Die napoleonische Zeit zu Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts brachte
der Stadt harte Schläge, grossen Schaden. 1803 blockirten die Engländer die Elbe,
1810 wurde Hamburg dem französischen Kaiserreich einverleibt. Der Handel sank
herab, und man schätzt den Verlust der Stadt während der Zeit von 1806 bis
1814 auf mehr als 250 Millionen Mark. 1813 hatte sich Hamburg vorzeitig von
der Gewaltherrschaft befreit; Davoust kam und ahndete es mit entsetzlicher Grau-
samkeit.
Noch einmal ward die Stadt von einem schweren Unfall betroffen. Es war
der furchtbare Brand im Jahre 1842, welcher den Stadttheil nächst dem Bassin
der Binnenalster eingeäschert hatte. Wie ein Phönix entstieg ein neues glän-
zendes Hamburg der Asche und vergass bald, zu Grösse und Reichthum gedeihend,
die Wunden früherer Zeiten.
Politisch ist Hamburg sammt Gebiet eine souveräne Freistadt, seit 1870
wurden aber der deutschen Einheitsidee viele altüberkommene Freiheiten geopfert.
Das Gebiet von Hamburg zählte 1885 518.620 Einwohner, von
welchen auf Stadt, Vorstadt, Vororte und Häfen, also auf städtisches
Gebiet 471.427 kamen. Seither ist die Bevölkerung auf 580.000 ge-
stiegen.
Der Mittelpunkt des städtischen Lebens ist die Gegend nächst
dem Alsterbassin (Binnenalster), dessen südwestlicher Quai, der herr-
liche Jungfernstieg, den Glanzpunkt Hamburgs bildet. Dort sind die
Anlegeplätze der Localdampfer, dort wogt das Getriebe der lebens-
frohen Bevölkerung, und dorthin lenkt der Fremde vor Allem seine
Schritte. Einen prächtigen Anblick bietet die weite Wasserfläche des
Bassins, welche Ruder- und Segelboote, Dampfer und Barken nach
allen Richtungen durchschneiden. Schattige Baumalleen umsäumen das
Becken, und schöne Häuserfronten erheben sich an den Quais. Im
Norden begrenzen, von der Eisenbahn durchschnitten, hübsche Garten-
anlagen das Bassin, und die breite Lombardsbrücke überwölbt mit
malerischem Effect den Wasserdurchlass in das Becken der Aussen-
alster. Von hier aus geniesst man einen herrlichen Ausblick auf die
Villenstadt von Uhlenhorst und den gerne besuchten Vergnügungsort
Alsterlust, wie auf das thürmegeschmückte Hamburg.
In diesen Anlagen erhebt sich das Schiller-Denkmal und der
[744]Der atlantische Ocean.
imposante Renaissancebau der an Kunstsammlungen und Gemälden
reichen Kunsthalle (25).
Das commercielle Leben hat nächst der stattlichen Börse (4)
das Hauptquartier aufgeschlagen. Das Gebäude der Börse wurde kurz
vor dem Brande 1842 beendigt, blieb aber von demselben verschont.
Jüngst durch Zubauten erweitert, ist das Gebäude reich mit plasti-
schem Schmuck geziert.
Dort versammelt sich zwischen 1½ und 3 Uhr Nachmittags die
Handelswelt von Hamburg. Die dort untergebrachte äusserst werth-
volle Commerzbibliothek zählt an 50.000 Bände. An die Börse ist
der Palast der Bürgerschaft, das schöne Rathhaus, angebaut. Das alte
Stadthaus (14) liegt weiter im Südwesten am westlichsten der Alster-
canäle.
Ein besonderer Schmuck Hamburgs sind seine Kirchen. Im
Südwesten erhebt sich der kühn gedachte Bau der Michaeliskirche (21),
welche, in der Zeit von 1750 bis 1752 erbaut, 6000 Personen zu
fassen vermag und von einem 131 m hohen Thurm überragt ist. In
diesem Thurme stellte Benzenberg seine berühmten Fallversuche an.
Die äusserlich und im Innern prächtig geschmückte Nicolai-
kirche (20) wurde an Stelle der 1842 verbrannten im gothischen
Styl des XIII. Jahrhunderts neu aufgebaut, und zählt ihr 1874 voll-
endeter Westthurm bei 144 m Höhe zu den höchsten Bauwerken der
Erde. Die Kirche ist eines der edelsten Gotteshäuser des nördlichen
Deutschland.
Durch alte Bilder und Sculpturen ausgezeichnet ist die beim
Brande von Hamburg verschont gebliebene Katharinenkirche.
Sehenswerth ist die im gothischen Styl erbaute St. Petrikirche
nächst dem Johanneum (22), in welch letzterem die 1529 gegründete
Gelehrtenschule ein Heim gefunden hat. Im Hofe wurde 1885 Joh.
Bugenhagen, dem Hamburger Reformator, ein Standbild errichtet. Im
südlichen Hauptflügel ist die Stadtbibliothek mit 300.000 Bänden und
5000 Handschriften und eine Sammlung Hamburger Alterthümer auf-
bewahrt.
Die an Stelle der geschleiften Festungswerke angelegten Garten-
anlagen umschliessen in weitem Bogen die ganze Stadt und bieten
herrliche und vielbesuchte Promenaden. An der Ostseite hat man dort
nächst dem Steinthor das durch seine grosse Conchyliensammlung
ausgezeichnete naturhistorische Museum (26) und das grosse Bauwerk
der Gewerbe- und Realschule mit dem Museum für Kunst und Ge-
werbe (27) erbaut, allwo auch die prähistorische Sammlung und das
[745]Hamburg.
Museum für Völkerkunde sich befinden. In der Nähe ist der 1878
errichtete, 20 m hohe monumentale Hansa-Brunnen am gleichnamigen
Platz der Vorstadt St. Georg. Die östlichen Anlagen werden von der
Eisenbahn durchschnitten, welche zum Berliner Bahnhof (5) führt und
von da in das Hafengebiet sich verzweigt.
An der Westseite der Stadt liegt der Gartengürtel der Wall-
anlagen, zn welchen der grosse, unter Brehm’s Leitung angelegte und
reich ausgestattete zoologische Garten gehört. Hieran reihen sich die
als Gärten angelegten Begräbnissplätze, wo 1138 Hamburger, „welche,
mit vielen Tausenden Mitbürgern von dem französischen Marschall
Davoust im härtesten Winter 1813 auf 1814 aus dem belagerten
Hamburg vertrieben, ein Opfer ihres Kummers und ansteckender
Seuchen wurden“, begraben sind.
An die gedachte Erinnerungsstätte stösst der schöne botanische
Garten mit einem Victoria Regia-Haus, und weiter südwärts erhebt sich
das Postgebäude und der Justizpalast für das Oberlandesgericht der
Hansastädte; man gelangt hierauf zu dem prächtigen, Elbhöhe ge-
nannten Aussichtspunkt, der meist Stintfang genannt wird, und gewahrt
jenseits des Wassergrabens auf der Höhe das Seemannshaus (15), das
Gebäude der zur Berühmtheit gelangten deutschen Seewarte (11) und
nördlich der beiden die reich ausgestattete Sternwarte (9).
Hamburg ehrte manche deutsche Geistesgrösse durch die Er-
richtung von Denkmälern, wie der Stadt überhaupt ein nicht geringer
Antheil an Deutschlands literarischem Rufe zugeschrieben werden
muss, denn hier lebten und wirkten Lessing, Klopstock, Reimers,
Busch, Schröder u. a. um die deutsche Literatur hochverdiente Männer.
In der Vorstadt St. Pauli hat sich das Matrosenleben ange-
siedelt. Hier gibt es namentlich auf dem Spielbudenplatz eine schwere
Menge von Schaubuden, Volkstheatern, Circus, Verkaufsbuden, Schän-
ken u. dgl. Ein grosses Panorama erhebt sich am ausgedehnten Hei-
ligengeistfeld, und Tanzböden für Matrosen sind in den Seitenstrassen
vertheilt.
Altona schliesst unmittelbar an St. Pauli an, besitzt aber gegen
den Glanz Hamburgs nur ein bescheidenes Interesse. Der ältere Theil
der Stadt weist schmale und gewundene Gässchen auf, doch sind
auch lange gerade Strassenzüge vorhanden, so die grosse Elbstrasse,
die mit ihr parallel laufende, auf der schroff ansteigenden Höhe ge-
führte Palmaille und nördlich derselben die Königsstrasse. Die Stadt
besitzt ein Museum, Gemäldegallerie, eine Kunst- und Gewerbehalle
und mehrerere hübsche Monumente. Unter den religiösen Bauten ver-
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 94
[746]Der atlantische Ocean.
dienen die 1718 erbaute katholische Kirche und die 1873 erbaute
zierliche gothische St. Johanniskirche genannt zu werden.
Das Matrosenleben entfaltet sich vornehmlich an den Vorsetzen
und in den anstossenden Strassen, wo sich Verkaufsgeschäfte und
Tabagien für die Bedürfnisse der Matrosen ununterbrochen aneinander-
reihen. Auch im Altonaer Hafen herrscht reges Treiben, auch dort
widerhallt wie in Hamburg der die schwere Arbeit begleitende Ma-
trosengesang, wogt das ewige Getriebe des rastlosen Verkehrs.
Wenden wir uns nun der riesigen Schiffahrtstrasse zu, welche
von Hamburg in die Nordsee führt. Dieser Theil der Elbe führt den
Namen Norder- oder Unterelbe, und hat das Fahrwasser von Cux-
haven bis Hamburg eine Erstreckung von 103 km und von der Insel
Neuwerk eine solche von 118 km.
In Böhmen entspringend, wird die Elbe nach Aufnahme der
wasserreichen Moldau, der Eger, Mulde, Saale u. a. Zuflüsse zu einem
mächtigen Strom, welcher sich in nordwestlicher Hauptrichtung der
Nordsee zuwälzt. Auf dem grössten Theile ihres Laufes wird die
Elbe von Dampfern befahren und ist durch den Plauen’schen Canal
mit Berlin und durch den Stecknitz-Canal mit Lübeck verbunden.
Von Hamburg aus, wo der Schienenstrang sie überbrückt, ist die Elbe
für Seeschiffe jeder Grösse praktikabel.
Das Fahrwasser ist, wie unser Plan der unteren Elbe zeigt,
vortrefflich betonnt und mit Hinzurechnung des Wasserweges nach
Hamburg durch 32 Leuchtfeuer grösster und mittlerer Gattung be-
leuchtet; auch dienen den Schiffen namentlich nächst der Mündung
zahlreiche gut sichtbare Landmarken von mitunter bedeutender Grösse
zur Orientirung. Ein vorzüglich geschultes Lootsencorps trägt sehr
zur Sicherheit des Verkehres bei.
Auf dem ganzen Unterlaufe der Elbe hat das Fahrwasser —
kurze Strecken ausgenommen — keine geringere Tiefe als 7 m und
erreicht bei St. Margarethen sogar 22 m und bei der an Ablagerungen
reichen Mündung 16—18 m. Hiezu tritt nun die Höhe der Flut,
welche bei Cuxhaven im Mittel 3·3 m, bei Brunsbüttel 2·7 m, bei
Glückstadt 2·8 m und bei Hamburg 3·6 m beträgt. Ein so hoher
Wasserstand gestattet daher den Verkehr der tiefstgehenden Ocean-
schiffe selbst über die seichtesten Stellen des Fahrwassers.
Die Zufahrt zur Elbemündung ist von See aus durch 5 grosse
Leuchtschiffe markirt. Das äusserste derselben, „Gustav Heinrich“
oder „äusseres Leuchtschiff Nr. 1“ genannt, ist 7·5 km ausserhalb
des weit nach West vorgeschobenen Neuwerker Walls verankert. OzS
[747]Hamburg.
davon liegt 9 km entfernt das Pilotenschiff mit einem Leuchtfeuer,
hierauf folgt 1·9 km flussaufwärts in gleicher Richtung das Leuchtschiff
Nr. 2, dann weiter 8·2 km das Hauptschiff Nr. 3 und 9·2 km von
diesem das fünfte und innerste der Elbeleuchtschiffe.
Zwischen den Leuchtschiffen Nr. 2 und Nr. 3 liegt noch ein
Pilotenschiff (Winterstation) verankert. Zur weiteren Orientirung bei
Nacht dient das prächtige Leuchtfeuer auf der Insel Neuwerk, welches
auf der Spitze eines 40 m hohen Thurmes erglänzt und 28 km weit
sichtbar ist.
30·5 km nordwestlich des äussersten Leuchtschiffes der Elbe
taucht der steile, 63 m hohe Fels von Helgoland, die jüngste Er-
werbung des Deutschen Reiches, aus dem Meere empor. Das Eiland
hat die Gestalt eines Dreiecks und misst 1·8 km Länge bei einer
grössten Breite von nur 700 m. Das obere Plateau (Oberland), über
welches die vielgelästerte Kartoffelallee führt, trägt grünen Pflanzen-
schmuck, und die senkrechten Abstürze der aus hartem Thon und
Mergel bestehenden Insel, die nur an der Südostseite einen schmalen
Sandstrand, das Unterland, besitzt, zeigen eine auffällige Färbung.
Deshalb der bekannte Spruch: „Grün ist das Land, roth ist die
Kant, weiss ist der Sand, das sind die Farben von Helgoland.“
An den steilen Klippen der Insel nagen die sturmbewegten
Wellen der Nordsee, und Stück für Stück brechen Felsen und Klippen
und sinken in die Tiefe, bis einmal über den letzten zerbröckelnden
Fels die Wogen rauschend sich schliessen, ein zweites Vineta! Wie
trefflich wusste Anastasius Grün dem geheimnissvoll-schwermüthigen
Zauber des Eilandes, dieses „umflorten Sarges“, ergreifende Worte
zu leihen:
An der Südostseite hat sich das als Seebad rühmlichst bekannte
Städtchen, das etwa 2000 Einwohner zählt, angesiedelt. Die Bevöl-
kerung ist ein in Sitte und Tracht eigenartiger Menschenschlag friesi-
scher Abstammung und Sprache; die Männer markige Gestalten „mit
Augen blau und tief wie die Nordsee“, die Frauen reizend und schlank,
„wie von Thorwaldsen gemeisselt mit Schwind’schen Augen“.
Ungefähr 1400 m im Osten des Unterlandes liegt die Düne,
welche im Jahre 1720 eine Sturmflut von der Insel abtrennte. Die
Düne ist mit ihrem herrlichen Badestrand die eigentliche Badeinsel.
94*
[748]Der atlantische Ocean.
In den letzten Jahren zählte man jährlich über 10.000 Badegäste und
mehr als 4000 Touristen.
Helgoland wird schon frühzeitig in der Geschichte genannt.
Es ist das altheidnische Fosilesland, welches nach der Christianisirung den
Namen Heiligland und hierauf „Insel der heiligen Ursula und der 11.000 Jung-
frauen“ erhielt.
Sturmfluten rüttelten an dem Felsen, „so dass 1216 von neun Kirchspiele,
so 1030 darauf waren, nur zwei übrig blieben“. Seit dem XIV. Jahrhundert ge-
hörte die Insel den Herzogen von Schleswig Holstein-Gottorp und wurde 1714 im
Kampfe der königlichen Linie gegen die herzogliche von den Dänen erobert.
1807 bemächtigten sich die Engländer der Insel, deren Besitzrecht im
Frieden von 1814 bestätigt ward.
Während der napoleonischen Continentalsperre war Helgoland ein Haupt-
platz des Schmuggels.
Das ausgezeichnete Seebad wurde dort 1826 gegründet.
Am 9. Mai 1864 kämpfte im Angesichte der Insel die österreichisch-
preussische Schiffsdivision unter Wilhelm von Tegetthoff gegen eine dänische unter
Svensen.
Mittelst des zwischen dem Deutschen Reiche und Grossbritannien
am 17. Juli 1890 abgeschlossenen Vertrages, welcher die Abgrenzung
der beiderseitigen Interessensphären in Afrika betraf, wurde die Insel
an das Deutsche Reich abgetreten und von diesem am 9. August
1890 in solenner Weise übernommen. Tags darauf besuchte Kaiser
Wilhelm II. das Eiland, welches vermuthlich durch starke Befesti-
gungen zu einem Stützpunkt der deutschen Flotte und zu einem Boll-
werke für die früher ziemlich wehrlosen beiden Hafenstädte Bremen
und Hamburg umgestaltet werden dürfte.
Die Insel unterhält mit Cuxhaven-Hamburg und Bremerhaven-
Geestemünde einen regelmässigen Dampferverkehr.
Noch bevor man in die Elbe einlaufend das Innerste der Leucht-
schiffe passirt, gelangt man in Sicht der beiden Leuchtfeuer von Döse-
Cuxhaven.
Cuxhaven ist der wichtigste Hafenplatz an der Elbemündung.
Das seit 1872 mit dem nahen Ritzebüttel zu einer Gemeinde ver-
einigte Städtchen gehört nebst dem Gebiete von Döse und der Insel
Neuwerk zu Hamburg.
Die Exclave von Cuxhaven ist ein liebliches Stück Landes, das
eine gastfreundliche Bevölkerung bewohnt.
Einiges Interesse beansprucht das aus dem XIV. Jahrhundert
stammende Schloss von Ritzebüttel, welches zu den ältesten derartigen
Bauwerken Norddeutschlands zählt. Es war das Raubschloss derer
von Lappe.
Freundlich schimmern zwischen dunklem Grün die Häuser von
[[749]]
A Nordsee, B Haupteinfahrt in die Weser, C Haupteinfahrt in die Elbe, D Pilotenschiff, E Medem-Sand, F Leuchtfeuer, F1 Leuchtschiffe, G Signalstation und Leuchtfeuer
Rother Sand.
[750]Der atlantische Ocean.
Cuxhaven über den hohen Deichen und senden die ersten Grüsse den
zur See Ankommenden entgegen, wie sie auch den Scheidenden das
letzte Lebewohl entbieten.
Die Strecke zwischen Cuxhaven und Hamburg bietet nur am
rechten Ufer der Elbe in der Nähe von Hamburg, wo leichte Terrain-
wellen dicht an den Fluss treten, eine Reihe malerischer Landschafts-
bilder. Hier haben sich anschliessend an Altona die Vororte Ottensen,
wo Klopstock begraben liegt, Nienstedten und weiter westlich Blan-
kenese-Dockenhuden als herrliche Sommerfrischen der Hamburger
vornehmen Welt angesiedelt.
Der übrige Theil der Elbeufer ist reizlos.
Brunsbüttel, in dessen Nähe der im Bau befindliche Nordostsee-
canal in die Elbe ausmünden wird, und das in morastiger Gegend
1616 gegründete Glückstadt, welches einst zur Hauptstadt von Schles-
wig und zu einem Emporium für den Elbehandel bestimmt war, sind
die wichtigsten Orte am rechten Elbeufer.
Das seit 1755 befestigte Städtchen Stade (10.000 Einwohner)
liegt 4 km vom linken Elbeufer entfernt. Hier wurde von Schweden
und dann von Hannover der Stader Elbzoll behoben, bis dieses Recht
1861 durch Ablösung erlosch. Stade war im Mittelalter seines lebhaften
Handels nach England wegen viel genannt, aber das Aufblühen von
Hamburg brachte dem Städtchen den Niedergang.
Hamburg ist Deutschlands grösster Seehandelsplatz und
einer der grössten der Welt. Hier begegnen sich die oberländische
und die Seeschiffahrt als in ihrem Endpunkte, hier ist der Haupt-
stapelplatz überseeischer Rohproducte und der Hauptausgangspunkt
des bis ins Herz von Böhmen reichenden Elbeverkehrs, des wirth-
schaftlich am stärksten ausgenützten Flussgebietes des Deutschen
Reiches und Oesterreich-Ungarns.
Durch die Elbe ist Hamburg das natürliche Emporium für
Mittel- und Ostdeutschland, selbst für Nordböhmen, geworden, und
trotz der Eisenbahnen, die mit der Elbe und ihren Nebenflüssen con-
curriren, hat dieses System von Wasserstrassen seine Bedeutung für
den Verkehr der schweren und billigen Massengüter behauptet, ja
Hamburg gravitirt durch den billigen Wasserweg derartig nach
Oesterreich, dass zu Gunsten von Triest von der österreichischen Re-
gierung ein Differentialzoll aufgestellt werden musste.
Die Elbe von dem „Feinde des Hamburgischen Handels“, von
[751]Hamburg.
den Elbezöllen zu befreien, war von jeher das Ziel der Bürger Ham-
burgs, das erst 1870 vollständig erreicht wurde.
In unseren Tagen hat eine neue Agitation begonnen für die
Vertiefung der Elbe. Es soll eine Fahrrinne hergestellt werden, die
bei niedrigstem Wasserstande 2 m Tiefe hat.
Denn die 1844 von den Uferstaaten festgesetzte Mindesttauch-
tiefe der Elbe bei niedrigster Wassertiefe von 0·835 m entspricht
längst nicht mehr den Bedürfnissen der jetzigen Schiffahrt. Schon
mit einer vorläufigen Vertiefung von 0·835 m auf 1·25 m auf der
Strecke Melnik-Hamburg könnten die Flussschiffahrer der Elbe ihre
Kähne weit ergiebiger ausnützen.
Die baldig zu erwartende Vollendung der neuen Canalverbindung
zwischen Oder und Elbe über Berlin erheischt sogar gebieterisch als
Ergänzung die neue Correction der Elbe, auf der von Lauenburg bis
Leitmeritz die Kettenschleppschiffahrt betrieben wird. Die Vollendung
der Regulirung der Elbe-Moldaustrasse bis Prag wird die Ausdeh-
nung der Kette bis zu dieser Stadt zur Folge haben.
Den Schiffen, welche von der See heraufkommen, bietet Ham-
burg den unschätzbaren Vorzug, dass es weit im Innern des Conti-
nentes liegt, wodurch die auch heute noch verhältnissmässig theuere
Landfracht möglichst verringert wird.
Wohl meiden manche Schiffe in den Wintermonaten den Hafen
Hamburg, weil die Schiffahrt auf der Unterelbe manchen Fährlich-
keiten unterworfen ist. Am meisten leidet darunter der Schnelldampfer-
verkehr, den vor Kurzem die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-
Actien-Gesellschaft eingerichtet hat.
Denn es fehlt bis heute noch an der Mündung des wichtigsten
deutschen Stromes ein zu jeder Zeit erreichbarer genügender Zufluchts-
hafen. Doch hat bereits der Senat bei der Bürgerschaft die Bewilli-
gung der Kosten für die Erbauung eines tiefen Hafens in Cuxhaven
beantragt, und die Bürgerschaft hat sie bewilligt.
Hamburg braucht nicht zu fürchten, dass Cuxhaven seinen Handel
schädigen werde.
Niemand wird dort löschen oder laden, wenn man dies weiter
landeinwärts thun kann, nur ein Mangel, welcher von Natur aus der
Lage Hamburgs anhaftet, wird für die Schiffahrt dieser alten und
grossen Handelsstadt beseitigt werden.
Auch der Vorhafen des im Bau begriffenen Nord-Ostseecanals bei
Brunsbüttel wird Hamburg gegenüber kaum zu einer selbständigen
Handelsbedeutung erwachsen.
[752]Der atlantische Ocean.
Die geographische Lage macht Hamburg unangreifbar. Niemals
haben derartige Widerwärtigkeiten die Kraft Hamburgs gebrochen,
das schon 1558 eine Börse erhielt; ja gerade aus solchen Kämpfen
ging Hamburg immer kräftiger hervor, weil da manches Veraltete
gestürzt wurde.
Die Politik der Dänen, welche aus Neid auf die reiche und
unabhängige Hansastadt 1664 den benachbarten Flecken Altona zur
Stadt und zum Freihafen erhoben, brachte Hamburg dahin, den so
lange festgehaltenen Stapelzwang aufzugeben und als Kampfmittel seit
1713 schrittweise die Zollfreiheit einzuführen.
Allmälig traten an die Stelle des altgewohnten Proprehandels
der Commissionshandel und das Speditionsgeschäft, und Altona wurde
dadurch von der Stelle eines Concurrenten zu einem Anhängsel Ham-
burgs herabgedrückt, das es heute noch ist.
In ähnlicher Weise und nach langem Erwägen vollzog sich vor
unseren Augen am 15. October 1888 die Aufhebung, oder besser
gesagt Beschränkung des Freihafens, der jetzt statt eines Wohnplatzes
von fast 600.000 Einwohnern eine kleine Stadt von Waarenhäusern
und Fabriken derjenigen Exportindustrien Hamburgs umfasst, welche
zu ihrer Entwicklung unbedingt frei sein müssen von Zollplackereien.
Man erhielt dadurch den alten charakteristischen Verkehr Ham-
burgs, die für das Ausland und die Versorgung der Schiffe berechnete
Fabriksthätigkeit, und gab der fleissigen Bevölkerung die Möglich-
keit, Hamburg eine Industriestadt für das grosse Absatzgebiet des
Deutschen Reiches werden zu sehen.
Der beispiellose Aufschwung, den Hamburg in der letzten
Zeit genommen hat, beweist, dass man das Richtige getroffen.
Wie überall treibt auch hier der Aufschwung zu neuen Ver-
besserungen, zu neuen Opfern, so fehlt auch heute in Hamburg schon
wieder so manches an den Hafeneinrichtungen. Die Quaianlagen
genügen nicht mehr dem so riesig anwachsenden Frachtenverkehre,
es fehlen Vorrichtungen zum Löschen der Tankschiffe, weshalb sich
diese Petroleumfahrzeuge jetzt nach Harburg wenden.
Die Bahnhofsanlagen im Freihafen bedürfen einer Erweiterung,
die Errichtung eines Centralbahnhofes wird mit Recht gewünscht.
Man wird diese Hindernisse gewiss beseitigen, und der für den
Augenblick von Hamburg abgelenkte Theil des Verkehres wird den
günstigen Hafen sofort wieder aufsuchen, so wie Krupp aus Essen
seine schweren Schiffsgeschütze nicht mehr über Antwerpen versendet,
[753]Hamburg.
seit Hamburg den bereits erwähnten Dampfkrahn von 150.000 kg
Tragfähigkeit besitzt.
Denn die Grösse Hamburgs ist nicht allein die nothwendige
Folge der glücklichen geographischen Lage, sondern ebenso einer
langen und mühevollen Entwicklung durch eigene Kraft und nicht
zum kleinsten Theile der sprichwörtlichen Solidität der Hamburger
Kaufherren.
Nur einmal war Hamburg politisch grossartig vom Glücke be-
günstigt, als 1795 die Franzosen Holland überwältigten und mit einem
Schlage der ganze Handel der Niederlande nach Hamburg versetzt
wurde.
Die Entwicklung Hamburgs von diesem Zeitpunkte bis zur Auf-
hebung des Freihafens in Zusammenhang mit den Fortschritten der
Technik und den politischen Ereignissen zu verfolgen, dazu fehlt es
uns an Raum, nicht an Willen.
Wir begnügen uns hier mit den Angaben, dass 1818 die erste
regelmässige Dampfschiffahrt auf der Elbe eingeführt wurde, 1828
das erste Dampfschiff aus England im Hamburger Hafen einlief, 1846
die Eisenbahn Berlin-Hamburg vollendet wurde, und dass die 1847
gegründete Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft
1856 die erste regelmässige transoceanische Dampfschiffverbindung
Deutschlands und 1889 einen Schnellverkehr nach Amerika eröffnete,
der schon so beliebt ist, dass berühmte amerikanische und englische
Familien der altrenommirten Cunard-Line untreu geworden sind.
Zum Schlusse sei wenigstens des hervorragenden Antheils flüchtig
gedacht, den der Unternehmungsgeist der Hamburger Kaufherren an
der Einführung neuer Waaren auf dem europäischen Markte und an
der colonialen Bewegung des Deutschen Reiches genommen hat.
Die ersten Plantagen errichtete das hochverdiente Hamburger
Haus J. C. Godeffroy \& Sohn auf den Samoa-Inseln und brachte
Koprah nach Hamburg; ihre Rechtsnachfolgerin ist die „Deutsche
Plantagen- und Handelsgesellschaft der Südsee“.
Die Hamburger Firma Robertson und Hernsheim operirt in den
westlichen Inselgruppen der Südsee, die Jaluit-Gesellschaft auf den
Marschalls-Inseln und das Hamburger Haus C. Woerman organisirte
den so erfolgreichen Handel Deutschlands mit Westafrika.
Kurz gesagt, seit mehr als hundert Jahren marschiren die
Hamburger Kaufherren als echte Weltkaufleute, deren Blick auf das
Grosse und in die weite Ferne ebenso gerichtet ist wie auf das
Nächstliegende, an der Spitze in einer Linie mit den Briten, Ameri-
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 95
[754]Der atlantische Ocean.
kanern, Franzosen, und ihnen verdankt Deutschland nicht zum ge-
ringen Theile den Ruhm, die zweite Handelsmacht zu sein.
Wir wollen nun versuchen, ein Bild des Handels von Hamburg zu
geben, den der Unternehmungsgeist, die gewaltige Capitalskraft, das imposante
Rhedereigeschäft, die Verkehrs- und Lagereinrichtungen und die Banken Hamburgs
vermitteln.
Ueber den Umfang dieses Handels gibt folgende Tabelle Auskunft.
Waarenhandel von Hamburg in Tausenden von Metercentnern und Mark:
| [...] |
Diese Tabellen geben aber kein vollständiges Bild des Handels von Ham-
burg, denn sie enthalten nicht die Einfuhr in Hamburg von Altona mit der
Altona-Kieler Eisenbahn, von und über Harburg, von der Niederelbe, mittelst der
Post und auf den Landwegen aus der nächsten Umgebung Hamburgs.
Die Einfuhr von Contanten erreichte in der Einfuhr seewärts 1887
70,909.000, 1888 41,690.000 Mark, landwärts 1887 113.000, 1888 14,465.000 Mark,
die Ausfuhr seewärts 1887 15,655.000, 1888 36,300.000 Mark, landwärts 1887
1,802.000, 1888 1,643.000 Mark.
In der That ein Riesenverkehr, und doch hat er seine Schattenseite, die wir
sofort hervorheben wollen.
Die Grundlage des Seehandels von Hamburg ist der Verkehr mit Gross-
britannien, auf welchen 1888 421·3 Millionen Mark oder fast 38 % des Werthes,
und 19,315.179 q oder 42 % der Menge der Einfuhr entfielen. An der Ausfuhr
war Grossbritannien mit 8,812.659 q oder mehr als 36 % der Gesammtmenge be-
theiligt.
England vermittelt noch einen grossen Theil des Handels Hamburgs mit
nichtenglischen Staaten, und diesen indirecten Verkehr über England soweit wie
möglich in einen directen Verkehr zu verwandeln, ist die grosse Aufgabe, die dem
Hamburger Handelsstande gestellt ist.
Es fehlt uns hier an Raum, den Handel nach allen vier Richtungen zu
besprechen; wir legen der Darstellung die Einfuhr zur See und die Ausfuhr zur
See zu Grunde und ordnen sämmtliche Waaren in zwei Gruppen, in jene, bei
welchen die Einfuhr zur See überwiegt, und in jene, bei welchen die Ausfuhr
zur See wichtiger ist.
Beginnen wir nun mit der Einfuhr von der Seeseite.
Hamburg ist der erste Kaffeemarkt Europas. Die Einführung des Termin-
geschäftes in Verbindung mit einer Waarenliquidationscasse nach dem Beispiele
[755]Hamburg.
Hâvres und New-Yorks am 11. Juni 1887 hat Hamburg die Superiorität gegen-
über Hâvre gesichert, und das hiesige Kaffeegeschäft dehnte sich derart aus, dass
grössere Häuser von Hâvre und London hier Niederlassungen gründeten.
Die Hauptsorte ist Santos-Kaffee, ausserdem erscheinen hier die Sorten von
Bahia, Ceará, Victoria, La Guayra, Maracaibo, Domingo, Portorico, Ceylon und
afrikanische. Steigen wird die Bedeutung des Guatemala-Kaffees, da Deutschland
durch seine Dampferlinien die Einfuhr dieses Landes beherrscht und so Kaffee
im Austausch als Zahlung für die dorthin gesandten Erzeugnisse hieher gelangt.
Seewärts wurden 1888 926.207 q (Werth 124,853.990 Mark), 1887 834.440 q
Kaffee eingeführt; ausgeführt dagegen mit den in Hamburg mündenden Eisen
bahnen und nach der Oberelbe 1888 594.876 q, 1887 475.505 q; nach deutschen
Häfen 1888 44.000 q, nach fremden 281.275 q; Dänemark, Norwegen, Schweden
und Russland werden zum Theile von Hamburg aus versorgt.
Hamburg hat immer die grössten Kaffeevorräthe Europas, so lagerten in
Hamburg-Altona am 1. Januar 1890 1·27 Millionen Metercentner.
Die Kaffeeniederlagen befinden sich am Sandthorquai in der nächsten
Nähe des Hafens.
Für den Hamburger Markt besteht die Nothwendigkeit, mit allen Thee-
sorten gut versehen zu sein; am wichtigsten aber ist Souchong. Die Zufuhr aus
England ist 1888 noch doppelt so gross wie die aus China. Seewärts wurden in
diesem Jahre 14.470 q Thee gebracht und 7089 q nach Grossbritannien, Oester-
reich-Ungarn ausgeführt.
Bei Cacao erregt das Hauptinteresse die Sorte Guayaquil, weil sie wegen
der Menge, in der sie eingeführt wird, den Preis bestimmt. Die wichtigsten an-
deren Sorten sind Cap Haïti, Jeremie, Samaná und St. Thomé. Die Einfuhr
erfolgt meist direct, zu einem Fünftel aber noch über London. Der Umfang des
Geschäftes pro 1889 ergibt sich aus der folgenden Aufstellung: Die Einfuhr auf
dem Seewege erreichte 1889 61.833 q, 1888 79.866 q (Werth 10,919.130 Mark),
1887 64.662 q. Ende December 1889 besass Hamburg einen Vorrath von 13.571 q
Cacao. Etwa 35.000 q gehen in den Consum Deutschlands und seiner Hinterlän-
der über. Im Jahre 1888 wurden 31.814 q auf dem Seewege nach Grossbritannien,
den Niederlanden und Norwegen wieder ausgeführt.
Den Stock des hiesigen Tabakmarktes bilden die westindischen Sorten,
allen voran Habana und Domingo, ferner Brasilblätter und Tabak der Union.
Java-, besonders aber Sumatra-Tabak, dann Seedleaf gewinnt erhöhte Bedeutung
für den hiesigen Markt. Grosse Mengen verarbeiten die Tabakfabriken der Stadt
und selbst solche weit von hier entfernter Gegenden, die ihre Fabricate an Ham-
wieder abliefern.
Die Zufuhr von rohem Tabak erreichte 1888 seewärts 288.172 q, landwärts
48.108 q (Gesammtwerth 38·5 Millionen Mark), 1887 zusammen 426.126 q; die
Ausfuhr 1888 seewärts 163.203 q, landwärts 165.272 q, 1887 zusammen 394.127 q.
Tabakfabricate, unter welchen Cigarren, die direct aus Cuba kommen, dann
solche aus den Niederlanden und Belgien die höchsten Werthe repräsentiren,
wurden 1888 auf dem Seewege um 9,589.170 Mark, auf dem Landwege um
burg 2,810.250 Mark ausgeführt.
Der Handel Hamburgs mit Getreide und Hülsenfrüchten ist umfassend,
denn 1888 erscheinen davon 2,630.266 q (Werth 28,516.000 Mark) in der Seeeinfuhr,
1,841.115 q in der Landeinfuhr. Für 1887 erreichten diese Ziffern 2,413.742 q und
95*
[756]Der atlantische Ocean.
1,074.770 q. Die Ausfuhr seewärts hatte 1888 eine Grösse von 1,052.693 q, 1887
von 644.699 q, die zu Lande 1888 von 1,907.139 q, 1887 1,935.950 q.
Russland und Argentinien lieferten 1888 seewärts den Bedarf an Weizen,
Russland und die Donauländer an Roggen und Russland und Oesterreich-Ungarn
an Gerste; Mais kam aus der Union, vom La Plata und vom Schwarzen Meere.
Den Haupttheil der Seeausfuhr bildet Gerste für Grossbritannien.
Für den Handel mit dem Innern Deutschlands wird hauptsächlich die Elbe
benützt.
Es wird sehr viel roher Reis eingeführt und in den Hamburger Reisschäl-
mühlen für den Export hergerichtet.
Im Jahre 1888 gingen seewärts 1,146.466 q, 1887 962.446 q ein, dagegen
in derselben Richtung 1888 618.837 q, 1887 546.461 q ins Ausland. Die Ausfuhr
nach der Landseite hin erhebt sich nicht viel über 300.000 q.
Die Zufuhr von Gewürzen aller Art findet noch zum grossen Theile über
Grossbritannien statt.
Südfrüchte werden meist direct aus Südeuropa eingeführt, nur Rosinen
kommen über die Niederlande. Die grössten Werthe repräsentiren Korinthen,
Mandeln, Orangen und Rosinen.
Mit der Zunahme des directen Verkehres in die Levante wird auch die
Bedeutung von Korinthen und Rosinen für den Hamburger Markt steigen.
Im Handel mit Harzen erscheinen zwei Sorten, die amerikanische 1889 mit
129.926 Fässern Einfuhr und mit 128.755 Fässern Ausfuhr und die französische
mit einer Einfuhr von 8440 und einer Ausfuhr von 9317 Fässern.
Dieselben Sorten finden wir bei Terpentinöl.
In Hamburg befindet sich eine Reihe der grössten Weinhandlungen
Deutschlands.
In ältester Zeit hielt man nur Rheinweine, und der Rathsweinkeller von
Hamburg hat eine nicht weniger interessante Geschichte als der von Bremen.
Im XVI. Jahrhunderte finden wir hier deutschen Landwein und spanische
Weine, seit der Mitte des XVII. Jahrhunderts immer mehr die französischen,
neben diesen Sorten noch portugiesische und italienische.
Die Einfuhr zur See betrug ohne Champagner 1888 300.208 hl (Werth
22,801.140 Mark), 1887 266.597 hl; die zu Lande bewegt sich um 30.000 hl.
Seewärts erreichte die Ausfuhr 1888 128.251 q, 1887 110.877 q, landwärts
1888 199.503 q, 1887 183.207 q.
Legende zum Plan von Hamburg.
A Grenze des Freihafengebiets, B Niederhafen, C Kehrwiederfleth und Brooksfleth, D Sandthorhafen,
E Schiffbauerhafen, F Leuchtfeuer, G Grasbrookhafen, H Strandhafen, J Magdeburger Hafen, K Baaken-
hafen, L Oberländer Hafen, M Segelschiffhafen, N Petroleumhafen, O Binnenhafen, P Zollcanal, Q Brookthor-
hafen, R Oberhafen, S Oberhafencanal, T Binnenalster, U Schanzengraben, V Reiherstieg, W Veddelcanal,
X Billhafen, Y Zollhafen, Z Haken. — 1 Schleusse, 2 Zollämter, 3 Schiffswerften und Docks, 4 Börse,
5 Berlin-Hamburg-Bahnhof, 6 Klosterthorbahnhof, 7 Lübeckerthorbahnhof, 8 Venloer Bahnhof, 9 Stern-
warte und Chronometerprüfungsinstitut, 10 deutsche Seemannsschule, 11 deutsche Seewarte, 12 Eisen-
bahn-Elbebrücke, 13 neue Elbebrücke, 14 Rathhaus, 15 Seemannshaus, 16 Rathhausmarkt, 17 Jungfern-
stieg, 18 Alsterdamm, 19 grosser Neumarkt, 20 Nicolaikirche, 21 St. Michaeliskirche, 22 Johanneum,
23 Stadttheater, 24 Thaliatheater, 25 Kunsthalle, 26 naturhistorisches Museum, 27 Gewerbemuseum,
28 Landungsbrücke für oberelbische Schiffe, 29 Oesterreichische Nordwestdampfschiffahrtgesellschaft,
30 Bäder, 31 Hamburg-Amerika-Packetfahrt-Actiengesellschaft, 32 Gasanstalt, 33 Abfahrt transatlant.
Passagiere, 34 grosser Krahn, 35 engl. reform. Kirche, 36 St. Paulikirche, 37 Altonaer Hauptkirche,
38 Kaltenkirchner Bahnhof.
[[757]]
(Legende siehe auf Seite 756.)
[758]Der atlantische Ocean.
Von Schmalz wurden seewärts 1888 136.523 q (Werth 11,651.400 Mark),
1887 156.373 q zugeführt, drei Fünftel kommen direct aus der Union, ein Drittel
über Bremen und die Weser und wurden in Deutschland und dessen Hinterländern
verbraucht.
Fische, frische, gesalzene, geräucherte und getrocknete, wurden seewärts
1888 482.142 q, 1887 413.782 eingeführt.
Die Ausfuhr erreichte seewärts 1888 118.340 q, landwärts 357.074 q. Die
Einfuhr besteht aus Häringen, besonders aus schottischen, und aus Stockfischen.
Den Bedarf an frischen Fischen decken in erster Linie die Fischer von der
Unterelbe; die von Blankenese und Finkenwärder sind an dem Frischfischfang
mit rund 300 Kuttern und Ewern, Blankenese auch bei dem Fange ausserhalb
der Küstengewässer stark betheiligt.
Neuerdings haben sich Gesellschaften gebildet, welche den Fischfang durch
eigens dafür gebaute Dampfer betreiben und gute Erfolge erzielen.
Fleischextract wird über Belgien eingeführt.
Käse senden die Niederlande, Einfuhr 1888 auf dem Seewege 24.390 q,
auf dem Landwege 13.766 q.
Die Ausfuhr ist nach Westindien gerichtet.
Die Vereinigten Staaten senden direct und auf dem Umwege über Bremen
Schmalz. Einfuhr 1888 136.523 q (Werth 11,651.400 Mark), 1887 156.373 q. Die
Ausfuhr ist landwärts gerichtet und benützt stark den Elbeweg.
Trotz aller Bemühungen der Deutschen können Kohlen und Coaks aus
Westfalen in Hamburg die englischen nicht verdrängen; denn diese repräsentiren
in der Einfuhr seewärts 1889 16,058.350 q, 1888 13,707.965 q, 1887 12,386.438 q;
die Einfuhr landwärts erreichte 1889 etwa 5,670.000 q, 1888 4,770.519 q, 1887
4,878.097 q, aber wie die vorstehenden Ziffern zeigen, wird der einmal aufge-
nommene Kampf mit Erfolg geführt.
Von raffinirtem Petroleum zum überwiegenden Theil nordamerikanischen
Ursprungs wurden auf dem Seewege 1888 1,569.086, 1887 1,471.448 q nach Ham-
burg zugeführt.
In das Innere Deutschlands wurden landwärts 1888 1,280.220 q, seewärts
49.495 q ausgeführt.
Um aber die volle Bedeutung des Artikels für den Hamburger Markt zu
würdigen, muss in der Einfuhr wie im Versandt Harburg mit eingerechnet werden,
dessen Umsatz steigt, während der Hamburger Verkehr sinkt. In Harburg sind 1889
für Hamburger Rechnung 369.907 Barrels, für Bremer Rechnung 133.410 Barrels
angekommen und zusammen 504.365 Barrels versendet worden. Die Einfuhr von
Hamburg erreicht 739.134 Barrels, der Versandt 799.106 Barrels.
Harburg wird von den Tankdampfern lieber aufgesucht als Hamburg, wo
Tankeinrichtungen zum Entlöschen fehlen.
Seit dem 24. Mai 1882 findet in Hamburg eine amtliche Petroleumcon-
trole statt.
In der Einfuhr von der See her finden wir grosse Quantitäten von Dünge-
mitteln, wie Chilesalpeter 1888 mit 2,665.137 q, 1887 mit 1,789.830 q, Guano
1888 mit 187.569 q, phosphorsauren Kalk aus Frankreich mit 281.036 q und
schwefelsaures Ammoniak aus England mit 318.438 q verzeichnet.
Hamburg ist der Hauptsitz der Anglo-Continentalen (vorm. Ohlendorff’schen)
Guanowerke.
[759]Hamburg.
In Häuten zeigt der Hamburger Markt eine Vielseitigkeit, durch welche er
alle anderen überflügelt, namentlich die Concurrenzplätze Hâvre und Antwerpen.
Argentinien, Brasilien, Uruguay liefern direct und über Grossbritannien,
Frankreich, unter Umständen selbst über New-York und Bosten den Haupttheil
der Einfuhr zur See, welche 1888 79.140 q rohe Rosshäute und 270.810 q trockene
und gesalzene Rindshäute zusammen im Werthe von 32·9 Millionen Mark für den
Bedarf der deutschen Gerbereien umfasste.
Bei Schaf-, Ziegen- und Lammfellen ist auch die Einfuhr zu Lande
schon recht ansehnlich, bei Kalbfellen überwiegt sie sogar dem Werthe, aber
nicht der Menge nach.
Von Sohlen- und anderem Leder wurden 1888 seewärts 51.140 q (Werth
12 Millionen Mark), landwärts nur 12.554 q (Werth 7,547.780 Mark), meist aus
Chile und den Vereinigten Staaten direct und über Grossbritannien zugeführt.
Die Ausfuhr ist überwiegend landeinwärts gerichtet.
Elfenbein und Perlmutterschalen kommen über Grossbritannien zur
Einfuhr.
Thran wird zum grössten Theile direct aus Norwegen gebracht; Einfuhr
seewärts 1888 81.652 q.
Olivenöl wird direct aus Italien und Frankreich zugeführt.
Leinöl über Grossbritannien.
Leinsaat aus Britisch-Ostindien und Argentina, Kleesaat aus den Ver-
einigten Staaten.
Palmöl aus Westafrika zum grösseren Theile direct, zum kleineren über
Grossbritannien.
Aus denselben Ländern kommen Palmkerne nach Hamburg 1888 568.424 q,
Werth 10,887.140 Mark.
Die Einfuhr von Oelkuchen zur See aus den Vereinigten Staaten und
Frankreich stieg 1888 bis auf 817.649 q (Werth 9,835.660 Mark).
In Hamburg, wo bekanntlich die Société commerciale de l’Océanie ihren
Sitz hat, wird Koprah (Einfuhr 1888 78.898 q) verarbeitet.
Die Einfuhr von Stuhlrohr aus Singapore ist von 1887 auf 1888 auf das
Doppelte gestiegen und wird sich weiter entwickeln.
Eine Specialität von Hamburg ist die steigende Einfuhr von Stein- und
Drechslernüssen aus Ecuador und Columbia, 1888 mit 194.151 q. Es wird fast
Alles in Deutschland und Oesterreich-Ungarn verarbeitet.
Viele Farbhölzer finden Verwendung in den hiesigen Farbholzextract-
fabriken; auch nach Deutschland und auswärtigen Hafenplätzen besteht von hier
ein grosser Absatz.
Es werden eingeführt Blauholz, ferner Rothhölzer und Gelbhölzer und
Quebrachoholz, das immer grössere Verwendung in den hiesigen Gerbereien findet.
Die Einfuhr von Farbhölzern und Farbenextracten wird seewärts für 1888
mit 480.369 q (Werth 10,299.170 Mark), 1887 mit 486.800 Mark angegeben.
Indigo kommt direct aus Indien, Java und Guatemala. Indigo gehört in
die Gruppe der „anderen“ Farbstoffe und Farben, von welchen 1888 313.231 q
seewärts und 131.467 q landwärts eingeführt und 264.366 q seewärts ausgeführt
wurden.
Von den hier gehandelten Nutzhölzern sind die wichtigsten Mahagoniholz
und Nussbaumholz aus den Vereinigten Staaten.
[760]Der atlantische Ocean.
Korkholz wird aus Portugal zugeführt.
Infolge seiner zahlreichen Dampferverbindungen ist Hamburg heute ein
wichtiger Hafen für überseeische Schafwolle, der sich mit Glück von Gross-
britannien zu emancipiren versucht.
Die Einfuhr betrug seewärts 1888 631.647 q (Werth 96 Millionen Mark),
1887 399.349 q. Diese Steigerung ist auf die Vermehrung der Einfuhr vom La
Plata zurückzuführen. Die Zufuhr aus Grossbritannien (1888 280.805 q) umfasst
meist Capwolle.
Auch von der Einfuhr der Baumwolle kommt ein Theil durch Vermittlung
von Grossbritannien; Einfuhr seewärts 1888 650.601 q, 1887 706.827 q. Dasselbe
gilt für Jute, welche im August 1882 zuerst direct nach Hamburg kam; Einfuhr
seewärts 1888 496.686 q, 1887 484.010 q.
Von den Hanfsorten ist am wichtigsten russischer Hanf. Die hiesigen
Taufabriken consumiren viel davon.
Auch Istle, Piassava werden in Hamburg eingeführt.
Hamburg ist der wichtigste Hafen Deutschlands für englische
Garne und Gewebe, welche den weitaus grössten Theil der Gesammteinfuhr
von der Seeseite her bilden.
Auf diesem Wege wurden eingeführt:
Baumwollgarne 1888 120.402 q (Werth 43 Millionen Mark), 1887 127.258 q;
Wollen- und Halbwollgarne 1888 93.710 q (Werth 37,639.780 Mark), 1887 91.764 q;
Leinen- und Jutegarne 1888 18.856 q.
Die Einfuhr von Fabricaten ist kleiner; Baumwollwaaren 1888 52.321 q
(Werth 18,108.850 Mark), 1887 61.972 q.
Seiden- und Halbseidenwaaren 1888 496 q, Wollen- und Halbwollenwaaren
1888 20.119 q (Werth 14·5 Millionen Mark), 1887 88.129 q, Leinen- und Hanf-
waaren, aber ohne Tauwerk 1888 78.924 q.
Von Metallen sind in der Einfuhr von der See her besonders wichtig
Kupfererze aus Spanien und Chile; ein grosser Theil ist silberhältig und
wird hauptsächlich in Freiberg in Sachsen ausgeschmolzen; doch verarbeitet die
Hamburger Norddeutsche Affinerie in ihren beiden grossen Etablissements eben-
falls grosse Quantitäten. Einfuhr 1888 36.807 q.
Unter den Halbfabricaten nimmt die Einfuhr von Roh- und Schmelzeisen
aus Grossbritannien und Belgien 1888 mit 1,324.414 q die erste Stelle ein.
Stahl in Stangen und Blöcken zeigt 1888 die Einfuhr von 27.363 q, Kupfer
aus Grossbritannien und den Vereinigten Staaten 40.973 q und Zinn aus Gross-
britannien 23.845 q.
Die Einfuhr von Nähmaschinen seewärts aus Amerika (ein Drittel) und
Grossbritannien (zwei Drittel) steht hinter der Ausfuhr zurück, dagegen ist die
von anderen Maschinen 1888 mit 226.421 q (Werth 17,453.960 Mark) stärker
geworden als die Ausfuhr. Den grössten Theil derselben bilden landwirthschaftliche
Maschinen.
Bei der Ausfuhr Hamburgs nach der Seeseite sind folgende Thatsachen
zu beachten:
Von Rübenzucker wurden in Hamburg 1889 in der bei Kaffee genannten
Waarenliquidationscasse 9,129.500, 1888 nur 4,362.500 Säcke gebucht.
Auch das Geschäft in effectiver Waare entwickelt sich günstig nach
Amerika, England, Schweden und Holland. Raffinirte Waare geht nach Südamerika.
[761]Hamburg.
Das Hamburger Geschäft wird mit Rübenzucker zum grössten Theile auf der
Oberelbe über Magdeburg aus den Fabriken der Provinz Sachsen versorgt und
lehnt sich im Exporte an England, denn dorthin geht weit über die Hälfte der
Ausfuhr.
Im Jahre 1888 wurden aus den hier einmündenden Eisenbahnen und auf
der Oberelbe 4,276.302 q (Werth 118,866.790 Mark), 1887 4,166.419 q eingeführt,
und seewärts ausgeführt 1888 4,438.038 q (Werth 126,129.000 Mark), 1887
4,774.563 q.
Die Zufuhr auf dem Seewege, die Abfuhr auf dem Landwege sind dagegen
ganz klein.
Von Syrup und Melasse kamen 1888 41.702 q auf dem Seewege und
192.204 q landwärts an. Die Ausfuhr erfolgt überwiegend seewärts nach Hâvre.
Von Mehl und Mühlenfabricaten gibt Deutschland durch Vermittlung
Hamburgs weit mehr an das Ausland ab, als er von dort erhält, denn seewärts
betrug die Einfuhr 140.343 q, die Ausfuhr 1,383.217 q, landwärts die Einfuhr
1,387.092 q, die Ausfuhr 329.625 q.
Getrocknete Pflaumen und Zwetschken kommen aus Slavonien,
Bosnien, Serbien und Frankreich. Letztere auf dem Seewege. Gesammteinfuhr
1888 2,452.770 q.
Von Spirituosen wurden 1888 nach Hamburg 520.381 hl im Werthe von
14,054.760 Mark eingeführt. Ueberwiegend ist die Einfuhr minderwerthiger Pro-
ducte auf dem Landwege bis von Posen her.
Eine wichtige Industrie des freien Gebietes von Hamburg, die vom Zoll-
inlande vielfach und heftig angefochten wird, ist die Raffinirung von russischem
Sprit zur Wiederausfuhr.
Hauptabsatzgebiet für Kartoffelsprit ist Südeuropa, vor Allem Spanien,
dann Italien, Nordafrika, die La Platastaaten und Centralamerika, für Genever
Westafrika, wo er mit dem englischen Erzeugniss in Wettbetrieb tritt.
Die Philanthropen beider Staaten streiten sich, ob der hamburgische oder
der englische Genever der Gesundheit der Neger abträglicher ist.
Auch in Bier überwiegt die deutsche Ausfuhr, Hamburg selbst trägt zu der-
selben viel bei.
Zugeführt wurden 1888 meist von der Landseite und von Bremen her
271.896 hl, ausgeführt seewärts 457.885 q. Die stets steigende Ausfuhr geht nach
Brasilien, Argentina, Columbia, Venezuela, Japan, Chile.
Kartoffel, Kartoffelmehl und Stärke aller Art kommen aus Deutschland
nach Hamburg, und zwar meist auf der Elbe.
Die Bestimmungsländer der 1888 ausgeführten 316.731 q Kartoffelmehl und
Kartoffelstärke sind Grossbritannien, Spanien und Frankreich.
Butter wird aus dem Binnenlande zugeführt und nach Grossbritannien
ausgeführt.
Grossartig entwickelt ist die Zufuhr von Eiern aus Russland, Galizien und
Deutschland, die ihren Absatz in England finden; auf den Eisenbahnen kamen
1888 610.823 Tausend Stück (Werth 22,784.540 Mark), 1887 520.351 Tausend an,
seewärts gingen 1888 286.590 q, 1887 251.772 q hinaus.
Auch Rauchfleisch, darunter viel in Hamburg selbst bereitet, gelangt
seewärts zur Ausfuhr.
Die Kalisalzlager von Stassfurth und Leopoldshall sind hervorragend an
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 96
[762]Der atlantische Ocean.
der Ausfuhr von Hamburg betheiligt mit 2,440.553 q im Jahre 1888 und 1,750.782 q
im Jahre 1887, welche nach den Vereinigten Staaten, nach Grossbritannien und
Schweden gehen. Hamburgisches Capital betreibt die Erschliessung für Hamburg
günstiger gelegener Lagerstätten von Kalium- und Natrium-Steinsalz in den Pro-
vinzen Hannover und Schleswig-Holstein.
Ein wichtiger Artikel der Ausfuhr Hamburgs nach der Seeseite sind Mo-
bilien (1888 83.739 q) nach Australien, Argentina, Brasilien und Uruguay, der
Union und Chile; feine Holzwaaren (112.261 q) ebendahin und Lederwaaren
(26.193 q) nach den Vereinigten Staaten.
Von Papier wurden 1888 465.130 q, von Papier und Pappwaaren 46.507 q
ausgeführt direct nach Südamerika und den Vereinigten Staaten, sehr viel geht
indirect über Grossbritannien in die überseeischen Länder.
Die Ausfuhr von Büchern und Musikalien ist sehr bedeutend.
In Tafelglas überwiegt die Einfuhr seewärts nur in Spiegelglas, von dem
das meiste aus Belgien kommt, dafür erreichte die Ausfuhr in Hohlglas 1888
478.317 q, 1887 422.567 q, die meist in die Union, nach Südamerika und Gross-
britannien gingen.
Von Porzellan wurden 1888 133.785 q, von Steinzeug und feinen Thon-
waaren 124.996 q meist nach Südamerika und Westindien ausgeführt.
Auch in Metallwaaren ist der Handel Deutschlands über Hamburg activ.
Wir nennen eiserne Nägel mit 132.550 q im Jahre 1888, für Japan, Brasilien und
Australien bestimmt, Nadeln (5336 q) für China und Südamerika, Eisenbahn-
schienen für Argentinien und Chile, Draht und Blech für die Union.
In Hamburg ist eine der grössten Fabriken der Welt für Näh-
maschinen, daher betrug die überseeische Ausfuhr nach Südamerika, Australien,
Portugal, Spanien, Norwegen und Grossbritannien 1888 48.221 q, 1887 48.006 q,
die zu Lande 1888 26.879 q, 1887 22.755 q.
Von anderen Maschinen und Maschinentheilen wurden 1888 seewärts
145.649 q, landwärts 213.335 q, 1887 seewärts 122.064 q, landwärts 166.105 q aus-
geführt. Wieder stehen Argentina, Grossbritannien, Spanien, Chile an der Spitze.
Von den 65.561 qFortepianos und Claviaturen der Ausfuhr von 1888
gingen 31.579 nach Grossbritannien, 15.213 nach dem Festlande von Australien.
Für andere Musikinstrumente sind die Vereinigten Staaten, Grossbritannien,
und Brasilien besonders zu nennen; Ausfuhr seewärts 1888 39.436 q.
Die überseeische Ausfuhr mathematischer und optischer Instrumente er-
reichte 1888 4856 q.
Wir erwähnen endlich die überseeische Ausfuhr von Knöpfen 1888 18.073 q
im Werthe von 7 Millionen Mark, und die von Spielwaaren, meist aus Thüringen
stammend, mit 94.666 q.
Stellen wir nun die Zufuhr von Producten der Textilindustrie aus Deutsch-
land und dessen Hinterländern zusammen, so erhalten wir für Baumwollgarne 1888
40.209 q, 1887 36.023 q, für Wollen- und Halbwollgarne 1888 17.530 q, 1887
16.935 q, für Leinen- und Jutegarne 1888 13.218 q, 1887 18.578 q. In Garnfabri-
caten ist die Einfuhr zu Land und somit der Export viel wichtiger als die Ein-
fuhr zur See. Für Baumwollwaaren 1888 97.450 q (Werth 37·9 Millionen Mark),
1887 94.903 q, für Seidenwaaren 1888 3877 q, 1887 3786 q, für Wollwaaren, den
wichtigsten Zweig der Ausfuhr der Textilproducte, 1888 103.184 q (Werth
[763]Hamburg.
77,504.130 Mark), 1887 102.978 q und für Leinenwaaren 1888 44.542 q (Werth
16,890.710 Mark).
Der Zufuhr zu Lande von 41.096 q (Werth 25,208.700 Mark) des Jahres
1888 steht nur eine geringe Menge von Einfuhr von der Seeseite entgegen.
Die Ausfuhr zur See ist immer etwas grösser als die Einfuhr zu Lande,
weil ein Theil der zur See eingeführten Waaren in Hamburg umgeschifft wird.
Baumwollgarne gehen nach Grossbritannien, Wollengarne nach Grossbritan-
nien und in die Union, Seidenwaaren nach Südamerika, eben dahin Baumwoll-
waaren, vorab nach Brasilien, an den La Plata und nach Chile, Leinenwaaren
nach Brasilien, Argentina und in die Union, Wirkwaaren in die Union. Der Ham-
burger Handel in Manufacturen entwickelt sich für Deutschland günstig, es
steigt die Betheiligung des Inlandes im Kampfe mit den britischen Erzeugnissen.
Deutschland ist gegenwärtig in der Erzeugung von Spreng-
mitteln entschieden der erste Staat der Welt, und die Hamburg-Rott-
weiler Gesellschaft die erste Deutschlands.
Seewärts wurden 1888 15.379, 1887 12.626 qDynamit nach dem Caplande,
Mexico und Australien ausgeführt, also nach Ländern, deren Bergbau auf Edel-
metalle sich mächtig entwickelt.
Für Schiesspulver ist wie für Genever Westafrika der wichtigste Abnehmer.
Ausfuhr seewärts 1888 38.467 q, 1887 33.126 q.
Zündhölzer gehen in mächtig steigenden Quantitäten nach China und Bra-
silien; Ausfuhr seewärts 1888 122.332 q, 1887 105.280 q.
Stearin- und Paraffinlichte werden seewärts nach Chile, Australien, dem
Caplande und dem nördlichen Theile Südamerikas ausgeführt; grössere Mengen
gehen auch über Grossbritannien hinaus. Ausfuhr seewärts 1888 40.029 q, 1887
38.115 q.
Ueber Hamburg wurden seewärts 1888 922.955 q, 1887 963.754 qCement
nach der Union, Brasilien und dem übrigen Südamerika ausgeführt.
Bauholz kommt auf den Eisenbahnen und der Oberelbe nach Hamburg,
in kleineren Mengen aus Schweden, Norwegen und Russland.
Die wichtige Stellung Englands in der Einfuhr Hamburgs allein ist Ursache,
dass der Werth des Seeverkehres mit den europäischen Ländern um
ein Drittel grösser ist als der mit den aussereuropäischen. Von diesen
sind die wichtigsten die Vereinigten Staaten (1888 105 Millionen Mark), Brasilien
(83 Millionen Mark), Chile (66·3 Millionen Mark), Argentina und Uruguay (47·2 Mil-
lionen Mark), dann Britisch-Ostindien, Afrikas Westküste, Centralamerika, Mexico
und Columbia. In Europa erscheinen Frankreich (58·5 Millionen Mark), die
deutschen Häfen, die Niederlande, die russischen Häfen am Schwarzen Meere,
Belgien, Norwegen, Portugal, Spanien als die wichtigeren.
Die Ausfuhr seewärts erreichte 1888 in Millionen Metercentner nach
Grossbritannien 8·8, nach den Vereinigten Staaten am Atlantischen Ocean 3·4, nach
den Niederlanden 1·1, nach Argentina und Uruguay je 0·7, nach Frankreich 0·66,
nach Afrika am Atlantischen Ocean 0·57, nach Chile 0·56.
An die Beschreibung des Handels knüpfen wir eine Skizzirung der In-
dustrie, die in Hamburg so vielfach in engster Verbindung mit ersterem
steht, was wir schon wiederholt bemerkt haben.
96*
[764]Der atlantische Ocean.
Unter den sogenannten Exportindustrien nimmt die Erzeugung von Nah-
rungs- und Genussmitteln den ersten Rang ein, weil hier und in den Nachbarorten
Altona, Harburg, Ottensen und anderen ungefähr 10.000 Menschen in ihr Be-
schäftigung finden.
Es bestehen in diesem Industriegebiete grosse Mühlen für Weizen- und
Roggenmehl und Reisschälmühlen, für die Verproviantirung der Schiffe Schiffsbrot.
und Bisquit- (Cakes-) Fabriken, Chocolade-, Cichorien- und Margarinfabriken.
Die Exportschlachtindustrie Hamburgs wird von Schleswig-Holstein und
Dänemark mit Schweinen versorgt; auch stellt man hier Fischconserven her.
Eine der ältesten Industrien Hamburgs sind die Bierbrauereien, jünger
die Spiritusfabriken und Raffinerien, die Tabak- und Cigarrenfabriken.
Hamburg ist ein Hauptsitz der chemischen Grossindustrie Deutsch-
lands. Vier grosse Fabriken verwenden Kalisalze von Stassfurth, um Natronsalpeter
aus Chilę umzusetzen.
Die Anglo-Continentalen Guanowerke haben wir schon genannt. Wichtig
sind hier auch die Superphosphatindustrie, die Schwefelsäure- und Boraxfabriken,
die Pulverfabrik und die Dynamitfabrik in Düneberg an der Elbe.
Grossen Umfang hat die Herstellung von Farbholzextracten, sehr be-
merkenswerth ist die „Norddeutsche Raffinerie“, eine Scheideanstalt.
In Ottensen finden wir grosse Glashütten.
Von hoher Bedeutung sind die Jutespinnerei und Weberei in Schiffbeck
und Harburg, die Hanfgarnspinnereien, die Wollspinnereien und Färbe-
reien, die grosse Wollkämmerei in Hamburg und die Kammgarnspinnerei
in Blankenese. Auch die hiesige Wäschindustrie hat einen bedeutenden Umfang.
Die Verarbeitung überseeischer Hölzer zu Fournieren, die Erzeugung von
Goldleisten in Ottensen, von Möbeln und Stöcken, von Elfenbein- und
Fischbeinarbeiten in Hamburg haben grosse Bedeutung.
Sehr alt ist hier die Erzeugung von Oelen aus Pflanzensamen und Früchten.
Rüböl wird in Hamburg, Palmöl und Palmkernöl in Harburg erzeugt. Man ver-
arbeitet Koprah, raffinirt Schmalz und erzeugt Kerzen und Seifen und Lack-
waaren.
Die Kautschukindustrie von Harburg hat Weltruf.
In Hamburg bestehen, wie schon erwähnt, viele Eisengiessereien, Ma-
schinenfabriken, eine grosse Nähmaschinenfabrik, 2 Hufnagelfabriken,
die schwedisches Holzkohleneisen verarbeiten, und eine sehr bedeutende Schiff-
bauindustrie.
Seit der Mitte des Jahres 1890 steht Hamburg mit fast allen
Küsten der Erde in directer regelmässiger Dampfschiffsverbindung.
Gegen 60 regelmässige Dampferlinien mit etwa 80 Dampfern gehen monat-
lich von hier aus, und den grössten Theil bilden Dampfer von Hamburger Gesell-
schaften.
Die Hamburger Kauffahrteiflotte umfasste:
| [...] |
Am 1. Januar 1890 waren noch im Bau begriffen 33 Dampfer mit circa
82.000 Register-Tons und 4 Segelschiffe mit circa 6700 Register-Tons.
[765]Hamburg.
Die Dampferflotte vermehrte sich in den letzten Jahren geradezu sprung-
haft, so dass man behaupten kann, den grösseren Theil der Dampfer der Hamburger
Schiffahrtsunternehmungen bilde verhältnissmässig nur neues Schiffsmaterial.
Die erste unter den zahlreichen Hamburger Schiffahrtsunternehmungen ist
die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft, kurz
„H. A. P. A. G.“ genannt, welche Ende 1889 37 Seedampfer zählte. Im Mai
1889 eröffnete sie mit der „Victoria Augusta“ einen Schnelldampferdienst nach
Nordamerika.
Zwei- bis dreimal in der Woche gehen Dampfer nach New-York. Die
Schnelldampfer laufen auf der Aus- und Rückreise Southampton an, die Sonntags
von Hamburg abgehenden Dampfer auf der Ausreise Hâvre, auf der Rückreise
Plymouth und Cherbourg. Die Oceanfahrt auf den directen Linien dauert unge-
fähr sieben Tage. Die „H. A P. A. G.“ unterhält ferner Verbindungen von Ham-
burg mit Philadelphia und Baltimore, mit Westindien und New-York via Hâvre,
mit Westindien via Hâvre bis Colon und mit Westindien und dem Golf von
Mexico via Hâvre bis Veracruz.
Die Gesellschaft fährt auch zweimal im Monate von Stettin nach New-York.
Nach Canada verkehrt mit Subvention der Dominion of Canada die Dampf-
schiffrhederei „Hansa“.
Das günstigste Ergebniss hatte in den letzten Jahren (1889 14 %) die
Hamburg-Südamerikanische Dampfschiffahrts-Gesellschaft (gegründet
1871) aufzuweisen, welche Ende 1889 26 Seedampfer besass. Sie fährt über Lissa-
bon nach Brasilien bis Santos hinunter und direct an den La Plata.
Die deutsche Dampfschiffahrts-Gesellschaft „Kosmos“ (gegründet 1872)
geht über Antwerpen und Montevideo an die Westküste Südamerikas bis Callao
und Centralamerika.
Sie und ihre Concurrenzgesellschaft, die Hamburg-Pacific-Dampf-
schiffslinie (gegründet 1886, 10 Seedampfer) erzielen gute Resultate.
Nach Portugal und Marocco fährt die Atlaslinie, nach Westafrika bis
S. Paul de Loanda hinunter die Afrikanische Dampfschiffs-Actien-Gesell
schaft (Woermann-Linie) mit 10 Seedampfern; sie läuft seit 1890 auch Marocco an.
Der Verkehr mit dem westlichen Becken des Mittelmeeres wird zumeist
durch die Linie Rob. M. Sloman und Co. vermittelt, und für die Levante und
das Schwarze Meer wurde im Juli 1890 die „Deutsche Levante-Linie“ eröffnet.
Die „Deutsche Ostafrika-Linie zu Hamburg“ fährt mit Subvention
der Regierung des Reiches durch den Suezcanal nach Ostafrika; ihre Hauptlinie
endet in die Delagoa-Bai, die Post wird in Neapel aufgenommen.
Neue Gründungen sind auch die „Calcutta-Linie“ und die Deutsch-
Australische Dampfschiff-Gesellschaft; die Deutsche Dampfschiffsrhederei (Kingsin-
Linie, gegründet 1871) fügte 1890 zu ihren alten Cursen nach Ostindien, China
und Japan einen neuen nach Java und Sumatra.
Nach Ostsibirien endlich fährt die Dampfschiffahrts-Gesellschaft „Swatow“,
welche ebenso wie die Ende Juni 1890 gegründete Asiatische Küstenfahrt-
Gesellschaft in China Küstenschiffahrt treibt.
Wir haben hier nur die wichtigsten überseeischen Dampfschiffahrtsunter-
nehmungen aufgeführt, deren Sitz Hamburg ist, und nennen von den ausländi-
schen nur C. Furness in Hartlepool, die Booth Line und die Red Cross Line.
[766]Der atlantische Ocean.
Auch bei den directen Verbindungen Hamburgs mit den europäischen
Plätzen müssen wir uns auf eine kleine Auswahl beschränken. Die neugegründete
Deutsche Küsten-Dampfschiffahrts-Gesellschaft verkehrt zwischen den
deutschen Küstenplätzen, die Koninglijke Nederlandsche Stoomboot-
Maatschappij nach Amsterdam, zahlreiche Unternehmungen nach Grossbritan-
nien und den nordischen Hafenplätzen. Durch seine Fahrten zum Nordcap unter-
hält Hamburg ebenso den nördlichsten Dampfercurs der Erde, wie durch die
Fahrten ums Cap Horn den südlichsten.
Ausser den directen regelmässigen und unregelmässigen Dampferlinien be-
sitzt Hamburg noch ganz ausserordentliche Verbindungen zum indirecten Versandt
von Waaren nach allen Häfen des Erdballes.
Für minderwerthige Güter bilden die vielen erstclassigen Segelschiffe,
die Hamburg alljährlich in Ladung legt, die Ergänzung und Vervollständigung
der Dampferlinien.
Segler vermitteln beispielsweise den Getreideverkehr mit S. Francisco.
Die Seeschiffahrt von Hamburg umfasste:
| [...] |
Zur Vervollständigung müssen wir hinzufügen, dass 1888 in Altona 498
Seeschiffe mit 149.656 Reg.-Tons, in Harburg 431 Seeschiffe mit 66.060 Reg.-
Tons und in Cuxhaven 1025 Schiffe mit 102.061 Tons angekommen sind.
Im Jahre 1888 entfiel die Hälfte der Tonnenzahl von Hamburg auf
den Verkehr mit England, mehr als ein Drittel auf den mit transatlantischen
Häfen, der Rest auf die übrigen Plätze Europas.
Von den in Hamburg angekommenen Seeschiffen führten 5218 mit 2,357.261 t
die deutsche Flagge, und davon waren 1770 Schiffe mit 1,505.887 t aus dem
Hamburger Rhedereibezirke.
Am nächsten kommt ihr die englische Flagge mit 2885 Schiffen und
1,988.500 Tons, die norwegische zählte nur mehr 339 Schiffe mit 168.201 Tons,
die niederländische 400 Schiffe mit 103.842 Tons.
Die Tragfähigkeit der angekommenen und abgegangenen Schiffe zusammen
ist 1888 gegen 1876—80 für Dampfschiffe um 98 %, für Segelschiffe um 3·33 %
gestiegen.
Hamburg hat neben dem Frachtenverkehre auch einen starken Personen-
verkehr, es ist nach Bremen der wichtigste Auswandererhafen des
Deutschen Reiches, und seine Rhederei zieht einen gewaltigen Nutzen aus
diesem Geschäfte. Wie das längst in Liverpool geschehen, trennt man seit 1890
auch in Hamburg den Personenverkehr, wenigstens theilweise, vom Frachtenver-
kehr, man hat für den letzteren im diesseitigen Freihafengebiete, auf dem kleinen
Grasbrook, eine transatlantische Passagierhalle errichtet.
Die starke Auswanderung ging bis 1886 fast nur in die Union, 1888 schon
mit 3236 Personnen direct nach Brasilien und den La Plata-Staaten.
[767]Hamburg.
Auswanderung über Hamburg:
| [...] |
Auf Segelschiffen wurden 1888 nur mehr 0·01 % der Passagiere befördert.
An die Seeschiffahrt schliessen sich in Hamburg-Altona die Flussschiffahrt
auf der Oberelbe und die Eisenbahnen an. Der Waarenverkehr ist stromabwärts
um etwa ein Viertel grösser als stromaufwärts. Fast ein Drittel der jetzt in Ver-
wendung stehenden Fahrzeuge sind Dampfer.
Der Schiff- und Flossverkehr zwischen Hamburg-Altona und der Oberelbe
zeigt für das Jahr 1888 in der Thalfahrt 10.812 Fahrzeuge mit einer Ladungs-
fähigkeit von 2,006.968 t und 15,792.850 q Ladung, in der Bergfahrt 10.467 Fahr-
zeuge mit einer Ladungsfähigkeit von 1,929.944 t und 12,232.796 q Ladung.
Von Hamburg-Altona gehen, abgesehen von zwei Locallinien, vier Eisen-
bahnen aus. Von den drei auf dem rechten Elbeufer liegenden führt eine nach
Kiel und hat zahlreiche Verzweigungen in Holstein, die zweite verbindet Ham-
burg mit Lübeck (Lübeck-Hamburger Eisenbahn), die dritte mit der Oberelbe und
mit Berlin (Berlin-Hamburger Eisenbahn). Durch die Bahn, welche von Hamburg
nach Harburg auf der anderen Seite der Elbe geht, wird Hamburg mit Cuxhaven,
Bremen und Hannover verbunden (Venlo-Hamburger Eisenbahn). Die Berlin-
Hamburger und Venlo-Hamburger Eisenbahn sind die Hauptträger des Bahn-
verkehres.
Im Jahre 1888 gab es 11 Hamburger Seeversicherungsgesellschaften,
welche 1888 eine Summe von 1.412,041.430 Mark, 1887 von 1.204,896.100 Mark
versicherten. Mit Einschluss der Betheiligung der Privatassecurateure und der
Agenturen auswärtiger Gesellschaften belief sich 1887 die versicherte Summe auf
2.029,416.000 Mark.
Die wichtigsten Banken Hamburgs sind die Reichsbankhauptstelle in Ham-
burg, die Nachfolgerin der Hamburger Bank, die Norddeutsche Bank, die Vereins-
bank, die Commerz- und Discontobank und die Filiale der Deutschen Bank.
Dazu kommen andere Banken, unter diesen die Waarenliquidationscasse,
welche bis jetzt nur Kaffee und Zucker in ihren Wirkungskreis gezogen hat, und
hervorragende Bankgeschäfte.
Die im hamburgischen Staatsgebiete verkauften Wechselstempel und
Wechselblanquets entsprachen 1888 einem Wechselwerthe von 1.341,752.800
Mark, der Geschäftsumsatz der Reichsbankhauptstelle erreichte im selben Jahre
8.455,017.800 Mark.
Der Mittelpunkt des Handelsbetriebes ist die Börse. Hier finden wir
vereinigt eine Getreide- und eine Fondsbörse, eine Kaffee-, Tabak-, eine Waaren-
börse, eine Abtheilung, wo die Speditionshäuser stehen, eine andere für die Ex-
porteure. Unter den Arcaden der einen Seite ist die Assecuranzbörse. Auch die
Advocaten besuchen täglich die Börse und haben zum Theile feste Plätze. Hier
finden sich die Schiffscapitäne ein, wenn sie von ihrer weiten Fahrt kommen,
und die Flussschiffer versammeln sich auf dem Plateau vor der Getreidebörse.
Und rings um alle Börsesäle ziehen sich die Comptoire der Makler, die
Zweigbureaus vieler Handelsfirmen, Spediteure, Rheder und Gesellschaften. Das
[768]Der atlantische Ocean.
Exporthandbuch der Börsehalle, dem wir diese Schilderung entnommen haben,
hat Recht, wenn es sagt, „die hamburgische Börse bildet eine in allen ihren
Einrichtungen zweckmässige Institution, deren Grossartigkeit und praktisches
Ineinandergreifen wohl von keiner Handelsstadt übertroffen wird, weil hier die
Gesammtheit des Handelsverkehres von Hamburg vereinigt ist“.
Consulate haben in Hamburg: Anhalt, Argentinien (G.-C.), Baden (G.-C),
Bayern (G.-C.), Belgien (G.-C.), Bolivia (G.-C.), Brasilien (G.-C.), Chile, Colum-
bia (G.-C.), Costarica, Dänemark (G.-C.), Ecuador, Frankreich (G.-C.), Griechen-
land (G -C.), Grossbritannien (G.-C.), Guatemala, Haïti (G.-C.), Hawaiï, Hessen (G.-C.),
Honduras, Italien, Japan, Korea, Liberia (G.-C.), Mecklenburg-Schwerin, Mexico,
Niederlande (G.-C.), Nicaragua (G.-C.), Oldenburg (G.-C.), Oranje-Freistaat, Oester-
reich-Ungarn (G.-C.), Paraguay (G.-C.), Persien (G.-C.), Peru (G.-C.), Portugal
(G.-C.), Rumänien (G.-C.), Russland (G.-C.), Sachsen, Salvador, Sansibar (G.-C.),
Schaumburg-Lippe, Schweden und Norwegen (G.-C.), Schweiz, Serbien (G.-C.),
Siam (G.-C.), Spanien (G. C.), Türkei (G.-C.), Uruguay, Venezuela (G.-C.), Vereinigte
Staaten (G.-C.), Württemberg.
[[769]]
Der Nord-Ostseecanal.
Die Schaffung neuer Communicationen ist ein Charakterzug der
Gegenwart. Dem rastlosen Baue der Eisenbahnen folgte die Vermeh-
rung der Wasserstrassen. Gewiss haben die Entwicklung der tech-
nischen Hilfsmittel und namentlich die Association des Capitales die
Schwierigkeiten wesentlich gemindert, welche nun einmal mit allen
Canalbauten verbunden sind, aber der menschliche Geist übersprang
in schöpferischem Drange wiederholt scheinbar unüberwindliche Hinder-
nisse, welche die Natur seinem Streben entgegensetzte, und verwirk-
lichte Ideen, die den Triumph unseres Jahrhunderts begründeten.
Unsere schnellschaffende Zeit sah das Riesenwerk des Suez-
Canals, welches den Welthandel in neue Bahnen lenkte, vollenden
und verfolgte mit grossem Interesse die Entwicklung des ins Stocken
gerathenen Ausbaues der neuen Wasserstrasse im Panama, jener
genialen Verbindung der grössten Oceane der Erde, eines Werkes,
das ebenso wie der unterbrochene Bau des Canals von Korinth nun
an schweren finanziellen Calamitäten krankt.
Zu den erwähnten Durchstichen gesellt sich nun das Unter-
nehmen des Baues eines Marine- und Schiffahrts-Canals quer durch
die schleswig-holsteinische Landenge, ein Werk, dessen militärische
Bedeutung heute, wo Europa in Waffen starrt, gewiss weit mehr
als die Aussicht auf commerziellen Nutzen die Ausführung sichert.
Der Nord-Ostseecanal, ungeachtet seiner Kostspieligkeit be-
reits seit dem Jahre 1887 im Bau begriffen, ist der strategischen
Wichtigkeit wegen den grossen Schwankungen, welchen ähnliche
grosse Projecte ausgesetzt zu sein pflegen, völlig entrückt.
Solcher Projecte gab es sehr viele in Europa wie in anderen Erdtheilen.
Wir erinnern an die kürzlich aufgetauchte Idee eines Durchstiches der italienischen
Halbinsel in der Erstreckung von 130 km mit ungeheuerlichen Schleussenanlagen,
wir erwähnen weiters die Umwandlung des 450 km langen, für kleine Fahrzeuge
bestimmten Canal du Midi, welcher Bordeaux mit dem Mittelmeer verbindet, in
einen Seeschiffahrtscanal, weiters die Schaffung eines Seehafens in Paris durch die
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 97
[770]Der atlantische Ocean.
Canalisirung der Seine, eines Werkes, welches zwei Milliarden Francs verschlingen
würde; dann sei auch des grossartigen Planes Dr. Strousberg’s gedacht, welcher
den Bau eines breiten und tiefen Seecanais von Berlin nach der unteren Elbe betraf.
Man sieht aus diesen Projecten, dass der Canalbau, der durch die Eisen-
bahnen einige Zeit vollständig überwunden schien, neuerlich in Europa viele Geister
in Bewegung setzt und der geniale Lesseps eine ganze Generation von Concurrenten
geschaffen hat, die sich aber erst den Lorbeer zu verdienen trachten muss.
Der Canalbau hat übrigens zu allen Zeiten eine gewisse Anziehungskraft
auf die Machthaber auszuüben vermocht, und wir haben gelegentlich der Darstel-
lung der Canäle von Korinth und Suez die Bestrebungen des Alterthums an jenen
berühmten Stätten hervorgehoben.
Dass die wichtige Verbindung der Nord- und Ostsee gleichfalls als ein Glied
in der Kette einer historischen Entwicklung erscheint, ist nun natürlich, denn
wenn es gemeinsame, die Menschheit umfassende Ideen gibt, so mussten sie auf
allen durch schmale Landmassen getrennten Meerestheilen zum Ausdruck ge-
langen und so auch an der Halbinsel Jütland.
Im Mittelalter handelte es sich nicht allein um Wegersparniss wie heute,
sondern um die Vermeidung der gefährlichen Umschiffung von Skagen, dann
aber auch darum, der Bedrückung zu entgehen, welche das mächtige Dänenreich der
Schiffahrt auferlegte (Sundzoll!).
Unter diesen Verhältnissen war in den Jahren 1391 bis 1398 der Stecknitz-
Canal zwischen Lauenburg an der Elbe und Lübeck an der Trave enstanden, der,
obgleich für die Seeschiffahrt nicht verwendbar, doch die erste Wasserverbindung
der Nord- mit der Ostsee bildete. Die Urheberschaft der Hansa ist dem noch
heute bestehenden, für Fahrzeuge von ganz geringem Tiefgange benutzbaren Canal
aufgeprägt, denn er verband zunächst Lübeck mit Hamburg.
Die beiden früheren Hansastädte waren es auch, welche zu Anfang des
XVI. Jahrhunderts den sogenannten Alster-Trave-Canal in Angriff nahmen, jedoch
wurde dieses Werk 1550 zerstört.
Um dieselbe Zeit plante Christian III. von Dänemark eine Durchstechung
auf den Linien Ribe und Kolding, Ribe und Hadersleben oder Ballum-Apenrade.
Diese Projecte blieben ebenso unausgeführt wie jene Wallenstein’s, welcher als
kaiserlicher Generalissimus und Grossadmiral im Jahre 1628 den Befehl zum Bau
eines Nord-Ostseecanals von jetzt unbekannter Richtung ertheilte.
Auch Cromwell, der berühmte Lord-Protector von England, entwarf ein Canal-
bauproject, welches dahin zielte, von der Elbe aus mit Benützung des Schweriner
Sees einen Canal nach Wismar zu führen und letzteren Hafen für England zu
erwerben.
Erst dem Könige Christian VII. von Dänemark war es gelungen, von 1777
bis 1785 den Eider-Canal auszuführen, welcher von der Kieler Bucht bei Holtenau
ausgehend das wasserreiche Eider-Flüsschen erreicht und dessen Lauf bis Rends-
burg folgt. Bei etwa 3 m Tiefe und 30 m Breite genügte er den Anforderungen der
damaligen Zeit hinreichend, heute jedoch entspricht er dem Verkehre keineswegs
mehr. Auch ist der Eider-Canal seiner geringen Tiefe wegen kein eigentlicher See-
schifffahrts-Canal, obwohl er zu regelmässigen Dampfschiffs-Verbindungen zwischen
Kiel und Bremen, Flensburg und Hamburg benützt wird..
Von Zeit zu Zeit tauchten immer neue Projecte auf, so auch nach den Frei-
heitskriegen, wo man sich Friedenswerken zuzuwenden begann. Nach den Revolu-
[771]Der Nord-Ostseecanal.
tionsjahren 1848 und 1849 kamen die Projecte der Linien Eckernförde-Husum und
Eckernförde-Rendsburg-Brunsbüttel zur Sprache, aber erst mit der Besetzung von
Schleswig-Holstein im Jahre 1864 nimmt die Canalangelegenheit einen ernsteren
Charakter an.
Nach dem Projecte des Geheimen Oberbaurathes Lentze, welcher schon
damals einen Marinecanal von 68 m Breite und ungefähr 10 m Tiefe plante, sollte
der neue Wasserweg von St. Margarethen an der Elbe über Rendsburg nach Eckern-
förde führen und eine Abzweigung nach der Kieler Bucht bei Verwendung des
Eider-Canals erhalten.
Immer mehr kam die Ausmündung des Canals an der Elbe zur Geltung, da
nur dort eine jederzeit sichere Ausfahrt vorhanden ist. Das Project wurde 1873
im Reichstage verhandelt, dann aber beiseite gelegt.
Im Jahre 1878 trat der Hamburger Kaufmann H. Dahlström mit einem Plane
auf, der sich im Allgemeinen an das Project Lentze anschloss, und beabsichtigte
unter Betheiligung Preussens oder des Reiches ein Privatunternehmen zu gründen.
Er liess die östliche Ausmündung des Canals bei Eckernförde fallen und behielt
bloss jene bei Holtenau in der Kieler Bucht. Die westliche Ausfahrt verlegte Dahl-
ström in die Bucht von Brunsbüttel. Ein grosser Theil des Eider-Canals sollte für
die neue Wasserstrasse benützt werden. Die Sache konnte erst in Fluss kommen,
als Deutschland infolge seiner politischen Einigung eine Seemacht ersten Ranges
wurde, welche aber an der Nordsee keinen günstigen Kriegshafen hat, und deren
ganzes Ostseegebiet unter der Controle Dänemarks stand. Dem musste um jeden
Preis abgeholfen werden, und aus diesen politisch-strategischen Gründen hat am
3. Juni 1887 Kaiser Wilhelm I. den Grundstein zu dem neuen Wasserweg in
Holtenau gelegt.
Seitdem werden die Arbeiten, die an einzelne grosse Unternehmer vergeben
sind, an dem Riesenwerke emsig fortgeführt.
Der Nord-Ostseecanal ist, geradeso wie jener von Suez, ein
Durchstich in der Horizontalen, also kein Treppenschleussencanal.
Zieht man seine Länge in Betracht, so zeigt sich, dass er bei
98·7 km Länge ungefähr die Mitte zwischen dem Suezcanal (160 km)
und dem Panamacanal (75 km) einhält. Indes bleiben die letztge-
nannten Durchstiche gegen unseren Canal, was Breite und Tiefe an-
belangt, erheblich zurück, denn dieser wird 9 m Wassertiefe erhalten
und seine Spiegelbreite wird 66 m und die Sohlenbreite 22 m be-
tragen, so dass überall zwei Schiffe an einander vorbeizufahren im Stande
sein werden, was selbst beim Suez-Canal nicht der Fall ist. Nur für
ganz schwere Kriegsschiffe werden eigene Ausweichestellen geschaffen.
Die beiden Endpunkte des Canals werden durch riesige Schleus-
senthore geschützt, von welchen jenes bei Brunsbüttel die Bestimmung
hat, den Canal und das von ihm durchschnittene Gebiet gegen das
denkbar und erfahrungsmässig schwerste Hochwasser bei stürmender
Nordsee, das bis zu 6 m Höhe über den mittleren Wasserstand der
Ostsee ansteigen kann, abzusperren. Die Brunsbüttel-Schleusse wird
97*
[772]Der atlantische Ocean.
daher nur immer zwischen Ebbe und Flut auf etwa 4 Stunden ge-
öffnet bleiben und geschlossen werden müssen, wenn die Ebbe zu
tief oder die Flut zu hoch wird. Die Verwüstungen, welche die
Sturmfluten der Nordsee in den Kirchspielen von Brunsbüttel und
Büsum anrichteten, mahnen zur Vorsicht. Zweimal schon wurden Bruns-
büttel und Büsum von den heranstürmenden Hochfluten verschlungen.
Die Schleussenanlagen an den Endpunkten des Canals werden
gewaltige Werke sein, welche Kammern von 360 m Länge und 60 m
Breite erhalten sollen.
Auch die Schleusse bei Holtenau ist ein bedeutender Kunstbau,
der im Stande sein muss, die Wassermassen einer Sturmflut abzu-
halten, denn auch die Ostsee hat, wie der November 1872 besonders
in Erinnerung brachte, ihre verheerenden Hochfluten. Nach den Auf-
zeichnungen der Wasserstände in Holtenau wird die Schleusse dort
nur etwa 25 Tage im Jahre geschlossen bleiben, so oft nämlich der
Wasserstand einen halben Meter über oder unter den mittleren Wasser-
stand steigt oder fällt.
Von der Grossartigkeit der Schleussen wird man sich eine Vor-
stellung bilden, wenn wir erwähnen, dass zur Auf- und Ausmauerung
der Schleussenkammer rund 50 Millionen Ziegel erforderlich sind.
Vor den Schleussen werden durch Dammbauten geeignete Vor-
häfen gebaut.
Die Kosten des Canals sind mit 156 Millionen Mark veran-
schlagt, welche der Reichstag bereits bewilligte. Hievon übernahm
Preussen 50 Millionen, weil der Canal durch sein Gebiet geht.
Gegenwärtig wird auf der ganzen Linie rüstig gearbeitet, und ist
Hoffnung vorhanden, den Canal, eines der grossartigsten Culturwerke
des Deutschen Reiches, im Jahre 1895 zu vollenden. Den Lauf des
Canals haben wir auf unserem Plane eingezeichnet.
Der Nord-Ostseecanal wird jedoch, wie so manches Verkehrsmittel,
welches seine Entstehung dem Gotte Mars verdankt, auch dem Gotte
Mercur dienen, denn der Canal wird die Fahrt von Kiel nach Hamburg
um 425 Seemeilen, nach London aber um 239 Seemeilen abkürzen.
Gegenüber den nördlichen Nordseehäfen Englands ist jedoch der Vor-
theil der neuen Wasserstrasse kein erheblicher.
Es wird erwartet, dass der ganze Verkehr nach den nord-
deutschen Küsten, nach Holland, Belgien und dem englischen Canal
den Weg durch den Nord-Ostseecanal nehmen werde. Wir haben
bereits bei Korinth und Suez erwähnt, dass ausser der Zeitersparniss
auch die Verminderung des Risicos und die geringere Versicherungs-
[773]Der Nord-Ostseecanal.
gebühr für Schiffe als Vortheile der neuen Wasserwege in Anschlag
gebracht werden müssen. Dasselbe trifft nun auch hier ein. Für den
zukünftigen Canalverkehr wird angenommen, dass etwas mehr als der
dritte Theil aller bisher durch den Sund steuernden Schiffe, nämlich
ungefähr 18.000 Schiffe jährlich, die zusammen etwa vier Millionen
Mark entrichten dürften, den Weg durch den Nord-Ostseecanal nehmen
werden.
Bei der Rentabilitätsberechnung wird angenommen, dass 51 Mill.
Mark, die zu Zwecken der Kriegführung gerechnet werden, und
Nord-Ostseecanal (Massstab 1:1,190.000).
50 Millionen, welche Preussen beisteuert, vom Gesammtbaucapital
abgezogen werden müssen, so dass nur 55 Millionen zu verzinsen
erübrigen. Wenn nun von den Einnahmen ungefähr 2 Millionen Mark
an Unterhaltungskosten des Canals in Abzug gebracht werden, so
würde sich bei einem Ueberschuss von 2 Millionen Mark eine Ver-
zinsung von circa 4 % ergeben. Derartige Ziffern sind übrigens bei
Canälen, welche den Schiffen so geringe Zeitersparniss geben wie
der Nord-Ostseecanal (namentlich in der guten Jahreszeit), nur pro-
blematisch, so dass die strategische Bedeutung des Canales doch in
den Vordergrund gerückt bleibt.
Allerdings sind die militärischen Vortheile des Canals sehr be-
[774]Der atlantische Ocean.
deutend, nachdem er gestatten wird, die Seestreitkräfte Deutschlands
völlig unbemerkt vom Feinde in der Nordsee oder in der Ostsee zu
concentriren. Allein selbst Moltke war angesichts der riesigen Kosten
des Canals nicht frei von Bedenken und fasste sie 1872 im Reichstage in
den Worten zusammen: „Wenn wir geneigt sind, für maritime mili-
tärische Zwecke eine Summe von 40 bis 50 Millionen Thalern auszu-
geben, dann würde ich Ihnen vorschlagen, statt eines Canals für die
Flotte eine zweite Flotte zu bauen.“
Das mächtige Deutschland that in seinem Kraftbewusstsein mehr
noch als Moltke meinte: es steht im Begriffe, den Canal und die
Flotte zu schaffen.
Wenn nach wenig Jahren die Gewässer der Nord- und der
Ostsee zusammenfliessen werden, wird auch die mächtige Flotte des
deutschen Kaiserreiches zu imposanter Stärke angewachsen sein.
[[775]]
Kopenhagen.
Kopenhagen (dänisch Kjöbenhavn, Kaufhafen) liegt, wie unser
Plan zeigt, beiderseits des nördlichen Ausganges des Kalvebod-Strands,
eines schmalen Armes des Sundes, der Seeland von der kleinen Insel
Amager scheidet und den vortrefflichen Hafen der Reichshaupt- und
Residenzstadt Dänemarks bildet.
Für grosse Seeschiffe ist nur der Nordeingang des Hafens prakti-
kabel, da der südliche — der Trestee-Canal — nur Wasser für kleine
Fahrzeuge führt. Die vollständige Umsäumung des langgestreckten
Sundes in der ganzen Ausdehnung des Hafengebietes mit Molen und
Quaimauern lässt den oberflächlichen Beschauer vermuthen, weit
eher ein künstlich ausgehobenes Bassin als einen von der Natur
geschaffenen Meeresarm vor sich zu haben.
Die Verbindung der beiden Längsseiten des Hafens geschieht
durch drei Brücken, von denen die Zollhausbrücke mit ihrem
schwimmenden Durchlassglied — „Bommen“ — am nördlichen, die
Langebro am südlichen Eingang förmliche Hafenthore bilden, während
der Knippelsbro die Verbindung des eigentlichen Kopenhagen mit
der auf Amager gelegenen Vorstadt Christianshavn zukömmt.
Dampferkolosse, die unter den Flaggen aller Länder den grössten
dänischen Hafen, der naturgemäss auch das Handelscentrum des
Landes bildet, anlaufen, vereinzelte Segelschiffe und eine grosse Zahl
von Küstenfahrern althergebrachten und modernen Typs bevölkern
den Hafen und drängen sich an einzelnen Theilen des westlichen
Strandes so eng aneinander, dass sie vor dem Quai einen geschlos-
senen Wall bilden. Hier herrscht von Schiff zu Land und umgekehrt
ein ständiges Herüber und Hinüber, ein Schieben und Drängen
von Menschen und Waaren. Es wechseln die einzelnen Glieder in
stetiger Folge; das Bild der rastlosen Thätigkeit aber bleibt unver-
ändert wie das Getöse, das aus dem Getriebe erwächst.
Am gegenüberliegenden Strande spricht sich grösserer Ernst in
[776]Der atlantische Ocean.
der Situation aus; die Thätigkeit, die hier herrscht und die kaum
geringer sein dürfte als diesseits, verzichtet gerne auf die Erzeugung
der Aufmerksamkeit von aussen. Die Anerkennung der Leistungen
des Schiffsparkes und der Anlagen, welche hier in dem durch Pfahl-
werke abgeschlossenen Orlogshavn beisammen liegen, ist späteren
Tagen vorbehalten. Hier hat die Kriegsflotte ihre Heimstätte gefunden,
ein Heim im wahren Sinne des Wortes.
An diesem Strande netzen die Kriegsschiffe zum erstenmale ihre
mächtigen Körper mit dem salzigen Nass, hier finden sie ständige Pflege
und Sicherung vor der Wuth der Elemente, Zurüstung zum Kampfe
gegen diese und sonstige Feinde, liebreiche Aufnahme bei Rückkehr
aus fremden Gewässern, Heilung aller jener Gebrechen und Narben, die
sie als Denkzettel ehrenvoller Kämpfe — seien diese mit den Ele-
menten oder in ernster Zeit mit Angreifern ihrer Rechte ausgefochten
worden — heimgebracht haben.
Vor der nördlichen Einfahrt in den Innenhafen breitet sich die
Rhede aus; die vielen, theils an Seeland anlandenden, theils von
Amager seewärts verlaufenden Untiefen und Bänke, welch letztere
zum Theil die Fundamente der starken Seeforts „Tre Kroner“ und
„Lynetten“ bilden, beschränken wohl deren Raum in nicht unbedeu-
tendem Masse, sind aber durch ausreichende Betonnung, Bemarkung
und Beleuchtung derart gekennzeichnet, dass sie der Zufahrt keine
Schwierigkeiten entgegenstellen und in keiner Weise dem Rufe Kopen-
hagens als eines der besten und sichersten Häfen der Ostsee und
des Kattegats, welcher Eigenschaft es zweifelsohne sowohl seine
Anlage als die nunmehrige Bedeutung für den Weltverkehr verdankt,
abträglich wirken.
Kopenhagen wird in der dänischen Geschichte das erstemal im Jahre 1043 als
Fischerdorf unter dem Namen „Havn“ (der Hafen) genannt.
Die Gründung der eigentlichen Stadt Kopenhagen ist das Verdienst des
rührigen Bischofs Absalom, des Ministers König Waldemar I. (1157—1182), der die
Wichtigkeit der Position Havns erkannte und im Jahre 1168 zum Schutze des
Hafens „gegen Seeräuber“ eine feste Burg auf derselben Stelle erbaute, wo jetzt
die Ruinen der Christiansborg stehen. Rasch blühte der Ort als Handelsplatz
auf; um 1200 wird er bereits „Portus mercatorum“, auf dänisch „Kjöbmanhafn“
(Kaufmannshafen) genannt, und allmälig setzt sich die Form „Kjöben-Havn“ (Kauf-
Hafen) fest, wie der Ort bis heute genannt wird. Sein erstes Stadtrecht erhielt
Kopenhagen 1254. Die Geschichte erzählt von vielfachen Kämpfen um den Besitz
der Stadt; insbesondere waren es die Hanseaten, die seit der Mitte des XIV. Jahr-
hunderts in mehreren Kriegszügen gegen Kopenhagen feindlich auftraten und sich
durch Wegnahme und Plünderung der Stadt für die von den Dänen geübten
Ueberfälle der eigenen Territorien schadlos hielten.
[[777]]
Kopenhagen.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 98
[778]Der atlantische Ocean.
Prinz Christoph von Bayern, der nach seinem Onkel Erich den Thron Däne-
marks bestieg, verlegte 1443 seine Residenz von Roeskilde nach Kopenhagen,
Christian I. gründete 1478 daselbst die dänische Universität, und 1537 wurde auch
der Bischofsstuhl von Roeskilde nach Dänemark verlegt. In diesen Zeiten führten
die dänischen Könige erbitterte Kämpfe gegen die Schweden für die Erhaltung der
„kalmarischen Union“ der drei nordischen Reiche Schweden, Norwegen und Dänemark,
und dadurch erwuchs die Stadt von selbst zum Hauptwaffenplatz des Landes, zur
Hauptstation der dänischen Kriegsflotte. Vom XVI. Jahrhundert an ist das Schick-
sal des gesammten Reiches fast ganz abhängig von dem Schicksale der
Hauptstadt. Sie hat daher wiederholt langwährende Belagerungen zu erdulden;
so im Jahre 1523, als König Christian II. verjagt und von seinem als Gegenkönig
aufgestellten Oheim Friedrich I. bekriegt wurde, und weiters 1535 und 1536, als nach
dem Tode Friedrich’s I. Christian II., gestützt auf sein vermeintliches Recht, mit
Hilfe Englands und der Hanseaten erneuert versuchte, die ihm entrissene Krone
an sich zu bringen.
Christian IV., einer der hervorragendsten Regenten Europas in jenen Tagen,
erweiterte Kopenhagen um ein Bedeutendes und verstärkte, gezwungen durch die
unsicheren Zustände, wie sie der dreissigjährige Krieg mit sich brachte, die Befesti-
gungen; schon in der Regierung seines Nachfolgers Friedrich III. (1648—1670)
zeigte sich die Erspriesslichkeit dieser Vorkehrungen, da Kopenhagens Bürger da-
durch in den Stand gesetzt waren, mit ihrer Stadt das Vaterland zu retten vor
dem Schwedenkönig Karl X., der, auf dem Eise von Insel zu Insel marschirend,
bereits das übrige Dänemark erobert hatte. Auch das Bombardement der ver-
einigten englisch-holländisch-schwedischen Flotte im Jahre 1700 konnte die Stadt
über sich ergehen lassen, ohne dessen Folgen sonderlich fürchten zu müssen.
Das XVIII. Jahrhundert war für Kopenhagen eine Zeit der freien Ent-
wicklung und des wirtschaftlichen Aufschwunges; während der französischen Re-
volution hielt Dänemark eine strenge Neutralität und erreichte, begünstigt durch
den Umstand, dass das kaufmännische Gut unter den anderen europäischen Flaggen
nur wenig Schutz genoss, eine bedeutende Erweiterung seines Seehandels. — Der
Reichthum vieler Kopenhagener Kaufhäuser und insbesondere der Rheder datirt
aus jener Zeit.
1799 und 1800 schonten die Engländer auch die neutrale Flagge nicht, so dass
Dänemark gezwungen war, der von Russland 1801 gegen die Uebergriffe dieser Macht
gestifteten bewaffneten Neutralität beizutreten, was von Seite Englands als Kriegs-
erklärung aufgefasst und als Grund vorgeschoben wurde, eine Flotte unter dem
Admiral Lord Parker und dem Viceadmiral Nelson nach Kopenhagen zu ent-
senden, welche unter Nelson’s Führung am 2. April die zur Vertheidigung der
Stadt ausserhalb der Batterie im Königstief verankerte dänische Flotte völlig ver-
nichtete. Die Annalen der Geschichte zählen diese That zu den kühnsten Nelson’s,
und auch Napoleon I. beurtheilte sie derart.
Im Jahre 1807, als Napoleon I. auf der Höhe seiner Macht stand und es
nicht sicher war, ob er die langgehegte Absicht einer Landung am Inselreiche
trotz der sich bietenden Schwierigkeiten nicht dennoch zur Ausführung bringen
würde, erwachten in England Bedenken gegen die dänische Flotte. Ohne jedwede
Kriegserklärung erschien vor Kopenhagen ein englisches Geschwader und forderte
unter Androhung von Gewaltmassregeln die Schliessung eines Allianzvertrages
und eröffnete nach Verweigerung der Erfüllung dieses Ansinnens die Feindselig-
[779]Kopenhagen.
keiten; Kopenhagen wurde bombardirt und in Brand geschossen, die dänische
Flotte als Beute weggeführt.
Die rege, vom Glücke begünstigte Handelsthätigkeit Kopenhagens liess auch
bald diesen schweren Schlag, den das Reich und in erster Linie dessen Haupt-
stadt erlitten hatte, vergessen und bezwang alle Hindernisse, welche der infolge
ihrer günstigen Handelslage am Sund sich vollziehenden Entwicklung entgegen-
standen, und Kopenhagen hob sich bis in unsere Tage ununterbrochen, so dass
es heute unter den Residenzstädten Europas eine hervorragende Stellung einnimmt.
Kopenhagen, unter 55° 41′ nördl. Br. und 12° 35′ östl. L.
v. Greenwich gelegen, ist Residenz, Sitz der Ministerien, des Reichs-
tages und aller höchsten Behörden, Station der Kriegsflotte und der
Mittelpunkt des Handels, der Industrie und des Verkehrs sowie die
Centrale der Wissenschaft, Literatur und Kunst des Landes, kurz das
Herz Dänemarks.
Nach der Zählung vom 1. Februar 1890 beträgt die Ein-
wohnerzahl der Stadt mit Vorstädten 375.800 Seelen, also 17 % der
Gesammtbevölkerung Dänemarks.
Die Stadt macht im Allgemeinen einen äusserst freundlichen,
distinguirten Eindruck; Wohlhabenheit, Lebensfreude bis an die
Grenze der Genusssucht und stark entwickelter Kunstsinn der Be-
wohner bringt sich in der ganzen Stadtanlage zum Ausdruck.
Am Quai stehen dicht aneinandergereiht die Paläste der erb-
gesessenen Kaufherren und alle jene grösseren Gebäude von Ge-
sellschaften und Privaten, deren Interessen an den Seeverkehr
gebunden sind; gedeckt durch diese breitet sich die Stadt im ge-
schlossenen Halbzirkel über die Reihe langgestreckter Wasserbecken,
die durch Abschliessung eines Sundarmes entstanden sind und ihrer
regelmässigen Form halber als breite künstlich angelegte Wasser-
gräben erscheinen. Sie liegen ausserhalb der alten Befestigungswerke,
die Kopenhagen einst gegen die Landseite umgürteten und von wel-
chen gegenwärtig nur mehr drei Bastionen im Anschluss an die
Citadelle (Kastellet) im Norden erhalten sind.
Das Strassennetz ist mit Ausnahme der kleinen Stadttheile, die
sich um die Schlossinsel gruppiren, im ganzen nördlichen Stadt-
theil, der fast durchgehends aus palastartigen Bauten besteht und
von den Mitgliedern des königlichen Hauses, der Aristokratie, den Ge-
sandtschaften und hohen Würdenträgern bewohnt wird, regelmässig
angelegt. Die neu angelegten, ausserhalb der angrenzenden Teiche
gelegenen Vorstädte Osterbro, Norrebro und Westerbro, das sich an
letztere immer enger anschliessende Kirchdorf Frederiksberg und nicht
98*
[780]Der atlantische Ocean.
minder der auf Amager gelegene Stadttheil Christianshavn sind be-
sonders erwähnenswerth.
Die Regelmässigkeit der Strassenzüge und die nahezu voll-
kommene Ebenheit des Terrains, auf dem die Stadt steht, ermöglichten
den bedeutenden Anforderungen des Verkehrs durch Anlage ausge-
breiteter, vielverzweigter Strassenbahnen volle Rechnung zu tragen.
Kopenhagen ist sehr reich an hervorragenden Bauten, die theils
durch architektonischen, theils durch historischen Werth und nicht
zumindest durch die Reichhaltigkeit der Kunstschätze, die sie bergen,
ein bedeutendes Interesse wachrufen.
Christiansborg, auf der von Canälen umfangenen Schlossinsel
von Christian VI. an Stelle des alten Residenzschlosses erbaut und
nach Zerstörung durch eine Feuersbrunst im Jahre 1794 erneuert herge-
stellt, wurde, wie noch erinnerlich, am 3. October 1884 abermals ein
Raub der Flammen.
Die Brandruine mit den fünf Stockwerke aufweisenden Fronten,
den das Mittelgiebelfeld tragenden Pilastern an der Hauptfaçade und
der von 36 dorischen Säulen gebildeten Colonnade an der Rückfront
zeigen die grossen Verhältnisse, in denen das Schloss gehalten, und
die aussergewöhnliche Formenschönheit, mit der es ausgestattet war.
Theilweise gedeckt von der an den linken Flügel der Ruine
angereihten Schlosskirche steht das so sinnreich angelegte Mausoleum
Thorwaldsen’s, des grössten Plastikers seit Phidias, dessen Meissel es
in seltener Begabung gelang, die edle Reinheit griechischer Formen-
schönheit, wie sie die Antike in ihren mythologischen Gestalten schuf,
in neuen Formen wieder aufleben zu lassen.
Das Gebäude, das gleichzeitig als Museum der Werke des
Meisters dient und dessen Mausoleum bildet, ist an sich eine Sehens-
würdigkeit, die Architektur ist griechischen und etruskischen Grab-
bauten entlehnt und trägt den Stempel schwermüthigen Ernstes.
Das Museum, welches nebst einer grossen Zahl der eigenen
Schöpfungen Thorwaldsen’s, die schon allein durch die vielfältige
Nachbildung, welche sie erfuhren, ihren wahren Werth documentiren,
auch Bilder und Statuen anderer hervorragender Meister, insbesondere
aber sehr werthvolle Antiken birgt, wird dadurch zu einer der her-
vorragendsten Kunstsammlungen der Welt.
An den rechten Flügel des ehemaligen Schlosses schliesst eine
Gruppe umfangreicher Gebäude an, in welcher die Ministerien, die
königliche Bibliothek, das Zeughaus und ähnliche dem öffentlichen
Interesse gewidmete Institutionen untergebracht sind. Dieser gegenüber
[781]Kopenhagen.
steht die Börse, mit ihrer Hauptfront hart an den Canal herantretend;
ein origineller Barockstylbau, der durch die abenteuerliche Form des
ihn krönenden Thurmes — vier auf dem Bauche liegende Drachen,
deren Schwänze in inniger Verschlingung himmelanstreben — be-
sonders auffällt.
Vor dem Haupteingange der Schlossruine auf dem geräumigen
Platze, der sich bis an den die Insel umfangenden Canal ausdehnt,
steht das Reiterstandbild Friedrich’s VII., des „Vaters des Volkes“, wie
ihn die Geschichte nennt.
Südwestlich des Schlosses liegt jenseits des Frederiksholm-
canals das höchst interessante Prindsens-Palais, welches gegenwärtig
ausschliesslich als Museum dient. In diesem Gebäude sind fünf be-
deutende Sammlungen untergebracht, von welchen insbesondere das
Museum nordischer Alterthümer (Nordiske Oldsager) eines der
umfangreichsten ist, welche für die skandinavische und altgermanische
Culturgeschichte existiren, und etwa 40.000 Objecte von unschätz-
barem Werthe enthält. Die Sammlung ist für die prähistorische Zeit
die bedeutendste der Erde.
Von ausserordentlichem Interesse ist das ethnographische
Museum, eines der grossartigsten in Europa; es füllt nicht weniger
als 35 Säle und verdankt seine Entstehung dem 1865 gestorbenen
Conferenzrathe Thomsen. Auch bei dieser Sammlung sind die nordi-
schen Länder, selbst Grönland, besonders vertreten. Im selben
Palais ist ferner die etwa 80.000 Blätter zählende königliche Kupfer-
stichsammlung, dann das Kunstmuseum oder Antikencabinet mit
Sculpturen und Baufragmenten aus der alten Welt, endlich das
30.000 Objecte enthaltende Münz- und Medaillen-Cabinet unter-
gebracht, alles Sammlungen allerersten Ranges.
Von dem vorerwähnten Schlossplatz der Christiansborg führt eine
breite Strasse über die Knippelsbro nach Christianshavn, dem auf
Amager liegenden Stadttheil, der durch die grosse Zahl privater
Schiffswerften und Docks, die im engen Anschluss an die ähnlichen
Etablissements der Kriegsmarine stehen, besonders ausgezeichnet ist.
Als Wahrzeichen des Stadttheiles erhebt sich aus dessen Mitte
der Thurm der Frelsers-Kirche, der Form nach einzig in seiner Art.
Eine Wendeltreppe führt aussen rund um den Thurm zu dem 90 m
hohen Belvedere, von welchem aus der Rundblick über die ganze
Stadt bis weit hinein in das Gebiet Seelands, über Aecker und
Wiesen zu den den Horizont gegen Nordwest abschliessenden Buchen-
wäldern, deren Schönheit von allen Naturfreunden in den über-
[782]Der atlantische Ocean.
schwänglichsten Worten geschildert wird, und über die hundertfältig
parcellirten Gefilde der Insel Amager, des Nutzgartens von Kopenhagen,
ermöglicht ist.
Den Mittelpunkt der Stadt, sowohl der örtlichen Lage nach
als auch betreffs des Umstandes, dass sämmtliche Verkehrslinien
sich daselbst kreuzen, bildet Kongens-Nytoro (Königs-Neumarkt), in
welchen 13 Strassen einmünden. Wenn ihm auch die geometrische
Regelmässigkeit mangelt, so kann er schon der räumlichen Aus-
dehnung halber und nicht minder der prächtigen Gebäude wegen,
die ihn umschliessen, unter die stattlichsten Plätze der europäischen
Grossstädte eingereiht werden.
Das an einer Seite des Platzes frei hervortretende königliche
Theater ist ein bedeutender, im reinen Renaissancestyl durchge-
führter Bau.
Die in den Giebelfeldern eingefügten von Meisterhand model-
lirten plastischen Gruppen Apollo’s und der Musen, die Reichhaltig-
keit an sonstigen Sculpturen sowie nicht minder die zu Seiten des
Haupteinganges postirten Monumente der heimatlichen Dichter Ludwig
Hollberg und Adam Oehlenschläger bringen die Schönheit der
architektonischen Formen zu erhöhter Geltung.
Die dem Theater nächstliegende Ecke des Platzes wird vom
Schlosse Charlottenborg eingenommen; das Gebäude ist nur durch
seine räumliche Ausdehnung auffallend, es ist seiner eigentlichen Be-
stimmung seit Langem entfremdet und beherbergt dermalen die
Kunstakademie und die königliche Gemäldegallerie, insoweit dieselbe
beim Brande Christiansborgs gerettet wurde.
Orientirt zum Schlosse steht in der Mitte des Platzes das
Reiterstandbild Christian V., um dasselbe breitet sich eine hübsch
gruppirte Gartenanlage aus, die aber die Aufgabe, welche ihr der
kunstverständige Kritiker geben möchte — die Statue möglichst zu
verdecken — nur theilweise löst.
Wie vorne erwähnt, münden auf den Platz die Hauptverkehrs-
strassen der Stadt. Folgen wir der bedeutendsten, der Östergade,
welche den ständigen Corso der eleganten Welt bildet, so kommen
wir vorüber an der Heiligen Geist-Kirche über die zwei vereinigten
Plätze, den Gammel-Toro (Altmarkt) und Nytoro, in deren Mitte ein
von Christian IV. errichteter Springbrunnen seine Wasser spielen
lässt, zu jenem Theile der Stadt, den kaum ein Kopenhagener Kind,
sei es noch in den ersten Schuhen oder trüge es ergrautes Haar,
ohne gewisse Befriedigung nennen wird.
[783]Kopenhagen.
Es ist „Tivoli“ mit seinen ungezählten Schaubuden, Sommer-
theatern, Concertlocalen, Rutschbahnen, Bazars, Caroussels, Bierhallen,
Theepavillons, Cafés Chantants und allen sonstigen erdenklichen
Vergnügungslocalen, die durch das nun schon lang in aller Welt
populär gewordene „Nur hereinspaziert, meine Herrschaften“ am besten
gekennzeichnet sind.
Bei Tivoli die Strasse überquerend, gelangt man in den Theil
der Stadt, der sich auf den Gründen der alten Festungswerke erhebt
und sich bis an die Kopenhagen umschliessenden Teiche ausdehnt.
Hier steht der Bahnhof, und weiter nordwärts, jenseits breiter Boule-
vards, erheben sich regelmässige Gruppen von Zierhäusern, zwischen
welchen sich wohlgepflegte Gärten und Parkanlagen ausdehnen.
Der Örsted-Park, so genannt nach dem berühmten Naturforscher,
dessen Statue inmitten desselben steht, und der botanische Garten,
der sich durch die Reichhaltigkeit von Pflanzen, die theils im Freien,
theils in sehr gut angelegten Treibhäusern gezogen werden, aus-
zeichnet, werden von der Bevölkerung mit Vorliebe besucht. Dem
botanischen Garten gegenüber breitet sich der Park des Schlosses
Rosenborg aus, das bis in die Mitte des XVIII. Jahrhunderts mehr-
fach die Residenz dänischer Herrscher war und nun durch die
Reichhaltigkeit der darin bewahrten historischen Sammlungen von
hohem Interesse ist, aus.
Ueber Tivoli hinaus liegt die Vorstadt Vesterbro und an-
schliessend an diese Frederiksberg mit dem gleichnamigen Schloss,
das seinerzeit ein Sommeraufenthalt dänischer Könige gewesen sein
mag; zumindest lässt der sehr bedeutende Park, inmitten dessen es
auf einer Anhöhe liegt, darauf schliessen.
Wenig nordwärts des Gammel-Toro steht die Frauenkirche,
die, abgesehen davon, dass sie die Metropolitankirche des Reiches
ist, dadurch zu Bedeutung kam, dass sie mehrere Meisterwerke
Thorwaldsen’s, so die neutestamentliche Gruppe, den segnenden
Christus, den Schutzengel eines Kindes im Originale birgt. Nächst
der Frauenkirche befinden sich die Universität, die Universitäts-
bibliothek, das mineralogische und zoologische Museum und die poly-
technische Akademie, lauter Anstalten, die in hervorragender Weise
auf die Bildung des Volkes Bedacht nehmen.
Als Curiosum unter den Bauwerken Kopenhagens gilt der an
die Trinitatis-Kirche stossende „Runde Thurm“, die ehemalige Stern-
warte; eine gepflasterte schiefe Ebene führt derart bequem zu der
36 m hohen Plattform, dass Peter der Grosse zu Pferde und seine
[784]Der atlantische Ocean.
Gemahlin in einem vierspännigen Wagen den Aufstieg unternehmen
konnten.
Der nördliche Theil Kopenhagens, der durch die vom Platze
Kongens-Nytoro ausgehende prächtige Gothersgade vom südlichen
Theile getrennt ist, verräth durch die peinliche Regelmässigkeit seiner
Anlage, dass er in der Neuzeit entstanden ist.
Grosse palastartige Gebäude bilden aneinanderschliessend regel-
mässige Häuserblöcke, zwischen welchen breite, sich in rechten Winkeln
schneidende Strassenzüge laufen. Hier vermisst man das geschäftliche
Getriebe, das sich über die übrigen Stadttheile ausbreitet. Ernst und
Ruhe, wie sie den oberen Zehntausend, die hier hausen, sicherlich nicht
unerwünscht sind, beherrschen hier den Gang der Dinge. Als Centrum
dieses Stadttheiles kann die Amalienburg, dermalige Residenz der
Herrscherfamilie, angesehen werden.
Sie wird von vier in der Architektur ganz gleichmässig ge-
haltenen Gebäuden gebildet, welche das regelmässige Oktogon des
Burgplatzes, in dessen Mitte sich die Reiterstatue Friedrich V. erhebt,
umschliessen. Die Citadelle Frederikshavn schliesst die Stadt im Norden
gegen den Sund ab, sie ist ein altes Festungswerk mit doppeltem
Wall und Wassergräben, das seinerzeit manchem Angriff Trotz bieten
konnte und sicherlich kein harmloser Gegner war.
Der äussere Damm, der das Fort an der Seeseite umläuft, ist
einer der beliebtesten Spaziergänge Kopenhagens. Alt und Jung der
Bevölkerung ergeht sich hier während der Abendstunden in dem er-
hebenden Anblick des vollen Treibens auf der Rhede und lauscht
dem Rauschen der Wellen, die eine leichte Brise an den Strand treibt.
Weiter nördlich haben am herrlichen Strande einige grosse
Badeanstalten sich etablirt, welche viel von Einheimischen und
Fremden besucht werden.
Ueberhaupt bietet der langgestreckte Strand im Norden der
Stadt bis hinauf zur Enge des Sundes Brittelsingör Gelegenheit zu
lohnenswerthen Ausflügen.
Legende zu Kopenhagen und Umgebung.
A nördliche Einfahrt, B innerer Hafen, C Ueberreste des alten Dreikronenforts, D neuer Hafen im Bau
(7·3 m Tiefe), E Dockinsel, F Leuchtfeuer, G Torpedogrund, H Eisenbahnstation, J Bahnhof, K Rosen-
borgpalaispark, L botanischer Garten, M Sternwarte, N Gemeindehospital, O Citadellkirche, P Zollamt,
Q Quarantäne, R Friedrichsspital, S Marmorkirche, T Statue Friedrich V., U St. Paulskirche, V königl.
Theater, W Dreifaltigkeitskirche, X Fruekirche, Y Petruskirche, Z Christianborgpalais, — 1 Holmens-
kirche, 2 Börse, 3 Frelserskirche, 4 Friedrichskirche, 5 altes Dock, 6 Blindeninstitut, 7 Hospital,
8 eingestürzter Damm.
[[785]]
(Legende siehe auf Seite 784.)
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 99
[786]Der atlantische Ocean.
Zahlreiche Ortschaften, Landhäuser und Gärten, darunter das
reizende Charlottenlund, der Sommerwohnsitz des Kronprinzen, dann das
hübsch gelegene Seebad Klampenborg mit grossem Thiergarten und
andere liegen hier an der Küste, welche durch anmuthige Wald-
partien, besonders aber durch den Ausblick auf das schwedische Ufer,
wie durch die inmitten des Sundes aus den Fluten steigende Insel
Hven manchen malerischen Reiz besitzt.
Kopenhagen ist eine ebenso interessante wie höchst sympathi-
sche Stadt.
Und wenn die letzten Blicke, mit denen die scheidende Sonne
die starren Formen der jenseitigen Küste vergoldete, die ersten
Sterne erglänzen und der Mond über Stadt und Land einen magischen
Zauber giesst, dann trennt man sich nur schwer von dem herrlichen
Anblick des erhabenen Bildes. Aber nicht die Natur allein macht
Kopenhagen jedem Fremden unvergesslich, auch die hohe Bildung
seiner Bewohner. Welcher Gebildete könnte einem Lande seine Sym-
pathien entziehen, wo jeder Erwachsene lesen und schreiben kann,
tausende den Mittelständen Angehörige ausser Dänisch eine oder zwei
Weltsprachen verstehen, und die höheren Stände vor Kunst und Wissen-
schaft eine Achtung haben, welche den Südländern vielfach ganz
unverständlich ist!
Betrachten wir nun die Handelslage von Kopenhagen.
Durch seinen geradlinigen, nordsüdlichen Verlauf bildet der
„Öre-Sund“ oder „Sund“ die sicherste und bequemste Verbindung
zwischen dem Kattegat und der Ostsee, und die in diesen Gegenden
vorherrschenden Westwinde ermöglichen die schnelle Durchsegelung
der ganzen Meerenge in beiden Richtungen.
Es ist daher kein Wunder, dass es von den drei Meerengen,
welche aus der Ostsee in den Kattegat führen, nur der Sund zu
einer historischen Bedeutung gebracht hat, dass er der eigentliche
Verbindungsweg zwischen Ost- und Nordsee, das Hauptthor und die
grosse Handelsstrasse dieser Meere geworden ist.
Auf der Seite Seelands ist das bessere Fahrwasser, sind gute
Rheden und Ankerplätze. Hier entwickelte sich nach dem berühmten
Marktplatze „Halseiri“, dem heutigen „Helsingör“, das die ältesten
Sagen der Dänen kennen, Kopenhagen als grosser Handelsplatz.
Von der Festung Kronborg bei Helsingör aber erhob später Däne-
mark von allen den Sund passirenden fremden Schiffen den soge-
nannten Sundzoll als Zeichen seiner Herrschaft über die Ostsee.
Erst am 1. April 1857 wurde diese Abgabe aufgehoben, wofür
[787]Kopenhagen.
Dänemark von den seefahrenden Nationen, welche die Ostsee besuchten,
eine Entschädigung von 30½ Millionen Reichsthaler empfing.
Seit dem XIII. Jahrhundert entwickelte sich der Handel Kopen-
hagens immer günstiger, aber er befand sich nicht in den Händen
der Dänen, sondern der Hanseaten, und das änderte sich auch dann
nicht, als die dänische Königin Margarethe am Ende des XIV. Jahr-
hunderts für einige Zeit wenigstens Kopenhagen zur Hauptstadt der
drei skandinavischen Staaten machte. Erst Christian II. kämpfte mit
Glück gegen die monopolistischen Privilegien der Hanseaten, er erzog
durch seine „Verordnung über die Verbesserung des städtischen
Wesens in Dänemark“ von 1522 die Dänen zum Eigenhandel. Jetzt
gelangte Kopenhagen allmälig in den Besitz aller Vortheile, welche ihm
durch die Beherrschung des Sundes, durch die centrale Lage zwischen
Dänemark, Südschweden und Norwegen, die unter dem Scepter der
dänischen Könige standen, gebührten, und errichtete die Stadt eine
nationale Marine.
Am Ende des XVIII. Jahrhunderts handelte Kopenhagen mit
Island und Grönland, mit Ostindien und der dänischen Colonie
St. Thomas in Westindien, mit dem spanischen Südamerika, mit Gross-
britannien und Westeuropa. Als Holland von den Franzosen besetzt
wurde, riss Kopenhagen einen nicht geringen Theil des holländisch-
ostindischen Handels an sich.
Doch 1807 nahmen die Engländer in Kopenhagen die dänische
Flotte weg und vernichteten mit einem Schlage die so mühsam er-
rungene maritime Stellung.
Mit der Abtretung Norwegens, 14. Jänner 1817, verlor Kopen-
hagen den grössten Theil des Handels mit Colonial- und anderen
Manufacturwaaren dorthin, seine Börse die Geldumsätze für Nor-
wegen. Aus dem Handel nach Ostasien und nach Südamerika wurden
die Dänen von den Engländern verdrängt.
Mit der Entwicklung des grossen Weltverkehres, wie ihn das
XIX. Jahrhundert schuf, erfuhr das schwach bevölkerte Dänemark
das Schicksal vieler anderer Kleinstaaten, von einer dominirenden
in eine secundäre Stellung im Weltgetriebe gedrängt zu werden.
Aber selbst in dieser secundären Stellung wussten die Dänen sich
derart zu behaupten, dass in Ziffern ausgedrückt ihr heutiger Handel
ihrem ehemaligen Welthandel nichts nachgibt.
So geht heute der Handel Dänemarks und Kopenhagens vor
Allem nach Grossbritannien, Deutschland und Schweden. In zweiter
Linie stehen Russland und Finnland.
99*
[788]Der atlantische Ocean.
Die Faröer, Island und Grönland bringen die nordischen Pro-
ducte nach Kopenhagen und versorgen sich dort mit Getreide und
Mehl. Der Verkehr mit Dänisch-Westindien hat keine besondere Be-
deutung mehr, dafür schickt die grosse Gesellschaft „Forenede
Dampskibsselskab“ aus Kopenhagen ihre Dampfer nicht nur in die
umliegenden Staaten, sondern bis in die Levante, wo sie den briti-
schen Frachtdampfern erfolgreiche Concurrenz machen.
So sehen wir die Dänen auf dem Gebiete des Seewesens und
des Handels in derselben Weise thätig, wie es ihre Vorfahren waren.
Die Dänen, welche in ihrem Patriotismus durch Schenkungen
und Arbeit so viel für ihr Vaterland und ihre Hauptstadt thun,
sehen leider die heutige Handelsstellung Kopenhagens durch den im Bau
begriffenen Nord-Ostseecanal bedroht. Nach Vollendung dieses Canals
werden wahrscheinlich nur die von und nach Nordengland und Schott-
land bestimmten Schiffe und während der Sommermonate ein Theil der
von und nach Nordamerika kommenden Dampfer den Sund passiren,
eventuell in Kopenhagen anlegen; dadurch wird der Handel dieser Stadt
und vor Allem werden die mit der Schiffahrt im Zusammenhange
stehenden Gewerbe eine erhebliche Einbusse erleiden.
Um dieser Gefahr zu begegnen, soll in Kopenhagen ein Freihafen
errichtet werden.
Mit grossen Kosten will man an der Westseite der inneren
Rhede von Kopenhagen, nördlich von der Castellspitze, ein grosses
aus Land und Wasserfläche gebildetes Areal herstellen, dessen süd-
licher Theil den eigentlichen „Handelsfreihafen“, der nördliche den
„Industriehafen“ nebst dem dazu gehörigen „Freiterritorium“ bilden
soll, während zwischen beiden ein „Dampffährthaven“ für die pro-
jectirte Dampffähre zwischen Kopenhagen und Malmö angelegt
werden soll. Eisenbahngeleise und Dampfkrahne werden die Aus-
gestaltung Kopenhagens zu einem modernen Hafen vollenden. Die
projectirten Hafenanlagen haben wir auf unserem Plane angedeutet.
Betrachten wir nun den Waarenumsatz Dänemarks mit dem Auslande, zu
dem hier auch die Faröer, Island, Grönland und Dänisch-Westindien gerechnet
werden, so sehen wir, dass Kopenhagen Dänemarks erster Einfuhrhafen ist,
indem hier zwei Drittel der ganzen Zolleinnahme des Staates erlegt werden.
Als Ackerbaustaat führt Dänemark sehr viel Dünger und Futterstoffe ein.
Nach Kopenhagen wurden von natürlichem thierischen und Pflanzen-
dünger aus Südamerika und den Vereinigten Staaten von Nordamerika 1888
69.025 q gebracht, von Kunstdünger aus Grossbritannien, Norwegen, Schweden
und Spanien 1888 86.140 q.
Kleie kommt aus Deutschland, Russland und Schweden, 1889 aus Belgien,
Frankreich und Grossbritannien. Einfuhr 1888 171.655 q, 1887 227.963 q.
[789]Kopenhagen.
Oelkuchen senden Russland, die Vereinigten Staaten, Frankreich und Gross-
britannien; 1888 149.990 q.
Das in Kopenhagen aus dem Auslande eingeführte Getreide und Mehl
ist zum Consum bestimmt.
Roggen wird am stärksten aus Russland eingeführt, die Zufuhren aus
Deutschland sind zum Theile auch russischen Ursprungs. Einfuhr 1888 530.982 q,
1887 343.076 q.
Weizen kam 1888 (386.036 q) nur aus Russland und über Deutschland,
1887 (417.491 q) noch in grossen Mengen aus der Union. Letztere versorgt
Kopenhagen mit Mais (1888 223.411 q). Schweden, Russland und Deutschland mit
Hafer und Gerste (1888 69.489 q).
Die Einfuhr von Weizenmehl aus Deutschland (Kiel) und Schweden
betrug 1888 26.602 q. Ungeschälten (1888 59.333 q, 1887 65.874 q) und geschälten
Reis (1889 99.324 q) sendet Ostindien, von letzterem einiges auch Deutschland.
Getrocknete Früchte werden zum Theil über Hamburg, zum Theil direct
aus Südeuropa eingeführt.
Aus Deutschland, Russland, Belgien und Frankreich kommen Sämereien
(1888 71.948 q).
Mit Farbhölzern und Farben aller Art versorgen Kopenhagen Deutsch-
land und Grossbritannien, mit Gerbstoffen (1888 26.183 q) Schweden und Gross-
britannien.
Cacao wird meist über Hamburg eingeführt (1888 3542 q), Kaffee (1888
68.907 q) aus Hamburg, den Niederlanden und Belgien, Thee aus England.
Zucker muss importirt werden, da die einheimische Production weitaus
nicht genügt. Raffinirter Zucker (1888 22.502 q, 1887 25.755 q) wird aus
Deutschland und Belgien bezogen. Rohzucker (1888 99.148 q) aus Grossbritannien,
von den nichtdänischen und den dänischen Antillen, Melasse aus Grossbritannien.
Rohtabak und Tabakfabricate kommen aus Deutschland.
Flaschenweine werden aus Frankreich zugeführt, Fassweine (1888
23.436 q) aus Frankreich, Spanien, Portugal und Deutschland.
Da Dänemark wenig Holz hat, so wird dieses in grossen Mengen und
in allen Dimensionen aus Schweden, aus Russland direct und über Deutschland,
dann aus Finnland zugeführt.
Unverarbeitetes Korkholz (1888 13.234 q) kommt direct aus Portugal, die
Hauptmenge aber über Grossbritannien und Deutschland.
Kartoffeln und Kartoffelmehl liefert Schleswig-Holstein.
Frische Fische (1888 21.203 q) senden Schweden, Austern Grossbritannien,
Häringe (1888 86.898 q, 1887 68.517 q) Norwegen, Stockfische (1888 38.482 q)
Island und die Faröer.
Aus Schweden werden Schafe (1888 29.028 Stück), Rinder (14.894 Stück)
und Pferde eingeführt.
Aus Schweden stammt auch der grösste Theil der Einfuhr von Speck und
Schinken, Butter ebenfalls aus Schweden, Finnland und Deutschland. Einfuhr
von Butter 1888 52.237 q.
Fette (1888 38.781 q) kommen meist aus den Vereinigten Staaten, Thran
(17.835 q) von Grönland und Island.
[790]Der atlantische Ocean.
Die Einfuhr von Dunen aus Island erreichte 1888 12.981 kg, die aus
Grönland 7213 kg, die von den Faröern 5535 kg.
Klein ist die Einfuhr von Baumwolle, Hanf, Jute und Schafwolle.
Rohe Häute werden aus Frankreich, Deutschland, Schweden, Norwegen
und Island zugeführt; 1888 23.048 q.
Die Einfuhr von Steinkohlen besorgt meist Grossbritannien; 1888
9695 Commerzlasten und 470.871 q, 1887 228.528 Commerzlasten und 410.722 q.
Petroleum ist in der Gruppe „alle anderen Oele“ (1880 154.580 q)
enthalten.
Sein Kochsalz bezieht Dänemark aus Grossbritannien, kleinere Mengen
aus Lübeck und Portugal; 1888 118.725 q.
Steine, die Dänemark nur auf der Insel Bornholm gewinnen kann, kommen
aus Deutschland und Schweden.
Apothekerwaaren wurden 1888 19.880 q aus Grossbritannien und
Deutschland, Chlorkalk (16.022) aus England, Soda (46.620 q) aus England,
Deutschland und Belgien, Säuren aus Deutschland eingeführt.
Das Hauptland für die Einfuhr von Webe- und Wirkwaaren ist Gross-
britannien. Deutschland liefert auch viele Leinenwaaren, fast alle Seidenwaaren,
es kommt Grossbritannien nahe in der Einfuhr von Schafwollwaaren, in denen
auch Belgien bedeutend ist. Es wurden eingeführt Leinen- und Baumwollgarne
1888 16.340 q, Leinen-, Hanf- und Baumwollwaaren 38.917 q, Seidenwaaren 1258 q,
7503 q Schafwollgarne und 17.800 q Schafwollwaaren.
Die Einfuhr von Papier und Papierwaaren aus Deutschland, Schweden,
Belgien und Finnland betrug 1888 21.958 q.
Die Einfuhr von ungeschliffenem und unbelegtem Glas (1888 15.819 q) be-
sorgten Belgien und Grossbritannien, die der anderen Sorten Deutschland und
Grossbritannien. Ziegel kommen aus Schweden, Thon- und Porzellanwaaren
(1888 12.880 q) meist aus Deutschland.
Rohe Metalle (1888 86.418 q) kommen meist aus Grossbritannien und
auch aus Schweden und Deutschland, Band- und Stangeneisen (139.602 q) aus
Deutschland, Schweden und England, Stahl in Stäben aus England und Schweden,
rohes verarbeitetes Eisen (32.057 q) aus Grossbritannien und Belgien, Eisen-
röhren (33.568 q), dann Platten und Bleche (92.752 q) aus Grossbritannien und
Deutschland.
In gewöhnlichen Eisenwaaren (48.995 q) und in anderen Waaren aus
Eisen und Stahl steht Deutschland vor Grossbritannien. Deutschland liefert auch
den grösseren Theil der Zink-, Messing-, Kupfer- und Gürtlerwaaren.
Der Menge nach steht die Ausfuhr Kopenhagens weit hinter der
Einfuhr zurück, denn Butter und Schinken, die Hauptausfuhrartikel Däne-
marks und daher auch Kopenhagens, nehmen nicht den Raum ein wie Kohle
und Holz, die in grossen Mengen eingeführt werden.
An die Spitze stellen wir jene Artikel, welche, aus dem Auslande stammend,
in erster Linie nach Schweden, dann nach Russland-Finnland und auch nach
Nordostdeutschland wieder ausgeführt werden. Sie sind dem Gewichte nach wich-
tiger als die nationalen Erzeugnisse.
Aus der Gruppe der Nahrungs- und Genussmittel sind zu nennen die Aus-
[791]Kopenhagen.
fuhr von geschältem Reis (1888 105.750 q, 1887 92.977 q) nach Deutschland,
Schweden, in die Union und nach den Faröern, Island und Grönland.
Fassweine gehen nach Schweden, Rosinen nach Schweden und Nor-
wegen, getrocknete Pflaumen nach Schweden, Kaffee (1888 24.586 q) und
raffinirter Zucker (11.351 q) nach Schweden und den nordischen Besitzungen
der Dänen.
Häringe (1888 334.566) werden nach Schweden und Deutschland, Stock-
fische nach Italien, Spanien und Grossbritannien und Fette nach Deutschland
versendet.
Kopenhagen sendet Spezereien, Gewürze und Baumwolle nach
Schweden, Hanf und Jute nach Schweden und Norwegen, Korkholz nach
Schweden.
Die Ausfuhr von Steinkohlen (1888 641.028 q) dient der Versorgung der
Dampfschiffe; Kochsalz und Oele, darunter Petroleum, werden nach Schweden und
den nordischen Besitzungen der Dänen ausgeführt.
Die Ausfuhr Kopenhagens an Eisen und Eisenwaaren erreichte 1888
42.431 q und ist ebenfalls fremden Ursprungs.
Roheisen geht nach Schweden und Norwegen, alle anderen Gattungen nach
Schweden und Russland.
Von den einheimischen Waaren sind am wichtigsten die Pro-
ducte des Thierreiches. So wurden 1888 193.742 q, 1887 115.496 q Schinken
meist nach Grossbritannien und auch nach Norwegen; 1888 4772 q Würste und
Zungen nach Norwegen und anderen Ländern ausgeführt.
Nach England geht der grösste Theil der Ausfuhr von Butter (1888
145.284 q, 1887 126.202 q).
Rohe Felle (1888 30.269 q) werden meist nach Deutschland gesendet.
Von Kopenhagen gingen 1888 190.345 q, 1887 190.920 q Gerste nach Gross-
britannien, den Vereinigten Staaten, Belgien, Norwegen und den drei nordischen
Gebieten Dänemarks.
Malz wird nach Island, den Faröern und Schweden, Weizen (1888 31.372 q)
nach Schweden, Roggen (47.722 q) nach Island und Schweden abgesetzt.
Sehr bedeutend ist die Mehlausfuhr Kopenhagens.
Gerstenmehl kauft Island, Weizenmehl (211.719 q) Schweden, Nor-
wegen, Grossbritannien und die nordischen Gebiete der Dänen; relativ gross ist
die Einfuhr der Faröer. Roggenmehl geht nach dem dänischen Norden, nach
Schweden und Norwegen.
Die gesammte Mehlausfuhr Kopenhagens erreichte 1888 269.655 q, 1887
239.297 q.
Grösseren Umfang erreicht die Ausfuhr von eingesalzenen und eingelegten
Feldfrüchten nach den Vereinigten Staaten und Grossbritannien (1888 25.166 q)
und die von ölhältigen Samen nach Schweden.
Bier und Branntwein sind Producte nationaler Industrien Dänemarks.
Das gute dänische Bier gewinnt langsam Boden auf überseeischen Märkten.
Aus Kopenhagen werden endlich feinere Holzarbeiten nach Grossbritannien,
Deutschland und den nordischen Besitzungen, Kleider nach Norwegen und Garne
und Gewebe ausgeführt; von letzteren 1888 9387 q.
[792]Der atlantische Ocean.
Der Waarenhandel Kopenhagens betrug in Tausenden von Metercentnern:
| [...] |
Der Schiffsverkehr von Kopenhagen umfasste:
| [...] |
Die Bestauung erreichte 1888 im ausländischen Verkehre 1,297.890 Reg.-
Tons, im Küstenverkehre 346.082 Reg.-Tons, im Ganzen also 1,643.972 Reg.-Tons,
gegen 1,560.489 Reg.-Tons im Jahre 1887.
Die Handelsflotte Kopenhagens hatte ohne die 616 Barken mit weniger als
4 Reg.-Tons Grösse Ende 1888 einen Stand von 156 Dampfern mit 76.462 Reg.-
Tons und von 275 Seglern mit 19.283 Reg.-Tons, somit im Ganzen von 431 Schiffen
mit 95.745 Reg.-Tons; sie bildete somit 36·5 % der gesammten Handelsflotte und
80 % der Dampfflotte des eigentlichen Dänemark.
In Kopenhagen hat die grösste dänische Dampfschiffsgesellschaft, die
„Forenede Dampskibsselskab“ ihren Sitz.
Den stärksten Verkehr hat Kopenhagen mit Schweden (1888 1·1 Mil-
lionen Tons), nicht viel geringer ist der mit Grossbritannien, es folgen Deutschland
(649.000 Tons), das Baltische Meer und Russland.
Die dänische Flagge besorgt mehr als die Hälfte (2·2 Millionen Tons) der
ganzen Leistung, an sie reihten sich die englische (761.000 Tons), die deutsche,
die norwegische, die niederländische und die russische Flagge.
Im Küstenverkehre sind neben der dänischen Flagge in ganz geringem
Masse die deutsche und die schwedische Flagge betheiligt. Kopenhagen steht, so
lange die Eisverhältnisse die Schiffahrt gestatten, in regelmässiger Dampfschiffs-
verbindung mit den deutschen Häfen Lübeck (271 km), mit Stralsund über Malmö
(201 km) und mit Stettin über Swinemünde (316 km).
Die kürzeste Route von Deutschland her geht über (Rostock) Warnemünde
nach Gjedser (50 km) an der Südspitze der Insel Falster und von dort mit der
Eisenbahn nach Kopenhagen. Neben ihr bestehen Verbindungen über Kiel-Korsör
und die über Jütland, bei welcher der kleine Belt zwischen Fridericia und Strib,
der grosse Belt zwischen Nyborg und Korsör gekreuzt wird.
Zahlreich sind die Verbindungen mit dem nahezu gegenüberliegenden Malmö
(34 km), einer Hauptstation der schwedischen Eisenbahnen.
Ferner gehen regelmässig Dampfer nach Stockholm, Frederikshavn, Gothen-
burg, Christiania und nach den Faröern und Island über Leith in Schottland. Nach
Grönland gehen nur im Sommer Schiffe.
Endlich hat Kopenhagen durch deutsche Dampfer seine regelmässige Ver-
bindung mit New-York, welche einen grossen Theil der Auswanderung Dänemarks
nach den Vereinigten Staaten vermittelt.
[793]Kopenhagen.
Kopenhagen ist Centrum einer Reihe telegraphischer Verbindungen und Sitz
der Great Northern Telegraph Cy., welche Kabel in der Nord- und Ostsee, in den
Meeren Japans und Chinas besitzt und die grossen telegraphischen Landver-
bindungen Chinas eingerichtet hat und betreibt.
In Kopenhagens Börse und seinen Banken concentrirt sich das ganze Ge-
schäftsleben Dänemarks.
In Kopenhagen bestehen Consulate folgender Staaten: Argentinien
(G.-C.), Belgien (G.-C.), Brasilien, Chile, Columbia (G.-C.), Costarica (G.-C.),
Deutsches Reich, Dominikanische Republik, Ecuador, Frankreich, Griechenland
(G.-C.) Grossbritannien, Guatemala, Hawaii (G.-C.), Italien, Liberia, Niederlande
(G.-C.), Oesterreich-Ungarn (G.-C.), Peru, Portugal (G.-C.), Russland (G.-C.),
Schweden und Norwegen (G.-C.), Schweiz, Spanien, Türkei, Uruguay, Venezuela,
Vereinigte Staaten.
Die Seehäfen des Weltverkehrs I. Band. 100
[[794]]
Kiel.
Tief und breit eingerissen, mit klarer Zufahrt und gegen alle
Winde vorzüglich geschützt, führt die Kieler Bucht mit Recht den
stolzen Beinamen „Königin der Ostseehäfen“. Ihre starken Fortifi-
cationen, welche im Norden von Friedrichsort, an beiden Ufern der
auch durch landschaftliche Reize ausgezeichneten Bucht bis südlich
der Stadt in zwei gewaltigen Linien herabreichen, erheben den Platz
einerseits zu dem besten Hafen an der Ostsee, andererseits aber auch
zu einem sehr starken Bollwerke, welches bestimmt ist, der deutschen
Flotte als Stützpunkt zu dienen.
Kiel beherrscht durch seine Lage die beiden Belte und ist
vermöge der Eigenschaften der heutigen Kriegsschiffe geeignet,
selbst den Sund, daher alle Zufahrten in die Ostsee zu bewachen.
Diese Lage sprach nach der Erwerbung Schleswig-Holsteins durch
Preussen für die Wahl von Kiel zum Kriegshafen des Deutschen
Reiches. Dort entstanden denn seit 1867 gegenüber der Stadt Kiel
die grossartigen Werften und Docks der deutschen Marine, und neues
Leben pulsirte alsbald auf und an der herrlichen Föhrde.
Die vorzüglichen Eigenschaften der Kieler Bucht begünstigten frühzeitig
den Handelsverkehr der Stadt, welche im XIV. Jahrhundert der Hansa angehörte
und der Stapelplatz für den Verkehr mit den dänischen Inseln war, welche Stel-
lung sie auch heute noch durch die Gunst ihrer Lage einnimmt. Kiel und Itzehoe
zählen zu den ältesten Städten Holsteins, und manch sehenswerthes Bauwerk hat
sich aus früheren Jahrhunderten erhalten. Der Nord-Ostseecanal wird die stra-
tegische und commercielle Bedeutung der Bucht noch wesentlich erhöhen.
Nahezu am äussersten Ende der sich verengenden Bucht auf
den Uferhügeln aufgebaut, bieten Kiel und seine freundlichen und
belebten Ufer mit ihren Gärten, Gehöften und anmuthigen Ortschaften
und dem schimmernden Gewässer ein äusserst malerisches Landschafts-
bild mit reizender Perspective. Coulissenartig treten in mannigfachsten
Formen die waldigen Landspitzen beiderseits in den leicht gewun-
denen Fjord heraus und schliessen ihn im Hintergrunde scheinbar ab.
Dort glänzen uns die Gebäude der Feste Friedrichsort entgegen.
[795]Kiel.
Man unterscheidet die auf einer Halbinsel angelegte Altstadt,
welche durch Brücken und Dämme mit der ehemaligen Vorstadt Kuh-
berg verbunden ist. Die letztere und der nördlich gelegene Ort Bruns-
wick sind schon lange mit einander verschmolzen und bilden nun, den
alten Stadtkern umschliessend, den Haupttheil des Weichbildes von Kiel.
Kiel hat in den letzten Jahren einen grossen Aufschwung ge-
nommen. Im Jahre 1855 zählte es 16.270 Einwohner, 1871 schon
31.750, und bis zur Gegenwart hob sich die Bevölkerungszahl (ohne
die Vororte) auf ungefähr 70.000; sie hat sich daher innerhalb
35 Jahren auf mehr als das Vierfache vermehrt.
Den Mittelpunkt der alten Stadt nimmt die im Jahre 1241
erbaute St. Nicolai-Kirche ein, welche kürzlich einer umfassenden
Restaurirung unterzogen wurde.
Von dort gelangt man durch die dänische Strasse zu dem nord-
östlich der Kirche gelegenen alten Residenzschloss der Herzoge von
Holstein-Glücksburg, welches, 1838 nach der Zerstörung durch einen
verheerenden Brand neuhergestellt, gegenwärtig der Wohnsitz des in
der deutschen Marine dienenden Prinzen Heinrich von Preussen ist.
Weiter nordwärts erhebt sich das Gebäude der alten, 1665 gegrün-
deten Universität, die seit 1876 ein neues, schön ausgestattetes Heim
nächst dem prächtigen Schlossgarten erhalten hat.
Kiel besitzt noch einige schätzenswerthe Sammlungen, welche
die lebhaften geistigen Bestrebungen seiner Bürgerschaft bezeugen.
Hervorragend ist das mit Sculpturen gezierte, gegenüber dem Bahn-
hofe am Sophienblatt erbaute Thaulow-Museum, welches die im
Jahre 1875 von dem seither verstorbenen Professor Thaulow in Kiel
der Provinz gewidmete kostbare Sammlung schleswig-holsteinischer
Holzschnitzwerke aus dem XVI. und XVII. Jahrhundert aufbewahrt.
In der dänischen Strasse ist die Gemäldesammlung des schleswig-
holsteinischen Kunstvereins untergebracht, und in dem ebendaselbst
sich erhebenden Museum für Völkerkunde sind reiche ethnographische
Sammlungen vorhanden. Noch sei des im Schlosse befindlichen Kunst-
museums und des im alten Universitätsgebäude untergebrachten Museums
vaterländischer Alterthümer Erwähnung gethan. Von Interesse ist die
Sammlung prähistorischer Gegenstände, worunter das aus dem Schau-
byer-Moor gehobene Fahrzeug.
Kiel ist überdies Sitz des Marinecommandos für die Ostsee, der
Marineakademie (seit 1875), einer Seecadetenschule, eines Gymna-
siums, des Oberlandesgerichtes, des Landesdirectorats, der Oberpost-
100*
[796]Der atlantische Ocean.
direction, der Handelskammer für Kiel und Umgebung, der Gewerbe-
kammer für die Provinz und anderer Behörden und Anstalten.
Die Stadt ist auch durch ihre Industrie hervorragend. Maschinen-
fabriken, Werften, Giessereien, Mühlen, Bierbrauereien und Dampf-
sägen sind dort entstanden. Die Rhederei ist blühend.
Zu den bedeutendsten wissenschaftlichen Anstalten Deutschlands
zählt die Kieler Sternwarte, welche unter 54° 20′ 29.7″ nördl. Breite
und 10° 8′ 56.5″ östl. Länge von Greenwich liegt.
Gegenüber der Stadt am Ostufer der Bucht liegen am äussersten
Ende der letzteren die grossen Schlachthofanlagen, kleinere Schiff-
Kiel.
bauanstalten und die Etablissements der „Germania“-Werft; an diese
schliessen sich die ausgedehnten Marineanlagen und an diese das
durch die Erzeugung der berühmten „Kieler Sprotten“ bekannte Fischer-
dorf Ellerbek mit sehenswerthen Räuchereien.
An der malerischen Mündung des Flüsschens Schwentine haben
sich die Ortschaften Wellingdorf und Neumühlen in hübsches Grün
gelagert. Dort erhebt sich die riesige Anlage der Baltischen Mühlen-
gesellschaft, angeblich die grösste auf dem europäischen Festlande.
Auch die grosse Maschinenfabrik und Eisengiesserei sowie die be-
deutende Schiffswerfte, welche jetzt vereinigt den Namen „Howaldts-
werke“ führen, liegen daselbst. Am westlichen Ufer der Bucht zählt
[797]Kiel.
die herrliche Promenade vom Schlosse längs des Ufers zur Ortschaft
Wiek zu den reizendsten Partien der mit landschaftlichen Schönheiten
reich begnadeten Umgebung.
Kiel ist der wichtigste Ausfuhrhafen der Osthälfte des durch
Ackerbau und Viehzucht berühmten Holstein. Der „Kieler Umschlag“,
der im Januar abgehalten wird, bildete früher mehr noch wie jetzt
A Einfahrt, B Seearsenal, C k. Werkstätten, D Schiessstätten, E St. Nikolaus-Kirche, F Leuchtfeuer,
G Schwimmdock H Eisenbahnstation, J Sternwarte, K Torpedogrund.
den Mittelpunkt im Geldverkehr, namentlich im Hypothekengeschäft
eines grossen Theiles der Provinz. Kiel zählt in der 1796 seitens der
einige Jahre früher entstandenen und noch heute wirkenden Gesell-
schaft freiwilliger Armenfreunde gegründeten Spar- und Leihcasse die
erste dieser Anstalten in Preussen und eines der ältesten Institute
dieser Art in Deutschland.
[798]Der atlantische Ocean.
Erst die Vollendung der Eisenbahnen Kiel-Altona 1844 und
Kopenhagen-Korsör 1856 machte Kiel zu einem wichtigen Ueber-
gangspunkte des Postverkehres zwischen den zum deutschen Bunde
gehörigen Ländern und den drei nordischen Königreichen.
Später erhielt Kiel durch eine Nebenbahn Verbindung mit
Flensburg und durch eine Vollbahn über Schwarzenbek mit Berlin; das
wichtige Stück Oldesloe-Hagenow der directen Linie Kiel-Berlin ist
im Bau, und es fehlen nur noch die Strecke Kiel-Segeberg, die Eisen-
bahnlinie Kiel-Rendsburg und die Linien Kiel-Holtenau sowie Kiel-
Schönburg-Oldenburg, damit die Eisenbahnverbindungen der Haupt-
station der Kriegsflotte des Deutschen Reiches und des Eingangsthors
des Nord-Ostseecanals würdig vollendet seien.
Kiel, welches die östliche Mündung dieser neuen Welthandels-
strasse besetzt hält, rüstet sich, die Arbeiten auszuführen, welche die
Canalmündung bei Holtenau mit der Stadt selbst in Verbindung setzen
werden, deren bisherige Entwicklung schon den Zug nach Norden
zeigte. Man wird in der Wieker Bucht von Holtenau bis Bellevue
grossartige Hafenanlagen schaffen, welche im Vereine mit den oben
genannten künftigen Eisenbahnlinien Kiel zum Knotenpunkte eines
selbständigen Verkehres am Nord-Ostseecanal machen werden, wäh-
rend jetzt Kiels Handel vielfach von Hamburg abhängig ist, unter
dessen Concurrenz auch der Seehandel Kiels sehr leidet. Diese An-
lagen sind im Interesse der Heranziehung einer starken Frequenz des
Canals ebenso geboten wie in demjenigen der Stadt.
Heute überwiegt im Kieler Verkehre wie in allen Plätzen an der Süd-
seite der Ostsee einschliesslich Stettin-Swinemünde der Menge nach die Einfuhr
weit die Ausfuhr. Es wurden seewärts 1889 978.653 m3, 1888 861.045 m3, 1887
699.566 m3 Güter gebracht, während die Ausfuhr 1889 nur 116.982 m3 umfasste.
Wir nehmen als Grundlage der folgenden Darstellung den Seeverkehr, der
auch die Durchfuhr einschliesst.
In der Einfuhr stehen an der Spitze Steinkohlen und Cokes, aus Schott-
land zumeist, 1889 in Kiel mit 2,019.783, in Neumühlen mit 132.777 q, 1888 in
Kiel mit 1,731.082 q. Deutsche Kohlen wurden in Kiel 1888 342.249, 1889
420.245 q eingeführt.
Der Canalbau und die Bauthätigkeit von Kiel steigerte die Einfuhr von Bau-
und Nutzholz ohne Eisenbahnschwellen aus Schweden, Ost- und Westpreussen
und Russland 1889 auf 162.531 m3, 1888 auf 136.063 m3, gegen 118.655 m3 im
Jahre 1887. Grössere Holzmengen gehen von hier transito nach Hamburg und Altona.
Auch die Einfuhr von Steinen aus Lübeck und Schweden, von Ziegeln und
Dachschiefer ist 1888 und 1889 bedeutend gestiegen. Die Baltische Mühlengesell-
schaft und die Kieler Mühle verarbeiten grosse Mengen von Weizen und Roggen.
Von Weizen wurden 1889 185.975 q, 1888 128.834 q, von Roggen 1889
41.577 q, 1888 123.161 q, Gerste 1889 92.645 q, 1888 108.446 q seewärts eingeführt.
[799]Kiel.
Das benachbarte Neumühlen führte 1889 338.249 q Weizen und 42.009 q Roggen
ein. Dazu kamen in Kiel 1889 149.694 q, 1888 127.073 q Grützen, Graupen und Mehl.
Von anderen Artikeln der Einfuhr wäre noch zu nennen etwa Spiritus aus
Ost- und Westpreussen über Königsberg und Danzig 1889 40.946 q, 1888 90.424 q,
1887 146.811 q; er ist meist russischen Ursprungs.
Von lebendem Vieh wurden eingeführt Rindvieh 1889 13.623 Stück, 1888
9.450 Stück, 1887 12.171 Stück und Schweine 1889 14.791 Stück, 1887 83.996 Stück.
Dieser Rückgang in der Einfuhr von Schweinen ist darauf zurückzuführen, dass seit
29. November 1887 die Einfuhr von Schweinen und Schweinefleisch dänischen,
schwedischen und norwegischen Ursprungs verboten war und erst neuerdings wieder
zugelassen ist. Der grösste Theil der Schweine ging weiter nach Hamburg.
Der Hauptausfuhrartikel von Schleswig-Holstein ist Butter. „Kieler
Butter“ leidet aber jetzt auf dem englischen Markte stark unter der Concurrenz
der französischen, dänischen und schwedischen Butter. 1889 wurden in Kiel see-
wärts 12.913 q eingeführt und 181 q ausgeführt. Der Hauptversandt von Kiel wie
von der ganzen Provinz geschieht über Hamburg, wird also durch diese Ziffern
nicht nachgewiesen.
Die Ausfuhr von Weizen zur See erreichte 1889 110.475 q, 1888 111.465 q,
die von Graupen, Grütze, Mehl 57.759 q. Das benachbarte Neumühlen führte 1889
268.182 q Mehl aus.
Ferner gelangten seewärts zur Ausfuhr 1889 255.919 q Steinkohlen und Cokes
und 64.229 q, 1888 38.034 q Eisen und Eisenwaaren.
Der Schiffsverkehr im engeren Hafengebiete von Kiel umfasste:
| [...] |
Viele Schiffe gehen in Ballast aus. Der Personenverkehr auf der hiesigen
Föhrde gewinnt entsprechend dem Aufschwunge Kiels und der Umgegend als
Anziehungspunkten für den Fremdenverkehr fortgesetzt an Ausdehnung. Die deutsche
Flagge und nach ihr die dänische besorgen den grössten Theil des Verkehrs, denen
sich die britische, schwedische und russische anschliessen.
Der stärkste Verkehr findet statt mit Dänemark, Grossbritannien, den deutschen
Häfen in der Ostsee und Russland. In Kiel hat die Neue Dampfer-Compagnie ihren Sitz.
Die weitaus bedeutendste private Rhederei Kiels ist diejenige der Firma Sartori \&
Berger daselbst.
Die Handelsflotte Kiels zählte 1. Jänner 1890 95 Seeschiffe mit 99.522 m3
netto Tragfähigkeit, davon 89 Dampfer mit 98.311 m3 netto.
Regelmässige Verbindungen unterhalten täglich von und nach Korsör die
kaiserlich deutschen und die königlich dänischen Postdampfer.
Frachtdampfer gehen nach den dänischen Inseln, nach Kopenhagen, Gothen-
burg, den preussischen Ostseehäfen und Bremen.
In Kiel bestehen eine Reichsbankstelle und vier grössere Geldinstitute.
In Kiel haben Consularvertretungen: Grossbritannien, Italien, die
Niederlande, Oesterreich-Ungarn, Russland, Schweden-Norwegen, Spanien und die
Vereinigten Staaten von Nordamerika.
[[800]]
Lübeck.
Die moderne Zeit mit ihren Ansprüchen und Veränderungen
vermochte nur in geringem Masse die Erinnerungen an die alte
Herrlichkeit der freien Hansastadt Lübeck zu verwischen. Noch stehen
sie in manchen Strassen da in wohlgeschlossenen Reihen, die alters-
grauen Patrizierhäuser, jedes für sich eine abgeschlossene, mit maleri-
schen Giebeln, Treppen und Figuren geschmückte Burg des freien
Bürgerstandes; überragt von den schlanken Thürmen ehrwürdiger
Kirchen und gleichsam als Wächter über Stadt und Gebiet und als
wollte er Alles um sich verdunkeln, streckt der gothische Bau des
mittelalterlichen Rathhauses seine riesigen Giebel und fünf eigen-
thümlich geformten Thurmspitzen himmelwärts. Der Hauch uralter
Zeit scheint über der von barock gekrümmten Wasserläufen doppelt
umschlossenen Stadt zu schweben. Von ihren ehemaligen Wällen und
Bastionen, welche die Stadt enge umgaben, hat sie die neue Bürger-
generation befreit und an deren Stelle anmuthige Parkanlagen gesetzt,
aber noch mancher Trutzbau, wie das Holstenthor mit seinen runden
Thürmen und hochragenden Zinken oder der massige Backsteinbau
des Burgthores am nördlichen Stadtende erinnern an die Kraftepoche
der Hansazeit. So bietet Lübeck noch heute in einigen Theilen ein
treues Bild einer mittelalterlichen freien Reichsstadt.
Lübeck, die dritte der freien Hansastädte des Deutschen Reiches,
zählt gegenwärtig 60.000 Einwohner und liegt unter 53° 52′ nördl.
Breite und 10° 42′ östl. Länge von Greenwich an der Vereinigung
der gegen die Ostsee fliessenden Trave mit der zu breitem Wasser-
becken sich erweiternden Wakenitz.
Durch umfassende Stromarbeiten wurde die Trave soweit ver-
tieft, dass Seeschiffe bis zu 5 m Tauchung an den Quais anlegen
können, welche im Nordwesten die Stadt begrenzen. Dort ist die
Trave in zwei Arme gespalten, welche die langgestreckte Insel mit
den Bahnhofsanlagen, Schiffswerften, Kohlenplätzen u. dgl. einschliessen.
[801]Lübeck.
Zwischen Stadt und Insel und jenseits derselben, sowie nördlich von der
Stadt liegt, wie unser Plan zeigt, der Hafen von Lübeck, in welchem
Dampfer und Segelschiffe besondere Liegeplätze angewiesen haben. Ein
reges Verkehrsleben entfaltet sich auf beiden Uferseiten; Schienenstränge
umklammern die Stadt, und der schrille Pfiff der Locomotive verkündet
laut, dass eine neue Zeit angebrochen ist mit verlockenderen Hoffnun-
gen, als das finstere Mittelalter sie jemals zu erwecken vermochte.
Lübeck.
Viel später als der Westen und Süden Deutschlands, die vielfach auf den
Resten der Römerzeit aufbauten, trat dessen Norden in den Kreis der Cultur
des Mittelalters. Als im Anfange des XII. Jahrhunderts 17 flandrische Städte die
„Vlämische Hansa“ gründeten, welche als „einzige Compagnie“ Grosshandel nach
England trieb, war Lübeck, das spätere Haupt der „Gemeinen deutschen Hansa“
erst eine enge, winkelige, hölzerne Stadt.
Dreimal wurde Lübeck vergeblich gegründet.
Die älteste Schöpfung, die des hochsinnigen Adalbert, Erzbischofs von
Bremen und Erziehers Kaiser Heinrich IV., an der Trave und das spätere Lübeck
an der Schwartau (1106—1139) wurden von den Feinden zerstört; die Stadt, welche
der Graf von Schauenburg 1143 auf dem Werder Buku, dem Standorte der ersten
Niederlassung errichtete, erlag schon 1157 einer vernichtenden Feuersbrunst. Voll
Verzweiflung wendeten sich ihre Bürger an Heinrich den Löwen, den genialen
Städtegründer, mit der Bitte, ihnen auf seinem unmittelbaren Gebiete den Platz
zu einer neuen Ansiedlung anzuweisen. Er liess ihnen die „Löwenstadt“ an der
Die Seehäfen des Weltverkehrs I. Band. 101
[802]Der atlantische Ocean.
Steckenitz erbauen, aber schon 1158 kehrten sie an ihre alte Brandstätte
zurück, die der Graf von Schauenburg seinem Herzoge abgetreten hatte. Wunderbar
schnell erhob sich nun das neue welfische, das vierte Lübeck, von Heinrich dem
Löwen gleich bei der Gründung mit Münzstätte und Zoll begabt und mit einer
freien Verfassung ausgestattet, welche nur die Kaufleute als vollberechtigte
Bürgerschaft erkannte und die gemeinheitliche Verwaltung und Polizei einem
Stadtrath übertrug. Bald eigneten sich die Bürger auch die richterliche Gewalt
des herzoglichen Vogtes bei und bildeten auf Grundlage des „Soester Rechtes“
das „lübische Recht“ aus, dessen Einfluss sich sittigend über alle Ostseeländer
erstreckte.
Der weitaussehende Welfe verlegte 1163 den Sitz des Bischofs von Eutin
nach Lübeck und förderte mit Umsicht und Vorliebe auch die Handelsverbin-
dungen seines Lübeck, daher bewahrte die Stadt dem milden Fürsten die Treue,
als er von Friedrich Barbarossa in Acht und Bann gethan wurde.
Der Kaiser bestätigte trotzdem noch 1180 ihre Freiheiten und Rechte und
gab seinen „treuen Bürgern“ im Herbste 1188 fast reichsstädtische Privilegien,
Freiheit von Zoll und allen Handelsabgaben im Herzogthume Sachsen. Doch
musste die Stadt noch vierzigjährige Kämpfe mit den angrenzenden Landes-
herren bestehen, bis ihre Freiheit gesichert war.
Die Zertrümmerung des sächsischen Herzogthums seit dem Sturze Heinrich
des Löwen zerstörte die öffentliche Ordnung in dem weiten Gebiete zwischen
Rhein und Ostsee. Die Bauern und Insassen binnenländischer Städte wanderten
in Schaaren nach den fernsten baltischen Gestaden aus, um dem Drucke und den
Fehden der kleineren Landgebieter zu entgehen und gründeten deutsche Städte
in slavischen Landen; das Bürgerthum der Städte musste seine erlangten Rechte
gegen die landesherrliche Gewalt vertheidigen, seine Wohlfahrt, die Sicherheit
seiner Handelsstrassen zu Lande und zur See einzeln oder im Bunde mit Nach-
bargemeinden schützen, selbständig mit auswärtigen Gewalten Handelsverträge
schliessen. Auf diesem Boden erwuchs der Städtebund der „Hansa“ als Ausdruck
der Nothwehr.
Ohne Schutz des Reiches, auf eigene Tüchtigkeit angewiesen, mussten
sich die zahlreichen deutschen Städte, welche seit dem Ende des XII. Jahr-
hunderts an den südlichen Gestaden der Ostsee auf slavischem Boden entstanden
waren, selber helfen gegen die Angriffe der Wenden und Dänen. Ganz allmälig
schlossen sich diese Sitze deutscher Cultur, ferner das livländische Riga, die ge-
treueste Tochter Bremens, und das uralte Handelscentrum Wisby auf Gothland
unter der Führung von Lübeck an einander. Die Osterlinge verbanden sich mit den
Städten des Hinterlandes, mit den rheinischen Handelsplätzen und den Wester-
lingen Flanderns, erklärten alle See- und Strassenräuber für friedlos, vogelfrei
und in allen Kaufstädten verhaftet, ihre Hehler und Helfer mit dem Banne der
lübischen Gemeinwesen bedroht, sie säuberten auf gemeinsame Kosten durch
Reisige die Landstrassen, „die gemeine deutsche Hansa“ schloss Verträge mit
auswärtigen Mächten, besass in Nowgorod, am Wolchow, in Wisby auf Gothland, in
Falsterbo in Schonen, dem Hauptsitze des damaligen Häringfanges, im norwegi-
schen Bergen, in Brügge und in London ihre Kaufhöfe mit strengen Satzungen,
kleine Staaten im fremden Staatsgebiete, und vermittelte durch sie den Handel
der Ostseeküsten Dänemarks, Schwedens und Norwegens. Durch meist glückliche
Kriege und durch Handelssperre wusste die Hansa alle selbständigen Regungen
[803]Lübeck.
dieser Länder lange zurück zu drängen. Oft kämpften ihre Orlogschiffe auf der
ganzen Strecke vom einheimischen Meerbusen bis Portugal, und überall war der
Gang des Handels, der Antheil der einzelnen Städte an demselben genau festge-
stellt: Niemand durfte sich ein Abweichen davon gestatten.
Und all das leistete eine freie Vereinigung, ein politisch-frei organisirtes, un-
abhängiges Gemeinwesen unter der Oberleitung, aber nicht unter der Suprematie
Lübecks, und dieses mischte sich nicht in die besonderen Händel, welche jede
einzelne Stadt oder kleinere Städtegruppe zur Wahrung ihrer engeren Interessen
auszufechten beliebte.
Gemeinsame Unternehmungen wurden auf Hansetagen beschlossen; diese
wurden in älterer Zeit an verschiedenen Orten abgehalten, aber meist von Lübeck
ausgeschrieben, das später auch zum Oberhof für Rechtsstreitigkeiten sich
herausbildete. Widerspenstige Glieder, die dem Interesse dieser losen Gliederung
entgegenarbeiteten, etwa verbotene Schiffahrt trieben, wurden zur Strafe „ver-
hanset“, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, jeder Handel mit ihnen untersagt,
so dass der Ort durch Verkehrslosigkeit in kurzer Zeit verarmte und das gemeine
Volk sich in andere Städte verzog.
Diese Vereinigung städtischer Gemeinwesen war die einzige Hilfe für den
Handel in der damals schweren Zeit, und kluge, begabte Staatsmänner Lübecks
gaben in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts diesen Gedanken die Form,
welche den Verhältnissen des Mittelalters vollkommen entsprach.
Im Jahre 1226 wurde Lübeck zur reichsfreien Stadt erhoben, und so-
fort offenbarte sich ihre stille, aber ausdauernde Wirksamkeit.
Unter dem Schrecken der Welt vor den Mongolen wurde 1241 mit Ham-
burg der erste urkundliche Vertrag zur gemeinschaftlichen Sicherstellung der
Wege zwischen Elbe und Trave geschlossen, bald darauf sehen wir die wendischen
Seestädte um Lübeck geschaart, welche 1285 den Feind ihrer Handelsvorrechte,
König Erich „Priesterfeind“ von Norwegen, zum Nachgeben zwingen. Seit dem
Ende des XIII. Jahrhunderts wird Lübeck zuerst neben Wisby, dann allein Oberhof
auch für die Streitigkeiten am Komptor in Nowgorod, welche Stelle es in bürger-
lichen Streitigkeiten unter den Töchtern lübischen Rechtes längst besessen.
Immer fester gliederte sich die „Hansa der Deutschen“, welche urkundlich
unter diesem Namen zum erstenmale 1343 erwähnt wird. Auf dem Gürzenich
(einer Kaufhalle) zu Köln finden wir vom 11. bis zum 19. November die Send-
boten aller Mitglieder derselben, von der Ostsee, der Nordsee und aus dem
Innern des Reiches versammelt, um den nationalen Kaufmannskrieg gegen die
vertragsbrüchigen Könige des Nordens, namentlich den Dänenkönig, in Gang zu
setzen; der Krieg endete 1370 mit dem Frieden von Stralsund, und dieser be-
zeichnete den Höhepunkt der Hansa, von dem sie bald hinabsank.
Dieser ewig denkwürdige Friede besiegelte die Suprematie der Hansa
über das Reich Waldemar III., dieses durfte „keinen König empfangen, als mit
dem Rathe der Städte und mit Besieglung ihrer Freiheiten“.
Aber unmittelbar auf den schwer errungenen Sieg folgte der Verfall Lübecks
und des ganzen Bundes. In dem Vororte wogte unaufhörlich der Kampf zwischen
den Geschlechtern, welche geschäftslos von ihren Renten lebten, im Rathe mächtig
waren, die Geldmittel der Stadt angeblich schlecht verwalteten, einerseits, und
den wirklichen Kaufleuten, denen sich die Zünfte anschlossen, anderseits.
101*
[804]Der atlantische Ocean.
Das Patriciat dachte nur an die Befestigung seiner Herrschaft in der
Heimat, dafür war es nachgiebig gegen die Seeräuber, unschlüssig gegen die
nordischen Königreiche, welche die Kahnarische Union von 1397 zu einigen suchte.
Die Herrschaft des burgundischen Hauses am Niederrhein (seit 1385) führte zur
Loslösung der westlichen Städte von der Hansa, deren Tage, trotz der dringendsten
Ausschreibungen, immer schwächer besucht wurden. Als seit dem Anfange des
XV. Jahrhunderts die Häringszüge bleibend die Gestade der Ostsee mieden,
war eine Hauptquelle des Reichthums der östlichen Hansestädte versiegt, und die
Entdeckung Amerikas drückte die Bedeutung der Ostsee für den Handel vollends
herab, der übrigens den Hansen langsam in demselben Masse aus der Hand ge-
nommen wurde, als seit der Reformation in Schweden, Dänemark und England das
Königthum erstarkte, welches die Handelsvortheile der Fremden als schädlich be-
trachtete und den nationalen Eigenhandel beförderte.
Noch einmal entwickelte sich unter Jürgen Wullenweber, dem Vorkämpfer
der Reformation und Führer der Zünfte gegen die Geschlechter, die Hansa schein-
bar zu alter Machtfülle; mit seinem Sturze (26. August 1531) sank sie ohn-
mächtig danieder. Ohne Gründungstag hatte sich die Hansa im Stillen schritt-
weise, entwickelt, und ebenso unmerklich zerrann sie. Sie hatte aufgehört eine
politische Nothwendigkeit zu sein. Durch die Entdeckung der Seewege nach Ost
und West war der Welthandel von den Binnenmeeren, der Ostsee und dem
Mittelmeere, an den atlantischen Ocean verlegt worden. Durch die Aufrichtung
des Landfriedens war dem Handel von Staatswegen die vollste Sicherheit gegeben,
unter solchen Verhältnissen hatte sich die Hansa überlebt und musste wie alles
historisch Ueberlebte absterben.
Im Juni 1669 wurde in Lübeck die letzte, schwach besuchte allgemeine
Versammlung gehalten, die nach vielem Streit einen inhaltslosen Regress zu Stande
brachte, das letzte Lebenszeichen der „Gemeinen deutschen Hanse“, an deren
Stelle der engere Bund der „Anseestädte“ trat, der, wahrscheinlich 1630 bei der
Vertagung der Hanse aufgerichtet, 1641 erneuert worden war.
Der materielle Verfall der Stadt Lübeck trat nun rasch ein, aber dennoch
glückte es ihr während verschiedener Mediatisirungsepochen (1648 und 1803),
ihre staatliche Freiheit aufrecht zu erhalten und bis heutigentags zu bewahren.
Im Jahre 1815 zählte Lübeck nur 23.667 Einwohner. Sein Stern strebt gegen-
wärtig wieder aufwärts!
Der wichtigste Zugang in die Stadt führt durch das bereits
vorne erwähnte mittelalterliche Holstenthor, welches 1477 ausgebaut
und 1871 restaurirt wurde. Die gleichnamige Strasse leitet zum Herzen
der Stadt, auf den Markt, dessen Hauptschmuck das Rathhaus und
die nördlich desselben gelegene Marienkirche bilden.
In seiner jetzigen Gestalt um 1442 vollendet, ist das Rathhaus
ein stattlicher gothischer Bau aus schwarzem und rothem Backstein,
mit einer um 1570 entstandenen Vorhalle und einem 1594 gegen die
Breite Strasse zu gebauten Treppenhaus, beide in reichstem Renaissance-
styl gehalten. Die riesigen Giebel und die eigenthümlich geformten
Spitzen der fünf Thürme haben wir bereits erwähnt. Jedoch schwä-
[[805]]
A Ostsee, B Pötenitzer Wick, C Himmelsdorfsee, D Stadtgraben, E Mühlenteich, F Leuchtfeuer, G Hafen
für Stecknitzcanalschiffe, H Burgthor, J Holstenthor, K Mühlenthor, L Hüxterthor, M Mühlenbrücke,
N Wielandsbrücke, O Eisenbahnbrücke, P Puppenbrücke, Q Dankwartsbrücke, R Holstenbrücke, S project.
Eisenbahnbrücke, T project. Eisenbahnanlage, U project. Hafenanlagen, V Roeckstrasse, W grosse Burg-
strasse, X Königstrasse, Y Breite Strasse, Z Mühlenstrasse. — 1 Annenstrasse, 2 Katharinenstrasse,
3 Hansastrasse, 4 Lindenstrasse, 5 Dornestrasse, 6 Maierstrasse, 7 Glockengiesserstrasse, 8 Johannis-
strasse, 9 Mengstrasse, 10 Fleischhauerstrasse, 11 Fischstrasse, 12 Holstenstrasse, 13 Hüxstrasse,
14 Wahmstrasse, 15 Moisliager Allee, 16 Lachswehrallee, 17 Fackenburger Allee, 18 Schwartauer Allee,
19 Hüxterthorallee, 20 Engelsgrube, 21 Fischergrube, 22 Beckergrube, 23 Marlesgrube, 24 Dankwarts-
grube, 25 Hartengrube, 26 Paradegrube, 27 Holstenthorthürme, 28 Domkirche, 29 St. Aegidienkirche,
30 Petrikirche, 31 St. Marienkirche, 32 Katharinenkirche, 33 Jacobikirche, 34 reformirte Kirche,
35 Synagoge, 36 Burg, 37 Spital, 38 Schiffswerft, 39 Bahnhof, 40 Navigationsschule, 41 Conserven-
fabrik, 42 Börse und Rathhaus, 43 Post, 44 Klöster, 45 Hauptzollamt, 46 Badeanstalten.
[806]Der atlantische Ocean.
chen die verschiedenen Zubauten den Gesammteindruck des Baues.
Das Innere des Gebäudes enthält sehenswerthe Kunstobjecte aus alter
und neuerer Zeit. Der ehemalige Hansasaal, in welchem die Hansa-
tage abgehalten wurden, ist gegenwärtig in mehrere Zimmer getheilt.
Das Archiv der alten Hansa ist jetzt in das Haus der ehemaligen
Cirkel- oder Junker-Compagnie verlegt.
Von Interesse ist der unter dem nördlichen Flügel liegende,
aus dem Jahre 1443 stammende, neuestens zu einem besuchten
Weinkeller modernisirte Rathskeller mit mancherlei Erinnerungen
an die alte Hansazeit. Der dort befindliche Admiralstisch soll aus
den Planken des letzten lübischen Admiralschiffes um 1570 hergestellt
worden sein.
Am Markte erhebt sich vor der südlichen Ecke desselben der
aus dem XV. Jahrhundert stammende gothische Backsteinbau des
ehemaligen Prangers (niederdeutsch Kaak), auch Butterbude genannt,
gegenwärtig zu Marktzwecken verwendet.
Als Vertreter der Neuzeit flankirt das neue Post- und Tele-
graphengebäude den geräumigen Platz.
Unter den vielen hervorragenden religiösen Bauwerken der Stadt
behauptet die in majestätischen Formen gehaltene Marienkirche den
ersten Rang und zählt zu den schönsten Denkmälern Lübecks.
In der Zeit von 1276 bis 1310 in gothischem Styl aufgeführt,
erhält die Kirche durch ihre beiden 124 m hohen Thürme einen
imposanten Schmuck. Das Innere entfaltet einen seltenen Reichthum
an alten werthvollen Sculpturen in Stein und Holz, schönen Altar-
gemälden, darunter Schöpfungen des Lübeckers Overbeck, prächtigen
Grabdenkmälern und Glasmalereien. Berühmt ist die grösste der drei
Orgeln, die 81 Register und 5134 Pfeifen zählt und durch eine
wundervolle spätgothische Prachtfaçade geziert ist.
Südwestlich des Marktes erhebt sich der ehrwürdige Bau der
Petrikirche, welche in ihrer jetzigen Gestalt etwa um das Jahr 1300
aus einem 1170 errichteten romanischen Bau entstanden ist.
Dem romanischen Styl gehört die 1173 von Heinrich dem Löwen
gegründete Domkirche an, welche trotz schmuckloser Einfachheit des
Aeussern durch die Grossartigkeit ihrer Verhältnisse imponirt. Der
von zwei 120 m hohen Thürmen überragte Dom wurde 1276 erwei-
tert und der hohe Chor 1335 vollendet. In seinem Inneren durch
kostbare Kunstschätze ausgestattet, enthält der Dom in einer Grab-
capelle die Ruhestätte der lübischen Bischöfe.
Bemerkenswerth ist die gothische Katharinenkirche, welche aus
[807]Lübeck.
der Mitte des XIV. Jahrhunderts stammt und ebenfalls reiche Kunst-
objecte einschliesst, aber nicht mehr zum Gottesdienste verwendet
wird. An die Südseite der Kirche grenzen die Baulichkeiten eines
ehemaligen Minoritenklosters, welches gegenwärtig das Katharineum
genannte Gymnasium und Realgymnasium sowie die 1620 gegründete
Stadtbibliothek beherbergt; letztere enthält gegen 110.000 Bände,
zahlreiche Handschriften und Porträts.
Dem XIV. Jahrhunderte enstammen die Aegidienkirche und die
Jakobikirche; an das XIII. Jahrhundert erinnert die gegenwärtig als
Eingangshalle des musterhaft geleiteten Hospitals zum heiligen Geist
verwendete frühgothische Capelle.
Im ehemaligen Burgkloster, an dessen Stelle die 1229 von den
Dominikanern besiedelte alte Burg stand, sind jetzt eine gewerbliche
Mustersammlung, dann das sehenswerthe Handelsmuseum und eine
Sammlung von Gypsabdrücken nach der Antike untergebracht.
Lübeck verfügt weiters über ein naturhistorisches Museum, und
die dortige Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Thätigkeit
besitzt sehenswerthe culturhistorische Sammlungen. Sehr geschätzt ist
die ansehnliche Privatsammlung älterer holländischer und neuerer
Gemälde des Herrn Consuls Harms.
An die alte Zeit erinnern unter andern das Haus der Schiffer-
gesellschaft, welches die alten Compagniehäuser Lübecks veranschau-
licht, und das Haus der Kaufleutecompagnie mit prächtigen Holz-
schnitzarbeiten, worunter das dorthin übertragene, aus dem Jahre 1585
stammende Fredenhagen’sche Zimmer.
Am nördlichen Ende der Stadt gelangt man durch den im Jahre
1444 entstandenen Bau des Burgthores in die gartengeschmückte
Umgebung. Unweit des Thores kämpfte Blücher am 6. November
1806 mit den Trümmern des bei Jena geschlagenen Heeres gegen die
ihn verfolgenden französischen Marschälle Murat, Bernadotte und Soult.
Eine breite schöne Lindenallee durchschneidet heute das Schlacht-
feld. Dort liegt der stille Friedhof, wo der Dichter Emanuel Geibel,
ein Lübecker Kind, 1884 zur Ruhe bestattet wurde.
Die Trave windet sich in zahlreichen Krümmungen und im
Unterlaufe einen ansehnlichen Küstensee bildend, in nordöstlicher
Richtung dem Meere zu. Der kleine Ort Travemünde von etwa 2000
Einwohnern liegt an ihrer Mündung in der imposanten Lübecker Bucht.
Das Fahrwasser von Lübeck nach Travemünde besitzt eine Längs-
erstreckung von 22 km. Die Wassertiefe wurde durch Baggerung ver-
grössert und beträgt auf der ganzen Strecke nirgends weniger als
[808]Der atlantische Ocean.
5·2 m, nächst Travemünde erreicht sie 6 m und darüber. Die Zufahrt
von See aus ist durch Betonnung gut markirt.
Travemünde, auf dessen Rhede die Schiffe ankern und, falls sie
tiefer als 5 m gehen, einen Theil ihrer Ladung löschen können, hat am
linken Ufer einen 31 m hohen Leuchtthurm, welcher ein Doppelfeuer
zeigt; am anderen Ufer markiren zwei rothe Leuchtfeuer, in Deckung
gebracht, die Zufahrt, und am Quai von Travemünde werden zwei
grüne Feuer gezeigt.
Das Städtchen ist auch als Seebad bekannt geworden.
Im Seehandel Lübecks überwiegt in bedeutendem Masse die Einfuhr, die
sich allmälig, wenn auch nicht ohne Unterbrechungen entwickelt, während die
Ausfuhr zur See der Menge und dem Werthe nach im Grossen und Ganzen
sich wenig hebt.
Lübeck leidet im Verkehre mit der Ostsee unter der Concurrenz Hamburgs,
das seine directen Verbindungen dahin ständig vermehrt. Die Vollendung des
Nord-Ostseecanals wird Hamburgs Stellung in der Ostsee wahrscheinlich weiter
befestigen.
Nur die Errichtung eines leistungsfähigen Canals von der Trave zur Elbe
als Ersatz für den jetzt ungenügenden und verlassenen Stecknitzcanal, den ältesten
Canal Deutschlands, der 1398 vollendet wurde, könnte Abhilfe schaffen.
Da jetzt viele Schiffe in Ballast auslaufen, so würden die auf dem Canale
von der Elbe ankommenden Waaren billige Frachtgelegenheit nach den Ostsee-
häfen finden.
Auch im Eisenbahnverkehre, der sich in der Ein- und Ausfuhr verheissungs-
voll entwickelt, fällt die grosse Abhängigkeit Lübecks von Hamburg auf.
Wir gehen nun zur Darstellung des Seehandels von Lübeck über.
Unter den Gegenständen der Einfuhr sind als nunmehr wichtigste Artikel
Holz und Holzwaaren, vor Allem Bauholz zu erwähnen. Die Einfuhr zur See
erreichte 1889 2,259.578 q, 1888 2,182.514 q, 1887 1,488.747 q. Die Hauptländer
der Einfuhr von unbearbeitetem Holz sind Russland (St. Petersburg und Riga),
Finnland, Schweden und die ostpreussischen Häfen; Tischlerarbeiten, namentlich
Thüren kommen aus Schweden.
Von Getreide und Hülsenfrüchten wurden 1889 745.045 q, 1888
785.337 q eingeführt. Der grösste Theil kommt aus Russland und Finnland, Gerste
auch aus Dänemark. An der Spitze der Getreidegattungen steht 1889 Hafer mit
334.630 q, 1888 mit 270.532 q; Roggen wurden 1889 128.491 q, 1888 231.309 q,
Weizen 1889 65.213 q, 1888 102.616 q, Erbsen 1889 81.924 q eingeführt.
Russland und Finnland senden ferner den grössten Theil von Hanf und
Hanfheede, von Flachs (1889 17.916 q), von Oelsaaten, Fellen und Häuten,
von Butter (1889 16.866 q) und von Eiern.
Häringe kommen meist über Hamburg, Kopenhagen und Stettin, dafür
ist die Einfuhr frischer Fische aus Schweden, Dänemark und Norwegen für den
Bedarf der Räuchereien von Lübeck und Schlutup von 3571 q im Jahre 1855 auf
104.797 q im Jahre 1889 gestiegen.
Die früher ziemlich wichtige Einfuhr von Schweinen aus Dänemark war
in den letzten Jahren durch Einfuhrverbote gehindert.
[809]Lübeck.
Aus Schweden werden Eisen (1888 90.680 q) und Zündhölzer (55.990 q),
aus Russland Spirituosen, aus Finnland und Russland Papier und Pappe
zugeführt. Diese Artikel sind zur Weiterbeförderung nach Hamburg bestimmt.
Lübeck führt hauptsächlich russisches Petroleum ein (1889 100.894 q,
amerikanisches 1889 55.344 q), Steinkohlen 1889 599.584 q, 1888 488.354 q
meist aus Grossbritannien.
Die Ausfuhr zur See ist dem Umfange nach kleiner, dem Werthe nach
grösser als die Einfuhr, weil Kohle, Holz und ähnliche Massenartikel von hier nur
in der Wiederausfuhr weggehen.
Bedeutend ist die Ausfuhr von Getreide, dann von Bau- und Nutzholz,
Baumwolle geht nach Russland, Droguen und Kochsalz (1888 53.723 q)
nach Dänemark und Schweden, Zucker und Kaffee, die mit der Bahn einlaufen,
nach Finnland.
Ziemlich ansehnlich ist die Ausfuhr von Kurz- und Manufacturwaaren
nach Schweden und die von Eisenwaaren und Maschinen in die deutschen
Häfen an der Ostsee, nach Schweden und Russland.
Der Handel von Lübeck zeigt folgenden Umfang:
| [...] |
Von der Einfuhr zur See des Jahres 1889 kamen 48·3 Millionen Mark auf
Russland, 6·2 Millionen Mark auf Finnland, 15·1 Millionen Mark auf Schweden,
3·7 auf Dänemark, von der Ausfuhr zur See 34·7 Millionen Mark auf Russland,
10·7 auf Finnland, 38·4 Millionen Mark auf Schweden, 13·4 Millionen Mark auf Däne-
mark. Bedeutend ist noch der Verkehr mit Deutschland, wenig umfangreich mit
Westeuropa und Nordamerika, weil von dort Vieles nicht direct, sondern über
Hamburg und Bremen mit der Bahn anlangt.
Viele Ostseeplätze, mit denen Lübeck vor Allem Handel treibt, sind einen
Theil des Winters durch Eis geschlossen, wenn auch Lübeck selbst durch Hilfe
von Eisbrechern oft das ganze Jahr hindurch zugänglich ist. Daher herrscht etwa
von Neujahr bis ins Frühjahr hinauf in Lübeck grosse geschäftliche Stille.
Der Seeschiffsverkehr von Lübeck betrug:
| [...] |
Die Lübeck’sche Rhederei zählte 1889 3 Segelschiffe mit 2092 m3 und
27 Dampfschiffe mit 27.266 m3, zusammen 30 Schiffe mit 29.360 m3 (1 Reg.-
Ton = 2·83 m3).
Der Verkehr der Flussschiffe erreichte 1888 3600 Dampfer und Fahr-
zeuge mit 330.210 m3.
Den Hauptantheil an dem Hafenverkehre von Lübeck-Travemünde hat seit
1886 die schwedische Flagge, hinter der die deutsche um ein Viertel der Tonnen-
zahl zurückbleibt; es folgen der Reihe nach die britischen, dänischen und
russischen Schiffe.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 102
[810]Der atlantische Ocean
Lübeck hat nach allen Plätzen der Ostsee von Hernösand und Kask süd-
wärts regelmässige Dampfschiffsverbindungen.
Die Linie Lübeck-Kopenhagen (271 km) befördert vom 1. April bis 30. Sep-
tember die Post; sie findet in Kopenhagen Anschluss durch Schiffe nach Göte-
borg und Christiania.
Von Lübeck gehen Eisenbahnen nach Travemünde, Kiel, Hamburg, Büchen
und Stettin.
Das wichtigste Geldinstitut ist die Reichsbankstelle, neben ihr bestehen
zwei Banken und zwei grössere Sparcassen. Zu nennen sind überdies die Lübecker
Feuerversicherungs-Gesellschaft und die Deutsche Lebensversicherungs-Gesellschaft.
In Lübeck haben Consulate: Chile, Dänemark, Italien, Niederlande,
Oesterreich-Ungarn, Russland, Schweden und Norwegen, Venezuela.
Im Osten von Lübeck finden wir Rostock, die älteste Tochter
des lübischen Rechtes, welche unter allen deutschen Hafenplätzen
an der Ostsee die grösste Handelsmarine besitzt, so Anfang 1889
210 Seeschiffe mit 78.468 Reg.-Tons, davon waren aber nur 18
Dampfer mit 5947 Reg.-Tons.
Rostock, die bedeutendste Stadt Mecklenburgs, ist eine alte slavische An-
siedlung, welche der Obotritenfürst Heinrich Borwin I. bereits 1218 mit dem
Stadtrechte auszeichnete. Der Hansa bis zu deren Auflösung angehörend, kam die
Stadt 1323 unter die Herrschaft Mecklenburgs.
Die etwa 40.000 Einwohner zählende Stadt liegt ungefähr
10 km vom Meere entfernt an der unteren Warnow, welche, durch
Baggerungen auf 5 m Tiefe gebracht, kleineren Seeschiffen am Stadt-
quai (der Strand) anzulegen gestattet.
Rostock besitzt mehrere bedeutende Denkmale mittelalterlicher
Baukunst und bewahrte sich gleich wie Lübeck das Gepräge weit
vergangener Zeiten. Das 1265 erbaute Rathhaus mit gothischer
Façade; die aus dem Jahre 1398 in grossen Verhältnissen aufge-
führte Marienkirche; die 1400 erbaute Petrikirche mit 132 m hohem
Thurme; die Jakobikirche (XIV. Jahrhundert) und Nicolaikirche
(XIII. Jahrhundert) sind die vornehmsten Erinnerungen an die rühm-
liche Vergangenheit der Stadt.
Den Blücherplatz ziert ein schönes, 1818 von den mecklenbur-
gischen Ständen errichtetes Blücher-Standbild. Der ruhmgekrönte
Blücher war ein geborener Rostocker (1742).
Schöne Neubauten sind die 1867 bis 1870 entstandene neue
Universität, an Stelle der alten 1419 gestifteten, deren Bibliothek
150.000 Bände zählt. Wie die meisten Städte Deutschlands, errichtete
auch Rostock seinen im Kriege 1870/71 gefallenen Söhnen ein
schönes Denkmal.
Die ehemaligen Befestigungen, welche die Stadt einengten, sind
[811]Lübeck.
neuerer Zeit gefallen und geben zur Herstellung hübscher Gartenan-
lagen den Raum.
Der Hafen besitzt am Stadtquai gute Anlegeplätze für Schiffe;
der eigentliche Seehafen ist aber Warnemünde an der Mündung der
Warnow, welche zwischen Rostock und der Flachküste sich seeartig
ausbreitet.
Warnemünde ist durch Dammbauten gegen See geschützt,
grosse Oceanschiffe müssen jedoch auf der Rhede ankern.
Als sehr besuchtes Seebad (jährlich 7000 Gäste) ist das Städt-
chen neuestens im Emporblühen begriffen.
Ueber Warnemünde und das dänische Gjedser gelangt man in
11 Stunden 15 Minuten von Berlin nach Kopenhagen.
Rostocks Seeschiffsverkehr betrug 1888 2246 Seeschiffe mit 375.167 Reg.-
Tons, davon 1295 Dampfer mit 307.961 Reg.-Tons.
Für Rostock ist der Verkehr mit Schweden von besonderer Bedeutung.
102*
[[812]]
Stettin.
Ueber dem mit anmuthigen Ortschaften, mit sanftgeböschten
Hügeln, dunklem Wald und Wiesengrund gezierten Strandgebiet der
pommerischen Bucht tönt in das frohe Treiben der Gegenwart aus
uralter Zeit her die geheimnissvolle Klage der Vineta, jener spurlos
im Meere versunkenen üppigen und sündhaften Stadt, von der es
heisst, dass sie im V. Jahrhundert die grösste Nordeuropas gewesen
sei. Aber Niemand weiss, wo sie einst gestanden, was ihre Bewohner
verbrochen. Armes sagenhaftes Vineta, dessen Trümmer der Fischer
nächst der Insel Usedom in der trügerischen Tiefe zu erblicken ver-
meint, während der Historiker dich auf die Nachbarinsel Wollin
verpflanzt und deine Existenz an die alte Meeresfeste und Handels-
stadt der Wenden Julin kettet, welche im XII. Jahrhundert von den
Dänen und vermuthlich auch durch Seesturm und Hochflut zerstört
wurde.
Gewiss ist, dass die Mündung der Oder, wo die genannten
Inseln die schützende Nehrung des ausgebreiteten Stettiner Haffs
bilden, seit ältester Zeit zur Anlage von Städten und Handelsplätzen
einlud. Als die Inseln sich bevölkerten, war an der Oder selbst
schon frühzeitig Stettin entstanden, und Otto von Bamberg, der Apostel
der Pommern, fand die Stadt bereits im Anfange des XII. Jahrhun-
derts als volkreichen Platz und Hauptsitz des heidnischen Triglaw-
cultes der Wenden.
Im XII. Jahrhunderte trat Stettin der Hansa bei und blühte, an einer schiff-
baren Wasserstrasse gelegen, rasch auf. Seine Handelsbedeutung als des einzigen
Durchgangspunktes des Handels zwischen den märkischen Plätzen und der Ostsee
bewog die Herzoge von Pommern, ihre Residenz dahin zu verlegen.
Im Jahre 1648 gelangte die Stadt in schwedischen Besitz und entfaltete
sich zu einem wichtigen Stapelplatz für den schwedischen Handel; 1678 eroberte
sie der grosse Kurfürst und 1720 kam sie in preussischen Besitz.
Seither erhob sich Stettin zum bedeutendsten Seehandelsplatz Preussens
und gleichzeitig zu einer der hervorragendsten Industriestädte des Deutschen
Reiches.
[813]Stettin.
Die Stadt liegt in sehr anmuthiger Umgebung zu beiden Seiten
der Oder, welche hier die Seitenarme Parnitz und Dunzig von der
Hauptwasserstrasse zu dem nördlich gebildeten Damm’schen See
abscheidet.
Ueber die Hügel des linken Ufers breitet sich der alte Stadt-
kern aus, den bis 1873 die Umwallung der Fortificationen einschloss.
Das rechte Oderufer ist dagegen flach und mit ausgedehnten saftig-
grünen Wiesen und Baumanlagen bedeckt.
Stettin.
Eine Eisenbahn- und drei andere Brücken überwölben die Oder,
an deren rechtem Ufer die meist von der Arbeiterclasse bewohnte
Vorstadt Lastadie und südlich von dieser auf einer Insel die neue
Vorstadt Silberwiese entstanden sind. Um die Altstadt gruppiren sich
seit 1850 zunächst die Neustadt und seit Aufhebung der Festung die
westlich und nördlich derselben vor dem Berliner und Königsthor
entstandenen Vorstädte, die, wie unser Plan zeigt, von stattlichen
Strassenzügen durchschnitten werden.
An Stelle der Fortificationen breiten sich nun hübsche Garten-
anlagen aus.
[814]Der atlantische Ocean.
Von der südlichen Brücke (Neue Brücke) aus betrachtet, biete
Stettin ein malerisch bewegtes Bild dar. Genau unterscheidet man
die beiden Haupthügel der Altstadt, auf deren nördlichem der massige
Bau des alten Herzogschlosses, auf dem südlichen aber die im
XIII. Jahrhundert erbaute Jakobikirche ehrwürdig thronen.
Das alte Schloss mit seiner eigenthümlichen Uhr am südlichen
Thurme entstand in der Zeit von 1503 bis 1577, wurde aber im
Laufe des XVIII. Jahrhunderts und neuester Zeit umgebaut. Gegen-
wärtig haben darin das Oberpräsidium, die Regierung und das
Oberlandesgericht ihre Bureaux, und ist das antiquarische Museum
dortselbst untergebracht.
Die Gruft der Schlosskirche enthält die Gräber der Herzoge von
Pommern. Von Interesse ist die Erzbüste des grossen Kurfürsten im
Schlosshofe.
Die Stadt bietet im Grunde genommen nur wenig Sehenswür-
digkeiten. Die Kirchen, anderwärts meist imposante Bauwerke und
durch Werke der Kunst geziert, entbehren hier der künstlerischen
Bedeutung, sie sind einfache Backsteinbauten ohne hochaufragende
Thürme.
Am berühmtesten ist die 1124 durch Bischof Otto von Bamberg
erbaute Peter-Paulkirche als ältestes religiöses Bauwerk Pommerns.
Die Kirche wurde während der Belagerung von 1677 zerstört, durch
den Krieg 1806 verwüstet und 1816 und 1817 wieder hergestellt.
In der Altstadt folgen die Strassen der Terrainform und fallen
gegen die Oder meist steil ab. Manch altes Haus steht hier mit seiner
Giebelseite an der Gassenfront.
Am Königsplatz erhebt sich das Erzstandbild Friedrichs des
Grossen und vor dem Theater das 1849 errichtete Marmorbild Fried-
rich Wilhelm III.
Unter den Profanbauten verdienen das neue Rathhaus und das
1884 vollendete Concerthaus, die Hauptwache, das Amtsgericht und
andere genannt zu werden.
Die Strassen der Neustadt zeichnen sich durch eine stattliche
Breite, viele aber auch durch grosse Länge aus, und wird das neue
Stettin, wenn einmal ausgebaut, durch den grossen Zug seiner Anlage
vortheilhaft zur Geltung kommen.
Grossartig geplant ist die Kaiser Wilhelmstrasse, eine wahre
Riesin unter den anderen Verkehrsadern, und prächtig gedacht ist der
gleichnamige Platz, von welchem aus acht Strassen radial auslaufen.
[815]Stettin.
Der Paradeplatz und die schöne Lindenstrasse sind vielbesuchte Pro-
menaden.
Stettin, welches im Jahre 1858 nur 58.000 Einwohner hatte,
gegenwärtig aber bereits gegen 100.000 zählt, ist die Hauptstadt
der preussischen Provinz Pommern.
Aber nicht als Regierungsstadt, sondern als Industriestadt hat
sich Stettin in den letzten Jahren so rasch entwickelt. Vor Allem
haben der Schiff- und Maschinenbau und die Hilfsindustrien des-
selben einen ungeheuren Aufschwung genommen. Anfang 1889 lagen
auf Stettiner Werften 18 Dampfer für Hamburger Rechnung im Bau,
darunter die grossen Dampfer „Augusta Victoria“, „Dania“ und
„Skandinavia“ für die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Ge-
sellschaft auf der Weltruf geniessenden Werfte „Vulcan“ zu Bredow,
welche seither auch für den Bremer Lloyd den Schnelldampfer „Spree“
geliefert hat. Die „Vulcanwerfte“ gehört zu den grossartigst einge-
richteten Europas; seit sie besteht, kann sich Deutschlands Mercan-
tilflotte allmälig von dem Zwange, grosse Dampfer in England bauen
zu lassen, befreien.
Das Hafenleben ist nächst dem Landungsplatze der grossen
Seeschiffe am regsten entwickelt.
Die Seeverbindung von Stettin vollzieht sich auf der Wasser-
strasse nach Swinemünde, welche durch das Stettiner Haff und dessen
bedeutendsten Abfluss, die Swine, führt, aber nur für Schiffe bis zu
5 m Tauchung praktikabel ist.
Grössere Schiffe müssen in Swinemünde löschen, ableichten oder
die Ladung completiren. Aus diesem Grunde blühte dieses erst seit
1740 bestehende Städtchen als Vorhafen von Stettin rasch auf und
zählt gegenwärtig 9000 Einwohner.
Die Mündung ist durch zwei mächtige über ein Kilometer weit
in See geführte Molen aus Quadersteinen vor Versandung geschützt
und gegen feindliche Angriffe wohl vertheidigt. Innerhalb der Molen
sind geräumige Anlegeplätze geschaffen worden. Am östlichen Ufer
erhebt sich der gewaltige, 70 m hohe Leuchtthurm, von dessen Höhe
eine lohnende Aussicht über die ganze herrliche Umgebung zu ge-
niessen ist.
Swinemünde, noch mehr aber das reizend am waldigen
Strande der Insel Usedom liegende Heringsdorf sind geschätzte
Badeorte, letzteres zählt sogar zu den elegantesten der Ostseebäder
und wird jährlich von etwa 6000 Badegästen besucht.
Auch die Strandorte der Insel Wollin besitzen gut besuchte
[816]Der atlantische Ocean.
Seebäder. Der grössten Frequenz erfreut sich das zwischen zwei be-
waldeten Hügeln malerisch gelegene Städtchen Misdroy, wo sich jähr-
lich gegen 6000 Fremde einzufinden pflegen und wo vortreffliche
Badeeinrichtungen bestehen. Dort wird auch die Bernsteinfischerei
betrieben.
In Swinemünde haben ganz städtische Verhältnisse Platz gefunden;
das Städtchen hat unter Anderem die elektrische Beleuchtung einge-
führt, besitzt aber meist nur einstöckige, von Bäumen umsäumte
Häuser.
Eine Fahrt mit dem Dampfer von Swinemünde nach Stettin
zählt zu den reizendsten Genüssen.
Am waldigen Strande vorbei wird durch den künstlichen Durch-
stich, Kaiserfahrt genannt, das Stettiner Haff erreicht; Feuerschiffe
und Marken bezeichnen dort das Fahrwasser. Das Haff ist das grosse
Küstenreservoir der Oder, welches durch die Abflüsse der Peene im
Nordwesten, der Swine im Centrum und der Dievenow im Osten mit
der See in Verbindung steht, wodurch die Inseln Usedom und Wollin
gebildet werden. Durch das breite Papenwasser wird die eigentliche
Oder erreicht. Städtchen und Ortschaften drängen sich nun malerisch
an den grünen Ufern, in der Ferne gewahrt man die formenreichen
Hügel in der Umgebung von Stettin. Man berührt nun den weiten
Damm’schen See, zieht an Gotzlow mit seinem bewaldeten, als Ver-
gnügungsort sehr besuchten Julo vorbei, sieht das anmuthig zwischen
Grün gebettete Frauendorf und weiterhin die grossen Fabriken von
Züllchow. Nun erscheinen Bredow und Grabow, gegenwärtig beide
mit Stettin verwachsen und durch geschäftliche Bande enge verbunden.
Hier liegen die grossartigen Etablissements der Werfte und Maschinen-
fabrik „Vulcan“ und jener von vormals Möller \& Hollberg. Unter-
dessen sind die malerischen Contouren der Altstadt zur Geltung ge-
langt und bilden einen höchst effectvollen Hintergrund des reich
bewegten Hafens, den wir endlich erreichen.
Legende zum Plan von Stettin.
A pommer’sche Bucht, A1 Kaiserwasser, B Achterwasser, C Kleines Haff, D Grosses Haff, E Damm’scher
See, F Leuchtfeuer, F1 Leuchtschiff, G Oder Dunzig-Canal, H Kaiser Wilhelmstrasse, J Friedrich Karl-
strasse, K Turnerstrasse, L Augustastrasse, M Bismarckstrasse, N Hohenzollernstrasse, O Friedrich-
strasse, P Bellevue, Q Barnimstrasse, R Bogislawstrasse, S Elisabethstrasse, T Lindenstrasse, U Breite-
strasse, V Rossmarktstrasse, W Kurfürstenstrasse, X Moltkestrasse, Y Deutsche Strasse, Z Pölitzer-
strasse. — 1 Wrangelstrasse, 2 Falkenwalderstrasse, 3 Frauenstrasse, 4 Oberwickstrasse, 5 Wasser-
strasse, 6 Holzstrasse 7 Eisenbahnstrasse, 8 Parnitzstrasse, 9 Speicherstrasse, 10 Altdammerstrasse,
11 Breslauerstrasse, 12 Danzig-Fahrstrasse, 13 Birkenallee, 14 Kaiser Wilhelmplatz, 15 Königsplatz,
16 Paradeplatz, 17 Hohenzollernplatz, 18 Exercirplatz, 19 Victoriaplatz, 20 Kirchplatz, 21 Marktplätze,
22 Personenbahnhöfe, 23 Güterbahnhöfe, 24 Hafenbahnhöfe, 25 neue Brücke, 26 Langebrücke, 27 Baum-
brücke, 28 königl. Schloss, 29 Kasernen, 30 Artilleriedepot, 31 Post, 32 Landgericht, 33 Jakobikirche,
34 Krankenhäuser, 35 Friedhöfe, 36 Badeanstalten.
[[817]]
(Legende siehe auf Seite 816.)
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 103
[818]Der atlantische Ocean.
Stettin ist durch seine Lage an der Oder und die Nähe der
Reichshauptstadt Berlin (134 km) der bedeutendste Hafen Preussens,
der auch über die Ostsee hinaus lebhaften Handel treibt. Er leidet
aber schon heute unter dem Mitbewerbe von Hamburg, das nach
Vollendung der neuen Canalbauten zwischen Elbe und Oder noch
mehr auf Stettin drücken wird.
Je grösser die Schiffe werden, desto mehr bleiben ihrer in
Swinemünde, und eine Vertiefung des Fahrwassers in dem Haff und der
Oder zunächst auf 6 m und später auf 7 m ist ebenso dringend, wie
eine Beleuchtung desselben, damit die Schiffe auch bei einbrechender
Dunkelheit nach Stettin hinauffahren und so den Vortheil, welchen
die Beleuchtung des Sundes bietet, voll ausnützen können.
Dem Mangel an Quaianlagen wird die Ausführung des Dunzig-
Parnitz-Canales abhelfen, und damit ist auch die Möglichkeit geboten,
in Stettin ein Freihafengebiet zu errichten, wie es heute Hamburg
und Bremen haben. Im Besitze dieser Anlagen kann Stettin mit Ruhe
dem Zeitpunkte entgegensehen, welcher vielleicht die Vollendung des
projectirten Canals Stettin-Berlin bringen wird.
Der Stettiner Hafen wird jetzt durch drei Eisbrechdampfschiffe
auch im Winter für Dampfer zugänglich erhalten und steht deshalb
während des ganzen Jahres mit den eisfreien Häfen in ununter-
brochenem Verkehre.
Als Handelsplatz hat Stettin in den letzten dreissig Jahren, freilich vielfach
auf Kosten der kleineren Ostseehäfen, zugenommen; möglich dass der Zenith
erreicht ist. Im Seehandel Stettins überwiegt die Einfuhr bedeutend, wie die
folgende Tabelle zeigt:
Der Seehandel von Stettin umfasste in Tonnen:
| [...] |
Da Swinemünde im Wesentlichen nur als Umladeplatz Bedeutung für den
Handel hat und die Einfuhr der Hauptsache nach aus englischen Steinkohlen,
die Ausfuhr aus Zink besteht, so ziehen wir im Folgenden den Seeverkehr beider
Städte zusammen.
Stettin-Swinemünde haben durchschnittlich eine Getreideeinfuhr von mehr
als 2 Millionen q. Wenn die Roggenernte in Nordrussland günstig ausfällt, ist
Roggen an der Spitze der Einfuhr, so 1888 mit 1,723.390 q; muss aber Roggen
aus Südrussland und von der Donau bezogen werden, so kommt er zum grossen
Theile über Hamburg und Binnenwasserstrassen nach Berlin und selbst nach
Stettin. Deshalb erreichte die Roggeneinfuhr von 1889 nur 717.840 q. Aus Russ-
land kommt auch Weizen, Hafer (1889 849.380 q, 1888 351.220 q) und Gerste
(1889 216.420 q, 1888 69.460 q), aus der Union Mais (1889 227.860 q, 1888
142.100 q).
[819]Stettin.
Hülsenfrüchte (1889 74.020 q) und Mehl (81.320 q) werden aus deutschen
Häfen, Kleie (164.850 q) aus Russland und deutschen Häfen, endlich Reis (1889
110.550 q), Kaffee (1889 61.530 q, 1888 77.880 q) aus deutschen Häfen und Däne-
mark zugeführt.
Stettin ist ein Haupthandelsplatz für Oelsamen, die hier in steigenden
Mengen verarbeitet werden. Man führt ein Raps und Rübsen (1889 239.380 q,
1888 90.160 q) meist aus Ostindien über Belgien und Grossbritannien, Leinsamen
(1889 147.810 q, 1888 82.960 q) aus Russland, dann Oelkuchen (1889 116.430 q).
Die Einfuhr von Wein erreichte 1889 41.280 q, 1888 45.700 q, und erfolgte
direct aus Bordeaux und über Kopenhagen.
Russisches Bau- und Nutzholz kommt aus Königsberg und Danzig
(1889 1,346.920 q, 1888 1,095.000 q), zum Theile auch von der Weichsel her durch
den Bromberger Canal und die Netze in die Oder. Netze und Bromberger Canal
sind leider nicht besonders leistungsfähig.
Rohe Baumwolle (1889 21.280 q) kommt über Grossbritannien.
Bedeutend ist auch die Einfuhr von Harzen, von Terpentin und Theer
(1889 28.490 q).
Stettin ist einer der vier Haupteinfuhrplätze Deutschlands für Häringe
aus Schottland und Norwegen; in neuester Zeit ist auch in Schweden der Härings-
fang wieder wichtiger geworden. Einfuhr 1889 990.860 q, 1888 683.220 q.
Unter den Fettwaaren (1889 256.310 q, 1888 208.310 q) sind die wich-
tigsten Schweinefett direct aus der Union und über Grossbritannien, Thran aus
Norwegen, ferner Baumöl.
Chemikalien und Droguen erreichten 1889 eine Einfuhr von 399.080 q,
1888 von 269.089 q, Guano wird aus Australien gebracht.
Petroleum (1889 489.870 q, 1888 556.580 q) liefert die Union direct und
über Bremen, Trottoirplatten und Pflastersteine (1889 1,041.710 q) Schweden, Dach-
schiefer (92.860 q), dann Steinkohlen und Coaks (1889 5,010.390 q, 1888 4,850.010 q)
Grossbritannien. Mit der Eisenbahn wurden 1888 1,220.850 q hieher gebracht.
Eisen und Eisenwaaren (1889 1,548.550 q, 1888 1,128.290 q) senden
Grossbritannien, Belgien und Schweden. Die Einfuhr von Erden und Erzen wird für
1889 mit 2·7 Millionen q angegeben und umfasst Eisenerze und Kiese aus Schweden,
Schlacken aus Grossbritannien, dann Kalk und Kaolin.
Von der Ausfuhr Stettin-Swinemündes sind folgende Waaren hervor-
zuheben:
Gewöhnlich ist Gerste (1889 132.900 q, 1888 192.220 q) der wichtigste
Theil der Getreideausfuhr Stettins, die nach deutschen Häfen geht.
Von Malz, das aus Oesterreich-Ungarn stammt, wurden 1889 69.780 q,
1888 37.040 q nach deutschen Häfen, Dänemark und Norwegen ausgeführt.
Mehl aus den grossen Mühlen Stettins geht nach Schweden, Norwegen
und den Niederlanden: 1889 50.733 q, 1888 51.283 q.
Die Ausfuhr von Kartoffelstärke und Kartoffelmehl nach den Nieder-
landen, deutschen Häfen und Grossbritannien erreichte 1889 226.990 q, 1888 214.750 q.
Gebrannte Cichorien (1889 50.720 q) und Obst (50.340 q) gehen nach Königs-
berg und Danzig.
Ein Hauptartikel der Ausfuhr Stettins ist Zucker, der nach Grossbritannien
und den Niederlanden geht; 1889 663.250 q, 1888 828.181 q. Von Melasse wurden
1889 44.200 q, von Kartoffelzucker und Glykose 102.320 q ausgeführt.
103*
[820]Der atlantische Ocean.
Von Wein wurden 1889 19.430 q, von Sprit 132.410 q, 1888 124.450 q
nach Spanien, Lübeck und den Niederlanden ausgeführt.
Stettin hat ausgedehnte Fabriken für Rüböl und führte 1889 57.650 q,
1888 86.440 q nach England und Belgien, dann Oelkuchen nach Dänemark und
Schweden aus.
Die Ausfuhr der anderen Fettwaaren erreichte 1889 43.940 q.
Die Ausfuhr von Bau- und Nutzholz (1889 781.320 q, 1888 817.850 q)
geht nach Grossbritannien und Frankreich, eichene Fassdauben in steigenden
Mengen nach Schweden, wogegen die Ausfuhr von Fässern stark zurückgegangen ist.
Häringe (1889 85.350 q, 1888 107.860 q) kommen nach West- und Ost-
preussen und Russland zur Wiederausfuhr.
Steinkohlen gingen (1889 177.430 q) nach Skandinavien und Russland,
Kochsalz 82.980 q nach Schweden, von Metallen werden Blei und Zink in grösseren
Mengen nach England und Russland versendet: rohes Blei und Glätte 1889 60.380 q,
Zink 1889 312.490 q, 1888 280.900 q. Eisen und Eisenwaaren gehen nach Däne-
mark, Russland, Schweden, Ost- und Westpreussen 1889 181.120 q, 1888 280.900 q.
Die Cementfabriken von Stettin und Umgebung exportirten nach Preussen,
Dänemark und Amerika 1889 541.890 q, 1888 574.960 q. Nicht unwichtig ist die
Ausfuhr von Mauersteinen und Chamottewaaren.
Chemikalien und Droguen werden meist nach Schweden und Russland
verschickt (1889 314.480 q, 1888 333.640 q).
Ziemlich bedeutend ist die Ausfuhr von Papier und Pappwaaren, Holz-
stoff (1889 165.590 q, 1888 129.520 q) nach Grossbritannien und deutschen Häfen,
die von Maschinen und Maschinentheilen (1889 38.540 q), von Eisen und Eisen-
waaren (181.120 q) nach Russland und Schweden und endlich die von Hüten
nach Dänemark und Norwegen.
Die wichtigsten Länder sind (1889) für die Einfuhr Grossbritannien, das
Deutsche Reich, Russland, Schweden und die Union; für die Ausfuhr Grossbri-
tannien, das Deutsche Reich, Schweden, Dänemark, die Niederlande, Russland und
die Vereinigten Staaten.
Die wichtigste Industrie Stettins und der Umgebung ist der Bau von
Schiffen und Maschinen, betrieben durch die vorerwähnte weltberühmte Stettiner
Maschinenbau-Actien-Gesellschaft „Vulcan“ (1889 4014 Arbeiter). Die Stettiner
Maschinenbau-Gesellschaft baut vornehmlich Flussschiffe. Ferner bestehen hier
Cement-, Ziegel- und Chamottefabriken, eine Dachpappenfabrik, Getreidemühlen,
welche 1889 850.450 q Getreide vermahlten, Oelmühlen, eine Zuckerfabrik, Cicho-
rien- und chemische Fabriken, Brauereien und eine ziemlich umfangreiche Er-
zeugung von Kleidern.
Der Schiffsverkehr von Stettin betrug:
| [...] |
Der Schiffsverkehr von Swinemünde, in welchem auch alle Schiffe erscheinen,
welche nach Stettin weitergehen, ist bei dem gegenwärtigen Stande des Fahr-
wassers zwischen Swinemünde und Stettin ungefähr um ein Viertel grösser als
der Verkehr Stettins. Der Verkehr der Küsten- und Binnen-Fahrzeuge, der Fluss-
[821]Stettin.
dampfer und Kähne, ungerechnet diejenigen, welche nur durchfahren, ohne zu
löschen, erreichte 1889 im Stettiner Hafen 24.779 Fahrzeuge mit einem Gehalte
von 2,771.448 m3.
Im Verkehre von Stettin nimmt die deutsche Flagge mit etwa der Hälfte
des gesammten Tonnengehaltes die erste Stelle ein, dann folgen die britische
Flagge mit einem Viertel und die dänische mit einem Achtel des gesammten
Tonnengehaltes. Der Rest vertheilt sich auf die schwedische, norwegische, fran-
zösische, holländische und andere Flaggen.
Aus der Gütermenge, welche sich von und nach Stettin seewärts bewegt,
folgt, dass viele Schiffe in Ballast ausgehen. Die von England kommenden Dampfer
suchen auf der Heimfahrt russische, schwedische, französische und niederländische
Häfen auf, um die Ladung zu vervollständigen.
Die Stettiner Rhederei hatte am 31. December 1889 einen Bestand von
193 Schiffen mit 41.856 Tonnen, davon waren 71 Seedampfer mit 29.007 Tonnen,
30 Segelschiffe von mehr als je 30 Tonnen, zusammen mit 10.078 Tonnen, der
Rest Küstendampfer, Bugsir- und Flussschiffe.
Stettin hat lebhaften Dampfschiffverkehr aufwärts auf der Oder, ins Haff
und nach Rügen. Hier haben ihren Sitz die Neue Dampfer-Compagnie, welche
regelmässige Linien in der Ost- und Nordsee und unregelmässige zwischen Nord-
und Ostsee unterhält. Ferner sechs kleinere Dampfschiffahrtsgesellschaften und
eine Vertretung der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft, welche
alle 2—3 Wochen einen Dampfer von Stettin nach New-York abgehen lässt und
einen Theil der deutschen Auswanderung nach Amerika vermittelt. Andere
wichtige Linien sind die nach Kopenhagen (316 km), Gothenburg und nach
Stockholm.
Dampfer gehen in der Ostsee nach Danzig, Königsberg, Riga, St. Peters-
burg, den schwedischen Häfen und den Kohlenhäfen Ostenglands, dann nach London,
Hull, Leith, Amsterdam, Rotterdam, Antwerpen.
Von Stettin gehen Eisenbahnen nach Swinemünde, nach Lübeck-Hamburg,
nach Berlin, nach Breslau und nach Danzig-Königsberg.
Stettin ist Sitz einer Reichsbankhauptstelle und mehrerer Versicherungs-
gesellschaften.
In Stettin bestehen Consulate folgender Staaten: Chile, Columbia, Costa-
rica, Dänemark (G.-C.), Frankreich, Griechenland, Grossbritannien, Italien, Nieder-
lande, Oesterreich-Ungarn, Portugal (G.-C.), Russland, Salvador, Schweden und
Norwegen (G.-C.), Spanien, Venezuela, Vereinigte Staaten.
[[822]]
Danzig.
Zu den ältesten deutschen Städten im Weichsellande gehörend,
darf Danzig (polnisch Gdańsk) den Ruf beanspruchen, ein bestimmtes
historisches Gepräge sich bewahrt zu haben, wie ein solches unter
den grösseren Städten Norddeutschlands nur noch Lübeck in gleichem
Masse besitzt. Es haben sich hier Baudenkmale der verschiedensten
Art aus allen Perioden seiner Geschichte in grosser Zahl erhalten, wo-
durch die interessante Stadt mit ihren überwiegenden Renaissance- und
Barockbauten ein getreues Bild der Entwicklung der Baukunst von der
Mitte des XVI. Jahrhunderts an bis zur Gegenwart darbietet. Aus
ihrer Bauart spricht der Geist kräftigen, selbstbewussten Bürgerthums,
welcher ihre einstige Grösse begründete. Deshalb wird Danzig auch
das „nordische Nürnberg“ genannt, wie es seiner reizvollen Umgebung
wegen den Beinamen „das nordische Neapel“ und im weiteren Ver-
gleiche der die Stadt durchfliessende Gewässer halber „das nordische
Venedig“ erhalten hatte. An der Mottlau, nicht weit von der Mündung
der Weichsel gelegen, ist die Stadt der Hauptstapelplatz für West-
preussen und Polen, zugleich aber der Sitz einer bedeutenden Industrie.
Hier ist die Wiege der deutschen Flotte, denn bis zum Jahre
1865 war Danzig die einzige Marinestation Preussens.
Diese Stadt, wenn man solchen Namen für die Niederlassung von 997
gelten lassen will, ward von grösserer Bedeutung, als die Herzoge von Pomerellen,
die sich von Polen unabhängig gemacht hatten, in ihr ihre Residenz aufschlugen
und Kaufleute Lübecks ihren Wohnsitz in ihr nahmen, um von hier aus ihre
Waaren weiter ins Land hineinzuführen und zu vertreiben. Um 1263—1265 hat
die deutsche Ansiedlung bereits so zahlreiche Bevölkerung und so gewichtvolles
Ansehen, dass sie vom Herzoge lübisches Recht erhält und damit zur Stadt wird
— die Altstadt, wie sie späterhin hiess und noch heute heisst. Sie ging 1308 bis
1310 in den Besitz des Deutschen Ordens über, der, in dem Streite des polnischen
Königs und brandenburgischen Markgrafen um das Erbe der ausgestorbenen pome-
rellischen Herzoge von jenem zu Hilfe gerufen, zwar die Brandenburger, aber auch
bald danach die Polen ebenfalls aus Schloss und Stadt vertrieb. Neben der alten
[823]Danzig.
Stadtanlage hatte sich auf den Erhöhungen des Mottlauufers eine neue Ansiedlung um
1330 gebildet, die, von dem Orden besonders gefördert, bereits 1343 soweit sich
entwickelt hatte, dass sie ein Privileg und das Culmische Recht als Stadtrecht
empfing, Mauern erbaute und den Grundstein zu ihrer Pfarrkirche, der Marien-
kirche legte. Sie ward die „Rechte Stadt“, civitas primaria, und ist es auch
immer geblieben. Sie ist es auch, deren Rathssendeten 1361 zum erstenmale auf
einem Hansatag, und deren Bürger wie Mittel an dem Kriege gegen Waldemar
Attertag von Dänemark betheiligt erscheinen, und die seit dem Ende des XIV. Jahr-
hunderts der Vorort der preussischen Städte im Hansabunde wurde. So rasch
blühte sie empor, dass der Orden der Ansicht war, eine noch näher der Weichsel
liegende Ansiedlung würde noch mehr gedeihen, und so gab er 1380 ein Privileg
zur Anlage einer dritten Ansiedlung am Ufer der Weichsel aus, welche den Namen
der Neuen oder Jungstadt trug. Diese drei Städte Danzig blieben nur bis 1454
gesondert. Als die Stände und Städte des Ordenslandes infolge der Missregierung
des Ordens und der Missstände in ihm von demselben in bewaffnetem Aufstande
abfielen und dafür den Rückhalt an dem polnischen Könige suchten und fanden,
war die Rechtstadt Danzig das bedeutendste Mitglied des Bundes und erhielt
ein Privileg, das ihrem Rathe die Oberhoheit über die übrigen Stadtanlagen ver-
lieh. 1455 ward ausserdem die Jungstadt aus strategischen Rücksichten abge-
brochen. Seitdem hat die Rechtstadt Danzig und ihr Rath die ganze Stadt regiert
und repräsentirt. Durch den Frieden von Thorn (1466) musste der Deutsche
Orden fast die Hälfte seines Landes an den König von Polen abtreten und die
darin eingeführten Verhältnisse anerkennen. Danzig, mit neuen Privilegien be-
lohnt und mit einem grossen Landgebiet bedacht, brachte seinen Handel zu grosser
Blüthe und gewann grosse Macht, die es in Stand setzte, seinen Feinden, selbst
dem englischen Könige, kraftvoll entgegenzutreten.
Hatte es nun auch durch die Verbindung mit Polen ein weites offenes Hinter-
land zum Absatz seiner Einfuhr und ein Gebiet, das ihm eine reiche Ausfuhr
sicherte, sich verschafft, so gerieth es doch durch eben diese Verbindung in die
Kriege und Wirren jenes Reiches hinein, die von 1570 an zwei Jahrhunderte
hindurch dauernd, der Stadt viele schwere Mühewaltung zur Erhaltung ihrer poli-
tischen wie religiösen Freiheit und ihres Deutschthums kosteten und nicht geringe
pecuniäre Opfer erheischten. Den grössten Verlust an Menschen und Geld führte
für sie die russische Belagerung von 1734 herbei, die sie für den von ihr er-
wählten König Stanislaus Leszynski ertrug. Aus dem Verfall des polnischen
Reiches ward sie errettet, als sie 1793 Preussen einverleibt wurde. Die städtischen
Verhältnisse verbesserten sich sofort, die Bevölkerung wuchs und der Handel er-
blühte wieder. Doch es war nur eine kurze Blüthe; denn in den napoleonischen
Kriegen hatte es 1807 eine Belagerung durch ein französisches Corps, dem auch
die Eroberung gelang, auszuhalten und dann, durch den Tilsiter Frieden eine freie
Stadt unter französischem Schutz geworden, eine französische Besatzung sieben
Jahre zu erhalten, endlich mit dem Beginn der Freiheitskriege während des Jahres
1813 eine zweite Belagerung zu erdulden, durch die es zwar 1814 für Preussen
wieder gewonnen ward, aber in der es für die französische Besatzung Alles auf-
opfern musste, abgesehen von der Hungersnoth und der Feuersbrunst, welche die
Belagerung im Gefolge hatte. Der öffentliche wie der private Wohlstand war durch
die französische Zeit fast völlig vernichtet. Im Wiener Frieden ward die Stadt
dem Königreiche Preussen wieder zugesprochen.
[824]Der atlantische Ocean.
Unter 54° 21′ nördl. Breite und 18° 39′ östl. Länge von Green-
wich und 7 km einwärts der Weichselmündung gelegen, ist Danzig
die Hauptstadt der Proyinz Westpreussen und zugleich Festung. Die
Einwohnerzahl hob sich von 57.500 im Jahre 1831 auf die gegen-
wärtige Höhe von 120.539 Bewohnern (einschliesslich der Garnison).
Die Stadt breitet sich am Fusse des Hügellandes aus, welches
reich an malerischen Reizen knapp an das linke Weichselufer tritt.
Der wasserreiche Mottlaufluss durchzieht die Stadt in zwei Armen,
auf welchen Seeschiffe bis zu 5 m Tauchung verkehren können.
Danzig.
Wie unser Stadtplan zeigt, ist Danzig von ausgedehnten Wasser-
gräben (Stadtgraben) umgeben und im nördlichen Theile von dem
kleinen Flüsschen Radaune, welches in die Mottlau mündet, durch-
schnitten. Die Radaune durchfliesst die Altstadt, an diese reiht sich
die Rechtstadt und südlich von dieser die „Vorstadt“. Die beiden Arme
der Mottlau umschliessen die Speicherinsel, auf welcher sich die hohen
Gebäude der Kornspeicher mit einem Fassungsraum von 2·6 Millionen
Scheffeln erheben. Am rechten Ufer der Mottlau liegen die Stadttheile
[[825]]
A Ankerplatz Neufahrwasser, B Frische Nehrung, C Putziger Wiek, D Frisches Haff, E Kurisches Haff, F Leuchtfeuer.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 104
[826]Der atlantische Ocean.
Langgarten, Schäferei im Norden und Niederstadt im Süden. An der
Westseite der Stadt sind neue Stadttheile entstanden.
Die Befestigungen bestehen aus einem Kranz von Bastionen und
vorgeschobenen Forts. Auch kann ein grosses Gebiet der Umgebung
von Danzig unter Wasser gesetzt werden.
Die interessanteste Partie der Stadt ist die zwischen dem grünen
Thor an der Mottlau und dem Honen Thor im Westen sich erstreckende
Lange Gasse mit dem Langen Markt. Hier ist es, wo die Eigenart
Danzigs zum glänzenden Ausdrucke gelangt, hier stehen in langer
Reihe die berühmten Giebelhäuser aus dem XVI., XVII. und XVIII.
Jahrhundert mit ihren hübsch durchbrochenen Façaden, ihren hoch
aufstrebenden, zierlich ornamentirten Giebeln, die an der Spitze in
eine Figur oder eine riesige Wetterfahne auslaufen. Es sind meist
Prachtbauten ehrwürdigen Charakters. Die früher vor den Häusern
bestandenen „Beischläge“ sind grösstentheils verschwunden. Die Bei-
schläge sind Vorplätze, welche mit der Strasse durch Freitreppen
verbunden und mit Geländern eingefasst sind. Man sass dort im
Freien und überblickte den Verkehr auf der Strasse.
Mehr noch als die Lange Gasse hat die zwei Strassen nörd-
licher gelegene Frauengasse die bauliche Eigenart des alten Danzig
bewahrt.
Der reichsstädtische Charakter zeigt sich bei vielen öffentlichen
Gebäuden der Stadt. Imposant tritt er bei dem im unteren Theile aus
dem XIV. Jahrhunderte stammenden Rathhause hervor, welches ein
von 1559 bis 1561 gebauter schlanker Thurm um 45 m überragt,
dessen gerühmte Renaissancespitze die aus getriebenem Kupfer gebildete
Figur des Polenkönigs Sigismund August einnimmt.
Die Einrichtung und Ausstattung des Rathhauses enthält viele
sehenswerthe Kunstobjecte vergangener Jahrhunderte. Den Langen Markt
ziert der 1620 ‒ 21 in Holland gegossene schöne Neptunsbrunnen,
welcher vor dem Artus- oder Junkerhof sich erhebt, einem Baue mit
Spitzbogenfenstern, der einst als Versammlungsort der Kaufmanns-
bruderschaften diente, seit mehr als hundert Jahren aber als Börse
verwendet wird. Medaillons mit den Bildnissen Kaiser Karl V. und
seines Sohnes Don Juan d’Austria zieren die 1552 aufgeführte Façade
des viele Sehenswürdigkeiten bergenden alten Baues.
Unter den kirchlichen Bauwerken beansprucht die in riesigen
Verhältnissen angelegte Oberpfarrkirche zu St. Marien als eines der
hervorragendsten Denkmäler der baltischen Gegenden die vornehmste
Aufmerksamkeit. Im Jahre 1343 angefangen, wurde die Kirche all-
[827]Danzig.
mälig bis zum Jahre 1502 vollendet. Obgleich in einfachen Formen
aufgeführt, ist sie von imponirender Würde. Mit ihrem 76 m hohen
Westthurm und zehn schlanken Giebelthürmchen überragt sie weit
sichtbar die Stadt. Viele Kunstschätze aus dem Gebiete der Sculptur,
Malerei, Goldschmiedekunst u. dgl. sind in ihrem Innern gesammelt.
Die Stadt besitzt noch mehrere alte Kirchen, so die im XIII. Jahr-
hundert gegründete Katharinenkirche, die Johanneskirche aus dem
XV. Jahrhundert, die Trinitatiskirche (1514) mit reichgegliedertem
dreifachen Westgiebel u. a., allein all diese Kirchen sind gothische
Backsteinbauten, welche mit der Marienkirche keinen Vergleich aus-
halten.
In dem aus dem XV. und XVI. Jahrhundert stammenden ehe-
maligen Franziskanerkloster, welches 1872 restaurirt wurde, ist das
höchst interessante Stadtmuseum untergebracht, welches neben der
reichen städtischen Gemäldegallerie und einer kostbaren Sammlung
von Kupferstichen, Holzschnitten, Aquarellen und Handzeichnungen
auch die kunstgewerblichen Sammlungen des Provinzial-Gewerbe-
museums enthält.
Die Stadtbibliothek ist in der ehemaligen, am äussersten Nord-
ende der Stadt liegenden Jakobskirche untergebracht.
Die Umgebung Danzigs ist reizend und reich an Abwechslung.
Die nahen Höhen, der nahe Wald laden zu angenehmen Partien ein,
und auf der breiten Niederung des Ostseestrandes wechseln wogende
Aehrenfelder mit bunten Wiesen ab.
Im Osten sind bei dem Dorfe Heubude die Rieselfelder, wohin
der Inhalt der sämmtliche Strassen durchziehenden Abzugscanäle ver-
mittelst der grossen Werke der Pumpstation geleitet wird.
Der eigentliche Seehafen von Danzig ist an der ehemaligen
Weichselmündung bei der Vorstadt Neufahrwasser entstanden. Dort
liegen an der von starken Steinmolen eingefassten Hafeneinfahrt der
1600 m lange Hafencanal und das 700 m lange neue Hafenbassin.
Wie unser Plan zeigt, besitzt der 1871 durch das neue Bassin
vergrösserte Hafen keine grössere Tiefe als 7 m; Schiffe von mehr als
6 m Tiefgang müssen jedoch an der Ostmole ableichtern und grössere
Schiffe auf der Rhede ankern, wo selbe in etwa 12 m Wassertiefe
guten Ankergrund finden.
Auf dem Kopfe der 830 m langen Ostmole steht ein 13·5 m
hoher Leuchthurm mit rothem Feuer und weiter oberhalb am west-
lichen Ufer des Hafencanals ein 23·5 m hoher Leuchtthurm mit
weissem elektrischen Licht, das circa 16 Seemeilen weit sichtbar ist.
104*
[828]Der atlantische Ocean.
Reizend sind die bewaldeten Strandpartien östlich und westlich der
früheren Weichselmündung, prächtig die dort befindlichen Strandbäder,
welche während der Saison von zahlreichen Badegästen besucht werden.
Unmittelbar an den Hafencanal von Neufahrwasser schliesst sich
der nach dem Durchbruch der Weichsel bei Neufähr im Jahre 1840
coupirte Arm der Weichsel, welcher bis hinauf zur Mottlaumündung
in rund 5·5 km Länge und mit einer Fahrtiefe bis 7 m gleichfalls
als Seehafen, in seinem oberen, noch circa 8 km langen Theile bis
aufwärts zur Plehnendorfer Schleusse an der Mündung der lebendigen
Weichsel bei dem Fischerdorfe Neufähr als Holzhafen Verwendung
findet. Zahlreiche Weidalben und Gordungsmünde bieten Liegestellen
für die Seeschiffe zur Beladung mit Holz und Getreide. Oberhalb
Neufahrwasser ist am westlichen Ufer der todten Weichsel ein neuer
Hafenquai gebaut worden (Weichselbahnhof). Weiter aufwärts liegen
mehrere an die Eisenbahn angeschlossene Fabriken, Holzschneide-
mühlen und Lagerhöfe, ferner die Baulichkeiten der kaiserlichen
Schiffswerfte und die neue Schichau’sche Werfte für Panzerschiffe.
Die letztgenannte unternehmende Firma besitzt bereits zu Elbing
ein grosses, hauptsächlich für den Bau von schnellfahrenden Torpedo-
booten und Fahrzeugen eingerichtetes Etablissement, welches durch
seine vortrefflichen Leistungen auf schiffbaulichem Gebiete einen
Weltruf geniesst und nahezu von allen Seestaaten in Anspruch ge-
nommen wird.
Wie unser Plan des Golfes von Danzig zeigt, hat Elbing nur
eine Zufahrt durch das Frische Haff, welches in seinem westlichen
Theile von Fahrzeugen mit mehr als 2 m Tiefgang nicht mehr be-
fahren werden kann.
Der Golf von Danzig ist eine gewaltige Einbuchtung, welche
zwischen den durch weit sichtbare Leuchtfeuer markirten Caps Rix-
höft und Brüsterort 56 Seemeilen Breite besitzt. Die grösste Wasser-
tiefe beträgt auf dieser Linie 104 m.
Von derselben Linie aus buchtet sich der Golf bis zum kreis-
förmigen Strand der Nehrung des Frischen Haff 28 Seemeilen gegen
Südost aus.
Legende zu Neufahrwasser und Danzig.
A Golf von Danzig, B Signalmarken, C Badeanstalten, D Rettungsbootstation, E Weichselfluss, F Leucht-
feuer, G Jakobsthor, H Hohes Thor, J Langgartenthor, K Werftthor, L Altstädter Graben, M Vorstädter
Graben, N Breite Gasse, O Lange Gasse, P Hundegasse, Q Fleischergasse, R Hopfengasse, S Weidengasse,
T Winterplatz, U Langer Markt, V Kohlenmarkt, W Holzmarkt, X Kasernen, Y Zeughäuser, Z Lazareth.
— 1 kaiserl. Schiffswerfte, 2 Ostbahnhof, 3 pommer’scher Bahnhof, 4 Post, 5 Gasanstalt, 6 städtische
Bibliothek, 7 königl. Gymnasium, 8 Synagoge, 9 Franziskanerkloster, 10 Marienkirche, 11 Bartholomäi-
kirche, 12 Brigittakirche, 13 Landesgericht, 14 Theater, 15 Commandantur, 16 Stadtgraben, 17 Mottlau,
18 Kielgraben, 19 Bassin, 20 Radaune, 21 Promenade, 22 Stockthurm.
[[829]]
(Legende siehe auf Seite 828.)
[830]Der atlantische Ocean.
An der Nordwestseite des Golfes springt die Halbinsel Hela mit
den Leuchtfeuern von Heisternest und Hela vor und bildet die gut
geschützte, durch das Leuchtfeuer von Oxhöft beleuchtete Putziger
Wiek.
Im östlichen Theile des Golfes mündet bei Pillau, dem Vor-
hafen der alten Königsstadt Königsberg, der Ausfluss des Frischen Haffs.
Danzigs Handelsstellung beruht auf seiner Lage an einer sehr
geschützten, auch im Winter meist eisfreien Rhede (innerhalb der
Hafengewässer wird in strengen Wintern die Fahrt durch Eisbrecher
offengehalten) und an der Mündung der schiffbaren Weichsel, die
etwa 200 km oberhalb bei Thorn aus dem russischen Gebiete in das
preussische eintritt und ihre grossen Nebenflüsse in Russland hat.
Das Hinterland Danzigs liegt also in weit grösserem Masse in
Russland als in Preussen, und so lange der Wasserweg für den Handel
dieser Gegenden entscheidend war, vermittelte Danzig auch den aus-
wärtigen Handel derselben. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes gibt aber
der russischen Regierung das Mittel in die Hand, durch Tarifmass-
regeln die Ausfuhr aller werthvolleren Artikel, vom Getreide ange-
fangen, möglichst von den deutschen Häfen abzulenken und nach den
eigenen Häfen an der Ostsee und am Schwarzen Meere zu leiten.
Nur Holz, für welches die Wasserfracht unentbehrlich ist, bleibt Danzig
bisher noch ganz erhalten. Die Einfuhr mancher Waaren, wie der
Baumwolle, über Danzig wird durch Differentialzölle, die auf den
Transport über die Landesgrenze gelegt sind, unterbunden.
Durch diese Verkehrspolitik des russischen Nachbarreiches gehen
Danzig jene Einfuhrartikel grossentheils verloren, welche als Rück-
fracht der von Danzig mit Getreide, Holz, Zucker, Spiritus u. s. w.
ausgehenden Schiffe nicht nur für die Seeschiffahrt, den Stromschiff-
fahrtsbetrieb auf der Weichsel und den Verkehr auf den nach Danzig
führenden Eisenbahnen von erheblicher Bedeutung sind.
Durch diese Veränderungen im Verkehre der russischen Export-
artikel ist aber dem Danziger wie dem Königsberger Hafen sein
früheres Gepräge genommen worden. Wie ganz anders sah es da
vor dreissig Jahren aus, als Sommers über hunderte von ganz originell
gebauten russischen Schiffen kamen, auf denen alle Abende die
polnisch-russische Bemannung ihre melancholischen Lieder sang, end-
lich wenn Waaren und Schiffe verkaufte und ausbezahlt waren,
die verschiedensten Gegenstände einkaufte und schwer beladen längs
der Weichsel zu Fuss ihren Heimweg antrat, um nach Wochen die
Städte und Dörfer, aus denen sie gekommen waren, wieder zu erreichen.
[831]Danzig.
Danzig ist überwiegend Ausfuhrhafen; sein Verkehr umfasste seewärts
in der Ausfuhr 1889 5,627.495 q, im Werthe von 84,153.000 Mark, 1888 6,899.070 q,
im Werthe von 97,826.000 Mark, in der Einfuhr 1889 4,642.544 q, im Werthe
von 58,229.000 Mark, 1888 4,341.900 q, im Werthe von 46,749.500 Mark.
Die vornehmsten Gattungen des Danziger Getreidehandels sind Weizen
und Roggen. Leider ist der Verkehr durch die Identitätscontrole im Transitolager
sehr erschwert.
Zur See wurden ausgeführt Weizen 1889 1,116.700 q, 1888 1,583.882 q
nach Grossbritannien, den Niederlanden, Schweden und Dänemark, Roggen 1889
135.290 q, 1888 362.600 q nach Skandinavien und England, Gerste 1889 272.220 q,
1888 534.480 q nach Grossbritannien und den deutschen Häfen, Hafer nach den
Niederlanden, Hülsenfrüchte, und zwar Erbsen und dann Bohnen 1889
95.180 q, 1888 271.400 q nach Grossbritannien, endlich Oelsaaten 1889 106.320 q
nach Frankreich und den Niederlanden.
Das seewärts verladene Mehl stammt aus den hiesigen Fabriken; Ausfuhr
1889 224.059 q, 1888 249.829 q nach holländischen und belgischen Häfen, nach
Stettin, Skandinavien und England.
Kleie führte die russische Südwestbahn zu, sie wird nach Dänemark ver-
schifft, 1889 300.743 q, 1888 497.080 q.
Das über Amsterdam, Rotterdam und Antwerpen nach dem Rhein und
Elsass, ferner nach England ausgeführte Rüböl (1889 55.517 q), dann die Oel-
kuchen, welche vor Allem Dänemark aufnimmt, stammen aus der Danziger Oel-
mühle. Das Rohproduct liefert das Hinterland Danzigs.
Danzig ist ein wichtiger Ort für die Ausfuhr von Spiritus und Sprit
(1889 132.884 q, 1888 173.813 q, 1887 244.993 q).
Ueber den Hafen kommt neben der bedeutenden Menge von deutschem
Zucker (1889 522.000 q, 1888 674.643 q), auch russischer (1889 88.672 q) zur
Ausfuhr nach Grossbritannien, den Niederlanden, Skandinavien, den Vereinigten
Staaten und Hamburg. Auch die nach Frankreich versendete Melasse (1889
143.020 q) ist russischer Herkunft.
Die grossen Mengen von Bau- und Nutzholz, welche in Danzig jährlich
aus dem Innern zugeführt werden, haben einen Einkaufswerth von 8—12 Millionen
Mark. Von der seewärts gerichteten Ausfuhr (1889 370.735 m3, 1088 294.222 m3),
die meist aus Kieferhölzern besteht, geht über die Hälfte nach Grossbritannien,
das Uebrige nach Belgien, Frankreich, Algier, nach deutschen Häfen, Dänemark
und den Niederlanden. Die ausgeführten Fassdauben stammen grossentheils aus
Oesterreich-Ungarn.
Zum Schlusse sind als Ausfuhrartikel von Danzig noch zu nennen Papier,
Cellulose und Goldleisten nach England, chemische Fabricate nach Russland,
England und Schweden.
Betrachten wir nun die Einfuhr.
Von Nahrungs- und Genussmitteln spielen die Hauptrolle schottische und
englische Häringe 1889 mit 268.860 q, 1888 mit 167.900 q.
Von amerikanischem Schmalz gingen 1889 24.494 q ein. Ferner wurden
eingeführt Wein, meist französischen Ursprungs 1889 24.494 q, Kaffee aus
Hamburg und England 1889 25.223 q, 1888 25.432 q, Reis aus Lübeck und
Bremen 1889 52.792 q, 1888 50.771 q, endlich Gewürze und Südfrüchte, dann
Fichtenharz aus Nordamerika, zum grössten Theile transito nach Russisch-Polen.
[832]Der atlantische Ocean.
Die Einfuhr von Mineralöl erfolgt meist direct aus der Union (1889 140.721 q,
1888 148.847 q), Kochsalz (1889 93.343 q), Steinkohlen und Coaks (1889 2,353.629 q,
1888 2,387.130 q) sendet Grossbritannien, die Ergänzung kommt aus Oberschlesien
bahnwärts (1889 circa 775.000 q).
Die Einfuhr von Baumwolle für russische Rechnung hat infolge der
Differentialzölle an der russischen Landgrenze nahezu aufgehört, die von englischem
Roheisen (1889 212.344 q, 1884 690.755 q) und belgischem Schmiedeisen hat sich
riesig vermindert. Von verarbeitetem Eisen und Eisenwaaren wurden 1889
132.457 q eingeführt. Auch von der Einfuhr von Baumaterialien gehört ein grosser
Theil dem Speditionshandel an. Diese sind Cement aus Stettin, Mauersteine aus
Belgien, Falzziegel aus Schweden, feuerfeste Steine aus Grossbritannien, Steine
aus Schweden und Norwegen, Theer und Pech aus Grossbritannien.
Wir fügen hier die Zufuhr von rohem Bernstein an, obwohl sie nicht
seewärts erfolgt; sie betrug 1889 59.773 q.
Die wichtigsten Industrien von Danzig und Umgebung, zugleich die Träger
eines guten Theiles der Ausfuhr sind die Mühlenindustrie, Fabriken für Oel- und
Oelkuchen, Weizenstärke, Spiritus- und Zucker-Raffinerien (Neufahrwasser),
Holzschneidemühlen, Bierbrauereien, die Fabrication von Cement, Cellulose,
Chemikalien, Bernsteinlack und Firniss, Erzeugung von Maschinen und der Bau
von Schiffen.
Der Seeschiffverkehr von Danzig-Neufahrwasser betrug:
| [...] |
Danzig selbst hatte Ende 1889 eine Marine von 44 Segelschiffen von
21.612 Reg.-Tons und 26 Schraubendampfern von 13.209 Reg.-Tons, zusammen
70 Segelschiffe von 34.821 Reg.-Tons.
Am Hafenverkehr Danzigs ist die deutsche Flagge mit mehr als der Hälfte
der Tonnenzahl betheiligt, ihr folgen die britische, dänische, schwedische, nor-
wegische und niederländische. Der stärkste Verkehr findet mit den britischen und
deutschen Häfen statt.
Der Weichselverkehr einschliesslich der Haff-Fahrt nach Elbing und Königs-
berg umfasste vom 5. April bis 6. December 1889 20.452 Schiffsgefässe und 752
Holztrafften, welche zusammen 6.8 Millionen Metercentner Waaren beförderten.
Danzig hat Bahnverbindungen nach Neufahrwasser, nach Stettin, nach
Dirschau-Marienburg-Königsberg; von Dirschau gehen Zweige nach Berlin und
Bromberg, von Marienburg die für seinen Handel wichtigste Linie über Illowo-
Mlawa nach Warschau.
Danzig ist Sitz einer Reichsbankhauptstelle.
Consulate unterhalten hier: Belgien, Dänemark, Frankreich, Grossbritannien,
Niederlande, Oesterreich-Ungarn, Russland (G.-C.), Schweden und Norwegen, Spanien,
Türkei (G.-C.), die Vereinigten Staaten von Amerika.
[[833]]
Königsberg.
Zur geschichtlichen und geistigen Bedeutung der interessanten
Königstadt am Pregel haben die Geographen auch ihre topographi-
sche Merkwürdigkeit hinzugefügt, indem sie die Universalität der
Terrainformen in und bei Königsberg hervorhoben.
Die Stadt liegt nämlich in einem mehrfach coupirten Terrain,
an einem schiffbaren Fluss, der eine nicht unbedeutende Insel bildet;
in der Nähe sind ein Küstensee, eine Flussmündung und ein Seehafen,
also genügende Elemente für eine topographische Specialität.
Königsberg, die zweite Haupt- und Residenzstadt des König-
reiches Preussen, ist eine der bedeutendsten geistigen Hochwarten
Deutschlands und der wichtigste Vorort deutschen Wesens gegen den
Osten zu.
An der 1545 dort gegründeten Universität wirkte Kant, „der
Weise von Königsberg“, den man mit Recht den geistigen Vertreter
der Stadt genannt hat, und scharfe Beobachter wollen bemerkt haben,
„dass die Deutlichkeit der Begriffe, die Klarheit der Urtheile und
die scharfe, kalte Verständigkeit“ des grossen Philosophen jedem
Königsberger mehr oder weniger angeerbt sei. In jedem Falle ist
Königsberg von grosser geistiger Bedeutung.
Die Stadt zählt einschliesslich einer Garnison von etwa 7000
Mann mehr als 150.000 Einwohner, gegen 112.000 im Jahre 1871.
Das Anwachsen ihrer Bevölkerung ist daher sehr beachtenswerth.
Seit der 1843 erfolgten Befestigung durch starke Umwallungen
und durch die spätere Hinzufügung eines Aussenforts ist Königsberg
zu einem Waffenplatze ersten Ranges geworden. Der Pregel durch-
fliesst, wie unser Plan zeigt, die Stadt in nahezu Ost-Westrichtung,
nachdem sich die beiden Wasserarme des neuen und alten Pregel
im Weichbilde vereinigen und die Insel Kneiphof, die einen markanten
Stadttheil bildet, umschliessen.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 105
[834]Der atlantische Ocean.
Der nördlich liegende weit gedehnte prächtige Schlossteich von
mehr als einem Kilometer Länge tritt mit dem Pregel als eine natür-
liche Begrenzung der Stadttheile auf. Südlich vom Schlossteich,
zwischen diesem und dem nördlichem Pregelarm, liegt die Altstadt;
östlich von dieser, gleichfalls am rechten Ufer des nördlichen Pregel-
arms, der Löbenicht, während sich auf der Insel zwischen dem
südlichen und nördlichen Pregelarm der bereits erwähnte Kneiphof
ausdehnt. Diese drei Stadttheile bildeten bis zum Jahre 1724 drei
gesonderte Städte mit eigenen Verwaltungen, seitdem sind sie zu
einer Stadtgemeinde verbunden, welche im Laufe der Zeit eine grössere
Zahl von Aussengemeinden sowie die „Burgfreiheit“ in sich aufge-
nommen hat.
Königsberg verdankt seine Gründung vornehmlich militärischen Rück-
sichten, und war es König Ottokar von Böhmen, welcher den Anstoss hiezu ge-
geben hat. Ursprünglich eine vorgeschobene Feste des deutschen Ordens, wurde
die Stadt zu Ehren Ottokars 1255 Königsberg (poln. Krolewiez) genannt. Um
jene Zeit war bereits die jetzige Altstadt entstanden, 1300 wurde der Stadttheil
Löbenicht und 1324 der Kneiphof gegründet.
Im XV. Jahrhundert trat Königsberg, nachdem die feste Marienburg des
deutschen Ordens 1457 gefallen war, als Sitz des Hochmeisters in die Stellung
derselben und wurde für kurze Zeit der Centralpunkt dieses Ordens. Unterdessen
der Hansa beigetreten, war Königsberg zu einem wichtigen Handelsplatz auf-
geblüht.
In der Folge wurde die Stadt von 1525 bis 1618 die Residenz der Herzoge
von Preussen; allein auch nach dieser Periode, als Königsberg wieder in die
Stellung einer Provinzialhauptstadt zurückgetreten war, blieb es als Handels-
platz von Bedeutung.
Eine der wichtigsten Episoden aus der Geschichte Preussens ist mit der
Stadt enge verknüpft, denn hier setzte sich der erste Preussenkönig, der Kurfürst
Friedrich III. von Brandenburg, dem nur für seinen ausserdeutschen Besitz die
Königswürde gestattet war, am 18. Jänner 1701, die Königskrone auf; König
Wilhelm wiederholte im Jahre 1861 die Selbstkrönung.
Zu Königsberg war es auch, wo nach den furchtbaren Niederlagen des
Jahres 1806 am bescheidenen Hofe Friedrich Wilhelm’s III. die Gedanken, Pläne
und Thaten für die Wiedergeburt Preussens und Deutschlands keimten. Männer
wie York, Stein, Scharnhorst, W. v. Humboldt waren die Träger derselben ge-
wesen. So wurde Königsberg zur ruhmvollen Stätte, auf welcher zur Zeit des
Befreiungskrieges 1813 der Funke vaterländischer Begeisterung verbreitete Nah-
rung fand und zu hellen Flammen aufloderte.
Die bereits hervorgehobene geistige Bedeutung der Stadt ist durch die
Namen Kant, Herder, Hamann u. A. glänzend dargethan.
Die verschiedenen Stadttheile tragen den Charakter ihrer Bau-
zeit an sich. In den alten Stadttheilen, namentlich in der Altstadt
und im Löbenicht, herrschen enge Gassen mit hohen Giebelhäusern
[835]Königsberg.
vor, auch im Kneiphof sind die Strassen enge, doch hat die Haupt-
strasse desselben, die Kneiphöf’sche Langgasse, eine ansehnliche Breite
und gewährt mit ihren aus den früheren Jahrhunderten stammenden
Patrizierhäusern einen malerischen Anblick. In ihrer Verlängerung liegt
der aus der „vorderen Vorstadt“ und „hinteren Vorstadt“ mit der Kronen-
strasse bestehende breite Strassenzug, der mit der Kneiphöf’schen
Langgasse und der Kantstrasse eine Länge von 1½ km hat und die
stattlichste Strasse der Unterstadt bildet. Das Südende desselben wird
durch die Thurmsilhouette der Halerberger Kirche, das Nordende
durch den malerischen, in gothischen Formen erbauten Schlossthurm
abgeschlossen. In der Oberstadt, welche durchschnittlich 16 m über
der Unterstadt liegt, bilden der Steindamm und die über 1 km lange
Königsstrasse die hervorragendsten Strassenzüge.
Das äusserlich wenig bedeutende königliche Schloss bildet
sowohl den Centralpunkt der Stadt, wie es auch in historischer Be-
ziehung das hervorragendste Bauwerk derselben ist. Das massige
Gebäude war die Ordensburg der deutschen Ritter und entstammt
verschiedenen Bauperioden. Der Bau wurde 1255 von den deutschen
Ordensrittern mit der Nordfront begonnen und schloss sich durch
Zubauten im XVI. und XVIII. Jahrhundert zu dem grossen Viereck
seiner heutigen Form. Der schon oben erwähnte imposante gothische
Thurm hat 77 m Höhe und befindet sich an der Südfront des Ge-
bäudes.
An der Westseite liegt die Schlosskirche, in welcher die Krö-
nungen der preussischen Könige stattfanden, und über derselben der
grosse Moskowitersaal, welcher Zeuge von prunkvollen Hoffestlich-
keiten war.
Gegenwärtig wird noch eine Reihe königlicher Gemächer unter-
halten, sonst aber dienen die Räumlichkeiten des Schlosses ver-
schiedenen Verwaltungs- und Gerichtsbehörden der Provinz.
Vor der östlichen Schlossfront auf dem Schlossplatze erhebt
sich das von Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1801 errichtete lebens-
grosse Standbild Friedrichs I.
In der nächsten Nähe des Schlosses, und zwar in der nord-
westlich desselben gelegenen Prinzessinstrasse wohnte in einem be-
scheidenen Hause der geniale Kant. Eine Inschrift besagt, dass
Immanuel Kant hier von 1793 bis 1. Februar 1804 wohnte und
lebte. Der Erinnerung an den grossen Philosophen ist auch das 1864
errichtete Kant-Denkmal im Königsgarten gewidmet, welcher mit dem
anstossenden Paradeplatze einer der Glanzpunkte der Stadt ist. Dort
105*
[836]Der atlantische Ocean.
erhebt sich vor der Front der Universität das 1851 enthüllte, mit
prächtigen Reliefbildern gezierte Reiterstandbild Friedrich Wilhelm III.,
von Kiss modellirt.
Das 1862 vollendete Universitätsgebäude zählt zu den schönsten
Bauten der Stadt. Den Renaissancebau zieren Reliefbilder, Statuen
und Medaillons, welche an Herzog Albrecht von Preussen, den Stifter
der Hochschule, an Luther und Melanchthon und an berühmte Lehrer
der Universität erinnern.
Die Nordostseite desselben Platzes wird von dem städtischen
Theater eingenommen, einem der wenigen Theater, welche, obschon
seit mehr als 80 Jahren in fortwährender Benützung, bisher von Brand-
unglück verschont geblieben sind.
Höchst anmuthige Partien ziehen sich beiderseits des etwa
13 ha Fläche umfassenden Schlossteiches hin, den die Schlossteich-
brücke malerisch übersetzt. Die Parkanlagen und Gärten sind eine
Zierde der Stadt.
Der Schlossteich, 12 m über dem Pregel gelegen, wird aus dem
um 10 m höher gelegenen Oberteich gespeist.
Eine der elegantesten Strassen von Königsberg ist die vorne
erwähnte Königsstrasse, in welcher die Malerakademie mit dem
städtischen Museum und weiter östlich des letzteren die 220.000
Bände und interessante Handschriften, namentlich solche Luther’s, um-
fassende königliche und Universitätsbibliothek sich befinden.
Vor dem Museum erhebt sich seit 1843 das Denkmal des
Staatsministers v. Schön, eine schön gedachte hohe Spitzsäule.
Das schöne Königsthor mit den Standbildern König Ottokar’s
von Böhmen, Herzog Albrecht’s von Preussen und König Friedrich I.
bildet den künstlerischen Abschluss der imposanten Strasse. Am
rechten Pregelufer liegen innerhalb der westlichen Befestigungswerke
nächst dem Ausfallthore der mit dem Kriegerdenkmal gezierte Volks-
garten, der botanische Garten, die von Bessel eingerichtete Stern-
warte, das zoologische Museum und das chemische Laboratorium der
Universität. Zu erwähnen wären noch das nächst dem Heumarkt er-
baute Gebäude der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft mit sehens-
werthen Sammlungen, ferner das an der Mitteltragheimstrasse 1882
im italienischen Renaissancestyl aufgeführte grosse Regierungsgebäude,
welches die Büsten Herzog Albrecht’s I. und Kaiser Wilhelm’s I.
zieren, sowie die in Vollendung befindliche elektrische Centrale, welche
im Mittelpunkt der Stadt in der Nähe des königlichen Schlosses ge-
[837]Königsberg.
legen, im Stande ist, elektrischen Strom für die Bespeisung von
10.000 Glühlampen zu liefern.
In der Nähe des mit dem Standbilde Friedrich Wilhelm’s IV.
geschmückten Steindammerthores erhebt sich das neue physikalische
Institut. Von historischem Interesse ist die ausserhalb desselben
Thores gelegene „die Hufen“ genannte hübsche Promenade; denn
hier bewohnte die Königin Louise mit ihren Kindern, darunter Prinz
Wilhelm, der nachmalige Kaiser, während der napoleonischen Herr-
schaft ein Landhaus. Gegenüber dem letzteren erinnert am Ende der
Hufen im sogenannten Louisenwahlparke die in einer Halbrotunde
Königsberg.
angebrachte Medaillonbüste der Königin Louise an die hochherzige
Fürstin.
Einer Stadt für sich gleichend und ebenso interessant wie die
Stadttheile, welche wir bisher durchwanderten, ist die Insel Kneip-
hof, zu welcher fünf Brücken führen, die sämmtlich bewegliche
Oeffnungen haben, um die See- und Flussschiffe durchlassen zu
können. Zwei dieser Brücken (die Honig- und die Köttelbrücke) sind
aus Stein und Eisen erbaut und insofern bemerkenswerth, als ihre
Bewegung auf hydraulischem Wege in wenigen Secunden erfolgt.
Auf dem Kneiphof steht der ehrwürdige gothische Bau der Dom-
kirche, welcher, 1333 begonnen, bis in die Mitte des XVI. Jahr-
[838]Der atlantische Ocean.
hunderts weitergeführt wurde; doch ist von den beiden Westthürmen
nur einer mit 57 m Höhe vollendet. Der Dom enthält sehenswerthe
Alterthümer und viele Grabdenkmäler, darunter das durch seine Grösse
ausgezeichnete des 1588 verstorbenen Herzogs Albrecht I. von Preussen.
In der Gruft ruhen die irdischen Ueberreste des Weisen von
Königsberg; die Marmorbüste Kant’s und die hehren Worte der In-
schrift: „Der bestirnte Himmel über mir, das moralische Gesetz in
mir“ und dessen Werke „Kritik der praktischen Vernunft“ erfüllen
den Raum oberhalb der Gruft mit besonderer Weihe.
Oestlich des Domes liegt am alten Pregel das alte Universitäts-
gebäude, worin gegenwärtig die Stadtbibliothek untergebracht ist.
Am linken Pregelufer zieht zwischen der Grünen- und der
Köttelbrücke das 1875 vollendete Gebäude der Börse die Aufmerk-
samkeit auf sich. Der stattliche, im Style der italienischen Renaissance
von dem Bremer Architekten Müller errichtete, in Sandstein ausge-
führte und mit allegorischen Figuren geschmückte Bau hat die Haupt-
front gegen Westen gerichtet.
Der Pregel ist wegen seiner erheblichen Tiefe (5 ‒ 6 m oberhalb
— östlich — der Stadt, innerhalb der Stadt und unterhalb derselben
bis zu 10 m) sowohl für den Verkehr von Flussfahrzeugen wie von
Seeschiffen geeignet; doch herrscht oberhalb der Stadt der Verkehr
mit Flussschiffen und Holzflössen vor. Innerhalb der Stadt gewinnt
der Verkehr der von Pillau kommenden Seeschiffe die Oberhand.
Dieselben können freilich wegen der Seichtigkeit des Frischen Haffs
nur mit etwa 4 m Tauchtiefe in Königsberg ein- und auslaufen;
tiefergehende Schiffe müssen demnach zur Fahrt von Königsberg nach
Pillau und umgekehrt entsprechend leichtern. So lange nicht die
Schiffahrt auf dem Haff durch Eis geschlossen ist — und dies ist
infolge des seit einigen Jahren thätigen Eisbrechers nur auf wenige
strenge Wintermonate beschränkt — kommen alle im Vorhafen
Pillau seewärts einlaufenden Schiffe mit wenigen Ausnahmen nach
Königsberg, weil trotz der durch die Leichterung entstehenden Kosten
der Transport der Waare auf dem Wasserwege von Pillau durch das
Haff nach Königsberg und umgekehrt sich billiger stellt als auf dem
Bahnwege, und weil auch in Pillau infolge räumlicher Beschränkung
die Errichtung ausreichender Handelsanlagen nicht möglich ist. Während
des Schlusses der Schiffahrt ist der Seeverkehr auf den Vorhafen
Pillau beschränkt, der während des ganzen Winters eisfrei gehalten
wird. Mit Schiffahrtsanlagen ist Pillau, wie unser Plan zeigt, aus-
reichend ausgestattet.
[839]Königsberg.
Der Pregel ergiesst sich 8·6 km unterhalb Königsberg in das
Frische Haff, welches im nordöstlichen Theil den einzigen Ausfluss
bei Pillau besitzt. Dort ist dann an der Ostseite die durch starke
Befestigungen geschützte Hafenstadt entstanden.
Lange Molen schützen die etwa 480 m breite und etwa 7 m tiefe
Haffmündung, „das Königstief“, von welcher aus der unter 54° 39′
nördl. B. und 19° 54′ östl. L. v. Gr. gelegene Hafen ostwärts abzweigt.
Am Quai des durch den Verbindungsbahndamm gegen alle
Winde wohlgeschützten Hinterhafens sind die ausgedehnten Bahnhof-
anlagen, welche mit Königsberg in Verbindung stehen.
Der Handel von Königsberg ist nach der geographischen Lage der Stadt
mehr auf das grosse russische als auf das recht schmale deutsche Hinterland
angewiesen.
Gerade darum mussten die Eisenbahntarif- und Zollmassregeln, die Russland
in den letzten Jahren im Interesse seiner eigenen Häfen an der Ostsee und am
Schwarzen Meere getroffen hat, den ganzen Transitohandel von Königsberg so
schwer schädigen.
Die schiffbaren Binnengewässer, die nach Königsberg führen, und beson-
ders die sehr wichtige Wasserstrasse von Königsberg über die Deime, den Fried-
richsgraben, die Nebencanäle, die Gilge und die Memel nach Russland ist
trotz Verbesserungen in den letzten Jahren wegen ihrer nicht hinreichenden und
gleichmässigen Tiefe nicht in der Lage, ihre Aufgabe voll zu erfüllen.
Noch schwerer aber wiegt der Umstand, dass das Frische Haff zu seicht
ist und grössere Schiffe zur Fahrt durch dasselbe leichtern müssen. Die Herstellung
des „Königsberg er Seecanals“, d. i. einer Fahrrinne von einstweilen 5 m Tiefe
zwischen Pillau und Königsberg ist im Zuge, doch ist eine weitere Vertiefung
derselben auf 5½ m unabweislich und auch wahrscheinlich.
Mit der Vollendung dieses Werkes ist wenigstens der Grund zu einem
neuen Aufschwunge und Emporblühen des Königsberger Handels gelegt, der ohne-
dies immer darunter leidet, dass trotz Eisbrecher die Schiffahrt von Königsberg
nach dem stets eisfreien Pillau einen Theil des Winters über gesperrt ist, wo
dann die Frachten sich der Eisenbahn bedienen müssen.
Bei dem Mangel einer ausgedehnten Industrie bildet die Landwirtschaft
den Haupterwerbszweig der Provinz Ostpreussen und der Handel mit Erzeugnissen
der Landwirtschaft dieser Provinz und Russlands den hauptsächlichsten Geschäfts-
zweig Königsbergs, und daraus folgt, dass der Seehandel des Platzes über-
wiegend Ausfuhrhandel ist.
Getreide ist der Haupthandelsartikel von Königsberg und gibt weiten
Schichten der Bevölkerung Erwerb. Von Getreide, Kleien, Saaten und
Sämereien wurden 1889 3,503.020 q, 1888 6,076.560 q zum grössten Theile aus
Russland zugeführt und seewärts 1889 3,348.470 q, 1888 5,852.270 q verschifft.
Es wurden ausgeführt Weizen 1889 1,767.100 q (Werth 31 Millionen
Mark), 1888 2,114.700 q, hauptsächlich nach Grossbritannien und Holland, Roggen
1889 457.880 q, 1888 1,596.450 q nach Schweden und deutschen Häfen, Hafer
1889 156.080 q, 1888 729.000 q nach Grossbritannien, deutschen Häfen, ebendahin
und nach Dänemark und Belgien Gerste 1889 273.890 q, 1888 445.210 q, Erbsen
[840]Der atlantische Ocean.
1889 179.260 q, 1888 358.370 q nach deutschen Häfen, Grossbritannien und
Frankreich, ferner Bohnen (1889 47.800 q) und Wicken.
Die Ausfuhr von Saaten erreichte bei Hanfsaat 1889 38.230, 1888
66.650. q, bei Leinsaat 1889 116.410 q, bei Rüben und Raps 1889 32.230 q,
bei Kleesaat u. A. 1889 58.990 q, 1888 131.570 q; die Hauptabnehmer sind Frank-
reich, Grossbritannien und die Niederlande.
Von Mehl wurden 1889 58.806 q seewärts versendet.
Königsberg ist für den Export von russischem Hanf tonangebend; es
exportirte 1889 den grössten Theil der Ankünfte zur See, 1888 zu Lande. Aus-
fuhr zur See 1889 264.100 q (Werth 15·8 Millionen Mark), 1888 75.450 q.
Flachs führte Königsberg 1889 26.560 q zur See, 335.400 q zu Lande,
1888 190.120 q zur See, 277.540 q zu Lande aus, Heede zur See 1889 33.644 q.
Der dritte wichtige Artikel der Ausfuhr zur See sind Holz und Holz-
waaren nach Kiel, Grossbritannien und Frankreich, Fassdauben nur nach
Frankreich, 1889 281.482 Festmeter und 3726 q (Werth 8·8 Millionen Mark),
1888 178.958 Festmeter und 651 q.
Von Zucker gingen 1889 108.508 q, 1888 143.041 q meist nach Gross-
britannien, von Spiritus 1889 31.194 q nach Hamburg.
Die Ausfuhr von Producten der Textilindustrie und Manufactur-
waaren zur See erreichte 1889 einen Werth von 5·2 Millionen Mark. Leinen-
garne (16.976 q) und Lumpen (891.519 q) waren der wichtigste Theil derselben.
In der Einfuhr zur See sind besonders hervorzuheben Häringe aus
Schottland, Norwegen und Schweden 1889 454.540 q, 1888 320.530 q; zur Hälfte
für Russland bestimmt.
Von Kaffee kamen meist über Rotterdam 1889 16.287 q zur Einfuhr,
Cichorien über Stettin, Reis über Lübeck und Zucker (1889 45.619 q, 1888
190.788 q).
Thee wurden zur See 1889 nur 44.420 q, 1888 55.695 q über London ein-
geführt, während die Hauptmasse dieses Grosshandelsartikels, der Specialität von
Königsberg, den Weg nach Russland direct über Odessa auf hiesige Rechnung
nimmt.
Die Einfuhr von Spiritus aus Westpreussen und Pommern betrug 1889
25.902 q, die von Wein, meist französischem Rothwein, 39.354 q, 1888 34.430 q.
Von englischen Steinkohlen und Coaks wurden 1889 1,680.083 q,
1888 1,807.521 q zugeführt, während die Zufuhr schlesischer Kohlen etwa
den zehnten Theil dieser Höhe erreicht.
Von englischem Kochsalz und portugiesischem Seesalz kamen 1889
Legende zum Plan von Königsberg.
A Hafen, B Friedrichsburg mit Zeughaus, C königl. Schloss, D Königsgarten und Paradeplatz,
E Regierungsgebäude, G medicin. Institut, H Post, J Universität, K Stadttheater, L Generalcommando,
M Rathhaus, N Landeshaus, O Bibliothek, P Malerakademie und städtisches Museum, Q Börse, R Reichs-
bank, S Sternwarte, T Kaserne, U Hospital, V Lazareth, W städtisches Krankenhaus, X Festungswerke,
Y Bad, Z Gasanstalt. — 1 Dom und alte Universität. 2 Tragheimer Kirche und Platz, 3 deutsche reform.
Kirche, 4 franz. reform. Kirche, 5 kathol. Kirche, 6 Baptist-Kirche, 7 Synagoge, 8 Gesecusplatz.
9 Münzplatz, 10 Bergplatz, 11 Jahrmarktplatz, 12 Fleischmarkt, 13 Neuer Markt, 14 Krauseneck’sche
Wallstrasse, 15 Steindamm, 16 Tragheimer Kirchenstrasse, 17 Rossgartenstrasse, 18 Königsstrasse,
19 Litthauer Wallstrasse, 20 Altstädtische Holzwiesenstrasse, 21 Vorstadtstrasse, 22 Knochenstrasse,
23 Ausfallthor, 24 Brandenburgerthor, 25 Krämerbrücke, 26 Pillauer Bahnhof, 27 Ostbahnhof, 28 Süd-
bahnhof, 29 Packhof, 30 Neurossgärtner Kirchhof, 31 polnisch. Kirchhof, 32 Altrossgärtner Kirchhof,
33 Volksgarten, 34 botan. Garten und chem. Laboratorium.
[[841]]
Legende zum Plan von Pillau.
A Zufahrt. A1 Nordermole, A2 Südermole, B Hafen, C Graben, D neuer Lootsenhafen, E Petroleum-
hafen, F Leuchtfeuer, G project. Holzhafen, H Vorhafendamm. J russischer Damm, K Kielgraben,
L Schiffsbauplatz, M Bahnhof, N Chaussée nach Königsberg, O Exercirplatz, P neues Inspections-
gebäude, Q Navigationsschule, R Damenbad, S Moderbank, T Jagdrayon, U Terrain der Hafenbau-
verwaltung, V Fortificationsterrain, ○ Baaken.
(Legende von Königsberg siehe Seite 836.)
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 106
[842]Der atlantische Ocean.
78.377 q an, von Petroleum aus Amerika 128.120 q, von Soda, Pottasche u. a.
27.850 q, von Droguen, Apotheker- und Farbwaaren 10.225 q, von Oelen
aller Art, auch Terpentin 29.853 q.
Die Einfuhr von Eisen aller Art findet besonders von Rheinland und
Westfalen zum grossen Theil über Lübeck, Hamburg und Altona statt, Roheisen
wird in den grösseren Eisengiessereien Königsbergs selbst verarbeitet, andere
Gattungen kommen auf dem Bahnwege nach Südrussland zur Wiederausfuhr;
Einfuhr 1889 98.793 q, 1888 151.952 q.
Von bearbeiteten feineren Eisenwaaren sind vor Allem Eisenbahnrequi-
siten zu nennen, wie Federn, Achsen etc., die in den grossen Waggonfabriken
der Ostbahn und einiger grösserer Actiengesellschaften verbraucht werden. Die
Einfuhr von Metallen, Maschinen und Instrumenten zur See betrug 1889
193.136 q (Werth 5·7 Millionen Mark), 1888 246.808 q.
Von Baumaterialien ist die Einfuhr von Cement und Gyps, ferner
die von Ziegeln und Steinen aus Schweden zu nennen.
Von sonstigen Waaren sind noch zu nennen Baumwollgarne (1889
7966 q, 1888 14.447 q), Baumwollwaaren (1889 14.886 q, 1888 12.974 q),
Leinwand und Packleinwand (1889 6545 q, 1888 8260 q), amerikanisches
Sohlenleder und Papier, Papierwaaren, Bücher (1889 22.188 q).
Der Handel von Königsberg betrug:
| [...] |
Die Industrie von Königsberg ist bedeutend, namentlich nach ostpreussi-
schen Begriffen, sie weist Etablissements für Eisenguss, Schiffbau, Waggons und
Maschinen, Holzschneide-, Oel- und Mehlmühlen, Spiritusraffinerien, Fabriken für
Cigarren und Tabak, für Zündhölzer, Reisstärke, Knochenmehl und Wollwäsche-
reien auf.
Auf der Frischen Nehrung wird bei Palmnicken und Kraxtepellen Bern-
stein bergmännisch gewonnen, bei Schwarzort gebaggert.
Der Schiffsverkehr von Pillau betrug:
| [...] |
Den Hauptantheil an dem Verkehre hat die deutsche Marine (1889
1·3 Millionen m3), dann folgen die englische, dänische, die norwegische, die
schwedische, die holländische, die belgische Flagge.
Der Seeverkehr geht zumeist nach Deutschland (Stettin), Grossbritannien
und Schweden und Norwegen, minder wichtig sind Frankreich, die Niederlande,
Russland und Dänemark.
Der Schiffsverkehr von Königsberg erreichte 1889 3587 Schiffe mit
2,303.223 m3, 1888 3906 Schiffe mit 2,784.872 m3, immer ohne die Schiffe, welche
in Pillau ihre ganze Ladung gelöscht hatten.
[843]Königsberg.
Königsberg ist Ausgangspunkt von Eisenbahnlinien nach Pillau, nach
Dirschau-Berlin, nach Postken-Bialystok und nach Eydtkuhnen-Wirballen-Petersburg,
sowie zweier Linien von localer Bedeutung.
Königsberg ist Sitz einer Reichsbankhauptstelle.
Consulate unterhalten hier: Belgien, Dänemark, Griechenland, Grossbri-
tannien, Italien, Niederlande, Oesterreich-Ungarn, Russland, Schweden und Norwegen.
Memel, am Eingange ins Kurische Haff gelegen, in das von
Osten her aus Russland die für Dampfer fahrbare Memel oder Niemen
einfliesst, ist die nordöstlichste Eisenbahnstation des Deutschen Reiches.
Die Stadt zählt 18.700 Einwohner und verfügt über einen ge-
räumigen Hafen mit einer 5·7 m tiefen Einfahrt. Mehrfache und gute
Quaianlagen sowie ein geschützter Winterhafen sind vorhanden. Von
Bedeutung sind die Bauholzbassins nächst der alten Citadelle, welche
den Hafen beherrschte. Das Flüsschen Dange durchschneidet die
Stadt und sondert die südlich gelegene Altstadt von der Neustadt.
Der Hafen hat 7 bis 8·7 m Tiefe und ist zugleich die einzige
Ausmündung des Kurischen Haffs. Durch Dämme wurde die äusserste
Mündung regulirt.
Durch seine [Wasserverbindung] ist Memel ein wichtiger Handelsplatz ge-
worden, dessen Verkehr 1888 seewärts in der Ausfuhr 3,064.626 q, in der Einfuhr
1,009.751 q umfasste.
Das Aufblühen von Königsberg und noch mehr das von Libau haben
Memels Handel gedrückt, das Holz, Getreide, Leinsaat und Flachs ausführt,
Heringe, Salz und Steinkohlen einführt.
Der Seeschiffsverkehr betrug 1888 2022 Schiffe mit 520.816 Reg.-
Tons, davon 862 Dampfer mit 346.284 Reg.-Tons.
Memel hat regelmässige Dampfschiffsverbindung nach Stettin, Königsberg
und Tilsit.
Besonders stark ist der Seeverkehr mit Grossbritannien, Pommern, Däne-
mark und Schweden.
106*
[[844]]
Libau.
Auf einer schmalen sandigen Nehrung zwischen der Ostsee und
der sogenannten Kleinen See liegt zu beiden Seiten des Seeabflusses
die wichtigste Handelsstadt Kurlands, Libau. Die Bedeutung dieser
Stadt als Handelsplatzes ist neuesten Datums, obwohl dieselbe schon
im XIV. Jahrhundert als Hafen in Urkunden erwähnt wird. Den
grossen Aufschwung, der sie zu einem bedeutenden Exporthafen in
Getreide und Mehl machte, hat sie nämlich erst durch ihre Hafen-
bauten und durch die Herstellung von Eisenbahnverbindungen einer-
seits mit Polen und dem Inneren des Reiches, andererseits mit Peters-
burg und den nördlichen Gouvernements und durch die protectio-
nistische russische Politik genommen. Dadurch hat sich Libau ins-
besondere auf Kosten Königsbergs entwickelt.
Die Stadt zählt 27.000 Einwohner und zeigt in ihren Bauten
deutlich den raschen Uebergang, der sich seit wenigen Jahren in
ihrer wirthschaftlichen Bedeutung vollzieht. Es überwiegen zwar noch
die alten einstöckigen Holzhäuser, meist sauber und freundlich; aber
zwischen ihnen erheben sich bereits grosse, schöne Neubauten, welche
der Stadt einen durchaus modernen Charakter verleihen.
Im Norden der anspruchslosen Stadt dehnt sich eine endlose,
kahle, sandige Ebene aus, das „Kurische Sibirien“. Interessanter als
durch die Scenerie ist das Land durch seine Bewohner, welche, so
lange vom Weltverkehre abgeschlossen, noch zum grössten Theile
die Sitten und Gebräuche einer längst verflossenen Zeit beibehalten
haben.
Der beste Beweis für den Aufschwung Libaus ist wohl die
Thatsache, dass die Stadt heute der Sitz einer Navigationsschule,
eines Realgymnasiums, einer Stadtbank, Commerzbank und einer
Filiale der Reichsbank ist.
Die Stadt zeichnet sich ausserdem durch mehrere gut geleitete
Wohlthätigkeitsanstalten aus. Auch die Industrie beginnt sich zu
[845]Libau.
entwickeln, und bestehen hier unter anderen eine chemische Fabrik
und eine Dampfsäge.
Libau ist ausserdem als Seebad bekannt; zwischen der Stadt und
dem Meeresstrande befinden sich zahlreiche Villen, die im Sommer
von Curgästen bewohnt werden. Das Klima ist nämlich in Libau
(56° 31′ nördl. Br. und 20° 59′ östl. L. v. Gr.) bedeutend milder als
in den anderen russischen Ostseestädten, wo das Eis um drei Wochen
später schmilzt als in Libau. Einen bedeutenden Erwerbszweig der
Bewohner bildet seit alter Zeit der Fischfang.
Libau.
Libau wurde 1560 preussisch und kam 1609 an Kurland; mit diesem wurde
es 1795 nach einem Aufstande des Adels, der den Herzog Peter Biron zum Rück-
tritt zwang, russisch und wieder mit Esthland und Livland, wie unter der Herr-
schaft der Ordensritter, vereinigt.
Der Ausfluss des kleinen Sees in das Meer wurde durch Ufer-
bauten und Regulirungen zum Seehafen von Libau umgestaltet. Der-
selbe bildet einen 1·6 km langen und etwa 100 m breiten Canal mit
durchschnittlich 5·3 m Wassertiefe (an der Stadtfront 5·7 m). Gegen
die See sind zwei Wellenbrecher geführt und durch Leuchtfeuer
markirt. Es besteht das Project, durch grosse Wellenbrecher einen
[846]Der atlantische Ocean.
Vorhafen zu schaffen, wie wir es auf unserem Plane angedeutet haben.
Ein 32 m hoher Leuchtthurm bezeichnet am Südufer die Position,
sein Licht ist auf 22 km sichtbar. Nächst der Mündung des Hafens
wurde ein geräumiges Bassin als Winterhafen angelegt. Im Osten
wird der Hafen von Libau durch die neue Stadtbrücke abgegrenzt,
und 400 m aufwärts dieser überquert die Eisenbahnbrücke den Fluss-
lauf. Die ausgedehnten Bahnhofsanlagen gruppiren sich um den
Stadtpark des nördlichen Stadttheiles; doch hat auch der südliche
einen Bahnhof.
Unter den Ostseehäfen wird Libau nach St. Petersburg am
meisten begünstigt, und sein Handel breitet sich auf Kosten von Riga
und Königsberg aus. Es hat günstige Eisenbahntarife, ausreichende
Getreidespeicher, mit Elevatoren und anderen mechanischen Vorrich-
tungen ausgerüstet, und sein Hafen und Seecanal ist für kleinere
Seeschiffe genügend tief ausgebaggert.
All diese Sorgfalt erklärt sich daraus, dass der Hafen und das
Meer in der Regel das ganze Jahr hindurch eisfrei und für Dampfer
zugänglich sind, während oft alle übrigen Ostseehäfen durch Eis
blockirt werden.
Aus diesem Grunde droht auch dem Hafen die Gefahr, wie
Sebastopol am Schwarzen Meere, zu einem Kriegshafen erhoben zu
werden; den Handelshafen Kurlands soll das nördlich gelegene
Windau erhalten, das bereits auch an das russische Eisenbahnnetz
angeschlossen ist.
Den Haupttheil der Ausfuhr, welche die Einfuhr weit übertrifft, bilden
Erzeugnisse des Ackerbaues.
An der Spitze steht Getreide.
| [...] |
Als Ersatz für die Verringerung der Ausfuhr von Roggenmehl ins Ausland
stieg die in das russische Reich und nach Finnland: 1889 65.520 q, 1888 35.381 q.
Die ausgeführte Kleie (1889 214.250 q) stammte 1889 schon zu drei
Fünfteln aus dem Innern von Russland.
Es wurden ausgeführt Hülsenfrüchte 1889 506.100, 1888 564.900 hl,
Oelsamen 1889 772.800 hl, 1888 850.500 hl, Oelkuchen 1889 253.235 q, 1888
257.494 q.
Die Ausfuhr von Flachs (1889 259.950 q, 1888 196.232 q) und Hanf
(1889 28.665 q) hat für Libau noch grösstentheils den Charakter der Spedition.
Die Ausfuhr von Spiritus ist seit 1886, wo sie 169.000 hl erreichte, bis
1889 auf 71.460 hl gesunken, die von Petroleum (1889 178.890 q, 1888 351.679 q)
geht ebenfalls zurück.
[847]Libau.
Seit 1885 steigert sich beständig die Ausfuhr von Nutzholz (1889 808.000,
1885 269.000 Cubikfuss), die von Sleepers (1889 38.000 Stück) sinkt, auch die
von Eiern ist 1889 (15½ Millionen Stück) gegen 1888 (18¾ Millionen Stück)
etwas zurückgegangen. Nur Wild und Geflügel wird seit Jahren in immer
steigenden Mengen (1889 11.957 q) ins Ausland versendet.
Von Industrieartikeln kommen nur Matten zur Ausfuhr, 1889 247.000
Stück, 1888 832.000 Stück.
Das Steigen des Rubelcourses seit 1888 und die Erhebung des Libau’schen
Zollamtes zu einem Haupt- und Lagerzollamt ist Ursache, dass die Einfuhr Libaus,
A Projectirte Rhede, B nördl. Molo, B1 südl. Molo, C projectirter nördl. Molo, C1 projectirte Ver-
längerung des südl. Molo, D Winterhafen, E Hafen, F Leuchtfeuer, G der See, H projectirte Hafen-
anlagen, J projectirte Eisenbahnanlage, K Personenbahnhof, L Friedhöfe, M Stadtpark, N Güterbahn-
hof, O Chaussée, P Alexanderstrasse, Q Suworowstrasse, R Bahnhofstrasse, S Pavillonstrasse, T Michael-
strasse, U die Reeperbahn.
die 1887 auf 10 Millionen Rubel herabgesunken war, sich 1889 auf 27¾ Millionen
Rubel steigerte.
Die Entwicklung der örtlichen Industrie verursacht ein beständiges Steigen
der Einfuhr von Steinkohle und Coaks aus Grossbritannien: 1889 787.570 q,
1888 596.363 q.
Die hohen Zölle haben 1888 die Einfuhr von Gusseisen auf 17.854 q,
die von Eisen auf 20.803 q herabgedrückt. Mit dem steigenden Rubelcourse er-
reichte 1889 die Einfuhr von Gusseisen 123.014 q, die von Eisen 42.097 q. Ausser-
dem wurden 1889 eingeführt 27.033 q Eisen in Platten, 20.650 q Maschinen.
Nur ganz allmälig vergrössert sich die Einfuhr von Düngestoffen, insbeson-
dere von Superphosphat: 1889 110.401 q.
[848]Der atlantische Ocean.
Die Einfuhr von Kopra erreichte 1889 29.255 q, 1888 22.604 q, die
von Wein 1889 1190 q und 17.714 Flaschen, die von Farbholz sank von
73.710 q in den Jahren 1886 und 1887 auf 53.490 q im Jahre 1889; das
Korkholz (1889 9926 q) verbraucht die hiesige Korkfabrik.
Dass die Einfuhr von Baumwolle von 170.680 q im Jahre 1888 auf
224.242 q im Jahre 1889 stieg, verdankt Libau dem Umstande, dass der Haupt-
einfuhrhafen Reval 1889 zugefroren war.
Trotz der Zölle entwickelte sich die Einfuhr von Häringen bis weit ins
russische Reich hinein: 1889 164.947 t, 1888 109.678 t.
Die wichtigsten Artikel der einheimischen Einfuhr sind Salz aus der Krim
(1889 118.652 q) und Ziegel.
Der Seehandel Libaus mit dem Auslande betrug:
| [...] |
Ausserdem wurden 1889 um 2¼ Millionen Rubel Transitwaaren eingeführt,
und die einheimische Einfuhr und Ausfuhr wird auf 3½ Millionen Rubel geschätzt,
so dass der Libauische Seehandel 1889 einen Gesammtumsatz von 90 Millionen Rubel
zeigt. Es muss bemerkt werden, dass 1888 und 1889 für den Handel sehr günstige
Jahre waren.
Libau hat den Hauptverkehr mit Grossbritannien, das 1889 zwei Fünftel
der Ausfuhr aufnahm und mehr als die Hälfte der Einfuhr lieferte. Im Jahre 1880
war Englands Verkehr mit Libau erst etwa halb so gross wie der Deutschlands, heute
ist das Verhältniss umgekehrt. Auf diese beiden Staaten folgen in der Ausfuhr der
Reihe nach Belgien, Frankreich, Dänemark, die Niederlande, Schweden und Nor-
wegen, in der Einfuhr Belgien, Schweden, Dänemark, die Niederlande und Frank-
reich, doch muss bemerkt werden, dass ein grosser Theil des Handels von Libau
mit den Niederlanden thatsächlich auf die Rechnung der Rheingegenden Deutsch-
lands gehört.
Leider ist Libau noch immer nur ein Speditions- und kein Handelsplatz.
Dafür blüht die Fabriksthätigkeit des Ortes auf.
Der Schiffsverkehr von Libau umfasste:
| [...] |
Den grössten Antheil an diesem Verkehre hat die deutsche Flagge (1889)
mit weit mehr als einem Drittel der Tonnenzahl; an sie reihen sich die britische,
die dänische und die schwedische Flagge, in minder guten Ausfuhrjahren kommt
ihr die russische in der Tonnenzahl ziemlich nahe, sonst steht sie weit hinter ihr
zurück. Eine regelmässige Dampfschiffverbindung besteht mit Lübeck.
Für Libau ist die wichtigste Eisenbahnlinie (Libau-Romny) die über Wilna
und Minsk nach Krementschug am Dnjepr, deren Anschlüsse die Verbindung
nach Königsberg, Warschau, Moskau und Petersburg vermitteln.
Libau ist Landungsstelle des wichtigsten Ostseekabels der Great Northern
Telegraph Cy. aus Kopenhagen.
In Libau besteht eine Börse.
Hier haben Consulate: Belgien, Dänemark, Deutsches Reich, Grossbri-
tannien (V.-C.), Niederlande, Oesterreich-Ungarn.
[[849]]
Riga.
Ausgedehnte Heideflächen ziehen sich an beiden Ufern der
Düna (Dvina) nahe ihrer Mündung hin, nur unterbrochen durch
Sandhügel und Sümpfe und kleine Anpflanzungen, die dem öden
Charakter der Gegend nur wenig Reiz zu verleihen vermögen. In
dieser eintönig trostlosen Gegend, die durch die Kunst der Menschen
bisher nur mit geringem Erfolge zu verschönern versucht wurde,
liegt Riga, die nach St. Petersburg bedeutendste russische Handels-
stadt am Baltischen Meere, die Hauptstadt des Gouvernements Liv-
land. Die Stadt breitet sich 13 km von der Mündung der Dvina, die
dort etwa 600 m breit ist, an beiden Ufern des Stromes aus. An der
Mündung befindet sich unter 57° 3′ nördl. Br. und 24° 2′ östl. L.
v. Gr. die Festung und der Hafen Dünamünde; kleinere Seeschiffe
können aber bis Riga selbst gelangen. Zu den beiden Uferorten an
der Mündung, Bolderaa und Mühlgraben, führt von Riga die Eisen-
bahn. Die Düna bietet in Riga ein grossartiges Bild, dem aber leider
der innere Werth des Flusses als Schiffahrtsstrom nicht entspricht.
Trotz ihrer mächtigen Breite und ihres Wasserreichthums — sie besitzt
dort eine Tiefe von 4 bis 5 m — bereitet die Düna doch der Schiff-
fahrt grosse Schwierigkeiten. Das Eis weicht erst mehrere Wochen
später als in Libau, und der Eisgang bewirkt in jedem Jahre eine
völlige Veränderung des Flussbettes. Deshalb bedürfen die stromauf-
wärts fahrenden Frachtschiffe auf der Fahrt von Dünamünde nach
Riga eines Lootsen, und der Fluss wird jedes Jahr auf Kosten der
Regierung neu ausgelothet.
Riga war ehemals eine Festung, deren Umwallungen im Jahre
1858 geschleift wurden. Jetzt bilden prächtige Boulevards einen
breiten Ring um die alte Stadt mit ihren gothischen Bauten, ihren
engen, finsteren Gassen. Ausserhalb der Boulevards sind die drei
Vorstädte: Petersburg (nördlich und östlich der alten Stadt), Moskau
(südlich) und die Mitauervorstadt, theils auf dem linken Dünaufer,
theils auf den Dünainseln.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 107
[850]Der atlantische Ocean.
Im Jahre 1158 entdeckten durch Zufall bremische Kaufleute die Mündung
der Düna und erkannten alsbald den Productenreichthum des neuentdeckten
Landes, das ein günstiges Feld für den Fleiss der Kaufleute und den Bekehrungs-
eifer der Geistlichkeit von Bremen bot.
Der hier auf einer Insel der Düna 1186 errichtete Bischofssitz Ykeskola
musste 1199 von den Feinden durch Kreuzfahrer aus Lübeck errettet werden.
Viele blieben ihrer hier, und 1201 entstand bei jener „Riege“ (Schuppen zur
Trocknung und Lagerung des Getreides) am Strome die Stadt Riga. Die dankbare
Tochter deutscher Pflege, welche Bremen heraldisch als Mutter bekannte, bürger-
lich dagegen Lübeck zum Vorbilde nahm, wurde von Bischof Albrecht, dem
Stifter des Ordens der Schwertbrüder, im Jahre 1201 an einem jetzt vertrock-
neten Arme der Düna, Riga genannt, gegründet. Die ersten Ansiedler kamen aus
Bremen und Lübeck. Die Stadt erhielt wichtige Privilegien und Besitzungen und
erwarb sich infolge dessen bald eine hervorragende Bedeutung als Handelsplatz.
Schon im XIII. Jahrhundert schloss sich Riga der deutschen Hansa an. Im
XIV. Jahrhundert entstanden die grosse Gilde (Verein der Kaufleute) und die
kleine Gilde (Verein der Handwerkerzünfte).
Im Jahre 1237 vereinigte sich der Orden der Schwertbrüder, der seinen
Sitz in Wenden hatte, mit dem deutschen Ritterorden in Preussen, wodurch Riga
zu einer erhöhten Bedeutung gelangte, indem nun die Schwertbrüder durch einen
in Riga residirenden Landmeister (magister provincialis) geleitet wurden, der,
obwohl er dem Heermeister des deutschen Ordens unterstand, doch ziemlich selb-
ständig war. Jedoch fanden in der Folgezeit fortdauernd Streitigkeiten zwischen
den Bischöfen, dem Orden der Schwertbrüder und der Bürgerschaft statt.
Später litt Riga durch die Kriege zwischen dem Orden, den Russen, Polen
und Schweden um den Besitz des Landes sehr und musste manche Belagerung
aushalten, sah auch oft den Feind als Sieger einziehen. Im Jahre 1581 bemäch-
tigte sich Stephan Báthory der Stadt, am 15. September 1621 eroberte sie Gustav
Adolf nach langer Belagerung, und 1710 musste sie sich nach vielen Drangsalen
Peter dem Grossen ergeben. Durch den Frieden von Nystädt 1721 gelangte Riga
mit ganz Livland an Russland. Seit dem Krimkriege erfreut sich Riga eines un-
gestörten Friedens und hat sich ungemein rasch entwickelt.
Riga hat 170.000 Einwohner, wovon gegen 67.000 Deutsche,
32.000 Russen, 50.000 Letten. Sie ist unter den russischen Städten
der Einwohnerzahl nach die fünfte. Was Riga an Sehenswürdig-
keiten besitzt, befindet sich in der alten durch die Boulevards von
den Vorstädten geschiedenen inneren Stadt. Dort wohnten auch
früher die Patrizierfamilien, auch war die Bevölkerung der Alt-
stadt überwiegend deutsch, während sich in den meist aus Holz-
bauten bestehenden Vorstädten die Russen, Esthen und Letten, die
weniger Bemittelten, ansiedelten.
Die nennenswürdigen Bauten Rigas sind fast alle in der
kleinen Altstadt zusammengedrängt. Eines der ältesten Gebäude
ist das kaiserliche Schloss, welches, im gothischen Style gehalten,
1515 vollendet wurde; im XVIII. Jahrhundert gänzlich umgebaut,
[851]Riga.
ist es jetzt ein massives Gebäude mit zwei Thürmen. Früher Re-
sidenz der Ordensmeister, wird es nun vom Gouverneur bewohnt.
Auf dem Platze vor dem Schlosse, dem schönsten und grössten
der Altstadt, ist im Jahre 1817 von der Kaufmannschaft dem
siegreich aus dem Kriege gegen Napoleon I. heimkehrenden Kaiser
Alexander I. ein Denkmal errichtet worden: eine Victoria mit dem
Lorbeerkranze steht auf einer 8 m hohen Granitsäule.
Durch die grosse Schlossstrasse fortschreitend gelangen wir
an der Ecke der Jakobsstrasse zur Börse, einem mächtigen Bau im
italienischen Renaissancestyl. In der Jakobsstrasse erhebt sich im
Style des Palazzo Strozzi in Florenz das Ritterhaus, wo früher der
livländische Adel seine Versammlungen hielt. Die Wappen sämmt-
licher adeligen Familien Livlands befinden sich noch an den Wänden
des grossen Rittersaales, in dem gegenwärtig der Provinziallandtag
seine Versammlungen hält.
Von der grossen Schlossstrasse vor der Börse rechts abbiegend
gelangen wir zur Dom- oder Marienkirche, deren Bau schon 1215
nach der Gründung der Stadt begonnen wurde. Die neue Orgel in
der Kirche ist eine der grössten der Welt. An die Domkirche
grenzt der Herderplatz, in dessen Mitte eine Nachahmung der Wei-
mar’schen Herderbüste steht. In dem schönen Kreuzgange des Domes
ist die Stadtbibliothek untergebracht, die interessante Merkwürdig-
keiten aus der Geschichte Rigas, darunter auch einige Autographen
von Herder besitzt.
Nach wenigen Schritten erreicht man den Rathhausplatz, an
dessen einer Seite sich das Rathhaus, diesem gegenüber das Schwarz-
häupterhaus aus dem XIV. Jahrhundert befindet. Dieses letztere Ge-
bäude enthält mancherlei Erinnerungen aus der Zeit der Ordensherr-
schaft und ist auch durch seine altfränkische Façade interessant.
Das Haus führt seinen Namen von den Schwarzhäuptern, einer
Waffenbrüderschaft unverheirateter Bürger, die sich einst über das
ganze Land ausdehnte und die Wahrung städtischer Interessen zum
Zwecke hatte. Da ihr Schutzpatron, der heilige Mauritius, ein Mohr
war, hiessen sie Schwarzhäupter.
Vom Rathhausplatze gelangt man durch die Herrengasse auf
den Petriplatz, wo sich die älteste Kirche Rigas, die St. Petrikirche,
befindet. Der 140 m hohe Thurm soll der zweithöchste Russlands
sein. Zahlreiche Wappenschilder alter Riga’scher Familien hängen
an den Wänden der Kirche, und die Einrichtung der Sitzreihen ist
noch dieselbe wie im Mittelalter. Die Rathsherren haben ihre eigenen
107*
[852]Der atlantische Ocean.
Sitze, ebenso die Mitglieder der grossen und der kleinen Gilde, und
schwarze Statuen zeigen an, wo die Sitze für die Schwarzhäupter
stehen. Die Kirche wurde schon im Jahre 1209 erbaut.
Eines der sehenswerthesten Gebäude Rigas ist das Haus der
grossen oder St. Marien-Gilde in der Gildstubenstrasse, in gothischem
Styl. Dasselbe stammt schon aus der frühesten Zeit Rigas, ist aber
unter Beibehaltung seines alterthümlichen Charakters in den Jahren
1853—1858 umgebaut worden. Besonders hervorzuheben ist die
„Stube“ der grossen Gilde, ein gothischer Saal, dessen gewölbte
Decke von schlanken Säulen getragen wird; eine derselben trägt
eine Marienstatue mit dem Christuskind, welche die „Docke“ (hoch-
deutsch die Puppe) genannt wird. Weil der Vorsteher der Gilde bei
diesem Pfeiler seinen Platz in den Versammlungen der grossen Gilde
hat, führt er den Namen „Dockmann“. Neben dem Hause der grossen
Gilde steht das der kleinen oder Johannes-Gilde, ebenfalls im gothi-
schen Style neu erbaut, wo sich unter einem Thurmausbau an der
Frontseite eine Bildsäule des heiligen Johannes als Gegenstück zur
„Docke“ der grossen Gilde befindet.
Die Moskauer und die Petersburger Vorstadt sind reich an Park-
anlagen und Boulevards. Auf dem grossen Thronfolgerboulevard liegt
das Polytechnicum, hinter demselben der Wöhrmann’sche Park, eine
Anlage im englischen Styl. Von dort gelangt man an dem grossen
Exercirplatz, der Esplanade vorbei, wo die neue russische Kathe-
drale gebaut wird, zum Schützengarten und von diesem zum kaiser-
lichen Garten, einem schönen Park mit alten Bäumen. Peter der
Grosse pflanzte hier mit eigenen Händen eine Ulme, die jetzt mit
einem Geländer umgeben und einer Inschrift versehen ist.
In der Nähe des kaiserlichen Gartens befindet sich der Zoll-
hafen. Hier breitet sich in mächtiger Breite die Düna aus. Zwei
Brücken führen über den Strom: eine eigenthümlich construirte Floss-
brücke, welche Mittags geöffnet wird, um Schiffe durchzulassen, und
die Eisenbahnbrücke, welche in die Mitauervorstadt führt. Einen so
unbedeutenden Eindruck die unansehnlichen Häuser an den Ufern
machen, so imposant ist das lebhaft bewegte Leben auf dem Strome
selbst: Dampfschiffe kommen und gehen, grosse Segelschiffe löschen
ihre Frachten bei den Ambarren (Waarenmagazinen), und dazwischen
bewegen sich schwerfällig die Strusen, kiellose, vorne und hinten
mit einem Steuer versehene Flussbarken, wie schwimmende Hütten
aussehend.
[853]Riga.
Der Lauf der Düna wurde durch kostspielige Uferbauten,
worunter Dämme und Buhnen von grosser Ausdehnung, regulirt. Man
trachtete die Abzweigung von Wasserarmen zu verhindern und den
Fluss in einem Rinnsal einzuschliessen, wodurch dessen Schiffbarkeit
selbst für grössere Oceanschiffe erzielt werden kann.
Bisher ist dies aber noch nicht gelungen und Riga sieht von
der Stadtfront nur kleinere Schiffe bis zu 5 m Tauchung. Grosse
Seeschiffe müssen daher auf der Rhede von Dünamünd umladen.
Riga.
Dort entstand nördlich der Festung der 6 m tiefe Hafen Bolderaa,
von welchem aus die Zufahrt in den Winterhafen führt. Letzterer
hat jedoch kaum 5 m Wassertiefe.
Zwei lange Dämme führen an der Mündung in den Golf von
Riga und bilden eine 350 m breite Einfahrt, welche durch zwei kleine
Leuchtfeuer gekennzeichnet ist. Ein 32 m hoher Leuchtthurm erhebt
sich am linken Ufer des Festlandes und sendet sein Licht auf 22 km
in See.
[854]Der atlantische Ocean.
Vor der Einfahrt haben sich Barren gebildet, zwischen wel-
chen hindurch eine 6 m tiefe, mittelst Tonnen gut markirte Wasser-
strasse führt.
Die Zufahrt aus der Ostsee in den Golf von Riga bietet
infolge der zahlreichen Bänke, welche zwischen der Insel Oesel
und der Nordküste von Kurland liegen, besonders bei unklarem
Wetter vielerlei Schwierigkeiten.
Die durch das Untiefenlabyrinth hindurchführenden Wasserwege
sind jedoch durch gute Marken bezeichnet. Hat man diese passirt,
so bietet die Navigation in dem weiten, etwa 50 m tiefen Golf keine
Gefahren.
Riga hat ein weiteres Hinterland, als es auf den ersten Blick
scheint, es ist der Ausfuhr- und Einfuhrplatz der fruchtbaren Land-
striche zu beiden Seiten der Düna, welche durch den Beresinacanal
mit dem Dnjepr in Verbindung steht. Seit dem Ausbaue des russi-
schen Eisenbahnnetzes wird ihm allerdings durch künstliche Tarif-
bildungen dieses sein natürliches Handelsgebiet ohne Unterlass be-
stritten. Bedeutet anderswo die Eröffnung neuer Bahnen im Verkehrs-
gebiete eines Hafens Steigerung der Handelsthätigkeit, so ist sie
für Riga und manchen anderen russischen Hafen das beinahe un-
trügliche Vorzeichen neuer Verluste.
Obwohl ein Haupthafen für die Ausfuhr des Getreides, hat Riga heute noch
kein Lagerhaus für Getreide mit Silo. Da darf man sich wohl nicht wundern,
wenn jahraus jahrein Klagen über den Rückgang des Seehandels laut werden, von
welchem die Einfuhr überdies durch hohe Zölle bedrückt ist.
Der wesentlichste Artikel des Ausfuhrhandels von Riga zur See ist Ge-
treide. Es wurden ausgeführt in q:
| [...] |
vornehmlich nach Grossbritannien, Schweden und Deutschland. Von Hülsenfrüchten
sind Erbsen hervorzuheben.
Sehr wichtig ist die Ausfuhr von Flachs, bestimmt für Grossbritannien
und Königsberg: 1889 433.967 q, 1888 404.211 q. Der Flachsbau rentirt übrigens
bei den heutigen Preisen nicht mehr, die Livländer gehen zu dem mehr lohnenden
Kartoffelbau über.
Die Ausfuhr von Hanf (1889 114.612 q, 1887 176.330 q) geht zurück, weil
diese Waare auffallenderweise von der Speculation auf der Eisenbahn nach Königs-
berg geschickt wird.
Auch die Ausfuhr von Oelsaaten ist von Bedeutung für den internatio-
nalen Handel. Von Schlagleinsaat wurden nach Grossbritannien und den deutschen
Ostseehäfen ausgeführt 1889 580.491 q, 1888 533.942 q. Die Ausfuhr steigt unaus-
gesetzt, dagegen geht die von Säeleinsaat infolge geringerer Nachfrage des Aus-
[855]Riga.
landes zurück; Ausfuhr 1889 101.367 q, 1887 123.673 q. Von Hanfsaat wurden
1889 63.363 q, 1888 100.262 q seewärts ausgeführt.
Oelkuchen (1889 177.015 q) wenden sich immer mehr dem Landwege zu.
Holz und Holzwaaren sind dem Werthe nach der zweite Ausfuhrartikel
Rigas. Das Holzgeschäft, das Jahre lang daniederlag, hat sich seit 1888 nach
seinen Hauptausfuhrländern Grossbritannien, Deutschland, Belgien und Frankreich
ansehnlich gesteigert. Es erreichte im Ganzen 1889 44 Millionen englische
Cubikfuss (Werth 13,603.930 Rubel), 1888 39·1 Millionen Cubikfuss (Werth
13,687.547 Rubel), 1887 33·8 Millionen Cubikfuss (Werth 11,192.592 Rubel). Die
Werthziffer für 1889 ist eine provisorische und wahrscheinlich um 700.000 Rubel
zu niedrig.
Im Allgemeinen ist zu bemerken, dass die Dimensionen der Hölzer be-
ständig schwächer werden.
Die Hauptzweige der Ausfuhr sind kantige und runde Balken (meist
grähnene und fichtene), 1889 395.922 Stück, Mauerlatten, Sleepers nach Gross-
britannien 2,841.277 Stück, Planken und Bretter 13,291.060 Stück nach Deutsch-
land und Belgien und Pitprops (Grubenstützen) nach Grossbritannien.
Von den übrigen Waaren sind nur hervorzuheben Eier, von welchen 1889
ungefähr 57 Millionen Stück oder sechsmal so viel wie 1886 nach Grossbritannien
und Deutschland ausgeführt wurden, ferner Häute und Felle (1888 für 1·4 Mil-
lionen Rubel), Schafwolle und Kameelhaare, endlich Bakuine.
Die Ausfuhr von Mineralöl über Riga ist bescheiden (1889 65.896 q).
Die Einfuhr von Riga zur See ist in den letzten Jahren in fast allen
Artikeln, Steinkohlen und Düngemittel und Farbhölzer etwa ausgenommen,
gesunken.
Von Steinkohlen aus Grossbritannien wurden trotz des Zolles 1889
2,098.839 q, 1888 1,804.394 q eingeführt.
Der Handel mit ausländischen Häringen ist in Riga wegen des hohen
Zolles, der auf ihnen lastet, um den Consum des Härings von Astrachan zu för-
dern, 1889 auf 68.642 t zurückgegangen.
Die Einfuhr von Steinsalz aus Liverpool hat keine Bedeutung mehr, die
von Guano und künstlichem Dünger ist 1889 auf 170.240 q gestiegen.
Das Harzgeschäft nach der Wolga hat Riga zum grössten Theil an
St. Petersburg, Libau und Rostow am Don verloren; Einfuhr 1889 57.714 q,
1887 92.579 q.
Die Einfuhr Rigas an Korkholz (1889 29.256 q) stützt sich ebenso wie
die von Farbholz (1889 106.650 q, 1888 172.844 q) auf den Verbrauch der
dortigen Fabriken.
Die Einfuhr von Kaffee ist unter der Einfuhr von Reval 1889 auf 3640 q
gesunken, die von Wein (auch Champagner) steigt langsam, aber andauernd.
Die Einfuhr von Oel nimmt stetig ab, die von Kopra (1889 13.719 q,
1888 65.960 q) ist bis 1888 gestiegen, 1889 gesunken, weil der Absatz von Cocos-
nussöl allgemein abgenommen hat. Reval drückt auch in Baumwolle Riga
herab (1889 18.416 q).
Wegen des Zolles nimmt auch die Einfuhr von Roheisen (1889 71.770 q)
beständig ab. Ausserdem werden eingeführt unverarbeitetes Gusseisen (1888
160.514 q), Stahl und Maschinen (1888 für 1,128.500 Rubel).
[856]Der atlantische Ocean.
Der Werth des Seehandels von Riga erreichte:
| [...] |
Die Ziffern des Jahres 1889 sind nur vorläufige und wahrscheinlich in der
Einfuhr zu niedrig, in der Ausfuhr zu hoch angesetzt.
Von der Einfuhr kommen (1889) zwei Fünftel aus Grossbritannien, ein
Fünftel aus Deutschland, von der Ausfuhr geht die Hälfte nach England, je ein
Zehntel nach Deutschland, Belgien und Frankreich, das übrige nach Holland,
Dänemark, Schweden und Norwegen.
Infolge seiner günstigen Lage hat sich Riga zu einem bedeutenden In-
dustriecentrum entwickelt. Wir finden hier Flachs-, Jute- und Baumwollspinnereien,
Webereien, Bänder- und Lampendochtfabriken, Fabriken für Korkbearbeitung, für
Oelsaaten, Soda, Farbholzextracte, Draht und Maschinen.
Der Schiffsverkehr von Riga betrug:
| [...] |
Die wichtigste Flagge ist für Riga die britische mit fast zwei Fünfteln
der Tonnenzahl, auf sie folgt die deutsche mit etwa einem Fünftel der Tonnen-
zahl, dann erst die russische, an die sich Dänemark, Schweden, Norwegen und
die Niederlande reihen.
Von Riga bestehen regelmässige Dampfschiffahrtsverbindungen nach St. Pe-
tersburg, Stettin und Lübeck. Der Verkehr mit russischen Häfen hat wenig Be-
deutung.
Von Riga gehen Eisenbahnen zu den Vorhäfen Mühlgraben und Düna-
münde, ferner über Walk nach Reval und St. Petersburg, über Dünaburg nach
Smolensk, nach Windau und Libau.
In Riga haben Consulate: Belgien, Dänemark, Deutsches Reich (G.-C.),
Frankreich, Grossbritannien, Italien, Niederlande, Oesterreich-Ungarn, Portugal,
Schweden und Norwegen, Schweiz, Spanien, Vereinigte Staaten.
Wenn man von Riga kommend den Golf von Finnland erreicht
und bei der Insel Nargö vorbeifährt, wo während des Krimkrieges
die Flotten der Verbündeten sich zu dem misslungenen Angriff auf
Kronstadt sammelten, dann seinen Curs nach Süden richtet, sieht man
bereits mit dem Fernrohre am Horizont den Olaithurm von Reval
auftauchen. Nähert man sich der Stadt im Sommer, wenn die ganze
Bucht, an der die Stadt unter 59° 29′ nördl. Br. und 24° 47′ östl. L.
v. Gr. liegt, vom hellen Sonnenlicht übergossen, die glänzende Wasser-
fläche mit blinkenden Segeln bedeckt ist und ein wolkenloser Himmel
Legende zum Plan von Riga.
A Golf von Riga, B Winterhafen, C Hafen von Bolderaa, D Villen, E Generalinsel, F Leuchtfeuer,
G Insel ohne Namen, H Insel Gross-Schusterholm, J Insel Gross-Hkenesch, K Insel Serdeholm,
L Insel Fogelholm, M Insel Pt. Vegesackholm, N Insel Andreasholm, O Insel Hasenholm, P Insel
Muckenholm, Q Insel Lutzausholm, R Insel Svirdzenholm, S Insel Granenholm, T Insel Libetsholm,
U Friedhöfe, V Rettungsboote, W Küstenwache, X Zollamt, Y Bahnhof, Z Kathedrale.
[[857]]
(Legende siehe auf Seite 856.)
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 108
[858]Der atlantische Ocean.
sich über der Landschaft wölbt, erinnert das Bild an Neapel. Aber
auch nur im Sommer. Denn in der rauheren Jahreszeit thürmen sich
die Eisschollen im Hafen übereinander, und ein winterlicher Schleier
bedeckt das im Sommer so reizende Bild. Im Sommer ist Reval auch
seiner herrlichen Lage wegen ein vielbesuchtes Seebad.
Reval, die Hauptstadt des Gouvernements Esthland, ist der Ein-
wohnerzahl nach — 50.500 — die zweite Stadt der Ostseepro-
vinzen. Der Kern ihrer Bevölkerung ist ebenso wie in Riga deutsch,
der Zahl nach überwiegen aber die Esthen. Die Stadt zerfällt von
Alters her in den oberen Theil, den sogenannten Dom, auf dem hohen
Saum der Felsenküste, dem Schlossberge liegend, in die eigentliche
oder Unterstadt an dem niedrigen sandigen Ufer des Hafens und in
die ausgedehnten an der Bucht sich hinziehenden Vorstädte.
Reval entstand als Stadt um eine 1219 von den Dänen, den Verbündeten
der Schwertbrüder, erbaute Festung herum, welche an Stelle der zerstörten Festung
der Esthen, Lindanissa, errichtet worden war. Die Stadt erhielt schon 1248 vom
dänischen König lübisches Recht und lübische Verfassung. Das Deutschthum er-
starkte immer mehr, und die dänische Bevölkerung wurde allmälig in die Festung,
den Dom, zurückgedrängt.
Auch in Reval theilte sich wie in Riga das Bürgerthum in zwei Gilden und
bestanden die Schwarzhäupter. Die Stadt musste mit Esthland gemeinsam wieder-
holt ihre Herrscher wechseln, bis sie nach vielen Stürmen endlich durch den
Nystädter Frieden 1721 an Russland gelangte. Obwohl unter diesem eine Zeit-
lang durch die Concurrenz St. Petersburgs in ihrer Entwicklung gehemmt, hat sie
doch in neuerer Zeit infolge der Eisenbahnverbindungen mit den beiden Haupt-
städten des Reiches und durch die Verbesserung des Hafens einen bedeutenden
Aufschwung genommen.
Der obere Theil der Stadt, der Dom, wird meist vom esthlän-
dischen Adel und den kaiserlichen Oberbehörden bewohnt. An den
Schlossberg selbst knüpfen sich manche esthnische Sagen. In diesem
Theile der Stadt befindet sich die Domkirche mit den Grabdenk-
mälern vieler berühmter Männer, das Schloss, jetzt die Residenz des
Gouverneurs, und das Ritterhaus, in welchem alle drei Jahre der
Landtag des Herzogthumes abgehalten wird.
Von den in der Unterstadt gelegenen Bauten ist vor Allem die
1329 erbaute St. Clauskirche zu erwähnen, welche den höchsten
Thurm in ganz Russland besitzt (145 m hoch). Die Kirche ist im
gothischen Style erbaut und wohl eine der schönsten in den Ostsee-
provinzen. Die Nikolauskirche besitzt am Eingange einen Todtentanz,
ähnlich dem in der St. Marienkirche zu Lübeck. Die älteste Kirche
ist die Heiligengeistkirche, die bereits im Jahre 1284 erwähnt wird.
Sie ist ebenfalls im gothischen Style aufgeführt. Das Rathhaus zeichnet
[859]Riga.
sich durch einen hübschen schlanken Thurm aus. Bemerkenswerth
ist auch das Schwarzhäupterhaus mit dem Mohrenkopf an der
Façade.
Während die Unterstadt den Sitz der städtischen Behörden,
des Handels und der Industrie bildet, werden die Vorstädte meist
von russischen Kaufleuten und dem ärmeren Theile der Bevölkerung
bewohnt. Hier befinden sich die für die esthnische Gemeinde neu er-
bauten Kirchen, die Johanneskirche, ein grosser Bau mit drei Schiffen,
und die Karlskirche.
Der Hafen von Reval bietet bei 10 bis 20 m Tiefe Schiffen
jeder Grösse gute Ankerplätze, jedoch können nur kleine Fahrzeuge
am Quai anlegen. Die durch einzelne Riffe und Bänke etwas unklare
Bucht bietet dessenungeachtet eine gefahrlose Zufahrt, welche durch
die Deckung von Leuchtfeuern erkannt wird, die im Osten der Stadt
gezeigt werden.
Der Hafen von Reval, das am Südufer des finnischen Meer-
busens, an der Eisenbahnlinie St. Petersburg-Baltischport liegt, ist
viel kürzere Zeit vom Eise verschlossen als der Hafen der Haupt-
stadt. Ueber diesen Platz bewegt sich daher im Wege der Spedition
ein guter Theil der für St. Petersburg und Moskau bestimmten Ein-
fuhr, und die von der Hauptlinie bei Taps nach Süden abzweigende
Eisenbahn führt ihm die Naturproducte der benachbarten baltischen
Landschaften zu, welche im Eigenhandel nach den Häfen an der
Ostsee und Nordsee ausgeführt werden.
Der Hafen wurde in den letzten Jahren bedeutend verbessert, ist aber
manchmal sehr lange vereist, so 1889 vom 16. Jänner bis zum 15. April, so dass
er seine Stellung als Vorhafen von Petersburg nicht regelmässig erfüllen kann.
In dieser Zeit nimmt der Handel, so lange es möglich ist, den Weg über
Baltischport.
Wir stellen die Einfuhr voran, weil sie der wichtigere Theil des See-
handels von Reval ist. Der an Werth bedeutendste Artikel der Gesammteinfuhr
ist Baumwolle: 1889 484.438 q, dazu über Baltischport während der Eis-
sperre 27.474 q, 1888 366.476 q, 1887 683.470 q; sie wird meist direct aus der
Union, aber auch über deutsche Häfen bezogen.
Die Einfuhr von Steinkohle aus Grossbritannien betrug 1889 622.688 q,
dazu über Baltischport 27.459 q, 1888 550.034 q.
Demnächst kommen Droguen (1889 52.395 q, 1888 70.339 q), welche
meist aus Deutschland in immer kleineren Mengen bezogen werden. Aus dieser
Gruppe sind hervorzuheben Farbmaterialien, Gummi und Harze, Kopra,
Chlorkalk, Soda und Pottasche; letztere werden jetzt meist aus Südruss-
land bezogen.
Aus der Gruppe der Nahrungs- und Genussmittel sind Häringe hervor-
zuheben, deren Einfuhr beständig steigt: 1889 38.840 q, 1887 24.143 q.
108*
[860]Der atlantische Ocean.
Die Einfuhr von Olivenöl geht langsam zurück und erreichte 1889 5696 q,
die von Wein 20.204 Flaschen und 1729 q.
Den gewaltigsten Rückgang unter allen Einfuhrartikeln erfuhr infolge der
hohen Zölle englisches Eisen aus Grossbritannien, Deutschland und Schweden:
1889 40.809 q, 1887 121.481 q. Von Stahl wurden 1889 15.059 q, von Kupfer
und Compositionsmetall die ungewöhnlich grosse Menge von 5412 q einge-
führt. Salz kommt jetzt fast nur mehr aus der Krim (1889 255.435 q). Bemer-
kenswerth ist die Steigerung der Einfuhr von Superphosphat und anderen
Düngstoffen für den Verbrauch in Esthland: 1889 28.231 q, 1887 10.508 q.
Aus Deutschland kommen Ziegel, der grössere Theil der leeren Gebinde
(1889 26.478 q, 1887 41.992 q).
Andere Industrieartikel sind Garne (1889 7826 q, 1887 15.120 q). Eisen-
und Stahlfabricate (1889 14.181 q), Maschinen und Apparate (37.232 q)
und Glas.
Bei der Ausfuhr muss vor Allem Spiritus genannt werden, weil Esthland
in der Spiritusproduction mit seinen 164 Branntweinbrennereien und 3 Sprit-
fabriken und Reval in der Ausfuhr von Spiritus die erste Stelle im Reiche ein-
nehmen; es wurden 1889 148.421 hl (zu 100°), dazu 9791 hl über Baltischport,
1888 84.316 hl zum grössten Theile nach Deutschland ausgeführt.
Von Producten des Ackerbaues sind zu nennen Hafer (1889 2,682.322 hl,
dazu über Baltischport 100.800 hl, 1888 3,136.577 hl), Roggen (1889 246.075 hl),
Weizen (286.358 hl), Gerste (267.414 hl) und Leinsaat (266.128 hl) nach
Königsberg.
Auch für Flachs ist Reval ein sehr wichtiger Ausfuhrhafen: 1889 mit
133.468 q, 1888 mit 170.761 q, dann Hanf, Heede, Oelkuchen und Kleie.
Bretter (1889 140.564 Stück) gehen ausschliesslich nach Deutschland.
Eier wurden 1889 1,252.400 Stück, also doppelt soviel wie 1888 ausgeführt.
Von Industrieartikeln ist nur die Ausfuhr von Matten (1889 233.010),
einem Erzeugnisse des esthnischen Landvolkes, anzuführen.
Der Seehandel von Reval erreichte 1889 in der Einfuhr 47,440.402 Rubel,
in der Ausfuhr 17,982.532 Rubel, 1888 in der Einfuhr 42,817.986 Rubel, in der
Ausfuhr 20,330.743 Rubel.
An der Spitze der Einfuhr stehen die Vereinigten Staaten und Grossbri-
tannien, dann folgen Deutschland, Frankreich, Dänemark und die Niederlande. Von
der Ausfuhr geht mehr als die Hälfte nach Grossbritannien, das Uebrige nach
Deutschland, Frankreich, Schweden und den Niederlanden.
Die Industrie nimmt in Reval eine untergeordnete Stellung ein, denn hier
bestehen nur zwei Spiritusraffinerien, eine Presshefenfabrik, 2 Eisengiessereien und
Maschinenfabriken und eine Papierfabrik.
Der Schiffsverkehr von Reval betrug 1889 1112 Schiffe mit 599.284 Reg.-
Tons, 1888 1297 Schiffe mit 683.663 Reg.-Tons. Von der Tonnenzahl entfielen
1889 zwei Fünftel auf die englische Flagge; an diese reihten sich die deutsche,
russische und schwedische Flagge.
Reval hat regelmässige Dampfschiffverbindung mit Lübeck,
St. Petersburg, Helsingfors und Hangö.
In Reval sind Consulate folgender Staaten: Belgien, Dänemark, Deutsches
Reich, Niederlande, Portugal, Schweden und Norwegen, Vereinigte Staaten.
[[861]]
St. Petersburg.
Nicht durch landschaftliche Schönheit bezaubert die Residenz-
stadt der russischen Czaren das Auge des Beschauers; die vollkom-
mene Ebene, auf der sich die Stadt ausbreitet, ruft im Gegentheile
den Eindruck der Oede und Nüchternheit hervor. Wenn St. Peters-
burg dennoch durch seine Schönheit unter den Grossstädten Europas
unstreitig eine hervorragende Stelle einnimmt, so ist dies eine Wir-
kung menschlicher Kunst, das Ergebniss der systematischen Anlage
und des Ausbaues der Stadt. Das harmonische Verhältniss zwischen
Strom, Strassen und Plätzen, die grossartige Raumverschwendung bei
der Anlage der Plätze, wodurch die riesigen Paläste und Monumente,
an denen Petersburg so reich ist, erst ihre Bedeutung für die ästhetische
Betrachtung gewinnen, machen die kaiserliche Residenz des russischen
Reiches zu einer wahrhaft schönen Stadt. Die Strassen sind ohne
Ausnahme breit, einzelne darunter durch die herrlichen öffentlichen
und Privatbauten, welche sie auf beiden Seiten umrahmen, von gross-
artiger Schönheit. Unter den öffentlichen Plätzen, deren St. Petersburg
im Ganzen 64 besitzt, gibt es mehrere, auf welchen 60.000—100.000
Menschen sich bewegen können.
St. Petersburg liegt an der Mündung der Newa in den Finni-
schen Meerbusen; die Newa theilt sich innerhalb der Hauptstadt in
mehrere Arme, die Grosse Newa (Bolschaja), Kleine Newa (Malaja)
und die Newka. Der Haupttheil Petersburgs liegt auf dem linken
Ufer des Stromes, die anderen Stadttheile sind auf den Inseln, welche
sich zwischen den Flussarmen befinden, zerstreut. In den Stadttheilen
auf dem linken Newaufer concentrirt sich das geschäftliche und ge-
sellige Leben, dort sind die verkehrsreichsten Strassen, Prospecte ge-
nannt, mit glänzenden Läden, dort befinden sich auch die kaiserlichen
Paläste und Theater.
Petersburg gehört zu den wasserreichsten Städten Europas. Fast
ein Viertel der Stadt zieht sich am Finnischen Meerbusen hin, und
[862]Der atlantische Ocean.
nicht weniger als 14 Flüsse und Flussarme und 8 Canäle durch-
schneiden das Weichbild, indem sie zahlreiche grosse und kleine
Inseln bilden. Zunächst zweigt sich vom Hauptstrom die Newka ab,
die sich weiterhin in die Kleine und die Grosse Newka theilt, welch
letztere wieder die Mittlere Newka von sich abtrennt und mit ihr die
Jelagininsel bildet. Ausser dieser bilden die verschiedenen Arme der
Newka noch drei Inseln, den Kamennij und Krestowskij Ostrow und
die sogenannte „Petersburger Seite“ (Peterburgskaja), von welcher
letzteren das Karpowkaflüsschen die Apothekerinsel (Aptekarskij) ab-
schneidet und an deren Südufer der Hauptstrom sich abermals theilt,
um als Grosse Newa gegen Südwest, als Kleine Newa gegen Nord-
west zu fliessen. Der Shdanowkaarm verbindet die Kleine Newa mit
der Kleinen Newka und trennt von der Petersburger Seite die Insel
Petrowsky; die von der Kleinen Newa sich abzweigende Schwarze
Newa (Tschornaja) schneidet von dem durch die Kleine und Grosse
Newa gebildeten Wassily-Ostrow (Basiliusinsel) die Golodajinsel ab.
Zu diesen grösseren Inseln kommt noch ein halbes Hundert kleinerer.
Ausserdem ist die eigentliche, am linken Newaufer gelegene
Stadt durch ein viel verzweigtes Canalnetz in eine grosse Zahl
künstlicher Inseln getheilt. In vier concentrischen Bögen, die wieder
durch Seitencanäle mit einander verbunden sind, zieht sich das Netz
der Canäle durch das Häusermeer hindurch. Der grösste dieser Ca-
näle ist der neue Umfassungsgraben C (Nowo obwodniy canal); dann
folgen die mit Quais eingefasste Fontanka D, der Katharinencanal E,
der vom Nordende der Fontanka zu ihrem Südende führt, und das
Flüsschen Moika G, welches die City von Petersburg umschliesst, den
sogenannten Admiralitätsstadttheil (Admiralteiskaja), in dem auch der
kaiserliche Winterpalast (14) steht. Die Canäle wurden von Peter dem
Grossen gebaut, um das tiefliegende Terrain, auf dem er die Stadt
anlegte, zu entsumpfen und dem Verkehre zugänglich zu machen.
Petersburg zerfällt jetzt in 13 Stadttheile, die in 38 Polizei-
bezirke getheilt sind. Das ganze Gebiet der Stadt umfasst einen
Flächenraum von 90 Quadratwerst (circa 2 geographische Quadrat-
meilen); die grösste Länge beträgt ungefähr 12 km, die grösste Breite
11 km. Für den Verkehr über die Newa, ihre Seitenarme und die
21 Canäle bestehen 150 Brücken; von den Flussbrücken sind jedoch
nur zwei (Nikolajewsky 55 und Alexanderbrücke 56), welche das
ganze Jahr hindurch passirbar sind, die übrigen sind Schiffbrücken,
welche während des Eisganges abgenommen werden. Das Zufrieren
des Flusses — Anfang November — erfolgt sehr rasch, und dann
[863]St. Petersburg.
dient die Eisfläche als die bequemste Verbindung zwischen den ein-
zelnen Stadttheilen. Ueber die Canäle führen meist Granit- und Eisen-
brücken.
St. Petersburg liegt unter dem 59° 56′ 29·7″ nördl. Br. und
30° 18′ 22·2″ östl. L. v. Gr. (Akademie der Wissenschaften) in
etwa 15 m Meereshöhe und ist trotz der Anlage herrlicher Parks
und breiter luftiger Strassen, trotz der ausserordentlichen Reinlich-
keit, auf welche die Behörden ihre volle Aufmerksamkeit richten, eine
ungesunde Sumpfstadt geblieben. Die Zahl der Sterbefälle übersteigt
alljährlich die Zahl der Geburten und wenn nicht eine fortdauernde
starke Zuwanderung stattfände, würde Petersburg bereits aufgehört
haben, eine Grossstadt zu sein. Da durch die Einwanderung der Stadt
meist Männer zugeführt werden, überwiegt die männliche Bevöl-
kerung über die weibliche in dem Verhältnisse von 4 : 3. Fast alle
Volksstämme des europäischen Russland sind in der jährlichen Ein-
wanderung vertreten, am zahlreichsten sind darunter Russen und
Deutsche.
Der Boden, auf dem St. Petersburg, die jüngste Hauptstadt Europas, sich
erhebt, ist uralter russischer Besitz. Ingermanland, früher Ingrien genannt, zwischen
dem Peipussee, der Narowa und dem Ladogasee war von der reichen Handelsstadt
Nowgorod, nach deren Unterwerfung durch Iwan IV. von den Moskowitern ab-
hängig und fiel dann an Schweden. Im Jahre 1702 wurde es von Peter dem
Grossen zurückerobert, aber erst im Frieden zu Nystadt 1721 definitiv mit Russ-
land vereinigt. Am 16. Mai 1703 legte Peter eigenhändig auf einer der vielen
Newa-Inseln, der sogenannten Haseninsel, den Grundstein zu einer neuen Festung,
welche zu Ehren der Apostel Petrus und Paulus den Namen Peter-Pauls-Festung
erhielt. Während dieses Baues fasste der geniale Czar den Plan, hier eine neue
Hauptstadt des Reiches zu erbauen, die Schutz gegen die Feinde im Norden
bieten und im Gegensatz zur bisherigen Hauptstadt Moskau Vermittlerin der
westeuropäischen Civilisation für Russland sein sollte. Diese Jugend der russi-
schen Hauptstadt erklärt es auch, dass sie, verglichen mit den meisten Capitalen
der anderen Staaten, keine Geschichte hat.
Dass der Boden, auf welchem die neue Stadt erstehen sollte, sumpfig und
mit Urwald bedeckt war, hinderte Peter an der Ausführung seines Planes nicht.
Mehr als 40.000 Menschen aus allen Theilen des Reiches waren in den folgenden
Jahren mit der Trockenlegung der Sümpfe, dem Ausroden der Wälder und dem
Aufbau der Häuser beschäftigt. Da die Arbeiter — ausser Leibeigenen und Sträf-
lingen auch gefangene Schweden — durch die Ausdünstungen der Sümpfe zahl-
reich erkrankten und hinstarben, mussten immer neue Arbeiter aus dem Innern
des Reiches herangezogen werden. Jeder Fussbreit festen Landes wurde geradezu
mit einem Menschenleben erkauft.
Um alle vorhandenen Maurer für den Aufbau der neuen Hauptstadt zur
Verfügung zu haben, wurde der Bau steinerner Gebäude für das ganze Reich mit
Ausnahme der neuen Stadt verboten. Alle zwei Jahre fand eine Aushebung von
Arbeitern wie zum Kriegsdienste statt, die mit Werkzeugen versehen an die Newa
[864]Der atlantische Ocean.
gesandt wurden. Erst später zwang die grosse Sterblichkeit unter den Leibeigenen
Peter, die Arbeiten Unternehmern zu überlassen, welche bezahlte Arbeiter be-
schäftigten.
Da die Bevölkerung der Stadt sich anfangs nur wenig vermehrte, verord-
nete Peter im Jahre 1712 eine allgemeine Aushebung zu ständiger Ansiedlung in
der neuen Residenz. Die Stadt erhielt den Namen ihres Gründers, doch sonder-
barerweise in holländischer Sprache, „Piterburg“, zur Erinnerung an den Namen,
unter welchem der Czar auf der Schiffswerfte zu Zaandam als schlichter Zimmer-
mann die Schiffbaukunst erlernt hatte. Bis auf den heutigen Tag hat sich im
Volksmunde neben dem officiellen Namen St. Petersburg die Bezeichnung „Piter“
erhalten. Den Grossen des Reiches befahl Peter, in der neuen Residenzstadt
steinerne Häuser und Paläste zu bauen; je nach der Anzahl der Seelen, über die
die Adeligen geboten, bestimmte er selbst die Grösse der Häuser. Ferner verlegte
er die höchsten Reichsbehörden nach Petersburg.
Nach dem Tode Peters des Grossen trat ein kurzer Stillstand in der Ent-
wicklung der Stadt ein; Katharina I. und Peter II. wohnten wieder grösstentheils
in Moskau, aber ihre Nachfolger wählten neuerdings Petersburg zur Residenz.
St. Petersburg zählte im December 1888 bereits 978.309 Ein-
wohner.
Vor 100 Jahren hatte die Stadt 218.000 Einwohner, anfangs
dieses Jahrhunderts 227.700, um die Mitte desselben 501.000 Ein-
wohner und 1860 noch immer nicht mehr als 513.000 Einwohner.
Daraus ist zu ersehen, dass der Hauptzuwachs auf das letzte Viertel-
jahrhundert, die Zeit der grossen Reformen in Russland entfällt. Es
zeigt sich, dass während der ersten 50 Jahre unseres Jahrhunderts
die Bevölkerung nur um 274.000 Einwohner stieg, wohingegen die
Zunahme in den letzten 40 Jahren 466.000 Einwohner, also fast das
Doppelte betrug. Jedoch entfallen als Steigerung in den letzten
10 Jahren nur 50.000 Einwohner.
In Petersburg muss man eine Unterscheidung zwischen der
eigentlichen Stadt und ihren Vorstädten machen. Auf letztere ent-
fielen von der Gesammtbewohnerzahl am Schlusse des Jahres 1888
nur 76.280 Einwohner. Das Wachsthum der Stadt ergab von 1867
bis 1881 nicht weniger als 35 %, von 1881 bis 1888 aber nur
4·7 %. Während die Stadt fast stationär bleibt, wachsen die Vor-
städte an. Der Hauptgrund liegt wohl in der Billigkeit des gewöhn-
lichen Lebens in diesen Vorstädten, zumal sie über gute Verbin-
dungen mit dem Centrum der Stadt verfügen.
Die Zahl der Gebäude von Petersburg hat sich in der letzt-
erwähnten Periode um 8 % vermehrt; sie betrug Ende 1888 108.492
bewohnte Gebäude und 4323 Läden- und Waarenhäuser und 9382
leerstehende Wohnungen. Die grosse Zinsentwerthung der Häuser hat
die Baulust sehr herabgedrückt. So wurde im Winter 1889 das
[[865]]
Petersburg.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 109
[866]Der atlantische Ocean.
Panaïewtheater, welches mit 900.000 Rubel bewerthet war, nur um
150.000 Rubel verkauft.
Die Stadt ist nicht nur Residenzstadt und Sitz der höchsten
Behörden, sie ist auch eine der wichtigsten Fabriksstädte des Reiches.
Der Handel ist jedoch seit einigen Jahren im Rückgange begriffen.
Der älteste Theil von Petersburg befindet sich auf dem nörd-
lichen Ufer der Newa, noch jetzt Alt-Petersburg genannt, aber schon
im Jahre 1705 wurden deutsche Colonisten auf dem linken Newa-
ufer angesiedelt, und auch auf der Wassili-Insel entstand eine Nieder-
lassung (Wassiljewskaja). Heute bewegt sich, wie gesagt, der Haupt-
verkehr in den Stadttheilen des linken Newaufers, wohin Peter der
Grosse die kaiserlichen Paläste bauen liess, da sie dort durch die
Höhe des Terrains besser gegen Ueberschwemmungen geschützt sind.
Im Mittelpunkte der Stadt auf dem linken Ufer der Newa be-
findet sich das kolossale Gebäude der Hauptadmiralität (P) auf der
Nordseite des Admiralitätsplatzes. Das Gebäude bildet ein Parallelo-
gramm von 420 m Länge und 180 m Breite, die Front nach der
Newa gerichtet, und macht trotz seiner gewaltigen Dimensionen einen
ausserordentlich leichten gefälligen Eindruck. In dem Gebäude, das
bereits durch Peter den Grossen gegründet wurde, befinden sich jetzt
das Marineministerium, die Seecadettenschule, das Marinemuseum und
eine 30.000 Bände zählende Bibliothek. Der Admiralitätsplatz ist
durch prachtvolle Gartenanlagen, den neuen Alexandergarten, ver-
schönert worden und bildet mit dem Petersplatze sowie mit dem
östlich angrenzenden Raswodnyplatz und Palastplatz ein Ganzes, das
an Schönheit in Europa seinesgleichen sucht. An der Westseite der
Admiralität erhebt sich in den Anlagen des Petersplatzes eine Reiter-
statue Peter des Grossen. Dieselbe stellt den Czaren mit dem Lor-
beerkranze geschmückt dar, wie er einen Felsen hinansprengt, mit
der erhobenen Rechten nach der Newa hinzeigend. Die ganze Statue
ist 5 m hoch, die Gestalt des Kaisers 3 m. Das Denkmal wurde nach
einem Modell des französischen Bildhauers Falconet gegossen und
1782 enthüllt. Auf der Westseite des Denkmals erhebt sich am
Newaufer das Senatsgebäude, der Sitz des Senates, des obersten
Gerichtshofes des Reiches, und durch einen Bogengang mit demselben
verbunden die „heilige Synode“, der Sitz des obersten geistlichen Ge-
richtshofes.
Im Süden stösst an den Alexandergarten der Isaaksplatz, dessen
Mitte die berühmte Isaakskathedrale (24) einnimmt, die grösste und
prachtvollste Kirche Petersburgs. Schon Peter der Grosse hatte an
[867]St. Petersburg.
dieser Stelle den Bau einer hölzernen Kirche begonnen, der Grund-
stein zur jetzigen Prachtkirche wurde aber von Alexander I. am
26. Juni 1819 gelegt. Der Bau nach den Plänen des französischen
Baumeisters Bicard de Monferrand wurde erst 1858 vollendet. Die
Kathedrale ist in Form eines griechischen Kreuzes gebaut und wird
von einer riesigen Kuppel überragt, welche 26·6 m im Durchmesser
misst. Vom Boden bis zur Spitze des Kreuzes ist die Kathedrale
102 m hoch. Eine bequeme Treppe führt zur Kuppel, von wo man
eine herrliche Aussicht über die Stadt und die Newa geniesst. Das
Innere der Kirche ist mit verschwenderischer Pracht ausgeschmückt,
die Wände sind mit den schönsten Marmorarten geziert, und an
200 Gemälde russischer Maler begrüssen den Beschauer.
Von der Südseite der Kathedrale gelangt man durch den Isaaks-
garten auf den Marienplatz, wo sich das im Jahre 1859 errichtete
Denkmal Nikolaus’ I. befindet. Auf einem hohen mit Basreliefs ge-
schmückten Sockel ist der Czar in der Uniform der Chevaliergarde
auf einem sich bäumenden, feurigen Rosse dargestellt.
Im Osten stösst an den Admiralitätsplatz der Palastplatz, in
dessen Mitte die zum Gedächtniss Alexander I. im Jahre 1834 er-
richtete Alexandersäule steht. Nördlich der Admiralität, unmittelbar
am Ufer der Newa, erhebt sich der Winterpalast (14), die Residenz
des kaiserlichen Hofes während der Winterzeit. Derselbe bildet ein
Rechteck von 137 m Länge und 106 m Breite und richtet seine nord-
westliche Front gegen die Newa dort, wo sie ihre grösste Breite
erreicht hat. Der jetzige Palast ist erst unter Kaiser Nikolaus erbaut
worden. Er enthält eine Zahl herrlicher Säle: den Alexandersaal,
ebenso wie die folgenden sieben Zimmer mit Schlachtenbildern ge-
schmückt, den weissen Saal mit Marmorstatuen, den goldenen Saal
im byzantinischen Styl, das Pompejanische Zimmer, den riesigen
Nikolaisaal, wo die grossen Hofbälle stattfinden, den Feldmarschall-
saal mit den lebensgrossen Porträts berühmter russischer Marschälle,
den Thronsaal Peter des Grossen, in welchem die rothen Sammt-
wände mit goldgewebten russischen Adlern übersäet sind, den grossen
Wappensaal, den St. Georgssaal, in dem alljährlich das Georgenfest
am 26. November/8. December gefeiert wird. Den Glanzpunkt des
Palastes bildet die Schatzkammer, welche einen Saal im zweiten
Stockwerke einnimmt. Hier befinden sich die bei den Kaiserkrönungen
zur Verwendung kommenden Kroninsignien. Am werthvollsten darunter
ist das Scepter mit dem berühmten Diamanten Orloff, der 185 Karat
wiegt und der grösste Diamant in Europa ist.
109*
[868]Der atlantische Ocean.
Dem Winterpalaste gegenüber an der Südostseite des Palast-
platzes befindet sich das riesige Generalstabsgebäude mit einer Front
von 768 Fenstern in drei Stockwerken.
Oestlich vom Winterpalast sind die beiden Eremitagen der
Kaiserin Katharina II., die alte und die neue (21), welche die kaiser-
lichen Kunstsammlungen enthalten. Die alte Eremitage, welche die
neue mit dem Winterpalast verbindet, enthält an Kostbarkeiten Alles,
was seit fast 200 Jahren an Gold- und Silbergeschirr, Juwelen und
Kunstgegenständen aller Art in den Besitz der kaiserlichen Familie
gelangt ist. Die angrenzende neue, auch „die grosse“ genannte Ere-
mitage enthält in ihren 14 Zimmern und Sälen Gemälde von franzö-
sischen und namentlich niederländischen Meistern, welche zumeist
durch die Kaiserin Josephine, Gemalin Napoleon I., nach Russland
gebracht wurden. Die neue Eremitage bildet ein Rechteck von 156 m
Länge und 113·7 m Breite. Besonders prachtvoll ist das Treppenhaus.
Wenn man die Millionnajastrasse, der die Südfaçade der neuen
Eremitage zugekehrt ist, bis an das Ende durchschreitet, gelangt man
auf das weite Marsfeld (37), wo die grossen Paraden abgehalten
werden. Oestlich vom Marsfelde dehnt sich der kaiserliche Sommer-
garten (20) aus, der besuchteste der Gärten Petersburgs. Er wurde
im Jahre 1711 von Peter dem Grossen im französisch-holländischen
Geschmack angelegt und seitdem bedeutend verschönert. Er bildet
ein längliches Rechteck von circa 300 ha Flächeninhalt. In den
Alleen und inmitten der vielen Rondelle und Blumenbeete stehen
zahlreiche Marmorstatuen und Vasen. Beim Haupteingange des Gar-
Legende zu St. Petersburg.
A Hafen, B Jekateringowskij-Canal, C Novo Obwodnij-Canal (Umfassungscanal), D Fontanka-Canal,
E Katharinencanal, G Moikacanal, H Zarskoje Selo-Bahnhof, J Peterhof- (baltisch.) Bahnhof, K War-
schauer Bahnhof, L finnländischer Bahnhof, M Nikolai- (Moskauer) Bahnhof, N Börse, O neue Admiralität,
P Hauptadmiralität, Q neues Arsenal, Q1 altes Arsenal und Artilleriedepartement, R Akademie der
Künste, S Akademie der Wissenschaften, Museum und Bibliothek, T Generalstabsakademie (Nikolaus-
Akademie), U kais. Bank, V Gostinnij Dwor (Bazar), W Werft, X kais. Glasfabrik, Y Gasanstalt, Z altes
Zollamt. — 1 Newskij Prospect, 2 Wosnessenskij Prospect, 3 Litciny Prospect, 4 Wlademirski Pro-
spect, 5 Zagorodnij Prospect, 6 Sabalkanskij Ulica (Strasse), 7 Seedowaja Ulica, 8 Offizerskaja Ulica,
9 Gorochowaja Ulica, 10 Ramenno-Ostrowskij Prospect, 11 Bolschoj Prospect auf Peterburgskaja,
12 Bolschoj Prospect auf Wassilewskaja, 13 Simburgskaja Strasse, 14 Winterpalast, 15 Antischkow-
Palast, 16 Peter d. Gr. Haus, 17 Taurischer Palast, 18 Stallhof und Marstall, 19 Michailowskij-Palast,
20 Sommergarten, 21 Eremitage, 22 Denkmal Peter I., 23 Narwa’sche Triumphpforte, 24 Isaaks-
Kathedrale, 25 Kasan-Kathedrale, 26 Alexander Newski-Kathedrale und Kloster, 27 Andreas-Kathedrale,
28 Preobrazenskij-Kathedrale (Erlöser), 29 Nikolaus-Kathedrale, 30 Troitskij (Dreifaltigkeit), 31 Himmel-
fahrtskirche, 32 Maria-Verkündigungs-Kirche, 33 Smolij-Kirche, 34 Nowo Dewitschi-Kirche, 35 Zollhof,
36 Stadthaus (Duma), 37 Marsfeld, 38 Seemenowskij Exercirplatz und Kasernen, 39 Alexanderplatz,
40 Preobrazenskij-Kaserne, 41 Ismailow-Kaserne, 42 Araktschejewsche-Kaserne, 43 Kaserne des Leib-
garde-Grenadiere-Rgts., 44 Marinecadettenschule, 45 Universität, 46 Bergakademie, 47 Alexandra-
Theater, 48 grosses Theater, 49 Wasserthurm, 50 Irrenhaus, 51 Obuchow-Stadthospital, 52 städtisches
Spital, 53 Marien- und Alexander-Krankenhaus, 54 Militärlandesspital, Klinik und thierärztliches
Institut, 55 Nikolajewskij-Brücke, 56 Alexander-Brücke, 57 Troitskij-Brücke, 58 Dwortzowij-Brücke,
59 Egipetskij (Egypt.), 60 Friedhof v. Smolenst, 61 Mitrofan-Friedhof, 62 Wolkowskij-Friedhof, 63 Vieh-
hof, 64 Botanischer Garten auf der Apothekerinsel, 65 Alexandrowski-Park mit zoologischem Garten.
[[869]]
(Legende siehe auf Seite 868.)
[870]Der atlantische Ocean.
tens steht eine mit grosser Pracht ausgestattete Kapelle zur Erinne-
rung an die glückliche Errettung Alexander II. bei dem Attentate
Karakassoff’s (4./16. April 1866).
Dem Sommergarten schräg gegenüber liegt jenseits der Moika
an der Südwestseite des Marsfeldes der grosse Michailow’sche Garten,
der zum neuen Michailow’schen Palais (19), einem der schönsten
Petersburgs, gehört. Das alte Michailow’sche Palais, jetzt Ingenieur-
schule, befindet sich an der Ostseite des Michailowsky-Gartens, auf
dem Platze hinter demselben ein Denkmal Peter des Grossen von
Rustrelli, das aber künstlerisch dem auf dem Petersplatze weit
nachsteht.
An die dem Michailowsky-Garten gegenüberliegende Schmalseite
des Marsfeldes grenzt vor der Troitskybrücke (57) der Suwaroffplatz,
dessen Mitte das Denkmal Suwaroff’s einnimmt. Die Strecke vom
Suwaroffplatze bis zum kaiserlichen Winterpalaste längs der Newa
ist der vornehmste Theil der Stadt und der Lage nach der schönste;
wunderbar ist im Sommer die Aussicht auf die hier seeartig sich
erweiternde Newa mit dem lebhaften Verkehr; im Winter bieten
wieder die Vergnügungen auf der Eisfläche ein buntes, lebendiges
Bild. Eine Reihe imposanter Paläste zieht sich an der Newa hin,
worunter besonders das am Suwaroffplatze liegende, nur aus Stein
und Metall aufgeführte Marmorpalais des Grossfürsten Konstantin
Nikolajewitsch hervorzuheben ist.
Die Hauptverkehrsader der Stadt ist jedoch der Newsky-Prospect
(1), der vom Admiralitätsplatz ostwärts ausläuft. Die Strasse ist 35 m
breit und fast 5 km lang. Sie ist fast so alt als Petersburg selbst,
aber die Häuser an ihren beiden Seiten wurden später gebaut. Wenn
man den grossartigen Wagenverkehr Petersburgs kennen lernen, die
ausserordentliche Schnelligkeit der Pferde bewundern will, muss man
den Newsky-Prospect durchwandern. Alle Arten von Wagen und
dazwischen zahlreiche Reiter durchfliegen die Strasse. Keine Stadt
der Welt besitzt so viele öffentliche Fuhrwerke wie Petersburg, weil die
grossen Entfernungen die Menschen zwingen, Fuhrwerke zu benützen.
Die Zahl derselben — Iswostschiks genannt — wird auf 25.000 ange-
geben. Trotz dieser grossen Menge von Fahrzeugen, die wegen ihrer
ausserordentlichen Billigkeit und der grossen Entfernungen der Stadt
stark benützt werden, wogt auf den Trottoirs des Newsky-Prospect
ein zahlreiches Publicum von Fussgängern aller Nationalitäten des
ungeheuren Reiches. Ein farbenprächtiges Bild. Die grosse Mehrzahl
der Fussgänger bewegt sich auf der Nordseite der Strasse, wo die
[871]St. Petersburg.
schönsten Verkaufsläden sind. Palastartige Privatgebäude wechseln
mit Kirchen und kaiserlichen Gebäuden. Neben der Kasanbrücke ragt
der herrliche Bau der Kasan’schen Kathedrale (25) hervor; eine
Colonnade von 132 korinthischen Säulen umsäumt im Halbkreis den
Platz, in dessen Hintergrund die Kathedrale steht. Im Innern derselben
hängt in der Mitte das berühmte Muttergottesbild, das im Jahre 1579
von Kasan nach Moskau und 1721 nach Petersburg gebracht wurde.
Die Edelsteine, welche das Bild schmücken, sind fast unschätzbar.
Auf dem Platze vor der Kathedrale sind die Denkmäler der Marschälle
Kutusoff und Barclay de Tolly errichtet.
Ueber den Alexandraplatz, auf dem sich das Denkmal Katha-
rina II. erhebt, steht die kaiserliche öffentliche Bibliothek mit mehr
als einer Million Bänden.
An der Fontanka befindet sich das Anitschkoff- oder Nikolai-
Palais (15), an der Ostseite des Palastes führt die Anitschkoffbrücke
über die Fontanka.
Die Vorstadt Wassiljewskaja ist seit dem Ausbau des Stadt-
theiles an der Fontanka in den Hintergrund getreten, aber auch dort
befindet sich eine Zahl wichtiger Bauten. Vom Palastplatz kommt
man über die Schloss- oder Dworzowij-Brücke (58) zur Ostspitze von
Wassily-Ostrow, wo die sogenannte holländische Börse (Birska) N, ein
griechischer Bau, sich erhebt. Auf dem Platze vor der Börse stehen
zwei Säulen aus rothem Granit, von dem Punkte zwischen ihnen ge-
niesst man eine entzückende Aussicht: vor sich den gewaltigen Strom,
links die Peter-Pauls-Festung, rechts die Quais der Newa mit der
grossartigen Reihe von Palästen.
Wenn man an dem Börsengebäude vorbei den Quai an der
Grossen Newa entlang geht, gelangt man zu einer Reihe palastartiger
öffentlicher Gebäude: zuerst zur Akademie der Wissenschaften (S)
mit dem Museum und der Bibliothek. Die Akademie wurde von Peter
dem Grossen nach einem unter Mitwirkung von Chr. v. Wolff und
Leibnitz entworfenen Plane 1724 gegründet. Sie begann aber erst
nach dem Tode des Czaren unter Katharina I. ihre Wirksamkeit. Die
Akademie besteht aus drei Classen, für mathematische Wissenschaften,
russische Sprache und Literatur, dann Geschichte und Philologie. Sie
erhält jährlich eine Dotation von 300.000 Rubel. Die mit ihr ver-
bundene Bibliothek besitzt etwa 300.000 Bände. Das zoologische
Museum ist besonders reich an vorweltlichen Thieren, ausserdem sind
mit der Akademie verbunden das ethnographische Museum, welches
alle Trachten und Costüme des russischen Reiches enthält, die bota-
[872]Der atlantische Ocean.
nische Sammlung, das anatomische Museum, das mineralogische
Cabinet. Einige Schritte von der Akademie entfernt ist die Univer-
sität (45), von Alexander I. 1819 gegründet.
Einer der schönsten Paläste Petersburgs ist die Akademie der
Künste (R), welche wir auf unserer weiteren Wanderung längs des
Ufers der Newa erreichen. Das Gebäude wurde in den Jahren 1765—68
nach den Plänen von de la Mothe und Velten gebaut und bildet ein
Quadrat, dessen Seiten 150 m lang sind. Von der der Newa zuge-
kehrten Hauptfaçade führt eine Freitreppe herab, die von zwei
riesigen, im Jahre 1832 aus dem alten egyptischen Theben hieher ge-
brachten Sphinxen flankirt ist. Ausser der Sammlung der Akademie
der Künste besitzt Wassiljewskaja noch eine interessante Gemälde-
gallerie in dem Hause des Geh. Raths Peter von Semenoff, die nament-
lich für das Studium der vlämischen und holländischen Malerei wichtig
ist, während die Sammlung der Akademie vorwiegend russische Original-
gemälde enthält.
Am Ende des Newaquais befindet sich die Bergakademie, ein
Gebäude mit 12.000 m2 Fläche. In derselben ist besonders bemerkens-
werth das mineralogische Museum, eine der bedeutendsten Samm-
lungen dieser Art.
Vom Suwaroffplatz führt die Troizkij- oder Petersburger Brücke
über die Newa zum Troizkajaplatz auf dem Petersburger Stadttheil,
von wo eine Holzbrücke über den Kronwerkcanal zur Peter-Pauls-
Festung leitet. Die Festung wurde bald nach dem ersten Seesiege
über die Schweden von Peter dem Grossen gegründet und bedeckt
die Petersinsel und zwei kleinere Inseln. Auf ihr befinden sich die
Staatsgefängnisse, die Militärverwaltung, die Münze, das Arsenal, das
Artilleriemuseum und die Peter-Pauls-Kathedrale, welche in einem
Anbaue die Gruft der russischen Czaren aus dem Hause Romanoff
seit Peter dem Grossen, mit Ausnahme Peter II., enthält.
Etwa 25 km westlich von der Mündung der Newa verengt sich
der 65 km lange Golf von St. Petersburg, welcher das östlichste Ende
des Finnischen Meerbusens bildet, zur Kronstädter Bucht; fast in der
Mitte zwischen dem nördlichen finnländischen und dem südlichen
ingermanländischen Ufer, wo dieselben sich näher rücken, liegt die
11 km lange und schmale Insel Kotlina, auf ihr Kronstadt, das
Bollwerk von St. Petersburg. Die Stadt hat 48.000 Einwohner und
besteht aus zwei Theilen — dem Admiralitäts- und dem Gouverneurs-
theil. Ersterer ist weitaus interessanter, er enthält das grosse Admi-
ralitätsgebäude, Arsenale, Schiffswerften, Kasernen, Vorrathshäuser
[[873]]
A Canal von St. Petersburg-Kronstadt, B Hafen für Ankunft, C Hafen für Abfahrt, D Galeerenhafen, E Newa-Fluss, F Leuchtfeuer, F1 Leuchtfeuer, G Wrack, H Rettungs-
boote, J kais. Palais und Oranienbaum, K Fort Constantin, L Fort St. Peter, M Kathedrale und Peterhof, N Palais im Peterhof, O Palais und Strielna, P Pulvermagazin, Q See.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 110
[874]Der atlantische Ocean.
aller Art, Spitäler, Laboratorien und Schulen dicht zusammengedrängt.
Kronstadt besitzt am Südostende der Insel ein grosses in drei Ab-
theilungen gesondertes Hafenbassin von 2 km Länge und 600 m Breite,
an welches das 800 m lange Bassin des Kriegshafens grenzt.
Der mittlere Theil des grossen Bassins enthält Schiffswerften
und Werkstätten, wo hingegen der westliche Theil den Handelshafen
bildet, welcher bei 500 m Breite und 600 m Länge nur für eine be-
schränkte Zahl von Handelsschiffen Raum bietet. Aber selbst wenn in
allen Abtheilungen des durch starke Befestigungen eingeschlossenen
Beckens Handelsschiffe zugelassen würden, so würde der vorhandene
Raum für einen grossen Verkehr nicht ausreichen, und es müssten die
kostspieligsten Arbeiten vorgenommen werden, um den Schiffen ge-
sicherte Liegeplätze zu bieten.
Die Festungswerke von Kronstadt sind seit Peter dem Grossen
durch fast alle Herrscher Russlands verstärkt worden.
Das Meiste dazu hat Nikolaus I. beigetragen. Die Kosten der
Werke wurden beim Regierungsantritt Alexander II. bereits auf
200 Millionen Rubel angegeben; seitdem wurden die Befestigungen
durch Totleben noch weiter verstärkt.
Kronstadt und seine Werke sperren die Zufahrt zur Newa-
mündung vollständig ab. Das nördliche Fahrwasser besitzt kaum
3·7 m Tiefe und ist überdies durch Sprengungen unpassirbar gemacht.
Die südliche durch das Leuchtschiff „London“ markirte Zufahrt führt
bei 8 m Tiefe directe unter den Batterien von Kronstadt vorbei.
Für den Nationalökonomen war es wohl immer ganz ausser-
ordentlich auffallend, dass St. Petersburg, durch dessen Gründung
Peter I. sich doch einen Antheil an der Ostsee erstritten hatte,
eigentlich keinen Hafen besass, denn wie St. Petersburg durch seine
gewaltige Ausdehnung und durch verschwenderische Pracht seiner
Bauwerke ausgezeichnet ist, ebenso fällt dieser wichtige Seeplatz
durch seine höchst unbedeutenden Hafenanlagen auf, und wenn man
auch die Versandung der Kronstädter Bucht in Betracht zieht, so
muss man doch zugeben, dass der Schaffung von Hafenanlagen lange
Zeit hindurch eine durchaus ungenügende Aufmerksamkeit geschenkt
wurde. Man steht erst jetzt im Begriffe, einen Hafen zu erbauen.
Wie unsere Pläne zeigen, wird im südwestlichen Theile von
Petersburg nächst der Mündung der Grossen Newa in die Kronstädter
Bucht ein Hafenbassin von 700 m Länge und 200 m Breite gebaut,
und werden dessen Quais mit Lagerhäusern und Schienenwegen aus-
gestattet werden.
[875]St. Petersburg.
In dieses Bassin wird der Morskoicanal einmünden, welcher, in
einer Länge von 28 k m den seichten Grund der Bucht durchschnei-
dend, Kronstadt mit Petersburg verbindet. Der Canal wird nächst
Petersburg durch Dämme geschützt werden. Südlich des Hafenbassins
dürfte ein weites Becken zur Aufnahme einer grossen Zahl von Schiffen
geschaffen werden.
Gegenwärtig ist jedoch nur ein Theil der Arbeiten durchgeführt.
Wie aus dem Plane ersichtlich, ist der Canal, damit er dem Wasser-
strome der Grossen Newa nicht ausgesetzt werde, 2 km südlich der
Mündung derselben angelegt worden.
Sämmtliche Newamündungen sind durch Barrenbildungen unklar
und besitzen etwa 2 m Wassertiefe. Innerhalb derselben wäre aber
in der Grossen Newa selbst für die grössten Oceanschiffe genügend
Wasser vorhanden.
Die Newa ist der Ausfluss des Ladogasees, des Sammel-
beckens eines grossen Süsswassersystems, das nur flache Boden-
senkungen, Woloks genannt, von den umliegenden Flussgebieten
trennen. Die Natur hat hier bequeme und billige Verbindungen ange-
bahnt, die von dem innersten Winkel des Finnischen Meerbusens
durch die Dwina bis in das nördliche Eismeer, durch die Wolga bis
an die nördlichen Gestade Persiens reichen.
Betrachten wir nun die natürlichen Verbindungen der Seehandels-
stadt St. Petersburg mit dem Innern Russlands, die Peter den Grossen
bewogen, statt des heiligen Moskau gerade hier eine neue Haupt-
stadt zu gründen, nicht zu weit entfernt von der Stelle, wo am
Wolchow durch Jahrhunderte die Vorgängerin von St. Petersburg, das
grosse Nowgorod, der Sitz eines Kaufhofes der Hansa, geblüht und
den Verkehr der Russen mit dem Westen und seiner Cultur ver-
mittelt hatte.
Alle Verbindungen laufen im Ladogasee zusammen. Von Nord-
westen kommt aus den grossen Felsenkammern Finnlands die Woxen
herab, der Ausfluss zahlreicher Wasserbecken; aus Nordosten strömt
der Abfluss des grossen Onegasees, der tiefe, schiffbare Swir herbei
und aus dem Süden bringt die Wolchow die Gewässer des Ilmen-
sees und der Waldaihöhe.
Drei Canalverbindungen sind für den Binnenhandel von St. Pe-
tersburg besonders wichtig geworden, die Linie vom Ilmensee über
die Senke von Wischnii Wolotschok nach Twer an der Wolga, ferner
der Mariencanal, welcher den Ladogasee mit der Wolga bei Rybinsk
110*
[876]Der atlantische Ocean.
verbindet, und endlich eine Abzweigung dieses Canalsystems zur
Suchona, dem linken Quellarm der Dwina.
Das sind die Wege, welche jährlich Tausende von Schiffen aus
der Wolga und Dwina nach St. Petersburg bringen. Die flachen
Fahrzeuge nimmt auf dem letzten Theile ihres Weges ein breiter
Canal auf, durch welchen sie das klippenreiche Südufer des stürmi-
schen Ladogasees umgehen. Bei der ungewöhnlich grossen Bedeutung,
welche in Russland, trotz der klimatischen Widerwärtigkeiten, die
Wasserstrassen gegenüber den Eisenbahnen besitzen, wird es begreiflich,
dass man sich dort unaufhörlich mit neuen Canalverbindungen be-
fasst, welche die Handelsstellung von St. Petersburg befestigen sollen.
Man plant eine leicht herzustellende Verbindung zum Peipussee und
wendet 12½ Millionen Rubel an die Verbreiterung und Vertiefung des
oben genannten Mariensystems, so dass dieses in Zukunft jährlich
nicht 10 Millionen q, sondern das Doppelte an Frachten wird St.
Petersburg zuführen können. Man berechnet, dass durch die Ver-
wendung grosser Schiffe die Fracht für 1 Pud von Rybinsk nach
St. Petersburg auf 3 Kopeken sinken werde.
Der Handel von St. Petersburg hat seit Vollendung des Putilofcanales
den grössten Theil des Handels von Kronstadt an sich gezogen, dem fast nur
der Verkehr in Kohle und Holz geblieben ist.
Die Gesammtausfuhr beider Plätze bildete 1883 noch 17·7 % der Ausfuhr
des russischen Reiches, 1889 nur 10·3 %; dafür hat sich das Verhältniss der Be-
theiligung an der Einfuhr in demselben Zeitraume von 13·0 % auf 19·1 % ge-
hoben. Die Bevölkerung der grossen und reichen Hauptstadt hat Bedürfnisse,
welche die stetig steigende Höhe der russischen Zölle nicht einzuschränken ver-
mag, und die wachsende Industrie von St. Petersburg und Umgebung muss einen
grossen Theil der nothwendigen Rohstoffe aus dem Auslande beziehen.
In St. Petersburg ist wie in den anderen Häfen Russlands Getreide ein
Hauptartikel der Ausfuhr. An der Spitze steht Hafer (1889 8,100.000 q, 1888
4,297.293 q), geht nach Grossbritannien, den Niederlanden, Belgien, Deutschland
und Frankreich. Weizen (1889 365.000 q, 1888 452.580 q), geht nach Schweden,
Deutschland und Grossbritannien, Roggen (1889 552.800 q, 1888 3,257.900 q)
nach Deutschland und den drei nordischen Königreichen. Die Ausfuhr von Gerste
ist gering, wichtiger die von Erbsen (1889 42.363 hl) und von Buchweizen
(1888 339.100 q).
Um den Getreidehandel von St. Petersburg zu fördern, wurde Ende 1889
ein riesiger Elevator eröffnet; sechs Thürme sind dem Ufer, zwei dem Seecanale
zugewendet, um direct auf die Seeschiffe verladen zu können. Der Elevator ist im
Stande, 213.000 q zu fassen, und zwar 163.800 q in den Getreidebehältern, das
Uebrige in Säcken. Im Laufe einer Stunde können 900 t bewegt werden.
Von Mehl wurden 1888 68.800 q, von Kleie 1889 597.600 hl ausgeführt.
Ziemlich rasch entwickelte sich die Ausfuhr von Spiritus und von Holz.
Es gingen 1889 1,264.609 Standard Dutzend Bretter nach Grossbritannien, den
[877]St. Petersburg.
Niederlanden, Deutschland, Frankreich und selbst bis Afrika und Australien, dann
459.901 Cubikfuss Eschenholz nach den drei nordischen Königreichen, endlich
835.503 Stück Splittholz nach Grossbritannien.
Auch an der Ausfuhr von Leinsaat war St. Petersburg 1889 mit 1,384.850 hl
betheiligt, die nach Grossbritannien, den Niederlanden und Belgien verschickt
wurden.
Oelkuchen, deren Ausfuhr sich 1889 auf 312.460 q steigerte, gehen nach
Dänemark, Schweden, Grossbritannien und Deutschland.
Flachs (1889 131.297 q) und Heede (1889 70.466 q, 1888 168.224 q) ver-
sendet St. Petersburg nach Frankreich, Grossbritannien und Deutschland.
Von den Producten des Thierreiches ist zunächst die langsam steigende
Ausfuhr von Butter (1889 11.918 q) hervorzuheben, ferner die von Talg (11.959 q).
Die Ausfuhr von frisch geschlachtetem Fleisch nach London soll in kurzer Zeit
durch englische Stahldampfer in Gang gebracht werden; nach London gehen ferner
Eier und Wildpret.
An die Stelle der Ausfuhr von Knochen tritt allmälig Knochenkohle;
Summe der Ausfuhr 1889 115.416 q.
Die Ausfuhr von Schafwolle ist 1888 auf 10.057 q gefallen.
Anzuführen sind ferner Margarin, Oleïn, Glycerin, Därme und
Borsten.
Mineralöl (1889 83.315 q) geht nach den drei nordischen Königreichen.
Von Industrieartikeln gehen über St. Petersburg Tauwerk (1889 9758 q)
und Leinwand (1889 2,769.700 m) nach den Niederlanden, Deutschland, Gross-
britannien und Dänemark, Juften nach Deutschland und Grossbritannien, und
Matten (1889 441.725 Stück) nach Grossbritannien, den Niederlanden und
Dänemark.
Die Ausfuhr von uralischem Eisen, das auf den Wasserstrassen nach
St. Petersburg gelangt, dürfte bald ganz aufhören.
Unter den Einfuhrartikeln von St. Petersburg nehmen Nahrungs- und
Genussmittel eine hervorragende Stellung ein. Es importirt Früchte, Beeren
und Nüsse aus Deutschland, Schweden und Südeuropa (1888 21.622 q), Kaffee
über Deutschland und England, 1888 82.720 q, das ist die Hälfte der Einfuhr von
ganz Russland, während die Einfuhr von Thee (1888 7700 q) im Verhältnisse zu
dem Consume Russlands klein ist.
Ueber St. Petersburg gelangten direct aus Frankreich und über Deutsch-
land ein Drittel der Einfuhr von Fassweinen (1888 23.915 q) und zwei Fünftel
der von Flaschenweinen nach Russland.
Wichtig ist auch die Einfuhr von Tabak.
Schweden, Norwegen, Schottland und England liefern Häringe (1888
82.720 q), Frankreich marinirte und in Oel eingelegte Fische.
Von den Spinnstoffen ist die Einfuhr von Baumwolle über England be-
sonders hervorzuheben, sie betrug 1887 251.270 q, 1888 165.600 q und ist 1889
neuerdings gestiegen.
Die Einfuhr von Wolle erreichte etwa 10.000 q, die von Häuten und
Leder 12.000 q, und die von Talg (1888 15.561 q) ist etwas grösser als die
Ausfuhr.
St. Petersburg verbraucht den vierten Theil des ganzen aus Deutschland
und England nach Russland eingeführten Cementes (1888 59.623 q).
[878]Der atlantische Ocean.
Die Versorgung der Stadt mit Steinkohlen und Coaks leitet Eng-
land trotz der verhältnissmässig hohen Zölle, welche auf dem ausländischen Pro-
ducte lasten, weil die Kohlenlager Südrusslands zu weit von hier entfernt sind.
Die Einfuhr stieg 1889 bis auf 10,714.580 q.
Die Einfuhr von Gusseisen aus Deutschland, Grossbritannien, Schweden
und Frankreich, von Stangeneisen und Trägern aus Belgien und von Eisen-
blech erreichte zusammen 1888 wegen der hohen Zölle nur mehr 303.120 q. In
Maschinen und Werkzeugen aus Eisen und Stahl hat Deutschland Gross-
britannien überflügelt.
Kupfer wird aus Schweden eingeführt, Zinn aus Grossbritannien, Blei
in Blöcken aus England und über Frankreich aus Spanien (1888 102.866 q), Blei
in Rollen und Zink in Blöcken und Tafeln, zur Verwendung bei den Bauten der
Stadt, aus Deutschland.
In Farbwaaren, Droguen und Chemikalien ist St. Petersburg noch
immer zu einem ansehnlichen Theile auf Deutschland, Frankreich, Grossbritannien
und Oesterreich-Ungarn angewiesen. Die Hauptartikel sind Indigo, calcinirte
Soda (1888 21.460 q), Aetzsoda (74.370 q), Salpeter und Salpetersäure.
Zu erwähnen sind ferner Olivenöl aus Südeuropa (1888 29.500 q) und
Cocosnussöl für Moskau bestimmt.
Der Seehandel von St. Petersburg und Kronstadt betrug in Tausenden
von Papierrubeln:
| [...] |
Das Gouvernement St. Petersburg ist mit seiner Hauptstadt eines der
drei ersten Industriecentren von Russland.
Wir finden hier Schafwollspinnerei, Tuchfabrication, Baumwollspinnerei
und Weberei, Erzeugung von Posamentir- und Wirkwaaren, Hanffabriken, Färbe-
reien, Fabriken für Papiere und Tapeten, Sägewerke, Möbelfabriken.
An die Erzeugung chemischer Fabricate schliessen sich Ziegelbrennereien.
Glas- und Porzellanfabriken.
Wichtig sind die Tabakindustrie und die Erzeugung von Leder und Leder-
waaren. Die Metallindustrie umfasst Maschinen aller Art, Eisengiessereien, Schienen-
walzwerke, Fabriken für Gussstahl, Draht und Nägel, Schlosserwaaren, Gewehre,
Fabricate aus Kupfer und Messing und endlich eine hochentwickelte Industrie in
Gold- und Silberwaaren.
In St. Petersburg und Kronstadt liefen aus dem Auslande ein:
| [...] |
Ausserdem verkehrten 1889 in St. Petersburg und Kronstadt 640 Küsten-
fahrer, darunter 417 Dampfer.
Mit der Verbesserung des Fahrwassers steigt natürlich die Zahl der Schiffe,
welche bis St. Petersburg hinaufgehen.
[879]St. Petersburg.
Am auswärtigen Verkehre hat den stärksten Antheil die britische Flagge,
1889 mit 58 % des Tonnengehaltes, auf sie folgen die dänische, die deutsche,
die norwegische und die schwedische Flagge; die russische nimmt erst die
sechste Stelle ein.
In den Wintermonaten, wenn Eis den Hafen unzugänglich macht, ist
Reval, und wenn auch dies verschlossen sein sollte, Baltischport der Hafen von
St. Petersburg.
St. Petersburg hat regelmässige Dampfschiffsverbindung über Reval nach
Lübeck und über Helsingfors und Hangö nach Stockholm.
Die Hauptstadt ist zugleich einer der wichtigsten Eisenbahnknotenpunkte
von Russland Von hier gehen zwei Hauptbahnen mit Schnellzugsverbindung aus;
die eine führt nach Moskau, von welchem sechs Eisenbahnen ausstrahlen, die andere
über Wilna nach Warschau, sie vermittelt durch ihre Anschlüsse den Landver-
kehr Russlands mit dem westlichen Europa.
In den Wintermonaten, wenn St. Petersburg von der See her nicht zu-
gänglich ist, werden auch die Nebenlinien über Reval nach Baltischport am süd-
lichen und die nach Hangö am nördlichen Gestade des Finnischen Meerbusens
sehr wichtig für den Verkehr der Metropole.
St. Petersburg ist Sitz einer Börse und der wichtigsten Banken von
Russland, unter welchen die Reichsbank obenan steht.
In St. Petersburg unterhalten Consulate: Argentinien (G.-C.), Belgien,
Brasilien (G.-C.), Dänemark (G.-C.), Deutsches Reich, Frankreich, Griechenland,
Grossbritannien, Italien, Kongostaat, Monaco (G.-C.), Niederlande (G.-C.), Oester-
reich-Ungarn (G.-C.), Persien (G.-C.), Portugal (G.-C.), Schweden und Norwegen
(G.-C.), Schweiz (G.-C.), Spanien (G.-C.), Türkei, Venezuela und Vereinigte Staaten
(G.-C.).
Finnland, welches ein eigenes Zoll- und Handelsgebiet bildet
und eine eigene Münze (die finnische Mark) hat, besitzt drei Häfen
von einiger Handelswichtigkeit. Im Osten Wiborg, am Eingang in
den Finnischen Meerbusen Helsingfors und am Eingang in den Bott-
nischen Busen Åbo. Diese Städte sind einerseits mit Petersburg,
andererseits mit den nördlichen Gebieten durch Eisenbahnen verbunden.
Wiborg ist die alte Hauptstadt von Karelien und liegt an der
tief eingeschnittenen gleichnamigen Bucht, in welche der zum Saima-
see führende Saimacanal ausmündet. Wiborg ist Station der russisch-
baltischen Flotte und zählt ungefähr 17.000 Einwohner. Die Stadt
hat mehrere Fabriken, worunter Giessereien und Maschinenbau-Etablis-
sements. Beträchtlich ist der Holzhandel, hauptsächlich in Brettern,
welche von den Sägemühlen in Knopio-Län zugeführt und nach Frank-
reich, Grossbritannien und Deutschland ausgeführt werden.
Wiborg ist der erste Einfuhrhafen des Landes für Salz, Mehl und Grütze.
Sein Schiffsverkehr erreichte 1888 832 Schiffe mit 442.868 t.
Helsingfors ist die Hauptstadt von Finnland und zählt 56.000
Einwohner, meist Schweden.
[880]Der atlantische Ocean.
Die Stadt ist Sitz des Generalgouverneurs, des Senats und aller
Centralbehörden; seit 1828 besteht dort die Alexander-Universität,
welche von Åbo dahin verlegt wurde.
Der Hafen liegt innerhalb eines Kranzes von Schären-Inseln und
Riffen, welcher für grössere Schiffe nur die schmale Passage des
Gustafs-Svärds-Sund offen lässt.
Auf einigen der südlich gelegenen Schären breiten sich die Be-
festigungen der starken Festung Sveaborg aus, welche 1855 durch
die englisch-französische Flotte erfolglos angegriffen wurde.
Das heutige Helsingfors ist eine Gründung der Königin Christine von
Schweden, welche 1639 die ungünstig gelegene, von Gustav Wasa 1550 an den
Ufern des Wandaflusses gegründete alte Stadt an die Estnäss-Spitze verlegen liess.
In der Nähe der Stadt musste sich 1742 der schwedische General Löwenhaupt
mit 12.000 Mann den Russen ergeben. Die Stadt gelangte 1809 an Russland und
ist seit 1812 die Hauptstadt von Finnland.
Helsingfors bedeckt ein buchtenreiches Terrain und hat in den
Häfen Nocahamnen und Södrahamnen schöne Quaianlagen und Bassins
für kleinere Schiffe.
Die erst in der neueren Zeit emporgeblühte Stadt hat gerade
und breite Strassen und stattliche Häuser, ihre Kirchen, Monumente,
öffentlichen Gebäude, das Theater sind prächtig, so dass Helsingfors
in jeder Beziehung eine schöne Stadt genannt zu werden verdient.
In ihr concentrirt sich auch das geistige Leben Finnlands.
Ausser der Universität und ihren Nebeninstituten bestehen dort ein
Polytechnicum, mehrere Lyceen, eine Navigations- und Handelsschule,
eine Irrenanstalt, ein Blindenasyl u. dgl.
Die Industrie ist in der Entwicklung begriffen.
Helsingfors ist der erste Einfuhrhafen von Finnland.
Es ist wichtig für die Einfuhr von Getreide und Mehl (1889 für 2·7 Mil-
lionen Mark), Tabak, Maschinen, der wichtigste Platz für Kaffee (2·3 Millionen
Mark), Zucker (4·6 Millionen Mark), Spiritus, Cognac, Wein, Eisen- und Eisen-
waaren (2·8 Millionen Mark), Webewaaren (3·4 Millionen Mark).
Die Einfuhr aus dem Auslande erreichte 1889 32,620.965 Mark, 1888
27,264.795 Mark.
In den hervorragenden Ausfuhrartikeln Finnlands, Holz, Butter, Fische,
steht es manchem einheimischen Hafen nach, an der Ausfuhr von Hafer ist es
fast gar nicht betheiligt.
Der Schiffsverkehr von Helsingfors erreichte 1888 2568 Schiffe mit
442.252 Reg.-Tons; von diesen waren 1008 Dampfer mit 335.681 Reg.-Tons.
Den ersten Rang nimmt die heimische Flagge ein, der Verkehr ist zumeist
nach finnischen Häfen, nach Russland, Schweden und Norwegen, Grossbritannien
und dem Deutschen Reiche gerichtet.
Regelmässige Dampferverbindungen gehen nach St. Petersburg, den fin-
nischen Plätzen und Lübeck.
[881]St. Petersburg.
In Helsingfors unterhalten Consulate: Belgien, Brasilien, Deutsches Reich,
Frankreich, Grossbritannien (V.-C.), Niederlande, Oesterreich-Ungarn (V.-C.), Por-
tugal, Schweden und Norwegen (G.-C.), Spanien (V.-C.).
In neuerer Zeit gewinnt Hangö an der Südwestspitze Finn-
lands, dessen Hafen im Winter eisfrei bleibt, steigende Bedeutung.
Von hier geht auch im Winter eine Dampferlinie in 19 Stunden
nach Stockholm. Es ist Finnlands erster Ausfuhrhafen für Butter und
Fische.
Åbo war ehemals die Hauptstadt von Finnland und ist die
älteste und geschichtlich merkwürdigste Stadt Finnlands. Am Schloss-
fjord gelegen, zählt sie 27.300 Einwohner und ist Sitz des Erz-
bischofs von Finnland. Der Hafenort von Åbo liegt auf der Insel
Hirvensalo, wo grössere Schiffe ankern können. Die Stadt besitzt einen
lebhaften Schiffbau.
1888 erreichte die Einfuhr Åbos 19,850.876, die Ausfuhr 8,806.869 finnische
Mark, sein Schiffsverkehr 1413 Schiffe mit 390.654 Reg.-Tons.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 111
[[882]]
Stockholm.
Mitten in dem Fluss, welcher den Ausgang des Mälarsees in
die Ostsee bildet, zum Theile auf acht durch Brücken mit einander
verbundenen Inseln erbaut, ringsum von Wasser umgeben und durch-
flutet, ein nordisches Venedig, liegt die Hauptstadt Schwedens. Sie
taucht allmälig vor unseren Augen auf, wenn wir auf dem Dampf-
schiffe den reizenden Mälarsee durchfahrend uns seiner Vereinigung
mit der Ostsee nähern. Zuerst sehen wir die grossen und harmoni-
schen Massen des königlichen Schlosses mit der alten Stadt. Immer
reicher tauchen die wunderbaren landschaftlichen Reize der Umgebung
der Stadt auf; kahle Felsen und belaubte Hügel, fruchtbare Felder,
üppige Wiesen, schattige Wälder, liebliche Landhäuser wechseln in
erquickender Mannigfaltigkeit mit einander ab. Die prächtigen Quais,
an welchen grosse Mengen von Schiffen laden und löschen, die zahl-
reichen niedlichen Dampfer, welche Passagiere von einer Insel zur
anderen oder nach dem Festlande befördern, verleihen der Stadt
Leben und Bewegung südlicher Art.
Stockholm liegt unter 59° 29′ nördl. Br. und 18° 2′ östl. L.
v. Gr. (Sternwarte) und besitzt ein echt nordisches, aber nicht sehr
rauhes Klima. Obgleich es südlicher gelegen ist als St. Petersburg,
ist hier die Temperatur doch im Sommer um etwa 4—5° R. kühler,
dagegen im Winter um 6—8° wärmer als dort. Die kältere Tem-
peratur Stockholms im Sommer wird durch die Lage der Stadt zwischen
Mälar- und Ostsee bedingt. Sehr selten nur steigt das Thermometer in
Stockholm über 25° R. oder fällt bis zu 7° R. unter O. Einen wun-
derbaren Eindruck machen auf den Fremden die hellen Sommer-
nächte oder richtiger das fast völlige Fehlen der Nacht im Juni und
Juli. In der zweiten Hälfte des Juni tritt überhaupt keine Dunkel-
heit ein, sondern nur eine etwa drei Stunden währende Dämmerung.
Im Sommer herrscht auf den Strassen und Quais bis Mitternacht das
regste Leben: im Hafen wird ein- und ausgeladen und in den Parks
[883]Stockholm.
und Vergnügungslocalen unterhält man sich bei Musik und Tanz.
Die Winter sind ausgezeichnet durch eine monatelang anhaltende,
ruhige und erträgliche Kälte. Die Schweden verstehen es ganz gut
auch die Reize des Winters in frohen Festen, im Eissporte, in
Schlittenfahrten und dergleichen mehr zu geniessen.
Als im Jahre 1187 die Esthen in Schweden einfielen, erbaute der König
Knut Erikson dort, wo jetzt der alte Theil von Stockholm steht, zum Schutze
gegen die Räuber ein Schloss, um das sich allmälig friedliche Bürger ansiedelten.
Birger Jarl, der später die Regierung übernahm, erhob diese Ansiedlung zur
Stadt und wurde so der Gründer Stockholms. Ursprünglich war die Stadt nur
auf der im Ausflusse des Mälarsees liegenden grossen Insel (eigentliche Stadt)
und auf den daran grenzenden kleineren Inseln Helgeandsholm und Riddarholm
gelegen. In der Nähe Stockholms erfochten am 14. October 1471 die Schweden
unter Sten Sture den entscheidenden Sieg über die Dänen, durch welchen Schweden
von der dänischen Herrschaft frei wurde.
Im Jahre 1520 nahm der dänische König Christian II. nach zweimaliger
Belagerung die Stadt ein und veranstaltete nach der Uebergabe das berüchtigte
Stockholmer Blutbad, indem er 94 der angesehensten Männer der Stadt, welche
Gegner der dänischen Herrschaft waren, im Widerspruch mit dem Vertrag hin-
richten liess.
Stockholm besitzt im Verhältnisse zu seiner Einwohnerzahl eine
ausserordentliche Ausdehnung, die durch die Scheidung der Stadt-
theile durch das rasch fliessende Wasser, durch grosse Parkanlagen
und breite Quais hervorgebracht wird. Der Durchmesser der Stadt
beträgt etwa 6 km und der Umfang 20 km. Viele Strassen in dem
alten Theile der Stadt sind eng, ohne Trottoirs, die meisten Häuser
sind hoch und einfach. Wenn also auch die Lage Stockholms im
Sommer an die alte Dogenstadt erinnert, so steht es doch in Bezug
auf die Schönheit der Privatbauten weit hinter derselben zurück.
Stockholm, Haupt- und Residenzstadt Schwedens, mit einer
Bevölkerung von 235.000 Einwohnern, ist in seinem Kern und seinen
wesentlichen Theilen eine alte, zum Theile noch mittelalterlichen
Charakter tragende Stadt. Das eigentliche alte Stockholm, Staden
genannt, liegt in der Mitte, wie bereits erwähnt, auf der im Ausfluss
des Mälar liegenden Insel. Der hervorragendste und interessanteste
Bau der Altstadt und ganz Stockholms ist das königliche Schloss,
das mitten in der Stadt auf einer Anhöhe nahe am Hafen gelegen
ist und durch seine Lage und Grösse die Stadt beherrscht. An der-
selben Stelle stand früher das von Birger Jarl erbaute Schloss, das
zugleich als Staatsgefängniss diente. Im Jahre 1697 wurde das alte
Schloss sammt einem neuen Flügel ein Raub der Flammen, und
Nicodemus Tessin erhielt den Auftrag, ein neues zu bauen. Das
111*
[884]Der atlantische Ocean.
jetzige Schloss wurde mit vielen Unterbrechungen, die durch Kriege
und Geldmangel herbeigeführt waren, gebaut. Erst im Jahre 1754
konnte der Hof einziehen, und auch seitdem sind viele Veränderungen
und Neubauten vorgenommen worden. Das Schloss ist aus Back-
steinen aufgeführt und aussen mit Sandstein verkleidet, es bildet ein
fast quadratisches Viereck von 116 m von Osten gegen Westen und
124 m von Süden nach Norden. Im Osten und Westen befinden sich
je zwei Flügel gegen Norden und Süden, die in der Höhe bis zum
Mezzanin reichen. An der Westseite sind auch noch zwei freistehende,
halbrunde Flügelgebäude, welche den kleinen, äusseren Schlosshof
einschliessen, wo die Hauptwache sich befindet. Der grosse Hof in
der Mitte des Schlosses dient zur Abhaltung der Truppenrevuen
durch den König. Das Hauptgebäude besteht nach aussen aus einem
hohen Erdgeschosse, einem Mezzanin und zwei hohen Stockwerken.
Am imposantesten erscheint das Schloss von der Nordbrücke. Zur
nördlichen Façade führt eine aus Granitquadern im Zickzack aus-
geführte Rampe bis zum Eingangsthore des Schlosses. Die Rampe
hat von zwei in gleicher Höhe auf Piedestalen aufgestellten
kolossalen Löwen den Namen Lejonbacken (Löwenterrasse). Die
Aussicht von dieser Rampe ist wunderbar: zur Rechten hat man
das unabsehbar weite Labyrinth der Schären, welches hier die Ost-
seeküste umsäumt; zahlreiche Segel- und Dampfschiffe steuern durch
die engen Fahrstrassen. Jenseits des Stromes erheben sich majestä-
tisch das Nationalmuseum und das Grand Hôtel; auf der Nordbrücke
wogt ein beständiger Strom von Fuhrwerken aller Art und Fuss-
gängern; zur Linken sieht man einen blauen Streifen des Mälarsees
mit der Eisenbahnbrücke und den übrigen Palästen. In dem nörd-
lichen Flügel des Schlosses wohnt das Königspaar und dort sind
auch die grossen Festsäle. Auf der Westseite führt eine pracht-
volle Marmortreppe mit Säulen, Perspectivgemälden, Medaillons und
bronzene Laternen tragenden Genien in die königlichen Gemächer.
Auf der Südseite führen schöne Treppen von schwedischem Marmor
in die Schlosscapelle und den sogenannten Reichssaal (Rikssalen);
letzterer wird bei Eröffnung des Reichstages und grossen Hoffest-
lichkeiten benützt. Auf der Ostseite befindet sich der Treppe ge-
genüber eine kolossale Gypsgruppe, Axel Oxenstjerna darstellend,
wie er der Muse der Geschichte die Thaten Gustav Adolf’s die-
tirt. Im nordöstlichen Flügel des Schlosses ist die Nationalbib-
liothek untergebracht.
An der Südseite des königlichen Schlosses ist ein grosser,
[[885]]
Stockholm.
[886]Der atlantische Ocean.
gegen den Hafen zu sich sanft senkender Berg, Slottsbacken (Schloss-
berg). Auf demselben befindet sich eine Bronzestatue des Königs
Gustav III. und ein zur Erinnerung an die im letzten russischen
Kriege (1788—1790) bewiesene Treue der Bürger vom König ge-
widmeter Obelisk.
Ebenfalls dem Südeingang des Schlosses gegenüber an dem
Slottsbacken steht das Palais des Oberstatthalters von Stockholm,
ursprünglich das Haus des berühmten Architekten Tessin. Hinter dem
Obelisk steht die älteste Kirche Stockholms, die Nikolaikirche, ge-
wöhnlich Storkyrkan (grosse Kirche) genannt; sie stammt aus der
zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts, wurde aber 1736—1743 gänzlich
ungebaut und erhielt dabei den jetzigen zu ihrem Styl gar nicht
passenden Thurm. Sie enthält zahlreiche werthvolle Alterthümer. In
dieser Kirche werden die Könige gekrönt.
Mit dem Slottsbacken ist durch eine kleine Gasse der alte Markt-
platz der Stadt, Stortorget, verbunden, auf dem das Stockholmer
Blutbad stattfand, jene Massenhinrichtung am 10. und 11. November
1520, durch welche Christian II. von Dänemark die Vertreibung der
Dänen herbeiführte. An der Stelle des alten Rathhauses, wo Christian II.
dem Blutbade zusah, steht jetzt die Börse. Unweit des alten Markt-
platzes befindet sich die deutsche oder Gertrudkirche und in deren
Nähe die alte Synagoge der Juden. Weiter südlich erreicht man den
Jantorg, an dem die schwedische Reichsbank, von Tessin erbaut,
liegt. Durch eine kleine Strasse gelangt man von da zum Skeppsbrou
(Schiffsbrücke), einer breiten Hafenstrasse, die gegen die See von
einem Granitquai eingefasst ist, gegen die Stadt durch die Gross-
handlungshäuser begrenzt wird. Mehrere Treppen führen zum Wasser
hinab, wo Schiffe aller Nationen den Handelsverkehr Stockholms ver-
mitteln. Hier herrscht das grösste Geschäftsleben, und die zahlreichen
engen Gassen, in denen sich die Packhäuser der Kaufleute befinden,
verleihen diesem Theile der Stadt einen eigenthümlichen und inter-
essanten Charakter. Hier sind das Zollhaus und die beiden Häuser
der Nationalbank.
Wenn man das Schloss zur Rechten lässt, gelangt man hinab
zum Münzplatz — Mynttorget — das einstmalige Münzhaus, das hier
steht, ist jetzt für die Bureaus der meisten Ministerien bestimmt und
führt den Namen Kanzleihaus. Durch die Münzstrasse gelangt man
zum Riddarhustorget (Ritterhausplatz), wo vor dem Ritterhaus das
Standbild Gustav I. Erikson Wasa steht. Das Ritterhaus, eines der
bedeutendsten Gebäude der Stadt, ist aus rothen Backsteinen erbaut
[887]Stockholm.
und war früher Versammlungsort der ständischen Reichstage. Der
grosse Saal, der mit den Wappen der adeligen Geschlechter ge-
schmückt ist, dient noch als Versammlungsort der Ritterschaft. Auf
demselben Platz steht das Rathhaus, in italienischen Formen aus-
geführt.
Westlich vom Ritterhausplatz führt die Riddarholmsbrücke zur
kleinen Insel Riddarholm (Ritterinsel). Der kleine Marktplatz auf der
Insel ist mit dem Standbild Birger Jarl’s, des Gründers von Stock-
holm, geschmückt und von einer Reihe öffentlicher Gebäude einge-
säumt, darunter das Reichsarchiv, das schwedische Hofgericht, das
Kammergericht und das Haus des Reichstags, aus zwei älteren Ge-
bäuden gebildet. Das hervorragendste Gebäude der Insel ist aber die
Riddarholmskirche, im XIII. Jahrhundert als Franziskanerkirche ge-
baut, jetzt als Mausoleum für die Königsfamilie und die hohen Adels-
familien des Landes verwendet. Hier werden auch unter Anderem die
Trophäen der schwedischen Heere und Flotten (gegen 6000 Fahnen
und Flaggen) aufbewahrt. Der ganz aus Eisen construirte hohe Thurm-
helm ist ein Unicum in seiner Art.
Wenn wir über den Münzplatz zur Nordbrücke zurückkehren,
der schönsten und belebtesten Brücke Stockholms, und dieselbe über-
schreiten, gelangen wir nach Norrmalm (Nordvorstadt), das die
schönsten Strassen besitzt. Zunächst betreten wir den Gustav Adolf-
Platz mit dem Reiterstandbild Gustav II. Adolf. Von diesem Platz
hat man eine wundervolle Aussicht auf das königliche Schloss. Oest-
lich befindet sich das grosse königliche Theater oder Opernhaus,
westlich das Palais des Erbprinzen', im Aeussern ein Gegenstück
zum Theater. Vom Gustav Adolf-Platz gelangt man östlich zu dem
Königsgarten (Kungsträdgarden), dem grössten und schönsten Platz
Stockholms, mit Gartenanlagen geschmückt, in denen sich elegante
Kaffeehäuser und Restaurationen befinden. In der Mitte des Platzes
steht das Standbild Karl XIII., südlich davon eine herrliche Fontaine
von Malin mit plastischen Götterfiguren aus der nordischen Mytho-
logie, noch weiter südlich das Standbild Karl XII.
Der vornehmste Theil von Norrmalm ist Blasieholm, früher eine
eigene kleine Insel. Dieser Stadttheil hat schöne Palais. In der Mitte
liegt der Blasiiplatz. Wendet man sich gegen den Norrstrom, welcher
den Mälarsee mit der Ostsee verbindet, so gelangt man zum Stadt-
theile Blasieholmen mit prachtvollen Palais, öffentlichen Gebäuden,
darunter das berühmte Grand Hôtel mit einer herrlichen Rundsicht über
die Stadt. Das östliche Ende des Holms nimmt das Nationalmuseum
[888]Der atlantische Ocean.
ein, nach dem königlichen Schloss das schönste Gebäude der Stadt.
Es ist in venetianischem Renaissancestyl aufgeführt, besonders schön
ist das Vestibul, welches bis zum zweiten Stockwerk hinaufreicht
und mit den Statuen der nordischen Götter Odin, Thor und Baldur
geschmückt ist. Im Kellergeschoss sind die egyptischen Alterthümer,
im Erdgeschoss das historische Museum, eine der grössten Samm-
lungen dieser Art und besonders reich an Erinnerungen an die glor-
reichen Zeiten der schwedischen Geschichte. Im ersten Stock ist eine
Sammlung von Fayencen, Majoliken und Porzellanen und ein Sculp-
turenmuseum, im zweiten Stock die Gemäldegallerie. An der Nordseite
des Museums befindet sich eine von Molin modellirte Bronzegruppe:
Bältespännare (Gürtelspanner), die Darstellung eines mittelalterlichen
Zweikampfes in Schweden, wobei die Kämpfenden durch einen Gürtel
an einander befestigt waren.
Von Blasieholm gelangt man auf einer eisernen Brücke südwärts
nach der Insel Skeppsholm (Schiffsinsel), welche wieder durch eine
Zugbrücke mit der kleinen Insel Kastellholm verbunden ist.
Vom Gustav Adolf-Platz westlich gelangt man in die Drottning-
gata (Königinstrasse), die längste und schönste Strasse Stockholms
mit vielen Kaufläden. Hier befindet sich das von Hazelius gegrün-
dete nordische Museum. An der Ostseite der Strasse erhebt sich
das Gebäude der Akademie der Wissenschaften, eines der grössten
Gebäude der Stadt.
Die Südvorstadt — Södermalm — die mit der Stadt durch
die grossartige Königsschleusse, von Erikson erbaut, in Verbindung
gesetzt ist, bietet von einem Elevator aus, Hissen genannt, die
schönste Rundsicht über ganz Stockholm.
Die nautischen Verhältnisse des Hafens von Stockholm gebieten
die grösste Vorsicht beim Anlaufen desselben. Der über 36 km in
engen zahlreichen Windungen in das Land eingerissene Fjord ist see-
wärts durch eine gegen 40 km breite Barrière unzähliger Inseln,
Felsen und Bänke, die sogenannten Schären, völlig abgesperrt.
Legende zum Plan von Stockholm.
A Zufahrt, B Hafen von Lilla-Värtan, C Lidingsbrücke, D Castell, E Centralbahnhof, G Kasernen,
H Museen, J Theater, K Reichsbibliothek, L technologisches Institut, M Observatorium, N Telegraphen-
tation, O optischer Telegraph, P königl. Schloss, Q königl. Garten, R Kurhaus, S Rathhaus, T Börse,
U Reichsbank, V Badeanstalt, W Gasanstalt, X Lazareth, Y Schleusse, Z Friedhof. — 1 Skeppsholm-
brücke, 2 Norrbrücke, 3 Wasabrücke, 4 Djurgardsbrücke, 5 Nybrostrasse (gatan), 6 Quarnstrasse,
7 Grefstrasse, 8 Gref-Thurestrasse, 9 Sturestrasse, 10 Norrlandstrasse, 11 Regeringsstrasse, 12 Malms-
killnadsstrasse, 13 Tullportsstrasse, 14 Badstugustrasse, 15 Drottningstrasse, 16 Stora-Grabergsstrasse,
17 Dalastrasse, 18 Flemingsstrasse, 19 Handwerkerstrasse, 20 Kamakarestrasse, 21 Kungstrasse,
22 Sermuelsstrasse, 23 Hamnstrasse, 24 Jakobsstrasse, 25 Riddarestrasse, 26 Humlegardsstrasse,
27 Linastrasse, 28 Stora Nystrasse, 29 Bevarsstrasse, 30 Hornsstrasse, 31 Stöda Mälastrand, 32 Ladu-
gards Strandgata, 33 Karlo Vägen.
[[889]]
(Legende siehe auf Seite 888.)
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 112
[890]Der atlantische Ocean.
Nur wenige Fahrstrassen führen durch dieselbe, und diese sind
durch Leuchtfeuer und Marken vorzüglich gekennzeichnet und für die
grössten Oceandampfer praktikabel. Die wichtigsten dieser Zufahrten
sind von Süden her der Dalarocanal, welchen man bei der Insel
Natäro unter 58° 52′ nördl. Br. erreicht. Derselbe windet sich in
einer Gesammtlänge von 126 km durch die Barrière bis Stockholm.
Von Osten her ist unter 59° 16′ nördl. Br. der Sandöcanal mit 74 km
Weglänge, und im Norden liegt unter 59° 52′ nördl. Br. der Norr-
canal mit 102 km Weglänge nach Stockholm.
Endlich besteht noch eine Zufahrt durch den südlich von Stock-
holm in das Land ziehenden Himmerfjord, an dessen nördlichstem
Ende der 1806—1819 angelegte 2 km lange Södercanal eine Verbin-
dung mit dem Mälarsee und durch diesen mit Stockholm herstellt.
Wie unser Plan zeigt, wurden nordöstlich von Stockholm am
Meeresarm Lilla-Värtan Hafenanlagen geschaffen und durch eine Eisen-
bahn mit Stockholm verbunden. Dort dürfte das Gros des Schiffsver-
kehres mit der Zeit sich hinziehen, weil daselbst genügender Raum für
alle Bedürfnisse des Handels und der Schiffahrt zur Verfügung steht.
Die herrliche Handelslage Stockholms am Eingange in den ge-
räumigsten Naturhafen Schwedens haben zuerst die Hanseaten er-
kannt und nach ihnen Gustav Wasa, welcher alle Mittel anwendete,
die Stadt zum Stapelplatze des schwedischen Activhandels in der Ost-
see zu machen. Um sie von dem Drucke zu befreien, welchen Däne-
mark als Beherrscherin des Sundes und des Beltes auf alle Handels-
plätze an der Ostsee ausübte, fasste er schon 1526 den Plan, eine
schiffbare Verbindung von der Ostsee her zum Wettersee und Wener-
see herzustellen und durch den Göta-Elf die Nordsee zu erreichen.
Das Ungeschick der schwedischen Bürger widersetzte sich dem
Riesengedanken des schöpferischen Königs, und erst in unserem Jahr-
hundert gelangte der Götacanal zur Ausführung. Von Stockholm gehen
heute die Dampfer durch den früher erwähnten Canal, welcher den
Mälarsee direct mit einem von Süden her weit eingreifenden Fjord
verbindet, in die Ostsee und längs der Küste nach Söder-Köping am
östlichen Anfange des Götacanals. Nach Westen hin ist das 134 km
weit ins Innere Schwedens greifende Becken des Mälarsees durch
einen Canal mit dem Hjälmarsee verbunden.
Auch die erste Chaussee und die erste Eisenbahn Schwedens
gingen von Mälar aus nach Südwesten durch die ausgedehnte Land-
senke, in welche die genannten Seen eingebettet sind.
Die grosse schwedische Stammeisenbahn führt von Stockholm
[891]Stockholm.
zwischen dem Wener- und Wettersee nach Gotenburg (Göteborg).
An sie schliessen sich rechts und links zahlreiche Zweige, von
welchen die nach Malmö und Christiania die wichtigsten sind.
Jünger ist die Bahn nach Norden, welche über Upsala und
Östersund Drontheim (Throndhjem) in Norwegen mit Stockholm
verbindet.
Als Hauptstadt des Landes ist Stockholm Schwedens erster Einfuhrplatz,
hier wird mehr als ein Drittel der Eingangszölle des ganzen Reiches erlegt, so
1888 12,548.005 Kronen. Der Ausfuhrhandel tritt dagegen stark in den Hinter-
grund; denn die Production des Holzes und zum Theile auch die des Eisens haben
ihren Sitz in den nördlich von Stockholm gelegenen Landschaften, welche diese
schweren Massenartikel über die ihnen zunächst gelegenen Häfen Gefle, Söder-
hamm, Hudiksvall, Sundsvall, Hörnesand und die anderen Küstenplätze bis Hapa-
randa hinauf ins Ausland verschicken.
Unter den Colonialwaaren nimmt Kaffee die erste Stelle ein; es
wurden 1889 50.762 q, 1888 34.961 q eingeführt.
Bei Zucker überwiegt die Einfuhr des unraffinirten 1889 mit 64.958, 1888
mit 63.769 q, die des raffinirten 1889 41.024, 1888 34.585 q. Von Syrup wurden
1889 26.616 q eingeführt.
Ueber Stockholm kommt fast die Hälfte der Weineinfuhr Schwedens
ins Land, 1889 13.588 hl, 1888 12.025 hl.
Stockholm ist Schwedens erster Einfuhrplatz für Getreide und Mehl,
es importirte Weizen 1889 125.104 q, 1888 143.686 q, Roggen 1889 396.534 q,
1888 454.545 q, Weizenmehl 1889 84.726 q, 1888 66.692 q, Roggenmehl 1889
16.317 q.
Sämereien kommen aus Russland und Deutschland.
Von thierischen Nahrungsmitteln sind am wichtigsten Fische, besonders
Häringe aus Norwegen (1889 65.929 q, 1888 45.455 q), dann Speck, Butter
aus Finnland (1889 8922 q), deren Zufuhr beständig sinkt, und Eier.
Die Einfuhr von Oelen ausser Mineralöl betrug 1889 25.709 q, 1888
26.191 q.
Von Spinnstoffen sind nur Baumwolle (1889 5349 q) und Hanf zu
erwähnen.
Korkrinde wurde 1889 auf englischen Schiffen aus Portugal in der Menge
von 11.726 q eingeführt.
Es wurden eingeführt Kochsalz 1889 176.093 hl, 1888 146.386 hl; Petro-
leum, zum grössten Theil raffinirtes aus Nordamerika und Russland, 1889 151.759 q,
Steinkohlen und Coaks 1889 4,768.934 hl, 1888 4,157.019 hl.
Die Einfuhr von Stassfurter Kalisalzen ist ansehnlich, die von Cement
sinkt wegen der fortschreitenden Entwicklung der schwedischen Fabriken.
Stockholm ist der zweite Platz Schwedens für die Einfuhr von Eisen,
welche 1889 81.914 q, 1888 53.620 qRoheisen, 1889 42.949 q, 1888 20.780 q
Eisenbahnschienen, 1889 39.028 qStangen- und Manufactureisen und
10.709 geschmiedete Platten umfasste.
Maschinen wurden 1888 um 2,682.637 Kronen, 1887 um 1,496.300 Kronen
eingeführt.
112*
[892]Der atlantische Ocean.
Wichtig ist die Einfuhr von Leder, besonders von Sohlenleder (1889
10.255 q).
Für Producte der Textilindustrie ist Stockholm der wichtigste Platz
Schwedens. Die Einfuhr von Garnen ist nur bei solchen von Schafwolle etwas
grösser; von Seiden- und Halbseidenstoffen wurden 1888 531 q, von Baum-
wollstoffen 1888 4245 q, 1887 4356 q, von Schafwollstoffen 1888 8684 q,
1887 7592 q, von Leinen-, Hanf- und Jutewaaren 1888 3463 q eingeführt.
Die Einfuhr von Kleidern erreichte 1888 2,043.337 Kronen, 1887
1,794.721 Kronen.
Chemikalien sind ein wichtiger Posten der Einfuhr Stockholms. Von
Papier wurden 1889 7180 q, von Glas 1889 5886 q, von Porzellan 1889 1568 q
eingeführt. In diesen Artikeln hat die Industrie Schwedens bedeutende Erfolge
aufzuweisen.
Noch einfacher gestaltet sich die Ausfuhr von Stockholm. Ihr werthvollster
Theil sind Eisen und Eisenwaaren, 1889 mit 966.271 q, 1888 mit 769.415 q.
Stangeneisen und Roheisen sind die wichtigsten Theile dieser Ausfuhr. Von
Feldspat wurden 1889 11.720 q ausgeführt.
Von den Getreidegattungen ragt Hafer hervor, für welchen Stock-
holm der erste Ausfuhrplatz Schwedens ist, 1889 84.041 q, 1888 323.029 q.
Planken und Bretter sind in der Ausfuhr 1889 mit 52.528 m3, 1888
mit 35.869 m3, Grubenstützen 1889 mit 4132 m3, 1888 mit 19.701 m3 ange-
geben. Der Absatz ist nach Frankreich, Belgien, Spanien und Portugal gerichtet.
Unter den Industrieartikeln ragen nur Zündhölzer (1889 2147 q, 1888
1666 q) und Geräthschaften (Werth 1889 1,094.673 Kronen) hervor.
Stockholm ist die erste Fabriksstadt des Landes, welche fast ein
Fünftel (1887 34 Millionen Kronen) des Werthes der schwedischen Industrie pro-
ducirt. Die wichtigsten Fabricationszweige sind: Baumwollgarne, Seidenstoffe,
Tischler- und Binderarbeiten, Maschinen, Metall- und Bronzearbeiten, Schiffe, Por-
zellan, Chemikalien, Stearinkerzen, Seife, Oelfabriken, Bier, Tabakfabricate und
raffinirter Zucker.
Der Schiffsverkehr Stockholms mit dem Auslande umfasste:
| [...] |
Für 1889 wird der ausländische Verkehr auf 2375 Dampfer und 1203 Segel-
schiffe, zusammen auf 3578 Schiffe mit 1,347.240 Reg.-Tons angegeben.
Der Inlandsverkehr ist zwei- bis dreimal so gross wie der auswärtige,
denn er brachte 1889 10.194 Dampfer mit 1,071.003 Reg.-Tons und 12.249 Segel-
schiffe mit 535.998 Reg.-Tons, zusammen 22.443 Schiffe mit 1,607.001 Reg.-Tons
nach Stockholm.
Dieser starke Schiffsverkehr erklärt sich ganz einfach dadurch, dass in
Schweden, ähnlich wie in Norwegen, fast alle bedeutenden Städte am Meere
liegen und so der Löwenantheil des inneren Verkehres der Küstenschiffahrt zufällt.
Die handelsflotte Stockholms bestand am Schlusse des Jahres 1889 aus
143 Dampfschiffen mit 27.643 Reg.-Tons und aus 32 Segelschiffen mit 8809 Reg.-
Tons. Von den Dampfschiffen wurden 85 auf dem Mälarsee und in der Umgebung
Stockholms verwendet.
[893]Stockholm.
Im ausländischen Verkehre ist die wichtigste Flagge die schwedische, ihr
reihen sich an die englische, die finnländische, die deutsche und die norwegische,
letztere fast nur mit Segelschiffen. Auch dänische, niederländische, französische,
spanische und russische Schiffe laufen Stockholm an.
Etwa zwei Fünftel der ganzen Tonnenzahl entfallen auf den Verkehr mit
Grossbritannien, in welchem fast alle Schiffe beladen sind, während im Verkehre
mit Finnland und Russland viele Schiffe unbeladen auslaufen. Günstiger sind die
Verhältnisse im Verkehre mit Preussen, sehr gut in dem mit Hamburg und
Lübeck. Im Handel mit Frankreich und Belgien überwiegt weitaus die Ausfuhr
Stockholms.
Stockholm hat regelmässige Dampfschiffahrtsverbindungen mit Kopenhagen,
mit Lübeck über Kalmar, mit Stettin über Wisby, mit Riga und mit Åbo, Hangö,
Helsingfors und St. Petersburg.
Endlich gehen Dampfer in 54 Stunden von hier durch den Götacanal nach
Göteborg.
Stockholm ist der Sitz der Reichsbank, der wichtigsten Geldinstitute
Schwedens und einer Börse.
Der Verkehr in Wechseln mit ausländischer Valuta geht auf der Börse
von Stockholm beständig zurück; er betrug 1884 63,722.907 Kronen, 1888
30,931.733 Kronen.
Consulate haben in Stockholm: Argentinien (G.-C.), Belgien (G.-C.),
Chile, Columbia (G.-C.), Dänemark (G.-C.), Deutschland (G.-C.), Ecuador, Griechen-
land (G.-C.), Grossbritannien, Italien, Liberia (G.-C.), Mexico, Monaco (G.-C.),
Niederlande (G.-C.), Oesterreich-Ungarn (G.-C.), Paraguay, Peru (G.-C.), Portugal
(G.-C.), Rumänien (G.-C.), Russland (G.-C.), Schweiz, Siam, Türkei (G.-C.), Uru-
guay, Vereinigte Staaten.
An der schwedischen Küste gegenüber von Kopenhagen liegt
Malmö, welches dem Gebiete des Sundes angehört. Die Stadt ver-
fügt über einen Kunsthafen, welcher für Schiffe bis zu 6·5 m
Tiefgang benützbar ist.
Die ehemaligen Festungswerke wurden geschleift, und nur das
Gemäuer des im XVI. Jahrhundert aus Backsteinen erbauten Mal-
möhnsschlosses erinnert an die bewegte Vergangenheit der Stadt.
Malmö spielte bereits im Mittelalter eine wichtige politische und commer-
zielle Rolle und zog aus dem Häringsfang im Sunde bedeutende Vortheile.
Zur Zeit der Grafenfehde hatte die Stadt die Partei des gefangenen Chri-
stian II. mit Ausdauer ergriffen, ward von Christian III. belagert und fiel nach
harter Gegenwehr. Als dann die östlichen Provinzen Dänemarks 1658—1660 an
Schweden abgetreten wurden, begann der Wohlstand der Stadt zu sinken; er hoh
sich aber wieder, als zu Ende des XVIII. Jahrhunderts durch die Energie des ver-
dienstvollen Kaufmanns Franz Suell die Schaffung von Hafenanlagen erzielt wurde.
Malmö nahm in der letzten Zeit einen bedeutenden Auf-
schwung und zählt gegenwärtig über 46.000 Einwohner.
Das älteste Bauwerk der Stadt ist das vorerwähnte Mal-
möhnsschloss, die ehemalige Residenz der dänischen Thronfolger.
[894]Der atlantische Ocean.
Bothwoll, der Gemahl der unglücklichen Maria Stuart, wurde hier
von 1568 bis 1573 gefangen gehalten. Bemerkenswerth sind auch
das 1546 erbaute Rathhaus, welches eine Zierde des grossen und
schönen Marktplatzes ist, und die Residenz des Gouverneurs
(Landshöfding), in welcher König Karl XV. am 18. September
1872 starb.
Auch über sehenswerthe Kirchen, worunter die gothische, aus
dem Mittelalter stammende St. Petrikirche, verfügt die Stadt.
Malmö ist der drittgrösste Industrieplatz Schwedens, sein
Schiffsverkehr mit dem Auslande übertrifft sogar den Stockholms,
weil es im Vereine mit Kopenhagen einen grossen Theil des in
neuerer Zeit auch nach Nordeuropa gerichteten internationalen Reise-
verkehres vermittelt, der sich natürlich in den Sommermonaten con-
centrirt. Durch Errichtung einer Dampffähre zwischen Malmö und
Göteborg soll dieser Verkehr neue Förderung erhalten.
Das südliche Schweden gehört zu den fruchtbarsten Theilen des Landes,
daher gehen über Malmö und die benachbarten Häfen, wie Helsingborg und Lands-
krona, Getreide und Producte der Viehzucht ins Ausland. So führte Malmö 1889
aus 18.010 Stück Rindvieh, 2385 Stück Pferde, dann Schafe und Schweine.
Von Fleisch und Speck wurden in demselben Jahre 26.301 q, von Natur-
butter 45.763 q, 1888 52.789 q, von Eiern 1889 schon 2·2 Millionen Stück
ausgeführt.
Der grösste Theil dieses Zweiges der Ausfuhr ist nach England und
Kopenhagen gerichtet.
Andere Ausfuhrartikel sind Gerste (1889 16.405 q, 1888 67.796), Hafer
(1889 29.160 q, 1888 50.096 q) und Mehl (1889 21.467 q), insbesondere Weizenmehl.
Auch die Ausfuhr von rothen Heidelbeeren nach Stralsund und Lübeck,
vornehmlich für Dresden, Chemnitz und Frankfurt zur Herstellung von Heidel-
beerwein bestimmt, ist nicht gering und im Steigen.
Die Ausfuhr von Balken, Brettern, Planken und Sparren erreichte
1889 17,752.543 m3, die von Dachspänen und Holzdraht 1,358.952 m3, die
von Holzmasse 31.941 q und die von Brennholz 8,250.600 q. Von Cement
wurden in demselben Jahre 30.794 q, von Kreide 56.476 q ausgeführt.
Die einzigen Industrieartikel von grösserer Wichtigkeit sind Zündhölzchen
(1889 35.427 q, 1888 28.060), ferner Porzellan und Ziegel.
Die wichtigsten Artikel der Einfuhr aus dem Auslande sind Weizen (1889
114.523 q, 1888 106.434 q), Roggen (1889 322.607 q, 1888 86.785 q), Reis und
Futterstoffe (1889 43.565 q).
Kaffee brachte man 1889 11.086 q, Zucker, und zwar meist unraffinirten
29.808, 1888 15.931 q, über Malmö ins Land, das für Cacao der wichtigste Ein-
fuhrhafen Schwedens. Die Einfuhr von Mineralöl betrug 1889 19.958 q, 1888
12.016 q.
Ansehnlich ist die Einfuhr von Eisen, besonders von Schmiedeisen, und
die von Steinkohlen und Coaks aus England (1889 171.625 t). Von Industrie-
[895]Stockholm.
artikeln werden Geräthe und Maschinen (1889 16.914 q), dann Webwaaren,
Kleider und Glaswaaren eingeführt.
Die wichtigsten Industrien von Malmö und Umgebung sind: Woll-
webereien, Kleiderfabriken, mechanische Werkstätten, Rübenzuckerraffinerien,
Mühlen, Tabakfabriken, Schweineschlächtereien, eine grosse Chocoladefabrik u. a.
Malmös Schiffsverkehr zeigte:
| [...] |
Für das Jahr 1889 wird der Schiffsverkehr mit 1·3 Millionen Tons an-
gegeben.
Der Verkehr mit dem Inlande erreichte 1888 9307 Fahrzeuge mit 1,760.050 t.
Den stärksten Antheil am Schiffsverkehr von Malmö hat die dänische
Flagge, dann folgen die schwedische und die deutsche. Der Verkehr ist in der
Hauptsache nach Dänemark und den deutschen Küsten der Ostsee gerichtet.
Die häufigsten Verbindungen bestehen zwischen Malmö und Kopenhagen,
dann zwischen Malmö und Lübeck.
Ferner hat Malmö regelmässige Dampferverbindungen mit Kopenhagen-
Helsingör, mit Stralsund-Stettin-Rostock, mit Newcastle on Tyne-London-Amster-
dam, mit Hâvre-Bordeaux-Hull-Grimsby, dann über Kopenhagen mit den meisten
Häfen Europas, mit New-York, den norwegischen Küstenplätzen bis Drontheim
und den schwedischen von Gothenburg bis Sundsvall. Selbstverständlich ist der
Küstenverkehr im Winter sehr reducirt.
Die Eisenbahnlinie von Malmö nach Katrineholm, wo der Anschluss an die
Hauptlinie Stockholm-Christiania stattfindet, gehört zu den wichtigsten Eisen-
bahnen Schwedens.
Consulate haben in Malmö: Belgien, Dänemark, das Deutsche Reich und
Grossbritannien (V.-C.).
[[896]]
Göteborg.
An der östlichen Mündung des Göta-Elf in das Kattegat
dehnt sich in einem Halbkreise die Stadt Göteborg (Gotenburg),
in kahler, felsiger, aber romantischer Gegend gelegen, aus. Die
Stadt ist nach Stockholm die bevölkertste Schwedens und zählt
100.000 Einwohner. Das Erste, was an ihr auffällt, ist ihre ausser-
ordentliche Reinlichkeit, die an niederländische Städte erinnert;
ihre Strassen sind, wie unser Plan zeigt, gerade und breit und
ihre Anlage regelmässig. Auch die Canäle, welche die Strassen in
der Mitte durchschneiden, verleihen Göteborg den Charakter einer
holländischen Stadt. Von den mehr als 20 Brücken, welche über
die Canäle führen, ist hervorzuheben die grosse eiserne Drehbrücke
über den Göta-Elf, welche die Stadt mit der Insel Hisingen
verbindet.
Der Hauptcanal, der mitten durch die Stadt führt, Stora Hamn-
canalen, wird auf seinen beiden Ufern von den zwei schönsten
Strassen Göteborgs begrenzt, der Norra- und Södra-Hamngatan. In der
letzteren liegen die schönen Bauten der Freimaurerloge und der
skandinavischen Creditbank. Durch die Norra Hamngatan gelangen
wir zu dem in der Mitte der Stadt gelegenen Gustav Adolf-Platz, der
nördlich von der Börse, westlich vom Rathhaus begrenzt wird. Auf
dem Platze steht ein Standbild Gustav Adolf’s. Westlich vom Rath-
haus erhebt sich die Christina-, auch deutsche Kirche genannt, in der
abwechselnd deutscher und schwedischer Gottesdienst abgehalten
wird. Noch weiter westlich steht das Museum, früher das Haus der
Ostindischen Compagnie. Am anderen Ufer des Canals befindet sich die
Landshöfdingeresidens, wo die Provinzialregierung von Bohuslän ihren
Sitz hat. Westlich und südlich ist die eigentliche Stadt vom Wallgraben
umgeben, ausserhalb desselben, im Süden, dehnen sich aber noch vor-
nehme und mit hübschen Parkanlagen geschmückte Stadtviertel aus:
Trädgardsföreningen (Gartenverein), ein schöner Park, weiter westlich
[897]Göteborg.
das Nya Teatern (neues Theater) und der Kungspark. Oestlich
und südlich von der Stadt befinden sich zahlreiche Villen der reichen
Kaufleute.
Der Göta-Elf, dessen Verlauf von Göteborg bis zur Mündung
wir auf unserem Plane darstellen, ist ein für Schiffe jeder Grösse
befahrbarer Fluss, welcher der Navigation keine Schwierigkeiten bietet.
Die Einfahrt führt von Südwest her durch den malerischen Winga-
Sund, welcher gut beleuchtet und tief ist; man durchschneidet dann
Göteborg.
mit östlichem Curse den Hake- und Rifö-Fjord und gelangt bei der
neuen Ansiedlung von Nya Warfvet in den Göta-Elf, welcher ein 6 m
tiefes, gut markirtes Fahrwasser hat. Die Schiffe haben von der
Einfahrt in den Winga-Sund bis zum Hafen von Göteborg eine Strecke
von nur 20 km zu durchlaufen. Am Stadtquai von Göteborg sind grössere
Hafenanlagen in Bau, und zwar wird dort ein geschlossenes Bassin
mit Magazinen und Dépôts hergestellt werden.
Zu den commerziellen Massregeln, welche Gustav Wasa ergriff,
um den schwedischen Handel von den Hanseaten unabhängig zu
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 113
[898]Der atlantische Ocean.
machen, gehört auch die Gründung des Stapelplatzes Ny-Lödese an
der Stelle, wo der von diesem Könige 1526 projectirte Götacanal sein
westliches Ende erreichen sollte. Die Vollendung des Canals war
unserem Jahrhunderte vorbehalten, und Ny-Lödese blieb ungeachtet
aller Aufmerksamkeit des Königs eine bedeutungslose Landstadt, weil
seine Einwohner „bäuerische Krämer waren, die wie ein Haufen
Schweine schnüffelnd über die einkommenden Waaren herfielen“.
Erst spätere Zeiten schufen hier die Handelsstadt Göteborg und
lieferten den Beweis, dass Gustav Wasa mit seiner Gründung keinen
Fehlgriff gethan hatte. Seine heutigen Bewohner sind tüchtige Kauf-
leute und energische Socialpolitiker, die sich seit 31. Mai 1864, durch
die Ausbildung des sogenannten „Gothenburger Systems“, welches
wirksam der Trunksucht steuert, die Anerkennung der Menschen-
freunde der ganzen Welt erworben haben.
Göteborg ist im Jahre 1610 vom König gegründet und mit Niederländern
besiedelt worden. Die Stadt war früher befestigt, die Festungswerke sind jedoch
seit 1806 aufgelassen. Göteborg entwickelte sich rasch zu einer hervorragenden
Handelsstadt und besass von 1731 bis 1809 eine ostindische Compagnie; während
der Continentalsperre durch Napoleon I. nahm es einen besonderen Aufschwung.
Der Hafen hielt sich als Kaufplatz auch in schlechten Zeiten auf der einmal
erreichten Höhe.
Die Lage Göteborgs an der Nordsee und an dem westlichen
Ende des Götacanals ist weit günstiger als die Stockholms an der
entlegenen Ostsee. Ferner ist der Hafen viel eisfreier als der von
Stockholm. Auf Grund dieser geographischen Vorzüge, welche von
einem energischen Kaufmannsstande nach jeder Richtung ausgebeutet
werden, entwickelte sich Göteborg für den ausländischen Schiffsverkehr
und für die Ausfuhr zum wichtigsten Hafen Schwedens.
Der Verkehr in Wechseln ausländischer Valuta zeigt auf der
Börse von Göteborg auch nicht den andauernden Rückgang, wie der
zu Stockholm, sondern erhält sich wenigstens auf seiner Durchschnitts-
höhe von 24 Millionen Kronen jährlich.
Nur die ernstlich ins Auge gefasste Erbauung eines westlichen
Parallelcanals des Göta-Elf von Wenersborg am Wenernsee nach Udde-
valla am Kattegat, der 15 km lang und 7 m tief werden soll, so
dass er Schiffe bis zu 3000 Tonnen tragen könnte, wäre geeignet, min-
destens den Verkehr in Eisen und Holz von Göteborg abzulenken.
Neuestens zeigen Handel und Schiffahrt Göteborgs besonders seit 1888
einen kräftigen Aufschwung, eine Anzahl neuer industrieller Unternehmungen
ist seit diesem Zeitpunkte ins Leben gerufen worden.
Göteborg ist der erste Hafen Schwedens für die Ausfuhr von Eisen und
Stahl, welche 1889 1,329.722 q, 1888 1,166.996 q, 1887 1,125.692 q erreichte,
[899]Göteborg.
also endlich nach einer langen Depression ein steigender Absatz. Die Hauptsorten
sind gewalzte und geschmiedete Stangen (1889 894.124 q, 1888 854.382 q), Roh-
eisen (1889 262.722 q, 1888 173.129 q), Schmelzstücke und Rohstangen, Gusseisen,
Eisen- und Stahlplatten und Nägel.
Die Hauptbestimmungsländer sind England (1889 988.686 q, 1888 836.489 q)
Deutschland, und zwar in erster Linie Hamburg (1889 143.317 q, 1888 134.105 q),
Belgien, die Niederlande, Frankreich und Dänemark.
Unter den Erzen sind Zinkblende (1889 200.069 q), Manganerz (1889
76.149 q, 1888 55.525 q), Bleierz (1889 35.865 q, 1888 26.491 q) und Kobalt-
erz für die Ausfuhr von Wichtigkeit.
Als zweiter Hauptartikel der Ausfuhr ist Holz zu nennen; 1889 wurden
236.923 m3 Planken, Battens und Bretter gegen 240.891 m3 im Jahre 1888 aus-
geführt, an Grubenstützen 1889 304.280 m3 gegen 231.283 m3 im Jahre 1888.
Dazu kamen 1889 13.628 m3 Sleepers, dann Latten im Werthe von 427.863 Kronen
und Tischlerarbeiten im Werthe von 1,494.486 Kronen.
Die Hauptabnehmer von Planken und Brettern waren 1889 England, Argen-
tinien, Frankreich, die Niederlande, Australien, Capland, Spanien, Port Natal, kurz
die Küsten aller Länder, welche im Holzhandel nicht activ sind.
Grubenstützen gehen nach England, Nordfrankreich und Belgien. Das
Steigen des Rubelcourses in Russland erhöht die Chancen Schwedens im Holz-
handel.
Den dritten Hauptartikel der Ausfuhr bilden Getreide und Hülsen-
früchte. 1889 wurden 351.534 q, 1888 34.914 q ausgeführt; davon waren 1889
344.025 qHafer. Bestimmungsländer sind England (1889 223.485 q), Dänemark
(84.641 q) und Frankreich (34.000 q).
Von frischen Fischen gingen 1889 186.113 q, 1888 189.079 q ins Ausland;
es waren dies meist Häringe, von welchen 1889 nach England 87.579 q, nach
Frederikshaven 45.092 q, der Rest nach den deutschen Ostseehäfen und Kopen-
hagen gingen.
Die Ausfuhr ins Innere des Landes mit der Eisenbahn ist ungefähr gleich
gross der ins Ausland gerichteten.
Von sonstigen Artikeln der Ausfuhr sind zu nennen trockene und gesal-
zene Häringe, Schweinefleisch 1889 80.269 q, 1888 15.393 q, Rinder 1889
3802 Stück, Bretter 1889 74.072 q, 1888 68.942 q und rohe Häute.
Von Geweben wurden 1889 3625 q baumwollene ausgeführt, ferner 1889
101.643 q, 1888 101.406 qPapiere, 1889 72.219 q, 1888 77.668 qZündhölzchen
und endlich Maschinen.
Die Ausfuhr Schwedens von Holzstoff für Papierfabrication erfolgt zum
grössten Theile über Göteborg: 1889 374.239 q, 1888 296.100 q.
In der Einfuhr von Göteborg sind besonders wichtig Getreide und
Hülsenfrüchte: 1889 225.857 q, 1888 122.728 q. Die wichtigste Getreidegattung
ist Roggen (1889 130.290 q); die Einfuhr von Mais wechselt sehr stark (1889
64.468 q, 1888 289 q), etwas gleichmässiger ist die von Weizen und Gerste.
Die Einfuhr von Weizenmehl geht infolge der Entwicklung der einhei-
mischen Müllerei zurück; sie betrug 1889 51.144 q, 1887 111.256 q, von Roggen-
mehl wurden 1889 44.968 q eingeführt.
113*
[900]Der atlantische Ocean.
Es wurden ferner eingeführt roher Zucker 1889 60.583 q, raffinirter
Zucker 17.530 q, Syrup 34.242 q; Kaffee in steigenden Mengen 1889 54.013 q,
1887 35.703 q, Tabakblätter und Stengel 1889 6020 q und Oele ausser Mineral-
ölen 1889 23.264 q.
Die Einfuhr von Häringen geht zurück (1889 27.803 q, 1887 37.792),
ebenso wie die von Schweinefleisch.
Die Einfuhr von rohen Häuten erreichte 1889 12.003 q, die von Baum-
wolle 1889 70.764 q, 1888 76.818 q, die von Baumwollgarnen 1889 16.099 q,
1888 14.805 q, die von Wollgarnen 1889 13.469 q, 1888 11.044 q.
Unter den Geweben sind die aus Wolle die wichtigsten, 1889 mit 5070 q,
1888 mit 4168 q; Baumwollgewebe wurden 1889 2111 q, Seidenstoffe 141 q
eingeführt. Die Papiereinfuhr wird für 1889 mit 5075 q angegeben.
Bedeutend ist die Einfuhr von Eisen 1889 mit 218.869 q, 1888 mit
196.565 q; in diesen Ziffern waren 1889 130.555 q Eisenbahnschienen, 1888
135.344 q Roheisen enthalten.
Von Petroleum wurden 1889 73.641 q, 1888 56.333 q eingeführt, englische
Steinkohlen und Coaks 1889 5,286.109 hl, 1888 4,488.748 hl und Salz 1889
258.230 hl, 1888 210.190 hl.
Bedeutend ist auch die Einfuhr von chemischen Präparaten und von
Dungmitteln.
Es ist ein Beweis für das Wiederaufleben der Fabriksthätigkeit, dass der
Werth der Einfuhr von Geräthschaften und Maschinen von 2,570.253 Kronen
im Jahre 1887 auf 4,261.186 Kronen im Jahre 1889 gestiegen ist.
Ausgebreitet und mannigfaltig ist die Industrie von Göteborg, sie hatte
1887, also vor dem Aufschwunge, schon einen Werth von 16·5 Millionen Kronen.
In Göteborg bestehenden Schiffsbauanstalten, liefern die grössten Schiffe,
welche in Schweden überhaupt hergestellt werden; zu erwähnen sind ferner: Ma-
schinenfabriken, Baumwollspinnereien und Webereien, eine Jutespinnerei, Tisch-
lereien, Schweineschlächtereien, eine Biscuitfabrik, Bierbrauereien, Zuckerraffinerien,
Tabakfabriken.
Der Schiffsverkehr Göteborgs mit dem Auslande umfasste:
| [...] |
Der inländische Binnenverkehr Göteborgs erreichte 1888 10.939 Schiffe
mit 2,294.327 t.
Göteborgs Rhedereien besassen Ende 1889 98 Segelschiffe von 43.286
Reg.-Tons und 127 Dampfer von 52.603 Reg.-Tons, zusammen 225 Schiffe von
95.889 Reg.-Tons.
Am auswärtigen Verkehre war 1889 die schwedische Marine mit 1,278.160 Tons,
die britische mit 443.783 Tons, die dänische mit 233.486 Tons betheiligt; ihnen
reihten sich an die norwegische, deutsche, russische und finnische Marine.
Der stärkste Verkehr findet mit Grossbritannien statt, dann folgen Däne-
mark, das Deutsche Reich, Norwegen und Russland. Der Lage Göteborgs ent-
sprechend ist auch der Verkehr mit dem Festlande von Westeuropa, mit der
Union, mit Westindien, Südamerika und Afrika recht ansehnlich.
[[901]]
A Zufahrt, B Göta-Elf, C Dückdalben, D Nya Warfvet, E Signalmast, F Leuchtfeuer, G project. Molo
mit Eisenbahnanlage. G1 project. neuer Hafen, H Drehbrücke, J Lila Bommenshamn, K Bahnhof, L Zoll-
haus, M Post, N Navigationsschule, O Zellengefängniss, P Artilleriezeughaus, Q Hospital, R Artillerie-
kaserne, S Theater, T Börse, U Rathhaus. V Dom, W Synagoge, X Museum, Y Kungspark, Z Träd-
gards Förening. — 1 Mya Alléen, 2 Pusterviksplatz, 3 Masthuggsväg, 4 Hastbacken Kungsstrasse,
5 Drottningstrasse, 6 Södra Stora Hamnstrasse, 7 Norra Stora Hamnstrasse, 8 Sillstrasse, 9 Spräng-
kullsstrasse, 10 Oefvra Magasstrasse, 11 Magasstrasse, 12 Korsstrasse, 13 Oestra Hamnstrasse,
14 Kungsport Avenue.
[902]Der atlantische Ocean.
Göteborg steht in regelmässiger Dampfschiffsverbindung mit
Kopenhagen-Stettin, Kopenhagen-Lübeck, Kiel, Frederikshaven, Christiania und eng-
lischen Häfen.
Durch den Götacanal gelangen Dampfer in 54 Stunden nach Stockholm, in
35 Stunden nach Jönköping.
Die Linie Frederikshaven-Göteborg vermittelt einen Theil des Personenver-
kehres zwischen Mitteleuropa und Skandinavien.
Göteborg ist Ausgangspunkt der drei wichtigen Eisenbahnlinien nach Stock-
holm, Christiania und Malmö.
In Göteborg haben eine Börse und mehrere Banken ihren Sitz.
Daselbst bestehen Consulate folgender Staaten: Belgien, Bolivia, Columbia,
Costarica, Dänemark (G.-C.), Deutschland, Grossbritannien, Guatemala, Hawaii
(G.-C.), Honduras (G.-C.), Italien, Mexico, Oesterreich-Ungarn, Türkei, Venezuela,
Vereinigte Staaten.
[[903]]
Christiania.
Im Hintergrunde des weit ins Land sich erstreckenden, maleri-
schen Christiania-Fjords, am Fusse des Ekebergs in einem lieblichen
und fruchtbaren Thale liegt die Haupt- und Residenzstadt Norwegens.
Die reichen Kornfelder und üppigen Wiesen, die waldbedeckten
Höhen mit Villen und Bauernhöfen übersäet, in der Mitte der Meeres-
spiegel mit zahlreichen Inseln und Schiffen bilden zusammen ein
harmonisches Landschaftsbild von unvergesslichem Reize. Die Umge-
bung Christianias ist reich an schönen Ausblicken und mannigfaltigen
landschaftlichen Schönheiten. Die Stadt selbst aber ist arm an archi-
tektonisch hervorragenden Bauwerken, sie ist unregelmässig angelegt
und entbehrt des weltstädtischen Charakters. Die Strassen sind zwar
in der eigentlichen Stadt breit und gerade und die Häuser infolge
der wiederholten Feuersbrünste, welche die Stadt stark mitnahmen,
meist von Stein, aber die Vorstädte haben durch ihre vielen unregel-
mässigen Gassen und ihre armseligen Hütten ein trauriges Aussehen.
Auf einer vorspringenden Landzunge befindet sich die alte
Festung Akershus. Das Stadtgebiet wird von dem Flüsschen Akers-Elv
durchflossen und umfasst ausser der eigentlichen Stadt noch Oslo
(Altstadt) und mehrere in rascher Entwicklung begriffene Vorstädte.
Die Einwohnerzahl Christianias beträgt 135.000, gegen 8931 im
Jahre 1801. Das Klima ist ein sehr mildes, obwohl die Stadt unter
59° 55′ 40″ nördl. Br. und 10° 43′ 23″ östl. L. v. Gr. (Observa-
torium) liegt.
An der Stelle des heutigen Christiania stand einst am Fusse des Eke-
berges die Stadt Oslo (der Strand), deren Gründung um das Jahr 1050 erfolgte.
Frühzeitig der Sitz eines Bischofs, wurde Oslo im späteren Mittelalter, als Nor
wegen mit Dänemark verbunden war, die eigentliche Hauptstadt Norwegens. Allmälig
hatten deutsche Kaufleute sich fast des gesammten Handels der Stadt bemächtigt,
bis mit dem Niedergange der Hansa auch der Handel sich wieder in den Händen
der einheimischen Bürger zu vereinigen begann. Da aber im XVI. und XVII. Jahr-
hundert die Stadt durch Feuersbrunst zerstört wurde, liess König Christian IV.
[904]Der atlantische Ocean.
im Jahre 1624 die Stadt auf der anderen Seite des Fjords aufbauen. Von ihrem
Gründer erhielt die neue Stadt den Namen Christiania. Im Jahre 1716 wurde sie
durch einen Monat von den Schweden unter Karl XII. belagert und erlitt dabei
grossen Schaden. Im XVIII. Jahrhundert folgte noch eine Periode blühenden Han-
dels mit England, der aber durch die folgenden Kriege grosse Einbusse erlitt. Erst
in der neuesten Zeit hat Christiania einen ganz gewaltigen Aufschwung genommen.
Die Hauptstrasse der Stadt, der Mittelpunkt des Geschäftslebens,
ist die Karl Johann-Gade, welche die ganze Stadt vom Ostbahn-
hofe bis zum königlichen Schlosse durchschneidet. Das königliche
Schloss liegt im Westen der Stadt auf dem geebneten Gipfel eines
Berges, welcher das ganze Thal beherrscht. Es ist von einem offenen
Garten umgeben und kehrt seine Hauptfaçade der Stadt zu. Der
mächtige, 100 m lange Bau ist sehr einfach gehalten. Vor dem
Schlosse steht die Reiterstatue Karl Johann’s. Oestlich des Schlosses
liegt die Universität, ein classischer, aus mehreren Objecten beste-
hender Bau, wo auch die Sammlungen und die Bibliothek unter-
gebracht sind. Nördlich von der Universität befindet sich das Kunst-
museum im Renaissancestyl mit einem Sculpturenmuseum im Erdge-
schosse und einer Nationalgallerie im ersten Stockwerke.
Südöstlich von der Universität ist der bepflanzte Eidsvoldsplatz,
an dessen östlichem Ende sich das Storthingshaus befindet, in bi-
zarren Formen aufgeführt, mit dem Storthingssaal als Mittelpunkt.
Vom Storthingshaus aus die Akersgade südwärts kommt man zu der
schönen Johanneskirche; östlich davon ist der alte Marktplatz, wo
das älteste Haus der Stadt vom Jahre 1606 zu sehen ist.
Vom Ostbahnhofe, dem Anfange der Karl Johann-Gade, südlich
liegt der Hafen von Björviken und das Zollhaus mit den Magazinen.
Von den Hafenbrücken ist durch einen Garten geschieden das alte
einstöckige königliche Palais, wo König Johann wohnte, wenn er in
Christiania war. Um die Mündung des Akers-Elv herum befinden
sich die grossen Holzniederlagen Christianias.
Am südlichen Theile der Halbinsel ist das alte Schloss Akershus
mit einer wundervollen Aussicht über die Stadt und den Fjord. Es
sind nur noch wenige Reste der mittelalterlichen Bauten dort vor-
handen. Aus der Umgebung Christianias sind besonders hervorzu-
heben: Oskarshall, ein im englisch-gothischen Style erbautes könig-
liches Lustschloss mit herrlicher Rundsicht; Frognersätren, ein 400 m
hoher, 9 km im Nordwesten der Stadt gelegener Aussichtspunkt mit
einem Landhaus im norwegischen Holzstyle, der einen wunderbaren
Ueberblick auf die Stadt und den ganzen Fjord mit den zahlreichen
Inseln gewährt; endlich der Ekeberg im Südosten der Stadt.
[[905]]
Christiania.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 114
[906]Der atlantische Ocean.
Der Christiania-Fjord mündet in den nördlichsten Theil des Skager
Rak und ist in nördlicher Richtung 104 km weit in das Land einge-
rissen. Seine gewaltige Mündung hat eine Breite von 22 km; der Fjord
verengt sich aber bei Carljohansvaeren bis auf 5 km, um sich dann
wieder zu einem Becken zu erweitern, aus welchem der 28 km lange
Dramsfjord, welcher sich bei Svelik bis auf 100 m verengt, nordwest-
lich abzweigt. An seinem äussersten Ende liegt das Städtchen Dramen.
Der Hauptfjord führt indessen weiter nordwärts und ist bei
Dröbak durch eine Insel bis auf 1·5 km eingeengt.
Vor Christiania lagern der reichgegliederten Küste zahlreiche
Inseln vor. Hier wendet der Fjord in scharfer Biegung südwärts und
bildet den 17 km langen Bunde-Fjord.
Das Gewässer ist allerwärts tief (bis zu 200 m) und bietet der
Schiffahrt keinerlei Schwierigkeiten.
Der Hafen von Christiania besitzt guten Ankergrund, und findet
man in den Buchten Piperviken und Björviken 14—20 m Wasser-
tiefe. Auch das geräumige Bassin Osla-Haven nächst der Mündung
des Akers-Elv hat eine genügende Tiefe. Der ganze Hafen von Chri-
stiania ist durch die vorgelagerten Inseln gegen alle Winde geschützt
und ist einer der vorzüglichsten des europäischen Nordens.
Die Umgebung Christianias war und ist der producten- und
volksreichste Theil von ganz Norwegen. Zu dem Christiania-Fjord
laufen fünf grosse Flussthäler des südlichen Norwegens, unter ihnen
die Glommen mit den Longen; in diesen setzt sich die Richtung des
Christiania-Fjords nach Norden zu gegen den grossen Fjord von Dront-
heim hin fort. Diese Senke bildet die älteste Völkerstrasse und Han-
delsbahn Norwegens, sie verbindet die alte Hauptstadt Norwegens,
Drontheim, mit der neuen, Christiania, an diesem Fjord concentrirt
sich am stärksten der Handel Norwegens. Drei grosse Eisenbahn-
linien gehen von der Hauptstadt aus, die nach Drontheim, die nach
Südosten über Göteborg nach Malmö und die nach Stockholm. Eine
vierte kurze Linie führt nach Südosten über Dramen, den dritten
Handelsplatz Norwegens, nur bis Skien (204 km).
Ueber Christiania, die Hauptstadt Norwegens, bewegt sich die Hälfte der
Einfuhr des ganzen Landes, aber wenig mehr als ein Viertel der Ausfuhr ein-
heimischer und die Hälfte der fremden Waaren, welche fast nur Getreide und
Colonialwaaren umfassen.
Der Gesammthandel von Christiania betrug in Kronen:
| [...] |
Die Hauptartikel der Einfuhr Christianias sind: Fleisch, Vieh, Fette
und Oele (1888 12·5 Millionen Kronen), Getreide und Mehl (8 Millionen Kronen),
Colonialwaaren (11 Millionen Kronen), Gespinnststoffe, Garne und Gewebe
(18 Millionen Kronen), Häute, Felle und Arbeiten daraus (3·4 Millionen Kronen)
rohe Mineralien, Metalle und Metallarbeiten (14 Millionen Kronen), dann
Schiffe und Maschinen aller Art (4½ Millionen Kronen).
Im Einzelnen heben wir hervor Speck (1888 40.306 q) aus Amerika und
den nordeuropäischen Ländern, Butter (17.810) aus Schweden und Deutschland,
Fleisch (19.250 q) aus Amerika und Eier (3857 q) aus Schweden.
Für Getreide ist Christiania nach Bergen der stärkste Einfuhrplatz Nor-
wegens. Die Hauptrolle spielt Roggen (506.830 q) aus Russland, Finnland und
Deutschland, ausserdem sind zu nennen Gerste, Hafer und Bohnen.
Mehl wurden 1888 129.699 q eingeführt, darunter 81.723 q Weizenmehl
aus Deutschland und Dänemark. Die Einfuhr von Reis ist hier wie in ganz Nord-
europa klein (14.930 q), Leinsaat (33.090 q) kommt aus Russland und Deutschland.
Bei den Colonialwaaren ist zuerst Syrup zu nennen (27.077 q) aus England
und Amerika, Zucker (80.961 q) aus Holland, England und Deutschland, Kaffee
(46.694 q) ebendaher; Tabakblätter (8116 q) kommen über Hamburg und Bremen.
Von Südfrüchten und anderem Obst wurden 1888 ungefähr 17.000 q
eingeführt, davon sind Rosinen und Pflaumen hervorzuheben.
Branntwein und Spiritus sendet besonders Frankreich (4150 q), Wein
(7244 q) kommt über deutsche Häfen und aus Frankreich.
Wolle (3803 q), Baumwolle (18.740 q), Flachs, Hanf und Jute
werden aus England, die letzteren überwiegend aus Deutschland gebracht.
In der Garneinfuhr (10.515 q) sind Baumwoll- und Schafwollgarne beson-
ders wichtig.
Webwaaren wurden 1888 23.572 q eingeführt. Davon Schafwollwaaren
7336 q und Baumwollwaaren 10.114 q. Die Einfuhrländer für Garne sind England
und Schweden, für Webwaaren Grossbritannien, Deutschland, Schweden, in Schaf-
wollwaaren ist Deutschland allen anderen Staaten voraus.
Unzubereitete Felle (4438 q) kommen aus Frankreich, Deutschland, Schweden,
bearbeitete (11.733 q) fast allein aus Amerika.
Stearin, Margarin und Talg werden aus Holland, Schweden, Frankreich,
Leinöl (30.965 q) aus England und Petroleum (66.345 q) aus Amerika und
Russland eingeführt, Stearinkerzen und Seifen kommen aus Schweden.
Bedeutend ist auch die Einfuhr von Papieren, Schreib- und Zeichenpapier,
Dachpappe etc. (24.000 q) aus Schweden, die feineren Sorten liefern Deutsch-
land und Belgien.
Steinkohlen (1888 3,284.456 hl gegen 2,668.766 hl im Jahre 1887) sandte
England, Kochsalz (1888 80.423 hl), Salpeter und Soda England und
Deutschland.
Auch Holz und Holzwaaren wurden 1888 um 2,092.700 Kronen ein-
geführt.
Die Einfuhr von Eisen und Stahl erreichte 1888 333.087 q, davon waren
169.483 q Stangen- und Bandeisen, die von Eisenfabricaten 62.256 q. Grossbritan-
nien und Schweden liefern den Haupttheil dieser Einfuhr. Zum Schlusse seien
noch Kupfer und Zink, dann Maschinen aus England und Deutschland an-
geführt.
114*
[908]Der atlantische Ocean.
In der Ausfuhr Christianias erscheinen meist nur einheimische Waaren, die
fremden lieferten 1888 etwa den zehnten Theil des Gesammtwerthes. Wir geben
in Folgendem nur die Ausfuhr einheimischer Waaren.
Unter den Lebensmitteln aus dem Thierreiche nehmen die erste Stelle
Häringe ein, die gesalzen und frisch fast ausschliesslich nach Schweden und
Dänemark zur Ausfuhr kamen. Die Ausfuhr frischer Häringe (1888 47.000 q)
nimmt rasch zu. Ebenso gehen die getrockneten Fische, Anchovis und Hum-
mern nach Schweden.
Die Ausfuhr von Margarin nimmt ab, denn 1888 betrug sie nur 8287 q,
gegen 12.376 im Jahre 1887, dagegen hat sich die Ausfuhr von condensirter
Milch nach England von 17.352 q auf 21.410 q im Jahre 1888 erhöht.
Hafer wird nach England und Dänemark, Kümmel (2010 q) nach Däne-
mark ausgeführt.
Von Spirituosen geht Bier 1888 12.530 gegen 10.407 hl im Jahre 1887
nach Deutschland und England.
Von Gespinnststoffen und Geweben daraus gingen 1888 Hadern und
Shoddy, zusammen 8737 q, nach England, Schweden und Deutschland, Wollen-
waaren (3662 q) und Baumwollenwaaren (2444 q), Leinwand und Säcke
aus grober Leinwand nach Schweden; alle zusammen hatten einen Werth von
etwa 3 Millionen Kronen.
In der Ausfuhr nehmen ferner auch Häute und Felle im Werthe von
1·6 Millionen Kronen einen der Hauptplätze ein, darunter gehen Rindshäute
nach Schweden, Kalbfelle nach Frankreich, Deutschland, Holland, Dänemark und
Seehundsfelle (1888 3373 q, 1887 2800 q) ausschliesslich nach England.
Die Ausfuhr von Thierknochen, Walfischbarten, Knochenmehl,
Walfischthran und Fett hat bedeutend abgenommen, dagegen hob sich die
Ausfuhr von Medicinalthran seit Errichtung einiger Fabriken zur Herstellung des-
selben 1888 auf 1774 hl. Anderer Thran wurden 1888 13.680 gegen 10.829 hl im
Jahre 1887 nach den nordeuropäischen Ländern verschifft.
Der Hauptexportartikel Christianias ist Bau- und Nutzholz, wovon
1888 an unverarbeitetem Material um 3,371.500 Kronen, von bearbeitetem um
4,852.100 Kronen ausgeführt wurde. Davon entfielen auf gehobeltes Holz nach
England, Australien, Afrika, Spanien, Belgien, Frankreich etc. 61.867 m3, auf
anderes Holz 133.757 m3, wovon 84.347 m3 nach England, der Rest ebenfalls nach
den eben genannten Ländern gingen. Am bedeutendsten aber war die Ausfuhr von
Holzstoff und Cellulose nach England, Amerika, Australien, Deutschland,
Frankreich, sie erreichte 1888 501.830 q. Anschliessend hieran sei des Exports von
Zündhölzchen nach England gedacht, 46.027 q.
Die Ausfuhr von grobem Papier, besonders aus Holzstoff gearbeitetem
Packpapier hebt sich gleichfalls jährlich (1888 46.828 q); sie geht nach England
und Deutschland und hat einen Werth von 1 Million Kronen.
Auch Eis registrirt unter den bedeutenderen Ausfuhrartikeln für Eng-
land (58.519 t).
Flaschen aus gewöhnlichem Glase (1889 1,503.619, 1887 1,248.804 Stück)
gingen nach Deutschland und England.
Von Mineralien, Metallen und Metallarbeiten werden zumeist Eisen und
Kupfer ausgeführt, Alles zusammen im Werthe von ungefähr 3·2 Millionen
Kronen. Unter den Eisenwaaren sind besonders Schiffsnägel zu nennen. Die
[[909]]
A Einfahrt, B Bunde Fjord, C Observatorium, D Palast, E Gefängniss, F Leuchtfeuer, G Oslohafen,
H Bahnhöfe, J Palast, K Schloss, L Rathhaus, M Post, N Arsenal, O Börse, P Badhaus, Q Militär-
badhaus, R botanischer Garten, S Freimaurerloge, T Zellengefängniss, U Karl Johann-Gasse, V Rath-
hausgasse. W Hausmannsgasse. X Grönlandsgasse, Y Klostergasse, Z Olafsgasse. — 1 Torvgasse,
2 Storgasse, 3 Töjengasse, 4 Rosenkranzgasse, 5 Möllersgasse, 6 Ljabrochaussée, 7 Trondbjemsvejen-
strasse, 8 Drammensvejenstrasse, 9 Munkedamsvejenstrasse.
[910]Der atlantische Ocean.
Ausfuhr von Schiffen und Maschinen hatte 1888 einen Werth von 0·9 Millionen
Kronen, die von Webwaaren einen solchen von 2·3 Millionen Kronen.
Christiania ist auch Norwegens bedeutendster Industrieplatz; wir finden hier
Schiffswerften, Fabriken für Maschinen und Nägel, für Holzstoff und Papier,
Zündhölzchen, ferner Spinnereien, Webereien und in der Umgebung Sägewerke.
Der Schiffsverkehr Christianias mit dem Auslande umfasste:
| [...] |
Christiania hatte Ende 1888 eine Marine von 72 Dampfern mit 17.559 t
und 284 Segelschiffen mit 138.374 t, zusammen 354 Schiffe mit 155.933 t.
Die Küstenschiffahrt nimmt bei dem physikalischen Baue des Landes
und dem Umstande, dass von 67 Städten Norwegens nur 7 im Innern des Landes,
60 am Meere liegen, wenigstens ⅘ des inneren Verkehres auf sich.
Von dem auswärtigen Verkehre ist zu bemerken, dass viele Schiffe von
Christiania nach den anderen Häfen am Fjord gehen, um dort Ladung für die
Ausfahrt zu suchen, welche in der obigen Tabelle nicht enthalten sind.
Die grösste Zahl der Tonnen entfällt auf die norwegische Flagge (1888
364.748 t von 771.350 t des Eingangs), ihr folgen die dänische, die britische und
die schwedische. Der lebhafteste Verkehr findet mit den Häfen an der Ostküste
Grossbritanniens statt; an diese reihen sich in absteigender Ordnung Deutschland,
Dänemark, Russland, Schweden, die Niederlande, Frankreich und Belgien.
Von Christiania bestehen folgende regelmässige Dampferverbindungen: Unter
norwegischer Flagge nach Göteborg, London, Newcastle, Middlesborough, Grange-
mouth, Hamburg, Bremen, Amsterdam, Rotterdam, Antwerpen, Hâvre, Bordeaux,
unter schwedischer Flagge nach Göteborg, Malmö, Stockholm, unter dänischer
nach New-York, Fredrikshavn, Kopenhagen und Stettin.
Jede dieser Linien läuft auch andere Plätze im südlichen Norwegen an; den
inländischen Verkehr besorgen aber zumeist eigene Dampfer, die im Sommer jeden
Tag der Woche, ausgenommen Sonntag, alle Küstenplätze von Christiania bis
Bergen verbinden und in Bergen Anschluss bis Vadsö jenseits des Nordcaps finden.
Christiania ist Sitz einer Börse und der wichtigsten Geldinstitute des
Königreiches.
Hier bestehen Consulate folgender Staaten: Argentinien, Belgien, Chile,
Columbia, Dänemark (G.-C.), Deutschland (G.-C.), Dominikanische Republik, Frank-
reich, Griechenland, Grossbritannien (G.-C.), Hawaii, Italien, Liberia (G.-C.),
Niederlande (G.-C.), Oesterreich-Ungarn (G.-C.), Portugal, Rumänien (G.-C.), Russ-
land (G.-C.), Salvador (G.-C.), Schweiz, Uruguay (G.-C.), Venezuela, Vereinigte
Staaten.
Den Fjord von Christiania umsäumt noch ausser Christiania
eine ganze Reihe anderer Häfen, von welchen Fredrikstad und
Drammen, ein Hauptsitz der norwegischen Holzindustrie, die wich-
tigsten sind. Der Schwerpunkt ihres Verkehres liegt im Holzhandel.
[[911]]
Bergen.
Die Lage Bergens ist von der Seeseite aus betrachtet sehr
malerisch. Links eine Reihe nackter, grauer Hügel, an deren Seiten-
wand ein Theil der Stadt in Form eines Amphitheaters hinansteigt,
während der andere Theil sich tief in einem Kessel verliert; ein
hoher Hügel, auf dessen Spitze sich Schloss Bergenhus erhebt, trennt
einen Theil der Stadt von einer anderen kleinen Bucht. Der Hafen
ist schmal, zu beiden Seiten von Waarenhäusern umgeben und tief.
Bergen ist nach 1070 von König Olaf Kyrre gegründet worden. Im
XIII. Jahrhundert verdrängte bereits der Handel der Hansa den der einheimischen
Bürger; um 1340 bildete sich auf der östlichen Seite des Hafens eine eigene
deutsche Handelsfactorei, die bald den ganzen Handel beherrschte. Das Stadt-
viertel, das die deutschen Kaufleute bewohnten, ist noch heute der Mittelpunkt
des Handels. Als die Befreiung von der Herrschaft der Hansa begann, wurden
die Handelsprivilegien derselben eingeschränkt, und nach Auflösung der Hansa
gingen die deutschen Besitzungen in Bergen an die Norweger über. Bergen war
früher die erste Handelsstadt Norwegens und verlor erst in neuester Zeit seinen
Vorrang an Christiania.
Bergen, die Hauptstadt des gleichnamigen Stifts, ist nach
Christiania die wichtigste Handelsstadt Norwegens und beherbergt über
47.000 Einwohner. Unter 60° 24′ nördl. Br. und 5° 19′ östl. L. v. Gr.
gelegen, hat es unter dem Einfluss des Golfstromes ein ausserordent-
lich mildes Klima — die mittlere Jahrestemperatur beträgt 8·12°C.,
während sie in dem ein wenig südlicheren Christiania nur 5·3° be-
trägt; Bergen weist aber auch die grösste Regenmenge unter allen
skandinavischen Küstenstädten auf. Die Stadt liegt, wie unser Plan
zeigt, auf einem Vorgebirge, ganz von Wasser umgeben, und besitzt
jetzt bedeutungslos gewordene Festungswerke. Ihren Namen hat sie
von den hohen kahlen Bergen, welche den Hafen überragen. Die
Stadt zeigt ein reges Verkehrsleben, dessen Mittelpunkt der Fisch-
handel bildet. Die Strassen sind eng und unregelmässig, die meisten
Häuser von Holz.
[912]Der atlantische Ocean.
An der Nordwestseite des Hafens liegt der Stadttheil Nordräs
auf einer Halbinsel, von ihm aus geht die Strandgaden (Gasse) den
Hafen entlang. Auf der Halbinsel befindet sich die Anhöhe Hougen
mit einer schönen Aussicht über die Stadt und den Hafen. Die
Strandgade und die mit ihr parallel laufende Strasse Markevejen
werden häufig von Plätzen mit Anlagen — Almenningen — unter-
brochen. Im Süden des Hafens befinden sich drei grosse Plätze, hier
sind die neuen, seit dem Brande von 1855 aufgeführten Stadttheile.
Vor der Börse auf dem Vaags-Almenning steht das Standbild des
Dichters Ludwig Holberg, der in Bergen geboren wurde. Weiter
südlich erhebt sich auf einem kleinen Hügel das schöne, neue
Museumsgebäude mit werthvollen Sammlungen. Hinter dem Museum
ist der neue Stadtpark.
Von der König Oskar-Strasse gelangt man durch die Stadtpforte
links zur Domkirche mit einem schönen Thurm. Nördlich davon, im
Osten des Hafens, liegt das alte hanseatische Kontor, Bryggen oder
Tydskebryggen (deutsche Brücke) genannt. Hier wohnten zur Zeit der
Hansaherrschaft die deutschen Kaufleute. Die Häuser in diesem Viertel
sind trotz wiederholter Feuersbrünste nach Art der alten norwegi-
schen Stadthäuser aufgebaut. Nördlich erhebt sich die Marienkirche,
welche den Hanseaten gehörte.
Den interessantesten Anblick bietet Bergen zur Zeit der Fisch-
messe, da wimmelt der Hafen von Fahrzeugen, welche mit den Fisch-
ladungen von Norden kommen, und in der Stadt bewegt sich Schiffer-
volk aller Nationen. Am inneren Hafen ist der Fischmarkt, wo an
Markttagen das lebhafteste Treiben und Feilschen vor sich geht.
Ausserhalb der Brücke ist die Festung Bergenhus, wo sich die Königs-
halle, der Festsaal der alten Könige, befindet.
Der Hafen von Bergen bildet das südliche Ende des By-Fjords,
welchem seewärts eine Barrière von Inseln (Askö, Soträ u. a.) vor-
lagert. Der Fjord, welcher mit vielen Abzweigungen tief ins Land
greift, hat die bedeutende Wassertiefe von mehr als 4 m und bietet
der Schiffahrt keine Hindernisse.
Die Bergen anlaufenden Schiffe wählen die Zufahrt im Süden
der Insel Soträ durch den Kors-Fjord, welcher durch Leuchtfeuer gut
gekennzeichnet ist.
Für den Handel bestehen keine völlig geschlossenen Becken oder
Docks. Die Eisenbahn durchschneidet die Stadt und führt bis zum
östlichen Quai der Hafenbucht (Vaagen), deren Eingang durch einen
Wellenbrecher geschützt ist. Die Flut erreicht hier eine Höhe von
[[913]]
Bergen.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 115
[914]Der atlantische Ocean.
1·2 m. In den schmalen Einlässen zum Lungegaards-Vand im Osten
der Stadt wird die kräftige Gezeitenströmung sogar zum Treiben von
Mühlen benützt.
Von den 50 Häfen, welche Norwegen zählt, ist für den Welthandel ausser
Christiania nur noch Bergen als erster Ausfuhrplatz für Fischerei-
producte von eminenter Bedeutung. Sie lieferten zu der Gesammtausfuhr des
Jahres 1888 von 20,467.500 Kronen nicht weniger als 17,264.500 Kronen.
Gehen wir die einzelnen Gattungen der Fische durch, so finden wir, dass
1888 nur 9138 q frischer Fische, dagegen 123.340 q Stockfische nach Italien,
Schweden, den Niederlanden, Grossbritannien, Deutschland, Russland und Finn-
land, Belgien, 134.507 q Klippfisch nach Spanien, Deutschland, Italien, Schweden,
Grossbritannien und Portugal, 380.843 hl gesalzene Häringe nach Deutschland,
Schweden und Dänemark ausgeführt werden.
Bergen hat in Norwegen die stärkste Ausfuhr von Thran, 1888 73.803 hl,
davon 22.334 hlMedicinalthran, dann sind noch zu nennen Holzstoff und
Cellulose (35.436 q), Garkupfer (2580 q).
In der Einfuhr spielen Nahrungs- und Genussmittel, dann Stein-
kohlen die Hauptrolle.
Bergen führt mehr Getreide ein als irgend ein anderer Hafen des König-
reiches, so 1888 Roggen 781.176 q, Gerste 403.543 q, Reis 5211 q; ferner
wurden in diesem Jahre eingeführt Kaffee 9099 q, Zucker 23.678 q, Syrup
23.029 q und Tabak 3286 q.
Auch die Einfuhr von Obst und Südfrüchten ist mit 5000 q ziemlich
ansehnlich, darunter sind 1094 qRosinen.
Von Spirituosen wurden bei 8700 q, von Wein 2846 q gegen 3046 q
im Jahre 1887 eingeführt.
Auch Gespinnststoffe führt Bergen ein, und zwar Rohwolle (3531 q),
Rohbaumwolle (3002 q), Leinen, Hanf, Jute (1311 q).
Die Einfuhr von Manufacturen erreichte 1888 4400 q; nur wenig um-
fangreicher war die Einfuhr von Fellen und Häuten.
Petroleum kommt aus Amerika (33.659 q), Steinkohlen (1,279.661 hl)
aus Grossbritannien, Kochsalz (393.802 hl), von dem viel beim Einsalzen der
Fische verwendet wird, aus Grossbritannien und Südeuropa.
Erwähnenswerth ist die Einfuhr von Farbwaaren und Droguen (5000 q),
Von Roheisen wurden 1888 28.692 q, von Eisenwaaren 22.459 q ein-
geführt. Ketten und bearbeitete Platten bilden den Haupttheil derselben. Bezugs-
länder sind England, Deutschland, Schweden und Belgien.
Schiffe wurden 1888 um 2,141.400 Kronen, Maschinen und Maschinen-
bestandtheile um 303.700 Kronen eingeführt.
Die Ausfuhr Bergens erreichte 1888 29,212.800 Kronen, 1887 23,497.000
Kronen, die Einfuhr 1888 20,647.500 Kronen, 1887 19,079.200 Kronen.
Bergen hatte Ende 1888 eine eigene Handelsflotte von 151 Dampfern mit
69.447 t und von 201 Segelschiffen mit 29.215 t, zusammen 352 Schiffe mit 98.662 t.
Der Schiffsverkehr Bergens mit dem Auslande umfasste:
| [...] |
Die wichtigste Flagge ist die norwegische mit etwa der Hälfte des Tonnen-
gehaltes, ihr folgen die englische, dänische und deutsche.
Bergen hat regelmässige Verbindungen durch norwegische Dampfer nach
Newcastle, Leith und Hamburg, durch britische nach Hull, durch schwedische
nach Hamburg und holländische nach Rotterdam und Bremen. Bergen steht durch
Linien von Küstendampfern in Verkehr mit allen Häfen Norwegens.
A Zufahrt nach Bergen, A1 Store Lungegaards Vand, B Lille Lungegaards Vand, C Marine-Etablissement,
D Bahnhof, E Militärbadehaus, F Leuchtfeuer, G Domkirche, H Mariakirche, J Museum, K Börse,
L Rathhaus, M Theater, N Jodfabrik, O Friedhöfe.
115*
[916]Der atlantische Ocean.
Eine 108 km lange Eisenbahnlinie führt von Bergen nach Voss.
In Bergen sind Consulate folgender Staaten: Belgien, Dänemark,
Deutsches Reich, Oesterreich-Ungarn, Spanien, Uruguay, Vereinigte Staaten von
Amerika.
Trondhjem (Drontheim), die Krönungsstadt Norwegens, von
der aus mehrere Thäler in das Massiv des skandinavischen Hoch-
landes einschneiden, hat seit Eröffnung der Eisenbahnen nach Christiania
und über Östersund nach Stockholm erhöhte Bedeutung für den
Handel gewonnen, da es als eisfreier Platz Winterhafen für Stock-
holm geworden. Ausserdem gewann es an Bedeutung für den inter-
nationalen Reiseverkehr, da es zugleich Ausgangsstation der Küsten-
dampfer ist, welche jährlich Tausende von Touristen ins Land der
Mitternachtssonne bis Vadsö bringen.
Der Handelsverkehr des Hafens ist natürlich bei dem geringen
Umfange des productiven Hinterlandes beschränkt, die Hauptquelle
des Ausfuhrhandels sind Fischfang und Holz, verhältnissmässig be-
deutend ist auch die Ausfuhr fremder Waaren.
Im Jahre 1888 wurden von norwegischen Erzeugnissen um 2·5 Millionen
Kronen Fischereiproducte, und zwar meist Stockfische (21.849 q), dann
um 2·5 Millionen Kronen Holz und Holzwaaren ausgeführt.
Ausser diesen sind zu nennen Schwefelkies und Kupfererze.
Die Einfuhr, welche an Werth die Ausfuhr übersteigt, besteht zumeist
aus Nahrungs- und Genussmitteln. Man führte hier 1888 93.518 qRoggen,
52.369 qGerste, 14.631 qKaffee, 11.639 qZucker und 11.645 qSyrup ein.
Die Einfuhr von Manufacturen erreichte einen Werth von 1·2 Millionen
Kronen, die von rohem und halbverarbeitetem Holz 1·5 Millionen Kronen.
Von Petroleum wurden 11.588 q, von Steinkohlen 554.974 hl, von
Salz 100.931 hl, von Roheisen 15.000 q eingeführt, auch die Einfuhr der Eisen-
fabricate ist recht ansehnlich. Schiffe, Maschinen und Maschinenbestandtheile
hatten 1888 einen Werth von 516.200 Kronen.
Im Jahre 1888 wurden Waaren um 11,752.100 Kronen eingeführt und um
9,007.900 Kronen ausgeführt.
Der Schiffsverkehr mit dem Auslande erreichte 1888 496 Fahrzeuge
mit 240.858 t, davon waren 391 Dampfer mit 215.621 t.
Sehr lebhaft ist der Küstenverkehr, denn Drontheim ist Station der
zwischen Bergen und Vadsö verkehrenden Dampfer und hat überdies regelmässige
Verbindungen mit Christiania und den ausländischen Häfen Kopenhagen, Stettin,
Hamburg und Hull.
[[917]]
London.
Der bedeutendste Seehandelsplatz der Welt, London, besitzt
keinen von der Natur geschaffenen Hafen, ja er steht nicht einmal
in unmittelbarer Berührung mit dem Meere, sondern entwickelte sich
an einem Flusse, welcher erst eine ansehuliche Strecke unterhalb in
das Meer mündet und an dessen Ufern künstlich das erforderliche
Terrain für maritime Zwecke gewonnen und adaptirt werden musste.
Aber die ausserordentlich günstige Lage des Punktes überhaupt war
es, welche trotz dieser Schwierigkeiten denselben in jene Entwicklung
hineintrieb, die er im Laufe der Jahrhunderte genommen und durch
die er sich zu seiner heutigen universalen Bedeutung im Weltverkehre
emporgeschwungen hat. London ist durch die von diesem Punkte an
für alle Schiffe zugängliche Themse mit dem Meere in naher Ver-
bindung, es liegt nahe zu allen Küsten des nordwestlichen und
westlichen Europa, an der grossen Wasserstrasse des Canales und
am Wege, der vom Ocean nach den nordischen Gewässern und zur
Ostsee führt, es hat durch den Canal freie Verbindung über den
Atlantischen Ocean, sowohl in westlicher Richtung gegen Amerika,
als in südlicher und östlicher nach den Küsten Afrikas, an denen,
so lange der Isthmus von Suez noch nicht durchstochen war, der
Weg nach Indien führte. Dabei wurde London eben wegen seiner
Position im Süden der britischen Insel und wegen seiner maritimen
Zugänglichkeit die natürliche Hauptstadt des unter einem Herrscher
vereinigten Landes, dessen geschichtliche Entwicklung schon deshalb
einen östlich gelegenen Hafenplatz als politisches Centrum erheischte,
weil lange Zeit viele Interessen seiner Herrscher jenseits des Canales,
auf dem Continente gelegen waren und es sich daher als eine Noth-
wendigkeit darstellte, stets nach beiden Richtungen hin über eine
möglichst sichere Verbindung zu verfügen.
Wir erinnern nur daran, dass die eigentlichen Begründer des britischen
Reiches, die Normannenkönige, noch lange Zeit hindurch ihr Stammland, die
[918]Der atlantische Ocean.
Normandie, als eine wichtige Stütze ihrer Macht betrachteten und sehr ungern
allzusehr von derselben getrennt gewesen wären. Kein anderer Punkt aber als
gerade London bot so viele Vortheile. Wilhelm der Eroberer war zur See herüber-
gekommen, als er dem Sachsenkönig Harald das angetretene Erbe entriss, und es
wird gemeldet, dass er nach der Landung die Schiffe verbrennen liess, damit
seine Ritter und Knechte zum Siege gezwungen seien. Als aber das Land unter-
worfen war, da sorgte er für die unmittelbare Verbindung mit der See und als
ein kundiger Kriegsmann auch für eine sichere Verbindung mit seinem Stamm-
lande, und unter den damaligen Verhältnissen konnte beides kein Platz besser
bieten als die Stadt an der Themse. Wie richtig der Eroberer dies erkannte,
beweist, dass er den weissen Tower daselbst erbaute, einen Theil jenes festungs-
artigen Bauwerkes, in welchem der Besucher Londons manche tragische Epoche
britischer Geschichte an seinem geistigen Auge vorüberziehen sieht.
Es ist nicht möglich, der Entstehung Londons auf den Grund zu gehen.
Die Ansiedlung ist älter als die Quellen, welche von derselben berichten. Lange
vor dem Einfall der Römer bestand bereits eine von den alten Briten bewohnte
Stadt, deren damaliger Name von einem Könige Lud herrühren sollte und Llun-
dain lautete, aus welcher Bezeichnung dann das römische Londinium hervorging.
Die Römer, welche unter Caesar zum erstenmal den Boden der Insel, wenn auch
nur vorübergehend, betraten, aber erst in der zweiten Hälfte des I. Jahrhunderts
n. Chr. davon Besitz nahmen, fanden London schon „sehr berühmt durch die
Fülle seiner Kaufleute und Waarenzufuhren“, wie uns Tacitus berichtet. Die Stadt
wurde jedoch von den Römern nicht zum Hauptorte der Provinz Britannien ge-
macht, erhielt aber die Stellung einer Colonie. Soweit sich heute urtheilen lässt,
umfasste diese römische Colonie die Strecke am linken Themseufer vom Tower
bis Ludgate und nördlich bis Finsbury und Moorfield.
Als die Römer den Inselbesitz aufgaben, brach eine lange schwere Zeit
für ganz England herein, welches zum Zielpunkte fremder Eroberer und dadurch
in vielfache Kämpfe verwickelt ward. Grosse Bedrängniss kam von der See her
durch die Nordmänner, und gerade das so leicht zugängliche London mag unter
dieser Plage nicht wenig gelitten haben, da es ob seines alten Verkehres den
seekundigen Nachbarn wohl bekannt gewesen sein muss. Es kam ferner der
starke Zug der Angeln und Sachsen von den germanischen Uferländern her,
welche allmälig mit der alten Bevölkerung sich vermischten und das Reich neu
besiedelten, denen aber in den Dänen grimmige Feinde entstanden. Diese dehnten
ihre Raubzüge nach England aus und eroberten im IX. Jahrhunderte den grössten
Theil des Landes, welches ihnen botmässig ward. Alfred der Grosse errang den
Angelsachsen wieder ihre nationale Unabhängigkeit und that den dänischen Be-
drängern Einhalt, so dass für einige Zeit wenigstens ruhigere Verhältnisse platz-
griffen. Aber ganz gaben die Dänen ihre Pläne nicht auf, immer wieder machten
sie Versuche, die volle Herrschaft zu erlangen, und als unter König Ethelred der
grosse Massenmord der auf der Insel wohnhaften Dänen geschehen war, kam furcht-
bare Vergeltung. Stärker denn je erschienen die alten Feinde und unterwarfen sich
das angelsächsische Reich, welches allmälig aus sieben einzelnen Königreichen zu
einem Ganzen verschmolzen worden war.
London spielte damals schon eine ansehnliche Rolle und behauptete sich
darin auch unter den beiden gewaltigen dänischen Herrschern Sven und Knut im
XI. Jahrhunderte. Nach dem Tode Knut’s gelang es jedoch der alten Sachsen-
[919]London.
dynastie wieder die Herrschaft an sich zu reissen, und König Eduard der Bekenner,
welcher zu London residirte, regierte im ganzen Lande. Aber mit seinem Tode
trat jene Wendung ein, welche grundlegend für die ganze fernere Entwicklung
und die heutige Gestaltung Englands war. Eduards Neffe Harald fand an dem
Herzoge der Normandie einen Gegner, welcher ihm sein Thronrecht bestritt und
selbst Ansprüche erhob. Der Normanne Wilhelm hatte ein starkes Heer und war
ein gewaltiger Krieger. Bei Hastings 1066 errang er mit dem blutigen Siege
die Krone des Landes. Es kam eine harte Zeit über letzteres, denn die Normannen
waren harte und rücksichtslose Herren, viel bedacht auf Gewinn und materiellen
Vortheil. Nur schwer fügten sich die Sachsen unter das neue Joch. Aber mit
fester Hand hielten die Normannenkönige, die in ihrem Stammlande eine gute
Verwaltung besassen, das Regiment und waren eifrigst bemüht, überall strenge
Ordnung einzurichten. Sie waren aber auch kluge Leute und rührten an Gewohn-
heiten nicht, welche ihren Interessen nicht entgegenstanden, und so ward auch
London von ihnen in seinen alten Rechten erhalten, wenngleich schon der Eroberer
durch die vorher erwähnte Erbauung des weissen Towers auch Sorge trug, dass
ihm der Unabhängigkeitssinn der Londoner Bürger nicht lästig werden könne.
Gerade für London war die normännische Zeit ein wesentlicher Vortheil,
denn es erweiterten sich die Beziehungen der Stadt zu den schon damals in
Handel und Gewerbe aufblühenden Gebieten des nördlichen Frankreichs und
Flanderns. Andererseits aber ward die Stadt auch in die vielfachen inneren
Kämpfe hineingezogen, welche unter den ersten normännischen Herrschern und
den ihnen folgenden, stammverwandten Plantagenets England in vielfache Auf-
regung brachten.
Immer galt aber London als das Centrum des Landes, und wenn auch die
Könige viel im Lande herumzogen und sich nicht dauernd an einem Sitze auf-
hielten, die Verwaltungsmaschine, welche der Eroberer eingerichtet hatte und aus
der sich mit einer merkwürdigen Continuität der ganze Organismus des britischen
Staatswesens weiter entwickelte, hatte ihren festen Centralpunkt in London, trotz des
mannigfaltigen Wechsels der Zeiten und der vielen Stürme, welche die Stadt er-
leben musste und unter denen namentlich die Kämpfe zwischen den beiden Rosen
im XV. Jahrhunderte, dem Hause Lancaster und dem Hause York um den Königs-
thron ganz besonders furchtbar waren. Im Tower war es, wo Richard III. die
unglücklichen Kinder Eduard’s IV. ermorden liess. Als Richard III. bei Bosworth
Thron und Leben verloren hatte und sein Gegner Heinrich VII. Tudor die Krone
errang, brach für England eine neue Zeit an, und das schwergeprüfte Land konnte
von den harten Tagen sich erholen.
Von jetzt an geht Londons Stern stetig nach aufwärts. Schon der zweite
Tudor, Heinrich VIII., zielte darauf hin, England auch nach aussen hin eine
mächtige Stellung zu sichern und namentlich dessen commerzielle Beziehungen zu
mehren. Unter diesem Könige ward die Reformation durchgeführt, welche wohl
auch wiederum den Anlass zu mancherlei Irrungen gab. Eine kurze Zeit schienen
die Erfolge der Reformation bedroht, als Heinrich’s VIII. Tochter, die blutige
Maria, mit Gewalt die katholische Religion wieder herstellen wollte und die
protestantischen Ketzer mit Feuer und Schwert verfolgte, aber das englische Wesen
sträubte sich bereits gegen diese Aenderung, umsomehr als man den verderblichen
spanischen Einfluss infolge der Verbindung Maria’s mit Philipp II. fürchtete. Der
kurzen Regierung Maria’s folgte die staatskluge Elisabeth, welche ihr Reich auf
[920]Der atlantische Ocean.
den von ihrem Vater betretenen Pfaden weiter führte und insbesondere viel für
die Entwicklung des Seewesens that, welches infolge der Entdeckung neuer, aus-
gedehnter Welttheile erhöhte Bedeutung gewann. Jetzt begannen die Beziehungen
Englands zur neuen Welt, vornehmlich zu Nordamerika, und deren Colonisirung.
Anfangs des 16. Jahrhunderts war durch die Entdeckung Amerikas die Weltlage
Englands vollkommen verschoben worden. Bis dahin lag es am Ende der be-
kannten Welt. Nach der Fahrt des Columbus bildeten die britischen Inseln das
natürliche Bindeglied zwischen der alten und der neuen Welt. Diese historische
Thatsache begriffen zu haben, bleibt das grosse Verdienst der jungfräulichen
Königin, welche auch 1571 persönlich die Londoner Börse einweihte und ihr den
Titel „Royal Exchange“ verlieh.
Angstvoll waren die Tage, in denen man die Landung der grossen spanischen
Armada fürchtete, und damals gingen Londons Bürger in Patriotismus und Opfer-
willigkeit allen Landsleuten mit glänzendem Beispiele voran. Unter Elisabeth
nahm diese Stadt, wohin sich immer mehr der Adel zog, auch bedeutend zu. Viel-
fache Neubauten entstanden, und Handel und Wandel belebten sich in steigendem
Masse. Aufwärts ging die Linie auch im XVII. Jahrhundert, wenngleich im Laufe
desselben noch einmal gewaltiger Umsturz das Innere des Landes erschütterte. Die
Eingriffe des Stuart Karl I. in die Verfassung des Landes im Zusammenhange mit
religiösen Differenzen riefen jene Revolution hervor, in welcher Oliver Cromwell mit
dem Parlamente Sieger über das Königthum blieb und London, welches im Laufe
der Jahrhunderte schon manche Executionen geschaut hatte, auch das Schauspiel
erlebte, dass sein eigener König das Haupt auf dem Schaffote verlor. Es geschah
dies 1649 vor dem Palaste Whitehall, welcher seit Heinrich VIII. oftmals als
königliche Residenz gedient und von Karl’s Vater Jakob I. wesentlich erweitert
und erneuert worden war. Cromwell zeigte sich nicht nur als Soldat, sondern
auch als Staatsmann tüchtig und festigte die Stellung Englands, welches von nun
an als Grossmacht in Europa galt. Er hatte viel Verständniss für die wirth-
schaftlichen Interessen seines Landes und förderte namentlich auch durch die
Navigationsacte dessen Handelsmarine, weil er kraft jener Acte den Schiffen
nationaler Flagge grosse Vorrechte im Verkehre mit britischen Häfen und Colo-
nien gegenüber den fremden Flaggen einräumte.
Nach Cromwell’s Tode wurde die Dynastie der Stuarts wiederhergestellt,
und wenn auch Karl II. durch die Unverlässlichkeit seines Charakters und die
grosse Leichtfertigkeit seines Lebenswandels namentlich in der guten Stadt London
viel Aergerniss bereitete, so war doch die Restauration des Königthums unter
Bedingungen erfolgt, welche die Grundlagen der Verfassung sicherstellten. Schon
stand aber auch Londons Bedeutung so gesichert aufrecht, dass es bereits allwärts
als mächtiger Concurrent galt und der Londoner Platz Ansehen genoss, wie wenige
Plätze des Continents.
Wenn man erwägt, dass London zu Anfang des XVIII. Jahrhunderts bereits
700.000 Einwohner hatte, eine für die damaligen Bevölkerungsverhältnisse kolos-
sale Zahl, so wird man daraus allein schon einen Schluss auf die Wichtigkeit dieser
Stadt ziehen können. Derselben kam aber nun die innere Ruhe wesentlich zu Gute,
deren sich England nunmehr ununterbrochen erfreuen konnte. Die Stürme auf dem
Continente berührten das innere Leben der Insel nicht; dank seiner Seemacht
behauptete England auf allen Meeren eine hervorragende Position, und sein wach-
sender Colonialbesitz ward zu einer ergiebigen Quelle des Reichthums, zu einem
[[921]]
London-Bridge.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 116
[922]Der atlantische Ocean.
steten Förderer seines Handels. Zu Amerika gesellte sich auch der grosse Besitz,
welchen die Indische Compagnie am Ganges erwarb. Der kluge Sinn der eng-
lischen Geschäftsleute verstand es vortrefflich, alle Beziehungen zu den fernen
Niederlassungen in England selbst und dort wieder in erster Linie in London
zu vereinigen und der eigenen Heimat die Vortheile voll und ganz zu sichern,
welche in diesen Verhältnissen gelegen waren. Mit Eifersucht wachte man darüber,
dass das Mutterland nicht übergangen werden konnte, und dass die Schätze,
welche auswärts gewonnen wurden, dorthin ihren Weg nahmen. Da die Colonien
wesentlich Rohproducte lieferten, so war man in London namentlich bemüht,
einerseits die Consumenten der übrigen Welt zu zwingen, sich ihren bezüglichen
Bedarf auf dem britischen Markt zu holen, andererseits aber die Fabricate, zu
welchen jene Rohproducte dienten, in England selbst herzustellen, damit dann
die Colonien ihren Bedarf wieder von dort beziehen mussten.
Das XVIII. Jahrhundert ward für London von grosser Wichtigkeit. Es
erweiterte fort und fort dessen commerzielle und maritime Stellung, ermöglichte
dadurch die Ansammlung von mächtigen Capitalien und gestattete andererseits
auch die Besserung der städtischen Verhältnisse, in denen noch viele, ja fast
die meisten Uebelstände der vergangenen Zeiten sich empfindlich geltend machten.
Freilich auch anderwärts sah es nicht besser aus. Das London des vorigen Jahr-
hunderts war immer noch eine enge, düstere, unebene, schmutzige Stadt, in
welcher neben den prächtigen Palästen des Adels elende Häuser in Fülle zu
schauen waren, Holz vielfach als Baumaterial verwendet war und Reinlichkeit
und Bequemlichkeit zu den Seltenheiten gehörten. Allmälig brach sich freilich
die Erkenntniss von der Nothwendigkeit gründlicher Reformen Bahn, aber die
Durchführung war damals weit schwieriger als die Erkenntniss, und so ging die
Verschönerung Londons nur langsam vor sich. Immerhin aber war namentlich die
zweite Hälfte des XVIII. Jahrhunderts in dieser Beziehung schon bemerkenswerth.
Die den Colonien gegenüber befolgte sehr rücksichtslose Politik führte zum
Abfalle Nordamerikas und zur selbständigen Constituirung dieses Gebietes, ohne
dass jedoch England hiedurch einen empfindlichen Schaden erlitt, zunächst aus
dem Grunde, weil die neuen Freistaaten nicht in der Lage waren, sich wirth-
schaftlich auf eigene Füsse zu stellen und daher der Beziel ungen zum einstigen
Mutterlande nicht entrathen konnten. Andererseits fand England durch seine in
den anderen Continenten mit eiserner Consequenz betriebene coloniale Politik
reichlichen Ersatz, und eine Reihe genialer Erfindungen auf dem Gebiete der Ge-
werbe und Maschinen bereiteten seine Uebermacht auf dem Gebiete der Industrie
vor. Auch die Kämpfe der französischen Revolution und die erbitterte Gegner-
schaft zu Napoleon I. wirkten auf England, welches die Freiheit der Meere sich
zu behaupten wusste, nur soweit störend, als Europa in seiner Consumtionsfähig-
keit erschöpft ward. Als aber der Frieden wieder hergestellt war, da begann die
volle Glanzzeit Londons, welches im Laufe dieses Jahrhunderts eine Entwicklung
nahm, wie keine andere europäische Stadt und wie auch nur wenige amerikanische
Städte.
Um sich nun einen Begriff von der Entwicklung Londons zu
machen, sei bloss erwähnt, dass die Stadt, deren Bevölkerung im
Jahre 1800 auf 900.000 Einwohner veranschlagt wurde, im Jahre 1888
deren 4,282.000 zählte und sich allein in den letzten 50 Jahren
[923]London.
um das Doppelte vergrösserte, heute also einen Flächenraum von
mehr als 300 Quadratkilometern einnimmt.
Aber nicht nur riesig ist diese Stadt gewachsen, sie hat auch
eine gewaltige Umgestaltung in jeder Beziehung durchgemacht, freilich
am wenigsten vielleicht in der Richtung, dass sie eine besonders
schöne Stadt geworden wäre, wie man mit so vielem Rechte von
Paris sagen kann, welches namentlich unter dem Regime Napoleon III.
nicht nur an Grösse und Bedeutung, sondern auch vom ästhetischen
Standpunkte so viel gewonnen hat. In London war es aber nicht
leicht, mit jener einheitlichen Energie und oft nicht geringen Rück-
sichtslosigkeit vorzugehen, welche jenseits des Canales denjenigen
gestattet war, welche die napoleonischen Umgestaltungspläne zur
Ausführung zu bringen hatten. Und dann überwiegt in der Natur
des Briten der Sinn für das Praktische und Nützliche weit über die
Liebe zum Schönen. Dagegen ist man in London niemals vor gross-
artigen Plänen und gewaltigem Geldaufwande zurückgeschreckt, wenn
es sich um Vorkehrungen handelte, von deren Zweckmässigkeit man
überzeugt war.
Das heutige London ist ein ungeheuerer Complex auf beiden Ufern
der Themse. Der Schwerpunkt der Stadt liegt am linken Ufer; dort,
entwickelte sich das alte London, wuchs allgemach aus seiner engen
Umwallung hinaus, nahm die flussaufwärts gelegene, einst selbst-
ständige Stadt Westminster in sich auf und dehnte sich fort und
fort nach allen Richtungen aus. Es war natürlich, dass bei der Noth-
wendigkeit dieses Wachsthums man auch auf das andere Ufer
hinübergriff, da der Verkehr zwang, die Flussufer selbst möglichst
auszunützen. Hiebei ergab sich eine eigenthümliche Erscheinung,
welche für London geradezu charakteristisch genannt werden kann.
Je grösser die Stadt und je intensiver deren geschäftliches Leben
ward, desto stärker wurde eine gewisse centrifugale Tendenz in der
Bevölkerung. Das alte London fiel so ziemlich mit jenem Theile
zusammen, der heute City genannt wird. Dort ist das Herz der Stadt.
Aber der Bewohner überliess die City immer mehr nur dem geschäft-
lichen Leben und suchte sich ferne von ihr seinen Wohnsitz, gegen
die Peripherie zu, wo er bequemer, luftiger, behaglicher seine Existenz
sich einrichten konnte. Von Jahr zu Jahr ward der Exodus aus der
City grösser, und endlich kam es dahin, dass man diesen ganzen
engen Stadttheil überhaupt nicht mehr als ein bewohnbares Viertel
betrachtete, sondern es einzig und allein dem Geschäfte überliess. In
der City wohnt und lebt man nicht, dort wird nur gearbeitet und
116*
[924]Der atlantische Ocean.
geschafft. Und so geschah es denn, dass London ein Stadtquartier
hat, an Umfang manche ganz ansehnliche Stadt übertreffend, in welchem
Nachts über fast nur einzelne Wächter sich aufhalten, Gassen entlang
die Häuser leer stehen und in den Häusern vom Fussboden bis hinauf
zur Mansarde Alles nur Comptoirs und sonstige Geschäftszimmer auf-
weist. Diese City ist ungefähr jener auf unserem Stadtplan mit West-
City und East-City bezeichnete Theil der Stadt, welcher am linken
Ufer der Themse vom Tower bis zum Temple sich erstreckt und
landeinwärts bis zu einer Linie reicht, welche ungefähr von Holborn
über Finsbury Circus bis Aldgate gezogen werden kann. Sie umfasst
über 6000 Häuser, von denen 4000 gar nicht bewohnt werden. Aber
die City bildet einen für sich geschlossenen administrativen Bezirk
mit besonderen Rechten. Sie ist das Gebiet des Lord-Mayors, der
jährlich neu gewählt wird und am Tage seines Amtsantrittes seinen
feierlichen Umzug daselbst unter Beobachtung des altherkömmlichen
Gepränges hält. Dieser Theil der Stadt ist zumeist enge, düster, jeg-
licher Raum bis auf das äusserste ausgenützt. Alles trägt das Gepräge
des Geschäftes. Man hat in der City keine Zeit zu verlieren, keine
Lust für irgend etwas, was abhält, stört, zerstreut. „Time is money“,
lautet die Losung, und man sieht es den geschäftig eilenden Menschen
daselbst an, dass sie dieses Spruches jederzeit eingedenk sind. Die
City hält den Handel Englands in ihren Händen, und dort laufen die
Fäden zusammen, welche die ganze Welt umspinnen. Was in der City
nicht mehr Platz finden konnte, das suchte wenigstens in deren Nähe
und an den Ufern des Flusses unterzukommen, und so bergen beide
Ufer abwärts der City alles dasjenige, was zum Hafen gehört oder
eine unmittelbare Beziehung zu demselben hat, inbesondere also die
grossartigen Dockanlagen.
Im Westen, flussaufwärts, suchten die Einwohner dagegen
ihre neuen Wohnsitze auf, und fand man da Raum für alle Anlagen,
welche mehr dem Genusse des Lebens dienen. Insbesondere war es
das eigentliche Westend, jenseits des Temple, welches dadurch an
Bedeutung gewann, weil dort der Hof und die tonangebende Aristo-
kratie ihre Paläste bauten. Einstens lag das Westend an der Peri-
pherie der Stadt, heute ist es schon ringsum von immer mehr
um sich greifenden neuen Anlagen und Niederlassungen umsponnen,
immer aber noch der fashionable Theil der ganzen Riesenstadt.
Ueberblickt man die Ausdehnung dieser letzteren, so beträgt die
Distanz von Ost nach West 22 und jene von Süd nach Nord über
8 Kilometer.
[925]London.
Wenn wir es nun zunächst versuchen wollen, einen Ueberblick
über dieses Meer von Häusern, in denen einige Millionen von Menschen
ihr Leben hinbringen, zu gewinnen, uns eine Art von Gerippe des-
selben zu vergegenwärtigen, so müssen wir uns vor Allem den Lauf
der Themse betrachten. Dieser Fluss durchzieht London in mehrfachen
Krümmungen; zuerst fast nördlicher Richtung folgend, biegt er bei
Waterloo-Bridge ziemlich rasch gegen Ost, behält diese Direction
ziemlich gleichmässig, abgesehen von einer geringen Krümmung in der
Nähe der am Nordufer gelegenen London-Docks bei, wendet sich hierauf
nach Süden bis Greenwich und dann wieder gegen Norden, derart
dass er eine Halbinsel, die sogenannte Isle of Dogs bildet, und
nimmt hierauf endlich wieder eine Richtung gegen Osten, wobei er
jedoch schon das Weichbild der Stadt verlassen hat. Durch diesen
Lauf der Themse stellt sich die Strecke von Waterloo-Bridge bis zu
den London-Docks als die Basislinie dar; in der Mitte dieser Linie
liegt der Tower, nahe dem westlichen Endpunkte der Temple, der
östliche Endpunkt fällt in die Dockanlagen hinein. Nördlich parallel
mit dieser Basis liegt aufwärts des Tower die City, abwärts desselben
das sogenannte East-End mit seinen durch verschiedene Namen be-
zeichneten einzelnen Theilen, welche allmälig aus isolirten Anfängen
in die Metropole hineingewachsen sind und allwo sich mehr die
fabriksmässige Thätigkeit und die minderen Volksclassen niedergelassen
haben. Denkt man sich nun diese Basislinie geradlinig über den
Flusskrümmungspunkt hinaus verlängert, so würde dieselbe das West-
end, insbesondere die grosse und bekannte Piccadilly-Street, den
Hydepark und Kensingtongarden durchschneiden. Südlich dieser Linie
käme dann der eigentliche Kernpunkt des Westend mit den könig-
lichen Palästen, St. James-Palace, Westminster, den Parlaments-
gebäuden zu liegen, und dieser Abschnitt grenzt östlich an die Themse,
welche dort — von Vauxhall-Bridge bis Waterloo-Bridge — ihren
nördlichen Lauf durchfliesst.
Der Stadttheil am rechten Ufer ragt infolge der Themsekrüm-
mungen wie eine breite, aber nicht tiefe Halbinsel in den nördlichen
Stadttheil hinein. Er bleibt aber an Bedeutung weit hinter diesem
zurück, nicht so sehr was Ausdehnung anbelangt, als weil der Schwer-
punkt sowohl in baulicher Beziehung als was die verschiedenen öffent-
lichen Anstalten und bemerkenswerthen Einrichtungen betrifft, immer
am linksseitigen Ufer, dem Stammsitze des alten Londons verblieb.
Was die Orientirung in London sehr erschwert, ist der Mangel
an grossen, geradlinigen Strassenzügen, an festen Richtungslinien;
[926]Der atlantische Ocean.
schliesslich muss immer wieder die Themse als Anhalt dienen. Eben-
sowenig lässt sich eine scharfe Unterscheidung der einzelnen Stadt-
theile erkennen. Es ist eine ohne Plan im Laufe einer endlos langen
Entwicklung mehr nach Willen und Drang der Einzelnen empor-
gewachsene Stadt, in welcher dem Selbstbestimmungsrechte, wie überall
im Lande, weiter Spielraum gewahrt blieb, insoweit dessen Bethäti-
gung nicht feste Rechte entgegenstanden, und wo man erst in aller-
jüngster Zeit die Zweckmässigkeit erkannte, durch Schaffung einer
eigenen Behörde, des London County Council, wenigstens einiger-
massen diejenigen Interessen einheitlich und mehr systematisch zu be-
handeln, welche das für ein so kolossales Menschencentrum höchst
wichtige Verkehrs- und Sanitätswesen betreffen.
Der Eindruck, welchen London im Allgemeinen macht, ist kein
überaus günstiger, vor Allem schon aus dem Grunde, weil dieser Stadt
Licht und Sonne mangelt. Der an sich nebelige Charakter der Atmo-
sphäre Englands, gefördert durch die Nähe des Meeres, steigert sich
in ganz erheblicher Weise durch die Ansammlung einer so grossen
Menschen- und Häusermasse auf engem Raume und durch den ge-
waltigen Verbrauch von Kohle für alle Zwecke des häuslichen und
industriellen Lebens. Nebel ist die Signatur Londons, feucht dessen Luft,
und Alles erscheint den grössten Theil des Jahres hindurch in Grau
gehüllt. Dazu kommt das hastige Treiben allwärts, ein Verkehr auf
allen Strassen, den man gesehen haben muss, um sich davon eine richtige
Vorstellung zu machen. Dazwischen verkehren ununterbrochen hohe
Omnibusse, von deren Deck zahlreiche Passagiere über die Fussgänger
hinwegblicken und fast ausnahmslos, um ja keine Zeit zu verlieren,
die Fahrt zur Lectüre der Tagesblätter benützen, ungestört durch das
Getriebe ringsum. Nebenher rollen die Cabs (Handsoms), jene in
London mit Vorliebe seit langer Zeit festgehaltenen zweirädrigen Ein-
spänner, deren Kutscher, der Cabman, sein Pferd von einem rückwärts
angebrachten Sitze über das Dach seines Fuhrwerkes hinweg lenkt,
Colporteure drängen sich allwärts eilfertig umher, die Züge der Stadt-
bahn brausen vorbei, und man hat überall den Eindruck, dass man
sich inmitten einer fast tollen Bewegung befinde, dass alle diese
Leute von ihren Geschäften förmlich gehetzt seien.
Manchmal wird es dem Fremdling freilich zu viel, er sehnt
sich nach einer Pause der Sammlung, nach einem Ruhepunkte bei
der Fülle der Eindrücke, die von allen Seiten an ihn herandrängen,
und froh ist er, wenn er in einen jener Parks sich flüchten kann,
welche der Stadt zur Zierde gereichen und deren es mehrere von
[927]London.
sehr bedeutender Ausdehnung inmitten Londons gibt, so insbesondere
den so viel genannten Hydepark, welcher auch gerne zu Volksver-
sammlungen — Meetings — benützt wird, den Regentspark im Nord-
osten der Stadt, St. James Park in der Nähe des königlichen Palastes
und noch andere, auf deren Herstellung man in jüngster Zeit namentlich
Bedacht genommen hat, um dem niederen Volke auch mehr Luft zur
Erholung zu schaffen. Eine andere günstige Eigenthümlichkeit Londons
sind auch die sogenannten Squares, nämlich Plätze, meist von qua-
dratischer Form, in deren Mitte sich nette Gartenanlagen befinden.
Der Engländer, wenn auch ein Geschäftsmann tüchtigen und nüch-
ternen Schlages, liebt doch das Grüne, und wie Jeder, dessen Mittel
es nur halbwegs erlauben, nicht im Centrum der Stadt seine Wohn-
stätte aufschlägt, sondern draussen an der Peripherie dieselbe sucht,
weil er dort leichter einen freien Fleck finden kann, oder gar ausserhalb
der Stadt haust und täglich nach seiner Arbeitsstelle hinein sich begibt,
so freut er sich auch stets über einen bescheidenen grünen Fleck.
Der Umstand, dass ein grosser Theil der Londoner die Arbeits-
stätte weit getrennt von der Wohnstätte hat, beeinflusst in doppelter
Beziehung das Leben in dieser Stadt; zunächst in Bezug auf die
Eintheilung des Tagewerkes und dann in Bezug auf den Verkehr.
In ersterer Beziehung beginnt das eigentliche Geschäft in den Comp-
toirs und Aemtern zu einer vorgerückteren Stunde, weil man ja früher
eine gute Strecke zurücklegen muss, um an Ort und Stelle vom eigenen
Heim zu gelangen. Dafür zerreisst der Londoner auch niemals seine
Arbeitszeit, sondern arbeitet — durch eine kurze Frühstückpause
kaum unterbrochen — durch bis in den späten Nachmittag, um dann
heimzukehren und den Abend beim Diner und im Kreise seiner Fa-
milie zu verbringen.
Was aber den Verkehr anbelangt, so erheischt diese gross-
artige Wanderung, welche Hunderttausende täglich durchmachen,
allein schon sehr bedeutende Vorkehrungen. Omnibusse, die einstigen
Mittel der Bewegung für die grosse Menge, genügen lange nicht. Zu
weit sind die Strecken, welche man zurücklegen muss, und zu gross
wäre der Verlust an Zeit. Und so hat man zur Eisenbahn gegriffen,
welche in vielfacher Ausdehnung ober der Erde und unter der Erde
den Verkehr in der Stadt vermittelt, abgesehen von den zahlreichen
Dampfern, welche auf der Themse sich bewegen, die aber doch weit-
aus nicht jene Erleichterung gewähren wie die Stadtbahnen.
Vor Allem münden, wie unsere Eisenbahnkarte der Stadt zeigt,
nicht weniger als fünfzehn Eisenbahn-Hauptlinien in London, und
[928]Der atlantische Ocean.
zwar liegen dreizehn Bahnhöfe auf dem linken und zwei Bahnhöfe
auf dem rechten Ufer. Diese Bahnhöfe bieten zum Theil den grossen
Vortheil, dass sie nicht an der Peripherie liegen, sondern sich mitten
in der Stadt befinden und daher allen jenen, welche längs der be-
treffenden Bahnstrecke ihren Wohnsitz haben, es ermöglichen, ihrem
Bestimmungsorte möglichst nahe im Waggon zu kommen, oder doch
von der Station aus in Kürze denselben mit Omnibus oder Metropo-
litan Railway zu erreichen. So liegt die sehr bedeutende Charing
Cross-Station knapp an der Themse bei der gleichnamigen Brücke,
nahe dem westlichen Ende der City, Cannon Street-Station mitten in
der City nahe der St. Pauls-Kathedrale, Victoria-Station unmittelbar
südlich vom Buckingham-Palace, der heutigen königlichen Residenz,
ferner Fenchurch Street- und Ludgate Hill-Station, beide mitten in
der City u. s. w. Alle diese einzelnen Stationen sind nun unter sich
durch die grosse Metropolitan Railway in Verbindung gebracht. Diese
Bahn bildet einen grossen, langegezogenen Kreis, welcher den Haupt-
theil Londons derart umschliesst, dass dadurch die ausserhalb des
Kreises gelegenen Stadttheile sich in einer ebenso günstigen Lage zur
Bahn befinden, wie jene, welche innerhalb des Kreises gelegen sind.
Dieser Kreis zieht sich vom Tower längs des Ufers bis Westminster,
durchschneidet den südlichen Theil des Westend bis Kensington,
wendet sich dann nördlich um den Kensingtongarden und Hyde-
park herum, geht in östlicher Richtung südlich am Regentspark
vorbei, berührt die im Norden der Metropole gelegenen drei grossen
Bahnhöfe von Eustone Square, St. Pankras und Kings Cross, durch-
schneidet dann die City und biegt endlich von dem östlichsten Punkt
bei Aldgate wieder nach dem Tower zurück. Von dieser Haupttrace
zweigt in Westen ein kleinerer Ring mit einigen Ausläufern zur Ver-
vollständigung des ganzen Netzes ab.
Die Metropolitan- (oder Underground-) Bahn ist zum grössten
Theile eine unterirdische Anlage durch Tunnels, welche unterhalb der
Häuser gezogen wurden, nur zum geringeren Theile läuft sie auch in
Einschnitten oberhalb der Erde. Die zahlreichen Stationen, welche längs
derselben in allen Theilen der Stadt angelegt sind, befinden sich durch-
wegs auf der Oberfläche und man steigt dann über Treppen hinab
in den Tunnel, um in die Waggons zu gelangen. Die Züge verkehren
in kurzen Zwischenräumen in beiden Richtungen von früher Morgen-
stunde bis um Mitternacht.
Da die Züge theils nur den früher beschriebenen Hauptring,
theils aber auch die Abzweigungen desselben befahren, so ist jeder
[929]London.
einzelne durch besondere Abzeichen — Lichter — kenntlich gemacht,
damit der Passagier sofort erkennen kann, ob der betreffende Zug
seinem Fahrziele entspreche; denn auf dieser Bahn gilt auch die
allgemeine Parole Londons, dass man keine unnütze Zeit zu verlieren
habe, die Züge halten kaum eine Minute bei jeder Station, und
es ist Sache des Passagiers, sich hiebei zurecht zu finden. Der unter-
irdische Theil der Bahn ist auf einigen Strecken mit elektrischem
Licht erleuchtet. Ebenso brennen Flammen in den Waggons, die durch
East Indien Docks.
ein auf der Locomotive bereitetes Gas genährt werden. Die Fahrpreise
sind billig bemessen und überschreiten selbst bei der längsten Tour
niemals den Betrag eines Schillings. Der Verkehr auf dieser Bahn ist
aber auch ein ganz gewaltiger. Es werden in der Woche durch-
schnittlich über 1½ Millionen Personen befördert, und auf der Strecke
von Kings Cross bis Moorgate Street, der stärkst besuchten Strecke
in der City, verkehren im Tage über 200 Trains; dort liegen aber
auch statt der sonst überall befindlichen Doppelgeleise vier Geleis-
stränge neben einander.
Endlich entbehrt auch London nicht der Tramways, wenn die-
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 117
[930]Der atlantische Ocean.
selben auch infolge der zweckmässigen Eisenbahnverbindungen inner-
halb der Stadt nicht jene Rolle spielen wie in anderen Städten. Es
bestehen fünf Gesellschaften, welche den Betrieb dieses Verkehrs-
mittels besorgen und deren Linien nach verschiedenen Richtungen hin
die Stadt durchqueren.
Die Verbindung zwischen den beiden Flussufern wird zunächst
durch Brücken hergestellt; ausserdem übersetzen an einigen Stellen
Fährboote die Themse, und endlich hat man auch noch einen grossen
Tunnel unter der Themse gegraben. Dieser Tunnel führt von Wapping
bei den London-Docks nach Rotherhithe am rechten Ufer in der Nähe
der grossen Surrey- und Commercial-Docks, hat eine Länge von 396 m,
ist in zwei Gallerien getheilt und wird jetzt zum Verkehr per Eisen-
bahn benützt. Dieser Tunnel wurde in den Jahren 1825 bis 1843 mit
einem sehr bedeutenden Kostenaufwande hergestellt und galt damals
als ein Weltwunder. Er erwies sich aber für die unternehmende Ge-
sellschaft als ein durchaus nicht günstiges Geschäft; erst als er in
die Hände einer Bahn überging und von derselben zum Eisenbahn-
verkehr adaptirt ward, hob sich dessen Rentabilität. Immerhin ist
dieser Tunnel mehr als Beweis technischer Leistungsfähigkeit, denn
als unentbehrliches Mittel der Communication zu betrachten.
Wenn wir uns nun die Aufgabe stellen wollen, die wichtigsten
Punkte der Stadt kennen zu lernen, ehe wir jenen Theil des Näheren
ins Auge fassen, welcher uns am meisten interessirt — den Hafen und
dessen Anlagen — so werden wir am besten thun, dem Laufe der
Themse von Westen her zu folgen und je nach Bedarf von den Ufern
hinweg landeinwärts kleine Abstecher zu machen. Dieser Vorgang
führt uns von selbst endlich zu dem wichtigsten Gegenstande unserer
Darstellung und erleichtert zugleich die Orientirung. In ihrem oberen
Laufe, von Windsor, der prachtvollen königlichen Residenz aus, fliesst
die Themse in einem höchst belebten Landstriche, der eigentlich
durchwegs als grosser Vorort der Metropole betrachtet werden kann
und wo in zahlreichen Niederlassungen aller Art jene begünstigten
Leute wohnen, denen die Verhältnisse es gestatten, ihre Heimstätte
in freierer Luft aufzuschlagen und die Atmosphäre Londons nur wäh-
rend einiger Stunden des Tages zu athmen. Zwischen Battersea und
Chelsea erreicht man das eigentliche Stadtgebiet, fährt unter einer
Eisenbahnbrücke, erreicht dann, nachdem der Fluss eine kleine Bie-
gung gemacht hat, rasch nach einander die Battersea- und die Albert-
brücke. Hinter letzterer Brücke zieht sich dann zur Rechten längs des
Flusses der grosse und breite Battersea-Park in einem Umfange von
[931]London.
75 ha mit schönen Anlagen und gelungenen Bosquets hin. Am linken
Ufer liegt der Stadtheil Chelsea mit dem grossen Hospital, einer
Kaserne der Garden — Barracks, wie Kasernen in England gemeinig-
lich genannt werden. — Nördlich von Chelsea zieht sich Kensington
hin. Hier stossen wir zunächst auf zwei grosse Gartenanlagen, den
Kensington Garden und östlich von demselben in geringer Entfernung
den schon vorher erwähnten Hydepark. Kensington Garden ist ein
gerne besuchter Erholungsplatz und beliebt wegen seiner schattigen
Alleen von alten Bäumen. In der Nähe dieses Gartens liegen die
grossen Gewächshäuser der Gartenbaugesellschaft (Horticultural Society),
das grosse naturhistorische Museum und das South-Kensington-Museum,
welches zur Förderung der Künste und Kunstindustrie bestimmt ist
und reiche Sammlungen sowie eine grosse Bibliothek mit verschie-
denen Fachschulen verbindet, in denen in den einzelnen Zweigen
Unterricht ertheilt wird. Dieses Museum birgt grosse Schätze in sich,
von denen man wohl sagen kann, dass sie in allen Theilen der Welt
gesammelt worden sind, und hat auf die Besserung des Geschmackes
in England einen nicht zu unterschätzenden Einfluss geübt. Es ver-
dankt, wie so viele gemeinnützige und höchst erspriessliche Einrich-
tungen, seine Entstehung einer Anregung des um sein Adoptivvater-
land so hochverdienten Prinzen Albert, des Gemahls der Königin
Victoria. In demselben Gebäudecomplex ist auch das India-Museum
untergebracht, allwo indische Producte, dann aber auch namentlich
historische und ethnographische Gegenstände, Waffen und sonstige
besondere Sehenswürdigkeiten aus den indischen Besitzungen zusammen-
gestellt sind und dem Beschauer ein buntes und höchst anregendes
Bild jenes grossen und eigenthümlichen Gebietes gewähren, dessen
Besitz nicht wenig zu dem Reichthume und der wirthschaftlichen Be-
deutung Englands beigetragen hat.
Verlässt man Kensington-Garden gegen Westen, so gelangt man
in den grossen Hydepark. Dieser Park war einstens im klöster-
lichen Besitze. Nach Aufhebung der Klöster durch die Reformation
liess König Heinrich VIII. dort einen Wildgarten anlegen, in welchem
noch seine Tochter Elisabeth der Jagd oblag. Erst unter Karl II.
wurde der Park dem allgemeinen Zutritt eröffnet. Heute zählt er
zu den belebtesten Anlagen von London. Er umfasst 150 ha, einen
grossen künstlichen Teich — Serpentine River — welcher von der
Königin Anna hergestellt worden ist, ist ringsum von einem Gitter
umgeben und ist in der Saison zu gewissen Stunden des Tages ein
Sammelpunkt der eleganten Welt, welche daselbst mit glänzenden
117*
[932]Der atlantische Ocean.
Equipagen und schönen Toiletteu ihren Prunk zu entfalten sich be-
müht. Im Hydepark finden auch gelegentlich die Revuen der Truppen
und Volonteers statt, und ebenso war derselbe auch schon oftmals
Schauplatz bewegter Volksversammlungen. Er gehört jedenfalls zu den
charakteristischen Punkten des Londoner Lebens.
Kehren wir nunmehr wiederum zur Themse zurück und setzen
wir die Fahrt von Albert-Bridge fort, so erreichen wir — dicht nach
einander folgend — die Chelsea- und die Victoria-Brücke — letztere für
die Eisenbahn —, dann nimmt der Fluss bei der Vauxhall-Brücke die
Richtung gegen Norden, wird von der Lambeth-Brücke übersetzt, führt
an Westminster-Hall und dem prachtvollen Parlamentsgebäude vor-
bei und erreicht sodann die Westminster-Brücke. Betreten wir hier das
linke Ufer, so befinden wir uns in jenem Theile der Stadt, in welchem
sich das politische Leben wie jenes der besten Gesellschaft am
meisten bewegt.
Das Parlamentsgebäude zeigt seine Front dem Flusse. Es
ist ein gewaltiger, im späteren Tudorstyl errichteter Bau, der an die
Stelle des im Jahre 1834 abgebrannten alten Hauses gesetzt worden ist.
Drei grosse Thürme, an beiden Ecken und in der Mitte, überragen
diesen Palast, welcher elf grosse Höfe in sich schliesst und 1100
Zimmer aufweist. Die Façade längs des Flusses hat eine Länge von
275 m. Der linke Flügel des Gebäudes ist für das Haus der Ge-
meinen, der rechte für das Haus der Lords bestimmt. Ausserdem sind
verschiedene für Repräsentationszwecke dienliche Räume vorhanden, und
ist das ganze Gebäude auch in seiner Einrichtung und Ausschmückung
in einer Weise gehalten, welche der grossen Bedeutung entspricht,
die den parlamentarischen Körperschaften Englands im ganzen Leben
dieses Staates zukommt. In Verbindung mit dem Parlamentsgebäude
ist die Westminsterhalle gebracht, derart dass sie als ein Theil
desselben sich darstellt. Diese Halle ist eigentlich ein Theil des alten
Westminsterpalastes, der in der englischen Geschichte eine wichtige
Rolle gespielt hat. Der erste Palast dieses Namens wurde noch unter
den normannischen Königen begonnen, brannte jedoch am Ende des
XIII. Jahrhunderts gänzlich nieder. Erst unter Eduard II. begann man
mit dem Neubau. Jetzt dient Westminster Hall als die grosse Vor-
halle des Parlamentes und zeichnet sich durch ihre Dimensionen
namentlich deshalb aus, weil die ganze Halle trotzdem nicht durch
Säulen unterstützt wird. Hier fanden in alten Zeiten häufige Parla-
mentssitzungen statt, hier wurde König Karl I. zum Tode verurtheilt
und Oliver Cromwell als Lord-Protector begrüsst, hier feierte man
[933]London.
die Krönungsbankette, bei denen heute noch zu Recht besteht, dass
der Champion des neuen Herrschers in voller Rüstung erscheinen und
jeden zum Kampfe herausfordern darf, der es wagen sollte, das
Thronrecht des eben gekrönten Souverains zu bestreiten. Er wirft mit
dieser Herausforderung seinen ehernen Handschuh auf den Banketttisch
und erhält vom Könige sodann für seine ritterliche Treue einen
goldenen Ehrenpreis. So geschah es noch, als Königin Victoria den
Thron bestieg.
Dicht hinter dem Parlamente befindet sich die Westminster-
Abtei, eine ehrwürdige Gedenkstätte, deren Geschichte weit zurück in
die Epoche der angelsächsischen Herrschaft reicht. Wie wir schon früher
erwähnt haben, war Westminster einstens ein Städtchen für sich.
Wohl älter noch als dieses Städtchen war das Kloster, das nach
mehrfachen baulichen Wandlungen von Heinrich III. und Eduard I. so
ziemlich in seiner heutigen äusseren Gestaltung hergestellt worden ist.
Nach Aufhebung der Klöster wurde diese Abtei der Sitz eines
Bisthums der anglicanischen Kirche. Die Bedeutung dieser Abtei liegt
darin, dass dort die meisten englischen Könige ihre letzte Ruhe-
stätte fanden und dass sich allmälig auch der Brauch herausbildete,
um das Land in irgend einer Weise verdiente Männer gleichfalls
an dieser hervorragenden Stelle beizusetzen. So wurde die West-
minster-Abtei mit der Zeit zum Pantheon Grossbritanniens erhoben
und es gilt als höchste Ehre, welche England seinen Söhnen noch
im Tode erweisen kann, wenn ein Grabmal im Dome von Westminster
zuerkannt wird; eine Wanderung durch die weitläufigen Hallen
der Abtei bringt die ganze politische, militärische, geistige und wirth-
schaftliche Geschichte Englands in Erinnerung. Neben den Herrschern
des Landes ruhen hier seine Staatsmänner und Helden, seine Dichter
und Gelehrten, seine Künstler und Ingenieure, fast alle, deren Name
ruhmreich mit den Geschicken des Landes verwoben ist. Westminster-
Abtei ist das Mausoleum und die Ehrenhalle des vergangenen
England.
Wendet man sich von Westminster stadteinwärts, so durchquert
man die mit der Themse parallel führende breite Strasse Whitehall,
welche ihren Namen dem Palaste verdankt, der sich einstens in
dieser Gegend befand. In diesem alten Palaste residirten die Erz-
bischöfe von York und darunter auch Heinrich’s VIII. mächtiger
Günstling Wolsey. Als dieser aber in Ungnade gefallen war, ging der
Palast in das Eigenthum der Krone über, erhielt seinen späteren
Namen, wurde bedeutend erweitert und auch als Residenz be-
[934]Der atlantische Ocean.
nützt. Whitehall wurde wiederholt durch Feuer heimgesucht, und
nach einer derartigen grossen Katastrophe Ende des XVII. Jahr-
hunderts blieb nur mehr die noch heute bestehende Banketthalle
übrig, die jetzt als Capelle eingerichtet ist. Bei Whitehall liegt ein
grosser Gebäudecomplex, in welchem das Schatzamt, das Ober-
commando der Armee — als Horse Guard ist dieses Gebäude be-
kannt — und noch verschiedene andere Regierungsämter untergebracht
sind. Zwischen diesen Gebäuden und dem königlichen Palaste zieht
sich der St. James-Park hin, welcher ebenso wie die schon früher
erwähnten Parks seine Entstehung der Vorliebe englischer Könige für
Wildhegung verdankt, unter Karl II. aber in einen Garten nach dem
damals herrschenden französischen Geschmack umgestaltet und unter
Georg IV. in seine heutige Form gebracht wurde. St. James-Park hat
gleichfalls den grossen unvermeidlichen Teich und gilt mit seinen
herrlichen Baumgruppen und Prospecten als der schönste von allen
Londoner Parks. Auf der Nordwestseite dieses Parkes liegt der
St. James-Palast, allwo nach dem Niederbrande von Whitehall die
englischen Herrscher vom Ende des XVII. Jahrhunderts angefangen
bis zum Regierungsantritt Victoria’s ihre städtische Residenz hielten.
Dieser Palast stammt aus den Zeiten Heinrich’s VIII., wurde unter
Karl I. erweitert, ist sehr schön eingerichtet, wenn er auch nach
aussen einen mehr unregelmässigen Eindruck macht, und wird gegen-
wärtig noch bei gewissen Feierlichkeiten benützt. Dieser Palast ward
Anlass zu dem heute noch üblichen Brauche, die britische Regierung
als das Cabinet von St. James zu bezeichnen.
Am westlichen Ende des St. James-Parkes liegt die jetzige Stadt-
residenz der Königin, der Buckingham-Palast, so genannt nach dem
früheren Besitzer eines seither auch schon umgebauten Palastes. Dieses
Palais ist fast durchwegs von Gartenanlagen umgeben und macht durch
seine Façade einen sehr stattlichen Eindruck. Nördlich von Buckingham
Palace zieht sich der Greenpark, eine andere Gartenanlage, hin;
hinter dem Greenpark geht in östlicher Richtung eine der bekanntesten
Strassen Londons, Piccadilly, in der sich neben schönen Schau-
läden mehrere aristokratische Paläste und die Locale hervorragender
Clubs befinden. Die mit Piccadilly fast parallel laufende Pall-Mall-
Street ist eine andere besonders fashionable Strasse, welche nament-
lich auch durch Clubhäuser sich auszeichnet. In dieser Strasse hat
auch der Prinz von Wales seinen Wohnsitz, genannt Marlborough
House. Hinter dem Buckingham-Palast und namentlich westlich dehnt
sich ein vorwiegend aristokratisches Viertel aus, mit zahlreichen
[935]London.
adeligen Wohnsitzen und einem von dem Treiben und Drängen der
City abstechenden Stillleben.
Wir kehren aber wieder zur Westminsterbrücke zurück und
folgen dem weiteren Laufe der Themse. Zunächst zeigt sich die
grosse Eisenbahnbrücke von Charing Cross und die am linken Ufer
dicht daran gelegene gleichnamige [Bahnstation], ein Hauptpunkt des
Londoner Eisenbahnlebens. Geht man an dieser Station vorbei, so erreicht
man Trafalgar Square, einen der schönsten und besuchtesten Plätze
von London, auf welchem eine hohe Denksäule an Nelson’s Siege
über die französische Flotte und an seinen Heldentod erinnert. Auf
dem Platze befindet sich auch die grosse Gemäldesammlung der Natio-
nalgallerie.
Unter der Charing Cross-Brücke macht die Themse die schon
vorher erwähnte Biegung gegen Osten, welche sie eine gute Strecke
hindurch gleichsam als die Hauptlinie der ganzen Stadt festhält.
So ziemlich den Biegungspunkt bezeichnet die Waterloobrücke, in
deren Nähe am linken Ufer das Coventgarden-Theater, eines der
ersten Londons, gelegen ist. Unterhalb der Waterloobrücke folgt
dann bald der sogenannte Temple, und damit erreichen wir das
Gebiet der City, welche den nahe am Flusse gelegenen Stadt-
theil bis zum Tower in sich begreift. Der Temple hat seinen Namen
von einem alten Ordenshause der Templer-Ritter, ist aber heute ein
grosser Complex, welcher das Eigenthum einer eigenen juridischen
Corporation bildet. Ein Theil der Gebäude beherbergt eine Rechts-
schule, andere Theile dienen zu anderen juristischen Zwecken, da ja
in England die Rechtsgelehrten überhaupt gewisse engere, corporative
Verbände bilden. Gegenüber dem Temple ist auch das Gebäude der
obersten Justizhöfe gelegen, in dessen Nähe sich einige andere juristi-
sche Corporationen niedergelassen haben, so insbesondere in dem
grossen Lincoln’s Inn. Nach dem Temple gelangt man zur Blackfriars-
brücke. Am linken Ufer ist Ludgate Hill, der westliche Endpunkt der
einstigen römischen Colonie, und östlich dann die St. Pauls-Kathe-
drale, ein Wahrzeichen Londons, gelegen. Dieselbe liegt weithin
sichtbar auf einem Hügel, hat in ihrer ganzen Gestaltung eine gewisse
Aehnlichkeit mit der Peterskirche in Rom und wurde gegen Ende des
XVII. Jahrhunderts begonnen, jedoch erst 1710 vollendet. St. Paul
gilt als die erste Kirche der Metropole und enthält in ihrem Innern
eine Anzahl von Denkmälern berühmter britischer Männer, so dass an
dieser Stätte zugleich die neuere Geschichte des Landes eine zweite,
wenn auch weniger leuchtende Ruhmeshalle besitzt. St. Paul sieht
[936]Der atlantische Ocean.
von seiner Höhe auf das rege Treiben der City herab und bildet ganz
unzweifelhaft einen eigenthümlichen Gegensatz zu der fieberhaften
Thätigkeit, welche sich da ringsum abspielt.
Die City enthält wenig bemerkenswerthe Gebäude, und es ist
überhaupt nicht ihre Eigenthümlichkeit, einen schönen Eindruck zu
machen. Die Strassen sind enge, die Häuser hoch, und Licht und Luft
gerade nicht im Ueberflusse vorhanden. In der City befindet sich die
Amtswohnung des Lord-Mayor, das Mansion House, dann der grosse
Complex der Bank von England, jenes Centralpunktes des britischen
Geldverkehres, in dessen Gewölben grosse Schätze an Gold und Silber
deponirt liegen. Die Bank von England vermittelt das ganze Zahlungs-
wesen des Staates, der keine eigenen Zahlstellen und Cassen unter-
hält, sondern sämmtliche darauf bezüglichen Agenden durch die Bank
vermitteln lässt, welcher dafür die Einnahmen des Staates überwiesen
werden. Ueberhaupt ist in England der Brauch fast allgemein und
selbst bei Privatpersonen üblich, nur die unbedingt erforderliche Bar-
schaft in eigener Hand zu haben, dagegen alles Uebrige einem Banquier
zu übermachen und alle Zahlungen durch Anweisungen auf denselben
zu bewerkstelligen. Die Bank von England beschäftigt an tausend
Beamte und besitzt grosse technische Einrichtungen für die Bank-
notenfabrication.
In der Nähe der Bank ist auch die Börse, Royal Exchange,
gelegen, ein aus den Vierzigerjahren stammendes Gebäude. Die
Börse von London hat eine geradezu grossartige Bedeutung und ist
wohl der wichtigste Punkt für den ganzen Weltverkehr. Dort laufen
die Fäden eines den Erdball umspannenden Geschäftslebens zusammen,
und die dort gegebenen Impulse sind allüberall massgebend. Im
Börsengebäude befinden sich die Lloyd-Rooms, in denen eine für
die Schiffahrt höchst wichtige Institution ihren Sitz hat. Die Insti-
tution des Lloyd ist eine alte, ebenso der Name, welcher von einem
Café herrührt, in dem jene Institution ihre ersten Anfänge fand. Schon
im XVII. Jahrhundert hatte sich nämlich das Bedürfniss geltend ge-
macht, die Schiffsinteressenten in eine nähere Verbindung zu einander
zu bringen, die Nachrichten über den Seeverkehr gegenseitig auszu-
tauschen und dadurch das geschäftliche Leben zu erleichtern. Damals
war ja das Nachrichtenwesen noch nicht organisirt und man wesent-
lich auf jene Mittheilungen angewiesen, welche den Einzelnen von
ihren Capitänen, Agenten oder von den mit ihnen in Verkehr
stehenden Kaufleuten zugingen. Es entwickelte sich die Gewohnheit,
dass die betreffenden Rheder oder wer überhaupt an Handelsschiffen
[937]London.
Interesse hatte, sich in jenem Café zusammenfanden und dort ihre
verschiedenen Nachrichten austauschten, Anfragen stellten, Nach-
forschungen hielten. Diese zwanglose Vereinigung gab zunächst auch
Anlass zur besseren Entwicklung des Seeversicherungswesens. Man
suchte nämlich bei den erwähnten Zusammenkünften Personen, welche
gegen Erhalt eines gewissen Betrages — der Prämie — sich zur Ueber-
nahme des Risicos für eine Seefahrt, beziehungsweise für eine Ladung
oder einen Theil einer solchen verpflichteten. Gemeiniglich legte man
Greenwich.
einen Antrag hiezu schriftlich auf und forderte zur Betheiligung durch
Unterschrift auf. So entstanden fallweise Versicherungsverträge, und
die Versicherer wurden, weil sie durch erwähnte Unterschrift den
Vertrag annahmen, Underwriters genannt. Letzteres Wort ist dann
für Seeversicherer auch noch in Gebrauch geblieben, nachdem schon
das Versicherungswesen eine ganz feste Organisation erhalten hatte.
Aus dem Café Lloyd sind aber allmälig zwei grosse Institutionen her-
vorgegangen, welche massgebend für analoge Einrichtungen in anderen
Ländern geworden sind, einerseits die Seeassecuranz, welche an Stelle
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 118
[938]Der atlantische Ocean.
von Fall zu Fall eintretender Personen eigene, zumeist auf Actien
begründete Anstalten übernahmen, deren Zahl natürlich immer mehr
sich steigerte, und andererseits das sogenannte Lloyd-Register, in
dem alle Handelsschiffe auf Grund einer technischen Begutachtung
nach gewissen Grundsätzen classificirt werden, welche Classification
wieder als Grundlage für die Versicherung dient. In Verbindung mit
dem Register steht dann auch die Sammlung aller Nachrichten über
die Bewegungen und Schicksale der einzelnen Fahrzeuge. Die vom Lloyd
eingenommenen Räume in der Börse sind daher der Ort, wo die
maritimen Interessen Englands zum täglichen Ausdrucke gelangen.
Hieher lenkt der Kaufmann, welcher eine gute Schiffsgelegenheit
sucht, der Rheder, welcher Nachrichten holen will, der Capitän wie
der Versicherer seine Schritte, und hier wird lebhaft über die Schick-
sale eines Fahrzeuges verhandelt, welches auf fernem Ocean die
Wellen durchschneidet. In Lloyds Rooms gewinnt man einen lebhaften
Eindruck von dem engen Zusammenhange der einzelnen Theile des
Seeverkehres.
Wenden wir uns von der Börse wieder zur Themse, so erreichen
wir die Southwark-Bridge, die nächste nach Blackfriars, dann folgt
wieder eine Eisenbahnbrücke und hierauf eine der besuchtesten Brücken
der Stadt, die London-Bridge. Es ist dies die älteste Brücke über
den Fluss, bis vor hundert Jahren auch die einzige. Die Geschichte
dieser wiederholt umgebauten Brücke reicht bis in das XII. Jahrhun-
dert zurück. In alten Zeiten standen auf beiden Seiten der Brücke
Häuser, so dass dieselbe wie eine geschlossene Strasse erschien,
welche an beiden Enden mit Gittern abgesperrt werden konnte. Auf
den Stäben dieser Gitter pflegte man die Köpfe enthaupteter Hoch-
verräther aufzustecken. London-Bridge verbindet die City unmittelbar
mit dem am rechten Ufer gelegenen, sehr bevölkerten und industriellen
Stadttheil, dem sogenannten Borough, und man hat berechnet, dass
täglich über 100.000 Menschen und 15 000 Fuhrwerke die Themse
an dieser Stelle passiren. London-Bridge ist aber auch darum von
besonderer Wichtigkeit, weil unterhalb derselben der eigentliche Hafen
beginnt. Bis hinauf zur London-Bridge ist die Themse für die meisten
Seeschiffe zugänglich. Unterhalb der Brücke liegen an beiden Ufern
Schiff an Schiff, man überblickt einen wahren Wald von Masten und
Schloten. Zugleich geniesst man von der Brücke einen guten Ueber-
blick über einen Theil der Stadt auf- und abwärts und kann das
unendliche Treiben auf der Themse und über der Themse beobachten.
Hier steht man an der stärksten Pulsader des Verkehres und em-
[939]London.
pfindet vielleicht am besten die ungeheure Bedeutung von London.
— Unterhalb London-Bridge steht am linken Ufer das Zollamt und
flussabwärts folgt bald ein anderes berühmtes Wahrzeichen der Stadt,
der altersgraue Tower. Wir haben schon an einer früheren Stelle
erwähnt, dass bereits Wilhelm der Eroberer den weissen Tower
bauen liess, zur Sicherung seiner Verbindung auf der Themse und
auch als Zwingburg gegen die Bürger von London, denen der Nor-
manne doch kein rechtes Vertrauen entgegenbrachte, wenn er auch
ihre städtischen Freiheiten bestätigt hatte. Um den weissen Tower
herum wurde dann allmälig im Laufe des Mittelalters eine Reihe von
starken Werken mit vielen Thürmen angelegt, welche im Ganzen die
Form eines unregelmässigen Fünfeckes zeigen und mit einem breiten
Graben nach aussen versehen waren. Heute dient der Tower theils
als Arsenal, theils als Sammelstelle verschiedener historischer Denk-
würdigkeiten, auch garnisonirt in demselben ein Theil der königlichen
Fussgarden; einstens aber war der Tower ein fester Stützpunkt der
königlichen Macht und zugleich das düstere Staatsgefängniss, in dem
sich manche Tragödie der englischen Geschichte abspielte. Im Tower
wurden die jugendlichen Söhne Eduard’s IV. auf Befehl Richard’s von
York, des nachherigen Richard III. erwürgt; im Tower verbrachte
Königin Elisabeth ihre Jugendjahre, gefangengehalten durch ihre Stief-
schwester Maria; hier wurde Eduard’s IV. Bruder, der Herzog von
Clarence, in einem Fass Malvasier ersäuft, welche Todesart er selbst
sich erwählen durfte; ebenso fand König Heinrich VI. daselbst seinen
Tod. Im Tower sass König Johann von Frankreich lange gefangen,
wurde Lord Strafford enthauptet, welcher König Karl I. in den Con-
flict mit dem Parlamente gebracht hatte und von jenem der Bestra-
fung durch das Parlament überlassen werden musste, und so liesse
sich noch eine lange Reihe von Persönlichkeiten aufzählen, die ein
trauriges, wenn auch nicht immer unverschuldetes Geschick mit dieser
Burg in Verbindung brachte. Düster und unheimlich sind die Ein-
drücke, welche man beim Besuche des Tower sammelt, und es thut
der Gegensatz fast wohl, welchen die nächste Umgebung dieser Feste
darbietet, allwo überall das friedliche Treiben der Gegenwart zum
Ausdrucke gelangt. So steht nördlich vom Tower Trinityhouse
und das Gebäude der königlichen Münze, östlich desselben beginnt
mit den St. Katharines Docks die Reihe der grossartigen Dockanlagen
im Londoner Hafen.
Trinityhouse beherbergt auch eine eigenthümliche britische
Institution, nämlich die Corporation von Trinityhouse, welche unter
118*
[940]Der atlantische Ocean.
König Heinrich VIII. bereits gegründet worden war, um namentlich
die Sicherheit der Schiffahrt zu fördern, und welche sich seither mit
der Errichtung von Leuchtfeuern und der Bemarkung der Küsten und
Flussmündungen beschäftigt hat. Heute hat noch Trinityhouse die
Verwaltung aller dieser Vorkehrungen und ist überhaupt die Central-
stelle für die Massregeln zur Förderung der maritimen Sicherheit.
Der Anstalt, welche immer noch commissarisch geführt wird, wenn-
gleich dieselbe mit den betreffenden staatlichen Organen, namentlich
der Admiralität und dem Board of Trade in Verbindung steht, sind
bestimmte Einkünfte gesichert, mit denen sie die Erhaltung der von
ihr abhängigen Anstalten besorgt und von denen sie auch einen
Theil zur Unterstützung hilfsbedürftiger Seeleute verwendet. Trinity-
house hat auch die oberste Leitung des Rettungswesens an der bri-
tischen Küste.
Nun aber gelangen wir nach unserer Wanderung durch die
Stadt zum Hafen selbst, der unsere vollste Aufmerksamkeit in An-
spruch nimmt. Der Hafen von London ist ein Flusshafen; ein grosser
Theil der Schiffe muss im Flusse selbst liegen, und nur durch die
weit ausgedehnten Docks hat man auf künstlichem Wege dem Be-
dürfnisse nach guten und sicheren Liegeplätzen und nach besserer
Manipulation abhelfen können. Der Hafen (siehe unseren Plan Thames
River) hat dadurch eine ungeheure Ausdehnung in die Länge er-
halten, indem er sich von der London-Bridge 10·5 km abwärts
erstreckt. Es ist jedenfalls ein Beweis von der überaus günstigen
Lage Londons, dass trotz dieser Verhältnisse sich ein so riesiger Ver-
kehr entwickeln konnte, denn in den vergangenen Jahrhunderten war
eigentlich gar keine Vorkehrung von irgend welcher Bedeutung ge-
troffen. Die Schiffe lagen recht und schlecht längs des Strandes und
führten ihre verschiedenen Manipulationen unter schwierigen Verhält-
nissen aus. Dabei darf man nicht vergessen, dass damals der ganze
Verkehr durch Segler bewerkstelligt werden musste, denen es nicht
gerade leicht ward, gegen die Strömung den Fluss hinauf zu ge-
langen. Die einzigen halbwegs entsprechenden Liegeplätze waren die
sogenannten Legal Wharves, von London-Bridge abwärts bis zum
Tower gelegen, in einer Ausdehnung von 460 m. Diese Stellen waren
aber in privatem Besitze, und die Besitzer nützten das ihnen dadurch
gewordene Monopol reichlich aus. Trotz aller Bemühungen der Rheder
und Kaufleute konnte man sich nicht von jenem Monopol freimachen
oder die Erlaubniss zu anderen Anlagen erzielen, und erst am
Schlusse des XVIII. Jahrhunderts gelang es den nach Westindien
[941]London.
handelnden Kaufleuten, einen künstlichen Hafen, die West-India-Docks,
zu schaffen, und nachdem einmal ein Anfang gemacht, folgten bald
andere ähnliche Einrichtungen nach; nur verfiel man sofort in den
Fehler, den jetzt entstehenden Docks abermals gewisse Vorrechte, und
zwar auf bestimmte Zeit einzuräumen, so dass trotz des steigenden
Bedürfnisses ein Stillstand eintreten musste und erst nach Ablauf
jener Frist eine Reihe weiterer Institutionen ins Leben gerufen werden
konnte.
Heute verfügt man über eine nicht geringe Zahl solcher Docks,
in denen sich der ganze grosse Verkehr abspielt. Unter Dock ver-
steht man in England nicht nur künstliche Hafenbassins, in denen die
Schiffe sicher liegen und die meist durch Schleussen geschlossen
werden, sondern auch grosse damit in unmittelbarem Zusammenhang
befindliche Waarenmagazine, in welche die Waaren möglichst direct
vom Schiffe gelangen, aufgespeichert werden, und über welche auf
Grund der ganzen Dock-Organisation von den Eigenthümern verfügt
werden kann, bis diese Waaren ihrer weiteren Bestimmung zugeführt,
beziehungsweise neuerlich verschifft werden. Die Docks sind eine un-
geheure Erleichterung für den ganzen Verkehr, sie ersparen viel Zeit
und Arbeit und entheben den einzelnen Kaufmann von der Sorge für
eine Menge von Manipulationen, welche für ihn und auf seine Rech-
nung die Dockverwaltung vornimmt. Es entwickelt sich derart das
eigenthümliche Verhältniss, dass der betreffende Kaufmann ein grosses
Geschäft mit seinen Waaren durchführen kann, ohne dass er auch
dieselben nur ein einzigesmal flüchtig zu Gesichte bekommen hat.
Die Dockverwaltung übernimmt die Waaren, lagert sie ein, besorgt
Alles, was auf deren Instandhaltung Bezug nimmt, liefert dieselben
wieder aus oder veranlasst nach Auftrag deren Verschiffung; ferner
ist durch das sehr ausgebildete Warrantsystem Sorge getragen, dass
das Eigenthum leicht übertragen werden kann und dass auch Vor-
schüsse auf den Werth der eingelagerten Waaren gegeben werden
können. In den Docks concentrirt sich also der grosse Handel und
dabei haben es die Verhältnisse mit sich gebracht, dass die Docks
wenigstens zum Theil bestimmten Artikeln gewidmet sind, und sich
daher dadurch grosse Centralpunkte für einzelne Artikel herausgebildet
haben, was abermals eine Erleichterung des Geschäftes in denselben
bedeutet.
Man darf aber trotz der grossen Entwicklung des Dockwesens
in London nicht glauben, dass die bezüglichen Anlagen durchaus
mustergiltig seien. Sie zeigen mehr oder minder verschiedene Uebelstände,
[942]Der atlantische Ocean.
in Bezug namentlich auf die Verbindung zwischen Schiff und Land
und die glatte Umladung, dann auch weil nicht durchwegs die un-
mittelbare Communication mit der Eisenbahn erzielt wird, endlich
weil die innere Einrichtung der Magazine auch bisweilen mancherlei
Unbequemlichkeiten aufweist. Es haben sich eben seit Errichtung
einzelner Docks erst Neuerungen auf Grund gemachter Erfahrungen
ergeben, denen man in den alten Gebäuden nicht mehr Rechnung
tragen konnte.
Betrachten wir nunmehr die einzelnen Anlagen vom oberen
Laufe des Flusses aus, so stossen wir auf dem linken Ufer, allwo
sich mit einer einzigen Ausnahme alle Docks befinden, zunächst auf
St. Katherines Dock, zwar das kleinste, aber wegen seiner Nähe
zur City überaus bequem gelegen und darum auch gerne besucht.
Es besteht aus zwei Bassins mit einer Art von kleinem Vor-
hafen und hat 4 ha Wasser- und 5 ha Landfläche. An den Ufern
befinden sich hohe Waarenlager, die jedoch so knapp an der Kante
stehen, dass nicht einmal für einen Fusssteig davor Raum vorhanden
ist, eine durchaus nicht praktische Einrichtung. Ebenso besteht ein
grosser Mangel dieser Docks in dem Umstande, dass es an einer directen
Bahnverbindung gebricht. Die Magazine sind untereinander mit Brücken
verbunden, welche in bedeutender Höhe quer durch den Luftraum
geführt wurden. Die Magazine haben grosse Kellerräume, in denen
bedeutende Quantitäten von Wein, Spirituosen und Oel eingelagert
werden. Die Wassertiefe beträgt 8·5 m bei Springflut. An St. Katherines
Dock reihen sich die London-Docks an, welche um das Jahr
1800 hergestellt wurden und die zweitälteste derartige Anlage bilden.
Diese Docks haben drei Bassins, das Ostbassin, das Westbassin und
das Wappingbassin. Diese ebenfalls 8·5 m tiefen Bassins stehen unter-
einander durch Canäle in Verbindung und gewähren den grössten
Schiffen Zugang und Liegeplatz. Im Westbassin hat man einen Molo,
einen sogenannten Jetty später eingebaut, um mehr Anlegeraum zu
gewinnen. Im Ganzen sind 16 ha Wasser- und 24 ha Landfläche vor-
handen. Die Gebäude am Lande sind theils förmliche Magazine
(Speicher), theils nur Schuppen (Hangars). Hier ist die Situation eine
verschiedene, indem man die Baulichkeiten theils dicht am Wasser
errichtet hat, theils aber einen Raum zur Verbindung frei liess. Auch
hier ist die Bahnverbindung noch eine sehr knappe und beschränkt
sich eigentlich nur auf einen einzigen Schienenstrang längs eines
Theiles der Ufer. Einen sehr bedeutenden Eindruck machen die
Magazine und deren weitausgedehnte Kellerräume. In den Kellern
[943]London.
liegt auch hier ein ganz gewaltiger Vorrath von Wein, Spirituosen
und Oel. Die Keller können 50.000 Pipen Wein, 50.000 Oxhoft
Cognac, 8000 Puncheons Rum und 2500 Tons Oel fassen. In den
oberen Räumen lagern dann hauptsächlich Wolle, Thee, Zucker, Ge-
würze. Diese Stockwerke haben gutes Licht und sind mit hydraulischen
Aufzügen versehen. An Wolle können allein 100.000 Ballen einge-
bracht werden. Endlich gibt es sehr helle und luftige Dachräume
für jene Waaren, welche deren vornehmlich bedürfen. Auf den Dach-
räumen der London Docks findet man viel Gewürze aller Art und
kann sich daselbst eines höchst aromatischen Duftes erfreuen. Die
London Docks sind Eigenthum einer Actiengesellschaft, welche oft-
mals bis zu 10.000 Arbeiter beschäftigt.
Nun gelangen wir auf das rechte Ufer der Themse zu jener
Stelle, wo diese letztere die schon erwähnte starke Biegung nach
Süden macht, und treffen auf die Surrey- und Commercial-Docks
Diese Docks gingen aus einer alten Anlage, den Grönland-Docks her-
vor und sind hauptsächlich der Lagerung von Holz und Getreide ge-
widmet. Sie haben sich allmälig zu einem Complex von 15 Bassins
erweitert, von denen jedoch nur acht für Seeschiffe zugänglich,
während die sieben anderen nur mit einer Cunette für solche Fahr-
zeuge versehen sind. Vom Flusse führen vier verschiedene Einfahrten
in diese Docks, welche untereinander mit Canälen und Schleussen
verbunden sind. An Wasserfläche sind 32½ ha vorhanden, an Quai-
länge verfügt man über 7300 m, an Landfläche endlich über 136 ha.
Magazine sind, mit Ausnahme eines grossen Getreidespeichers, keine
vorhanden, sondern nur einfache Schuppen. Zum Theil lagert das
Holz auch im Freien. Denn in diesen Docks concentrirt sich der Holz-
handel von London. Der Getreidespeicher fasst 16.000 t und ist mit
einem gewaltigen Elevator ausgerüstet, der die Ladung und Löschung
besorgt. Die Einrichtung dieses Speichers ist überhaupt eine sehr
zweckmässige und namentlich ist für gute Lichtung des Lagervor-
rathes vollauf gesorgt. Der ganze Betrieb geschieht nun fast in allen
Docks durch hydraulische Vorrichtungen.
Kehren wir auf das linke Ufer zurück, so finden wir uns auf
der Isle of Dogs, an deren Nordende die West-India-Docks gelegen
sind, welche noch vor den London-Docks in Angriff genommen
wurden und daher die ältesten dieser Art darstellen. Die Westindia
Docks bilden drei von Nord nach Süden folgende, mit einander
parallele Bassins, das Import-, das Export- und das Südbassin, welch
letzteres erst in den Jahren 1866—1870 aus einem Canale in ein
[944]Der atlantische Ocean.
Dock umgestaltet wurde. Diese Docks haben zwei Einfahrten mit
6·6 m und 7 m Tiefe am oberen und zwei Einfahrten mit den kleinen
Vorhäfen am unteren Flusslaufe. Das 8 m tiefe Importdock umfasst
8 ha und bildet ein rechtwinkeliges langes Viereck. Die nördliche
Längsseite und die beiden Kurzseiten sind mit Speichern und Schuppen
versehen. Hier hat man aber eine zweckmässigere Anlage gewählt,
indem zwischen Speicher und Quaikante eine Fahrstrecke eingefügt
ist und dann auch seewärts ein offener Hangar folgt, welcher ge-
stattet, die Ladungen geschützt vorzunehmen. An der Südseite des
Importdock, zwischen diesem und dem Exportdock sind grosse
Magazine errichtet, in denen namentlich Farbehölzer, Mahagoni und
Rum lagern. Durchwegs sind hydraulische Krähne vorhanden. Dieser
Platz ist für den grossen westindischen Holzhandel von besonderer
Wichtigkeit. Auch concentrirt sich hier das Rumgeschäft und sind für
die Lagerung dieses Artikels besondere den Eigenthümlichkeiten ent-
sprechende Vorkehrungen getroffen. Hier wird auch die Appretur des
Rums vorgenommen, von welchem im Ganzen 58.000 Gallons aufge-
nommen werden können.
Das nun südlich folgende 7·2 m (an der Einfahrt nur 6·6 m) tiefe
Exportdock ist seiner Construction nach dem Importdock ähnlich,
steht demselben jedoch an Bedeutung des Betriebes wesentlich nach.
Sein Uebelstand liegt in einer nicht genügenden Tiefe der Einfahrt.
Darin unterscheidet sich von demselben sehr günstig das Süd-
bassin (South-Dock). Dieses 8·2 m tiefe Bassin hat eine Anzahl kleiner
Molen (Jetties), ist als eine moderne Anlage mit Schienensträngen
genügend ausgestattet, zeigt an der Südseite zunächst Schuppen mit
zwei Stockwerken, hinter denen eine Fahrstrasse und dann drei
Stockwerk hohe Magazine liegen, welche mit vorigen Schuppen durch
Legende zum Plan von London.
A West-India-Docks, B Millwall-Docks, C East-India-Docks, D London-Docks, E Commercial-Docks,
G Regents-Canal, H Grand Surrey-Canal, J Battersea-Brücke, K Albert-Brücke, L Chelsea Suspension-
Brücke, M Victoria-Brücke, N Vauxhall-Brücke, O Lambeth-Brücke. P Westminster-Brücke, Q Charing
Cross-Brücke, R Waterloo-Brücke, S Blackfriars-Brücke, T Southwark-Brücke, U London-Brücke,
V Buckingham Palace, W St. James Palace, X Westminster-Abtei, Y Parlament, Z Horticultural Soc.,
naturwissenschaftliches Museum und South Kensington-Museum. — 1 Kensington Palace, 2 Kensington
Union House, 3 British Museum, 4 National-Gallerie, 5 Covent Garden Market, 6 Somerset House,
7 The Temple, 8 St. Paul-Kathedrale, 9 Bank von England, 10 Gray’s Inn, 11 Lincoln’s Inn, 12 Courts
of Justice, 13 St. Thomas-Hospital, 14 Bethlehem-Irren-Asyl, 15 Zollamt, 16 The Tower, 17 London
Hospital, 18 Guild Hall, 19 Universität und königl. Akademie, 20 Chelsea Hospital, 21 Strafhaus,
22 Greenwich Hospital, 23 Royal Naval Asylum, 24 königl. Sternwarte, 25 West London-Westminster
Friedhof, 26 Victoria-Friedhof, 27 Oxford Street, 28 Uxbridge Road, 29 Edgware Road, 30 Horrow Road,
31 Piccadilly, 32 Old Street, 33 Gray’s Inn, 34 Seymour Street, 35 High Street, 36 Camden Road,
37 Caledonia Rd., 38 York Rd., 39 Liverpool Rd., 40 Essex Rd., 41 City Rd., 42 Kings Canal Rd.,
43 Queens Rd., 44 Grove Rd., 45 Hackney Rd., 46 Cambridge Rd., 47 Whitchapel Rd., 48 Mile End
Rd., 49 Old Ford Rd., 50 Commercial Rd., 51 Deptford Lower Rd., 52 Grt. Dower Street, 53 Old Kent
Rd., 54 Waterloo Rd., 55 Blackfriars Rd., 56 Kensington Park Rd., 57 Clapham Rd., 58 Belgrave Rd.,
59 Battersea Rd, 60 Fulham Rd., 61 Kings Rd., 62 Old Brompton Rd., 63 Kensington Rd., 64 Knights
Bridge, 65 Marylebone Rd., 66 Eustone Rd., 67 Pentonville Rd., 68 Gaswerke.
[[945]]
(Legende siehe auf Seite 944)
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 119
[946]Der atlantische Ocean.
Brücken verbunden sind. In den Magazinen sind vornehmlich grosse
Wolllager.
Auf der Isle of Dogs südlich von den West-India-Docks be-
findet sich zunächst eine ganz eigenthümliche Einrichtung, nämlich
ein ausgedehntes und weitverzweigtes Areal von Geleisen, welche
einer Gesellschaft gehören, die auf diesen Geleisen Waggons mit
Getreide placirt, statt letzteres einzulagern, und dadurch eine Art
von Magazin hält. Ein Theil der Geleise ist mit einem grossen offenen
Schuppen überdeckt, um die Waggons besser zu sichern. Nahe an
dieser Wagenburg sind die Millwall-Docks gelegen. Die Millwall-
Compagnie wurde 1868 gegründet und widmet sich vorzugsweise
dem Korn- und Wollhandel. Es sind zwei mit einander ver-
bundene Bassins vorhanden, welche durch eine 8·5 m tiefe Schleusse
mit der Themse verbunden sind und eine Wasserfläche von 14 ha
umfassen. Die Quais haben eine Längenausdehnung von 2800 m und
sind mit doppelten Schienengeleisen ausgerüstet. Ueberhaupt besitzen
diese Docks, deren weitere Ausdehnung an der südlichen Stelle der
mehrgenannten Halbinsel geplant wird, sehr gute maschinelle Ein-
richtungen.
Hat man den durch jene Halbinsel formirten grossen Bogen der
Themse umschifft, so gelangt man dort wo der Strom wieder in öst-
licher Richtung einlenkt, zu den East-India-Docks, welche mit den
West-India-Docks Eigenthum derselben Gesellschaft sind. Diese Docks
stammen gleichfalls aus dem Anfange dieses Jahrhunderts und sind
ihrer Einrichtung nach veraltet. Sie haben drei Bassins, das Import-
Dock (7·3 m tief), das Export-Dock (8·1 m tief) und das Dock-
bassin (7·5 m tief), zusammen mit einer Wasserfläche von 12 ha.
Nur am Import-Dock bestehen eigentliche Lagerhäuser, die Schienen-
verbindungen sind weder in genügender Zahl vorhanden, noch prak-
tisch angelegt, eine begreifliche Folge des Umstandes, dass diese
Docks zu einer Zeit entstanden, wo man an Eisenbahnen noch nicht
dachte.
Eine weit modernere Anlage sind dagegen die Victoria-Docks.
In der Entwicklungsgeschichte der Londoner Docks kennzeichnet sich
ein Moment, nämlich die Tendenz, immer mehr stromabwärts zu
gehen, weil man die Meinung hegte, dass je näher man der Mündung
liege, desto lieber die heraufkommenden Schiffe das ihnen zuerst er-
reichbare Dock benützen würden. Da nun die in einer Hand befindlichen
West- und East-India-Docks sich in einer günstigeren Lage in dieser
Beziehung befanden, so entschloss sich die Gesellschaft, welche die
[947]London.
St. Katharines und London Docks in ihrem Besitze vereinigt hatte,
zu einer neuen mehr abwärts gelegenen Anlage und richtete das
Victoria-Dock ein. Der Bau dieses Docks erfolgte um 1880.
Das Victoria-Dock liegt von Osten nach Westen und steht
mit dem später angelegten Albert-Dock in Verbindung. Die Ein-
fahrt in das Victoria-Dock geschieht durch einen kleinen 8·5 m tiefen
Vorhafen westlich, doch ist das Dock auch vom Albert-Dock zu-
gänglich. Es hat 36 ha Wasserfläche und 6200 m Quailänge, was
jedoch nur dadurch erreicht wurde, dass man dreizehn kleinere Molen
eingeschoben hat. Auf diesen Molen stehen zweistöckige Schuppen
mit einer schmalen überdeckten Strasse davor. Ausser diesen Schuppen
besitzt genanntes Dock vier grosse Speicher für Getreide, zwei solche
für Tabak und dann noch eigene Magazine für andere Artikel, da-
runter namentlich Guano, Jute u. dgl. Die Bahneinrichtungen sind
gut, aber auch hier hat man nicht überall die unmittelbare Verbin-
dung zwischen Schiff und Bahn erzielt. An der Südseite sind in einem
gemeinsamen Bassin 8 Trockendocks. Bemerkenswerth sind die unter
einigen Hangars befindlichen Keller, in denen eine Temperatur von
— 8° Reaumur ständig erhalten wird, und allwo man gefrorene Schafe
(bis zu 40.000 Stück) einlagert, die auf Schiffen, welche mit Re-
frigerationsmaschinen versehen sind, aus Australien eingeführt wurden.
Oestlich vom Victoria-Dock wurde von derselben Gesellschaft das
9·1 m tiefe Albert-Dock errichtet. Dieses Dock ist seiner ganzen
Einrichtung nach am gelungensten. Hier ist zunächst am Quai ein
doppeltes Schienengeleise und dann noch ein Geleise für hydraulische
Laufkrähne angelegt. Nach diesen Geleisen folgen Hangars, deren es
im Ganzen nicht weniger als 35 gibt. Diese dienen für die Mani-
pulation der Waaren, sind von Holz, mit gutem Lichte. Hinter den
Hangars liegen abermals mehrere Schienenstränge. Es sind hier 45
hydraulische Laufkrähne vorhanden. Ausserdem verfügt man über
vier schwimmende Pontons mit Krähnen von einer Hebekraft bis zu
60 t. Eine fernere Vorkehrung ist auch in der Richtung getroffen,
dass man durch eine Pumpenanlage den Wasserstand in den Bassins
für den Fall erhöhen kann, dass wegen Mangel an Flut sich dies er-
spriesslich erweisen sollte. Ausser der alten 9·1 m tiefen Einfahrt wurde
eine neue 10·9 m tiefe letzter Zeit erbaut. Die Dockeigenthümer ver-
fügen über eine grosse Landfläche, deren Ausnützung jedoch erst
zum Theil geschehen ist. So zweckmässig, nämlich im Vergleiche mit
den flussaufwärts gelegenen Docks, auch die beiden eben betrachteten
Anlagen sind, so gereicht denselben doch die bedeutende Entfernung
119*
[948]Der atlantische Ocean.
von der Stadt und dem Sitz des eigentlichen Verkehres, der City,
zum Nachtheile, und dieser Nachtheil betrifft auch die jüngste Dock-
anlage, nämlich Tilbury-Docks. Als nämlich Victoria- und Albert-
Docks gebaut wurden, beschloss die East- und West-India-Docks-
gesellschaft noch mehr flussabwärts ein Dock auf ihre Rechnung zu
bauen und wählte zu diesem Zwecke eine ziemlich gegenüber
Gravesend gelegene Stelle bei der Ortschaft Tilbury. Tilbury-Docks
sind 37 km von London Bridge entfernt, und daraus kann man wohl
beurtheilen, dass diese Entfernung einigermassen zu Ungunsten des
Docks ins Gewicht fällt. Im Tilbury-Dock ist für sehr grosse Tiefen
(10·6 m bei Springflut) gesorgt, und hat dasselbe ausser einem bei Ebbe
8 m, bei Springflut 13·3 m tiefen Vorhafen ein sehr grosses Operations-
bassin mit drei sich daran rechtwinkelig anschliessenden Querdocks.
Hier ist das System der Geleiseverbindungen in glücklicher Weise
gelöst, so dass der Verkehr per Bahn durchwegs ohne viel Störung
oder Verzögerung möglich erscheint. In diesem Dock können 42 grosse
Dampfer gleichzeitig operiren. Die Uferlänge beträgt 4000 m. Die
Hangars sind hier auch aus Holz construirt und mit stählernen
Jalousien versehen, so dass man allseits einen Ausgang nach Bedarf
herstellen kann. Ueberall kann man hydraulische Hebevorrichtungen
zur Verwendung bringen. In Verbindung mit Tilbury-Dock sind auch
zwei Trockendocks (dry docks), welche je nach Bedarf an Schiff-
bauer vermiethet werden. Diese Docksanlage wurde erst 1886
vollendet.
Wenn wir nun alle diese Docksanlagen überblicken, so lässt
sich deren Grossartigkeit ebenso wenig verkennen, als ihre Bedeutung
für den ganzen Verkehr, welcher schlechthin gar nicht überwältigt
werden könnte, wenn nicht für die Bedürfnisse der Schiffahrt in so
umfassender Weise vorgesorgt worden wäre Trotz des grossen Ver-
kehres kann man aber nicht sagen, dass im Ganzen die Docksgesell-
schaften besondere Geschäfte machen. Der Grund dieser Erscheinung
liegt zum wesentlichen Theil darin, dass die Herstellung der Bau-
lichkeiten grosse Capitalien erheischte und man andererseits die
Lagerzinsen nicht hoch halten kann. Die neuesten Anlagen leiden
durch die schon erwähnten Umstände und werden wohl erst dann
günstigere Erträgnisse abwerfen können, wenn der stets steigende
Verkehr von London gezwungen sein wird, die Annehmlichkeit einer
nahen Situation zur City minder hoch anzuschlagen, beziehungsweise
sich zum Theil wenigstens von dem traditionellen Festhalten an jenem
Stadttheil zu emancipiren. Heute ist das geschäftliche Centrum
[949]London.
eigentlich dort, wo der langgestreckte Flusshafen erst seinen Anfang
nimmt, ja im Grunde noch oberhalb dieses Anfanges, nämlich jenseits
von London Bridge.
Um die Docksanlagen geschlossen zu betrachten, haben wir in
unserer Betrachtung der Themse einen Sprung gemacht und müssen
nunmehr, zur Vervollständigung des Bildes, zu jener Stelle, wo sich
das Südende der Isle of Dogs befindet, zurückkehren. Diesem Ende
gegenüber liegt Greenwich, einstmals ein Ort für sich, heute mit
der Metropole bereits verschmolzen. Greenwich ist weltbekannt zunächst
seiner Sternwarte wegen, nach deren Meridian alle englischen See-
karten projicirt sind, dann aber auch wegen des grossen Hospitales
zur Aufnahme dienstuntauglicher Seeleute. Dieses Hospital verdankt
seine Gründung König Wilhelm III. im Jahre 1824. Das Hospital ist
mit sehr bedeutenden Einkünften dotirt und kann 2700 Pensionäre er-
halten, von denen jedoch heute nur der geringere Theil in dem Ge-
bäude selbst untergebracht ist, während die übrigen nur laufende
Pensionen in Geld beziehen. In der Nähe des Hospitales ist die
Royal Naval School zur Erziehung hinterlassener Kinder von Seeleuten
der königlichen Flotte. Südlich von Greenwich zieht sich ein grosser Park
hin, der durch schöne Baumschläge und zahmes Damwild sich aus-
zeichnet. In diesem Park steht das königliche Observatorium mit der be-
rühmten britischen Sternwarte (54° 36′ nördl. Br. und 0° 0·0″ östl. L.),
an welcher die Normalzeit für ganz England bestimmt wird, deren
Mittheilung jeden Tag um 1 Uhr telegraphisch an alle wichtigeren
Punkte des Königreiches erfolgt. Greenwicher Zeit hat bekanntlich
auch im Seeverkehr grosse Bedeutung. Ebenso dürfte der Meridian von
Greenwich zum Ausgangsmeridian für die projectirte Weltzeit werden.
Nachdem die Themse von Greenwich her den östlichen Theil
der Isle of Dogs umspült hat, wendet sie sich wieder östlich und
läuft zwischen den Victoria- und Albert-Docks zur linken und Wool-
wich zur rechten Hand. In Woolwich liegt das grosse königliche Arsenal,
in welchem der grösste Theil des Heerbedarfes an Waffen und
Rüstungssachen hergestellt wird. Insbesondere ist die Geschützgiesserei
von Bedeutung und erheblicher Ausdehnung. In Woolwich sind ferner
Kasernen für Land- und Seetruppen, dann die königliche Militäraka-
demie zur Heranbildung von Officieren des Artillerie- und Geniecorps.
In älteren Zeiten waren in Woolwich auch Marineetablissements mit
einer grossen Schiffswerfte, doch sind dieselben heute, wo die An-
forderungen an derartige Anstalten ganz andere geworden sind, nicht
mehr in Thätigkeit.
[950]Der atlantische Ocean.
Hat man Woolwich passirt, dann hört der städtische Charakter
auf, man hat London hinter sich und geniesst den freieren Anblick
der reichen Landschaften, welche sich auf beiden Ufern hinziehen
und mit Städtchen und Ortschaften sowie mit einzelnen Nieder-
lassungen reich besäet sind. Der Fluss selbst hat keinen geraden
Lauf, sondern schlängelt sich in sanften Windungen, breit und statt-
lich dahin, und wenn der Wind von Osten kommt, so fühlt man
auch schon den kräftigeren Gehalt der Seeluft. So erreicht man
Gravesend, dem gegenüber an der Nordseite die Tilbury-Docks
liegen. Jetzt erweitert sich die Themse zu imposanter Breite, die
Wogen der Nordsee rauschen heran und vereinigen sich mit dem
Gewässer des Flusses. Segel auf Segel zieht vorbei, Dampfer pusten
und schnauben von der See hinein oder bereiten sich zur weiten
Fahrt vor. Noch einige Meilen, dann hat man im Süden den Kriegs-
hafen Sheerness, im Norden Shoeburyness, beide durch Leucht-
feuer bezeichnet, die wichtigen Marken zum Einlaufen in die Themse,
die hier bereits 9·4 km breit ist. Nördlich von Sheerness mündet der
Medwayfluss, an welchem Chatam, das grosse britische See-Arsenal
sich befindet.
Ist man beim innersten Leuchtschiffe der Themse vorbei, dann
tritt auch das nördliche Ufer von Essex zurück, während im Süden
die Grafschaft Kent noch 44 km weit sich ostwärts bis zum Cap
Nord-Foreland zieht, aber der Fluss ist hinter uns und der Lauf
geht hinaus in die Nordsee. Diesen Weg machen Jahr um Jahr viele
tausende von Schiffen jeglicher Grösse und jeglicher Herkunft.
Zwischen Sheerness und dem Cap Nord-Foreland liegen zahl-
reiche Ortschaften am Strande, von welchen Whitstable seiner vor-
züglichen Austern wegen und das nächst dem Cap gelegene Städtchen
Margate als vielbesuchtes Seebad europäischen Ruf geniessen. Die
Zufahrt in die Themse ist wegen der zahlreichen weit in See liegen-
den Bänke und Barren eine umständliche und schwierige. Auch die
Gezeitenströmung ist sehr kräftig, und wenn sie auch von den Schiffen
mit Vortheil ausgenützt wird, so erfordert sie dennoch die grösste Auf-
merksamkeit und Vorsicht. Die Springflut erzeugt in London eine
Niveauerhöhung des Wassers um 6·1 m. Die Schiffe laufen in der
Regel mit der beginnenden Flut ein und mit der beginnenden Ebbe
aus, so dass sie den Strom stets mit sich haben. Die Zufahrt zur
Themsemündung ist schon weit in See markirt. Die zwei Leucht-
schiffe Galloper-Bank und Sunk sind 50 km ausserhalb des Cap
Nord-Foreland in hoher See verankert und bilden mit dem 46 km
[951]London.
OSO derselben gelegenen, die Einfahrt in den Canal markirenden
Leuchtschiffe North-Hinder die äusserste Kennzeichnung der Zufahrt.
Innerhalb dieser Reihen liegen zwischen den langgestreckten Sand-
barren von Kentish Knock, Long Sand und Sunk breite und tiefe
Wasserstrassen für von Norden her kommende Schiffe, und im Süden
der Bänke öffnen sich ebenfalls zwischen Bänken die Zufahrten des
Princess-Channel für Schiffe, die von Osten oder Süden anlangen.
Sämmtliche Bänke und Barren, Fahrstrassen nnd Canäle sind durch
zahlreiche, gut situirte Leuchtschiffe, Tonnen und Marken vorzüglich
gekennzeichnet. Dessenungeachtet ereignen sich alljährlich entsetzlich
viele Seeunfälle, besonders bei stürmischem Wetter oder einsetzendem
Nebel, welch letzterer häufig einzutreten pflegt.
Wenden wir nun nochmals unseren Blick von dieser Mündung
nach der Metropole zurück, so erscheint uns dieses London als ein
grossartiges Gebilde, in dem sich eine Unmasse von Culturelementen
und commerciellen Interessen zusammendrängt, in dem zahllose Fäden
zusammenlaufen, von dem nach allen Richtungen hin Antrieb und
Gedanken ausgehen, in dem über vier Millionen Menschen aller
Schichten und Classen dicht nebeneinander leben, wo sich die ganze
Stufenleiter von dem höchsten Glanze bis zum tiefsten Elende vor-
findet, wo neben einer im gesellschaftlichen und politischen Leben
tonangebenden Aristokratie, neben handelsmächtigen Millionären ein
verkommenes Proletariat in elenden Unterkünften sich enge zusammen-
drängt, wo alle Glanzseiten grosser Centren mit allen Nachtheilen
solcher Massenansiedlungen zusammentreffen, wo viel Gemeinsinn und
namentlich in neuester Zeit ein warmer humanitärer Sinn neben dem
kalt berechnenden Geschäftsgeist sich bethätigt, wo das Bewusstsein,
das Herz Britanniens zu sein, in allen Herzen lebendig ist und ein
starkes Gefühl für Freiheit und Selbstbestimmung zum Ausdrucke ge-
langt, ein Gefühl, von dem man weiss, dass es nicht am wenigsten
dazu beigetragen hat, aus London das zu machen, was es heute ist.
Und fragen wir uns, wo denn eigentlich dieses London sein
Ende hat, so können wir darauf keine sichere und bestimmte Antwort
geben. Denn London ist heute kaum mehr eine gewöhnliche Stadt
zu nennen, es ist schon eine weit über die Grenzen einer solchen
hinausgewachsene städtische Landschaft mit einem stetigen Expansions-
streben, in welcher beispielsweise 1887 12.478 neue Häuser gebaut
und 166 neue Strassen mit einer Gesammtlänge von 37 km eröffnet
wurden. Wie ein gewaltiger Polyp streckt dieses London seine Fänge
nach allen Seiten aus und zieht einen weiten Kreis ringsum in seine
[952]Der atlantische Ocean.
Abhängigkeit. Rings um London hausen Londoner, die in der Stadt
nur ihren Geschäften obliegen, die sich aber draussen ausserhalb des
eigentlichen Weichbildes als Angehörige dieser Stadt fühlen und be-
trachten. Und je mehr die Stadt selbst Raum für das geschäftliche
Leben braucht, desto mehr drängt sie die Insassen nach der Peripherie.
Der Umwandlungsprocess der benachbarten Grafschaften zu eigentlichen
Stadttheilen bleibt niemals stille stehen, und wenn das Wachsthum
der Bevölkerung und des Verkehres jene Intensität beibehält, welche
es namentlich in der zweiten Hälfte dieses Jahrhundertes gezeigt hat,
dann kann man wohl sagen, wird auch das heutige Londen viel zu
enge werden, und es wird manche gründliche Umgestaltung platz-
greifen müssen, um die Einrichtung mit dem actuellen Bedürfniss in
Einklang zu bringen. Es wird aber keine leichte Sache sein, diese
im Ganzen so planlos emporgewachsene Stadt den immer sich ver-
ändernden Anforderungen anzupassen, und der Engländer, welcher mit
einem grossen praktischen Sinne doch wieder eine stark conservative
Tendenz verbindet, versteht sich schwerer als der Angehörige manchen
anderen Landes zu gründlichen Reformen seiner Stadt.
So erhielten die vielen Gemeinden, die früher zusammen den
Wohnplatz London bildeten, erst mit dem 1. Jänner 1889 eine ge-
meinsame Verwaltung, sie bilden seitdem die „County of London“,
die man auch kurz „Metropolis“ nennt, und innerhalb der die „City
of London“, wie schon erwähnt wurde, eine sehr weitgehende Selb-
ständigkeit geniesst. Diese „Metropolis“ umfasst 305·4 km2, von denen
auf die City allein 2·63 km2 entfallen; der Polizeidistrict von London
erstreckt sich sogar über 1827·42 km2. In der Metropolis wohnen,
Legende zur Eisenbahnkarte von London.
Stationen: 1 King’s Cross, 2 Farringdon Street, 3 Holborn Viaduct, 4 Ludgate Hill, 5 St. Paul’s
6 Blackfriars Bridge, 7 Boro Road, 8 Elephant and Castle, 9 Walworth Road, 10 Camberwell New Road,
11 Temple, 12 Charing Cross, 13 Westminster Bridge, 14 St. James Park, 15 Victoria, 16 Sloane,
Square, 17 South-Kensington, 18 Brompton Glester Rd., 19 Kensington, 20 Notting Hill Gate, 21 Bays-
water—Queens Road, 22 Praed Street, 23 Edgware Road, 24 Baker Street, 25 Port and Road, 26 Gower
Street, 27 Midl Road, 28 Great North Cementy, 29 Camden Road, 30 Camden (N. W. Ry), 31 St. Johns
Wood Rd, 32 Marlborough Road, 33 Swiss Cottage, 34. 35 Finchley Road, 36 West End, 37 West Hampsead,
38 Kilburn und Maidavale, 39 London Road, 40 Chalk Farm, 41 High Street, 42 Kentisch Town, 43 Barns-
bury, 44 Islington und Highbury, 45 Canonbury, 46 Hackny, 47 Homerton, 48 Victoria Park, 49 Old
Ford, 50 Bow Ry., 51 Poplar, 52 Willwall Dock, 53 Engine, 54 Poplar Ry, 55 West India Dock,
56 Limehouse Ry., 57 Stepney Ry., 58 Shadwell, 59 Leman Street 60 Aldgate East, 61 St. Mary
Whitechapel, 62 Shoreditch, 63 Bethnal Green Junction, 64 Cambridge Heath, 65 London Fields,
66 Hackney Downs Junction, 67 Shoreditch, 68 Haggerston, 69 Dalston Junction, 70 Old Ford,
71, 72 Stratford, 73 Stratford Bridge, 74 Bromley, 75 Burdett Road, 76 Maze Hill, 77 Greenwich,
78 Deptford, 79 Spa Road, 80, 81 Cannon Street, 82 Mansion H., 83 Monum, 84 Mark Lane, 85 Ald-
gate, 86 Bishopsgate, 87 Moorgate Street, 88 Aldersgate Street, 89 South Bermondsey, 90 Old Kent
Road, 91 Peckham Rye, 92 Wandsworth Rd., 93 York Road, 94 Battersea Park, 95 Grosvenor Road,
96 York Road, 97 Queens Road, 98 Queens Road, 99 Vauxhall, 100 Waterloo Junction, 101 Battersea,
102 Chelsea, 103 West Brompton, 104 Earl’s Court, 105 Walham Green, 106 Parson’s Green, 107 Big-
hops Road, 108 Royal Oak, 109 Westbourne Park, 110 Shadwell, 111 Wapping, 112 Rotherhithe,
113 Deptford Road, 114, 115, 116 New Cross.
[[953]]
(Legende siehe auf Seite 952.)
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 120
[954]Der atlantische Ocean.
wie schon erwähnt, 4,282.000 Menschen, und auf das Aussengebiet
des Polizeidistrictes, also auf die Landschaft ausser der County of
London muss man noch eine Million Einwohner rechnen, so dass
London im weitesten Sinne die Grenzen einer Fünfmillionenstadt be-
reits überschritten hat.
Nur an einem Orte, welcher seit Langem schon das Herz des
Welthandels ist, konnte eine solche Menge von Menschen sich an-
siedeln. In London befindet sich der Sitz der ältesten und mächtigsten
Kaufhäuser, welche in allen Welttheilen Niederlassungen unterhalten,
durch welche die wichtigsten Stapelartikel des Weltverkehres nach
der Themsestadt dirigirt werden, damit man dagegen die Erzeugnisse
moderner Erfindungen des Gewerbe- und Industriefleisses nicht allein
Englands, sondern ganz Europas eintausche; über London geht daher
noch immer der grösste Theil der Zahlungen des internationalen Ver-
kehres, so sehr sich auch die bedeutenderen Handelsvölker von dieser
Controle loszumachen suchen.
London bildet den Hauptmarkt für eine Reihe von Colonial-
waaren und ausländischen Producten, wie Wolle, Thee, Pfeffer, Zimmt,
Indigo, Cacao, Rosinen, Jute, Zinn, Häute, Pelze, Elfenbein, Edel-
steine, Petroleum, Spirituosen, es steht nur in wenigen Artikeln, wie
Baumwolle, Reis und Tabak, Liverpool nach und ist höchst wichtig
für Kaffee. Wiewohl nun London vorwiegend Handelsstadt ist, verfügt
es andererseits über eine hochentwickelte Industrie, in deren einzelnen
Zweigen es an der Spitze aller anderen englischen Städte steht. Nicht
weniger als 904.000 Menschen sind in den verschiedenen Industrie-
und Gewerbezweigen beschäftigt. Der Maschinenbau allein gibt 17.800
Menschen Arbeit, in der Möbelindustrie sind 22.000 Arbeiter thätig.
London, welches die grössten Druckereien der Welt besitzt, bietet in
diesen 25.600 Menschen Beschäftigung, 71.800 Arbeiter zählt die
Industrie der Kleiderconfection, mehr als 6000 Arbeiter obliegen der
Seidenweberei. Tapeten und Glas werden in grossartigem Masse herge-
stellt, und die Erzeugung von musikalischen und chirurgischen In-
strumenten, von Uhren und Goldschmiedearbeiten steht auf einer hohen
Stufe. Daneben liefert London Sattler- und Lederwaaren in vorzüg-
licher Qualität und besitzt eine erstaunliche Anzahl an Bierbrauereien
(172), von welchen das bekannte englische schwarze Bier (stout)
erzeugt wird.
Der Handel Londons hat ausserordentliche Dimensionen angenommen.
Von dem gesammten Importe des Vereinigten Königreiches, der 1889 mit
₤ 427,637.595 bewerthet wird, entfallen ₤ 144,711.517, also mehr als ein Drittheil
[955]London.
auf London. Im Reexporte ausländischer Producte, der sich im selben Jahre auf
₤ 66,657.484 für das ganze Land belief, entfallen rund 60 % auf London, und nur
in der Ausfuhr englischer Fabricate und Erzeugnisse muss London die Führung
an Liverpool abtreten.
Den bedeutendsten Importartikel Londons bildet Wolle, welche aus
den australischen Colonien und dem Cap direct nach London, dem eigentlichen
Wollmarkte, verschifft wird, um hier auf Auctionen verkauft und nach den Ver-
arbeitungsplätzen dirigirt zu werden. Die Interessenten des Wollhandels finden
sich wohl durch das ganze Jahr in einem eigenen Gebäude, der „Wool exchange“
zusammen, woselbst die laufenden Transactionen von geringerem Umfange regel-
mässig ihren Abschluss finden. Das grosse Geschäft jedoch ist an bestimmte
Tage und Oertlichkeiten gebunden. Die aus den Colonien für den Londoner
Markt bestimmten Wollquantitäten werden nämlich dortigen Firmen zum Zwecke
öffentlicher Versteigerung consignirt. Die Consignatare nun publiciren je nach
Ankunft der Schiffe in der „Wool exchange“ den Tag der Auction. Jeder von
ihnen besitzt ein eigenes Gebäude „Auctioneer Room“, wohin einige hundert Ballen
Wolle, die als Muster eine bestimmte Ladung in ihrer Qualität repräsentiren,
gebracht werden. Nach diesen Mustern werden die Preise bestimmt und die
Verkäufe abgeschlossen. Oft kommt es natürlich vor, dass eine Partie unter
mehrere Käufer vertheilt wird, weil sich für die ganze [Quantität] kein Abnehmer
findet. Auf der Auction erfolgt gleichzeitig die Registrirung der Verkäufe, die
direct aus den Lagerhäusern in den Docks ausgeführt werden. Die Auctionen
finden beinahe regelmässig alle sechs Wochen statt. Einen Ueberblick über die
in den Auctionen umgesetzten Mengen geben folgende Ziffern: Im Jahre 1887
betrug der Gesammtimport an Wolle nach England 1,351.342 Ballen, hievon
kamen nach London 1,274.103 und aus erster Hand wurden auf den Auctionen
verkauft 1,180.000 Ballen. Im Jahre 1888 stieg der Import auf 1,533.520 Ballen,
hievon entfielen auf London 1,343.231, von denen 1,255.000 im Auctionswege ver-
kauft wurden. Von diesen gingen 900.000 Ballen nach dem Continent (Europa),
44.000 nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika, der Rest blieb zur Ver-
arbeitung im Lande. Nach der Gewichtsmenge betrug der Wollimport Londons
in den letzten drei Jahren:
| [...] |
Die Zahl der im vorigen Jahre eingeführten Schaf- und Lammfelle be-
lief sich auf 6,799.172 Stück gegen 5,304.428 im Vorjahre, und das Gewicht der
importirten rohen Häute wird mit 321.300 q als Durchschnittsziffer der letzten
drei Jahre angegeben.
In London gibt es einen eigenen En gros-Markt für rohe Häute und
Schaffelle.
Angesichts der Unzulänglichkeit der Bodenproduction Englands im Ver-
gleiche zu dem Bedarfe der Bevölkerung ist es natürlich, dass die Einfuhr von
Getreide, speciell von Brotfrüchten eine wichtige Rolle spielt. In der Einfuhr
dieser Producte rivalisirt Liverpool mit London, doch behauptet letzteres, wenn
auch nicht in bedeutendem Masse, noch immer den Vorrang. Nachstehende
Tabelle zeigt die Getreideeinfuhr Londons nach den verschiedenen Sorten:
120*
[956]Der atlantische Ocean.
| [...] |
Die Einfuhr von Reis hielt sich in den beiden letzten Jahren auf gleicher
Höhe mit rund 1,525.000 q.
Die für den Getreidehandel der Welt so wichtige „London Produce Exchange
Association, limited“ hat am 1. März 1887 das Termingeschäft in Weizen ein-
geführt.
Die nun folgende Gruppe von Importproducten, die „Provisions“ dienen der
Approvisionirung Londons und der Tausende von Seefahrzeugen, welche in jedem
Jahre diesen Welthafen verlassen. Da nun der auf den einzelnen öffentlichen
Märkten Londons erzielte Jahresumsatz unverhältnissmässig höher ist als die
Einfuhr aus dem Auslande, so ergibt sich, dass die Zufuhr aus dem Lande selbst
den Import wesentlich übertrifft. Der Verbrauch einer immer steigenden Be-
völkerung, welche derzeit mehr als 4 Millionen Seelen umfasst, stellt natürlich
an den Verkehr entsprechende Anforderungen, und immer weiter zieht sich der
Kreis der Länder und Welttheile, die dazu beitragen müssen, die Ansprüche der
Millionenstadt zu befriedigen. Die eingeführten Mengen an wichtigeren Nahrungs-
mitteln beliefen sich im Fiscaljahre 1889 auf 1,651.894 q gegen 1,651.852 q des
Vorjahres und 1,671.383 q des Jahres 1887. Auf die einzelnen Gattungen vertheilt
sich diese Summe in folgender Weise:
| [...] |
Ausserdem wurden im Jahre 1889 246.357 hlZwiebeln und verschiedene
Gemüse im Werthe von ₤ 172.496 eingeführt.
Die Einfuhr von Eiern, welche aus verschiedenen Ländern des Continentes
gebracht werden, hat sich in den letzten Jahren erheblich gesteigert. Im Jahre
1887 betrug dieselbe Gt. Hunds. 366.521, war 1888 beinahe auf das Dreifache
gestiegen und weist im Jahre 1889 die Ziffer von Gt. Hunds. 700.120 auf. In
den Wintermonaten werden sogar aus dem südöstlichen Russland Eier zugeführt.
London ist der lohnendste, aber anspruchsvollste Eiermarkt Europas.
[957]London
Hieran reiht sich die Gruppe der Früchte mit:
| [...] |
Des Ueberblickes halber ist hier die nächste der Approvisionirung Londons
gewidmete Importgruppe „Lebende Thiere“ anzuführen. Im Jahre 1889 wurden
159.336 Stück Ochsen und Kühe gegen 130.501 Stück des Vorjahres importirt,
die Zahl der eingeführten Schafe und Lämmer belief sich auf 343.987 Stück, im
Jahre 1889 gegen 742.162 Stück des Jahres 1888.
Die Versorgung von 4 Millionen Menschen mit ihrem täglichen Bedarfe
an Lebensmitteln erfordert eine einheitliche Organisation. Dies ist denn auch in
London der Fall. Jeder Artikel hat seinen speciellen Verkaufsort, welcher die
Zufuhr gleichartiger Producte nach einem bestimmtem Punkte centralisirt. Diese
Centralpunkte, „Markets“ (Märkte) genannt, stehen zum grossen Theile unter
Ueberwachung, respective in der Verwaltung der städtischen Behörde, welche
durch eigene Organe den Verkauf zumeist im Wege der Versteigerung regelt.
Von den Märkten aus nehmen die Nahrungsmittel durch die Vermittlung der
verschiedenen Händler ihren Weg zu den Consumenten. Die wichtigsten der
Londoner Märkte sollen hier eine kurze Besprechung finden, weil nur aus den
auf denselben erzielten Umsätzen eine annäherungsweise Vorstellung über die
Grossartigkeit des Verkehres sich ergeben kann.
Vor allen anderen ist der Londoner Centralmarkt für Fleisch, Geflügel und
Victualien hervorzuheben. Derselbe liegt in Smithfield bei Farringdon Street, ist
Eigenthum der Stadt und wird von der Behörde verwaltet. Es wird meist im
Grossen verkauft. Die jährlich auf diesem Markte allein zugeführten Waaren be-
tragen 270.000 t. Der Markt ist täglich geöffnet, doch ist im Winter an
Freitagen, im Sommer an Samstagen der stärkste Verkehr. Die aus den Mauthen,
Standgebühren und Waggeldern resultirenden Einnahmen betrugen im Jahre 1888
89.000 ₤, an Verwaltungskosten wurden 72.000 ₤ ausgegeben.
Die grossen Viehmärkte in Islington und Deptford mit ihren Schlacht-
häusern und ausgedehnten Gebäuden (Magazinen und Stallungen) stehen gleich-
falls unter städtischer Controle. Ersterer umfasst eine Fläche von 75 Acres
(30·4 hu), Markttage sind Montag und Donnerstag für Schlachtvieh, Schafe und
Schweine, Freitag für Pferde und Maulthiere. Nahezu 1 Million Thiere passiren
jährlich diesen Markt. Für die Erhaltung desselben wurden 1888 nicht weniger
als 38.232 ₤ ausgegeben. Auf den Deptfordmarkt (Dock street) kommen jährlich
circa 800.000—900.000 Stück Vieh zum Auftrieb.
Billingsgate (Lower Thames street), Eigenthum der Stadt, ist der wichtigste
Londoner Fischmarkt, welcher nach einer Schätzung circa 140.000 t Fische jährlich
aufnimmt. Drei Viertel der gesammten Zufuhr werden im Auctionswege verkauft.
80.000 t Fische werden auf dem Landtransporte zugeführt, der Rest kommt zur
See. Von geringerer Bedeutung ist der Shadwell-Fischmarkt, Eigenthum der
London Riverside Fish Market Company, 1½ Meilen unterhalb London bridge
gelegen. Die Zufuhr betrug im letzten Jahre 18.000 t im Werthe von
[958]Der atlantische Ocean.
₤ 168.000, die im Wege öffentlicher Auction gelöst wurden. Als Detailfisch-
markt wäre noch der London Central market in Smithfield zu erwähnen.
Einer der grössten En gros-Verkaufsmärkte Londons ist der Obst- und
Gemüsemarkt in Borough, der von städtischen Administratoren verwaltet wird
und einen Jahresgewinn von 7—8000 ₤ aufweist. Die Träger werden von den
Administratoren angestellt und bezahlt. Andere Gemüse- und Obstmärkte sind
allerdings von geringerer Ausdehnung, wie die in Covent Garden, Farringdon,
Spitalsfield und Stratford.
Specialmärkte für den Verkauf von Heu und Stroh sind der Cumberland
market (Ernest str.), der Markt in Smithfield und der in Whitechapel.
Eine wichtige Rolle in der Einfuhr Londons spielt die Gruppe der Metalle
zumeist in rohem Zustande aus überseeischen Colonien. Die unmittelbar folgende
Tabelle beleuchtet die Einfuhrsmengen der verschiedenen Metallarten während
der letzten drei Jahre:
| [...] |
Die Metallbörse von London hat seit Neujahr 1890 auch Transactionen in
schottischen und Cleveländer Roheisen-Warrants sowie in Haematite-Warrants
eingeführt und macht dadurch der Metallbörse von Glasgow wirksame Concurrenz.
Eine hervorragende Stellung in den Einfuhrsartikeln nach London nimmt
Thee ein. Derselbe ist seit einigen Jahren zumeist indischer Provenienz und wird
durch eigene Reisende Londoner Firmen, welche die Theeplantagenbesitzer im
Innern des Landes aufsuchen, zur Zeit der Ernte aufgekauft. Thee ist das bevor-
zugte Getränk der Engländer, so zwar, dass circa 84 % der Gesammteinfuhr zur
Deckung des Bedarfes im Inland dienen und nur 16 % wieder exportirt werden.
Der Theeimport Londons erreichte.
| [...] |
Nach der Grösse der Zufuhren ist London der dritte Kaffeeplatz der
Welt; hier sind alle Sorten reich vertreten, ausgenommen etwa die Provenienzen
von Niederländisch-Indien. Die öffentlichen Kaffee-Auctionen finden jeden Dienstag,
Mittwoch, Donnerstag und Freitag statt.
Die Einfuhr erreichte 1889 467.882 q, 1888 416.700 q, 1887 474.200 q.
An Cacao wurden 1889 101.685 q eingeführt.
Bei weiterer Betrachtung der Importartikel findet sich zunächst Zucker
der Quantität nach als der bedeutendste. Im Jahre 1889 wurden an raffinirtem
Zucker 1,642.775 q, an unraffinirtem 3,258.995 q eingeführt. London ist der eigent-
liche Weltmarkt sowohl für Colonial- als für Rüben-Rohzucker. Das Termin-
geschäft in Zucker wurde von dem „London Produce Clearing House Limited“
eingeführt.
[959]London.
Die Importmenge von Wein und Spirituosen ist eine so bedeutende und
variirende, dass sie nach den Ausweisen der letzten drei Fiscaljahre angeführt
werden soll. Es belief sich die Einfuhr von:
| [...] |
Spirituosen haben als Artikel, welche nicht allein einen Einfuhrzoll, sondern
noch specielle städtische Steuern zu entrichten haben, für London eine erhöhte
Bedeutung.
Für die starke Bierproduction Englands wurde 1889 Hopfen in der
Menge von 43.860 q zugeführt.
Tabak (unverarbeitet) erreichte 1889 die Einfuhrsziffer von 123.387 q
gegen 75.660 q des Vorjahres, während an verarbeitetem Tabak 10.325 q im Jahre
1889 importirt wurden.
Die Einfuhr von Pfeffer erreichte 1889 132.532 q.
Droguen bilden einen nicht unbedeutenden Einfuhrartikel, der durch
folgende Tabelle illustrirt wird:
| [...] |
Oele gelangen in verschiedenen Sorten zur Einfuhr. Die wichtigsten der-
selben sind laut der Statistik vom Jahre 1889 Oel aus Samen mit 5909 t,
Olivenöl mit 3417 t und Palmöl mit 1647 t, endlich Thran und Walrath
mit 5145 t. Diesen schliessen sich noch Oelkuchen mit der beträchtlichen
Menge von 75.376 t an, Kautschuk mit 16.830 q.
Die Einfuhr von Düngemitteln befindet sich in einer ganz ausser-
ordentlichen Steigerung. So stieg der Import von Guano:
- von ............... 8.472 t im Jahre 1888 auf 15.048 t im Jahre 1889
- „ Phosphaten ........ 81.638 t „ „ „ „ 309.833 t „ „ „
- von untaxirten Düngemitteln 14.067 t „ „ „ „ 90.159 t „ „ „
Salpeter erscheint 1889 mit 380.413 q.
Die Einfuhr von Baumwolle wird mit 523.833 q für das Jahr 1889
veranschlagt, Rohseide mit 11.409 q, Hanf mit 461.436 q, Flachs mit 43.860 q.
Hervorzuheben wäre noch der Import von Lumpen und anderen Materialien
für die Papierfabrication, darunter Esparto mit 75.153 t im Jahre 1889, ferner
von Knochen mit 13.268 t.
Für den grössten Theil der Fabricate, welche London importirt, sind
keine Gewichtsmengen, sondern nur Werthangaben vorhanden. Die wichtigsten
derselben sind nach den Angaben vom Jahre 1889: Baumwollfabricate im
Werthe von ₤ 613.058, Wollfabricate für ₤ 94.059, Farben im Werthe
von ₤ 416.442 und chemische Erzeugnisse für ₤ 583.734.
Papier figurirt im Fiscaljahre 1889 mit der Einfuhrsziffer von 643.539 q,
Glas aller Gattungen mit 455.665 q.
Einen wichtigen Artikel bildet auch Leder mit der Durchschnittsziffer von
236.000 q während der letzten drei Jahre.
[960]Der atlantische Ocean.
Im Jahre 1889 wurden ferner nach London importirt an Strohgeflechten
39.516 q und an Seidenfabricaten 10.557 q.
Einer besonderen Besprechung vorbehalten sind die Importe von Petro-
leum, Holz und Kohle, mit deren Beleuchtung die Einfuhrsliste Londons ihren
Abschluss finden soll.
Die Einfuhr von Petroleum belief sich im Jahre 1889 auf 2,030.629 hl
gegen 1,953.617 hl im Jahre 1888 und 1,535.057 hl im Jahre 1887. Von der
Einfuhr des Jahres 1888 stammten etwa drei Fünftel aus der Union, zwei Fünftel
aus Russland; das ist wohl der schlagendste Beweis für das sieghafte Vordringen
des kaukasischen Petroleums.
Der Import von Holz ist dem Verbrauche entsprechend ein sehr beträcht-
licher. Es gelangten zur Einfuhr:
| [...] |
In Stückzahl ausgedrückt, belief sich der Import von Brettern, Latten und
Dielen 1888 auf 29,988.000 Stück, von denen 27,550.000 im Lande verbraucht
wurden. Die grösste Quantität lieferte Norwegen mit Stück 13,791.000, diesem
zunächst stand Schweden mit Stück 8,257.000, der Rest kam aus Russland, Canada
und den Colonien. In gefälltem Holz (Eisenbahnschwellen und Balken) lieferten
Russland und Deutschland drei Viertel des Londoner Bedarfes.
Wir schliessen an die Einfuhr Londons aus dem Auslande die Kohlen an,
welche wie bekannt aus Northumberland und Durham, also aus dem Inlande
hieher gebracht werden.
Der stetig steigende Kohlenverbrauch wird aus nachfolgender Auf-
stellung ersichtlich. Es betrug die Einfuhr in den Jahren:
| [...] |
Legende zu den Dockanlagen an der Themse.
Thames River: A Zufahrt nach London, B Tilbury-Fort, C Tilbury-Docks, D Portland-Cement-Werk,
E Gray’s Kreidesteinbruch, F Leuchtfeuer, G Gaswerke, H Schloss Belmont, J Ammoniakwerk, K Maga-
zine, L Papiermühle, M Asyl für arme Geisteskranke der Stadt London, N Eisenbahnstationen, O Bel-
vedere, P Vitriolwerk, Q Dagenham Breach, R Lawe’s chemische Fabrik, S Hauptentwässerung (nördl.
Abfluss), S1 Hauptentwässerung (südl. Abfluss), T Petroleumwerke, U König Albert-Dock, V Königin
Victoria-Dock, W Ostindische Docks, X Westindische Docks, Y Millwall-Docks, Z Limehouse-Dock. —
1 St. Katherine Docks, 2 London-Docks, 3 Surrey-Commercial-Dock, 4 Surreycaual, 5 Deptford-Creek,
6 Bow-Creek, 7 Barking-Creek, 8 Arsenal, 9 Sternwarte und Park, 10 Hospital, 11 Tunnels, 12 Der Tower,
13 Saint Pauls-Kirche, 14 Westminster-Abtei und Parlament, 15 St. Thomas-Hospital, 16 Towerbrücke,
17 Southwarsbrücke, 18 Blackfriarsbrücke, 19 Waterloobrücke, 20 Charing Cross-Eisenbahn- und Fusssteig-
brücke, 21 Westminsterbrücke, 22 Cannon St. Station, 23 London-Bridge-Station, 24 Ludgate Hill-
Station, 25 Charing Cross-Station, 26 Waterloo-Station, 27 Tramway. — Surrey-Docks: A Lime-
house Dock, B Globe Pond, C Lavender Dock, D Acorn Pond, E Stave Dock, G Russia Dock, H Albion
Dock, J Canada Dock, K Canada Pond, L Centre Pond, M Quebec Pond, N Lady Dock, O Norway Dock
P Greenland Dock, Q South Dock, R Commercial Bassin, S Bassin.
[[961]]
(Legende siehe auf Seite 960.)
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 121
[962]Der atlantische Ocean.
Die Gesammt-Einfuhr von London betrug:
| [...] |
Bei den Zolleinnahmen ist zu bemerken, dass nur wenige Artikel der Ver-
zollung unterliegen.
Die Ausfuhr Londons theilt sich in zwei grosse Gruppen: 1. in den Re-
export von Colonial- und fremden, also zugeführten Producten, und 2. in den
Export von Erzeugnissen des Vereinigten Königreiches.
In der ersten Gruppe steht gleichwie bei der Einfuhr der Quantität nach
Wolle an der Spitze. Es wurden an Schaf- und Lammwolle im Jahre 1889
1,091.733 q gegen 865.178 q im Vorjahre und 866.803 q im Jahre 1887 exportirt.
An zweiter Stelle steht Baumwolle mit 389.785 q im Jahre 1889 und
339.746 q 1888.
Die Ausfuhr von Seide spielt weniger dem Gewichte als dem Werthe nach
eine Rolle. Im Jahre 1889 wurden 540 q an roher und 123 q an gedrehter Seide
exportirt.
An diese schliessen sich Hanf mit 234.095 q und Flachs mit 27.188 q
während des Jahres 1889.
Jute weist in demselben Jahre einen Export von 105.341 t auf.
Der Export an Tabak betrug:
| [...] |
Sehr beträchtlich ist die Ausfuhr an Thee, welche 1889 161.639 q,
1888 172.483 q und 1887 158.596 q aufweist.
Diesem zunächst ist der Export an Gewürzen hervorzuheben; als deren
wichtigste Arten erscheinen Pfeffer 1889 mit 96.592 q, 1888 mit 79.152 q und
1887 mit 88.471 q und Zimmt mit einer jährlichen Durchschnittsmenge von
4.100 q.
Brotfrüchte spielen in der Ausfuhr keine bedeutende Rolle. Der Export
an Weizen und Weizenmehl beläuft sich auf circa 150.000 q jährlich.
Dagegen bilden Reis und Kaffee wichtige Verkehrsartikel. Reis erreichte
im Jahre 1888 die ansehnliche Exportziffer von 516.529 q, um im folgenden Jahre
auf 431.972 q zu sinken. Ebenso weist auch Kaffee im Jahre 1888 eine grössere
Exportmenge, nämlich 351.045 q gegen 298.269 q des Jahres 1889 auf.
Von Cacao wurden 1889 40.217 q ausgeführt.
Der Zuckerexport ist von erheblichem Belang und findet in folgender
Tabelle Ausdruck:
| [...] |
„Provisions“, Früchte, Wein und Spirituosen nehmen auch einen
wesentlichen Theil der Ausfuhr für sich in Anspruch. Die Exportmengen der ein-
zelnen Gruppen gehen aus nachstehenden Tabellen hervor:
| [...] |
Ein weiterer nicht unbedeutender Ausfuhrartikel sind Metalle. Es wurden
| [...] |
Die Ausfuhr von Quecksilber erreichte 1889 14.180 q.
Hervorzuheben sind ferner:
Leder mit 61.996 q im Jahre 1889 gegen 68.356 q im Vorjahre, rohe
Häute mit 180.545 q im Jahre 1889 gegen 196.703 q im Vorjahre;
Talg und Stearin mit 112.126 q im Jahre 1889 gegen 136.996 q im Jahre
1888 und 122.854 q im Jahre 1887;
Droguen mit der Durchschnittsziffer von 6375 q, und
Farben und Farbstoffe mit einer solchen von 25.500 q während der
letzten drei Jahre. An diversen Oelen wurden 1889 42.493 q ausgeführt.
Der Werth der ausgeführten Seidenfabricate belief sich auf 519.296 ₤.
Der Export Londons an Erzeugnissen des Vereinigten König-
reichs macht erst recht die Bedeutung dieser Stadt als Handels- und Hafen-
platz klar. Bei Gegenüberstellung der Ausfuhr Londons zu dem Gesammtexporte
Englands, Schottlands und Irlands findet man, dass derselbe dem Werthe nach mehr
als den fünften Theil aller ausgeführten Waaren umfasst, wobei zu bemerken ist, dass
Liverpool in der Ausfuhr englischer Producte weitaus den ersten Platz einnimmt.
Von dem Reexporte, d. h. der Ausfuhr aus dem Auslande und den Colonien
importirter Producte abgesehen, belief sich der Werth aller aus dem Vereinigten
Königreiche ausgeführten Waaren
- im Jahre 1888 auf 233,733.937 ₤
- „ „ 1887 „ 221,414.186 „
121*
[964]Der atlantische Ocean.
Dagegen repräsentirte der Werth der Londoner Ausfuhr allein an englischen Er-
zeugnissen
- im Jahre 1889 48,251.282 ₤
- „ „ 1888 50,221.258 „
- „ „ 1887 46,023.152 „
Dem Wesen nach umfasst diese Gruppe weit mehr Erzeugnisse des In-
dustrie- und Gewerbefleisses, Fabricate aller Art, als Natur- und Bodenproducte.
Bei der hochentwickelten englischen Textilindustrie ist es denn auch be-
greiflich, dass die in derselben verarbeiteten Waaren dem Werthe nach an der
Spitze stehen. Unter diesen wieder nehmen Baumwollfabricate den ersten
Rang ein. Die Ausfuhr derselben belief sich an Stückwaare
- im Jahre 1889 auf 265.429 m im Werthe von 3,725.867 ₤
- „ „ 1888 „ 3,210.940 „ „ „ „ 4,616.158 „
- „ „ 1887 „ 3,680.755 „ „ „ „ 4,913.391 „
Dazu kommen noch Kleidungsstücke im Werthe von 3,010.607 ₤ im Jahre 1889,
gegen 3,091.589 ₤ im Jahre 1888 und 2,489.886 im Jahre 1887, ferner diverse
andere Baumwollwaaren im Werthe von über 1 Million ₤ jährlich. Schliess-
lich ist noch der Export an Baumwollgarnen hervorzuheben, welcher, wie aus
folgender Tabelle ersichtlich, während des letzten Trienniums sich in ausserordent-
licher Weise verminderte. Derselbe betrug:
- 1889 18.025 q im Werthe von 171.949 ₤
- 1888 65.430 „ „ „ „ 581.628 „
- 1887 90.590 „ „ „ „ 767.931 „
Es folgen nun Schafwollfabricate in nachstehender Zusammenstellung:
- Streichgarnstoffe
- 1889 12,022.610 m im Werthe von 1,107.426 ₤
- 1888 19,274.400 „ „ „ „ 1,638.050 „
- 1887 18,442.800 „ „ „ „ 1,755.700 „
- Kammgarnstoffe
- 1889 21,830.400 „ „ „ „ 1,470.084 „
- 1888 25,226.600 „ „ „ „ 1,486.281 „
- 1887 21,915.600 „ „ „ „ 1,148.639 „
- Flanelle und Teppiche
- 1889 9,069.700 „ „ „ „ 545.153 „
- 1888 11,719.400 „ „ „ „ 693.657 „
- 1887 8,121.700 „ „ „ „ 516.459 „
- Weisswollene Bettdecken
- 1889 790.849 Paar „ „ „ 308.722 „
- 1888 716.788 „ „ „ „ 266.612 „
- 1887 862.804 „ „ „ „ 305.409 „
- Streich- und Kammgarne
- 1889 2.634 q „ „ „ 69.665 „
- 1888 4.164 „ „ „ „ 108.455 „
- 1887 3.705 „ „ „ „ 102.007 „
Diverse im Werthe von 484.628 ₤ im Jahre 1889, 476.290 ₤ im Jahre
1888 und 377.892 ₤ im Jahre 1887. Gesammtwerth der in den letzten 3 Fiscal-
jahren exportirten Wollwaaren 1889 3,985.678 ₤, 1888 4,669.345 ₤, 1887
4,206.106 ₤.
Die nächst wichtige Abtheilung der Textilwaaren bilden die Erzeugnisse
us Jute, wovon ausgeführt wurden an:
- Stückwaaren
- 1889 49,110.682 m für 560.164 ₤
- 1888 43,759.669 „ „ 434.008 „
- 1887 68,541.774 „ „ 613.590 „
- Garnen ....
- 1889 26.111 q für 72.433 ₤
- 1888 28.822 „ „ 64.009 „
- 1887 19.411 „ „ 42.304 „
- Säcken ....
- 1889 1,019.751 Dtzd. „ 235.679 „
- 1888 1,267.432 „ „ 246.798 „
- 1887 1,186.544 „ „ 214.790 „
Der Menge sowohl wie dem Werthe nach geringer ist die Ausfuhr an
Leinenwaaren deren Höhe an nachstehenden Ziffern ersichtlich wird. Die
Ausfuhr erreichte an:
- Stückwaaren
- 1889 15,191.045 m im Werthe von 480.729 ₤
- 1888 18,469.015 „ „ „ „ 552.580 „
- 1887 15,513.870 „ „ „ „ 484.079 „
- Leinengarn ..
- 1889 2.994 q „ „ „ 22.505 „
- 1888 2.891 „ „ „ „ 21.362 „
- 1887 2.804 „ „ „ „ 22.678 „
Dazu kommt noch Leinenzwirn und Diverses im Durchschnittswerthe von
130.000 ₤ während der letzten 3 Jahre.
Den Schluss bilden Seide (gedreht und gesponnen) und Seidenfabricate
aller Art für 420.535 ₤ im Jahre 1889, gegen 506.982 ₤ im vorhergehenden Jahre.
Die zweitwichtigste Gruppe im Exporte Londons für englische Waaren ist
die der Metalle und Metallwaaren, wobei erwähnt zu werden verdient, dass
sowohl hier wie bei Textilwaaren der Export Liverpools ungleich grösser ist. Aus
folgender Tabelle geht die Exportziffer der einzelnen Metallarten hervor:
| [...] |
In Livres-Sterling ausgedrückt betrug der Werth dieser Waaren in den Jahren:
| [...] |
An Papier aller Art finden nahezu zwei Drittel der gesammten englischen
Ausfuhr ihren Weg über London. Von 504.500 q, die das britische Reich im Jahre
1889 exportirte, kamen auf London 316.000 q im Werthe von 1,087.916 ₤.
Noch viel günstiger gestaltet sich das Verhältniss der Ausfuhr Londons zu
der des ganzen Reiches in Cement. Von 641.766 t, die im Jahre 1889 englische
Häfen verliessen, entfielen 562.975 t im Werthe von 1,076.191 ₤ auf London.
Von Kerzen besorgt London mehr als die Hälfte des gesammten briti-
schen Exportes. Letzterer umfasste 1889 57.653 q, hievon verliessen den Londoner
Hafen 34.084 q für 138.296 ₤.
An Leder und Lederwaaren exportirte London in den Jahren
| [...] |
Ziemlich bedeutend ist die Ausfuhr an Bier (Ale), welches im Jahre 1889
die Ziffer von 38.272 t im Werthe von 815.529 ₤ erreichte gegen 44.664 t für
902.591 ₤ des vorhergehenden Jahres.
Die Ausfuhr von Oelsamen belief sich in den letzten Jahren auf
- 1889 347.708 hl für 846.824 ₤
- 1888 347.925 „ „ 830.332 „
- 1887 362.693 „ „ 850.593 „
Den vorbenannten Artikeln schliesst sich eine Reihe verschiedener Fabricate
und Erzeugnisse an, deren Ausfuhrsziffern nach dem Werthe der letzten drei
Jahre nachstehende Tabelle beleuchtet:
| [...] |
Die Bewältigung eines so grossartigen Waarenverkehres, wie er in den vor-
stehenden Zusammenstellungen seinen Ausdruck findet, erfordert naturgemäss ein
Aufgebot entsprechender Verkehrsmittel. So weist denn auch London den grössten
Schiffsverkehr unter allen Häfen der Welt auf. Nach der officiellen Statistik
liefen hier im Jahre 1889 53.535 Schiffe mit 12,882.271 Tons ein und nur 24.512
Schiffe mit 7,560.636 Tons aus, weil bei London jene Schiffe, welche im Küsten-
handel in Ballast auslaufen, nicht verzeichnet werden. Das sind eben meist die
Schiffe, welche Kohlen nach London gebracht haben. Wir geben daher im
Folgenden nur den Verkehr der hier einlaufenden Schiffe:
[967]London.
| [...] |
Es ist selbstverständlich, dass man annähernd den gesammten Schiffsver-
kehr Londons erhält, wenn man die Angaben über die Hauptsumme des Schiffs-
verkehres der einzelnen Jahre verdoppelt.
Nach der englischen Flagge waren 1889 bei den aus dem Auslande und
den britischen Besitzungen einlaufenden Schiffen besonders wichtig folgende
Flaggen: Die niederländische, 1102 Schiffe mit 693.948 Tons, die deutsche,
931 Schiffe mit 528.980 Tons, die norwegische, 848 Schiffe mit 391.370 Tons,
die schwedische, 275 Schiffe mit 179.091 Tons, die dänische, 277 Schiffe mit
115.360 Tons, und die französische, 99 Schiffe mit 103.063 Tons.
Die Handelsmarine von London zählte Ende 1889 1360 Dampfer mit
971.453 Netto-Tons und 1217 Segelschiffe mit 356.273 Netto-Tons, zusammen also
2577 Schiffe mit 1,327.826 Netto-Tons.
Unter den zahlreichen Dampferlinien, deren Station London bildet, sind
die wichtigsten: der Norddeutsche Lloyd, die Nederland-Dampfschiffrhederei,
die Nederland Stoomboot Matschappy, die Britisch African Steamship Co., die
Anchor, die Westcotts und die Halb-Line Hamburg-Londoner Dampfschiffs-
Linie A. Kirsten, ferner die in London selbst domicilirten Anglo Australasian
Steam Navigation Lim., British India Steam Navigation Co., Cape of good
Hope Steamship Co., China Shippers Mutual Steam Navigation, Commercial
Steamship, General Steam Navigation, New Zealand Shipping, Orient Steam
Navigation, Oriental Steamship Co., Peninsular and Oriental Steam Navigation,
Royal Mail Steam Packet Union Steamship Co., Union Steamship of New Zea-
land etc. etc.
Den Verkehr Londons mit allen Theilen Englands und Schottlands ver-
mitteln 11 Eisenbahnlinien, deren Knotenpunkt die Hauptstadt bildet. Die
grösseren dieser Linien sind: die Great Eastern, Great Northern, Great Western,
London and North Western, London and South Western, London Brighton and
South Coast, London Chatham and Dover, die South Eastern- und die Mid-
land Railway.
Entsprechend der Handelsbewegung Londons ist auch sein Geldverkehr.
Mit der Besorgung desselben befassen sich 97 grosse registrirte Bankinstitute
und 69 Bankiers. Die grössere Anzahl der Banken sind der Pflege des Exportes
und Importes mit einem bestimmten Lande gewidmet.
Nirgends hat das Bankwesen eine grössere Ausdehnung erfahren als in
England. Der Grund hiefür mag in dem ausgebildeten Checkwesen liegen, welches
jedem, selbst dem kleinsten Kaufmanne die Verbindung mit einer Bank noth-
[968]Der atlantische Ocean.
wendig macht. An der Spitze aller Banken steht die Bank of England, welche
im Jahre 1694 mit einem Grundcapital von 1,200.000 ₤ errichtet wurde. Gegen-
wärtig beträgt das Capital 14,553.000 ₤ nebst einem Reservefonds von 3,000.000 ₤.
Die Bank of England besorgt die Verwaltung der Staatseinnahmen und Staats-
ausgaben, also auch die Zinszahlung der Staatsschuld, ferner die Prägung der
Goldmünzen; ihre Operationen bestehen in der Discontirung, Annahme von Depositen
in Girogeschäften und dem Ein- und Verkauf von Gold. Ferner seien hier hervor-
gehoben: die London and South Westernbank, mit einem eingezahlten Capital von
400.000 ₤, hat in London nicht weniger als 65 Filialen; die London and County-
bank hat ein eingezahltes Capital von 2,000.000 ₤ und einen Reservefonds von
1,000.000 ₤, mit 39 Londoner Filialen; die London and Westminsterbank mit
einem Capital von 2,800.000 ₤; die London Joint Stockbank (1,800.000 ₤), die
Nationalbank (1,500.000 ₤) und National Provincial Bank of London (2,277.000 ₤).
Eine eigenartige und wichtige Institution bildet das „London Bankers
Clearing House“, gegründet zum Zwecke der bequemeren und rascheren Liqui-
dation der wechselseitig auf die Banken gezogenen Checks. Ein Vertreter jeder
der Gesellschaft angehörigen Bankfirmen findet sich daselbst täglich mit den
Checks ein, die seine Bank besitzt und die auf andere Banken gezogen sind. Die
Listen dieser Checks sind bereits angefertigt, werden rasch collationirt, die Checks
werden wechselseitig ausgetauscht und die restlichen Summen durch Anweisungen
auf die Bank of England im Clearingverkehre beglichen. Die solchermassen im
„Clearing House“ liquidirten oder ausgeglichenen Beträge beliefen sich im Jahre
1889 auf 7,619.000.000 ₤. Wechselcourse notirt London auf fast alle bedeutenden
Handels- und Bankplätze von Deutschland, Frankreich, Italien, Holland, Oester-
reich, der Schweiz, Spanien, Portugal, Dänemark, Russland, ferner auf Calcutta,
Madras, Bombay, Hongkong und Shanghai. Wechseltage für das Ausland sind
Dienstag und Freitag (foreign post days).
In London unterhalten Consulate: Argentinien (G.-C.), Belgien (G.-C.),
Bolivia (G.-C.), Brasilien (G.-C.), Chile (G.-C.), Columbia (G.-C.), Costarica (G.-C.),
Dänemark (G.-C.), Deutsches Reich (G.-C.), Dominikanische Republik (G.-C.),
Ecuador, Frankreich (G.-C.), Griechenland (G.-C.), Guatemala (G.-C.), Haïti,
Hawaii, Honduras (G.-C.), Italien (G.-C.), Japan, Liberia (G.-C.), Madagaskar,
Mexico, Niederlande (G.-C.), Monaco (G.-C.), Nicaragua (G.-C.), Oesterreich-Ungarn
(G.-C.), Oranje-Freistaat, Paraguay (G.-C.), Persien (G.-C.), Peru, Portugal (G.-C.),
Rumänien (G.-C.), Russland (G.-C.), Salvador (G.-C.), Schweden und Norwegen
(G.-C.), Schweiz (G.-C.), Serbien (G.-C.), Siam (G.-C.), Spanien (G.-C.), Süd-
afrikanische Republik (G.-C.), Türkei (G.-C.), Uruguay, Venezuela (G.-C.), Vereinigte
Staaten von Amerika (G.-C.).
[[969]]
Dover.
An der engsten Stelle des englischen Canales, dort wo die
Küsten von England und Frankreich so nahe aneinandertreten, dass
man bei hellem Lichte von der einen aus die andere erblickt, liegt auf
den scharfen, kreidigen Formationen der englischen Küste die Stadt
Dover. Sie ist von altersher berühmt, weil der kürzeste Weg vom
Festlande über Calais nach England führt und man bei gutem Wetter
mittelst moderner Dampfer in einer Stunde die Ueberfahrt zurücklegen
kann. Freilich ist diese Ueberfahrt trotz ihrer Kürze doch auch
übel berufen, denn an jener engen Stelle drängen die Wellen des
Canales gewaltig der Nordsee zu und setzen das Schiff, welches sie
durchqueren muss, in oft gar arge Bewegung. Glücklich darum der
Reisende, welcher ohne dem Meeresgotte seinen Tribut entrichtet
zu haben, wieder festen Boden unter seinen Füssen fühlt. Wie ein
rettender Hort erscheint jedem von der Seekrankheit Gepeinigten
der Landungsdamm von Dover, allwo der Dampfer anlegt und die
Passagiere ausschifft.
Dovers Bedeutung beruht heute nicht so sehr in seiner Handels-
thätigkeit, als in der Vermittlung der grossen Passage von Reisenden.
Dann hat der Punkt bis heute seine strategische Wichtigkeit nicht
nur nicht eingebüsst, sondern er hat eher an Bedeutung gewonnen,
seit die Ausführbarkeit eines Tunnels durch den bausicheren Meeres-
grund nach den Resultaten der Probebohrung über alle Zweifel
erhaben ist und der Ausführung dieses commerziell so wichtigen
Bauwerkes nur militärische Bedenken der Engländer im Wege stehen.
Hier wollte Cäsar, als er im Jahre 54 v. Chr. seine erste Expedition gegen
Britannien unternahm, landen, musste jedoch, weil die Briten in starker Wehr
dort versammelt waren, davon abstehen und eine andere Stelle, bei Deal, zur
Ausschiffung wählen. Daraus folgt, dass schon damals Dover ein bekannter Ort
war. Die Römer erkannten auch sofort nach Eroberung der Insel die Wichtigkeit
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 122
[970]Der atlantische Ocean.
dieses Punktes und legten daselbst Befestigungswerke an, um sich die Verbindung
mit Gallien zu sichern.
Unter den Angelsachsen wuchs Dover zu weiterer Bedeutung empor, und
das römische Castell erweiterte sich durch neue Werke. Das damalige Dover
betrieb schon fleissig Schiffahrt und seine Einwohner waren verpflichtet, dem
Könige über Verlangen Kriegsfahrzeuge zu stellen. Die Normannen legten nicht
minder Wichtigkeit auf den Besitz von Dover und machten aus dessen Schlosse
einen ganz besonders festen Punkt. Von hier aus trat Richard Löwenherz seinen
Kreuzzug an.
Dover ward naturgemäss in die späteren Kriege mit Frankreich vielfach
verwickelt, und seine Fahrzeuge haben in den königlichen Flotten manchen
harten Dienst zu leisten gehabt. Dafür genoss die Stadt aber auch stets der
königlichen Gnade und erwarb sich allerlei Privilegien. Von Dover aus konnte
man auch einen Theil der Kämpfe, welche der stolzen spanischen Armada ihr
furchtbares Ende bereiteten, übersehen und die Stadt hatte auch damals zur
Rüstung des Landes das Ihrige eifrigst beigetragen. Während des grossen Bürger-
krieges im XVII. Jahrhunderte wurde Dover von den Truppen des Parlamentes
behauptet und in seinem Hafen stieg der restaurirte König Karl II. ans Land, um
vom Throne seiner Väter Besitz zu nehmen, hier wurde er vom General Monk
feierlich empfangen.
Dovers Bedeutung als Handelsstadt sank jedoch einerseits durch die
Aenderung der wirtschaftlichen Verhältnisse, welche eine Verlegung der grossen
Centren mit sich brachten, hauptsächlich aber dadurch, dass der Hafen für die
grossen modernen Schiffe zu klein ist, immer mehr, und seine Bedeutung be-
schränkte sich zuletzt darauf, dass es auf dem nächsten Wege vom Festlande nach
London lag, eine Bedeutung, die freilich bei dem im Laufe unseres Jahrhunderts
so ungeheuer gestiegenen Verkehre mit dem Continente kein geringes Gewicht hat.
Betrachten wir nunmehr die Stadt selbst, so muss man den
Hafen, die theilweise auf der Höhe sich hinziehende eigentliche Stadt
und das dieselbe überragende Castell unterscheiden.
Dover besitzt nur einen Fluthafen, d. i. einen Hafen, der nur
bei Hochwasser erreichbar ist. Die Einfahrt in denselben wird durch
den 670 m langen Admiralitätsdamm (Admiralty-Pier) gegen Süd und
West geschützt.
An diesem Damme legen die Postdampfer an besonderen
Landungsstellen an, wo sie von den Gezeiten unabhängig sind.
Zwischen zwei kleineren Dämmen gelangt man von der See her
zunächst in den Aussenhafen (Tidal-Harbour), ein geräumiges, bei
Ebbe äusserst seichtes, fast trocken liegendes Bassin, aus welchem
man durch überbrückte Schleussen-Canäle auf der einen Seite das
bei Fluth 7 m tiefen Granville-Dock, auf der anderen Seite ein eben-
falls ganz geschlossenes Bassin erreicht, welches früher the Pent
genannt wurde, heute aber Wellington-Dock heisst und bei Flut
4·5 m Wassertiefe besitzt.
[971]Dover.
Die Wasserfläche des letzteren beträgt 4·65, jene des Granville
Docks 2·4 ha.
Die Eisenbahnanlagen befinden sich unmittelbar an den Docks,
so dass man vom Schiffe aus sofort die Bahn betreten kann. An der
Aussenseite von Wellington-Dock zieht sich die Esplanade hin, über
welche der Weg zu den höher gelegenen Stadttheilen führt. Der
Admiralty Pier zählt zu den Berühmtheiten von Dover, nicht nur
wegen seiner Construction, sondern auch weil durch denselben das
Landen der Schiffe zu jeder Zeit ermöglicht ist und überdies auf
demselben sich dem Spaziergänger ein ganz wundervolles Bild dar-
bietet. Der Strand von Dover bietet auch gute Seebäder. Die Stadt
zeichnet sich durch ihr gutes Klima aus, welches im Winter weni-
ger rauh und im Sommer frischer als jenes von London ist.
Die Stadt selbst, welche 35.000 Einwohner zählt, hat eine un-
regelmässige Form, bietet jedoch gegen die See zu, wo viele moderne
Häuser entstanden sind, einen ganz stattlichen Anblick dar, während
namentlich im Innern manches Bauwerk aus alter Zeit das Interesse des
Forschers erregt. Meist sind es Kirchen, so die S. Martin’s le Grand,
eine angelsächsische Stiftung, die aber heute nur mehr Reste aus
normannischer Zeit aufzuweisen vermag, ferner S. Martin’s Priory,
gegründet im XII. Jahrhundert durch König Heinrich I. Alt ist auch
die St. Mary-Kirche, deren schon im Domesdaybook gedacht sein
soll; auch noch einige andere Kirchen führen ihre Stiftung in ver-
gangene Jahrhunderte zurück.
Unter den öffentlichen Gebäuden sind das neue, im gothischen
Style gehaltene Stadthaus, das mit guten Sammlungen versehene
Museum sowie das für schiffbrüchige Matrosen gewidmete Seemanns-
haus zu nennen. Dass neugebaute Hôtels vorhanden sind, versteht sich
bei dem Charakter des heutigen Dover als eines der grössten inter-
nationalen Passageplätze von selbst.
Imposant auf den Höhen über der Stadt liegt das alte Castell
mit seinem Mauergürtel und vielen Thürmen, ein Denkmal der Be-
festigungskunst verschiedener Epochen. Massiv hebt sich namentlich
der unter Heinrich II. erbaute Thurm, der sogenannte Keep hervor,
in dem eine interessante Waffensammlung aufgestellt ist. Das Castell
dient auch heute noch zur Vertheidigung von Dover, doch sind in
Verbindung damit und auf noch höher gelegenen Stellen, den soge-
nannten Western Heights, eine Anzahl von modernen Werken angelegt,
welche ihren Ursprung den grossen Franzosenkriegen im Anfange
unseres Jahrhundertes verdanken, die aber auch seither, wo man auf
122*
[972]Der atlantische Ocean.
die Befestigung der britischen Küsten immer mehr Bedacht nahm,
wesentlich verstärkt worden sind und zu den stärksten Positionen
im Königreiche zählen. Von den Western Heights aus beherrscht man
weithin Land und See und geniesst einen schönen Blick auf das
bewegte Bild in der Meerenge, welche das am stärksten befahrene
Gewässer Europas repräsentirt und durch welche sich Tag und Nacht
mehr Schiffe bewegen, als in irgend einer anderen Meeresstrasse der
Welt. Dabei den häufigen Nebeln der Canal eben der starken Frequenz
wegen zugleich eine der gefährlichsten Wasserstrassen der Erde ist,
denkt man daran, besondere internationale seepolizeiliche Vorschriften
für die Durchfahrt zu entwerfen. Im Interesse der Schiffahrt wäre die
baldigste Durchführung dieser Verordnung dringend zu wünschen.
Wenden wir uns der Handelsbewegung Dovers zu, so finden wir, dass der
ganze Handel Dovers für englische Begriffe ein sehr geringer ist und der Import
den Export um ein Bedeutendes überragt
| [...] |
Die Getreideeinfuhr Dovers ist, wenn sie auch der Quantität nach alle
übrigen Artikel übertrifft, eine im Verhältnisse zu anderen Häfen ziemlich geringe.
Man importirte 1889 55.200 qGerste, 19.300 qHafer, 4080 qBohnen und
18.400 q Mais.
Die Einfuhr von Obstsorten umfasste 4287 hl, die von Eiern Gt. Hunds
72014. Unter den Getränken behauptet Wein mit 20.012 hl die erste Stelle.
Die dem Werth nach bedeutendsten Importartikel Dovers sind Woll- und
Seidenfabricate (fast alles aus Frankreich). An ersteren wurden im letzten
Jahre für 1,301.853 ₤, an letzteren für 1,082.321 ₤ eingeführt. Desgleichen er-
zielten Wollgarne einen lebhaften Import, der sich auf 9337 q belief. Schaf-
und Lammwolle verzeichnet eine Einfuhr von 4376 q, Leder eine solche
von 3354 q.
In der Ausfuhr Dovers, für welche nur das Jahr 1889 als Massstab ge-
nommen wird, behaupten dem Werthe nach Textilwaaren den Vorrang. Unter
diesen selbst wieder stehen Seide (gesponnen und gedreht) und Seidenfabri-
cate mit einem Werthe von 230.127 ₤ an der Spitze. Es folgen dann die mannig-
faltigen Fabricate der Wollfabrication in einem Gesammtwerthe von 79.468 ₤, die
Erzeugnisse der Baumwollindustrie inclusive Baumwollgarn im Werthe von
31.710 ₤, und den Schluss machen Leinenwaaren und Garne im Werthe von
11.330 ₤. Die ausgeführten Kleidungsstücke verzeichnen einen Werth von
71.600 ₤.
Unter den anderen Erzeugnissen, die über Dover zur Ausfuhr gelangen, sind
hervorzuheben: Maschinen aller Art (82.577 ₤), Werkzeuge und Messer-
waaren (20.664 ₤), Waffen (12.847 ₤), Putz- und Kurzwaaren (58.452 ₤),
Leder- und Sattlerwaaren (16.250 ₤), Kautschukfabricate (11.960 ₤),
Papierwaaren aller Art (25.797 ₤), gedruckte Bücher (30.713 ₤), Thon- und
[973]Dover.
Porzellanwaaren (26.262 ₤) und alle übrigen Artikel im Gesammtwerthe von
etwa 420.000 ₤.
Der Export Dovers in fremden Producten beschränkt sich der Hauptsache
nach auf Schaf- und Lammwolle, die mit der stattlichen Ziffer von 95.678 q
erscheinen und neben denen nur noch Wein (2801 hl), rohe Seide (136 q) und
Seidenfabricate im Werthe von 20.893 ₤ zu nennen sind.
Dieser geringe Handelsumsatz Dovers zeigt aber, dass der grosse englisch-
französische Handel bequemere Häfen als die ungenügenden Kunsthäfen von Dover
und Calais benützt.
Die Industrie Dovers beschränkt sich auf den Schiffbau.
Dover.
Den Schiffsverkehr Dovers illustrirt folgende Tabelle:
| [...] |
Neben der englischen Flagge ist die französische etwa mit einem Fünftel
der Tonnenzahl an dem Verkehre Dovers betheiligt.
[974]Der atlantische Ocean.
Die Banken von Dover sind die London and County Bank, National and
Provincial B. of England.
In Dover bestehen Consulate folgender Staaten: Belgien, Columbia, Ha-
waii, Liberia.
Westlich von Dover und mit diesem durch den Schienenstrang
verbunden liegt die gegenwärtig 19.000 Einwohner zählende alte
Stadt Folkstone, mit geschütztem Fluthafen und wachsendem See-
verkehr.
Wie nach Margate, Ramsgate und Dover, so richtet sich wäh-
rend der Sommersaison (Juli und August) auch nach Folkstone, der
ungeheure Zug der Londoner Ausflügler und „verlondonert“ die Gegend;
man könnte daher auch auf Folkstone anwenden, was George Elias
von Ramsgate sagt, dass es nämlich „ein zum Luftschöpfen heraus-
gekommener Streifen Londons sei“.
Folkstone wird denn auch als Seebad viel besucht.
Von hier aus verkehren täglich Postdampfer nach Boulogne.
Auch hier zählt der Pier zu den beliebtesten Promenaden, und
gerne werden auch die Lees, die Rasenflächen auf den Kreideklippen,
wegen der prächtigen dort auf die Enge von Dover sich darbietenden
Aussicht besucht.
Nachstehende Tabelle bietet eine Uebersicht über die Handelsbewegung
Folkstones in den abgelaufenen drei Jahren:
| [...] |
Folkstone ist der einzige unter allen englischen Häfen, welcher keine Ge-
treideeinfuhr besitzt. Seine Stärke liegt in der Einfuhr von französischen Seiden-
und Wollfabricaten, welche ihrem Werthe nach mehr als die Hälfte des Ge-
sammtimportes repräsentiren.
Im Jahre 1889 importirte Folkstone Seidenfabricate im Werthe von
2,884.650 ₤, Wollfabricate im Werthe von 4,053.011 ₤, Baumwollfabricate im
Werthe von 444.889 ₤, ausserdem 6541 qWollgarne und 1477 qroher Seide.
Hervorzuheben ist ferner die Einfuhr von Stroh für die Erzeugung von
Hüten und die von Leder.
Nennenswerthe Importartikel sind auch Glaswaaren mit 6796 q und
Papier.
Es wurden 1889 22.196 hlWein bezogen, ferner grössere Mengen von
Fischen, Käse und (Gt. Hunds. 117.505) Eiern.
Der Import von rohem Obste belief sich 1889 auf 35.255 hl.
Der Export Folkstones findet sein Schwergewicht in den Textilerzeug-
nissen, unter denen die Wollfabricate allein mit 1,042.878 ₤ mehr als die
Hälfte des Gesammtwerthes der Ausfuhr von 1889 repräsentirten. Es entfallen
während dieses Jahres auf Wollstoffe 159.925 ₤, auf Kammgarnstoffe
815.504 ₤ und auf Flanelle und Teppiche 64.197 ₤.
[975]Dover.
Die exportirten Baumwollwaaren und -Garne beziffern sich auf 48.415 ₤,
der Werth der ausgeführten Leinenfabricate und Garne auf 113.144 ₤. An
verschiedenen Garnsorten wurden ausgeführt für 11.932 ₤.
Unter den übrigen Exportartikeln sind für das Jahr 1889 hervorzuheben
Felle und Pelzwaaren 90.218 ₤, Leder und Lederwaaren 50.062 ₤, Ma-
schinen aller Art 61.255 ₤, Werkzeuge und Messerschmiedwaaren 14.272 ₤,
Kautschukfabricate 12.953 ₤, Papierwaaren aller Art 19.289 ₤, Maler-
farben und Materialien 12.106 ₤, Hüte aller Art 18.025 ₤, verschiedene Klei-
dungsstücke 11.871 ₤; ferner Nahrungsmittel aller Art für 40.084 ₤ und
alle übrigen Artikel im Gesammtwerthe von circa 335.000 ₤.
Folkstones Schiffsverkehr erklärt folgende Tabelle:
| [...] |
Fast den ganzen Seeverkehr von Folkestone besorgen englische Schiffe.
Unter den nördlich der Themse-Mündung gelegenen Küstenorten
der Grafschaft Suffolk sei hier des etwa 8000 Einwohner zählenden
Städtchens Harwich Erwähnung gethan. Dasselbe liegt an der Aus-
mündung des tief ins Land eingerissenen Stour-Flüsschens und besitzt
einen gut geschützten Kunsthafen, welcher als Kopfstation der täglich
(mit Ausnahme der Sonntage) von Antwerpen und Rotterdam, zweimal
in der Woche von Hamburg anlangenden und dahin abgehenden
Postdampfer von Bedeutung für den grossen Verkehr geworden ist.
Die Route wird nach Antwerpen in 12, nach Rotterdam in 10—11
Stunden zurückgelegt und hat unmittelbar Eisenbahnanschluss nach
London. Harwich ist auch als Seebad viel besucht.
Der Aussenhandel von Harwich wird durch nachfolgende Tabelle ver-
anschaulicht:
| [...] |
Dem Werthe nach der bedeutendste Importartikel sind Seidenfabricate,
deren Einfuhr sich im Jahre 1889 auf 2,268.807 ₤ bezifferte. Diesen zunächst
stehen Wollfabricate im Werthe von 1,459.166 ₤ und Baumwollfabricate im
Werthe von 890.390 ₤.
Die nächstwichtige Importgruppe ist die der Nahrungsmittel, deren
einzelne wichtigere Artikel während der letzten drei Jahre folgende Mengen
aufweisen:
[976]Der atlantische Ocean.
| [...] |
Die Einfuhr der verschiedenen Getreidearten umfasste im Jahre 1889
31.649 q Weizen, 62.319 q Gerste und 182.866 q Mais.
Der Import von Früchten belief sich im gleichen Jahre auf 91.190 hl
roher Obstsorten incl. Aepfel.
Aus der Liste der übrigen Importartikel des Jahres 1889 sind noch zu
nennen 557.936 Dtzd. Paar Handschuhe und 55.079 q Glaswaaren.
In der Ausfuhr nationaler Erzeugnisse umfassen auch hier Textilwaaren
mehr als ein Dritttheil des Gesammtwerthes. Im Jahre 1889 wurden aus Harwich
exportirt:
- Wollfabricate und Garne . . . . . im Werthe von 936.785 ₤
- Baumwollwaaren und Garne . . . „ „ „ 508.033 „
- Seidenfabricate . . . . . . . . . . . „ „ „ 17.243 „
Im Anschlusse hieran ist zu erwähnen der Export von Kleidungsstücken
im Werthe von 55.024 ₤ und von Hüten aller Art im Werthe von 71.546 ₤.
Einen lebhaften Export verzeichnen Leder und Lederwaaren, und zwar
Leder in unverarbeitetem Zustande im Werthe von 179.828 ₤, Schuhwaaren im
Werthe von 41.883 ₤ und Sattlerwaaren im Werthe von 8512 ₤.
Maschinen bilden einen wichtigen Artikel für den Export. Ihr Werth be
lief sich 1889 auf 117.977 ₤. Die Ausfuhr von Metallwaaren aller Art erreichte
die Summe von 68.885 ₤ und die exportirten Werkzeuge und Messerschmiedwaaren
84.315 ₤.
Unter den übrigen im letzten Jahre exportirten Artikeln seien in der
Reihenfolge ihres Werthes hervorgehoben:
Kautschukfabricate für 107.061 ₤, Malerfarben und Materialien für 29.184 ₤,
gedruckte Bücher für 23.172 ₤, Papier aller Art für 28.509 ₤, chemische Fabricate
für 22.176 ₤, Thon- und Porzellanwaaren für 19.437 ₤, Kurz- und Putzwaaren für
18.420 ₤; ferner Fische und Häringe im Werthe von 38.805 ₤ und Oelsamen im
Werthe von 26.765 ₤; alle anderen nicht speciell benannten Artikel erreichten
zusammen einen Werth von circa 670.000 ₤.
In der Ausfuhr der ausländischen Producte ist Wolle der weitaus bedeu-
tendste Exportartikel, so 1889 mit der beträchtlichen Menge von 77.643 q.
Der Schiffsverkehr von Harwich hat sich in den letzten Jahren wegen
des starken Reiseverkehres riesig gehoben und betrug:
| [...] |
A Einfahrt. B Südford Battery, C Imperial-Hôtel, D Castle-Street, E St. Mariakirche, F Leucht-
feuer, G Market-Platz, H Townwall Street, J Gasometer, K Northampton Street, L Drop Battery,
M Wellington, N Granville, O Eisenbahn-Sta., P Lord Warden-Hôtel, Q Eisenbahn-Station, R Kent
Artillerie, S Hospital, T Capelle, U North Military-Road, V Christkirche, W St. John’s Thurm,
X St. James-Kirche, Z Officiersquartier.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 123
[978]Der atlantische Ocean.
Im Innern der Einbuchtung hat sich an der Mündung des Orwell-
flüsschens die Stadt Ipswich, Hauptstadt von Suffolk gelagert, die
(1881) 51.000 Einwohner zählte, aber im Seeverkehre eine nur
secundäre Rolle spielt.
Wichtiger ist das an der Ostspitze von Norfolk gelegene
Yarmouth, an der Mündung der Yare, ein aufblühender Hafenplatz
mit 40.000 Einwohnern und Knotenpunkt mehrerer Eisenbahnen.
Bedeutend ist die dort und in dem benachbarten Lowestoft be-
triebene Häringfischerei, und es geniessen die „Yarmouth Bloaters“
oder Bücklinge eines guten Rufes.
Auch als Seebad ist die Stadt viel besucht.
[[979]]
Hull.
Am Zusammenflusse von Humber und Hull unter 53° 45′ nördl.
Br. und 0° 18′ westl. L. v. Gr. liegt die Stadt Kingston upon Hull,
kurzweg Hull genannt, welche in Beziehung auf ihre commerziell-
maritime Bedeutung zu den ersten Plätzen des Vereinigten Königreiches
zählt. Der Humber ist ein kurzer, aber sehr ansehnlicher Fluss, welcher
aus der allmäligen Vereinigung vieler Gewässer entsteht und sich dann
majestätisch in die Nordsee ergiesst. Flussaufwärts ungefähr 30 km
ober der Mündung kommt von Norden der Fluss Hull, und in dem
Winkel, welchen dieser viel kleinere Fluss mit dem Humber bildet,
lag schon von altersher eine ansehnliche städtische Siedelung, der Kern
des heutigen Hull.
Die Geschichte von Hull reicht weit zurück ins ferne Mittelalter. Jeden-
falls wird dieser Stadt als eines organisirten und mit municipalen Rechten
ausgestatteten Gemeinwesens unter König Eduard I. sichere Erwähnung gethan.
Seither hat Hull, in der Grafschaft York gelegen, eine ziemlich bedeutende Rolle
in der Geschichte des Landes gespielt und galt bis zum Ende des XVII. Jahr-
hunderts als fester, schwer bezwingbarer Platz, dessen Besitz für die Herrschaft
im nordöstlichen England stets von Wichtigkeit war.
Namentlich im Kriege der beiden Rosen hatte Hull manche Stürme zu be-
stehen, und nicht minder war es lebhaft an dem grossen Kampfe zwischen Karl I.
und dem Parlamente betheiligt, in welchem es fest auf Seite des letzteren stand.
Zum letztenmale spielte sich noch im Jahre 1688 in dieser Stadt eine historische
Tragödie ab. Der katholisch gesinnte Gouverneur, welcher Jakob II. anhing, wurde
von den protestantischen Officieren und ihren gesinnungsverwandten Bürgern über-
wältigt, um die Stadt für Wilhelm von Oranien zu sichern.
War Hull aber auch ein fester Platz, so hinderte dies doch keineswegs,
dass dessen Bewohner die Gunst ihrer Lage wohl ausnützten und sich stets dem
Handel und der Schiffahrt mit Eifer widmeten. Der Hullfluss gewährte den
Schiffen eine sichere Liegestätte und diente Jahrhunderte als Hafen. Die alte
Stadt ward im Osten durch diesen Fluss begrenzt, während ringsum starke Mauern
mit einzelnen Kernvesten sich ausdehnten, welche die Stadt gegen Westen in
jener Strecke begrenzten, wo sich heute der Queen-Dock und dessen beide süd-
lichen Nachbarn befinden.
123*
[980]Der atlantische Ocean.
Es war also eine enge, düstere Stadt wie die meisten britischen Orte
früherer Zeit. Erst der grosse Aufschwung, welchen Hull seit dem Beginn des
XVII. Jahrhunderts nahm, der durch die andauernd friedlichen Verhältnisse im
Innern des Landes unterstützt wurde, trieb von selbst nach einer Erweiterung
des Weichbildes, und diese Erweiterung vollzog sich ausserhalb der Stadtmauern
in der Richtung gegen Westen und Nordosten und ward um so intensiver, als
man endlich auch die letzten Reste der alten Umwallung beseitigte.
Heute stellt sich Hull mit mehr als 160.000 Einwohnern als
eine ganz moderne, stattliche Stadt dar, welche in zwei Theile zerfällt,
nämlich in die alte Stadt zwischen dem Flusse Hull auf der einen
und den früher erwähnten Docks auf der anderen Seite, dann in die
viel grösseren neuen Quartiere, welche sich in weitem Bogen um jenen
alten Kern vom Hull bis an das Ufer des Humber erstrecken, und
endlich haben wir die Uferstrecke am Humber selbst, wo namentlich
eine Reihe von Docksanlagen unsere Aufmerksamkeit fesselt.
In Hull spielt das Seewesen eine sehr grosse Rolle, nicht allein
durch den Betrieb der Schiffahrt, sondern auch durch die Schiffbauin-
dustrie. Man war hier schon gegen den Ausgang des vorigen Jahrhunderts
zu eifrigst bemüht, jene Anlagen zu schaffen, welche für den leichteren
Betrieb der Schiffahrt sich als wichtig darstellten. Heute besitzt
Hull, wie unser Plan zeigt, nicht weniger als neun Docks mit einem
Areal von 59 ha. Das älteste Dock, heute Queens-Dock genannt,
stammt aus dem Jahre 1779. Bis dahin gab es, ähnlich wie in London,
einige Quais am Hull, während die meisten Schiffe ihre Ladung auf
Lichtern löschen mussten und im Flusse selbst lagen. Trotz allen
Drängens der Zollverwaltung auf Besserung dieser Verhältnisse konnte
man sich in der Stadt doch nicht zu einer Reform entschliessen, zum
Theil aus ähnlichen Gründen wie in London, weil man in dem rechts-
starren England eben an gewissen Monopolen zu rütteln nicht Muth
und Lust hatte. Erst nach langen Differenzen gelang die Gründung
einer Dockgesellschaft, welche das vorher erwähnte Dock im Westen
der alten Stadt anlegte, das seine Zufahrt vom Hullflusse aus hat.
Dreissig Jahre später erbaute man sodann ebenfalls an Stelle der
alten Wälle, jedoch näher dem Humber zu, das Humber-Dock, welches
von jenem grösseren Flusse aus zugänglich ist, und wieder nach
zwanzig Jahren schob man zwischen diese beiden Anlagen ein
drittes, das Prince-Dock ein, durch welches die Umgürtung der alten
Stadt mit Docks ihren Abschluss fand. Vom Humber-Dock und senk-
recht zu demselben zieht sich westlich das Eisenbahn-Dock hin,
welches man errichtete, um die Verbindung der Schiffe mit dem
Eisenbahnnetze zu erleichtern.
[981]Hull.
Die neueren Docks ziehen sich durchwegs längs des linken
Humberufers selbst hin und sind, vom Oberlaufe des Flusses an
gerechnet, zunächst das St. Andrews-Docks, dann das William-Wright-
Dock, welches eigentlich eine Art von Annex zu dem grossen, lang-
gestreckten Albert-Dock bildet. Unterhalb der Mündung des Hull in
den Humber liegt das Victoria-Dock, zu dem zwei kleinere Vorhäfen
führen und welches tiefer im Lande gelegen ist; in Verbindung mit
diesem stehen zwei Trockendocks. Endlich noch weiter abwärts finden
Hull.
wir das erst 1885 vollendete, jüngste und grösste, das Alexandra-Dock
mit einer Wasserfläche von 18 ha und 8·2 m Tiefe der Einfahrt bei
Hochwasser.
Das Alexandra-Dock hat eine ganz regelmässige Form, und sind
in demselben vier Molen behufs Vermehrung der Liegeplätze eingebaut.
Die Docks sind mit grossen Magazinen in Verbindung und namentlich
jene, welche in jüngerer Zeit errichtet wurden, mit den heute unent-
behrlichen maschinellen Einrichtungen, hydraulischen Krahnen u. dgl.
versehen.
[982]Der atlantische Ocean.
Auch verfügt es über zwei Trockendocks für Ausbesserung von
Schiffen.
Es ist sicher ein Vortheil für Hull, dass seine Docks durch die
topographische Situation der Stadt sich so günstig entwickeln konnten
und dass man namentlich in der Lage war, längs des Humbers den
Schiffen gute und gesicherte Plätze zu bieten.
Was nun die Waaren anbelangt, welche in den Docks von Hull
manipulirt werden, so ist das St. Andrews-Dock für den Fischhandel
bestimmt, welcher in Hull im grössten Style betrieben wird. In diesem
Dock geschieht die weitere Zubereitung und Verpackung der Fischerei-
producte, und die in der Nähe befindliche grosse Fabrik künstlichen
Eises liefert hiezu ihr Materiale. Das William-Wright-Dock dient für
Getreide. Dasselbe ist zunächst auch im Albert-Dock der Fall, welches
für diesen Zweck auch Speicher besitzt. Auch befindet sich an diesem
Dock ein grosser Viehhof, da Hull starken Import von Vieh aus
dem nördlichen Europa betreibt. Im Victoria-Dock laufen hauptsäch-
lich Schiffe ein, die Bauholz, Salpeter und Guano geladen haben. Sehr
bedeutend sind daselbst die Räumlichkeiten für die Lagerung von
Guano. Auch in Verbindung mit dem Victoria-Dock steht ein sehr
grosser Viehhof mit Schlächterei.
Was die älteren Docks anbelangt, so wird Queens-Dock vor-
zugsweise für Holzladungen und für Dampfer mit gemischter Ladung
verwendet; im Prince-Dock liegen meist Schiffe, welche im Verkehr
mit Deutschland, Holland und im Küstenhandel beschäftigt sind; das
Eisenbahn-Dock dient namentlich den nach dem Nordwesten Europas
verkehrenden Dampfern der Wilson-Linie, deren Rheder zu den
ersten von Hull zählen und über eine grosse auf mehrfachen Linien
verwendete Flotte verfügen. Was endlich das Humber-Dock anbelangt,
so wird dieses vor Allem für den Verkehr mit den holländischen
Häfen benützt, und kommen dort auch grosse Quantitäten von fremden
Früchten, einem starken Zweige des Huller Handels, zur Lagerung.
Hull ist also ein sehr gut ausgerüsteter Seeplatz, in dem der
Handel des nordöstlichen England sein hauptsächlichstes Thor zur
See besitzt. Die Stadt nimmt an demselben mit einer eigenen ansehn-
lichen Handelsflotte von 835 Schiffen mit zusammen 220.923 Netto-
Tons (1889) theil. Mit den übrigen Theilen des Landes ist Hull
durch drei Eisenbahnlinien in guter und reger Verbindung.
Werfen wir nun einen Blick in das Innere der Stadt, so finden wir
zwar nichts von sonderlicher Bedeutung, aber immerhin einige ganz statt-
liche Bauten, welche öffentlichen oder gemeinnützigen Zwecken dienen.
[983]Hull.
Bemerkenswerth sind in der alten Stadt die Dreifaltigkeitskirche,
von welcher einzelne Theile dem XIII. Jahrhundert entstammen, das
Börsegebäude und eine sehr grosse und schöne Markthalle neben
einigen anderen Gebäuden, die nur ihrer geschichtlichen Vergangenheit
wegen Interesse besitzen. In den neuen Stadttheilen fällt uns neben
mehreren Kirchenbauten namentlich das grosse Seemannshaus, das
Waisenhaus, welches zum grossen Theile gleichfalls den Hinterlassenen
von Seeleuten gewidmet ist, dann das erst in den letzten Jahren voll-
endete grossartige Bauwerk des Royal Infirmary sowie das ebenfalls
neue Royal Theatre ins Auge. Hull verfügt auch, namentlich an seiner
Peripherie, über einige ausgedehnte Parkanlagen. Im Ganzen gewinnt
man den Eindruck, dass man sich in einer Stadt von grosser Reg-
samkeit befindet, deren wirtschaftliches Leben auf einer festen und
breiten Unterlage steht und welche über Bedingungen verfügt, die
noch einer grossen Entwicklung fähig sind und eine glänzende
Zukunft im Anschlusse an eine rastlos thätige Vergangenheit ver-
sprechen.
Die Zufahrt nach Hull bietet unter normalen Verhältnissen
keinerlei Schwierigkeiten, zumal die Gezeiten eine kräftige Ebb- und
Flutströmung hervorbringen. Die Springflut erhebt den Wasserstand
an der Mündung bei Spurn Point um 5·6 m und in Hull sogar um
6·3 m über den Ebbstand.
Vor der buchtenartig eingerissenen 8 km breiten Humber-Mündung
ist das Leuchtschiff „Spurn“ verankert, und zwei andere Leuchtschiffe
liegen im Flusse selbst, dessen Fahrwasser gut betonnt wurde.
Wenden wir uns dem eigentlichen Handel zu, so müssen wir vor Allem
erwähnen, dass Hull der Haupthafen des nordöstlichen England ist und nament-
lich den Verkehr mit dem Norden Europas vermittelt. Dem Werthe der Einfuhr
und Ausfuhr nach ist es der drittgrösste Hafenplatz Englands. Der Import und
Export Hulls während der letzten fünf Jahre geht aus nachstehender Tabelle
hervor:
| [...] |
Aus dieser Zusammenstellung ergibt sich, dass der Importwerth Hulls seit
zwei Jahren um mehr als 6 Millionen Livres Sterling zugenommen hat.
Den bedeutendsten Importartikel bildet Getreide, dessen Einfuhr seit
dem Jahre 1887 erhebliche Steigerung aufweist. Die Getreideeinfuhr Hulls während
der letzten drei Jahre war folgende:
[984]Der atlantische Ocean.
| [...] |
Eine wichtige Rolle in der Einfuhr Hulls spielen ferner „Provisions“,
deren Menge folgende Tabelle enthält:
| [...] |
Hieran reiht sich die Einfuhr von Eiern mit 338.025 Gt. Hunds. im letzten
Jahre. In der gleichen Periode wurden ferner importirt 10.100 qKorinthen,
2.200 qRosinen, 231.107 hlOrangen und Citronen, 132.306 hl roher Aepfel
und 54.487 hl diversen Obstes.
Der zweitwichtigste Artikel ist Zucker mit einer Einfuhrsmenge von
559.200 q im Jahre 1889, gegen 461.100 q des Vorjahres.
Die Einfuhr von Wein und Spirituosen weist im Fiscaljahre 1889
folgende Mengen auf: Wein 9561 hl, Rum 609 hl, Branntwein 1625 hl, Wachholder-
branntwein 283 hl und andere unversüsste Spirituosen 680 hl.
Aus der Importliste des Jahres 1889 verdient noch hervorgehoben zu
werden die Einfuhr der verschiedenen Oele, und zwar Thran mit 2199 t, Olivenöl
mit 6194 t, Palmöl mit 665 q und Oelsamen mit 4399 t. Den Oelen reihen
sich Oelsamenkuchen mit 21.158 t an.
Talg und Stearin wird mit 34.827 q veranschlagt.
Die Einfuhr an Wolle hat sich während der letzten Jahre mehr als ver-
doppelt. Sie betrug 1887 97.477 q, 1888 schon 110.254 q und hob sich im Jahre
1889 auf 202.691 q. Hier sei gleich der Import an Wollgarn in der Höhe von
12.559 q im Jahre 1889 angeführt.
An roher Baumwolle wurden eingeführt 1889 237.800 q, 1888 194.200 q,
1887 174.500 q.
Der Import an Flachs beziffert sich für das Jahr 1889 auf 39.800 q, der
an Hanf auf 132.400 q, Flachs und Leinsamen auf 104.095 q und Rübsen
auf 20.299 q.
Eine Erhöhung machte sich während des letzten Trienniums bei der Ein-
fuhr von Holz bemerkbar. Während 1887 an gefälltem Holz 171.500 m3 und an
zersägtem und gespaltenem 506.800 m3 eingeführt wurden, zeigt der Import des
[[985]]
A Einfahrt, B Anlegeplatz, C Rhede von Hull, D Prince-Dock, E Humber-Dock, G Albert-Dock, H Wm. Wright-Dock, J St. Andrews-Dock, K Hessle-Road,
L Anlaby Rd., M botanischer Garten, N Friedhof, O Bahnhof, P Prospect St, Q Town-Hall, R Old Harbour, S South Bridge Road, T Hedon Rd., U Holderness Rd.,
V Beverley Rd., W Waterloo Street, X Gefängniss, Y Bauholz Bassin Nr. 1, Z Bauholz-Bassin Nr. 2. — 1 heilige Dreieinigkeitskirche, 2 St. James-Kirche,
3 St. Stephans-Kirche, 4 St. Peters-Kirche.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 124
[986]Der atlantische Ocean.
Jahres 1889 in den respectiven Gruppen 229.500 m3 und 650.100 m3. Mahagoni-
holz stieg von 193 t im Jahre 1887 auf 1005 t im vorigen Jahre.
Die Einfuhr von Lumpen und anderen Materialien zur Papierfabrication
beläuft sich auf 54.706 t.
Unter den Düngemitteln stehen Phosphate von Kalk mit 15.339 t
an der Spitze, während diverse andere sich in die Ziffer von 9968 t theilen.
Salpeter erreichte im Vorjahre die Importziffer von 65.600 q.
Leder verzeichnet einen Import von 15.652 q gegen 12.650 q im vorher-
gehenden Jahre.
Einen hohen Antheil an der Einfuhrsbewegung Hulls nehmen Metalle.
Die wichtigsten derselben sind nach der Statistik der letzten drei Jahre:
| [...] |
Betrachten wir nun den Export englischer Erzeugnisse, so finden wir die
Fabricate der Textilwaarenindustrie in hervorragender Weise vertreten. An erster
Stelle sowohl der Quantität als dem Werthe nach stehen die Erzeugnisse der
Baumwollindustrie, dann folgen die Woll- und Kammgarnfabricate und an
diese reiht sich die Jute- und Leinenindustrie. Die Exportbewegung der wich-
tigsten Abtheilungen der ganzen Gruppe während der beiden letzten Jahre soll
in nachstehender Tabelle veranschaulicht werden:
| [...] |
[987]Hull.
Ferner belief sich der Export an Wolle 1889 auf 18.400 q im Werthe von
221.642 ₤ und 1888 auf 17.900 q für 213.133 ₤.
Die nächstwichtige und umfangreiche Exportgruppe sind Maschinen und
Metalle. An Maschinen exportirte Hull im Jahre 1889 für 2,674.420 ₤, im
Jahre 1888 für 2,224.201 ₤ und 1887 für 1,881.613 ₤.
| [...] |
Von Bedeutung ist noch der Export von Steinkohle und Coaks, welcher
sich 1889 auf 1,002.993 t im Werthe von 489.744 ₤ und 1888 auf 821.320 t im
Werthe von 367.017 ₤ belief.
Alkalien exportirte Hull im Jahre 1889 85.900 q für 51.919 ₤, ferner
chemische Erzeugnisse inclusive Farbstoffe für 223.008 ₤, Malerfarben
für 100.967 ₤, chemische Düngmittel für 173.955 ₤, Oelsamen für 275.609 ₤,
Kautschuk für 132.000 ₤, Leder unverarbeitet für 205.194 ₤.
Unter den verschiedenen Fabricaten sind noch hervorzuheben: Steingut und
Porzellanwaaren für 52.803 ₤, Putz- und Modewaaren für 35.492 ₤, Glas
für 23.563 ₤, Hüte für 29.735 ₤, Pelzwaaren im Werthe von 36.771 ₤ und
Kleider im Werthe von 18.716 ₤. Die nicht namentlich angeführten Artikel
repräsentirten einen Werth von circa 1,800.000 ₤.
Hiemit wäre die Exportliste der inländischen Erzeugnisse erschöpft, und
wir wenden uns nunmehr dem Reexporte, der Ausfuhr importirter Producte zu.
Der Quantität nach die wichtigsten sind Baumwolle, Wolle, Zucker und Leder.
So belief sich der Export von roher Baumwolle im Jahre 1889 auf
401.000 q gegen 307.800 q des vorhergehenden Jahres.
An Wolle exportirte Hull 1889 60.600 q, 1888 40.100 q, an Flachs
1889 10.200 q und an Hanf 8700 q.
Der Export von Zucker erreichte 1889 die Ziffer von 74.000 q Melasse,
3400 q raffinirtem Zucker und Candis und 1100 q unraffinirtem.
Hervorzuheben sind ferner noch aus den Exportlisten des Jahres 1889:
Talg und Stearin mit 26.600 q, Schinken und Speck mit 53.900 q, Butter
mit 5638 q und Schmalz mit 37.900 q.
Das Gewicht der ausgeführten rohen Häute belief sich auf 11.700 q, das
des Leders auf 14.600 q.
Rohmetalle spielen in der Ausfuhr keine Rolle, zu erwähnen ist nur
Kupfer mit 25.800 t.
Hull besitzt grössere industrielle Anstalten, namentlich für Maschinenbau
und Schiffsbau. Die Herstellung von Oel und Oelkuchen wird fabriksmässig be-
trieben und beschäftigt nahezu 1200 Arbeiter. Es bestehen daselbst ferner mehrere
Baumwollfabriken und Eisenwerke.
Die Schiffahrtsbewegung Hulls, und zwar Ein- und Auslauf zusammenge-
nommen, geht aus folgender Zusammenstellung hervor.
124*
[988]Der atlantische Ocean.
| [...] |
Neben der britischen Flagge sind nur die deutsche, die norwegische und
die schwedische von einiger Wichtigkeit.
Hull hat regelmässige Dampfschiffsverbindung mit Antwerpen, Rotterdam,
Bremerhaven und Hamburg. Im auswärtigen Handel hat es den stärksten Verkehr
nach New-York, auf dieses folgen Hamburg und Odessa. Die Handelsmarine
von Hull umfasste Ende 1889 835 Schiffe mit 220.923 Netto-Tons und eine
Fischerflotte von 34.850 Tons.
An Bankinstituten sind hervorzuheben: die Filiale der Bank of England,
die Hull Banking Co. und die London and Yorkshire Banking Co.
In Hull unterhalten Consulate: Argentinien, Belgien, Costarica, Däne-
mark (G.-C.), Deutsches Reich, Ecuador, Hawaii, Liberia, Niederlande, Russland,
Vereinigte Staaten von Amerika.
In demselben Verkehrsgebiete wie Hull liegen Grimsby, im
Südosten von Hull am rechten Ufer des Humber, und Goole, westlich
von Hull an der Ouse. In ihrer Ein- und Ausfuhr finden wir daher
genau dieselben Waaren wie in Hull.
Der Handel von Grimsby erreichte 1889 in der Einfuhr 5,774.833 ₤, in
der Ausfuhr einheimischer Erzeugnisse 7,492.169 ₤ und in der Ausfuhr fremder
Waaren 79.893 ₤.
Der Hafen hat regelmässige Dampfschiffverbindungen nach Antwerpen,
Rotterdam und Hamburg, auch läuft ihn die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-
Actiengesellschaft auf ihrer Linie nach Colon an. Der Seeverkehr erreichte 1889
3449 Schiffe mit 1,404.704 Tons. Die Fischerflotte dieses Hafens (55.755 t) ist
nahezu so gross wie seine Handelsflotte.
Für Goole wird 1889 die Einfuhr mit 4,803.911 ₤, die Ausfuhr ein-
heimischer Waaren mit 7,492.169 ₤, die fremder Waaren mit 260.256 ₤ angegeben.
Der Seeverkehr betrug in demselben Jahre 4955 Schiffe mit 1,216.218 Tons. Der
Platz hat regelmässige Dampferverbindung nach Antwerpen.
[[989]]
Newcastle.
An der Tynemündung liegt der grosse Kohlenhafen Newcastle,
welcher einen Centralpunkt nicht nur für den grossartig betriebenen
Kohlenhandel, sondern auch für die eben auf den Kohlenreichthum
der Gegend basirte Industrie bildet. Längs des ganzen Tyneflusses hat
sich auf einer Erstreckung von 30 km ein unendlich reges gewerb-
liches Leben entwickelt, welches den Fluss als Hauptader des Ver-
kehres benützt.
Der Tyne spielt in der englischen Geschichte eine grosse Rolle, und ebenso
reicht der Name von Newcastle weit in die Zeiten des Mittelalters zurück. Die
Römer legten im I. Jahrhundert unserer Zeitrechnung eine Reihe von Befesti-
gungen von der Tynemündung bis zu jener des Solway an, und ein derartiges
Castell befand sich an Stelle unserer heutigen Stadt. Es führte den Namen Pons
Aelii, weil es unter dem Schutze einer Brücke über den Fluss lag. Dort war da-
mals die Grenze zwischen dem römischen Britannien und dem Lande der Scoten.
Nach dem Abzuge der Römer kam es an jener Grenze zu mannigfachen Kämpfen
zwischen den Briten und ihren Nachbarn, und auch die [angelsächsischen] Herrscher
mussten oftmals am Tyne im Heereszuge erscheinen. Pons Aelii scheint verfallen
zu sein, doch wird von einer römischen Siedelung in der Nähe berichtet. Die
Normannen haben die Wichtigkeit des Tyneflusses richtig erkannt, und des Eroberers
Sohn Robert, Rufus zubenannt, legte ein festes Castell am linken Ufer an, welches
zum Grenzschutze diente. Unter König Heinrich II. ward dieses Castell umge-
baut oder durch ein neues ersetzt, und von diesem Neubau rührt der Name der
heutigen Stadt her. Anlehnend an dieses Normannencastell, welches in seinem
Donjon heute noch erhalten ist, entstand eine städtische Niederlassung, der jedoch
wenig freundliche Tage beschieden waren. In den vielen Schottenkriegen unter den
drei ersten Eduards gab es um Newcastle kriegerisches Getümmel mehr als genug,
und auch im XVII. Jahrhunderte, während der Parlamentskriege, sah die in-
zwischen angewachsene Stadt viele schwere Kämpfe. Aber trotz dieser Stürme
lenkte sich doch die Aufmerksamkeit der Bürger auf die Schätze, die von der
Natur in ihrer Landschaft geboten waren, und Kohlen wie Eisen gaben ihnen Be-
schäftigung und ihrem Handel Nahrung. Dass die Verhältnisse unseres Jahrhun-
derts gerade für diese Artikel den Antrieb zu einem besonderen Aufschwunge dar-
boten, liegt auf der Hand und bedarf keiner besonderen Nachweisung.
[990]Der atlantische Ocean.
Newcastle als Stadt war lange Zeit durch enge Mauern einge-
engt, die freilich einstens zur ofterprobten Schutzwehr gedient hatten,
jedoch in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts dem nothwendigen
Drange nach Expansion weichen mussten. Um den alten Kern setzte sich
eine neue Stadt an, welche an Ausdehnung bald ihre ältere Schwester
übertraf. Newcastle, welches im Ausgange des vorigen Jahrhundert nicht
viel über 30.000 Einwohner zählte, hat nunmehr mit Einschluss von
Gateshead, der auf dem südlichen Ufer des Flusses gelegenen, be-
deutenden Vorstadt, die stattliche Ziffer von 230.000 erreicht.
Newcastle verdankt diese unerhörte Blüthe, wie so viele andere
Städte Englands, der Kohle. Obwohl schon im Jahre 1325 von einem
Schiffe berichtet wird, welches Kohlenhandel nach Frankreich getrieben
hat, und dann wieder aus dem Jahre 1600, dass zahlreiche Schiffe
nach London abgingen, um die Metropole mit diesem Brennstoffe zu
versehen, so fällt die grosse Entwicklung doch erst in das laufende Jahr-
hundert, wo die wahre Bedeutung der schwarzen Diamanten für In-
dustrie, Schiffahrt, Handel und Technik zum Durchbruche kam. Hier
wie in ganz Britannien begegnen wir überall, wo Grosses ge-
schaffen wird, der Kohle. Am Tyne hat sich ein mächtiges industrielles
Leben entwickelt, welches nicht nur in Newcastle selbst, sondern auch
in den beiden an der Mündung gelegenen Orten North- und South-
Shields reich pulsirt und auch noch bei Tynemouth, zugleich einem
gut besuchten Badeorte, zur Erscheinung gelangt.
Die Stadt Newcastle selbst weist, wie wir schon erwähnt haben,
zunächst als besondere Sehenswürdigkeit das alte Normannenschloss
auf, das noch gut erhalten ist und als Typus damaliger Bauart gelten
kann. Freilich bietet heute der Ausblick von dessen Thurme ein ganz
anderes Bild als in den Zeiten, wo man von dort aus den oft be-
drohten Uebergang über den Tyne bewachte. Ueberall, soweit das
Auge reicht, Bilder der regsten friedlichen Thätigkeit, Häuser, indu-
strielle Anlagen und Schiffahrt. Kriegslärm und Angst vor räuberischen
Nachbarn ist längst dem Pusten der Maschinen gewichen. In dem
alten Stadttheile finden wir auch noch manche Gebäude, die uns
wenigstens gestatten, ein Bild zu entwerfen, wie es wohl in der Ver-
gangenheit hier ausgesehen haben mag, so die aus dem XIV. Jahr-
hundert stammende St. Nikolauskirche, deren Anfänge jedoch in
ältere Zeiten zurückreichen, ohne dass darüber volle Bestimmtheit
herrscht, ferner das Gebäude, welches noch vom Kloster der Black
Friars erhalten ist, Cunningham House u. dgl. Dagegen haben die
neuen Stadttheile einen ganz modernen Anstrich. Es sei hier erwähnt,
[991]Newcastle.
dass sich namentlich um die bauliche Entwicklung Newcastles der
Ingenieur Richard Grainger grosse Verdienste erwarb, welcher von
den Dreissigerjahren an eine eifrige Bauthätigkeit als Unternehmer
entfaltete und durch seine Energie und unermüdliches Streben im
Interesse seiner Vaterstadt nicht wenig zu deren entsprechender Er-
weiterung beitrug. Von ihm wurden auch mehrere öffentliche Bau-
werke von Bedeutung zur Ausführung gebracht, so das Theatre Royal,
die öffentliche Bibliothek, das Gebäude der naturwissenschaftlichen
Gesellschaft, die Town Hall (Stadthaus), dann die Central-Eisenbahn-
station. Einen recht stattlichen Anblick gewähren ferner die durch viele
hübsche Privathäuser gezierte Gray-Street und die Grainger-Street, letz-
tere zur Erinnerung an den vielverdienten Baumeister so benannt. New-
castle besitzt auch eine Reihe von wohlthätigen Anstalten, namentlich auf
dem Gebiete des Krankenwesens, wie dort auch nicht minder wissenschaft-
liche Bestrebungen trotz der vorwiegend commerziellen und industriellen
Interessen platzgegriffen und zur Errichtung einiger bemerkenswerther
Institute geführt haben, von denen wir nur die Alterthumsgesellschaft
erwähnen, welcher die Stadt und Umgebung erwünschten Stoff zu
Forschungen darbietet.
Die Hauptlebensader der Stadt bildet jedoch ganz unstreitig der
Fluss; am Tyne, woselbst sich in ununterbrochener Reihe Anlagen
hinziehen, welche der Industrie und dem Verkehre dienen, pulsirt das
geschäftliche Leben des Platzes. Der Tyne, welcher durch den Zu-
sammenfluss des North-Tyne und des South-Tyne bei Hexham sich
bildet, hat lange Zeit durch seine natürliche Beschaffenheit der
Schiffahrt viel Schwierigkeiten geboten, bis man durch eine im gross-
artigen Style angelegte Regulirung desselben dieser Umstände Herr
wurde und den Fluss den Anforderungen des Verkehres vollkommen
dienstbar machte. Die Tyne-Regulirung zählt zu den bedeutendsten
Wasserbauten in England und wurde, wie es bei ähnlichen solchen
Arbeiten auch sonst in England beliebt ist, durch eine eigene mit
administrativen Rechten ausgestattete Commission (board) zu Wege
gebracht, der auch die Verwaltung des Hafens übertragen ist.
Eigentliche Hafenanlagen finden sich der felsigen Ufer wegen
verhältnissmässig wenige, und diese sind zusammengedrängt. Unterhalb
der über den Fluss führenden Brücken befindet sich der einzige Quai, über
den man verfügt. Er ist 1355 m lang und mit Krahnen, Eisenbahn-
geleisen und einigen Schuppen ausgestattet. Auch befindet sich nahe
demselben ein grosser Getreidespeicher. Der Transport des Getreides
geschieht mittelst zweier Elevatoren, so dass es über die Strasse und
[992]Der atlantische Ocean.
Eisenbahn hinweggehoben werden kann. In den drei Docksanlagen,
welche jedoch unterhalb der Stadt näher zur Flussmündung gelegen
sind, vollzieht sich der grossartige Kohlenexport von Newcastle, auf
welchen wir zurückkommen werden.
Werfen wir nun einen Blick auf den Tyne am westlichen Ende
der Stadt und verfolgen wir dessen Lauf abwärts, so finden wir vor
Allem noch oberhalb der über den Fluss führenden drei Brücken,
am linken Ufer die grossen Etablissements von Armstrong, Mitchell
\& Comp., welche einen Weltruf erlangt haben und in denen ausser
Eisenconstructionen aller Art auch Geschütze vom leichtesten Kaliber
bis zu den schwersten Schiffsstücken erzeugt werden. Der Haupt-
erzeugungsort für letztere ist in dem nahen Elswick, wo ebenso wie
in Low-Walker die Firma auch über Werften verfügt, die für den
Bau grosser Panzerschiffe eingerichtet sind.
Von den erwähnten Brücken ist die niedrigere eine Drehbrücke;
die beiden anderen überspannen den Fluss aber in Höhen von
26·5 m und 36·5 m, so dass sie der Schiffahrt nicht hinderlich sind.
An beiden Ufern, auch unterhalb der eigentlichen Stadt, folgen
nun verschiedene andere Etablissements für Maschinen- und Schiffbau,
von denen wir nur die Werke von Stephenson \& Comp., Howthorn,
Leslie \& Comp., Wood \& Skinner, Wigham, Richardson \& Son,
Palmer hervorheben; das letztere erzeugt jetzt auch schwere Geschütze.
Diese Etablissements, dann Fabriken für Glas, Chamottesteine und
Chemikalien beleben die Ufer des Flusses, auf welchem selbst fort
und fort Schiffe verkehren oder ihre Operationen vornehmen. Unter-
halb der Stadt gelangen wir sodann zu den drei vorhandenen Docks-
anlagen.
Von diesen Docks liegen zwei (das Northumberland- und das
Albert Eduard-Dock) am Nordufer und gehören der schon vorher
erwähnten Tyne-Commission, während das am Südufer befindliche
Tyne-Dock Eigenthum der North Eastern Railway ist. Das Northum-
berland-Dock wurde in den Fünfzigerjahren aus einer Einbuch-
tung des Flusses hergestellt, hat eine Wasserfläche von 22 ha und
eine Quailänge von 1150 m. Die Tiefe im grossen Bassin beträgt
8·2 m, an der Einfahrt aber nur 7·3 m. In dem Dock befinden sich
einige kleinere Molen. Kleiner an Umfang, nämlich nur 9·6 ha gross,
jedoch für Schiffe von grösstem Tiefgange (9·1 m Wassertiefe) zugäng-
lich, ist das 1885 vollendete Albert Eduard-Dock, an das sich Lager-
plätze, namentlich für Holz und Erze, in ziemlich bedeutender Aus-
dehnung anschliessen. Das am Südufer befindliche Tyne-Dock mit
[993]Newcastle.
7·3 m Wassertiefe ist mit ausserordentlich vollkommenen Einrichtungen
zur Kohlenverladung versehen. Es kommen verschiedene Systeme zur
Anwendung, einmal jenes der sogenannten „spouts“, Schuttrinnen, wobei
die Kohlen aus dem Boden der Waggons in eine geneigte Schuttrinne
fallen und von dieser direct in die Schiffslucke geleitet werden, ferner
die sogenannten „tips“, d. i. Kipprinnen, indem der Wagen, welcher
auf einer Plattform steht, gehoben, um eine horizontale Achse gekippt
und aus der Kopfklappe entleert wird. Ferner wendet man das
Newcastle.
Krahnsystem, „drops“, an, bei welchem die Wagen durch einen Krahn
oder krahnartigen Ausleger vom Ufer bis über die Luke des Schiffes
geschwenkt und dort entweder mit ihren Bodenklappen direct oder
mit Kopfklappen nach vorherigem Kippen entleert werden, und endlich
gibt es die sogenannten „boxes“, bei denen die Kohlen in besonderen,
auf Wagengestellen befindlichen Kasten herangefahren und diese mit
Bodenklappen versehenen Kasten in die Schiffsluke gesenkt werden.
Im Tyne-Dock ist namentlich das Spoutsystem hochentwickelt.
Es sind im Ganzen 40 Spouts vorhanden, die auf 4 Molen angebracht
sind und durch welche in der Woche 100.000—120.000 t Kohle zur
Verschiffung gelangen können. Durch das Spoutssystem kann ein Schiff
binnen zwei Stunden 1000 t Kohle einnehmen.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 125
[994]Der atlantische Ocean.
Ausser den Kohlenvorkehrungen verfügt man im genannten Dock
auch über zwei sehr grosse und zweckmässig eingerichtete Getreide-
speicher.
Die beiden nahe der Flussmündung gelegenen Orte North-
Shields und South-Shields, jener nördlich, dieser südlich des
Flusses, in denen der Schiffbau auch viele Hände beschäftigt, haben
ihrer hohen Lage wegen keinerlei Quaianlagen. Unmittelbar an der
Mündung befindet sich das als Badeort beliebte Tynemouth,
welches, wie unser Plan zeigt, durch zwei gewaltige Molen geschützt
wird. Die Zufahrt von der See aus bietet heute keinerlei Schwierig-
keiten mehr. Die einstens vor der Mündung gelegene Barre wurde,
wie erwähnt, durch die Flussregulirung beseitigt, und das 4·2 m an-
steigende Hochwasser gestattet selbst den grössten Schiffen die
Navigation im Fluss. Die Tynemündung besitzt weit sichtbare Leucht-
feuer, von welchen das eigentliche Tynefeuer unter 55° 1′ nördl. Br.
und 1° 25′ westl. L. v. Gr. liegt.
So stellt sich uns der Tynefluss als einer jener kurzen an der
Mündung wasserreichen Flüsse dar, mit welchen das wirtschaftliche
Leben Englands enge verknüpft ist und von denen aus nach allen
Seiten Verbindungen regster Art ausgehen. Newcastle und Cardiff
stehen unter dem Zeichen der Kohle, und bei dem Umstande, dass sie
nicht nur mit den reichsten, sondern auch mit den qualitativ besten
Kohlenlagern gesegnet sind, dürfte ihre Bedeutung und fernere Ent-
wicklung solange gesichert sein, als überhaupt dieser Brennstoff eine
Grundbedingung unseres ganzen heutigen ökonomischen Lebens bildet.
Bevor wir auf die einzelnen Phasen der Handelsbewegung Newcastles
eingehen, wollen wir dessen Gesammtverkehr der letzten drei Jahre tabellarisch
darstellen. Import sowohl wie Export haben während dieses Zeitraumes eine
erhebliche Steigerung erfahren. So belief sich der
| [...] |
Den grössten Theil des Importes nimmt die reichhaltige Gruppe der verschie-
denen Nahrungsmittel in Anspruch. Innerhalb dieser selbst stehen die Getreide-
arten an der Spitze, diesen folgen die mannigfaltigen „Provisions“ und Früchte.
| [...] |
An anderen Lebensmitteln importirte Newcastle
| [...] |
Den „Provisions“ schliesst sich an der Import an Zwiebeln mit 51.927 hl
im Jahre 1889 und der von rohen Gemüsen im Werthe von 10.537 ₤.
An diversen Früchten importirte Newcastle 1889 4500 q Korinthen, ferner
13.519 hl Orangen und Citronen, 65.888 hl roher Aepfel und 42.455 hl anderer
Obstsorten.
Die Einfuhr lebender Thiere aus Norwegen, Schweden und Dänemark
zeigt eine ziemliche Steigerung gegen die früheren Jahre. Sie belief sich 1889
auf 84.539 Stück Ochsen, Kühe und Kälber, gegen 71.517 Stück des Jahres 1888;
ferner 1889 auf 104.682 Schafe und Lämmer gegen 57.196 Stück im Vorjahre.
Der Import von Zucker belief sich 1889 auf 116.100 q, 1888 auf 79.900 q,
1887 auf 67.100 q.
Wichtig und von grosser Bedeutung ist der Import an Metallen, von denen
besonders hervorzuheben sind:
| [...] |
Ansehnliche Importziffern weist Petroleum auf mit 54.284 hl im Jahre 1889,
45.427 hl im vorhergehenden und 53.079 hl im Jahre 1887.
Hervorzuheben ist ferner die Einfuhr von Düngemitteln und Salpeter,
letztere in der Höhe von 31.100 q. Die Einfuhr von Glas jeder Art erreichte
8900 q.
Am Schlusse der Importliste Newcastles ist Holz und Bauholz anzuführen,
dessen Import während der abgelaufenen drei Jahre folgender war:
| [...] |
Bei Betrachtung der Ausfuhr Newcastles finden wir, dass der Werth eines
einzigen Exportartikels dem aller übrigen zusammengenommen gleichkommt. Es
ist dies Kohle, welche auch Newcastle den Charakter als Kohlenausfuhrshafen
aufprägt. In dem Exporte von Kohle, der sich übrigens von Jahr zu Jahr erheb-
lich steigert wird Newcastle nur von Cardiff übertroffen. Die Ausfuhr belief sich:
- 1889 auf 5,174.273 t im Werthe von 2,246.825 ₤ (Ges.-Ausfuhrw. 4,560.000 ₤)
- 1888 „ 4,860.113 t „ „ „ 1,776.782 „
- 1887 „ 3,904.889 t „ „ „ 1,437.114 „
125*
[996]Der atlantische Ocean.
Newcastle versorgt ausser Nordeuropa auch London mit Kohlen, so dass
die Gesammtausfuhr des Hafens 1889 9,222.000 t erreichte.
Dieser zunächst steht die Ausfuhr an Metallen und Metallwaaren, von
welchen die wichtigsten die nachstehende Tabelle aufzählt:
| [...] |
Dazu kommen Maschinen im Werthe von 175.843 ₤ 1889 und von
293.139 ₤ 1888, ferner Waffen und Munition für 248.538 ₤ im Jahre 1889
gegen 262.781 ₤ im Jahre 1888.
Alkali bildet einen wichtigen Exportartikel Newcastles, welches 1889
711.460 t im Werthe von 147.609 ₤, 1888 921.923 t im Werthe von 164.574 ₤
und im Jahre 1887 sogar 1,198.547 t im Werthe von 199.905 ₤ ausführte.
Cement erreichte im letzten Jahre die Ausfuhrsmenge von 30.029 t für
57.013 ₤ gegen 40.888 t im Werthe von 71.680 ₤ des Jahres 1888.
Ferner wurden im Fiscaljahre 1889 exportirt 15.749 q chemische Dünge-
mittel im Werthe von 56.037 ₤, chemische Producte und Präparate für 40.204 ₤
und Malerfarben für 80.644 ₤.
Der Export an verschiedenen Erzeugnissen der Textilwaarenindustrie ist
ein verhältnissmässig nicht umfangreicher; zu nennen sind Baumwollgarne für
56.617 ₤, Baumwollfabricate für 35.494 ₤ und Woll- und Kammgarne für 24.998 ₤.
Der Werth der im vorigen Jahre exportirten Pelzwaaren belief sich auf
22.633 ₤, der von Leder und Lederwaaren auf 15.462 ₤.
Zu erwähnen sind schliesslich noch Steingut- und Porzellanwaaren für
15.074 ₤ und Glaswaaren für 12.711 ₤.
Als Ergänzung des Handels von Newcastle sei hier kurz der ganz gleich-
artige Gesammtverkehr North-Shields und South-Shields erwähnt, welche
1889 in der Einfuhr 908.485 ₤ und in der Ausfuhr nationaler Producte
1,300.939 ₤ betrug.
Da von der Industrie der Tyne-Häfen, so nennt man Newcastle, North-
Shields und South-Shields zusammen, der Schiffbau von hervorragender inter-
nationaler Bedeutung ist, so sei ihm auch hier eine besondere Betrachtung ge-
widmet. Es wurden 1889 auf den Werften dieses Districtes vier Segelschiffe mit
zusammen 811 Netto-Tons und 152 Dampfer mit zusammen 177.644 Netto-Tons
oder 275.824 Brutto-Tons gebaut.
Ende 1889 besassen die Tyne-Häfen zusammen eine Handelsflotte von
825 Schiffen, meist Dampfern, mit zusammen 399.206 Netto-Tons.
Legende zum Plan von Newcastle.
A Einfahrt, B Castell, C spanische Batterie, D Collingwood-Monument, E Percy Square, F Leuchtfeuer,
G Master Mariners Asyl, H Fort Cliftord, J Dockwray Square, K Northumberland Square, L Shipping
Jetties (Molo), M Lead-Works, N Bassin, O Schleussenkammer (Bassin), O1 Tyne Commissioners-
Eisenbahn, P Landungsplatz, R Market-Platz, S Union-Arbeitshaus, T Küstenwache-Station, U Master
Mariners Asyl, V Correctionshaus, W Ballast-Quai, X Einfahrtsschleusse, Y Waggoustand, Z Werfte,
Z1 Whitehill-Spitze. — 1 Trinity-Kirche. 2 St. Stephens-Kirche, 3 St. Hilda-Kirche, 4 St. Hilda-Collegium
5 Trinity-Kirche, 6 Eisenbahnstation.
[[997]]
(Legende siehe auf Seite 996.)
[998]Der atlantische Ocean.
Der Schiffsverkehr der Tyne-Häfen hatte folgenden Umfang:
| [...] |
Regelmässige Dampferlinien bestehen nach Antwerpen, Rotterdam und
Hamburg.
Neben der britischen Flagge sind im Auslandsverkehre der Tyne-Häfen (1889)
besonders wichtig die norwegische (587.929 t), die deutsche (551.071 t), die dänische
(467.641 t), die schwedische (273.111 t) und die spanische Flagge (121.650 t).
An Banken sind zu nennen die Filiale der Bank of England, die National
Provincial Bank of England und die Northern Counties Bank.
In Newcastle unterhalten Consulate: Argentinien, Deutsches Reich,
Frankreich, Hawaii, Liberia, Niederlande, Portugal, Spanien, Türkei, Vereinigte
Staaten von Amerika.
Kohle, Eisen und Schiffbau sind auch die charakteristischen
Merkmale von Sunderland, Hartlepool und Middlesborough,
die im Süden von Newcastle liegen.
Zunächst treffen wir an der Mündung des Wear-River die Stadt Sunder-
land, deren Werften 1869 4 Segelschiffe mit zusammen 4467 Netto-Tons und
96 Dampfer mit zusammen 133.352 Netto-Tons oder 204.088 Brutto-Tons ver-
liessen. Auch die Maschinenindustrie ist bedeutend.
Von hier wurden 1889 im Ganzen 4,187.200 t Kohle und ferner grössere
Mengen von Kalk, Cement, Eisen und Flaschen verschifft, Getreide, Holz und
Erze eingeführt.
In diesem Hafen waren Ende 1889 309 Fahrzeuge, meist Dampfer, mit
142.471 Netto-Tons registrirt, und der Schiffsverkehr erreichte 1889 16.450 Fahr-
zeage mit 5,307.308 t.
In Hartlepool, das 1889 eine Einfuhr von 1,997.299 ₤, eine nationale
Ausfuhr von 1,003.799 ₤ ausweist, wurden in demselben Jahre 40 Dampfer mit
53.682 Netto-Tons oder 84.219 Brutto-Tons erbaut.
Die Hauptartikel der Einfuhr sind Getreide (244.046 q), Früchte, Eier,
raffinirter Zucker (75.600 q) und Hölzer (589.754 m3), die der Ausfuhr Kohle und
Eisen. Der Schiffsverkehr umfasste 1889 6067 Fahrzeuge mit 1,750.341 Tons, die
Handelsmarine Ende 1889 290 Schiffe mit 288.051 Netto-Tons.
Middlesborough, an der Mündung des Tens, ist der Hafen des North-
Riding von Yorkshire, der die berühmten Clevenland-Erze liefert, und der Mittel-
punkt einer grossen Anzahl von Bergwerken, Eisen- und Stahlwerken, Giessereien,
Maschinenbauanstalten und einer ansehnlichen Salzindustrie.
Verarbeitetes Eisen und Stahl bilden den Haupttheil der Ausfuhr, die 1889
3,422.024 ₤ erreichte, Eisenerze die Hauptmenge der Einfuhr von 988.337 ₤.
Der Schiffsverkehr desselben Jahres betrug 7023 Fahrzeuge mit 2,906.760 Tons.
[[999]]
Edinburgh-Leith.
Ein romantischer Schimmer ruht auf Schottland, das sich vor
uns jetzt mit seinen tiefeingeschnittenen Buchten, seinen pittoresken
Bergformen, mit seinen Denkmälern und altehrwürdigen Gebräuchen
erhebt, wo Sage und Geschichte von buntbewegten, oftmals auch
recht wilden Zeitläuften erzählen und das durch die meisterhaften
Erzählungen Walter Scott’s, des grossen Lobredners seines Vaterlandes,
uns mehr als durch irgend einen anderen Umstand nahe gebracht wurde.
Freilich im heutigen Schottland merkt man kaum mehr etwas von
der originellen Nationaltracht in Kilt und Plaid, man wird nur mehr
durch einzelne Namen an die einst so strenge und stramme Clan-
Organisation, an jene in Leid und Freud opfervoll und treu zu einander
haltenden Geschlechter erinnert, und man findet sich auch hier umgeben
von einer hochentwickelten, im steten Fortschritte begriffenen Cultur.
Nur oben im Hochlande kann man noch für Augenblicke vergessen,
dass die Zeiten der Romantik vorbei sind.
Schottland ist trotz seines gebirgigen Charakters ein von der Natur
schon an die See gewiesenes Land. Ueberall drängt sich die See tief
herein, so dass es keinen Fluss im Lande gibt, dessen Quelle mehr
als 100 km vom Meere entfernt wäre. Der felsige und schroffe
Charakter des Gebirges veranlasst jene schönen scharfeingerahmten,
meist langgezogenen Buchten, welche so viel Aehnlichkeit mit den
norwegischen Fjorden haben und der Landschaft einen ebenso eigen-
thümlichen als reizvollen Charakter verleihen, einen Charakter aber,
bei dem ein ernstes und bisweilen sogar düsteres Wesen überwiegt.
Eine der bedeutendsten dieser Buchten, für welche der Name Firth
landläufig ist und die, an der Südostküste gelegen, weniger noch das
Hochlandsgepräge tragen, ist der Firth of Forth, in dessen west-
lichem Hintergrunde die Hauptstadt Schottlands, Edinburgh, und
deren Hafen Leith liegen. Beide Orte sind zwar selbständige Muni-
cipien, hängen jedoch untereinander schon durch den Umstand enge
[1000]Der atlantische Ocean.
zusammen, dass Edinburgh nur durch die Vermittlung von Leith den
Verkehr mit der See erhalten kann.
Der Firth of Forth ist an seiner östlichen Einfahrt, von der
See her, zwischen Cap Fifeness und dem Leuchtfeuer von North
Beowick von stattlicher Breite (26 km). An der Einfahrt liegt die
felsige May-Insel, welche ein Leuchtfeuer trägt. Gegen Westen
verengt sich der Firth allmälig, so dass er dort, wo Leith am süd-
lichen Ufer sich befindet, kaum mehr 10 km Breite besitzt. Um den
ganzen Firth ziehen sich viele Niederlassungen hin, auch wird der-
selbe in seiner ganzen Ausdehnung von Eisenbahnlinien umsäumt;
ja im Hintergrunde der Bucht erregt ein Wunderwerk moderner
Technik, die grosse Eisenbahn-Forthbrücke, unsere ganz besondere
Aufmerksamkeit. Diese Brücke gehört der North-British-Bahn; sie
übersetzt die Bucht 13 km westlich von Leith bei Newhalls nächst
Queensferry, wurde von den Ingenieuren Fowler und Baker erbaut
und im Frühjahr 1890 mit besonderer Feierlichkeit eröffnet. Die den
Firth überspannende Brücke hat die Länge von etwa 2 km und ist
an beiden Enden und in der Mitte von gewaltigen Pfeilern getragen,
welche 520 m von einander abstehen und so hoch sind, dass unter
dieser gewaltigen Spannung der Schiffsverkehr unbeanständet statt-
finden kann. Es wurden zu deren Construction, welche 3 Millionen
Livres Sterling kostete, 50.000 t Stahl verwendet, und man arbeitete
im Ganzen volle sieben Jahre, ehe sie dem Verkehre übergeben werden
konnte. Durch diese Brücke wird eine bedeutende Wegabkürzung
erzielt, weil die Bahn den Umweg um den Hintergrund des Firth
herum in Ersparung bringt.
Wenn man von der See kommt, so fesselt zunächst Leith,
heute der wichtigste Hafen an der Ostküste von Schottland, unsere
Aufmerksamkeit.
Die Geschichte von Leith reicht ins frühe Mittelalter zurück, das noch
ältere Edinburgh hatte eben das Bedürfniss nach einem Hafen. Schon im XI. Jahr-
hundert wird des Ortes Erwähnung gethan, im XIV. Jahrhundert wird schon
dessen Hafen in Urkunden hervorgehoben, und seither hat sich derselbe stets in
bedeutender Stellung erhalten. In den Zeiten des grossen Krieges mit Karl I. war
Leith auch stark befestigt gewesen, nachdem es schon früher unter der katholischen
Maria eine mehrmonatliche Belagerung seitens der protestantischen Schotten hatte
aushalten müssen.
Leith ist heute als Hafen sehr gut ausgestattet, besitzt, wie
unser Plan zeigt, zwei den Hafen umschliessende lange Dämme, von
denen der eine 1070 m, der andere 946 m lang ist und welche den
Einwohnern ausser zu commerziellen Zwecken auch als beliebte
[1001]Edinburgh-Leith.
Promenaden dienen. Ferner sind mehrere Docks vorhanden, worunter
das Victoria-, das Albert- und das Edinburgh-Dock besonders er-
wähnenswerth sind; das letzte Dock wurde erst in allerjüngster Zeit
vollendet und weist zwei sehr schöne Bassins von 11, beziehungsweise
16 ha Wasserfläche auf. Westlich von Leith wurden, wie unser Plan
zeigt, mehrere Hafenanlagen geschaffen, welche untereinander und mit
Edinburgh durch Eisenbahnen verbunden sind. Die bedeutendste und
die Docks von Leith weit an Flächenraum überbietende Anlage ist
jene von Granton.
Leith.
Die Navigationsverhältnisse von Leith sind nicht ungünstig,
wenngleich der Firth of Forth durch ausgedehnte Barrenbildungen
eingeengt wird. Doch führen tiefe Fahrstrassen hindurch. Die Springflut
erreicht bei Leith 5 m Höhe und gestattet daher die Zufahrt selbst
grosser Schiffe in die Docks.
Der Verkehr von Leith dreht sich hauptsächlich um Stahl,
Kohlen, Spirituosen, Gewebe und Garne in der Ausfuhr, und Getreide,
Holz und Zucker in der Einfuhr. Auch wird von Leith aus ein ansehn-
licher Küstenhandel betrieben und ebenso ist man daselbst immer
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 126
[1002]Der atlantische Ocean.
noch rüstig im Schiffbau. Die Stadt selbst, welche 77.000 Einwohner
zählt, scheidet sich, wie so viele Städte des Vereinigten Königreiches,
in den alten und den neuen Theil. Ersterer ist eng und düster,
während die neuen Stadtquartiere einen freundlichen Eindruck machen
und zumeist breit gehalten sind.
Zu den Sehenswürdigkeiten von Leith zählt die aus dem
XV. Jahrhundert stammende Kirche von St. Mary, die Kornbörse, ein
grosses Clublocale und das Zollamt. Nahe bei Leith liegt die alte
Kirche von Restalrig mit vielen werthvollen Antiquitäten.
Von Leith nach Edinburgh gelangt man auf der Eisenbahn
in einigen Minuten.
Ist nun Leith der eigentliche Geschäftsort, so vereinigt Edin-
burgh durch seine Lage, durch seine Bauten, durch den ganzen
Charakter seiner Anlage so viele Reize in sich, dass man es schon
oftmals mit Athen verglichen hat. Edinburgh, in der Grafschaft Midlo-
thian, liegt auf einem hügeligen Terrain und entwickelt sich, hiedurch
begünstigt, in malerischer Anlage, der die bergige Umgebung als
weiterer Hintergrund dient. Auch diese Stadt zerfällt in zwei von
einander wesentlich abweichende Theile, von denen die alte Stadt
ebenso pittoresk als regellos erscheint, wie die neue Stadt breit und
gleichmässig angelegt ist. Die alte Stadt nimmt den südlichen Theil
ein und kennzeichnet sich durch drei besonders hervorragende Punkte,
nämlich durch das alte Schloss, The Castle schlechthin, durch Calton
Hill und durch Holyrood. Die Scheidelinie zwischen der alten und
der neuen Stadt bildet die Princes-Street.
Wenden wir uns nun zunächst in die alte Stadt, so drängt sich uns eine
Fülle historischer Erinnerungen auf. Denn ihr Bestand reicht in altersgraue
Zeiten zurück. Sie gehörte einst zu dem Königreiche Northumbria und fiel erst im
XI. Jahrhundert an das schottische Reich. Die schottischen Könige verlegten dann
bald ihre Residenz dahin, da schon die fortwährenden Differenzen mit England
diesen Punkt als besonders geeignet gelegen erscheinen liessen. In den vielfachen
inneren und äusseren Kämpfen, welche das ganze Mittelalter hindurch Schottland
mehr oder minder in Athem hielten, war Edinburgh oftmals betheiligt und sah in
seinen Mauern stolze Könige und übermüthige Vasallen und auch die siegreichen
Engländer. Namentlich unter den späteren Stuarts stieg Edinburghs Bedeutung als
Königssitz, und als die Schotten sich mit vollem Eifer in die Reformation stürzten,
da ging von dieser Stadt die strenge Richtung der Puritaner aus, und dort war
deren festeste Burg. In Edinburgh hat Maria Stuart ihre besten Zeiten verbracht,
aber auch die Wende ihres Schicksales anbrechen sehen, in Edinburgh ward der
Covenant gebildet, welcher nicht am wenigsten dazu beitrug, um einem anderen
Stuart, Karl I., Thron und Leben zu rauben, und so rollen sich bewegte Bilder
bei Betrachtung dieser Stadt auf. War deren Geschichte bis zur Mitte des
[1003]Edinburgh-Leith.
XVII. Jahrhunderts stürmisch und oft auch blutig, so erfreut es sich seither
einer ruhigen und gesegneten Entwicklung.
Heute ist Edinburgh eine Stadt, welche sich namentlich auch
durch viele wissenschaftliche und Unterrichts-Anstalten auszeichnet,
weil das geistige Leben in Edinburgh ein sehr bedeutendes ist,
weshalb auch der Buchhandel mit allen ihm verwandten Industrien
hier eine grosse Rolle spielt. Wie in ganz Schottland, so äussert sich
in Edinburgh auch der tüchtige, praktische Sinn der Schotten ge-
paart mit den idealen Bestrebungen, welchem ein strenger kirchlicher,
aus den Anschauungen des Puritanismus hervorgewachsener Geist
entspricht.
Im Osten der alten Stadt fesselt uns das schon erwähnte
alte Schloss, welches auf einer von drei Seiten unzugänglichen Anhöhe
liegt. Hier war eine Burg der northumbrischen Könige; heute ist es
ein Bauwerk, welches aus verschiedenen Epochen stammt und sich
als ein formloser Complex darstellt, zu dem man über enge Zug-
brücken und durch einen runden plumpen Thurm gelangt. Im Innern
umfasst das Edinburgher Schloss den eigentlichen Palast mit der
Parlamentshalle, Kasernen für Truppen und Magazine. Im Palaste
werden noch heute in einem eigenen Raume die Kroninsignien von
Schottland aufbewahrt. Von den Wällen des alten Schlosses geniesst
man schöne Ausblicke auf die Stadt. Von der Höhe, welche das
Schloss trägt, führt abwärts die in alten Zeiten hauptsächlich von
schottischen Adeligen bewohnte High-Street und in deren Verlängerung
Canon-Gate in ziemlich gerader Linie bis zu dem im Osten der alten
Stadt gelegenen Holyrood, dem namentlich seit Schiller und Scott
weltbekannten königlichen Schlosse. Holyrood ward ursprünglich
vom Könige David I. anlässlich seiner Lebensrettung auf der Jagd
als Abtei gegründet, in welcher jedoch schon vorübergehend die
Herrscher ihre Residenz nahmen. In den Kriegen mit den Engländern
im XVI. Jahrhundert wurde bei einer Landung der letzteren Holyrood
grösstentheils verbrannt, infolge dieser Katastrophe jedoch neu her-
gestellt. Später hatte das Schloss noch einmal die Schrecknisse einer
grossen Feuersbrunst zu bestehen, so dass dessen heutige Gestalt aus
der Zeit Karl’s II. stammt. Es sind jedoch viele der älteren Theile
wohl erhalten, und gilt dies namentlich auch von jenen Gemächern,
die von Maria Stuart bewohnt waren und in denen sich einige be-
sonders ergreifende Episoden schottischer Geschichte abspielten.
Holyrood hat eine sehr regelmässige Form mit einem grossen Hofe
im Innern und einer an der einen Ecke angebauten Kirche. In dem
126*
[1004]Der atlantische Ocean.
thurmartigen Vorsprunge zur linken Hand vom Haupteingange befinden
sich die Appartements der Königin Maria Stuart, heute noch auch
ihrer Einrichtung nach unversehrt erhalten. Hier zeigt man uns den
Raum, wo ihr Secretär Rizzio ermordet wurde, die Stiege, über
welche die Verschworenen zu diesem Ende in das Gemach der
Königin drangen, ja, es mangelt sogar der Stein nicht, an dem man
noch Flecken von Rizzio’s Blut sehen will. In diesen Gemächern führte
Maria Stuart unter Intriguen und Schwierigkeiten aller Art das
Scepter von Schottland und genoss neben manchen übermüthig
frohen Tagen auch die volle Bitterkeit, welche ihr der rohe Uebermuth
des auf seine Selbständigkeit pochenden Adels des Landes bereitete.
Heute enthält Holyrood eine sehenswerthe Bildersammlung und eine
Reihe von Gemächern für festliche Gelegenheiten. Hinter Holyrood
zieht sich eine grosse Parkanlage und ein angrenzendes Baracken-
lager hin.
Was südlich der Linie liegt, welche vom alten Schloss nach
Holyrood streicht, gehört ganz zur alten Stadt, wenngleich daselbst
auch manches neuere Bauwerk unsere Aufmerksamkeit fesselt, so vor
Allem die Universität mit dem Museum und dem Parlamentsgebäude,
in welchem seit Aufhören des selbständigen schottischen Parlamentes
die obersten Justizbehörden des Landes untergebracht sind. Die
Edinburgher Universität ist eine aus dem Ende des XVI. Jahrhunderts
stammende Gründung, die sich stets guten und verdienten Rufes erfreute.
Wenden wir uns nunmehr nördlich der vorerwähnten Linie und
besteigen wir die nordwestlich von Holyrood gelegene Anhöhe von
Calton Hill, den früher schon von uns erwähnten dritten bemerkens-
werthen Markpunkt von Edinburgh, so gewinnen wir sofort einen
Ueberblick über die neue Stadt, welche sich parallel und nördlich
der alten ausdehnt. Calton Hill erhebt sich 350 englische Fuss
über dem Meeresspiegel und ist vom Waterlooplatze her über eine
lange Reihe von Stufen am besten zugänglich. Auf dieser Höhe befindet
sich die königliche Sternwarte, dann ein Lord Nelson, dem Sieger
von Trafalgar, gewidmetes Monument, und endlich erhebt sich dort
das grosse, dem Pantheon von Athen zum Theil nachgebildete National-
denkmal, welches als Erinnerung an die bei Waterloo gefallenen
Krieger dient. Dieses Monument wurde im Wege einer allgemeinen
Sammlung im Lande hergestellt, fand jedoch wegen Mangel an Fonds
nicht seinen planmässigen, sehr kostspieligen Abschluss.
Wendet man von Calton Hill aus das Antlitz gegen West, so
sieht man die grosse Princes-Street entlang, welche eine Hauptader
[[1005]]
A Narrow Deep, B Telegraphenkabel, B1 Telegraphenboje, C Victoria-Dock, D Old-Dock, E Albert-
Dock, F Leuchtfeuer, G Fort, H Bahnhöfe, J Observatorium, K Castell, L Spitäler, M St. Marys-Kathe-
drale, N Friedhöfe, O Holyrood-Palast, P Post, Q Commercialbank, R West-Princes-Gärten, S Queen-
Street-Gärten, S1 königlich botanischer Garten, T Princes Street, U George Str., V Queen Str.,
W Great King Str., X East Loudon Str., Y E. Claremonth Str., Z Leith Str. — 1 Broughton Str.,
2 Pitt Str., 3 Dundas Str., 4 Hannover Str., 5 Howe Str., 6 Frederick Str., 7 Melville Str., 8 Queens-
ferry Str., 9 South Bridge Str., 10 South Back of Canongate, 11 Canongate, 12 North Back of Cang.,
13 London Road, 14 Queensferry Rd, 15 Fettes College, 16 Edinburgh, Perth \& Dundee-Eisenbahn.
[1006]Der atlantische Ocean.
und ziemlich auch die Scheidelinie der neuen Stadt gegen die
alte bildet. Zur Anlage der neuen Stadt gab der stetige Zuwachs
der Bevölkerung Anlass, welche in den engen Strassen des alten
Edinburgh weder Platz fand, noch auch Lust hatte, sich dort einzu-
schliessen. Dieser Stadttheil zählt auch nicht viel über hundert Jahre.
Es wurde bei dessen Anlage mit grosser Planmässigkeit vorgegangen,
und wenn hier auch der eigenthümliche Reiz, die historische Patina
des alten Edinburgh mangelt, so wird man durch den Anblick breiter
Strassen, schöner Häuser und durch eine grosse Regelmässigkeit und
Nettigkeit angenehm berührt. Hier befinden sich mehrere grosse, wohl
bepflanzte Squares und schattige Parkanlagen von ganz ansehnli-
chem Umfange. In der Nähe der Waverley-Station in East Princes
Street Gardens erhebt sich das prachtvolle Scott-Monument (Pl. E. 3),
nach Kemp’s Entwurf 1840 errichtet, mit dem Marmorstandbilde
Sir Walter Scott’s († 1832) von Steel. In diesem Stadttheil liegen
die beiden Theater, welche Edinburgh sein eigen nennt, die National-
gallerie und ein sehr grosser Circus, nicht zu vergessen einiger
Kirchen, deren Besuch bei den frommen Puritanern Schottlands eine
wichtige Rolle spielt.
Eine grosse Annehmlichkeit von Edinburgh ist seine schöne
Umgebung, die, dank den guten Eisenbahnverbindungen, auch leicht
zu erreichen ist; ausserdem bietet die Nähe des Forth ebenso die
Möglichkeit, die maritimen Vergnügungen zu geniessen, für welche
auch die seetüchtigen Schotten grosse Vorliebe besitzen.
Edinburgh zählte nach der neuesten Schätzung 267.000 Ein-
wohner.
Wenden wir uns nun der Betrachtung des Handels des schottischen
Seeplatzes zu, so ergibt sich folgendes Resultat: Leith weist nächst Glasgow den
grössten Handelsverkehr unter den schottischen Häfen auf. Der Import ist von
weit grösserer Bedeutung als der Export:
| [...] |
Es ist wie ersichtlich in sämmtlichen Theilen der Handelsbewegung in den
letzten Jahren eine Steigerung zu verzeichnen, welche beim Importe ganz besonders
zu Tage tritt.
Beim Importe spielt auch hier die Getreideeinfuhr die Hauptrolle. Die
Importmengen der einzelnen Sorten während der letzten drei Jahre waren:
| [...] |
| [...] |
Diesem der Quantität nach zunächst steht die Gruppe der „Provisions“,
und zwar nach der Statistik von 1889: Schinken und Schinkenspeck 9.600 q,
gesalzenes und frisches Schweinefleisch 4799 q, conservirtes Fleisch 1270 q, Butter
mit der verhältnissmässig hohen Ziffer von 59.300 q, Margarine 47.400 q, Käse mit
25.500 q, Fische im Gewichte von 23.500 q, Reis mit 48.300 q, endlich Eier in der
Anzahl von 444.700 Gt. Hunds.
An Früchten importirte Leith 9232 hl Orangen und Citronen, 77.823 hl
roher Aepfel und 33.515 hl anderer Obstsorten; Zwiebel erreichten 70.377 hl.
Der Import von Getränken umfasste-17.277 hl Wein und 12.457 hl ver-
schiedener Spirituosen, unter denen Branntwein an erster Stelle steht.
Die Einfuhr von Zucker ist ziemlich bedeutend und belief sich 1889 auf
44.447 q raffinirten und 487.703 q unraffinirten Zucker.
Recht bedeutend ist ferner die Einfuhr von Tabak.
Oelsamenkuchen verzeichnet die hohe Einfuhrsziffer von 15.819 t, und unter
den importirten Oelen steht Sameöl mit 1662 t an der Spitze.
An Flachs importirte Leith im letzten Jahre 94.435 q, an roher Baum-
wolle 32.266 q, an Hanf 96.221 q.
Eine nennenswerthe Einfuhr wiesen 1889 Düngemittel auf, dann Salpeter
mit 129.700 q und Knochen.
Der Import von Metallen ist von keiner grossen Bedeutung. Er ist auf
30.900 q Stahlfabricate, 29.700 q Zinn (roh und verarbeitet), 7028 t Pyrite und
2229 t Blei beschränkt.
Ein wichtiger Einfuhrsartikel ist Petroleum mit 18.107 hl im Jahre 1889.
Hervorzuheben ist ferner der Import von Leinengarn mit 42.347 q, dann
Wollgarne mit 29.026 q, ferner die Einfuhr von chemischen Producten im Werthe
von 66.686 ₤, Farben und Farbstoffe im Werthe von 58.553 ₤, mehlhaltigen
Substanzen für 40.665 ₤.
Zum Schluss nennen wir die verschiedenen Hölzer mit zusammen 168.258 m3.
In der Ausfuhr nationaler Waaren stehen nach den Ausweisen des Jahres
1889 die Erzeugnisse der Baumwollindustrie im Gesammtwerthe von 468.654 ₤
an der Spitze; diesen folgen Leinenfabricate, Garne und Zwirne im Total-
werthe von 418.188 ₤; ferner Wollfabricate inclusive Wollgarnen im Werthe
von 212.062 ₤ und Jutefabricate für 84.790 ₤.
Die nächstbedeutende Gruppe in der Ausfuhr sind die verschiedenen Er-
zeugnisse der Metallverarbeitung mit einer Werthziffer von 324.247 ₤ und
Maschinen aller Art im Werthe von 268.821 ₤.
Die Ausfuhr von Düngemitteln (chemischen) betrug 30.296 t im Werthe
von 296.680 ₤, die von Kohlen und Coaks 281.373 t im Werthe von 156.776 ₤.
Die stattliche Ziffer von 125.150 ₤ bildet den Werth der im letzten Jahre
ausgeführten Häringe.
Leith exportirte ferner im selben Jahre für 98.371 ₤ Zucker, für 62.279 ₤
Spirituosen und für 37.994 ₤ Oelsamen.
[1008]Der atlantische Ocean.
An sonstigen Artikeln sind zu erwähnen:
- Säcke ........... für 30.222 ₤
- Kautschukfabricate ... „ 57.453 „
- Chemische Fabricate .. „ 75.150 „
- Lederwaaren ....... für 14.593 ₤
- Pelzwaaren ........ „ 12.519 „
- Bier ........... „ 16.638 „
und diverse andere Waaren im Gesammtwerthe circa 566.000 ₤.
Wir müssen noch erwähnen, dass die umfangreiche Kohlenausfuhr der
gesammten Firth of Forth-Häfen zum grössten Theile von hiesigen Firmen ge-
handhabt wird.
Der Export ausländischer Producte ist von geringerem Umfange und
nur in Thee, Spirituosen und Rohtabak von einiger Wichtigkeit.
Die Industrie von Leith erstreckt sich auf den Bau von Maschinen und
Schiffen, die Fabrication von Gummi- und Guttaperchawaaren, Chemikalien und
Seidenwaaren, endlich auf Mahlmühlen.
Die Schiffahrtsbewegung von Leith findet in nachstehender Tabelle ihren
Ausdruck. Es liefen ein und aus:
| [...] |
Im Verkehre mit dem Auslande sind von den fremden Flaggen (1889)
besonders wichtig die niederländische (121.460 t), die norwegische (87.117 t), die
dänische (34.370 t) und die deutsche (34.325 t).
Leith hat regelmässige Dampferverbindungen mit Antwerpen, Rotterdam
und Hamburg und ist Station der Postdampfschiffe, welche Kopenhagen über die
Faröer mit Reykjavik auf Island verbinden.
Unser Hafen hatte Ende 1889 eine Handelsmarine von 90.756 Netto-Tons.
Bedeutendere Bankinstitute sind: Bank of Scotland, Royal Bank of
Scotland, Union Bank of Scotland.
In Leith haben Consulate: Argentinien, Belgien, Bolivia, Chile, Deutsches
Reich (auch für Edinburgh), Niederlande, Schweden und Norwegen, Vereinigte
Staaten von Amerika.
Unter den übrigen Firth of Forth-Häfen blüht Grangemouth,
das an der Mündung des Canals liegt, der die Nordsee mit dem
Clyde verbindet, in letzten Jahren als Industrie- und Handelsplatz
kräftig auf.
Die Schiffbauwerften, die Sägemühlen, die Eisengiesserei und die Kohlen-
gruben haben immer zu thun, und die Einfuhr ist 1889 auf 2,465.548 gestiegen.
Ihren Haupttheil bilden Holzladungen aus Norwegen, Schweden und Russland
(1889 279.565 m3), und Grangemouth nimmt im Holzgeschäfte die erste Stelle in
Schottland ein. In der Ausfuhr nationaler Producte (1889 866.161 ₤) steht
[1009]Edinburgh-Leith.
Kohle obenan; die wichtigsten Abnehmer sind Hamburg und nach diesem
Antwerpen, Rotterdam, Amsterdam, Bremerhaven und Christiania. Der Seeverkehr
hat sich 1889 auf 3880 Schiffe mit 1,460.304 Tons gehoben.
An der Ostküste von Schottland liegen noch zwei Häfen von
Bedeutung, Dundee und Aberdeen.
Dundee zunächst befindet sich ähnlich wie Edinburgh an
einem Firth, jenem des Tay, in welchen der gleichnamige Fluss
mündet. Dieser Firth ist jedoch weitaus nicht so grossartig wie der des
Forth es ist, er ist mehr lang und schmal, so dass er dort, wo Dundee
sich befindet, einem grossen Canale ähnelt. Vor der Einfahrt in den
Tay haben sich weitläufige Barren abgelagert, zwischen welchen aber
ein Fahrwasser von 7·3 m Tiefe bei Ebbe und 11·7 m bei Springflut
hindurchführt, welches daher für die grössten Seeschiffe ausreicht. Im
Innern des Flusses findet man übrigens weite Gebiete mit 16 bis 20 m
Wassertiefe bei Ebbe. Direct vor der Stadt Dundee liegen noch be-
deutende Sandbänke, jedoch gestattet der 4·4 m betragende Niveau-
unterschied der Fluth das Einlaufen der grössten Oceanschiffe in die
Docks der Stadt.
Dundee, in der Grafschaft Forfar unter 56° 28′ nördl. Br.
und 2° 58′ westl. L. v. Gr. gelegen, ist seiner Einwohnerzahl nach
die dritte Stadt von Schottland und zählt 140.000 Einwohner.
Dundee ist keine schöne, aber eine sehr industriereiche und handels-
thätige Stadt. Hier ist das Centrum des Leinen- und Jutehandels
von Grossbritannien, und zahlreiche Fabriken sind in diesen Zweigen
vielfach beschäftigt, von denen namentlich einige Spinnereien durch
ihre Leistungsfähigkeit weltberühmt sind. Die Stadt verfügt über
bedeutende Docksanlagen, welche sich meist längs des Tay hinziehen
und recht gut und praktisch eingerichtet sind. Andere Merkwürdig-
keiten als Hafen und Fabriken kann Dundee nicht aufweisen.
Dundee ist seinem Handelsverkehre nach der drittgrösste schottische Hafen-
platz. Sein Import übersteigt den Export um das Dreifache.
| [...] |
Der wichtigste Importartikel Dundees, welcher auf die hohe Entwicklung
der dortigen einschlägigen Industrie schliessen lässt, ist rohe Jute. Dundee
bezieht von dem Gesammtimporte Englands, der sich im letzten Jahre auf
389.588 t belief, nahezu 60 Procent.
| [...] |
[1010]Der atlantische Ocean.
Die nächste Stelle in der Einfuhr nehmen Flachs und Hanf ein:
| [...] |
Erst an dritter Stelle steht der Import von Getreide und Mehl mit
einer Gesammtmenge von 97.800 q im Jahre 1889, davon waren 42.300 q Weizen
und 42.100 q Weizen- und Roggenmehl.
Zucker verzeichnet einen Import von 33.900 q im Jahre 1889.
Eine hervorragende Stelle in der Einfuhr Dundees nehmen Lumpen und
andere Materialien für die Papierfabrication ein: 1889 12.257 t, 1888 14.613 t.
Verhältnissmässig stark ist die Einfuhr von Düngemitteln, die sich 1889
auf 4962 t belief, und die von Salpeter mit 25.400 q.
Der Holzimport ist ziemlich umfangreich:
| [...] |
Die wichtigsten Exportartikel sind Erzeugnisse aus Jute, Flachs
sowie Leinenfabricate.
Dundee ist der Hauptsitz der englischen Leinen-, Jute- und Flachs-
industrie, welche weit über 50.000 Menschen beschäftigt. Wichtig sind ausserdem
der Schiffs- und Maschinenbau, die Fabrication landwirtschaftlicher Geräthe und
die Zubereitung von Marmelade.
Der Schiffsverkehr des Hafens wird für 1889 auf 2401 Schiffe mit
961.889 Tons angegeben; zwei Drittel der Tonnenzahl entfallen auf den Küsten-
handel. Dundee hat (Ende 1889) eine Handelsmarine von 179 Schiffen mit
116.840 Netto-Tons.
In Dundee haben Consulate: Argentinien, Deutsches Reich, Hawaïi,
Liberia, Venezuela, die Vereinigten Staaten von Amerika.
Mehr Interesse bietet Aberdeen, die Granitstadt, nördlicher
als Dundee, am Flusse Dee unter 57° 9′ nördl. Br. und 2° 5′ westl.
L. v. Gr. gelegen, von dem es auch seinen Namen hat. Auch hier
scheidet sich die alte Stadt von der neuen, jene gehört nur der
viel bewegten Geschichte dieses Gemeinwesens an, in der neuen
vereinigt sich das ganze geschäftliche Leben. Aberdeen zählt
105.000 Einwohner und hat eine pittoreske Lage, sowie in seinen
neuen Theilen schöne breite Strassen und einige stattliche öffentliche
Bauwerke. Trefflich ist der Hafen, welcher durch zwei lange Dämme
geschützt wird, in dem namentlich das geräumige und durch
Schleusen geschlossene Victoria-Dock den Schiffen gute Unterkunft
bietet. Der Handel von Aberdeen bezieht sich hauptsächlich auf
Granit und Vieh. Die Industrie der Stadt beschäftigt sich mit
Wollen- und Leinenwaaren, Teppichen, Seifen, Kautschukwaaren und
Maschinen. Auch der Schiffbau wird seit Alters mit Vorliebe gepflegt.
Berühmt sind seine grossartigen Granit- und Marmorschleifereien.
Aberdeen ist der Hauptort des ganzen nördlichen Schottlands.
[1011]Edinburgh-Leith.
Den Handelsverkehr Aberdeens zeigt nachstehende Tabelle:
| [...] |
Unter den einzelnen Artikeln, welche Aberdeen importirt, ist Getreide
der weitaus bedeutendste.
Das Gesammtgewicht aller im Jahre 1889 eingeführten Sorten belief sich
auf 327.400 q, davon Weizen 107.900 q, Hafer 106.200 q, Mais 52.400 q und
Weizen- und Kornmehl 28.632 q.
Von Bedeutung ist der Import von Zucker, der im letzten Jahre 40.600 q
erreichte.
Unter den verschiedenen Samensorten, die zur Einfuhr gelangen, haben nur
Flachs- und Leinsamen mit 195.500 hl Bedeutung.
In der Reihe der Importartikel sind nach der Liste des Jahres 1889 noch
hervorzuheben: Düngemittel 6649 t, Knochen 6828 t, Lumpen und andere Materialien
für Papiererzeugung mit 12.257 t, Salpeter 29.700 t.
Von Fabricaten sind zu erwähnen: Glaswaaren aller Art mit 2684 q.
Die Einfuhr der diversen Hölzer umfasste 20.466 m3 gefälltes und 39.700 m3
gesägtes und gespaltenes Holz.
Den Schluss der Importliste macht die Einfuhr lebender Thiere mit
9890 Ochsen, Kühen und Kälbern und 1689 Schafen und Lämmern. Man führt
aus Canada mageres Rindvieh ein, um es hier aufzumästen.
Exportirt werden ausser den industriellen Erzeugnissen der Stadt namentlich
Häringe und andere Fische, ferner Vieh, Eier, Butter, Gemüse.
Die Schiffsbewegung Aberdeens zeigt folgende Tabelle. Es liefen ein
und aus:
| [...] |
Sieben Achtel dieses Verkehres entfallen auf die Küstenschiffahrt.
Aberdeen hat (Ende 1889) eine Handelsmarine von 166 Fahrzeugen mit
97.873 Netto-Tons.
Den inländischen Verkehr vermitteln die Caledonian-Bahn, die Great
North of Scotland und die North British-Bahn, deren Kopfstation Aberdeen bildet.
Eine Sacklinie führt den Dee aufwärts gegen Balmoral hin, den Lieblings-
sitz der Königin Victoria von Grossbritannien und Irland.
An Bankinstituten sind zu nennen: die Aberdeen Town and County Bank,
Bank of Scotland, Commercial Bank of Scotland, National Bank of Scotland,
Royal Bank of Scotland und Union Bank of Scotland.
127*
[[1012]]
Glasgow.
Glasgow, die grösste Stadt Schottlands und der erste Hafen
des Landes, ist an der Westküste unter 55° 51′ nördl. Br. und
4° 16′ westl. L. v. Gr. gelegen, in einem in landschaftlicher Be-
ziehung besonders schön gestalteten Fjord, welcher seinen Namen
von dem Flusse Clyde trägt, der in denselben mündet, und an
dessen beiden Ufern die Stadt selbst sich erstreckt. Der Clyde-Fjord
mündet in den schmalen North-Channel, welcher Irland von der
schottischen Küste trennt, und verläuft, in mehrere Arme gespalten,
in einer Erstreckung von 122 km zunächst in der Richtung von Süd
nach Nord. Mehrere grosse Inseln, wie Arran-Island und Bute-Island
lagern in dem wassereichen Firth, dessen westlicher Hauptarm den
Namen Loch Fyne führt, während der östliche als Firth of Clyde den
Clyde-Fluss aufnimmt.
Die ganze Bucht ist ein breites, stattliches Wasserbecken, von
gebirgigen Ufern, welche mehr oder minder schroff sich erheben,
umsäumt und reich an seitlichen Einbuchtungen, welche den Reiz des
ganzen Bildes noch erhöhen. Ueberhaupt zeigt dieser ganze Theil der
schottischen Küste entgegen der östlichen des Landes eine Neigung
zur Bildung von dem Festlande vorliegenden Inseln und Riffen, trägt
überhaupt den mehr zerrissenen und zerklüfteten Charakter einer
Fjordlandschaft. Der Clyde-Fjord bietet der Schiffahrt so grosse Vor-
theile, dass sobald einmal die ersten Anstösse gegeben waren, an
seinen Ufern sich ein in jeder Beziehung hervorragender Centralpunkt
maritimer, industrieller und commerzieller Thätigkeit entwickeln musste.
Wir wollen uns aber zunächst der Stadt Glasgow selbst zu-
wenden und sodann flussabwärts bis an die See hin die sonstigen
bemerkenswerthen Punkte betrachten.
Glasgow ist eigentlich eine moderne Stadt, obwohl dessen An-
fänge weit ins Mittelalter zurückreichen.
[[1013]]
Glasgow.
[1014]Der atlantische Ocean.
Es knüpfen sich an dessen Geschichte keine bemerkenswerthen Ereig-
nisse, vielmehr schleppte Glasgow durch viele Jahrhunderte seine Existenz als
ein kleines, unansehnliches Städtchen hin, dessen in den viel bewegten Stürmen
der Vergangenheit nur vorübergehend Erwähnung gethan wird. Erst in der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts tritt Glasgow aus seinem Stillleben hervor und
nimmt dann rasch unter dem Einflusse günstiger Momente eine staunenswerthe
Entwicklung. Noch im Anfange des XVIII. Jahrhunderts zählte Glasgow nicht viel
über 10.000 Einwohner, am Ausgange waren sie schon auf 71.000 gestiegen und
heute weist es mit Einrechnung der Vororte 760.000 auf. Für das Aufblühen von
Glasgow war zunächst der Handel mit den nordamerikanischen Colonien von
Wichtigkeit, namentlich waren Tabak und Zucker jene Artikel, welchen sich die
Kaufleute der Stadt mit Vorliebe zuwendeten und in denen es denselben auch
gelang, einen recht starken Handel zu treiben. Der Abfall jener Colonien blieb
zwar nicht ohne Rückwirkung auf den Platz, aber schon hatte dessen Einwohner-
schaft jenen Unternehmungsgeist gewonnen, der sie nicht ruhen, sondern nach
stets neuen Quellen des Erwerbes suchen liess.
Und in dieser Beziehung wurde Glasgow von der Natur trefflich unterstützt
und durch die Entwicklung der Technik gefördert. Hatte dort schon früher noch
als in Lancashire eine rege Manufactur in Leinen und Calicostoffen platzgegriffen,
so kam der Stadt der Reichthum an Kohlen und Eisen in deren Nähe von dem
Augenblick an zu Gute, als der Dampf seine Macht zur Geltung brachte und das
Zeitalter der Maschinen begann. Und dabei wollte es ein günstiges Geschick, dass
der eigentliche Erfinder der Dampfmaschine, James Watt, gerade in Glasgow
seine Versuche machte und dass auf dem Clyde das erste Dampfboot, der kleine
„Komet“ zu Fahrten zwischen dieser Stadt und dem benachbarten Greenock ver-
wendet wurde. Dieser „Komet“ war 1812 in Europa das erste durch die Er-
findung Watt’s betriebene Schiff. In Glasgow behielt man die neue Erfindung sofort
im Auge und verstand bald ihren vollen Werth, und es ist wohl natürlich, dass
man dort, wo Dampfschiffahrt und Maschinenwesen eine solche Heimstätte ge-
funden und so ungeheuer zur allgemeinen Förderung beigetragen haben, auch
das Andenken jenes Mannes sonderlich hochhält und ihn sowohl als den Eigen-
thümer des „Komet“, Mr. Henry Bell, durch Monumente ehrte.
Glasgow stellt sich uns heute als eine schöne, regelmässige,
meist aus gutem Sandstein gebaute Stadt modernen Charakters dar.
Es liegt mit dem grösseren Theile auf dem rechten, mit dem
kleineren Theile auf dem linken Ufer des Flusses und weist viele
rechtwinkelig sich schneidende Strassen mit ganz stattlichen Bau-
werken auf. Das Terrain ist nicht eben, sondern erhebt sich stellen-
weise zu Hügelkuppen. Unter den Baulichkeiten der Stadt verdienen
insbesondere die aus dem XII. Jahrhundert stammende, im XV. Jahr-
hundert in ihre heutige Form gebrachte Kathedrale, die Universität,
deren Stiftung bereits in das Jahr 1450 fällt, dann die Börse, das
Postamt, die Bank of Scotland Erwähnung. Auch Glasgow verfügt
wie viele andere britische und schottische Städte über ausgedehnte
Parkanlagen, unter denen jene am Clyde gelegene von Glasgow
[1015]Glasgow.
Green die bedeutendste ist und einen Flächenraum von 44·5 ha
einnimmt. Dort erhebt sich das schöne Nelson-Monument.
In Glasgow Green betreten wir das Flussufer in seinem oberen
Laufe und am östlichen Ende der Stadt. Der Fluss wird von fünf
Pfeiler-, zwei Hänge- und drei Eisenbahnbrücken übersetzt. Die be-
deutendste ist die Glasgow-Brücke. Von derselben stromabwärts
beginnt der Hafen, innerhalb welchem der Fluss keine weiteren
Brücken aufweist, sondern der Verkehr zwischen beiden Ufern nur
durch Fährboote vermittelt wird. Knapp an der letzten Brücke be-
ginnt der etwa 640 m lange Broomielaw-Quai an der Nordseite des
Clyde, wo der Hauptverkehr der Dampfer stattfindet.
Den Hafen von Glasgow bildet, wie schon erwähnt, der Clydefluss
welcher mit grosser technischer Geschicklichkeit regulirt worden ist,
so dass derselbe in der ganzen, 29 km langen Strecke von Glasgow
bis Port Glasgow etwas oberhalb von Greenock den Eindruck eines
grossartigen Canales macht. Vor 50 Jahren hatte der Clyde bei
Glasgow nur 60 m Breite und 1 m Tiefe, gegenwärtig ist er aber
durch die Benützung der lebendigen Kraft der Gezeitenströmung bei
den Regulirungsarbeiten zu einer 140 m breiten und bei Hochwasser
7·5 m tiefen Wasserstrasse geworden. Die Flut erhebt hier das
Wasserniveau um 2·7 m über den Ebbestand.
Längs des ganzen Flusses bis hinab zu der am rechten Ufer
im Westend erfolgenden Einmündung des Kelvin-Flüsschens dehnen
sich stattliche Quais aus, welche mit Eisenbahngeleisen versehen
und mit Speichern und Schuppen ausgerüstet sind. 58 Krahne be-
sorgen längs dieser Quais die erforderlichen Manipulationen. Ge-
schlossene Dockbassins sind, wie unser Plan zeigt, nur zwei vorhan-
den, das Queen-Dock am rechten Ufer nahe der Kelvin-Mündung, und
das kleine Kingston-Dock am linken Ufer, 600 m unterhalb der
Glasgow-Brücke. Ersteres ist durch einen Molo (Centre Quay) in zwei
Bassins getheilt und wurde erst in jüngster Zeit erbaut. Dieses Dock
hat nur Hangars. Aelter, aber weit kleiner ist das andere erwähnte
Dock. Die bedeutende Quaientwicklung von beiläufig 9·65 km Länge,
zum anderen Theil auch die Art des Glasgower Verkehres macht
die Anlage von Docks weniger erforderlich. Wie sehr man aber
in Glasgow den Interessen des Verkehres grosse Opfer zu bringen
versteht, zeigt sich aus dem einzigen Umstande, dass die Regulirung
des Clyde, durch welche erst die grossartige Entwicklung des Handels
und namentlich der Schiffbauindustrie wegen der gewonnenen Tiefen
möglich ward, über 4½ Millionen ₤ kostete. Neuester Zeit besteht
[1016]Der atlantische Ocean.
das Project, am linken Clyde-Ufer gegenüber dem Queensdock eine
neue Dockanlage zu schaffen, und haben wir dieselbe auf unserem
Plane skizzirt.
Am linken Ufer, dort wo die Quais aufhören, liegen Schiffs-
werften bis hinab nach Greenock. Diese Werftanlagen machen einen
grossartigen Eindruck. Hier werden namentlich viele Dampfer gebaut,
zu denen die Umgebung von Glasgow das erforderliche Material, be-
sonders Stahl und Eisen, liefert. Der Schiffbau am Clyde ist welt-
berühmt und nicht bloss für die nationale Marine wird daselbst
gebaut, sondern auch viele fremde Rheder, namentlich die ver-
schiedenen Postdampfer-Compagnien Europas erwerben dort ihre
Prachtschiffe. Zwei Drittel sämmtlicher Dampfer Grossbritanniens sind
am Clyde gebaut worden oder bezogen ihre Dampfmaschinen von hier.
So ist der Clyde mit Recht die grossartigste Schiffswerfte der Erde
zu nennen.
Ausser den Werften begegnet man an beiden Ufern grossartigen
Maschinenfabriken sowie Zuckerraffinerien. Dabei muss man sich
erinnern, dass diese ganze Strecke noch zu Lebzeiten älterer Leute
vielfach sehr ungünstige Flussverhältnisse zeigte und mehrere Stellen
bei Ebbe fast trocken lagen, während heute durchwegs ein breiter,
selbst für die grössten Schiffe zugänglicher Wasserweg hergestellt ist.
Gegen die See zu folgen kleine und liebliche Landschaftspartien und
pittoreske Felsformationen, welche den breiten Strom einrahmen,
während im Hintergrund die Spitzen der eigentlichen Hochlandberge
sichtbar werden.
Zu den besonders bemerkenswerthen Orten am Clyde unterhalb
Glasgow gehört zunächst Govan und dann Dumbarton.
Govan liegt am linken Ufer, 1·6 km unterhalb Glasgow, so dass
es fast als ein Vorort desselben betrachtet werden kann. Hier haben
Legende zum Plan von Glasgow.
A Byars Road, B Great Western Rd., C New City Rd., D St. Georges Rd., E Craighall Rd., G Garn-
gad Rd., H Castle Street, J Parliamentary Road, K Duke Street, L High Str., M Port Dundas Road,
M1 Dobbies Loan, N Cowcaddens, O Gallowgate, P Gr. Clyde Street, Q Dumbarton Road, R Janchiehall
Street, S Main-Str., S1 St. Vincent Str., T Argyle Str., U Trongate, V Govan Road, W Crown Street,
X West Str., Y Eglinton Str, Z Main Str. — 1 Caledonian, Central-Stat., 2 Caledonian-Station, 3 North.
Brit.-Station, 4 College-Stat., 5 Belgrove-Stat., 6 Bridge Street-Stat., 7 St. Enoch-Stat., 8 Gallow-
gate-Stat., 9 Pollokshields-St., 10 Partick-St., 11 St. Rollox-St., 12 Govan-St., 13 Caledonia, J. W.
Waarenbahnhof, 14 botanischer Garten, 15 Universität, 16 Werfte und Dock, 17 Ausstellungsgebäude,
18 Observatorium, 19 Akademie, 20 Western Hospital, 21 Museum, 22 Grand-Hotel, 23 Grand-Theater,
24 Corporation Hall, 25 städtisches Armenhaus, 26 Sightsill Friedhof, 27 Blindenasyl, 28 Royal
Hospital, 29 Kathedrale, 30 North Prison, 31 Bäder, 32 Andersonian Univ., 33 Municipalgebäude,
34 Postamt, 35 City Hall, 36 Albert Hall, 37 Königl. Börse und Royal und Nat.-Bank, 38 Theat.-Royal,
39 Gefängniss und Gerichtsgebäude, 40 Nelsons-Monument, 41 Zollamt, 42 Andrews Hall, 43 Grafschafts-
gebäude, 44 Queens-Dock, 45 Project. neues Dock, 46 Kingston-Dock, 47 Bellahouston-Academy,
48 Glasgow-Brücke, 49 Suspens-Br., 50 Victoria-Br., 51 Albert-Br., 52 St. Andrews-Br.
[[1017]]
(Legende siehe auf Seite 1016.)
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 128
[1018]Der atlantische Ocean.
mehrere der wichtigsten Werftetablissements, so jene von Napier \&
Son, John Eldir \& Comp., Stephen etc. ihren Sitz. Ein ähnlicher,
fast ganz dem Schiffbau gewidmeter Ort ist Dumbarton, an der
Mündung des vom See Loch Lomond kommenden Flüsschens Leven
in den Clyde und 20 km von Glasgow entfernt. Es wird von einem
gewaltigen Felsen überragt, auf welchem ein altes Schloss sich be-
findet, letzteres mehr durch seine pittoreske Lage, als durch seine
Baulichkeit bemerkenswerth. Dieses Schloss spielte in der schottischen
Geschichte wegen seiner günstigen Position an der See eine Rolle.
Dumbarton, gegenwärtig von 14.000 Einwohnern bevölkert, verdankt
seinen wirtschaftlichen Aufschwung wesentlich der Energie und Um-
sicht der Familie Denny, welche seit längerer Zeit den Schiffbau be-
treibt. Ein ganzer von Werftarbeitern bewohnter Stadttheil führt
auch den Namen Dennystown. Bei Bowling, 5·5 km aufwärts von
Dumbarton, mündet in den Clyde der Clyde-Forth-Canal, welcher
ganz Schottland durchquert und im Firth of Forth endet.
7 km abwärts von Dumbarton folgt am linken Ufer dann Port
Glasgow, wo die Glasgower sich einen Hafen gebaut hatten, ehe
der Clyde so regulirt war, dass man mit allen Schiffen bis zur Stadt
gelangen konnte. Heute ist Port Glasgow von keiner Bedeutung
mehr, dagegen hat sich das 32 km unterhalb von Glasgow gelegene
Greenock trotz der Concurrenz von Glasgow zu einer ansehnlichen
Stellung emporgehoben. Dieses Greenock ist eine Stadt neuerer
Schöpfung, die erst im XVIII. Jahrhundert an der Stelle eines kleinen
Weilers entstand.
Greenock ist dem Aufschwunge von Glasgow immer auch mit
Rührigkeit gefolgt und gewann bei der Entwicklung der Schiffahrt
auch eine Art von Vorsprung, weil in Greenock der Clyde von Natur
aus viel zugänglicher war als in der rivalisirenden Stadt. Da in
Greenock sonst in jeder Beziehung dieselben Verhältnisse herrschten
wie in Glasgow, so warf man sich daselbst ebenfalls auf die Eisen-
industrie, den Schiffbau und in jüngerer Zeit auf die Zuckerraffinerien.
Vor einigen Jahren wurde daselbst auch ein grosses, im modernen
Style eingerichtetes Dock, das James Watt-Dock, vollendet, welches,
mit der Eisenbahn verbunden, dem Verkehre der Schiffe grosse Dienste
leistet und manches derselben von der Fahrt nach Glasgow abhält.
Die Lage von Greenock, welches 68.897 Einwohner zählt, ist eine
sehr freundliche; die Stadt selbst aber bietet neben ihren industriellen
Anlagen keine sonderlichen Sehenswürdigkeiten.
Hinter Greenock wendet sich der Clyde scharf gegen Süden und
[1019]Glasgow.
mündet in den Fjord, welcher sich in südlicher Richtung bis zur
See hinzieht und der mit seinen Buchten und felsigen Ufern ein
grosses landschaftlich schönes Bassin zeigt. An der Mündung dieses
Fjord, ziemlich in der Mitte, befinden sich die Inseln Great Cumbray
mit dem Hafenplatz Mill Port und Little Cumbray. Dann passirt
man im Westen die aus rothem Sandstein formirte, vorne bereits er-
wähnte, ziemlich bedeutende Insel Arran und erreicht sodann die
offene See.
Wir ersehen aus diesem Ueberblicke, dass Glasgow mit dem
Clyde alle natürlichen Vorbedingungen besitzt, um die Basis für die
commerzielle Entwicklung von ganz Schottland abzugeben. Eisen,
Kohle und die moderne Technik boten sich die Hand, um eine von
der Natur gebotene günstige Lage an der See zur vollen Blüthe zu ent-
falten. Der rüstige und ausdauernde Charakter der Bevölkerung darf
aber dabei nicht ganz ausser Acht gelassen werden. Die Leute am
Clyde verstehen zu arbeiten und ihren Vortheil zu finden, sie besitzen
aber auch jenen corporativen Sinn, mit welchem man gerade in
Grossbritannien so erhebliche Dinge zu leisten verstand. Zufolge
dieses innigen Zusammenwirkens der Natur und der menschlichen
Intelligenz ruht auch die Zukunft Glasgows, der Rivalin Liverpools,
die heute nach allen Richtungen hin einen lebhaften Handel treibt
und in deren Hafen Schiffe aller Flaggen verkehren, auf sicherer
Grundlage.
Glasgow steht dem Werthe seiner Handelsbewegung nach unter den Hafen-
plätzen des Vereinigten Königreiches an vierter Stelle. Der Handelsverkehr Glasgows
während der letzten fünf Jahre wird aus nachstehender Tabelle ersichtlich.
| [...] |
Der Export inländischer Erzeugnisse hat somit seit zwei Jahren um mehr
als zwei Millionen Sterling zugenommen, während der Import des letzten Jahres
gegen 1887 nur um 1,300.000 ₤ gestiegen ist.
Wie bei den meisten englischen Häfen nehmen auch in der Einfuhr Glasgows
Getreide, Hülsenfrüchte und Mehl den ersten Rang ein. Die Einfuhrmenge
ist im Verhältnisse zu allen anderen importirten Producten eine so bedeutende,
dass die Bewegung derselben während der letzten drei Jahre veranschaulicht
werden soll. Es wurden eingeführt:
| [...] |
[1020]Der atlantische Ocean.
| [...] |
Glasgow hat nächst London die stärkste Mehleinfuhr unter allen engli-
schen Häfen, wiewohl dieselbe sich im Verhältnisse zum Jahre 1887 um
500.000 q verminderte.
Den Brotfrüchten reihen sich die anderen Nahrungsmittel an. Die
wichtigsten derselben nach ihrer Einfuhr vom Jahre 1889 sind Schinken und
Schinkenspeck mit 136.500 q, gesalzenes und frisches Rindfleisch mit
111.200 q, frisches Hammelfleisch 10.200 q, conservirtes Fleisch 45.500 q,
Butter 10.600 q, Käse mit der ziemlich bedeutenden Quantität von 73.600 q,
ferner Schmalz in der Höhe von 65.000 q.
In der Importliste der Früchte stehen Orangen, Citronen mit 123.915 hl,
rohe Aepfel mit 117.067 hl voran, die Menge aller anderen Obstsorten erreichte
27.721 hl. Die Einfuhr von Zwiebeln betrug 42.469 hl.
Ziemlich bedeutend ist die Einfuhr von Tabak, welche im Jahre 1889
34.600 q gegen 13.800 q des Jahres 1888 und 32.600 q des Jahres 1887 betrug.
Von lebenden Thieren wurden eingeführt 61.438 Ochsen, Kühe und Kälber
und 4868 Schafe und Lämmer.
Die Einfuhr von rohen Häuten bezifferte sich auf 24.500 q.
Wein und Spirituosen weisen folgende Importziffern während des Jahres
1889 auf: Wein 20.929 hl, Rum 5152 hl, Branntwein 5992 hl und andere
unversüsste Spirituosen 13.493 hl.
Die Einfuhr von Zucker war eine nicht besonders belangreiche mit
28.800 q an raffinirtem und 3800 q an unraffinirtem Zucker. Dagegen verzeichnet
Thee die verhältnissmässig günstige Importziffer von 1700 q.
Verschiedene Oele werden in der Quantität von 7443 t bezogen.
Die in Glasgow in hoher Entwicklung stehende Eisenindustrie, namentlich
der Maschinenbau und Schiffsbau machen es begreiflich, dass der Import an
Metallen mit einem hohen Percentsatze an der Gesammteinfuhr betheiligt ist. Die
folgende Zusammenstellung bietet ein Bild des Importes dieser Gruppe während
der letzten drei Jahre:
| [...] |
Hervorzuheben ist ferner die Einfuhr von Düngemitteln, Salpeter weist
die Einfuhrsziffer von 68.100 q im Jahre 1889 auf.
Wenn wir noch den Import von Petroleum, der 1889 die Höhe von
28.325 hl erreichte, speciell bezeichnen, so haben wir bis auf einige der Menge
nach nicht Ausschlag gebende Artikel die Einfuhrliste Glasgows erschöpft.
An Leder wurden 1889 1042 q importirt und an Wollgarn 19.322 q.
Bei Betrachtung der Ausfuhr Glasgows findet man, dass die Erzeugnisse
der einheimischen Textilindustrie sowie die der Eisenindustrie alle anderen Artikel
[1021]Glasgow.
um ein Bedeutendes überragen. Der Grund hiefür liegt in der hohen Entwicklung
beider Industriezweige, welche daselbst ebenso rationell wie schwunghaft be-
trieben werden.
In den verschiedenen Zweigen der Textilwaarenerzeugung, insbesondere in
den grossen Baumwollspinnereien und Webereien, in den Tuch- und Teppich-
fabriken sind mehr als 25.000 Arbeiter beschäftigt, während in den Eisen- und
Stahlhütten circa 14.000 und in den Maschinenbauwerkstätten nahezu 10.000
Menschen arbeiten. Ausserdem vermittelt Glasgow einen Theil des irischen
Handels, dessen Leinenwaaren es nach dem Auslande verführt. Die Ausfuhr der
Textilwaaren der letzten drei Jahre illustrirt folgende Zusammenstellung:
| [...] |
Die Mengen und Werthe der in der gleichen Zeitperiode ausgeführten
wichtigeren Metallwaaren sind:
| [...] |
Die Eisenbörse von Glasgow ist von höchster Wichtigkeit für die Preis-
bewegung von Eisen und Eisenwaaren.
[1022]Der atlantische Ocean.
Auch die chemischen Fabriken, von denen einzelne zu den grössten der
Welt gehören, dann die Porzellan- und Glasfabriken versorgen die Ausfuhr von
Glasgow, während die Tabaksmanufacturen und Zuckerraffinerien nur dem inländi-
schen Verbrauch dienen.
Glasgow führte Maschinen aller Art im Werthe von 1,451.388 ₤ im
Jahre 1889, für 1,131.586 ₤ im Jahre 1888 und für 959.871 ₤ im Jahre 1887 aus.
Der Werth der ausgeführten chemischen Producte und Präparate
belief sich auf 221.725 ₤, der der chemischen Düngemittel auf 124.230 ₤
und an Kerzen wurden exportirt 2500 q im Werthe von 9758 ₤.
Einen beachtenswerthen Exportartikel bildet ferner Bier, wovon 1889
225.120 hl im Werthe von 491.340 ₤ ausgeführt wurden.
Noch bedeutender ist die Ausfuhr von Spirituosen zum Theile irischer
Provenienz. Dieselbe belief sich 1889 auf 80.894 hl im Werthe 643.338 ₤ und
im Jahre 1888 auf 73.883 hl im Werthe von 571.730 ₤.
Unter den verschiedenen Fabricaten, welche die Ausfuhr Glasgows im
Jahre 1889 noch aufweist, sind zu nennen: Glaswaaren aller Art im Werthe
von 81.874 ₤, Papierwaaren im Gewichte von 68.600 q für 202.291 ₤, Kurz-
und Putzwaaren im Werthe von 92.964 ₤, Thon- und Porzellanwaaren für
105.165 ₤, Malerfarben im Werthe von 80.504 ₤, ferner Kautschukfabricate
im Werthe von 21.055 ₤ und verschiedene Apparate im Werthe von 112.803 ₤.
Gedruckte Bücher exportirte Glasgow 1889 für 48.558 ₤.
Von einiger Bedeutung ist auch der Export an Schaf- und Lammwolle,
welcher im letzten Jahre die Höhe von 23.160 q für 142.450 ₤ erreichte.
Glasgow ist Ausfuhrshafen für Kohle, es exportirte im Jahre 1889 698.934 t,
im Werthe von 300.833 ₤ gegen 686.677 t für 267.717 ₤ im Vorjahre.
Von Leder (unverarbeitet) wurde um 16.828 ₤, von Schuhen um 11.468 ₤
ausgeführt.
Die wichtigsten Artikel des Reexportes sind Thee (1889 1095 q), Tabak
und Wolle, ferner Spirituosen und Wein.
Wir haben gesehen, wie die Ausfuhr von Glasgow in erster Linie auf die
reiche Industrie des Platzes gegründet ist, und wollen schliesslich noch die Ge-
sammtthätigkeit der Clyde-Schiffswerften von Glasgow, Port Glasgow und
Greenock anführen, die meist Stahlschiffe bauen. Auf ihnen wurden 1889 62 Segel-
schiffe mit zusammen 79.574 Netto-Tons und 195 Dampfer mit zusammen
146.389 Netto-Tons oder 237.453 Brutto-Tons gebaut.
Sehr ansehnlich ist die Handelsmarine der drei Clyde-Häfen; denn Ende
1889 besass Glasgow 1549 Schiffe mit 1.224.022 Netto-Tons, Greenock 326 Schiffe
mit 231.900 Netto-Tons und Port Glasgow 29 Schiffe mit 13.722 Netto-Tons.
Die Segelflotte ist hier auffallend stark vertreten.
Den Schiffsverkehr Glasgows zeigt folgende Tabelle:
| [...] |
Von Glasgow besteht eine regelmässige Dampferverbindung über Grange-
mouth nach Rotterdam und die Anchor Line sendet jede Woche einen Dampfer
über Moville nach New-York.
Glasgow ist Knotenpunkt für neun Eisenbahnen, welche den in-
ländischen Verkehr vermitteln.
Die wichtigsten Banken Glasgows sind: Die Bank of Scotland, Commercial-
bank of Scotland, Royalbank of Scotland und die Unionbank of Scotland.
In Glasgow haben Consulate: Argentinien (G.-C.), Belgien, Bolivia, Co-
lumbia, Costarica, Deutsches Reich, Frankreich, Guatemala, Hawaii, Italien, Liberia,
Mexiko, Niederlande, Nicaragua, Oesterreich-Ungarn (V.-C.), Paraguay (G.-C.), Peru,
Salvador, Spanien, Uruguay, Venezuela, Vereinigte Staaten von Amerika.
Und nun wollen wir noch einige Worte über den Verkehr Greenock’s
hinzufügen, das 1889 eine Einfuhr von 3,879.804 ₤, eine Ausfuhr englischer
Waaren von 271.798 ₤ und eine Wiederausfuhr von 45.702 ₤ ausweist. Die
wichtigsten Artikel der Einfuhr sind Eisenerze (1889 136.515 t), Holz (219.566 m3)
und Zucker (110.630 q raffinirt und 1,676.992 q roh).
In der Ausfuhr einheimischer Waaren repräsentiren Kohlen (1889 151.308 q)
mehr als den fünften Theil des Gesammtwerthes.
Der gesammte Schiffsverkehr erreichte 1889 15.313 Schiffe mit
3,255.891 Tons.
[[1024]]
Liverpool.
Nächst London ist Liverpool am Mersey die bedeutendste
Stadt Englands, der zweite Hafen Europas. Hier concentrirt sich der
Verkehr des westlichen Englands und von hier aus werden nach allen
Richtungen der Welt Verbindungen mit Dampf und Segel unterhalten.
Liverpool verdankt diese Stellung in erster Linie der günstigen Lage
Amerika gegenüber. Darum beginnt sein Stern auch erst im XVIII.
Jahrhundert zu leuchten, als der europäisch-amerikanische Handel
Bedeutung gewonnen hatte.
Kurz vor der Eroberung durch die Normannen wird zwar schon dieses Ortes
in einem angelsächsischen Documente Erwähnung gethan, aber zu irgend einer
Bedeutung konnte sich derselbe bis zum Ende des XVII. Jahrhunderts nicht
emporringen. Es war und blieb ein kleines Städtchen, das auch in der Geschichte
seines Landes keine Rolle spielte. Die Leute von Liverpool betrieben den kleinen
Küstenhandel mit dem benachbarten Irland und der Insel Man, führten später
auch Salz aus Cheshire aus und schlugen sich derart gut und schlecht, wie es
eben kam, durch. Eine wesentliche Aenderung trat erst durch die Entwicklung
der amerikanischen Colonien ein, da Liverpool eine für den Handel mit denselben
günstige Lage besass. Anfangs war das wichtigste Handelsobject, mit welchem
die Liverpooler Kaufleute ihren Reichthum begründeten, „Sclaven“. Sie brachten
mit ihren Schiffen gewisse gangbare Waaren nach der Westküste von Afrika und
führten von dort Sclaven nach Nordamerika und Westindien, um amerikanische
Producte als Rückfracht nach England zu schaffen. Diese Art des Handels er-
wies sich als eine vortreffliche Quelle des Erwerbes, und man kann den Liver-
poolern damaliger Zeit nicht nachrühmen, dass sie bei dem Sclavengeschäfte mit
besonderer Rücksicht vorgegangen wären, vielmehr bemühten sie sich, ihre Con-
currenten in diesem Zweige, die Kaufleute von Bristol, noch an Energie zu über-
treffen. Unter dem Zeichen dieses wenig erbaulichen Geschäftes blühte die Stadt
auf und erreichte schon im Laufe des XVIII. Jahrhunderts eine ganz ansehnliche
Bedeutung. Sie zählte am Ausgange 77.000 Einwohner, während sie zu Beginn
desselben nur 6000 beherbergte und der Hafen Alles in Allem nur über 84
eigene Schiffe verfügte. Als dann zu Anfang unseres Jahrhunderts der Sclaven-
handel in England und seinen Colonien verboten ward, war Liverpools Stellung
so gefestigt, dass es für den Entgang seiner bisherigen wesentlichen Gewinn-
quelle reichlichen Ersatz in dem lange angebahnten und immer mehr aufblühenden
[[1025]]
Liverpool.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band 129
[1026]Der atlantische Ocean.
den Handel namentlich mit Nordamerika finden konnte. Jetzt wurde Baumwolle
ein Hauptartikel des Importes, und seither ist auch Liverpool der erste Stapel-
platz hiefür geblieben. Dazu kam dann noch die Entwicklung der Dampf-
schiffahrt, welche der Stadt die Ausnützung ihrer günstigen Position im Zusammen-
hange mit dem industriellen Aufschwunge im Westen Englands wesentlich er-
leichterte. So hat vor Allem die grosse Baumwollstadt Manchester in Liverpool
das Thor zur See gefunden. Die Bevölkerung ist auf fast 700.000 Seelen gestiegen,
hat sich also in unserem Jahrhundert verzehnfacht.
Betrachten wir nunmehr die in Lancashire unter 53° 24′ nördl.
Br. und 2° 57′ westl. L. v. Gr. gelegene Stadt, so finden wir sofort
einen wichtigen Umstand in der Gestaltung der maritimen Verhält-
nisse. Liverpool liegt an dem Mersey, welcher sich zu einem grossen
breiten Becken erweitert, das sich dann dort, wo am rechten Ufer
Liverpool und ihm gegenüber am anderen Ufer heute Birkenhead
sich befindet, wieder einigermassen verengt, um dann unterhalb dieser
beiden Punkte in die See zu münden. Der Mersey hat gute Tiefe,
wenn auch ein schwaches Gefälle und starke Unterschiede in Ebbe
und Flut. Die Stadt zieht sich am rechten Ufer hin, ist vom
Flusse jedoch heute durch eine ununterbrochene Reihe von Dock-
anlagen geschieden, die für die ganze Schiffsbewegung von der
grössten Bedeutung sind. Es ist übrigens das Eigenthümliche aller
englischen und schottischen Häfen, dass sie fast durchwegs an
Flüssen gelegen sind, und dass ihre Hafenanlagen durch den Lauf
dieser Flüsse vorgezeichnet und zu einer Ausdehnung in die Länge
gezwungen werden.
Die Stadt Liverpool ist durchaus modern angelegt, da ja fast
Alles in unserem Jahrhunderte gebaut wurde. Man kann aber der Stadt,
welche einen ziemlich regelmässigen Charakter ihres Planes aufweist,
nicht nachrühmen, dass sie wesentlich Interessantes bietet, wenn auch
einzelne Baulichkeiten von stattlichem Umfange und architektonischer
Ausbildung vorhanden sind. Den eigentlichen Centralpunkt bildet die
St. Georges Hall, ein im Jahre 1854 vollendetes, in Form eines
korinthischen Tempels gehaltenes Gebäude, welches einen grossen
Raum für öffentliche Versammlungen und eine nicht minder ansehn-
liche Musikhalle enthält, und in dem auch die Localitäten für die
öffentlichen Gerichtssitzungen untergebracht sind. St. Georges Hall,
mit einem Kostenaufwande von 8½ Millionen Gulden hergestellt und
mit verschiedenen Sculpturwerken äusserlich geziert, steht in Mitte
eines breiten Platzes, auf welchem Reiterstatuen der Königin Victoria
und ihres Gemahls, des Prinzen Albert, sowie des Lord Beaconsfield
sich befinden. Gegenüber der Halle liegt das Alexandertheater, auf
[1027]Liverpool.
der einen Seite die Volksbibliothek im eigenen Gebäude untergebracht,
dann auch der grosse Lime Street-Bahnhof. Von St. Georges Hall
laufen nach verschiedenen Richtungen grosse Strassenzüge aus. Ueber-
haupt zeigt Liverpool vielfach gerade und lange Strassen, was der
Stadt unstreitig einen stattlichen, aber auch monotonen Charakter
verleiht.
Das älteste von den öffentlichen Bauwerken Liverpools ist das
Stadthaus, Town-Hall, welches aus dem Jahre 1749 herrührt. Dasselbe
ist zwar einfach gehalten, birgt aber in seinem Innern einige hübsche
Repräsentationsräume. Dem commerziellen Charakter der Stadt ent-
spricht das stattliche Börsengebäude (Liverpool Exchange), ein Neu-
bau aus den Sechzigerjahren, allwo das geschäftliche Treiben der
ganzen Stadt seinen impulsgebenden Mittelpunkt findet. Bemerkens-
werth ist ferner die Kunstgallerie (Walker Art Gallery), welche einer
grossen Schenkung des Mayors der Stadt, Brauereibesitzer Andreas
Barcley Walker, ihren Ursprung verdankt, eine auf hoher Stein-
säule stehenden Statue des Herzogs von Wellington und die in
London Road befindliche Reiterstatue Georgs III. Erwähnen wir noch
des Liverpool College, des nun vollendeten allgemeinen Krankenhauses,
eines der grössten der Welt, des Armenhauses, allwo 5000 Personen
Unterkunft finden können, und einiger aus neuester Zeit stammender
grossartiger Hôtels, so haben wir so ziemlich erschöpft, was im
Inneren der Stadt den Besucher anziehen kann. Selbstverständlich
mangelt es auch hier nicht an einigen hübschen Parkanlagen, welche
etwas Erfrischung in dem grossen, durch Kohlenstaub und Rauch
belästigten Häusermeere darbieten.
Liverpool ist vor Allem grosser Seeplatz, und deshalb concentrirt
sich auch all unsere Aufmerksamkeit auf jene Stellen, wo der Ver-
kehr sich entwickelt, auf die Ufer des Mersey.
Sämmtliche Anlagen, welche sich daselbst befinden, stehen
unter der Verwaltung einer eigenthümlichen Körperschaft, wie solche
in England gerade für grosse öffentliche Unternehmungen häufig zur
Anwendung gelangen. Diese Körperschaft führt den Titel „The Mersey
Dock \& Harbour Board“. Dieser Board hat das Recht, Anlehen auf-
zunehmen, verwaltet die errichteten Anlagen und ist verpflichtet, die
erzielten Ueberschüsse zur Tilgung der Anleihen zu verwenden. Seine
Befugnisse sind durch Parlamentsacte normirt, innerhalb derselben hat
er aber freie Hand. Der Board besteht aus 28 Mitgliedern, von denen
die Regierung 4 ernennt; die anderen 24 werden von jenen Kaufleuten
erwählt, welche wenigstens 10 £ jährlich an Hafen- und Magazins-
129*
[1028]Der atlantische Ocean.
gebühren an den Dock-Board entrichten. Die Amtsdauer währt vier
Jahre. Wählbar sind nur jene Kaufleute, welche wenigstens 25 ₤
an Gebühren zahlen.
Die Docks von Liverpool bilden, wie schon erwähnt, eine am
rechten Flussufer gelegene geschlossene Reihe, derart, dass am Ufer
keine Stelle freibleibt. Unterbrochen wird diese Reihe nur durch den
sogenannten Landing Stage, einen grossen schwimmenden Ponton,
welcher für das Anlegen jener Dampfer dient, die nicht in ein Dock
gehen. Zugleich wird dieser Platz auch als beliebte Promenade von
den Liverpoolern benützt, die ja eigentlich nirgends recht unbehindert
an das Ufer ihres Flusses gelangen können.
Die Herstellung der Docks war keine leichte Aufgabe, weil die
Stadt meist auf hartem Felsen von rothem Sandstein ruht und man
die Bassins daher in Felsen hauen musste. Andererseits bot durch diese
Bodenconfiguration die Herstellung von Quaimauern weniger Schwierig-
keiten dar. Der Landstrich längs des rechten Mersey-Ufers, auf welchem
die Docks liegen, ist 200—600 m breit, aber 9560 m lang und
birgt über 50 Docks, natürlich verschiedenen Alters und wechselnder
Grösse. Die Liverpooler Docks leiden vielfach unter einem grossen
Nachtheil, dem Mangel an directer Eisenbahnverbindung, so dass
der Landverkehr vom und zum Dock mit gewöhnlichen Fuhrwerken
geschehen muss. Ferner hat man in Liverpool es nicht für noth-
wendig erachtet, mit den Docks grosse Speicher in Zusammenhang
zu bringen, sondern begnügte sich meist mit Hangars, in denen die
Güter nur drei Tage belassen werden dürfen. In den Hangars sind
circa 38 ha Lagerfläche vorhanden, die gesammten Dockanlagen um-
fassen eine Lagerfläche von 430 ha. Die meisten Kaufleute haben
ihre eigenen Speicher, in welche sie die Güter aus den Hangars zur
Einlagerung überführen; der Board selbst verfügt hauptsächlich nur
über mehrere, freilich sechs Stockwerke hohe Getreidespeicher.
Begeben wir uns nun an dem Mersey hinauf zu jener Stelle,
wo die Docks ihren Anfang nehmen, so treffen wir zunächst das
Harrington- und das Brunswick-, und das dahinter gelegene
kleinere Carriers-Dock. Ersteres dient hauptsächlich für Bauholz aus
Centralamerika und Neuschottland. Südlich dieser Dockgruppe ist die
Anlage drei neuer Bassins (Importdocks) mit vier grossen Trocken-
docks projectirt. Diese Bassins sollen Schleussenverbindungen mit
dem Fluss und mit dem Brunswick-Dock erhalten. Flussabwärts,
also nördlich des letztgenannten reiht sich das Coburg-Dock an,
welches die Schmalseite dem Flusse zuwendet. Dann folgt eines der
[1029]Liverpool.
ältesten, das Queens-Dock, welches durch das Queens-Bassin mit dem
Flusse communicirt. Hier wird vor Allem mit Baumwolle und Getreide
manipulirt. Nun schieben sich hintereinander ein das Wapping-
Bassin und das ihm flussvorwärts liegende Kings-Dock. Zwischen
Kings-Dock und dem Fluss ist noch eine breite, für ein grosses
Tabaksmagazin verwendete Fläche. Hinter dem Wapping-Dock und
durch die Strasse getrennt erheben sich die grossen Wapping-Speicher,
in denen namentlich Baumwolle und Jute als Massenartikel erscheinen.
Kings-Dock ist dem Tabakshandel gewidmet.
Nun folgen abermals zwei Docks hintereinander, vorne das Albert-
und rückwärts das Salthouse-Dock. Letzteres gehört zu den ältesten
Anlagen und wurde schon 1753 erbaut, jedoch in der Mitte unseres
Jahrhunderts umgestaltet. Das erstere dagegen ist neuer und verfügt
über grosse Waarenhäuser. Nahe beim Salthouse-Dock liegt das
Zollamts- und Postgebäude. Dann erreicht man das Canning-Dock,
das vom Fluss durch eine Art Vorbassin und Trockendock geschieden
ist. Hierauf folgt dicht am Flusse das kleine Manchester-Dock und
innenwärts das St. Georges-Dock, welches auch noch zum Theil
aus dem vorigen Jahrhundert stammt und 1871 bedeutend erweitert
worden ist. Dieses Dock zählt zu den bedeutendsten und dient für
Ladungen aller Art. Nach diesem Dock findet eine Unterbrechung
statt, zunächst durch eine grosse Badeanlage, welche zwischen dem
letztgenannten Dock und dem Flusse liegt, und dann durch den schon
erwähnten Landing Stage mit einer Länge von 700 m, welcher auf
schwimmenden Pontons ruht und durch acht Brücken mit dem Ufer
in Verbindung steht. Er zieht sich noch bis vor das Princes-Dock
hin. Letzteres hat allein einen Kostenaufwand von fast sechs Millionen
Gulden verursacht und dient hauptsächlich dem Verkehre mit Amerika
und China. Hierauf folgt das Waterloo-Dock mit zwei Bassins, von
denen das eine dem Kornhandel ausschliesslich dient, dann die wieder mit
der Schmalseite dem Flusse zugewendeten Victoria- und Trafalgar-
Docks, sonach das Clarence-Dock mit Vorhafen, hierauf noch einige
Trockendocks, das Salisbury-Dock, dahinter landwärts das Colling-
wood- und endlich noch mehr landeinwärts das Stanley-Dock. An
der Einfahrt in das erstgenannte Dock, durch welches auch der
Zugang zu den beiden anderen führt, erhebt sich auf kleiner, insel-
artiger Unterlage ein Uhrthurm. In das Collingwood-Dock gehen
zumeist Dampfer, welche nach Irland verkehren, während das Stanley-
Dock grosse Segelschiffe aufnimmt. Letzteres hat auch einige Speicher
zur Verfügung. Nun folgen nacheinander das Nelson-, Bramley-Moore-
[1030]Der atlantische Ocean.
und das Wellington-Dock, letzteres mit einem Vorbassin. Ersteres
benützen Dampfer, welche nach Westindien und der Südsee ver-
kehren, Bramley-Dock dient hauptsächlich dem Handel mit Brasilien
und Argentinien, das Wellington-Dock endlich wird für den Verkehr
nach Canada verwendet. Mit dem London-Dock schliesst hierauf die
Reihe zunächst hier ab. Dieses Dock besitzt den tragfähigsten Krahn
Europas.
Stromabwärts kommen hierauf noch das Huskisson-Dock, in
welchem die im Mittelmeerdienste verwendeten Dampfer ihre Operationen
vornehmen, und an dasselbe mittels eines Canales anschliessend das
Canada-Dock, welches dem Holzhandel dient und auch mit einem
grossen Holzlagerplatze versehen ist. Im Zusammenhange mit dem
Canada-Dock steht auch das demselben Zwecke gewidmete Herculanum-
Dock. Endlich sei noch des Langton- und Alexandra-Docks Erwähnung
gethan, beide erst im Jahre 1881 dem Verkehre übergeben. Diese
beiden Docks befinden sich auf der Höhe moderner Construction,
ihre Ufer sind mit Hangars und Speichern wohl besorgt und verfügen
über gute Geleiseanlagen. Im Alexandra-Dock können allein 22
Dampfer grösster Gattung Unterkunft finden. Das Langton-Dock hat
eine Fläche von 8·5 ha, das Alexandra-Dock eine solche von 8 ha.
Diese beiden Docks bieten der Schiffahrt und dem Handel ganz
wesentliche Vortheile und werden darum auch mit Vorliebe besucht.
Die Baulichkeiten dieser Anlagen sind in einer Art von gothischem
Style gehalten und durch einen 36 m hohen Uhrthurm geziert.
Diese ganze hier skizzirte Dockreihe steht in ihren beiden
Hauptgruppen fast durchgängig untereinander in Verbindung, was
den Verkehr der Schiffe wesentlich erleichtert. In Bezug auf die
Ausstattung der Docks weicht dieselbe mannigfach von jener in
London und Hull ab. In Liverpool, wo, wie wir gesehen haben, nicht
grosse Actiengesellschaften, sondern der sogenannte Board die Docks
unter sich hat, stellt die Verwaltung den Schiffen meist nur den
Landungsplatz und einen entsprechenden Hangarraum zur Verfügung.
Das Laden ist dann zumeist Sache des Schiffers oder der Be-
frachter. Man benützt daher viel die Tackel und eigenen Dampfwinden
der Schiffe. Will man Krahne haben, so müssen sie eigens gemiethet
werden. Es stehen deren wohl eine Anzahl zur Verfügung, jedoch
nur zum Theil solche mit hydraulischer Einrichtung.
Eine grosse Schwierigkeit bei Anlage der Docks verursachten
die Verhältnisse von Flut und Strömung, aber es gelang, durch An-
wendung geschickter Schleussensysteme dieselben zu bewältigen. Im
[1031]Liverpool.
Zusammenhange mit den Dockanlagen stehen im Ganzen 25 Trocken-
docks, welche gleichfalls vom Board hergestellt wurden und nach
Bedarf verwendet werden. Ihre Grösse variirt von 10 bis 25 m Breite
und 87 bis 233 m Länge. Mustert man die einzelnen Docks im
Detail, so findet man wesentliche, durch die Verschiedenheit der Bau-
zeit veranlasste Unterschiede in Bezug auf deren Arrangement. In
einigen stehen die Hangars noch in wenig zweckmässiger Weise fast
am Wasser, so dass zwischen ihnen und der Uferkante kaum 1 m
Raum bleibt, dagegen war man in den neueren Anlagen immer mehr
darauf bedacht, dem durch die Erfahrung bewährten Principe, wo-
nach längs des Ufers vor Allem für eine gute und zugängliche Längen-
verbindung gesorgt werden soll, zu entsprechen. Ebenso zeigt sich
in den jüngeren Anlagen immer mehr das Bestreben nach besserer
und directerer Verbindung zur Bahn.
Eine unstreitig grossartige Einrichtung ist auch der beim
Alexandra-Dock errichtete Getreide-Silo, der 50.000 Tons Getreide
aufzunehmen vermag und dessen Elevatoren per Stunde 75 Tons be-
wältigen können.
Längs dieses ganzen Docksystems bewegt sich ununterbrochen
ein ganz gewaltiger Verkehr, dem leider die Breite der Strassen,
auf die er angewiesen ist, nicht entspricht. Es hat sich daher 1888
eine Gesellschaft gebildet, um längs der Docks eine Overhead oder
Elevated railway, d. h. einen auf hohen Säulen ruhenden Schienenweg
zu bauen, wodurch der gegenwärtige Verkehr der Fussgänger und
jener der Fuhrwerke ungestört statthaben kann. Nachdem die Ge-
sellschaft 1889 die hiezu erforderliche Ermächtigung des Parlamentes
erhalten hatte, schloss sie einen Vertrag mit einem Bauunternehmer
ab, welcher sofort Hand ans Werk legte, und man hofft 1891 die
Bahn eröffnen zu können. Dieser Schienenweg ist für den Personen-
transport bestimmt, wird 10·5 km lang sein und auf 5·5 m hohen
Säulen ruhen, die aus zwei Schaftrinnen und zwei Platten zusammen-
genietet sind; die Träger wiegen je etwa 25 t und haben eine normale
Spannung von 15·3 m, an einigen Stellen jedoch auch von 23 bis
30·5 m. Der Quere nach wird der obere Theil mit Hobsons’ patentirtem
Boden, d. i. mit halbrund gebogenen Platten bedeckt sein, auf diese
legt man hölzerne Schwellen und auf diese die stählernen Schienen.
Nach je einer halben Meile (0·8 km) wird die Linie eine Halte-
stelle besitzen. Als Bewegkraft der Waggons ist Elektricität in Aus-
sicht genommen. Auch der Mersey bietet ein höchst belebtes Bild
dar, welches durch die Bedürfnisse des localen Verkehres, dem
[1032]Der atlantische Ocean.
zahlreiche kleine Dampfboote dienen, nur noch gehoben wird.
Eine Schwierigkeit lag lange darin, dass man für den Verkehr
zwischen den beiden Ufern des Flusses nur auf Fähren angewiesen
war, weil eine Ueberbrückung, ohne die Schiffahrt zu stören, nicht
ausführbar schien. Aber auch da wusste die Energie und der Unter-
nehmungsgeist moderner Techniker Abhilfe zu schaffen. Man führte
einen Tunnel unterhalb der Sohle des Mersey von Liverpool hinüber
nach Birkenhead. Dieser im Jahre 1886 feierlich eröffnete Tunnel
ist grossartig angelegt, er geht von St. James-Street aus, endet in
Hamilton Square zu Birkenhead und hat eine Länge von 1144 m,
einen lichten Raum von 8 m in der Breite und in der Höhe von 6 bis
7 m. Die Ventilation dieses Tunnels wird durch gewaltige Maschinerien
besorgt, welche per Minute 600.000 Cubikfuss Luft einzupumpen
vermögen. Durch den Tunnel führt eine Eisenbahn, welche mit den
unterirdischen Bahnen in Verbindung gebracht werden soll. Das
Traject von der einen Seite des Tunnels nach der anderen wird
infolge der zur Verwendung kommenden sehr starken Maschinen in
vier Minuten zurückgelegt. Ausser dieser jüngsten Tunnelbahn verfügt
die Stadt Liverpool aber auch über eine unter der halben Stadt durch-
gehende unterirdische Personeneisenbahn, und zwei Eisenbahngesell-
schaften haben lange Tunnels bauen müssen, um ihre Güterzüge zu
den Docks bringen zu können, deren ältere Anlage auf den Zugang
per Bahn nicht Bedacht genommen hat, ein Uebelstand, dem man später
kaum mehr abhelfen konnte. Liverpool ist einer der wichtigsten Eisen-
bahnknotenpunkte von ganz Europa. In Liverpool münden die London-
und Nordwest-, die Midland-, die Great Northern-, die Manchester-
Sheffield-Lincoln-, dann die Lancashire- und Yorkshire-Eisenbahn,
während die Great Western ihren Endpunkt in Birkenhead hat.
Diese Bahnen haben vollauf zu thun, um den Bedürfnissen des riesigen
Verkehres, der sich in stets steigendem Masse abwickelt, zu ent-
sprechen.
Legende zum Stadtplan von Liverpool.
A Sandon-Dock, B Wellington-Dock, C Bramley-Moore-Dock, D Nelson-Dock, E Salisbury-Dock,
G Collingwood-Dock, H Stanley-Dock, J Clarence-Dock, K Trafalgar-Dock, L Victoria-Dock, M Waterloo-
Dock, N Princes Half tite-Dock, O Princes-Dock, P Georges-Dock, Q Canning-Dock, R Albert-Dock,
S Salthouse-Dock, T Kings-Dock, U Wapping-Dock, V Queens-Dock, W Coburg-Dock, X Brunswick-Dock,
Y Carriers-Dock, Z projectirte Importdocks. — 1 Leeds- und Liverpool-Canal, 2 Centralstation (Cheshire
Lines Ry.), 3 London- und N. W. R. Lime Street-Stat., 4 Exchange-Station, 5 North Dock-Station,
6 Güterbahnhöfe der London N. W.-Bahn, 7 Güterbahnhöfe der Cheshire-Bahn, 8 Mersey-Tunnel,
9 Zollamt und Post, 10 Börse, 11 Town Hall, 12 Municipalämter, 13 St. Georges Hall, 14 St. Geor-
ge’s Kirche, 15 St. Peters-Kathedrale, 16 St. Thomas-Kirche, 17 St. Michaels-Kirche, 18 Theatre
Royal, 19 Vauxhall Road, 20 Byron Street, 21 Lime Street, 22 Islington, 23 London Road, 24 Brownlow
Hill, 25 Mount Pleasant, 26 Duke Street, 27 Canning Street, 28 Parliaments Street, 29 Park Road,
30 Princes Road. — Birkenhead: A Alfred-Dock, B Wallasey-Dock, C Morpeth-Dock, D Egerton-
Dock, E Schiffswerften, G Station der Roylax-Ry.
[[1033]]
(Legende siehe auf Seite 1032.)
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 130
[1034]Der atlantische Ocean.
Werfen wir noch einen Blick auf das Leben in Liverpool, so
sehen wir eine Stadt vor uns, in welcher die geschäftlichen Interessen
Alles überwiegen und Anderes nur in zweiter Linie in Betracht kommt.
Liverpool ist nicht wie London zugleich das politische Centrum des
Landes, der Sitz des Hofes und einer überreichen Aristokratie, wo
sich auch die Fäden des geistigen Lebens enge verknüpfen, Liverpool
ist Handelsstadt par excellence. Es besitzt trotzdem wissenschaftliche
Etablissements und Einrichtungen, welche dem Vergnügen gewidmet
sind, und seine Einwohner verstehen auch das Leben zu geniessen,
namentlich jene, welche sich schöne Capitalien bereits erworben haben;
aber des Geschäftes wird man nicht los, und selbst in der Atmosphäre
der Stadt mahnen Staub und Kohlenruss an die Dinge, denen das
Tageswerk gewidmet ist.
Dafür hat Liverpool aber jederzeit die lebhafteste Theilnahme
für alle commerziellen und wirtschaftlichen Interessen bethätigt, und
es ist ganz insbesondere bemerkenswerth, dass die grosse gegen die
Kornzölle gerichtete Bewegung, welche von freihändlerischen Tendenzen
getragen war, von Liverpool ihren Ausgang nahm, und dass in dieser
Stadt der berühmte Cobden die Agitation leitete.
Die Schwesterstadt von Liverpool, Birkenhead, verdankt ihr
Entstehen ihrer ausserordentlich günstigen Lage, welche es zu einer
Art Ergänzung von Liverpool bestimmte. In der Grafschaft Cheshire
gelegen, war es ein kleiner Flecken von keiner Bedeutung. Es ent-
wickelte sich erst, als man daran ging, auch dort Dockanlagen sammt
Zugehör herzustellen. Auf der Birkenheadseite des Mersey waren die
Tiefenverhältnisse günstiger als jenseits, und dies erleichterte maritime
Bauten. Im Jahre 1844 begann man mit der Einrichtung eines Docks an
Stelle eines grossen Sumpfes. Der Bau kam jedoch erst nach mancherlei
Zwischenfällen zu Stande, als der Mersey-Dock and Harbour Board
auch die Anlagen von Birkenhead seiner Competenz überwiesen er-
hielt (1855). Seither hat sich die Zahl der Docks auf fünf vermehrt,
welche über eine Quailänge von 12.000 m und über eine Wasserfläche
von 202 ha disponiren. Die Birkenheader Anlagen haben entgegen
jenen von Liverpool durchwegs den grossen Vorzug, dass sie schon im
Zeitalter der Eisenbahnen ins Leben gerufen wurden und man daher
bei ihrer Einrichtung auf die bezüglichen Erfordernisse vollauf Bedacht
nehmen konnte. Jene fünf Docks sind das Morpeth- und Egerton-Dock,
dann das Great-Float mit zwei durch einen Canal verbundenen selb-
ständigen Bassins (East-Float und West-Float) und einem Vorhafen
(Alfred-Dock), endlich das Wallasey-Dock. Hier gelangen zunächst
[1035]Liverpool.
grosse Kohlenquantitäten aus Wales zur Verschiffung, und darum sind
die Docks mit Vorrichtungen zur Kohlenschüttung versehen. Es wird
der mit circa 10 t Kohle beladene Waggon mit hydraulischer Kraft
gehoben, mittelst einer abermaligen Anwendung hydraulischer Kraft
schräge über eine Kante gestellt und in die zum Boden des
Schiffes hinabführende Schüttrinne umgestürzt. Mit dieser Vorrichtung
vermag man bis zu 100 t per Stunde zu bewältigen. Neben der Kohle
spielt in Birkenhead auch das Getreide eine grosse Rolle. Es sind
grosse Getreidespeicher mit sechs Stockwerken Höhe vorhanden, welche
65.000—70.000 Tons einlagern können. Diese Speicher bestehen aus
einer Reihe getrennter, jedoch unter einander in Verbindung stehender
Gebäude. Vor diesen Speichern liegt immer ein Quai, welcher Platz
für eine Fahrstrasse und Schienengeleise hat und der vollkommen
überdacht ist.
Auch Birkenhead verfügt wie Liverpool über schwimmende
Landungs- (Ponton-) Plateaux, die Landing Stages, welche den Schiffen
ein gutes Anlegen gestatten. Es bestehen deren zwei, welche mit dem
Festlande durch mehrere Brücken für Fussgänger und für schweres
Fuhrwerk verbunden sind. Die Stadt selbst, welche gegenwärtig
100.000 Einwohner zählt, macht den Eindruck grosser Regelmässigkeit.
Die Strassen sind breit und kreuzen sich meist im rechten Winkel.
Die fünf hauptsächlichsten Strassen laufen durchwegs vom Flusse
aus landeinwärts. Birkenhead besitzt eine weitverzweigte Pferde-
Tramway, die deshalb bemerkenswerth ist, weil sie die erste ihrer
Gattung in England war.
Hamilton Square bildet eine Art von Centralpunkt der Stadt.
Dort mündet auch der Mersey-Tunnel vorläufig in einen Schacht,
von dem ein Dampfaufzug zur Oberwelt führt. Auf diesem Square
liegt auch das Stadthaus. In der Nähe steht eine ansehnliche Markt-
halle. Die Stadt besitzt fernerhin ein grosses Theater, eine Musikhalle
und mehrere gut eingerichtete Unterrichtsanstalten. Eine besondere
Zierde Birkenheads bildet der grosse Park, welcher mit seinen Teichen,
seiner reichen, vielfach exotischen Flora, schönen Sommerpartien und
anziehenden Durchsichten zu den reizendsten derartigen Anlagen in
England zählt. Dieser Park ist auch für die Liverpooler ein beliebter
Ausflugsort.
In Birkenhead hat sich die Schiffbauindustrie wohl einge-
richtet und verfügt über eine Anzahl stattlicher Werften, welche
vielfach beschäftigt sind, wie nicht minder in der Stadt selbst mehrere
Maschinenfabriken von Bedeutung existiren.
130*
[1036]Der atlantische Ocean.
Birkenhead bildet sonach, trotz seiner emancipirten Selbständig-
keit, eine Ergänzung von Liverpool, mit welchem es die gleichen
Interessen enge verbinden.
Aber heute droht den beiden Seeplätzen eine sehr ernstliche
Concurrenz von anderer Seite, und wir können nicht umhin, eines
wenn auch noch nicht vollendeten Unternehmens zu gedenken, welches
in sehr einschneidender Weise auf die Sachlage am Mersey zurück-
wirken wird, nämlich des grossen Canales, welcher im Bau und
bestimmt ist, die gewaltige Industriestadt Manchester und mehrere
andere gleichfalls bedeutsame industrielle Emporien von Lancashire
mit der See direct zu verbinden und derart von der Abhängigkeit
von Liverpool zu emancipiren. Den Anlass zu diesem Unternehmen
gab der Umstand, dass man in Liverpool mit theuren Platzspesen
arbeitet und doch wieder nicht im Stande ist, diese Spesen in erheb-
licher Weise zu erniedrigen. Da entstand nun in Manchester, welches
stark über Liverpool arbeitet, der Gedanke, sich einen directen
und unabhängigen Seeweg zu eröffnen, und zwar durch den Bau eines
Canales. Das Unternehmen fand Anklang, eine Parlamentsacte setzte,
ähnlich wie es in Liverpool der Fall, einen eigenen Board ein und
gab demselben das Recht zum Baue und Betriebe. Man veranschlagte
die Kosten auf 10 Millionen Pfund Sterling. Dieser Canal nimmt bei
Manchester seinen Anfang, wo drei grosse, mit allen modernen An-
forderungen ausgestattete Docks errichtet werden. Sodann benützt der
Canal zunächst den Fluss Irwell, den er jedoch zum Theil durch
Durchstiche abkürzt, um hierauf unter Benützung des Mersey weiter
zu gehen. Der Canal berührt die Städte Salford, Warrington, wo
auch ein Dock angelegt wird, Runcorn und mündet unterhalb des
letzteren bei Eastham in das grosse Becken des Mersey, also eine gute
Strecke oberhalb Liverpools. Die ganze Länge des Canals ist auf
56 km veranschlagt. Die Sohlenbreite wird 36 (zwischen Barton und
Manchester 52 m), die geringste Wassertiefe 8 m (die Schleussensohlen
8·8 m Tiefe) betragen. Am Ausgange des Canales sind auch Dock-
anlagen projectirt. Der grosse Bau wurde im Jahre 1886 begonnen,
und man hoffte in vier Jahren mit demselben zu Ende zu kommen. Doch
konnte diese Bauzeit nicht eingehalten werden, was bei der Gross-
artigkeit des Werkes nicht in Erstaunen setzen darf. Trotzdem ist Hoff-
nung vorhanden, dass keine wesentliche Ueberschreitung des Termines
stattfinden werde. Das Grossartige des Unternehmens erhellt aus der
Thatsache, dass die Herstellung des Canals und der Docks eine
Materialbewegurg von 38·5 Millionen Cubikmeter, worunter 8 Millionen
[1037]Liverpool.
Fels, erfordert. Diese Massenbewegung wird mit Hilfe von 194 Dampf-
krahnen, 182 Locomobilen und anderen Dampfmaschinen, sowie von
200 Dampfpumpen bewältigt. Sämmtliche Arbeitsmaschinen verbrau-
chen monatlich 10.000 t Kohle für ihren Betrieb.
Der Manchestercanal wird jedenfalls einen guten Theil des
Verkehres an sich ziehen und nicht nur Liverpool, sondern auch die
betheiligten Eisenbahnen beeinträchtigen. Freilich bei der kolossalen
stetigen Steigerung der wirtschaftlichen Bewegung namentlich in den
fraglichen Theilen von England darf man annehmen, dass schliesslich
trotz des Manchestercanales immer noch die Quelle des Erwerbes für
Liverpool-Birkenhead reichlich genug fliessen werde. Interessant ist,
dass zur Anlage dieses Seeschiffahrtscanales dieselbe Ursache treibt,
welche 1827 zur Errichtung der ersten Eisenbahn trieb, nämlich die
Umgehung der theueren Transportspesen zwischen Liverpool und
Manchester.
Betrachten wir nun die maritime Lage Liverpools, so finden
wir dieselbe für die Schiffahrt sehr günstig. Zwar hat der Mersey an
seiner Mündung, wie die meisten Flüsse, eine Barre angesetzt, allein
nachdem die Flut die gewaltige Höhe von 7·5 m erreicht, so bietet
die Ueberschreitung der bei Ebbe nur 3·6 m Wasser führenden
Barre selbst für die grössten Schiffe keine Schwierigkeit. Ueberhaupt
sind hier der reissende Flutstrom und der Ebbestrom die beiden gross-
artigen treibenden Gewalten, welche bei der Schiffahrt und bei der
Dockmanipulation ausserordentlich zur Geltung kommen.
Unser Uebersichtsplan zeigt den ganzen Verlauf des nach Liver-
pool-Birkenhead führenden Fahrwassers. Der durch Leuchtschiffe und
Tonnen gut markirte Queen-Channel bildet die wichtigste Zufahrt-
strasse nach Liverpool, welche innerhalb der Barre selbst bei tiefster
Ebbe nirgends weniger als 8 m Wassertiefe aufweist. Die Barre zwingt
aber grössere Schiffe zum Abwarten des Hochwassers. Ausgedehnte
Sandbänke liegen auf der Westseite des Canales, und ein breiter Ebb-
strand zieht sich längs des Festlandes hin, welchen die Flut mit
tiefem Wasser bedeckt. Man ersieht aus dem Plane, dass auch längs
der Dockanlagen die Anschwemmung von Sinkstoffen stattgefunden
hat. Zu ihrer Beseitigung hat man äusserst sinnreiche Einrichtungen
am nördlichen Ende bei der Canada-Dock-Einfahrt gemacht. In den
beiden Seitenwänden des Langton-Docks wurden mächtige Canäle
(3·7 m breit, 3·7 m hoch und 9·3 m unter dem Niveau der ge-
wöhnlichen Flut) geführt und ein dritter Canal von einer anderen
Seite zugeleitet. Diese Canäle sind gewöhnlich [abgesperrt]. Will man
[1038]Der atlantische Ocean.
nun die Anschwemmungen durch Wassergewalt wegreissen, so
öffnet man die Canäle bei Ebbe, und nun schiesst das Wasser aus
den gefüllten Bassins mit Riesengewalt gegen die schlammige Sohle
des Vorhafens und reinigt sie. Um dies gründlich zu erzielen, wurden
auch vier Canäle von 2·4 m Durchmesser in die Mitte des Vorhafens
geführt. Werden alle Canäle in Thätigkeit gesetzt, was nicht immer
nothwendig ist, so stürzen 1·7 Millionen Cubikfuss (64.000 m3)
Wasser in der Minute hervor und verrichten die Wegräumung der
Sinkstoffe in kürzester Zeit.
Nördlich und südlich von Queen-Channel führt gleichfalls
zwischen weitläufigen Bänken je ein Wasserweg für kleine Schiffe
nach Liverpool, und zwar der Old Formby-Channel im Norden und
der Horse-Channel im Süden. Schwierig ist die Schiffahrt bei Nebel,
aber gerade da zeigt sich die Vollkommenheit der Liverpooler Hafen-
einrichtungen. In keinem zweiten Hafen der Welt haben wir ein so
präcis arbeitendes System von Lichtern, Bojen, Nebelhörnern u. dgl.
Werfen wir nun einen Blick auf die Handelsbewegung dieses
Hafens, so zeigt sich uns folgendes Bild:
Wiewohl Liverpool dem Schiffsverkehr und dem Gesammtwerthe seiner
Handelsbewegung im Allgemeinen noch hinter London zurücksteht, muss es
dagegen als der erste Ausfuhrhafen Englands für inländische Erzeugnisse betrachtet
werden. Der Importwerth Liverpools weist gegenüber dem Londons vom Jahre
1889 ₤ 111 Millionen gegen ₤ 144 Millionen, also ein Minus von ₤ 33 Millionen
auf, dagegen beziffert sich im selben Jahre die Ausfuhr Liverpools an Erzeug-
nissen des vereinigten Königreiches auf ₤ 102 Millionen gegen ₤ 48 Millionen,
die aus London ausgeführt wurden. In dem Exporte fremder Producte behauptet
allerdings London wieder den Vorrang.
Bei der Gegenüberstellung der Werthe des Totalverkehres beider Städte,
der bei London rund ₤ 232 Millionen, bei Liverpool rund ₤ 226 Millionen beträgt,
sieht man die Differenz eine sehr geringe werden.
Die Handelsbewegung Liverpools während der letzten fünf Jahre geht aus
nachstehender Zusammenstellung hervor:
| [...] |
Aus dieser Tabelle wird ersichtlich, dass sowohl die Ein- wie die Ausfuhr
Liverpools von Jahr zu Jahr erhebliche Fortschritte machen, während letztere
in den Ausweisen Londons während der gleichen Zeitperiode sich kaum auf der
alten Höhe behauptet.
Bei näherer Betrachtung des Importes muss der Menge wegen die Einfuhr
von Getreide an die Spitze gestellt werden. Der Uebersicht halber mögen die
[1039]Liverpool.
Importmengen der letzten drei Jahre hier verzeichnet werden. Es wurden einge-
führt in Metercentnern:
| [...] |
In enger Verbindung mit den Brotfrüchten steht die Gruppe der übrigen
Nahrungsmittel, deren Einfuhr daher gleich an dieser Stelle beleuchtet werden
soll. Dieselbe betrug in Metercentnern:
| [...] |
Hieran reiht sich die Einfuhr von Reis mit 1,627.000 q des Jahres 1889
gegen 1,594.000 q des Jahres 1888 und 1,157.000 q des Jahres 1887.
Die Reihe der Nahrungsmittel beschliessen Früchte und Gemüse, an
denen Liverpool im Fiscaljahre 1889 einführte: 200.000 q Korinthen, 86.000 q
Trauben, 992.475 hl Orangen und Citronen, 434.528 hl rohe Aepfel, 158.899 hl
andere Obstsorten, ferner an Zwiebeln 336.341 hl und diverse Gemüse im
Werthe von 75.608 ₤.
Von einiger Bedeutung ist ferner der Import von Zucker, der sich im
Jahre 1889 auf 3,061.000 q gegen 3,463.000 q des vorhergehenden Jahres belief.
Merkwürdig unbedeutend ist der Import an Thee, der sich über 681 q nicht
erhebt, dagegen ist die Einfuhr von Cacao 1889 mit 10.989 q eine erhebliche
zu nennen.
Liverpool bezieht ansehnliche Quantitäten von Wein und Spirituosen, deren
Importmengen während der letzten drei Jahre hier verzeichnet werden sollen. Es
wurden eingeführt:
| [...] |
Die grösste Einfuhr unter allen englischen Häfen hat Liverpool an Tabak,
für welchen es auch den Hauptmarkt bildet. Es bezog im Jahre 1889 167.200 q
gegen 106.100 q des vorhergehenden Jahres an unverarbeitetem Tabak, während die
[1040]Der atlantische Ocean.
Einfuhr von verarbeitetem Tabak in den letzten drei Jahren über die Menge von
7073 q nicht hinausging.
Ein sehr wichtiger Artikel, von welchem weit über 90 Percent der ge-
sammten englischen Einfuhr ihren Weg über Liverpool nehmen, ist Baumwolle.
Liverpool ist nämlich der erste Baumwollenmarkt der Welt für effective
Waare, wiewohl der continentale Baumwollimport sich seit den letzten zehn
Jahren von den englischen Plätzen zu emancipiren sucht. Liverpool notirt und
handelt alle Provenienzen Baumwolle. Der Löwenantheil des Importes mit circa
75 Percent entfällt auf amerikanische, 10 Percent auf Brasil-, 7 Percent auf
egyptische und circa 8 Percent auf ostindische Baumwolle. Die Einfuhr bezifferte
sich in den Jahren 1889 auf 7,979.000 q, 1888 auf 7,177.000 q und 1887 auf
7,293.000 q.
An der Liverpooler Baumwollbörse können folgende Geschäfte abgeschlossen
werden: 1. Termingeschäfte (welche zumeist in nordamerikanischer Baumwolle
stattfinden), 2. Verkäufe von in Liverpool lagernder Baumwolle, 3. Verkäufe von
Baumwolle auf Ankunft, 4. Cost-Fracht- (cf) und Cost-Fracht-Assecuranz- (cif.)
Verkäufe.
Jute weist im Jahre 1889 einen Import von 17.729 t auf, Hanf einen
solchen von 242.347 q und Flachs von 58.503 q.
Die verschiedenen Oele weisen gleichfalls einen ansehnlichen Import auf;
an der Spitze steht (1889) Palmöl mit 510.924 q, Thran und Walrath mit 2665 t,
Olivenöl mit 4521 t und Samenöl mit 2099 t. Der Import von Oelkuchen belief
sich im selben Jahre auf 77.263 t.
In der Einfuhr von Sämereien sind hervorzuheben Baumwollsamen
mit 31.443 t, Klee- und Grassamen mit 9399 q, Flachs- und Leinsamen
mit 674.500 hl und Rübsensamen mit 3657 hl.
An Kautschuk wurden im letzten Jahre 96.200 q importirt, an Droguen
(Rinde und Peruvian) 784 q, an Farbstoffen (Indigo incl.) 3800 q und Farben im
Werthe von 117.975 ₤.
Die Menge der nach Liverpool importirten Wolle weist, wenn sie auch
mit der Einfuhrsmenge Londons nicht in Vergleich gezogen werden kann, immer-
hin die stattliche Ziffer von 328.730 q an Schaf- und Lammwolle und 45.357 q
an Ziegenhaar für das Jahr 1889 auf.
Dem gleichen Zwecke dient der grösste Theil der importirten Bauhölzer.
Die Holzeinfuhr umfasste während der letzten drei Jahre:
| [...] |
Die Einfuhr lebender Thiere belief sich im letzten Jahre auf 169.450
Ochsen, Kühe und Kälber, 52.659 Schafe und Lämmer und 236 Pferde.
Eine bedeutende Rolle spielt ferner die Einfuhr von Petroleum in der
Höhe von 1,072.613 hl im Jahre 1889 gegen 1,155.540 hl des vorhergehenden
Jahres und 966.184 hl des Jahres 1887.
[[1041]]
A Directionslinien der Zufahrten, B Rettungsboote, C Küstenwache, D Fort, E Tunnel, F Leuchtfeuer, F1 Leuchtschiffe.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 131
[1042]Der atlantische Ocean.
Wir gelangen nunmehr zu der Einfuhr der verschiedenen Metalle, welche
einen stattlichen Theil des Gesammtimportes Liverpools repräsentiren.
Es wurden bezogen in den Jahren
| [...] |
Der Bezug an Metallen dient in erster Linie dazu, um den Bedarf der in
Liverpool bestehenden grossen Schiffswerften zu decken.
Eine nennenswerthe Einfuhr verzeichnen die Düngemittel aller Art mit
61.438 t im Jahre 1889 gegen 53.174 des vorhergehenden Jahres.
Ebenso beträchtlich ist der Import von Salpeter, der sich im Jahre 1889
auf 400.900 q, im Jahre 1888 auf 336.300 q und 1887 auf 315.900 belief.
Talg und Stearin stehen in Bezug auf die eingeführten Mengen nicht
viel nach und verzeichneten im Jahre 1889 eine Einfuhr von 260.000 q.
Als Importartikel von einiger Bedeutung sind noch Leder, Felle und Häute
hervorzuheben. Die Einfuhr von Leder bezifferte sich 1889 auf 149.855 q, 1888
auf 110.028 und 1887 auf 103.787 q, weist also innerhalb dieses Zeitraumes eine
Steigerung von rund 50 Percent auf. An rohen Häuten importirte Liverpool
1889 127.400 q gegen 124.000 q des Jahres 1888 und 105.200 q des Jahres 1887.
Der Import an Schaf- und Lammfellen endlich betrug 1889 1,804.890 Stück
gegen 1,277.112 Stück des Jahres 1888.
Die Importliste beschliessen verschiedene Fabricate, unter denen als die
wichtigeren des letzten Jahres hervorzuheben sind: Papier aller Art (Tapeten aus-
geschlossen) mit 39.000 q, Glas aller Gattungen mit 51.134 q, Leinengarne mit
9356 q und Wollfabricate im Werthe von 94.059 ₤.
Den Export Liverpools theilen wir wie bei der Behandlung aller englischen
Häfen in den inländischer Fabricate und den ausländischer Producte. Wir beginnen,
mit ersterem als den ungleich wichtigeren und verweisen auf die obige Zusammen-
stellung der Gesammtwerthe, welche klarlegt, dass in diesem Theile der Handels-
bewegung die eigentliche Bedeutung und Stärke Liverpools als Hafenplatz liegt.
Es bildet den Speditionsplatz für die vielen Güter, welche aus den fabriksreichen
Grafschaften Lancashire und Yorkshire zur Verschiffung nach allen Welttheilen
hieher gelangen.
So ist es denn auch begreiflich, dass die Erzeugnisse der Textilindustrie
in dem Exporte Liverpools die erste Stellung einnehmen, so zwar, dass Baum-
wollfabricate allein dem Werthe nach 46 Percent der Gesammtausfuhr ausmachen
und Wollfabricate den zehnten Theil des Totalexportes repräsentiren. Die Mengen
und Werthe der in den letzten drei Jahren exportirten Textilwaaren veranschau-
licht folgende Tabelle:
[1043]Liverpool.
| [...] |
Der Export an Kleidungsstücken repräsentirte im letzten Jahre einen
Werth von 784.078 ₤, der an Kurz- und Putzwaaren einen solchen von
798.777 ₤, während der Werth der ausgeführten Hüte sich auf 442.158 ₤ belief.
An zweiter Stelle steht der Export von Metallen und Metallwaaren,
welcher, von Maschinen abgesehen, circa 12 Percent der Gesammtausfuhr beträgt.
Wir geben hier die Bewegung der Ausfuhr dieser Gruppe während der letzten
drei Jahre:
131*
[1044]Der atlantische Ocean.
| [...] |
Im Anschlusse an diese Gruppe sind noch Maschinen aller Art zu nennen,
deren Exportwerth sich im Jahre 1889 auf 5,431.847 ₤, im Jahre 1888 auf
4,502.689 ₤ und im Jahre 1887 auf 3,693.322 ₤ belief.
Einen wichtigen Ausfuhrartikel Liverpools bildet Alkali mit folgenden
Ziffern:
- 1889 ... 2,480.000 q im Werthe von 1,303.219 ₤
- 1888 ... 2,540.000 „ „ „ „ 1,376.734 „
- 1887 ... 2,300.000 „ „ „ „ 1,428.590 „
Unter den übrigen Fabricaten, welche die Ausfuhrlisten aufweisen, folgen
chemische Producte und Präparate im Werthe von 1,037.297 ₤ des Jahres
1889. Der Werth der Steingut- und Porzellanwaaren belief sich 1889 auf
1,556.295, 1888 auf 1,462.741 ₤ und 1887 auf 1,385.812 ₤.
An anderen Fabricaten wurden im Jahre 1889 über Liverpool ausgeführt:
- Glaswaaren aller Art ......... im Werthe von 548.303 ₤
- Pelzwaaren „ „ ......... „ „ „ 629.391 „
- Gedruckte Bücher .......... „ „ „ 398.633 „
- Kautschukfabricate .......... „ „ „ 231.925 „
- Schuhwaaren aller Art ........ „ „ „ 410.562 „
- Sattlerwaaren ............. „ „ „ 149.273 „
- Chemische Düngemittel ....... „ „ „ 316.804 „
- Malerfarben und Materialien .... „ „ „ 243.112 „
- Papierfabricate ............ „ „ „ 207.107 „
- Feuerwaffen aller Art ........ „ „ „ 340.712 „ und
- Kerzen aller Art ........... „ „ „ 47.678 „
Es wären nun noch zu erwähnen die Ausfuhr von Zucker mit 200.000 q im
Werthe von 320.419 ₤ und der ziemlich erhebliche Export an Salz, welches im
letzten Jahre 592 231 t im Werthe von 462.313 ₤ umfasste.
An Bier wurden im Jahre 1889 174.665 hl im Werthe von 389.982 ₤, an
Spirituosen 15.168 hl im Werthe von 90.532 ₤ ausgeführt.
Der Export von Fischen namentlich Häringen belief sich auf 154.806 hl im
Werthe von 103.678 ₤, der von diversen „Provisions“ auf 363.614 ₤.
Den Schluss der Exportliste inländischer Erzeugnisse machen Kohle und
Coaks, wovon Liverpool im letzten Jahre 558.189 t im Werthe von 348.474 ₤
ausführte.
Der Werth aller übrigen im Jahre 1889 zur Ausfuhr gelangten, hier nicht
speciell benannten Artikel inländischen Ursprunges belief sich auf 7,561.286 ₤.
[1045]Liverpool.
Wir gelangen nunmehr zur Besprechung des Reexportes ausländischer
und colonialer Producte.
In dieser Kategorie spielt die Ausfuhr von Reis, welcher Artikel bekannt-
lich in Liverpool einen seiner Hauptmärkte findet, die erste Rolle. Die ausge-
führte Menge betrug im Jahre 1889 1,083.000 q gegen 942.442 q des vorher-
gehenden und 788.900 q des Jahres 1887.
Der nächstwichtige Artikel ist Wolle (Schaf- und Lammwolle) deren Aus-
fuhr sich im Jahre 1889 auf 163.300 q gegen 173.900 q des Jahres 1888 und
152.700 q des Jahres 1887 belief.
Aus den Ziffern der ausgeführten Baumwolle (roh), welche kaum 5 Per-
cent der importirten Menge ausmacht und für das letzte Jahr auf 357.000 q ver-
anschlagt wird, gewinnt man erst einen Ueberblick über die Leistungsfähigkeit
einer Industrie, welche im Stande ist, so ungeheure Mengen rohen Materials all-
jährlich zu verarbeiten.
Der Export an Hanf ist ziemlich erheblich und betrug im Jahre 1889
107.500 q, wogegen Flachs nur in der Höhe von 7500 q ausgeführt wurde.
Der Getreideexport Liverpools ist im Verhältniss zu den eingeführten
Quantitäten ein geringer und beschränkt sich nur auf Weizen und Mehl. Es
wurden ausgeführt:
| [...] |
und sieht man an dieser Zusammenstellung, dass auch der Export von Weizen
stetig abnimmt.
Von den importirten Victualien gibt Liverpool gleichfalls nur geringe Quan-
titäten ab, der Export beschränkt sich auf Schinken und Speck, Käse, Schmalz
und Butter. Die ausgeführten Quantitäten dieser Artikel während des Jahres 1889
waren: Schinken und Speck 66.200 q, Käse 9800 q, Schmalz (Schweinefett) 10.900 q.
In der Ausfuhr von Zucker ist während der letzten zwei Jahre ein Rück-
schritt zu verzeichnen, denn während die Menge des ausgeführten unraffinirten
Zuckers sich 1888 noch auf 346.700 q belief, sank sie 1889 auf 153.900 q und
in gleicher Weise bei raffinirtem Zucker von 21.300 q des Jahres 1888 auf
12.100 q des folgenden Jahres.
Die Ausfuhr in Tabak, für welchen Artikel Liverpool gleichfalls ein her-
vorragender Markt ist, war während der letzten drei Jahre folgende:
| [...] |
Liverpool gibt annähernd den fünften Theil seiner importirten Spirituosen
wieder ab. Die ausgeführten Mengen des letzten Jahres, welche Rum, Wachholder,
Branntwein und andere Sorten umfassen, beliefen sich auf 15.000 hl.
Die Ausfuhr von rohen Häuten betrug 1889 14.500 q gegen 23.300 q
des Jahres 1888. Leder wies im letzten Jahre einen Export von 14.500 q auf.
Nennenswerth erscheint noch die Ausfuhr von Metallen, die, wie aus
nachstehender Aufstellung ersichtlich, in den letzten Jahren lebhaften Schwan-
kungen unterworfen war.
[1046]Der atlantische Ocean.
Liverpool exportirte:
| [...] |
Unter den übrigen Artikeln sind als von einiger Bedeutung noch hervor-
zuheben der Export an Oelen, und zwar Palmöl, wovon 1889 297.000 q gegen
337.200 q des Jahres 1888, und Cocosnussöl, wovon im letzten Jahre 253 q gegen
4257 q des Jahres 1888 und 3823 q des Jahres 1887 ausgeführt wurden.
Unter den Farben und Farbstoffen verzeichnet Indigo den stärksten Ex-
port mit 2353 q im letzten Jahre, hierauf folgt Cochenille mit 440 q in demselben
Zeitraume. Dagegen ist der Export von Droguen ein ziemlich unbedeutender.
Die Ausfuhr von Gewürzen und Thee ist eine so geringe, dass eine spe-
cielle Besprechung derselben überflüssig erscheint; dagegen ist der Vollständigkeit
halber noch zu erwähnen der Export von
- Kaffee ....... mit 22.094 q im Jahre 1889 gegen 27.129 q des Jahres 1888
- Kautschuk .... „ 44.170 „ „ „ 1889 „ 38.263 „ „ „ 1888
- Talg und Stearin „ 11.777 „ „ „ 1889 „ 10.947 „ „ „ 1888
- Jute ........ „ 968 t „ „ 1889 „ 790 t „ „ 1888
- Wein ....... „ 2.980 hl „ „ 1889 „ 3.392 hl „ „ 1888
ferner der Export von Früchten, und zwar Korinthen mit 3057 q und Weintrauben
(getrocknet) mit 5937 q des Jahres 1889.
Mit der Anführung des Exportes roher Seide in der Höhe von 98 q (1889)
und der Seidenwaaren im Werthe von 175.876 ₤ ist auch die Liste der aus-
ländischen Exportartikel erschöpft.
Die bedeutende Industrie von Liverpool steht in engster Verbindung
mit dem Betriebe des Handels. Daher sind hervorzuheben die Werften, auf welchen
1889 29 Schiffe mit 26.283 Netto-Tons gebaut wurden, die grossen Maschinen-
fabriken, Eisengiessereien, Dampfkessel- und Messingfabriken, ferner Zucker-
siedereien, Brauereien u. a. m.
Der Schiffahrtsverkehr Liverpools ist seinem enormen Handelsverkehre
entsprechend ein sehr bedeutender. Es liefen daselbst aus und ein im Jahre:
| [...] |
Unter den Schiffen fremder Nationen sind 1889 im auswärtigen Verkehre
Liverpools von hervorragender Wichtigkeit: die spanischen (684.702 T), die norwegi-
schen (381.875 T), die der Vereinigten Staaten (202.267 T), die deutschen (119.574 T)
und die französischen (103.542 T).
Es kann nicht überraschen, dass den stärksten Verkehr Liverpool selbstver-
ständlich mit den Vereinigten Staaten von Amerika hat, von wo 1889 1353 Schiffe
[1047]Liverpool.
mit 2,772.975 T ankamen und wohin 825 Schiffe mit 2,039.912 T abgingen, an
diese reihen sich die Dominion of Canada (918.125 T), Spanien, Brasilien, Argen-
tinien, Chile, Frankreich und gegen Osten hin Britisch-Indien (654.625 T) und
Egypten.
Mannigfaltig ist die Zahl der regelmässigen Dampferverbindungen. Von
hier gehen die White Star, die Cunard-Guion (seit 1840) und die Inman-
Line (seit 1850) über Queenstown nach New-York (3028 Seemeilen), eine Linie
nach Philadelphia, die Cunard-Line nach Boston, die Allan- und die Dominion-
Line nach Canada, Neufundland und Baltimore, die West-India and Pacific Steam
Ship Cy. und die Harrison-Line nach Westindien, Colon und Mexico, die Pacific
Steam Navigation Cy. über Bordeaux, Lissabon nach Brasilien, La Plata, Chile
und Peru, die Liverpool-Brazil and River-Plate Steamers (Lamport \& Holt) nach
Brasilien und La Plata, Booth Steam Ship Cy und Red Cross-Line nach Brasilien,
die British and African Steam Navigation Cy. und die African Steam Ship Cy.
nach Westafrika.
Liverpool ist ferner Station der Dampferlinien Nederlandsche Stoomboot-
matschappy, der Union Steamship Co., der Beaver-, Leyland- und Warrenlinien,
der Yorkshire Coal and Steamship Co., Alano Larrinage Co. u. a.
In Europa sind besonders wichtig die Verbindung mit Antwerpen und
Rotterdam.
Nach dem bisher Gesagten wird es nicht gerade überraschen, dass Liverpool
unter allen Städten Englands die grösste Handelmarine besitzt, welche die
Londons beinahe um ein Drittel übertrifft, denn es besass Ende 1889 1378
Segelschiffe mit 930.841 Netto-Tons und 935 Dampfer mit 951.021 Netto-Tons,
also im Ganzen 2313 Seeschiffe mit 1,881.862 Netto-Tons. Im Jahre 1846
besass die Stadt erst 1461 Seeschiffe (darunter 55 Dampfer) mit 387.000 Tons
Gehalt.
Für den inländischen Verkehr von Bedeutung sind neben den zahl-
reichen Eisenbahnverbindungen, wie schon erwähnt, die verschiedenen Canäle,
welche Liverpool mit den grössten englischen Industriestädten verbinden und
entschieden dazu beitragen, Liverpools Stellung als grössten Ausfuhrhafens zu
begründen. Es sei hier nur der Liverpool-Leeds-Canal hervorgehoben, welcher den
Mersey mit dem der Nordsee zufliessenden Aire verbindet. Derselbe bildet eine
der grossartigsten Canalanlagen Englands, wurde vom Jahre 1770—1816 mit
einem Kostenaufwande von 2 Millionen Pfund Sterling erbaut und hat eine Länge
von 208 km bei einer Breite von 12 m und einer Tiefe von 1·5 m. Der neue
grosse Canal für Seeschiffe, der Liverpool mit Manchester verbinden soll (Manchester-
canal), wie oben erwähnt, ist im Bau begriffen.
Unter den Banken sind hervorzuheben die Bank of England, Manchester
and Liverpool Dist. Banking Co., Liverpool Union Bank, North and South
Wales Bank.
In Liverpool unterhalten Consulate: Argentinien, Belgien, Brasilien (G.-C.),
Chile, Columbia, Costarica, Dänemark, Deutsches Reich, Dominikanische Republik,
Ecuador, Frankreich, Griechenland, Guatemala, Haïti, Hawaii, Italien, Japan,
Liberia, Mexico (G.-C.), Niederlande, Nicaragua (G.-C.), Oesterreich-Ungarn (G.-C.),
Peru (G.-C.), Portugal, Russland, Salvador, Schweiz, Serbien, Spanien, Türkei
(G.-C.), Uruguay, Venezuela, Vereinigte Staaten von Amerika.
[[1048]]
Cardiff.
Zwischen der Südküste von Wales und dem südöstlichen Theile
von England öffnet sich der breite Bristol-Canal, im Norden von
Milford Haven, im Süden an der Seite von Cornwall durch Hartland
Houd markirt. Es ist ein breiter Meerbusen, dessen nördliche, die
Walliser Seite, mehrere grosse, für Schiffe sichere Buchten, namentlich
Milford Haven und die Buchten von Caermaerthen, Swansea und
Cardiff aufweist. Im Hintergrund des Canales noch im südlichen
Wales liegt etwa 3 km aufwärts des Taff-Flüsschens Cardiff, die
Kohlenstadt. Hier haben die ausgezeichneten, mächtigen Gruben von
Glamorganshire ihren Exporthafen, und von hier aus werden die von
der Schiffahrt allüberall wegen ihrer besonderen Güte mit Vorliebe
gesuchten Cardiff-Kohlen nach allen Theilen der Welt versendet.
Cardiff verdankt Alles der Kohle und dem durch den Dampfbetrieb
so ungeheuer gesteigerten Bedarf nach diesem Brennstoffe. Noch im
Jahre 1830 zählte Cardiff rund 6000 Einwohner, zu Anfang des
Jahrhunderts waren deren gar nur 1000 vorhanden. Heute ist Cardiff
der erste Kohlenhafen der Welt, seine Bevölkerung auf 130.000 Seelen
angewachsen.
Cardiff (das „Caer“, oder Schloss, am Taff) ist ein alter Ort, insoferne
als sich daselbst seit undenklichen Zeiten eine Siedelung befand und man sogar
von einer römischen Station daselbst wissen will. Die Geschichte der Stadt und
ihr Name knüpft an das Cardiff Castle an, welches lange vor der Normannenzeit
bestand und als Besitz ansehnlicher Feudalherren auch heftige Kämpfe um seine
Mauern und nicht minder gewaltsame Scenen innerhalb derselben sah. Das Schloss
ist heute Eigenthum des Lord Bute und wurde im Laufe dieses Jahrhunderts
einer gründlichen Restaurirung unterzogen.
Die Stadt Cardiff hat selbstverständlich einen modernen Charakter,
aber was der Annehmlichkeit der Stadt Abbruch thut, ist eben das-
jenige, wovon sie lebt, die Kohle. Man könnte Cardiff auch die
schwarze Stadt nennen; man sieht nichts als Kohle, Kohlenstaub oder
kohlengeschwärzte Gesichter und spricht von nichts als von der Kohle.
[1049]Cardiff.
Dies schliesst natürlich nicht aus, dass Cardiff eine Anzahl ansehn-
licher öffentlicher Gebäude besitzt. Der Schwerpunkt des öffentlichen
Lebens liegt am Hafen und in den Docks, deren es, wie unser Plan
zeigt, sieben gibt, zusammen mit einem Areal von 51 ha und einer
Quaientwicklung von rund 10·7 km.
Der verstorbene Marquis of Bute, der Besitzer des Bodens von
Cardiff, war der Erbauer der Docks und überhaupt der Begründer des
heutigen Aufschwunges der Stadt.
Cardiff.
Die Docks sind mit allen für das Laden von Kohlen erforder-
lichen Einrichtungen bestens versehen.
Für die Vortrefflichkeit der Einrichtungen spricht die That-
sache, dass ein Schiff von 2000 T Gehalt, mit Hochwasser einlaufend,
nur 24 Stunden benöthigt, um den Ballast zu löschen und Kohlen-
ladung einzunehmen, so dass dasselbe schon am folgenden Tage mit
Hochwasser wieder in See gehen kann.
Ausser Kohle gelangt in denselben namentlich noch Eisen zur
Verschiffung. Seiner Natur nach ist Cardiff ein Exporthafen, in wel-
chem viele Schiffe, die anderswo ihre Ladung löschten, leer ein-
laufen, um Kohlen zu nehmen, und dieser Umstand trägt natürlich
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 132
[1050]Der atlantische Ocean.
das Seinige dazu bei, dass auch in der Einrichtung der Docks auf
die Bedürfnisse dieses Exportartikels vorwiegend Rücksicht ge-
nommen ist.
Die Zufahrt nach Cardiff ist für grössere Schiffe sowohl über die
seichte Rhede wie aufwärts am Taff-Flüsschen nur bei Hochwasser
möglich. Dieses erreicht hier aber die enorme Höhe von 11·4 m über
dem Ebbestand, gestattet daher den Verkehr der grössten Ocean-
dampfer. Doch ist die Zufahrt nicht ohne Gefahren.
Die Bedeutung von Cardiff steht in engem Zusammenhange mit
den Gruben von Wales, jede Fluctuation in denselben wirkt auf den
Verkehr der Stadt zurück, und der günstigste Umstand, dessen
man bisher sich immer noch erfreuen konnte, liegt in der noch un-
übertroffenen Qualität der Cardiffer Kohle. Würde hierin anderswo
eine bedenkliche Concurrenz entstehen, dann könnte freilich Cardiff
seinen heutigen Rang nicht mehr so aufrecht behaupten.
Neuestens wird nächst der 15 km südwestlich von Cardiff ent-
fernten Küsteninsel Barry eine weitere Hafenanlage gebaut, weil
der in Cardiff riesig anwachsende Verkehr nicht mehr in einem Hafen
bewältigt werden kann.
Die Barry-Docks, welche mit 40 ha Fläche zu den grössten
in England gerechnet werden, sind die Unternehmung einer Privat-
gesellschaft, „Barry Dock and Railway-Company“, welche auch den
Bau einer 27 km langen Eisenbahn zur Verbindung des neuen
Hafens mit dem Kohlendistricte in Angriff genommen hat. Die Ein-
fahrt in die Barry-Docks liegt an der Ostseite der Barry-Insel und
wird durch zwei Wellenbrecher geschützt, welche einen Canal von
107 m Breite und 443 m Länge bis zum eigentlichen Fluthafen
(Dock) bilden. Schleussen werden das grosse Bassin und die Vor-
kammer desselben abschliessen. Die Baukosten dürften etwa 9 Millionen
Gulden betragen. Die Dockbauten wurden im November 1884 be-
gonnen und waren 1889 nahezu vollendet.
Die Barry-Docks haben gegenüber Cardiff den Vortheil, dass
die Zufahrt mit geringeren Schwierigkeiten verbunden ist, deshalb
steht zu erwarten, dass die neue Anlage für die alte Rivalin eine
gefährliche Concurrentin werden wird.
Die folgende Tabelle stellt die Handelsbewegung Cardiffs von 1887 bis
1889 dar:
| [...] |
Cardiff ist der erste Kohlenausfuhrhafen Englands. 86 Percent des
Gesammtwerthes der Ausfuhr inländischer Erzeugnisse entfallen auf Kohle. Es
wurden von hier im Jahre 1889 9,482.380 t im Werthe von 5,615.810 ₤ ausgeführt.
Vergleicht man diese Zahlen mit dem Kohlenexport des ganzen Vereinigten König-
reiches, welcher 1889 auf 27,944.989 t veranschlagt wird, so findet man, dass Cardiff
den dritten Theil desselben allein besorgt. Im Jahre 1888 wurden 8,883.568 t,
1887 7,789.266 t Kohlen ins Ausland verschifft. Nach britischen Häfen gingen
1889 1,220.500 t.
In der Einfuhr Cardiffs ist Getreide der vorherrschende Artikel. Es
importirte:
| [...] |
Zu bemerken ist, dass die Einfuhr von Mehl, die bei anderen Häfen eine
beträchtliche Summe aufweist, in der Importliste Cardiffs ganz unbedeutend ist.
Auch der Import von „Provisions“ ist ein nicht bedeutender und findet
sein Schwergewicht in der Einfuhr von Kartoffeln mit 87.600 q im Jahre 1889
gegen 109.300 q des vorhergehenden Jahres.
Dagegen steht Cardiff unter allen englischen Häfen in der Einfuhr von
Eisenerz unerreicht da. Von der gesammten englischen Einfuhr, die sich in
diesem Artikel auf 4 Millionen t beläuft, entfiel auf Cardiff im Jahre 1889 der
sechste Theil mit 643.430 t. Cardiff ist eben einer der ersten Plätze der Erde, wo
Erze den billigen Brennstoff aufsuchen, um verhüttet zu werden. Nach Cardiff
kommen nicht nur Erze aus dem kohlenarmen Schweden, sondern ebenso aus dem
Caplande, Chile und Australien.
An anderen Metallen importirte Cardiff im letzten Jahre 2516 tKupfer,
6738 tPyrite von Eisen und Kupfer.
Die Einfuhr der verschiedenen Düngemittel belief sich 1889 auf 1026 t,
die von diversen für die Papierfabrication nothwendigen Materialien auf 24.614 t.
Einen wichtigen Theil des Importes bildet Petroleum mit 42.887 hl.
An Bau- und Brennholz importirte Cardiff 816.380 m3 (1889).
Nächst Kohle sind die verschiedenen Erzeugnisse der Metallindustrie in
der Ausfuhr von massgebender Bedeutung, weil in der Nähe und bei Merthyr
Tydfeil grosse Eisenwerke sind. Es belief sich im letzten Jahre der Export von
Eisen in verschiedener Bearbeitung auf 15.691 t im Werthe von 71.780 ₤, von
Eisenbahnschienen auf 50.205 t im Werthe von 256.341 ₤, von unverarbeitetem
Stahl auf 3665 t im Werthe von 16.164 ₤, der von Eisen- und Stahlfabricaten
auf 6703 t im Werthe von 75.467 ₤, von unverarbeitetem Kupfer auf 4930 q im
Werthe von 25.362 ₤ und der von verarbeitetem Kupfer auf 4190 q im Werthe
von 21.220 ₤. Der Werth der exportirten Maschinen belief sich auf 25.830 ₤
und der der Werkzeuge auf 2207 ₤.
Die Erzeugnisse der Textilindustrie sind in der Ausfuhr Cardiffs 1889
am stärksten vertreten durch Baumwollfabricate mit 23,034.036 m im Werthe
von 286.944 ₤.
132*
[1052]Der atlantische Ocean.
Unter allen anderen Ausfuhrsartikeln des Jahres 1889 ist die von Feuer-
waffen aller Art, deren Werth auf 35.742 ₤ veranschlagt wird, die grösste.
Nachstehend geben wir eine Zusammenstellung von Cardiffs Schiffs-
verkehr.
| [...] |
Neben der englischen Flagge sind (1889) im auswärtigen Verkehre be-
sonders wichtig die norwegische (572.413 T), die französische (480.134 T), die
deutsche (255.174 T) und die italienische (216.523 T) Flagge.
Durch seine Kohlenausfuhr unterhält Cardiff einen directen Schiffsverkehr
mit allen Welttheilen. Es besitzt selbst eine ziemlich grosse Flotte (Ende 1889)
von 161.436 Netto-Tons.
Ausser Cardiff sind an der Südküste von Wales noch zu nennen
Milford Haven an der Südwestspitze des Landes, über den viel-
leicht in Zukunft die englisch-nordamerikanische Post geleitet werden
dürfte, die jetzt über Holyhead-Dublin-Queenstown geht. Weiter gegen
Osten folgt Swansea (1889) mit einem Exporte einheimischer Pro-
ducte von 3,545.710 ₤.
Dieser berühmte Sitz der Weiss- und Schwarzblecherzeugung, der Kupfer-
und chemischen Industrie sendet (1889) ins Ausland allein 86.940 q Eisen- und
Stahlwaaren, 92.184 q unverarbeitetes und 2.872 q verarbeitetes Kupfer, für 146.607 ₤
chemische Producte und 1,276.300 t Kohlen.
Die Einfuhr besteht aus Kupfer-, Zink- und Eisenerzen, dann aus
Pyriten von Spanien und Algier, ferner aus Getreide und Mehl. Aus dem Inlande
stammen Eisen und Maschinen. Die Ausfuhr im Küstenhandel betrug 1889
2,580.000 ₤.
Der Schiffsverkehr erreichte 1889 12.798 Schiffe mit 2.782.045 t.
Im östlichen Theile des Canals von Bristol mündet an der
Nordseite das vielfach gewundene Flüsschen Usk, an dessen rechtem
Ufer etwa 4 km von der See entfernt der aufblühende Seehafen
Newport mit 35.385 Einwohnern liegt.
Legende zum Plan von Cardiff.
A Zufahrt nach Cardiff, B Ebbestrand, C Glamorganshire-Canal, D Bute West-Dock, E Rosth-Bassin,
F Leuchtfeuer, G Dowlais Stahlwerke, H Castell, J Gefängniss, K Schulschiff „Havannah“, L Eisen-
bahnstation, M Gaswerk, N Eisenwerk, O Wasserwerke und Reservoir, P Polizeistation, Q Werfte,
R Zollamt, S Royal-Hôtel, T Kettenbrücke, U Ueberfuhr, V Steinbruch, W Maschinenhaus, X Dockhôtel,
Y Rettungsboothaus, Z Küstenwache. — 1 Krankenhaus, 2 Wellington Street, 3 St. Mary Street,
4 Queen Street, 5 Kupferwerke, 6 Batterie.
[[1053]]
(Legende siehe auf Seite 1052.)
[1054]Der atlantische Ocean.
Der steigende Export namentlich in Eisen und Kohle begünstigte
die Anlage von geräumigen Docks, deren grösstes, das Alexandra-
Dock, wenn vollendet, eine Erstreckung von fast 2 km aufweisen wird.
Auch hier sind die Gezeiten mit ihren enormen Niveauunter-
schieden für die Schiffahrt und den Verkehr mit der offenen See
von grossem Vortheil, indem die 10·8 m ansteigende Flut selbst den
grössten Oceandampfern die Passage über die längs der Küste ge-
legenen Niederungen und die Fahrt auf dem Usk-Flüsschen gestattet.
Newport ist ein wichtiges Eisenbahncentrum des Bergwerk-
betriebes von Süd-Wales und steht selbstverständlich mit dem 17 km
südwestlich gelegenen Cardiff in Verbindung.
Ueber die Stadt selbst ist nur Weniges zu berichten. Sehens-
werth ist die St. Woollos-Kirche mit normannischem Innern, dagegen
sind von dem im XI. Jahrhundert erbauten Schlosse nur unbedeutende
Ueberreste zu sehen.
Sein Schiffsverkehr war 1889 auf 18.221 Schiffe mit 4,339.290 t gestiegen.
Cardiff ist Station der Great Northwestern und Midland Railway. Es be-
sitzt Filialen der London and Provincial Bank und der National Provincial Bank
of England.
In Cardiff haben Consulate: Argentinien, Belgien, Costarica, Deutsches
Reich, Frankreich, Haïti, Hawaii, Liberia, Mexico, Oesterreich-Ungarn, Peru,
Spanien, Uruguay, Venezuela, Vereinigte Staaten von Amerika.
[[1055]]
Bristol.
Der breite Severnfluss mündet in ein weitgedehntes Wasser-
becken, den Canal von Bristol, welcher höchst günstig für die Schiff-
fahrt gelegen ist, weil er tief in das südwestliche England hinein-
schneidet und dadurch vielfache Punkte dem Seeverkehr zugänglich
macht. An der südlichen Seite des Severn, kurz vor seinem Eintritt
in den genannten Canal mündet der Avon, und an diesem Flusse
wuchs vor Alters die Stadt Bristol empor, um in der maritimen und
commerziellen Entwicklung Englands immer eine ansehnliche Rolle
zu spielen. Aber diese langgezogene Severnbucht bildet andererseits
ein grosses Hinderniss für den directen Landverkehr zwischen London
und dem eisen- und kohlenreichen Südwales, welches durch den 1885
eröffneten und 7079 m langen „Severn-Tunnel“ zwischen Portskewet,
das östlich von Newport liegt, und Northwick auf der Seite von
Bristol zum Theile unschädlich gemacht wurde.
Die Anfänge Bristols reichen weit zurück, und wenn uns auch keine ganz
verlässlichen Nachrichten aus den Zeiten vor den Normannen vorliegen, ja wenn
sogar im Domesdaybook des Ortes keine Erwähnung geschieht, so steht es doch
ausser Zweifel, dass Bristol schon unter den Sachsen bestanden hat und ein nicht
unwichtiger Ort war, wie denn auch unter des Eroberers erstem Nachfolger ein
heftiger Kampf um Bristol Castle entbrannte, das also schon eine wichtige Po-
sition gewesen sein muss. Seither wird Bristol oftmals genannt und erhielt im
XIV. Jahrhundert eine eigene Stadtverfassung. König Richard II. hielt dort 1387
grosses Hoflager, was für das Ansehen des Ortes spricht, und um das Jahr 1500
berichtet ein italienischer Reisender, dass Bristol und York nächst London die
bedeutendsten Orte des Königreiches seien. Die Leute von Bristol entwickelten
grosse Thätigkeit sowohl auf dem Gebiete des Gewerbes als auch des Handels
und benützten die durch den Avon gebotene Verbindung mit der See für die An-
knüpfung maritimer Verbindungen. Bewegte Tage kamen für Bristol, welches im
Mittelalter ganz besonders reich an Kirchen und kirchlichen Niederlassungen ge-
wesen ist, in den Zeiten der Reformation, harte Stürme hatte es aber während
der grossen Revolution zu bestehen, wo um Bristols Besitz die Königlichen und
Parlamentarier im Kampfe lagen und die Stadt eine harte Belagerung zu über-
stehen hatte.
[1056]Der atlantische Ocean.
Im XVII. Jahrhundert aber galt Bristol als erste Seestadt Englands, welche
Stellung die Stadt namentlich dem Handel nach dem Westen, mit den neuen
amerikanischen Colonien verdankt. Die Leute von Bristol haben noch früher als
jene von Liverpool herausgefunden, dass der Handel mit der schwarzen Waare
von Afrika sich sehr passend in den Verkehr mit Amerika einschiebe, und haben
dabei recht viel Geld ins Verdienen gebracht. So stieg das Ansehen der Stadt
durch das ganze XVIII. Jahrhunderte hindurch aufwärts, bis sich seither neben
Bristol so manche Concurrenten jüngeren Alters unter zum Theil günstigeren
Umständen emporarbeiteten, so dass unsere Stadt, wenn auch nicht zurückgedrängt,
doch nicht dasselbe Tempo der Weiterentwicklung einhalten konnte wie früher.
Das alte Bristol schildert man uns als eine fest ummauerte,
mit 23 Thürmen bewehrte Stadt, reich an Kirchen innerhalb des
Weichbildes, während auch ausserhalb geistliche Herren ihre Sitze
hatten; kurz, das alte katholische Bristol war so die richtige Kirchen-
und Klosterstadt. Seither ist Bristol weit über die alten Grenzen
hinausgewachsen und hat sich gegen die Höhen zu ausgedehnt, welche
es umrahmen, so dass die ganze Stadt ein sehr freundliches Bild
darbietet. Die Stadtmauern sind längst gefallen und haben modernen
Anlagen Platz gemacht, aber die Spuren, dass man sich hier auf
historischem Boden bewegt, werden allenthalben sichtbar. Bristol
zählt gegenwärtig 230.000 Einwohner und ist durch die glückliche
Mischung von Historischem und Modernem eine der interessantesten
Städte Grossbritanniens, ja in gewissem Sinne ein Abbild des englischen
Nationalcharakters, in dem sich Ueberliefertes und Neues so vielfach
harmonisch ausgeglichen finden.
Die eigentliche Stadt liegt am rechten Ufer des Avon unter
51° 27′ nördl. Br. und 2° 36′ östl. L. v. Gr. In seinem alten
Laufe machte der Avon ein starkes Knie, welches man mittelst eines
Durchstiches regulirt hat; dadurch wurde dem Flusse nun ein mehr
gerader Lauf gegeben (Newcut Avon); sein altes Bett wurde aber für
Zwecke der Schifffahrt verwendet, so dass daselbst eine Art innerer
Flusshafen (Floating Harbour) entstanden ist. Dieser ist abwärts durch
das mit Schleussen versehene Cumberland-Bassin geschlossen, während
an seinem oberen Theile das Bathurst-Bassin liegt, und hat eine
Reihe von guten Anlagestellen für die Schiffe, sowie auch einige
kleine Docks von minderer Bedeutung.
Der Umstand, dass die Gezeiten im Canal von Bristol riesige
Nievauunterschiede hervorbringen, ist die Ursache, dass der kleine
Avonfluss bei Hochwasser selbst für die grössten Oceanschiffe ge-
nügendes Wasser führt und auch das Hafenbecken von Bristol tiefes
Wasser besitzt. An der Mündung des Avonflusses bei King Road
[1057]Bristol.
(Portishead) steigt nämlich die Flut auf die gewaltige Höhe von
12·1 m.
Der eigentliche Hafen von Bristol hört bei Bristol Bridge auf,
über welche man in die City, die alte Stadt, gelangt. Hier bilden
immer noch vier kreuzweise liegende Strassen — High Street und
Broad Street, Wine Street und Corn Street — den Kernpunkt und
bezeichnen zugleich das Gerippe, um welches die alte Stadt gelegen
war. Betrachten wir nun die vornehmsten Denkmäler älterer Zeit, so
Bristol.
ist vor Allem der jetzigen Kathedrale zu gedenken, welche ihre Stiftung
auf das Jahr 1142 zurückführt und in der man die Grabstätten einer
Reihe älterer Barone des Reiches, namentlich aus der Familie der
Berkeley findet. Alt sind ferner die Kirchen von St. Marcus und
St. Mary, welche beide aus dem XIII. Jahrhundert stammen. Doch
müssen wir es uns versagen, auf den Kirchenreichthum Bristols des
Näheren einzugehen. Auch viele Privatgebäude weisen ein grosses Alter
auf, und an einige knüpft sich besonderes Interesse, so an ein Haus
an der Ecke der High und Wine Street, von dem man erzählt, dass
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 133
[1058]Der atlantische Ocean.
es in einzelnen Stücken aus Amsterdam herübergebracht und an
seinem jetzigen Standorte wieder zusammengesetzt worden sei. In der
City ist auch das schon 1740 errichtete Börsengebäude gelegen,
welches im korinthischen Style gehalten ist, dann die 1846 neu
erbaute Guildhall, an Stelle eines alten, demselben Zwecke gewid-
meten Gebäudes, welches im XIV. Jahrhundert der Schauplatz eines
heftigen, blutigen Zusammenstosses zwischen den Bürgern und Leuten
der Stadtbesetzung gewesen war. In King Street liegt das 1764
eröffnete Theater, dessen Bau Garrick überwachte und von welchem
er behauptete, dass es in seinen Dimensionen das beste von ganz
Europa sei. Und weiter findet der Wanderer, wenn er in Be-
gleitung eines der Stadtgeschichte kundigen Mannes die älteren Stadt-
theile durchzieht, an vielen Orten Erinnerungen von Interesse, welche
es ihm gestatten, sich mit dem Wesen einer englischen Stadt ver-
gangener Zeiten mehr als anderswo bekannt zu machen. Aber die
Gegenwart hat um all diese Zeichen der Vergangenheit einen weiten
und schöneren Kranz gezogen, und nach allen Richtungen breiten sich
um die City die Anlagen aus, welche Bristol dank seiner Lage zu
einer so überaus freundlichen Stadt gestalten.
Eine regelmässige Form haben die neuen Theile der Stadt nicht,
dies war schon mit Hinblick auf die Terrainformation nicht möglich,
und ebenso zeichnen sich die neuen Anlagen durch besondere archi-
tektonische Punkte nicht sonderlich aus, wenn auch einzelne öffent-
liche Gebäude einen ganz guten Eindruck machen. Man hat aber
das Gefühl, in einer Stadt zu sein, wo eine gewisse Behäbigkeit
und seit altersher Wohlhabenheit herrschen. Reichlich ist auch für
Parks, dem allgemeinen Sinn der Engländer für die grüne Natur
entsprechend, vorgesorgt, und insbesondere geniesst man die An-
nehmlichkeiten derselben rings an der Peripherie der Stadt; wohl
fehlen auch in diesem Stadtbilde die hohen Schornsteine nicht, denn
Bristol ist auch durch seine sehr entwickelte Industrie von grosser
Bedeutung. Sehr bedeutende Werke bestehen für die Erzeugung von
Glaswaaren, Tabak, Seife, Wachstuch, Nadeln, Ketten, Nägeln,
Maschinen. Eine Specialität sind die „Bristoler Diamanten“, aus rothem
und gelbem, in der Nähe gefundenem Spat gearbeitet.
Wenn wir nun die Schiffahrtsverhältnisse noch einmal ins Auge
fassen, so wäre es ganz unstreitig für Bristol günstiger gewesen, wenn
die Stadt an der Mündung des Avon selbst angelegt worden wäre, aber
durch die oben besprochene Flussregulirung ist dem Uebelstande
abgeholfen. Die Zufahrt nach King Road, auch Portishead genannt,
[1059]Bristol.
bietet den Schiffen keine Schwierigkeiten, denn der Canal von Bristol
ist tief und, wie unser Plan zeigt, gut beleuchtet und betonnt. King
Road ist die Rhede von Bristol. Hier ankern die Schiffe im 9 bis
11 m tiefen Wasser, um mit der Flut nach Bristol selbst zu dampfen.
Es wurde schon erwähnt, dass Bristol einst nächst London
der grösste englische Hafen war, jedoch heute von mehreren anderen
übertroffen wird. Diese Ueberflügelung geschah gewiss ohne Ver-
schulden der rührigen Bristoler Kaufleute, welche immer voran waren;
so z. B. zeichnet sich Bristol dadurch aus, dass es (1838) den ersten
Dampfer von Europa nach Amerika sendete. Der Handel Bristols ist
noch immer Welthandel und besonders lebhaft mit Irland, Neufund-
land, Westindien, den Vereinigten Staaten, Spanien und Portugal.
Die Bedeutung Bristols als Handelshafens liegt in seinem Importe, während
der Export sowohl heimischer als fremder Producte nicht besonders in die Wag-
schale fällt. Es geht dies namentlich aus der nachstehenden Zusammenstellung
des gesammten Handelsverkehres während der letzten drei Jahre hervor.
| [...] |
Die erste Stelle in der Einfuhr nimmt Getreide ein, so zwar dass Bristol
in Bezug auf die Importmengen dieser Gruppe nur von London, Liverpool und
Hull übertroffen wird. Getreideeinfuhr während der letzten drei Jahre:
| [...] |
Die verschiedenen anderen Nahrungsmittel bilden ferner einen nicht un-
wesentlichen Theil des Importes Bristols. Derselbe betrug:
| [...] |
Der Import lebender Thiere betrug 19.209 Stück Ochsen, Kühe und
Kälber und 8160 Schafe und Schweine.
An Früchten importirte Bristol während des letzten Jahres 14.000 q
Korinthen, 9600 qTrauben und 56.317 hlOrangen und Citronen. Die
Einfuhr von Zwiebeln betrug 22.429 hl.
Ziemlich bedeutend ist der Zuckerimport, welcher im Jahre 1889
393.300 q raffinirten und 167.100 q unraffinirten Zuckers umfasste.
133*
[1060]Der atlantische Ocean.
Hervorzuheben ist ferner der Import von Cacao mit 6258 q.
Die Einfuhr von Tabak in unverarbeitetem Zustande erreichte 1889
3264 q.
Unter den Oelen behauptet Palmöl mit 9260 q die erste Stelle.
Wein und Spirituosen verzeichnen eine lebhafte Einfuhr. Die Menge
des bezogenen Weines belief sich 1889 auf 20.314 hl, die der gesammten Spiri-
tuosen, unter denen Rum und Branntwein vorherrschen, auf 20.126 hl.
Einen der wichtigsten und quantitativ stärksten Importartikel Bristols
bildet Petroleum mit 321.800 hl im Jahre 1889 gegen 323.970 hl des vorher-
gehenden und 287.600 hl des Jahres 1887; Salpeter erreichte 1889 26.100 q.
Der Metallimport Bristols kann wohl mit dem anderer englischer Häfen
nicht concurriren, ist jedoch immerhin der Berücksichtigung werth. Den stärksten
Import dieser Gruppe verzeichnete im letzten Jahre Zink (roh und verarbeitet)
mit 76.500 q, an zweiter Stelle stehen Pyrite von Eisen und Kupfer mit 14.300 t,
welchen sich verschiedene Eisen- und Stahlfabricate mit 26.500 q an-
schliessen.
Bristol importirte ferner 1889 an verschiedenen Düngemitteln 10.990 t. In
der gleichen Zeitperiode bezog es 34.600 q roher Häute und 14.146 qLeder.
Glas aller Art erreichte im letzten Jahre die Einfuhrsziffer von 31.840 q,
Papier aller Sorten die von 7094 q.
Die Einfuhr von Holz in gefälltem, gesägtem und gespaltenem Zustande
wird auf zusammen 184.600 m3 veranschlagt.
Den Ausfuhrhandel Bristols in inländischen Erzeugnissen charakterisirt
der Export von Metallen. Derselbe beziffert sich dem Werthe nach auf 860.911 ₤
während des Jahres 1889 und umfasst daher rund circa 80 % der Gesammtausfuhr
| [...] |
Die anderen wichtigeren Exportartikel Bristols waren 1889 Oelsamen mit
dem Gewichte von 2310 t im Werthe von 50.576 ₤, chemische Fabricate
und Präparate im Werthe von 19.895 ₤, chemische Düngemittel für 18.052 ₤.
Die Wiederausfuhr ausländischer und colonialer Producte findet ihr Schwer-
gewicht in dem Exporte von Tabak und von Palmöl, letzteres mit 10.700 q.
Bristol ist Knotenpunkt mehrerer Bahnen.
Legende zum Bristolcanal.
A Barry-Dock, B Cardiff Grounds, C English Grounds, D English Stomes, E Blaize Castle, F Leucht-
feuer, F1 Leuchtschiff, G Bahnhöfe, H Landungsstege, J Avon-Fluss, K New cut Avon, L Floating
Harbour, M Cumberland-Bassin, N Floating-Dock, O Gaswerk, P Spitäler, Q Bradon Hill, R Tyndalls
Park, S Queen Square, T Theater, U Pembroke Road, V Queens Road, W Harfield Road, X St. Michaels
Hill, Y Cotham Hill, Z Clifton Hill. — 1 Regent Street, 2 Park Str., 3 Maudlin Str., 4 Milk Str.,
5 Castle Str., 6 West Str., 7 Clare Str., 8 High Str., 9 Victoria, 10 Bath Parade, 11 Broadmead.
[[1061]]
(Legende siehe auf Seite 1060.)
[1062]Der atlantische Ocean.
Der Schiffsverkehr Bristols war folgender:
| [...] |
Die wichtigsten Bankinstitute in Bristol sind: die Bank of England,
London and Southwestern Bank, National Provincial Bank of England, Wiltshire
and Dorsetshire Banking Co.
In Bristol unterhalten Consulate: Belgien, Hawaii, Liberia, Portugal
(G.-C.), Vereinigte Staaten von Amerika.
[[1063]]
Southampton.
An der Südküste von England, gedeckt durch die liebliche
Insel Wight, den heute bevorzugten Sommeraufenthalt der königlichen
Familie und Tausender wohlhabender Leute des Landes*), befinden
sich mehrfache Einbuchtungen, welche der Schiffahrt grosse Vortheile
gewähren und an denen sich bedeutende Hafenplätze entwickelt haben.
In erster Linie steht jener tiefe Einschnitt (Southampton Water), in
dessen Hintergrund unter 50° 54′ nördl. Br. und 1° 25′ westl.
L. v. Gr. die Stadt Southampton gelegen ist und der schon den
Römern als Portus Trisantonis bekannt war. Ostwärts von dieser Bucht
liegt heute der grosse Kriegshafen Portsmouth mit der bei Flotten-
versammlungen oftmals genannten Rhede von Spithead.
Southampton war stets ein wichtiger Seeplatz, weil es die Verbindung mit
der jenseitigen Küste sehr erleichterte. Darum haben die Römer dort ein festes
Standquartier errichtet, welches Clausentum benannt war und von dem sich
mancherlei Ueberreste in der Umgegend der heutigen Stadt vorfinden. Auch die
Angelsachsen, zu deren Reich Westsex der Landstrich zählte, hielten die römische
Niederlassung in Stand und hatten in Hamdun einen ansehnlichen Ort, welcher
schon sich einer gewissen Handelsthätigkeit erfreute, von ihrem Könige mancherlei
Begünstigungen erhielt, der aber auch unter den Einfällen der Dänen mehrmals
zu leiden hatte. Der grosse Dänenkönig Knut nahm in Hamdun sogar mit Vorliebe
Residenz. Als die Normannen England erobert hatten, ward ihnen der damals
bereits unter seinem heutigen Namen erscheinende Platz deshalb von grosser
Wichtigkeit, weil sie von dort aus rasch und sicher nach ihren Besitzungen auf
der anderen Seite des Canales verkehren konnten. Unter diesen Verhältnissen
entwickelte sich daselbst ein reges Leben, welches durch das ganze Mittelalter
hindurch bis auf unsere Tage anhielt.
Schon früh wird uns berichtet, dass mit Southampton nicht nur Kaufleute
des benachbarten Continentes, sondern auch solche aus Genua und Spanien in
Verbindung getreten waren. Freilich hatte die Stadt infolge ihrer Lage auch
unter den Kriegen zu leiden, welche England mit Frankreich und Spanien führte.
[1064]Der atlantische Ocean.
Wie so viele Seeplätze hat auch Southampton neben Zeiten
grosser Blüthe Tage des Rückganges gesehen. Die commerzielle Be-
deutung Southamptons sank, als der Handel nach Amerika sich ent-
wickelte, diesen Liverpool und Bristol an sich rissen und so das
maritime Schwergewicht im englischen Handel vom Canale an die
Westküste verlegt wurde. Aber die Entwicklung der Dampfschiffahrt
und des Eisenbahnwesens hoben Southampton doch wieder zu einer
günstigen Stellung empor, weil es am Canal einen guten, mit dem
Inlande nach allen Richtungen hin verbundenen Hafen besass und
weil von dort aus für viele Schiffahrtslinien sich ein günstiger Aus-
gangspunkt eröffnete. Für den Verkehr nach Westen war es immerhin
ein Vortheil an Zeit und Sicherheit, wenn man einen Theil der
Passage durch den Canal in Ersparung brachte und bei Southampton
die See erreichte, beziehungsweise schon das Land gewinnen konnte.
Und darum hat sich Southampton zu einem sehr bedeutenden Durch-
gangspunkt für die grossen überseeischen Linien entwickelt.
Jene Bucht des Southampton Water, deren wir vorher Er-
wähnung gethan haben, theilt sich in ihrem Hintergrunde in zwei
Theile, in welche die Stadtanlage scharf vorspringt; der eine östliche
wird durch den Ausfluss des Itchen-Flusses, der andere westliche durch
jenen des Test-Flusses gebildet. Dadurch gewinnt die ganze Stadt eine
halbinselförmige Gestalt, deren südlichster Theil die eigentlichen und
wichtigsten Hafenanlagen enthält.
Betrachten wir nun diese Anlagen, so finden wir auf der Test-
Seite zunächst den Royal Victoria Pier und dann, mit diesem eine
Art von Bassin bildend, den Town Pier; an der Wurzel des letzteren
ist das Hafenamt gelegen, und zwischen beiden zieht sich der schon
aus alter Zeit her bestehende Town-Quai hin, welcher durch das
Prinz Albert-Monument geziert ist. Geht man diesen Quai entlang,
so erreicht man die Dockanlagen, welche durch die Canal Road
von der Stadt geschieden sind. Verfolgt man die oben erwähnte
Strecke weiter, so erreicht man die Bai des Itchen. Die Docks,
welche von einer eigenen Gesellschaft verwaltet werden, liegen auf
einer Landzunge, deren Basis ungefähr durch eine vom erwähnten
Quai und der Canal Road gezogene Linie gebildet wird. Westlich
an der Einfahrt von Itchen her ist das sogenannte offene Dock (Open
Dock) mit einer Wasserfläche von 6·5 ha und mit 5·6 m Tiefe bei
Ebbe und 9·5 m bei Flut in einer ziemlich regelmässigen Form. Das-
selbe ist von verschiedenen Schuppen und Magazinen umgeben und
mit Krahnen gut ausgestattet. An der Südseite dieses Docks sind
[1065]Southampton.
drei grosse Trockendocks für Schiffsreparaturen nebeneinander ange-
legt worden. Aus diesem östlichen Dock gelangt man durch eine
Kunstschleusse mit Kammer in das vollkommen geschlossene west-
liche Dock (Close Dock), welches ein reguläres Viereck bildet und
eine Wasserfläche von 4 ha bei 8·5 m Tiefe hat. Dieses Dock ist
ebenso wie sein Nachbar ausgestattet, hat aber an der Westseite drei
Molen, während jener nur über einen verfügt. Hinter den Molen be-
findet sich ein Holzlagerplatz.
Southampton.
Am Südende der Landzunge zeigt sich uns ein drittes Dock
mit einer Wasserfläche von 7·3 ha, dessen Ufer gleichfalls
grosse Speicher umgeben. Bei diesem Dock, welches auf 15 ha er-
weitert werden soll, gibt es auch einen Viehhof für importirtes Vieh
mit den nothwendigen Einrichtungen zur Abhaltung der bei Vieh-
seuchen etwa erforderlichen Quarantainen. Alle Docks sind mit
Schienengeleisen versehen, welche mit der unmittelbar am Canal
Road gelegenen Hauptstation der South Western Railway in Ver-
bindung stehen.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 134
[1066]Der atlantische Ocean.
Verlässt man die Docks auf der Itchen-Seite, so zieht sich das
Ufer in nördlicher Richtung entlang, und längs desselben sind zahl-
reiche Quais und Anlageplätze für Schiffe vorhanden, sowie einige
Werften. Hier wickelt sich ein grosser Theil des Schiffsverkehres,
welcher von den Docks allein nicht bewältigt werden kann, ab und
herrscht ununterbrochen die regste Thätigkeit. Der schönere Theil des
Ufers liegt auf der Test-Seite, wenn man vom Royal Pier sich nördlich
wendet. Dort sind auch die Seebäder, welche im Sommer einen An-
ziehungspunkt von Southampton bilden.
Die Stadt zählt mit ihren Vororten eine Bevölkerung von
100.000 Seelen. Nicht der Lage, aber der Bedeutung nach bildet
High Street die grosse Axe der Stadt, welche von Süd nach Nord,
vom Town Quai — beim Town Pier — bis zum Bar Gate, einem
alten Thorweg, zieht und sich dann zum oberen Stadttheile fortsetzt.
In dieser sehr hübschen Strasse liegt eine Reihe ansehnlicher Ge-
bäude, so das naturwissenschaftlichen Studien gewidmete Hartley-
Institute, das Municipalgebäude, das Postamt, die Holyrood-Kirche,
welche im XIV. Jahrhundert erbaut ward, angeblich aber an ein
angelsächsisches Bauwerk anknüpfte. High Street war auch der Kern
der alten Stadt Southampton. Parallel mit High Street zieht sich
French Street hin, welche Strasse davon ihren Namen hat, weil sich
in derselben einstens zumeist die aus der Normandie gekommenen
Kaufleute niedergelassen hatten. Mehrere andere Strassen laufen noch
ziemlich parallel mit den beiden genannten von Süd nach Nord und
markiren das Hauptgerippe der Stadt, zu deren Wahrzeichen mehrere
schöne Parkanlagen gehören, so der durch eine Statue Lord Pal-
merston’s gezierte East-Park, dann der Queenpark, nahe dem Town Quai.
Im nördlichen Theile der Stadt befindet sich das grosse Eta-
blissement der Ordnance Survey, welches mit der Durchführung und
Evidenzhaltung der Landesaufnahme des ganzen Königreiches betraut
ist und in dem die verschiedenen Karten hergestellt werden. Es ist
eine grosse, mit allen Anforderungen moderner Wissenschaft und
Technik ausgerüstete Anstalt, welche früher im Tower zu London ihren
Sitz hatte, seit 1841 aber nach Southampton verlegt worden ist.
Beim Ordnance Office beginnt die sogenannte Avenue, einst eine
Allee herrlicher Ulmen und eine Zierde der Stadt, deren Bäume
jedoch grösstentheils durch eine Art von Bohrwurm zerstört worden sind.
Southampton ist heute vor Allem ein Hafen, in welchem einer-
seits mehrere grosse Dampferlinien für den indischen, australischen,
afrikanischen und südamerikanischen Dienst ihren Ausgangspunkt haben
[1067]Southampton.
und woselbst andererseits die nach Amerika gehenden Dampfer deutscher
und holländischer Gesellschaften anlegen. Ausserdem ist es der natür-
liche Punkt für den Verkehr mit der Insel Wight geworden, welcher
zur Sommerszeit eine ganz erstaunliche Lebhaftigkeit aufweist. So
erklärt sich die Wichtigkeit Southamptons als Passagier- und Post-
station; aber auch in militärischer Beziehung hat die weite Bucht von
Southampton eine grosse Bedeutung, weil sie als Ergänzung von
Portsmouth dient und eine gesicherte Sammlung der grössten Flotte an
jenem Punkte gestattet, welcher für die ganze Vertheidigung des Canales
sich als natürliche Centralstellung der britischen Seemacht ergibt.
Nach Southampton führen zwei Zufahrten, und zwar von Osten
an Portsmouth vorbei und von Westen her durch den nur 1200 m
breiten Solent-Pass; beide Wasserstrassen sind durch starke Befesti-
gungen auf der Festlandsseite und auf der Insel Wight geschützt. In
den Zufahrten ist eine starke Gezeitenströmung fühlbar, welche be-
sonders in der Enge von Solent kräftig ist und eine stündliche Ge-
schwindigkeit von mehr als 10 km erreicht.
Das Fahrwasser ist indes tief und sind die vorhandenen Barren
durch Bojen gut markirt.
Neuestens wurden die Zufahrten zu den Docks sowie der Hafen
am River Test ausgebaggert, damit die grössten Schiffe auch bei Ebbe die
Bassins erreichen können, was bis vor Kurzem nicht möglich war. Die
Flut erreicht in Southampton eine Höhe von 4 m über dem Ebbestand.
Von Hurst Point am Solent-Pass bis nach Southampton haben
die Schiffe eine Strecke von 34 km zurückzelegen.
Wie das bei so gewaltigem Schiffsverkehre gar nicht anders
möglich ist, hat sich Southampton auch als eigentlicher Handels-
platz bedeutend entwickeln müssen.
Die Handelsbewegung von Southampton hat sich während der letzten Jahre
wesentlich gehoben. Sowohl Import als Export haben eine Steigerung erfahren,
die bei der Ausfuhr heimischer Erzeugnisse besonders bemerkenswerth ist.
| [...] |
An der ersten Stelle des Importes steht Getreide, dessen einzelne Arten
während des Jahres 1889 folgende Einfuhrmengen aufweisen: Weizen 78.000 q,
Gerste 253.800 q, Hafer 126.200 q, Bohnen 1600 q, Mais 91.900 q.
In der Gruppe der übrigen Nahrungsmittel wird 1889 die Einfuhr der
verschiedenen Fleischsorten auf rund 5100 q veranschlagt. Dagegen weist Butter
die verhältnissmässig hohe Einfuhrsziffer von 213.000 q auf. Ebenso bedeutend ist der
Import von Erdäpfeln in der Höhe von 277.900 q. Käse bezog Southampton im
gleichen Jahre 10.100 q. Der Import von Eiern erreichte Gt. Hunds. 1,251.145.
134*
[1068]Der atlantische Ocean.
Früchte verzeichnen folgende Einfuhr: Orangen und Citronen 775 hl,
rohe Aepfel 9677 hl und alle anderen rohen Obstsorten 46.084 hl.
In beträchlichen Quantitäten wurden 1889 diverse Samensorten eingeführt,
und zwar Klee- und Grassamen 20.400 q, Flachs- und Leinsamen 35.085 q.
Der Kaffeeimport belief sich auf 33.300 q, der an Cacao auf 321 q und der
an Thee auf 208 q.
Der Import von Zucker belief sich in der gleichen Zeitperiode auf 27.600 q
von raffinirtem und 78.800 q von unraffinirtem.
Wein verzeichnet eine Einfuhr von 6222 hl und die verschiedenen Spiri-
tuosen zusammen genommen eine solche von 1515 hl.
An lebenden Thieren wurden importirt (1889) 4377 Ochsen, Kühe und
Kälber und 1620 Schafe und Lämmer.
Sehr wichtige Importartikel sind Wolle und Felle. In letzteren weist
Southampton die zweitgrösste Einfuhr unter allen englischen Häfen auf, die nur
der Londons nachsteht und die Liverpools übertrifft. Der Import der genannten
Artikel während der letzten drei Jahre wird aus nachstehender Tabelle ersichtlich.
| [...] |
An anderen Fellen und Häuten importirte man 1889 17.160 q.
Hervorzuheben ist ferner der Bezug roher Seide, der sich im letzten
Jahre auf rund 817 q belief.
Von Bedeutung für den Import, wenn auch der Quantität nach hinter dem
anderer Hafenplätze weit zurückstehend, ist die Einfuhr an Metallen, und zwar an
Zinn 7300 q, Zink 2200 q, Eisen- und Stahlfabricaten 10.500 q, Blei 1530 t.
Wichtig ist ferner der Holzimport, welcher in seiner Gesammtheit (1889)
71.735 m3 umfasste.
Unter den übrigen Importartikeln sind nach der Statistik des Jahres 1889
noch zu nennen: Droguen aller Art 1630 q, Farben und Farbstoffe 2990 q, Flachs
2100 q, Kautschuk 720 q; ferner Glas aller Art 2216 q, Leder 2100 q, Papier aller
Art 1879 q und endlich Lumpen und andere Materialien für die Papierfabrication 1942 t.
Bei Betrachtung des Exportes findet man die Erzeugnisse der Textil-
industrie an der Spitze. Unter diesen sind es wieder Baumwollfabricate,
welche vorherrschen und speciell bei Southampton ihrem Werthe nach 45 % des
Gesammtexportes umfassen. Mengen und Werthe der in den letzten zwei Jahren
exportirten Textilwaaren führt folgende Tabelle an:
| [...] |
| [...] |
A Einfahrt, B Town Quai, C Open-Dock, D Dock, E Bauholzbassin, F Leuchtfeuer, F1 Leucht-
schiff, G Bahnhof.
Die im Jahre 1889 ausgeführten Kleidungsstücke hatten einen Werth
von 740.627 ₤, denen sich Hüte im Werthe von 101.012 ₤ anreihten.
Die nächst wichtigsten Exportartikel bildeten Lederwaaren aller Art, und
zwar Stiefel und Schuhe für 429.329 ₤ und Sattlerwaaren im Werthe von 79.178 ₤.
[1070]Der atlantische Ocean.
Die Gruppe der verschiedenen Metallwaaren und Fabricate nimmt
auch im Exporte Southamptons eine berücksichtigenswerthe Stellung ein. Im Jahre
1889 wurden ausgeführt: Eisen in verschiedener Bearbeitung für 21.839 ₤, Eisen-
bahnschienen für 8780 ₤, unverarbeiteter Stahl für 5897 ₤, Eisen und Stahl-
fabricate im Werthe von 169.262 ₤, Kupfer und Kupferfabricate für 29.718 ₤,
Blei und Zinn für 11.796 ₤, ferner Maschinen aller Art im Werthe von 248.265 ₤
und endlich Werkzeuge und Messerschmiedwaaren im Werthe von 89.002 ₤ nebst
Telegraphendraht und Apparaten für 25.665 ₤.
In der Reihe der übrigen Fabricate, welche die Exportliste von 1889 auf-
weist, sind folgende Artikel hervorzuheben: Kurz- und Putzwaaren für 262.917 ₤,
gedruckte Bücher für 89.336 ₤, Papierwaaren aller Art für 62.260 ₤,
Malerfarben für 24.266 ₤, Kautschukfabricate für 31.080 ₤, Chemische Fabricate
für 29.959 ₤, Kerzen aller Art für 17.143 ₤, Waffen aller Art für 36.998 ₤, Thon-
und Porzellanwaaren für 22.624 ₤, Glaswaaren für 14.862 ₤.
Die Liste der Exportartikel schliessen Nahrungsmittel (inclusive Fleisch)
im Werthe von 90.909 ₤, Bier und Ale im Werthe von 37.842 ₤, ferner alle
übrigen nicht speciell benannten Erzeugnisse im Gesammtwerthe von 1,045.346 ₤.
In der Ausfuhr fremdländischer Producte (1889) steht Schaf- und
Lammwolle mit 38.837 q an der Spitze. Dieser folgen Gewürze (Pfeffer und
Zimmt) mit 867 q, Kaffee mit 24.500 q, Weizen und Weizenmehl im Gewichte
von 13.200 q.
Die Ausfuhr verschiedener anderer Nahrungsmittel beziffert sich auf
16.800 q, worunter Käse allein mit 10.500 q figurirt. Zucker weist einen Export
von 11.500 q auf und Reis einen solchen von 12.500 q.
Recht ansehnlich ist die Quecksilberausfuhr, die im letzten Jahre auf 708 q
veranschlagt wurde.
Die Industrie Southamptons beschränkt sich auf Erzeugung von Maschinen
und auf Schiffbau.
Den Schiffsverkehr Southamptons während der letzten drei Jahre illustrirt
nachstehende Tabelle:
| [...] |
Neben der englischen Flagge sind im auswärtigen Verkehre (1889) be-
sonders wichtig die niederländische (175.708 T), die belgische (57.840 T), die
deutsche und die norwegische Flagge.
Die wichtigsten Schiffahrtslinien, deren Station Southampton bildet,
sind: Norddeutscher Lloyd, Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesell-
schaft, Red Star Line (Antwerpen), Nederland, Rotterdamsche Lloyd, Peninsular
and Oriental Steam Navigation, Royal Mail Steam Packet Co., Union Steam Ship
Co. (die drei letzteren hier domicilirt) und Wilson line (Hull). Southampton ist,
wie schon erwähnt, Haupthafen für den Postdampferverkehr mit Egypten, ferner
[1071]Southampton.
bestehen Verbindungen mit Bremerhaven, Hamburg und Havre, Ostindien, Nieder-
ländisch-Indien, Ostasien, Australien, Westafrika, Südamerika und Westindien, der
Iberischen Halbinsel und Nordamerika.
Die eigene Rhederei hatte 1889 322 Schiffe (darunter 101 Dampfer) mit
2.582 Tons Gehalt.
Den Verkehr mit dem Inlande vermittelt die London and Southwestern Bahn.
An Banken sind hervorzuheben: die Hampshire Banking Co., National
Provincial Bank of England und Wiltshire and Dorset Banking Co.
In Southampton unterhalten Consulate: Argentinien, Belgien, Chile,
Columbia, Costarica, Deutsches Reich, Dominikanische Republik, Ecuador, Haïti,
Liberia, Peru (G.-C), Salvador, Uruguay, Venezuela, Vereinigte Staaten von Amerika.
Als Einschiffungsplätze für die überseeische Post sind noch
hervorzuheben: Dartmouth und Plymouth, die nahe von einander
an der Südseite der Halbinsel Cornwall liegen.
Von Dartmouth gehen die Castle Mail Packets Cy. (Colonial Mail Line)
über Lissabon und Capstadt zur Delagoa-Bai, und der „Kosmus“ aus Hamburg lässt
jährlich einige seine Südamerikafahrer hier anlaufen. Viel wichtiger ist das noch
weiter nach Westen vorgeschobene Plymouth. Es ist Station der Peninsular and
Oriental Cy. auf der Rückfahrt aus Ostindien und China, der Orient. Line, der
British India Steam N. Cy., der New Zealand Shipping Cy. und der Shaw, Savill
and Albion Cy., welche nach Australien gehen, der Castle Mail Packets Cy. auf
der Rückreise nach Südafrika und der Royal Mail Steam Packet Cy. (Westindien).
Plymouth ist aber auch als Handelsplatz wichtig, über den 1889 1,037.690 q
Getreide, und zwar Weizen, Gerste, Mais und Hafer für den Bedarf des westlichen
Englands zur Einfuhr gelangten; ferner sind zu nennen Zucker (34.673 q), Hanf,
Holz, rohe Häute, Petroleum (73,600 hl) und Salpeter (40.073 q).
Für 1889 wird die Einfuhr mit 1,435.294 ₤ angegeben.
In der Ausfuhr ist nur Porzellanerde wichtiger.
Der Schiffsverkehr erreichte 1889 1,621.979 T.
In Plymouth haben Consulate: Deutsches Reich, Liberia, Niederlande,
Vereinigte Staaten von Amerika.
Im Osten von Southampton ist in dem South-Downs genannten
Küstengebiete der Grafschaft Sussex das Küstenstädtchen Newhaven
im Aufblühen begriffen. Dasselbe spielte bereits in normannischer
Zeit eine Rolle, und seine aus dem XII. Jahrhundert stammende
Kirche zählt zu den ältesten und interessantesten Bauwerken an der
englischen Küste.
An der Mündung des Orese gelegen und durch ein neuerbautes
Fort beschützt, breitet sich das gegen 6000 Einwohner zählende
Städtchen malerisch am Fusse der Kreidefelsen aus. Neuestens werden
die vorhandenen Hafenanlagen erweitert, wie dies der zunehmende
Seeverkehr des Platzes erheischt. Newhaven ist mit Dieppe durch
regelmässigen Dampferverkehr verbunden. Auch führt ein eigener
Schienenstrang von Newhaven nach London.
[1072]Der atlantische Ocean.
Die Handelsbewegung von Newhaven weist während der letzten Jahre
eine lebhafte Zunahme auf; dies veranschaulicht die folgende Tabelle:
| [...] |
Da der Handel des Hafens unausgesetzt steigt, so beschränken wir uns im
Folgenden auf die Daten des Jahres 1889.
Nahezu den dritten Theil des ganzen Importes repräsentirt dem Werthe
nach die Einfuhr von Seidenfabricaten, welche sich 1889 auf 3,164.595 ₤ belief.
Dieser zunächst steht der Import von Wollfabriken im Werthe von
809.244 ₤.
Die Getreideeinfuhr ist keine besonders umfangreiche, denn es wurden nur
21.025 q Gerste, 26.690 q Hafer und etwas Weizen- und Kornmehl bezogen.
Dagegen umfasst der Bezug von anderen Nahrungsmitteln grössere Mengen.
Er vertheilt sich auf 43.685 q Erdäpfel, 73.526 q Butter, 29.625 q Margarine,
12.498 q Käse, 70.731 q Fische, auf conservirtes Fleisch und Gt. Hunds. 1,251.145 Eier.
Unter den Früchten ist der Import roher Obstsorten inclusive Aepfel mit 86.735 hl
von Bedeutung. An Zwiebeln wurden bezogen 11.096 hl.
Der Weinimport belief sich auf 24.527 hl und der an diversen Spiri-
tuosen auf 6290 hl.
Der Import von Zucker verzeichnet die Menge von 16.612 q.
Hervorzuheben sind ferner noch als für die Einfuhr von einiger Bedeutung
Hopfen mit 7140 q, Klee- und Grassamen mit 16.845 q, die verschiedenen Hölzer
mit zusammen 27.681 m3.
In der Ausfuhr findet die Textilindustrie die stärkste Vertretung, und
zwar Wollfabricate aller Art 612.322 ₤, Seidenfabricate aller Art 144.259 ₤, Baum-
wollwaaren aller Art 93.485 ₤, Leinenwaaren 6150 ₤.
Dieser Gruppe dem Werthe nach zunächst steht der Export von Maschinen
aller Art für 190.996 ₤. Ferner Metalle und Metallwaaren aller Art im Werthe von
28.147 ₤, dazu Werkzeuge und Messerschmiedwaaren für 25.858 ₤.
Die Bekleidungsindustrie liefert gleichfalls einen nicht geringen Theil
der Ausfuhr. Die einzelnen Zweige sind Kleidungsstücke im Werthe von 148.096 ₤,
Hüte aller Art für 77.334 ₤ und Putzwaaren für 22.816 ₤.
Ansehnlich ist ferner der Export in Leder und Lederwaaren; es betrug
der Werth des exportirten Leders 83.682 ₤, der der ausgeführten Schuhwaaren
39.350 ₤ und der der Sattlerwaaren 13.042 ₤.
Die noch erwähnenswerthen Exportartikel sind Papierwaaren aller Art für
44.336 ₤, Kautschukfabricate für 29.406 ₤, gedruckte Bücher für 26.840 ₤, Thon-
und Porzellanwaaren für 17.996 ₤, Chemische Düngemittel für 14.088 ₤, Maler-
farben im Werthe von 11.681 ₤, chemische Fabricate für 8804 ₤, Nahrungsmittel
aller Art im Gesammtwerthe von 56.343 ₤ und Bier im Werthe von 25.636 ₤,
endlich alle übrigen nicht speciell benannten Artikel im Werthe von circa
486.000 ₤.
Im Reexporte ausländischer Producte bilden Wolle, Leder und Quecksilber
die wichtigsten Artikel.
Der Schiffsverkehr von Newhaven umfasste 1889 erst 3.633 Schiffe
mit 823.818 t. Newhaven steht in regelmässiger Dampferverbindung mit Dieppe.
[[1073]]
Cork-Queenstown.
Auf der grünen Insel, dem durch Naturschönheiten mancherlei
Art interessanten, von einem eigenthümlichen, vom angelsächsischen
Wesen ganz verschiedenen Menschenschlage bewohnten Irland be-
gegnen wir einer an Buchten und natürlichen Häfen reichen Küsten-
entwicklung, welche den Bedürfnissen des Handels und der Schiffahrt
zum Vortheile gereicht. Freilich hat sich der Verkehr Irlands in ver-
gangenen Zeiten weitaus nicht so entwickelt wie jener Englands, und
erst neuerer Zeit war es vorbehalten, an einigen Punkten einen sehr
regen Aufschwung zu erwecken. In dieser Beziehung finden wir an
der Südküste vor Allem Cork und dessen Hafen Queenstown.
Cork selbst liegt, wie unser Plan zeigt, im Hintergrunde einer weit
in das Land hineinreichenden, fjordartig eingerissenen Einbuchtung,
während Queenstown auf der dem Seeeingange nahen, mit dem
Festlande heute durch die Bahn verbundenen Great-Insel sich befindet.
Queenstown hiess früher einfach Cove of Cork und erhielt seinen
jetzigen Namen erst, als Königin Victoria daselbst im Jahre 1849
zum ersten Besuche Irlands das Land betrat.
Queenstown bietet einen schönen Anblick dar; es liegt an der
Südseite der genannten Insel an dem Abhange eines Hügels, an
welchem sich die Strassen der Stadt amphitheatralisch hinaufziehen,
während zahlreiche Baumgruppen und Gartenanlagen die Häuserreihen
anmuthig unterbrechen. Die Stadt hat keine grosse Ausdehnung und
die Zahl ihrer Einwohner beträgt kaum 10.000. Abgesehen von
der anmuthigen Lage, besitzt Queenstown in seinem Innern an Sehens-
würdigkeiten nur eine römisch-katholische Domkirche und zwei Yacht-
clubhäuser, von denen das des Royal Cork Yacht Club auch schon
deshalb bemerkenswerth ist, weil dieser Club an Alter allen anderen
im Vereinigten Königreiche vorangeht. Er wurde nämlich bereits 1720
gegründet, erhielt aber seine jetzige Benennung erst 1828, als König
Wilhelm IV. das Protectorat über denselben übernahm. Die von diesem
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 135
[1074]Der atlantische Ocean.
Club jährlich veranstaltete Regatta gehört jedesmal zu den maritimen
Ereignissen, an denen ganz Irland den lebhaftesten Antheil nimmt.
In historischer Beziehung ist nichts Bemerkenswerthes von Queenstown
zu berichten, wenngleich die Insel, auf der es gelegen ist, schon im XIV. Jahr-
hundert als ein Besitzthum erwähnt wird, um welches verschiedene Feudalherren
mit einander im Kampfe lagen. Auch behauptete diese Insel noch lange, nachdem
bereits Cork in die Hände der Briten gefallen war, Unabhängigkeit, und der
Earl von Orrery bemerkt im Jahre 1666, dass die Insel ihrer Lage nach ganz
besonders geeignet sei, als Stützpunkt für eine feindliche Invasion zu dienen.
Der Hafen von Queenstown ist sehr geräumig, von der See her
selbst für Schiffe grössten Tiefganges gut zugänglich.
Die Zufahrt in den Fjord, welcher den Namen Cork Harbour
führt, ist durch ein 8·5 km im Süden des Einganges verankertes
Leuchtschiff gut markirt; ein Leuchtfeuer befindet sich auch an der
Ostseite der Hafenmündung. In dieser selbst haben sich zwei Barren
von 4·5 und 5·7 m Tiefe bei Ebbe gebildet, aber sie lassen noch ge-
nügend tiefe Fahrstrassen für die grössten Oceanschiffe offen. Im
Innern weitet sich der Fjord zu einem geräumigen Becken aus, in
welchem die Inseln Spike mit dem starken Westmoreland-Fort, dann
das Rocky-Eiland und die Insel Haulbowline liegen. An die letzt-
genannte schliesst sich gegen Osten die weitgedehnte, bei Ebbe
fast trocken liegende Spit-Bank. Dort wurden die Dockanlagen von
Queenstown errichtet und auch Trockendocks gebaut. Auch hat man
die Inseln Spike und Haulbowline mittelst einer Brücke verbunden.
Die Ankerplätze vor dem Städtchen Queenstown sind gut und ohne
Fährlichkeit. Alle Liverpooler Postdampfer von und nach New-York
sowie viele andere Linien laufen Queenstown für eine bis zwei
Stunden an, um die amerikanische Post zu erledigen.
Queenstown hat, abgesehen davon, dass es Vorhafen von Cork
ist, dadurch an Bedeutung gewonnen, dass es auf der grossen Route
nach Amerika der erste europäische Punkt ist, welcher bequem
angelaufen werden kann und an welchem man in telegraphische
Verbindung mit dem ganzen übrigen Königreiche, respective ganz
Europa, treten kann. Landet man in Queenstown, oder schifft man
sich dort ein, so erspart man ein gutes Stück Seereise. Queenstown
selbst ist also kein Handelsplatz, aber ein grosser Durchgangspunkt,
über welchen auch die Auswanderung der Irländer vielfach ihren
Weg nimmt.
Von Queenstown aus kann man auch per Dampfer die Stadt
Cork erreichen, wobei die Fahrt manches Interesse bietet. Man passirt
den von freundlichen Höhen umgebenen nur 300 bis 500 m breiten
[1075]Cork-Queenstown.
Passage-Canal, an dessen beiden Seiten sich Eisenbahnen hinziehen,
vorbei an den Orten Passage und Blackrock und gelangt endlich
nach der drittgrössten Stadt von Irland und dem Centrum der süd-
lichen Landschaften.
Cork liegt unter 51° 54′ nördl. Br. und 8° 28′ westl. L. v. Gr.
auf beiden Ufern des Flusses Lee, der zu Hafenzwecken für kleine
Schiffe verwendet wird. Der Fluss theilt sich in zwei Arme, und die
Stadt lag ursprünglich nur auf dem durch diese Theilung gebildeten
Eilande, hat aber seither sich weit über die anderen Ufer des Flusses
ausgedehnt.
Queenstown.
Ueber die Gründung von Cork ist nichts Genaues bekannt, und gibt es
hierüber verschiedene Versionen, jedenfalls reicht dessen Alter weit zurück. Die
irische Sage schreibt die Gründung dem heiligen Finus zu, dessen Kathedrale
heute noch vorhanden ist, und erzählt dann von Raubzügen der Dänen, welche
durch die Niederlassung des Heiligen angelockt wurden und daselbst sich sesshaft
machten, weil der Ort einen guten Punkt für fernere Raubfahrten darbot. Später
wird Cork bereits genannt, als die Engländer unter der normannischen Dynastie ihre
ersten Feldzüge nach Irland unternahmen. Schon unter Heinrich II. fiel Cork in
britischen Besitz. Im Jahre 1600 berichtet ein Augenzeuge, dass Cork ein von
Wällen umgebener, am Flusse gelegener Ort sei, der hauptsächlich aus einer
135*
[1076]Der atlantische Ocean.
breiten Strasse bestünde, Handel treibe, aber viel von seinen rebellischen Nach-
barn zu leiden habe. Cromwell hat 1649 Cork besetzt und wegen seiner royalisti-
schen Gesinnung recht strenge behandelt. Auch später in demselben Jahrhundert
hing Cork an der Sache der Stuarts und bezahlte diese Anhänglichkeit zunächst
mit einer Belagerung durch den Herzog von Marlborough und dann mit dem Ver-
luste seiner Wälle. Seither war der Stadt friedliche Entwicklung gegönnt.
Cork zählt etwas über 100.000 Einwohner, hat, namentlich in
seinen neueren Theilen, breite Strassen, aber infolge seiner durch den
Flusslauf vorgezeichneten Entwicklung eine unregelmässige Form.
Die Stadt lässt sich heute in drei Theile scheiden, in den Theil auf
dem linken Ufer des Lee, in den Theil zwischen dem rechten Ufer
des Flusses und dem sogenannten Südcanal, also die eigentliche
alte Stadt, und endlich in den Theil am anderen Ufer jenes Süd-
Canales.
Die einzelnen Stadttheile sind im Ganzen durch sechs Brücken
unter einander verbunden, von denen St. Patricks- und die Parnell-
Brücke besonders Erwähnung verdienen. Letztere erhielt bei ihrem
1882 erfolgten Umbau den Namen dieses Führers der irischen Auto-
nomistenpartei. Von der St. Patrick-Brücke aus führt die St. Patrick-
Strasse in den mittleren Stadttheil, eine der Hauptarterien des Ortes,
wenn auch äusserlich wegen ihrer grossen Unregelmässigkeit nicht
von sonderlichem Glanze. An diese Strasse schliesst im Winkel die
Grand Parade an, welche als Zierde von Cork gilt.
In der ziemlich parallel mit dem Südcanal laufenden South
Mall liegen mehrere ansehnliche Gebäude. Unter den Baulichkeiten
der Stadt verdienen überhaupt nur Erwähnung St. Fin-Kathedrale —
mit protestantischem Gottesdienste — ein in jüngster Zeit im gothischen
Style ausgeführter Umbau, dann die St. Marien-Kirche als katholischer
Dom, ferner das Postamt, das an der Spitze des den alten Stadttheil
umfassenden Eilandes gelegene Zollamt, ferner Queens College, eine
Lehranstalt mit schönem Ausblicke, das im korinthischen Style ge-
haltene Gerichtsgebäude in Great Georges Street, das Theater auf
dem Lavills-Quai, endlich mehrere Clubhäuser.
Das Strassenleben von Cork zeigt das lebhafte Treiben, welches
dem irischen Wesen eigen ist, und die Einwohner sind auf die
Schönheit ihrer Stadt ebenso stolz, als sie, und letzteres wohl mit
Recht, den Reiz ihrer Umgebungen rühmen. Und in der That kann
man von Cork aus eine Reihe der lohnendsten Ausflüge machen. Wir
erwähnen von denselben, abgesehen von der schon anregenden Fahrt
durch den Canal und die Rhede von Cork, nur die Killarney-See
und die tiefe, für die grösste Flotte Raum gewährende Bantrybucht,
[1077]Cork-Queenstown.
welcher auch in militärischer Beziehung in jüngster Zeit viel Wichtig-
keit beigemessen wird.
Betrachten wir nunmehr die Hafenanlagen, so sind die Ufer
sowohl des eigentlichen Lee als auch jene des Südcanales durch-
wegs mit Quais eingefasst, an denen die Schiffe ihre Operationen
A Haulbowline-Insel, F Leuchtfeuer.
vornehmen, insoweit es deren Tauchungsverhältnisse erlauben. Der
sehr versandete Leefluss hat bei Ebbe kaum 2 m Tiefe, da aber die
Flut den Wasserstand um 4 m hebt, so ist der Verkehr selbst grösserer
Seeschiffe ermöglicht. Jene Quaitheile, welche einerseits unter der
St. Patrick- und andererseits unter der Parnellbrücke liegen, sind für
[1078]Der atlantische Ocean.
den Verkehr aus dem Grunde die wichtigsten, weil hier die grossen
Bahnhöfe in der Nähe sich befinden. Dieser eben nicht sehr günstigen
Tiefenverhältnisse wegen zieht sich in neuester Zeit der Schiffsverkehr,
namentlich der grossen Dampfer, immer mehr nach dem viel günstigeren
und bequemeren Hafen von Queenstown. Nichtsdestoweniger ist Cork
noch immer eine bedeutende Industrie- und Handelsstadt.
Folgende Ziffern veranschaulichen den Handelsverkehr Corks während
der letzten drei Jahre:
| [...] |
Auch hier fällt der Löwenantheil des Importes auf Getreide, dessen
einzelne Sorten 1889 folgende Ziffern aufweisen: Weizen 730.800 q, Mais 766.409 q
und Gerste 36.800 q.
Unter den anderen Nahrungsmitteln ist nur die Einfuhr von Fischen mit
11.200 q von Belang.
Zucker wurde im selben Jahre in der Menge von 31.200 q eingeführt.
Von Wichtigkeit ist ferner die Einfuhr von Petroleum mit 17.981 hl im
Jahre 1889, gegen 10.489 hl des vorhergehenden Jahres.
Düngemittel erreichten im letzten Jahre die Einfuhrsmenge von 4133 t.
Der Holzimport umfasste im selben Jahre 3520 m3 Balken, 44.532 m3 ge-
sägtes und gespaltenes Holz und 72 m3 Fassdauben.
Der Export Corks ist, wie aus obiger Aufstellung ersichtlich, ein so
geringfügiger, dass wir in eine specielle Beleuchtung desselben hier nicht ein-
gehen. Wir heben nur Eisenwaaren, Schiesspulver, Schlachtvieh, Butter und Eier
als die wichtigeren Ausfuhrsartikel hervor.
Auf dem Gebiete der Industrie sind zu nennen Flachs-, Woll- und Baum-
wollspinnereien, Brennereien, Brauereien, Tabak- und Lederfabriken; Cork liefert
vorzügliche lederne Handschuhe.
Bei der Betrachtung des Schiffsverkehres Corks ist zu bemerken, dass nur
Schiffe bis zu 600 Tons an seinen Quais anlegen können, grössere Schiffe müssen
in Queenstown, dem Vorhafen der Stadt, bleiben.
Das Hafengebiet von Cork zeigt folgenden Schiffsverkehr:
| [...] |
In Cork, respective seinem Vorhafen Queenstown landen die Dampfer-
linien Cunard und Inman, Guion und White Star auf ihren Reisen zwischen
[1079]Cork-Queenstown.
Liverpool und New-York, die Cunard-Line auf den Touren zwischen Liverpool
und Boston und die Allan Line auf dem Wege von Liverpool nach Canada und
nehmen hier die Post ein oder sie liefern dieselbe ab. Denn diese wird mit Eisen-
bahn und Schiff über Dublin-Holyhead befördert.
An Banken besitzt Cork: Bank of Ireland, National Bank, Provincial Bank
of Ireland; hier bestehen ferner eine Börse und eine Kornbörse.
In Cork unterhalten Consulate: Argentinien, Haïti (auch für Queenstown),
Hawaii, Liberia (auch für Queenstown), Portugal, Vereinigte Staaten von Amerika.
In Queenstown bestehen Consulate von Belgien, Chile, Hawaii, Peru,
Uruguay.
[[1080]]
Dublin.
Dublin, Irlands Hauptstadt, beherbergt eine Bevölkerung von
340.000 Seelen und bedeckt ein Areal von circa 1500 ha. Wenn die
in einer Ebene erbaute Stadt auch landschaftlich keinen besonderen
Eindruck macht, so ist sie doch wegen ihrer Bauwerke, wegen des
lebhaften Lebens in derselben und wegen ihrer Bedeutung für Irland
an sich wie auch in commerzieller Beziehung von hervorragendem
Interesse. In Dublin war allzeit der Mittelpunkt des geistigen wie
politischen Lebens der Irländer, welche in so vielfachem Gegensatz
zu England stehen. Mögen in manchen anderen Orten die autonomen
und nationalen Strebungen schärfer nach aussen hervortreten, die
tonangebende Führung in allen politischen Fragen geht von Dublin
aus, obwohl sich ebendaselbst der Centralpunkt des britischen
Regimentes befindet.
Was die Geschichte Dublins anbelangt, so wird uns von einem Pfahlorte
erzählt, dessen Ptolemäus unter dem Namen Eblona Erwähnung thut und welcher
an der Stelle des heutigen Dublin gelegen war. Im V. Jahrhundert soll St. Patrick
die Einwohner des Ortes zum Christenthume bekehrt haben. Später durch dänische
Einfälle oft bedroht, wurde Dublin 851 von den Dänen erobert, welche dort einen
festen Stützpunkt sich geschaffen haben, der unter ihrer Herrschaft sich zu einem
ganz ansehnlichen Orte erweiterte.
Nach langwierigen Kämpfen gelang es endlich den einheimischen Königen,
die Dänen zu verdrängen und sich in den Besitz des Ortes zu setzen, welcher
dann im XII. Jahrhundert unter Heinrich II. an die Krone von England fiel und
seither bei derselben trotz der vielen Stürme, welche über Irland hinweggegangen
sind, und trotz der so oft wiederholten Losreissungsversuche verblieb.
Dublin liegt unter 53° 20′ nördl. Br. und 6° 9′ östl. L.
v. Gr. (Hafeneingang) auf beiden Ufern des Liffey; es ist von
zwei Hauptarterien durchschnitten, die eine geht von Nord nach
Süd, die andere von Ost nach West. Erstere Arterie umfasst
Blessington Street im Norden und zieht sich über Rutland Square,
Sackville Street, Carlisle-Brücke, Westmoreland und Grafton Street,
Stephen’s Green und Harcourt Street bis Rothmines. Die andere Linie
[1081]Dublin.
beginnt östlich von der Stadt bei Lower Mount Street und zieht
sich über Merrion Square, die elegante Nassau Street, College Green,
Cork Hill, bei dem Schlosse von Dublin vorbei, über High Street
und durch die älteren Stadttheile bis zur Christuskirche. Parallel un-
gefähr mit letzterer Linie läuft der Fluss Liffey, welcher an seinen
beiden Ufern von trefflichen Quais eingesäumt ist, die sich vom Phönix-
park bis zum Leuchthause von North Wall und dem Ringsend Dock
Kingstown.
an der Dubliner Bucht hinziehen. Die Quais haben eine Längen-
entwicklung von mehr als 4 km.
Die wichtigsten Baulichkeiten der Stadt liegen, wie unser Plan
nachweist, in der Nähe von College Green, Dame Street und Sack-
ville Street. Bei College Green befindet sich die Bank von Irland,
früher Sitz des irischen Parlamentes und des Trinity College mit den
Statuen von Burke und Goldsmith. Das Gebäude der heutigen Bank
wurde 1739 für Parlamentszwecke errichtet und 1794 noch erweitert.
Als dann durch die Union die selbständige Vertretung der Insel
ihr Ende nahm, wurde das Gebäude auf Grund eines Beschlusses des
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 136
[1082]Der atlantische Ocean.
britischen Parlamentes seiner jetzigen Bestimmung zugeführt. Das
Gebäude ist in der Hauptsache im jonischen Style gehalten. Der
grosse Sitzungssaal der irischen Lords ist noch in seiner alten Ein-
richtung verblieben, nur hat man an Stelle des Thrones eine Statue
Georg’s III. gesetzt. Gegenüber der Bank liegt Trinity College, viel-
leicht das schönste Bauwerk von Dublin. Es wurde von der Königin
Elisabeth 1591 an Stelle eines alten Klosters errichtet, verfügt über
eine überaus reiche Bibliothek und Manuscriptensammlung und ist
mit einem freundlichen Parke in Verbindung.
Der amtliche Sitz des Vicekönigs von Irland befindet sich im
Dubliner Schloss, dessen Bau 1207 auf Befehl König Johann’s be-
gonnen ward und welches lange Zeit einen wichtigen Theil der Stadt-
befestigung gebildet hat. Heute ist von dem alten Baue nur noch der
sogenannte Wardcote-Thurm erhalten, das übrige Gebäude, in welchem
insbesondere die für specielle Festlichkeiten bestimmte St. Patricks-
Halle bemerkenswerth erscheint, gehört einer späteren Zeit an. Den
Namen dieses ersten Heiligen der Insel führt auch die Kathedrale von
Dublin, deren Bau in das Jahr 1190 zurückreicht, die aber in späteren
Jahrhunderten wiederholten Restaurationen unterzogen worden ist. Sehr
alt ist auch Christ Church in der Nähe des Schlosses, eine ursprüng-
lich dänische Gründung. Die Zahl der übrigen Kirchen ist eine sehr
grosse, die irische Landeskirche weist 80, die römisch-katholische
25, die Presbyterianer 11, andere Confessionen zusammen 26 auf.
Die Hauptkirche der Katholiken liegt in Marlborough Street.
Am Kings Inns Quai finden wir das Gebäude der obersten
irischen Gerichtshöfe, the Four Courts, Ende des vorigen Jahrhun-
derts erbaut und an einer runden Kuppel erkennbar. Ebenso ist wie
in den meisten grösseren Orten des Königreiches das Zollamt in einem
sehr stattlichen Gebäude am Flusse untergebracht.
Wir erwähnen fernerhin die Halle der Freimaurer in Moles-
worth Street, das Gebäude der Royal Dublin Society, welche 1731
gegründet ward und sich namentlich mit der Förderung der Gewerbe
beschäftigt, die irische Nationalgallerie auf Mansion Square, das
Mansionhouse, die Amtsresidenz des Lord-Mayors.
Eine Zierde Dublins bilden dessen ausgedehnte Parkanlagen,
vor Allem der am westlichen Ende und linken Liffey-Ufer gelegene,
nicht weniger als 700 ha umfassende Phönixpark, in dem sich auch
die Privatwohnung des Vicekönigs befindet. An denselben schliesst
sich gegen Osten der botanische Garten und weiter noch der Eldon-
[1083]Dublin.
park. Auch im Süden auf dem anderen Ufer sind hübsche Park-
anlagen zu verzeichnen.
Im Phönixpark erhebt sich ein 62 m hoher, der Erinnerung an
Herzog von Wellington geweihter Obelisk. An Denkmälern ist Dublin
überhaupt nicht arm. Unter diesen ist die Statue von O’Connell, des
Führers der Nationalpartei in der Mitte unseres Jahrhunderts, vor
Allem bemerkenswerth; sie steht in Sackville Street, nahe der Brücke
ihres Namens. In derselben Strasse findet man auch eine Säule mit
Lord Nelson’s Standbild. Die Dichter Thomas More, Goldsmith und
Burke sind verewigt, Wilhelm III. hat eine Reiterstatue, und neben
Anderen ist auch Prinz Albert nicht vergessen, welchem 1872 durch
eine allgemeine Subscription ein schönes Denkmal gesetzt worden
ist, das sich dieser edle Prinz auch um Irland wohl verdient hat.
Ueber den Liffey führen zehn Brücken, von denen drei Eisen-
construction aufweisen, während sieben aus Stein hergestellt sind.
Die bedeutendste von diesen Brücken ist die O’Connell-, früher Carlisle-
Brücke, von stattlicher Breite. Die aus dem Jahre 1816 stammende
Wellington-Brücke, nur für Fussgänger erbaut, hat die für das ver-
einigte Königreich höchst seltsam erscheinende Eigenthümlichkeit,
dass die Passanten Brückengeld entrichten müssen.
Geht man den Fluss abwärts, so findet man an dessen Quai
überall ein lebhaftes Treiben. An beiden Ufern liegen Schiffe und
nehmen ihre verschiedenen Operationen in ganz gesicherter Weise
vor. Am südlichen Ufer, nahe der Ausmündung des Flusses, befinden
sich zu beiden Seiten mehrere in das Land einschneidende Dock-
anlagen, worunter die Grand Canal-Docks im Süden die bedeutendsten
sind, und deren Bassins gleichfalls für commerzielle Zwecke dienen.
An der Nordseite mündet der die ganze Stadt in weitem Bogen
umspannende Royal-Canal, der gleichfalls zu Dockanlagen verwendet
wurde. Der Royal-Canal verbindet Dublin mit dem Shannonfluss, der
wichtigsten Wasserstrasse von Irland, und somit dem grossen irischen
Binnen-Canalsysteme. Neueren Ursprungs ist das sogenannte Nordwall-
Dock, ein geräumiges Bassin nächst dem innersten der Leuchtfeuer,
wo man 7·3 m Wassertiefe bei Ebbe findet und wo auch Trocken-
docks erbaut sind. Die Rhede von Dublin ist durch grosse Schutz-
bauten gesichert; es erstreckt sich in ziemlich gerader Richtung gegen
Osten ein 5 km langer Damm von Ringsend seewärts, während ein
zweiter, der 2·7 km lange Bull-Wall, vom nördlichen Ufer der Bucht,
östlich von Clontarf ausgehend, in südöstlicher Richtung gegen den
Kopf des ersteren, wo das Poolbeg-Leuchtfeuer ist, geführt wurde.
136*
[1084]Der atlantische Ocean.
Beide Dämme schützen vor Seegang und Versandung. An beiden
Dammenden erheben sich mächtige Leuchthäuser.
Auch Dublin leidet durch die weit vorgeschrittene Versandung
seines Hafens. Eine Barre von nur 4·5 m Wassertiefe bei Ebbe erstreckt
sich über 2 km ausserhalb der Dammenden, also bis auf etwa 7 km
von den Dockanlagen. Grössere Schiffe sind daher gezwungen, wenig-
stens 8—9 km weit vom Lande zu ankern. Obgleich nämlich die Flut
den Wasserstand hier um 4 m hebt, daher an der Barre bei Hoch-
wasser 8·5 m gefunden werden, so können bei hochgehender See
doch nur kleinere Schiffe nach Dublin einlaufen, während grössere
die Ueberschreitung der Barre nicht wagen dürfen, sondern den Ein-
tritt ruhiger See abwarten müssen.
Die Bucht von Dublin ist gegen Nordost- und Ostwinde offen,
welche, wenn mit Heftigkeit auftretend, eine sehr hohe See heran-
wälzen. Ein mehr als 2 km breiter Sandstrand, der North- und South-
Bull, säumen das Ende der Dubliner Bai ein. Diese ungünstigen
Tiefenverhältnisse führten in neuester Zeit, wo man mit grossen
Schiffen rechnen muss, dahin, dass am Südufer der Bucht der von
langen Dämmen eingeschlossene Hafen von Kingstown entstand,
welcher über eine grössere Wassertiefe verfügt als Dublin. Die Dublin
and Kingstown-Eisenbahn, bis zu den Hafenanlagen geführt, verbindet
den Vorhafen mit der irischen Hauptstadt.
Die Verbindung Dublins mit England vollzieht sich am kür-
zesten über Kingstown Holyhead auf der Insel Anglesea. bis wohin
man per Eisenbahn gelangen kann. Der Weg von Holyhead nach
Kingstown per Dampfer wird in 3—4 Stunden zurückgelegt, und ist
zwischen Schiff und Eisenbahn ein ausgezeichneter Anschluss her-
gestellt sowie in jeder Beziehung für die Bequemlichkeit der Reisenden
Sorge getragen. Man kann, von Holyhead kommend, entweder am
Legende zum Plan von Dublin.
A Irische See, B Rettungsboote, C Pigeon-Fort, D Küstenwache, E Liffey River, F Leuchtfeuer,
G Dublin-Barre, H Bahnhöfe, J Drumcondra Hill, K Dorset Str., L Capel Str., M King Str., N Prussia Str.,
O Church Str., P Dominik Str., Q Great, Britain Str., R Talbot Str., S Gloucester Str., T Sheriff Str.,
U Sackville Str., V Blessington Str., W Eccles Str., X Temple Str., Y James Str., Z Thomas Str. —
1 Dame Str., 2 Great Brunswick Str., 3 Grand Canal Str., 4 Leinster Str., 5 Lower Mount Str., 6 Upper
Mount Str., 7 Lower Baggo Str., 8 Upper Charlemont Str., 9 Richmond Str., 10 Aungier Str., 11 Grafton
Str., 12 Harcourt Str., 13 Hanover Str., 14 Mid. Abbey Str., 15 Watlings Str., 16 Cork Str., 17 Lower
Coombe Str., 18 St. Patrik Str., 19 New Str., 20 Heytesbury Str., 21 Lower Leeson Str., 22 Donny-
brook Road, 23 Pembroke Rd., 24 Northumberland Rd., 25 South Lots Rd., 26 Ringsend Rd., 27 East-Rd.,
28 Church Rd., 29 Ballybough Rd., 30 Circular Rd., 31 Phibsborough Rd., 32 Conyngham Rd.,
33 Nass Rd., 34 Harolds Cross Rd., 35 Rothmines Rd., 36 Clyde Rd., 37 Bath Avenue, 38 North
Strand, 39 Alexander-Bassin, 40 Grand-Canal-Docks, 41 Grand-Canal, 42 City-Bassin, 43 Royal-Canal,
44 Inner-Dock, 45 Kasernen, 46 Spitäler, 47 Irrenhäuser, 48 Werkhäuser, 49 Richmond-Strafhaus,
50 Mountjay-Gefängniss, 51 Klöster, 52 Holycross-Colleg, 53 Rotunde, 54 Linen-Hall, 55 Four Courts,
56 Zollamt, 57 Gaswerk, 58 Royal Dublin Society, 59 Castle, 60 Bank, 61 Trinity-College, 62 Theater,
63 Post, 64 Richmond-Bridewell, 65 Wollspinnerei, 66 katholische Universität.
[[1085]]
(Legende siehe auf Seite 1084.)
[1086]Der atlantische Ocean.
Nordwall von Dublin landen, von wo Waggons nach allen Rich-
tungen von Irland instradirt werden, oder aber zu Kingstown selbst,
um dann per Bahn Dublin zu erreichen. Der Weg von London bis
Dublin wird auf diese Art in elf Stunden zurückgelegt.
Alle diese kostspieligen Anlagen lohnten sich und tragen reiche
Früchte. Dublins Handel zeigt in den letzten Jahren sogar einen
Aufschwung, während er ohne diese Verbesserungen sicher weit
zurück gegangen wäre.
Dublins Aussenhandel während der letzten drei Jahre geht aus nach-
stehender Aufstellung hervor. Es betrug der
| [...] |
An der Spitze des Importes steht Getreide, die eingeführten Mengen
beliefen sich auf:
| [...] |
In der Gruppe der übrigen Nahrungsmittel weisen 1889 die stärkste Ein-
fuhr auf: Fische mit 5830 q und Margarin mit 5480 q.
Der Import von Früchten vertheilte sich im selben Jahre auf Korinthen
3120 q, Trauben (getrocknet) 2770 q, rohe Aepfel 1718 hl und andere rohe Obst-
sorten 1180 hl. Die Einfuhr von Zwiebeln betrug 11.160 hl.
Wein erreichte die Importziffer von 31.744 hl, Spirituosen 5370 hl.
Die Einfuhr von raffinirtem Zucker betrug 1889 24.000 q.
Oelsamenkuchen weisen im gleichen Jahre einen Import von 1472 t auf.
Sehr bedeutend ist die Einfuhr von Petroleum mit 79.046 hl im Jahre
1889 gegen 78.128 hl des vorhergehenden und 46.584 hl des Jahres 1887.
Erheblich ist ferner der Import von Düngemitteln, welcher im letzten
Jahre 14.684 t umfasste.
Einen lebhaften Import weisen Metalle auf. Die grössten Quantitäten von
11.465 t entfallen auf Pyrite von Eisen und Kupfer, 741 t auf Blei, 13.000 q auf
Eisen- und Stahlfabricate.
Die Einfuhr von Hölzern ist ebenfalls nicht unbedeutend. Sie verzeichnet
für das Jahr 1889 19.642 m3 gefälltes (Balken-) Holz, 105.515 m3 gesägtes und
gespaltenes Holz, ferner 878 m3 an Fassdauben und 333 t Mahagoniholz.
An sonstigen Importartikeln sind für das Jahr 1889 noch zu nennen: Glas
aller Art mit 18.300 q und Papier aller Art mit 6856 q.
Von den 94.000 ₤, auf welche sich der Gesammtexport Dublins im Jahre
1889 bezifferte, entfallen: 21.210 ₤ auf chemische Düngemittel, 10.678 ₤ auf
Bier und Ale, 21.440 ₤ auf Schaf- und Baumwolle und 10.496 ₤ auf verschiedene
Metallwaaren.
[1087]Dublin.
Die folgende Zusammenstellung veranschaulicht die Schiffsbewegung Dublins
in den letzten Jahren:
| [...] |
Der Haupttheil des Verkehres geht nach den Häfen Grossbritanniens, im
internationalen Verkehre nach der Union und Canada.
Als Industriestadt kann Dublin mit anderen günstiger gelegenen
Städten nur schwer concurriren, weil es ihm an Wasserkraft fehlt und Kohlen
aus grösserer Entfernung zugeführt werden müssen. Die industrielle Thätigkeit
ist trotzdem eine ziemlich bedeutende. Wichtig sind namentlich die Maschinen-
bauwerkstätten, Giessereien, Möbelfabriken, Kutschenfabriken, ferner Tabakfabriken,
Glashütten, Brauereien und Whiskeybrennereien. Weltbekannt sind Dubliner Stout
(früher Guinness, jetzt Actiengesellschaft) und Whiskey (Kinahaus L. L.).
Besonders lebhaft ist der Localverkehr mit Grossbritannien, nach
welchem wöchentlich 56 Passagierdampfer abgehen.
Die wichtigsten Banken von Dublin sind: Bank of Ireland, National
Bank, Provincial Bank of Ireland und Royal Bank of Ireland.
In Dublin unterhalten Consulate: Argentinien, Belgien, Bolivia, Deutsches
Reich, Frankreich, Griechenland, Italien, Liberia, Mexico, Niederlande, Spanien,
Türkei, Vereinigte Staaten von Amerika.
[[1088]]
Belfast.
Für den ganzen Norden Irlands ist das in der Landschaft Ulster
gelegene Belfast die wichtigste Stadt, nicht nur als ein Industrieort
ersten Ranges, sondern auch wegen des lebhaften Verkehres, welcher
durch seinen Hafen vermittelt wird.
Die Geschichte der heutigen Stadt Belfast ist keine alte, wenn-
gleich an den Punkt, wo heute die Stadt liegt, sich einige Ereig-
nisse von Bedeutung für die Localgeschichte von Irland knüpfen.
Vor Allem trafen daselbst wiederholt die Männer von Ulster mit den feind-
lichen Picten im heftigen Kampfe zusammen. Als dann später die Engländer den
nördlichen Theil der grünen Insel zu besetzen trachteten, scheint bei Belfast von
denselben ein Castell angelegt worden zu sein. Dieses Castell fiel jedoch im
XIV. Jahrhundert in die Hände der Iren, und damit ging auch ein guter Theil
des Besitzes von Ulster wieder für die Engländer vorloren, welche nur in dem am
Belfaster Busen gelegenen Carrickfergus sich behaupten konnten. Durch mehrere
Jahrhunderte gab es nun Kämpfe zwischen den Briten in Carrickfergus und den
Iren in dem um das alte Castell angewachsenen Belfast. 1570 wurde auch jener
britische Besitz von den Iren in ihre Gewalt gebracht, und dies veranlasste Königin
Elisabeth’s Günstling Lord Essex zu einem Kriegszuge nach Ulster, welcher
nach hartem Ringen die britische Herrschaft sicherte. Die wichtige Position von
Belfast wurde jetzt durch den Bau einer neuen starken Veste geschützt, und ein
Waffengefährte Essex’, Lord Arthur Chichester, wurde mit der Veste und deren
Weichbild belehnt. Lord Chichester ist der Gründer des heutigen Belfast, indem
er eifrigst bemüht war, Einwanderer aus England, namentlich von seinen eigenen
Besitzungen heranzuziehen, um dadurch ein Gegengewicht gegen die widerspenstigen
einheimischen Leute zu schaffen. In der That wuchs die neue Anlage rasch heran
und gewann bald — 1613 — städtische Privilegien. Schon 1637 nahm man auf
die Herstellung eines Hafens Bedacht. Die grosse Revolution ging auch nicht
spurlos an der Stadt vorüber. Belfast sah wiederholt Truppen beider Parteien in
seinen Mauern, aber es gelang seiner Bürgerschaft doch, jene Gewaltthaten, welche
in anderen Theilen von Irland damals fast an der Tagesordnung waren, fern zu
halten, obwohl Belfast immer zur königlichen Sache sich neigte. Seither war der
Stadt eine friedliche Existenz gegönnt und unter dem Schutze derselben konnte
sie sich zur stetigen Blüthe entwickeln.
[1089]Belfast.
Die Lage von Belfast ist landschaftlich begünstigt, wie dieses bei
den meisten irischen Seestädten der Fall ist. Die Scenerie umfasst die
grosse 12 Seemeilen tiefe und zumeist 5 Seemeilen breite Bucht, den
Belfast Longh, dessen Gewässer durchaus, mit Ausnahme einer ein-
zigen Stelle, sicheren felsenfreien Grund haben, umgeben von stattlichen
Höhenzügen, an deren Fusse im Hintergrunde die Stadt selbst sich
ausdehnt, welche schon beim ersten Anblick ein bewegtes Bild mensch-
lischer Thätigkeit zeigt. Die hohen Schornsteine und der intensive
Kohlenrauch deuten auf grosse Industrien hin, in den Strassen herrscht
Belfast.
unermüdliches, rastloses Treiben; alle Welt scheint beschäftigt und
bestrebt, die Zeit gut zu nützen; kurz, in der Hauptstadt des nörd-
lichen Irland fühlt man sich wieder an die Regsamkeit englischer
Häfen erinnert. — Die Stadt, welche 210.000 Seelen beherbergt, liegt
fast ganz am linken Ufer des Flusses Lagen, welcher an dieser Stelle
in die Bucht einmündet und für Hafenzwecke gut ausgenutzt ist. Unter
54° 36′ nördl. Br. und 5° 56′ westl. L. v. Gr. gelegen, stellt sich die
Stadt, wie unser Plan zeigt, als eine ziemlich regelmässige Anlage dar.
Die langen, meist breiten Strassenzüge gewähren einen stattlichen
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 137
[1090]Der atlantische Ocean.
Anblick. Wir erwähnen hier nur die mit einander parallel laufenden
Corporation, York und North Queen Street, die sämmtlich durch eine
andere Reihe von Parallelstrassen senkrecht durchschnitten werden,
May und Chichester Street mit ihren Fortsetzungen. In der Fortsetzung
von May Street, auf dem Donegall-Square liegt die sogenannte Leinen-
halle, Linenhouse, weniger wegen ihrer Architektonik als wegen ihres
Zusammenhanges mit dem Hauptindustriezweig der Stadt von Be-
deutung. Die Leinenindustrie nämlich ist das Wahrzeichen von Belfast,
die feste Grundlage seiner Entwicklung. Die Leinenhalle wurde 1785
erbaut und diente als eine Art von Börse für diesen Artikel, dessen
Pflege in Irland weit zurückreicht, so dass schon in vergangenen
Jahrhunderten die irischen Weber eines Weltrufes genossen.
Unter Karl I. hat Lord Strafford, der überhaupt viel Interesse
für Belfast zeigte, viel zur Hebung dieses Industriezweiges beigetragen,
später brachten hugenottische Flüchtlinge ihre speciellen Fertigkeiten
zum Nutzen der Stadt und Industrie nach Belfast, und Königin Anna
setzte eine eigene Commission von Vertrauensmännern ein, denen die
Pflege der Leinenindustrie besonders überantwortet war. Durch unaus-
gesetzte Verbesserungen in den Erzeugungsmethoden, gepaart mit
grosser Reellität im Verkaufe, gelang es den Belfaster Fabrikanten,
ihr Product zur ersten Marke gegenüber jeder Concurrenz zu erheben.
Der erste Börsenplatz der Welt für Linnen ist eben das „Linen-
house“ in Belfast. Diese Leinenhalle führte früher den besonderen
Namen der weissen Leinenhalle, im Gegensatze zu der braunen
Leinenhalle, die heute nicht mehr benützt wird, jedoch der Be-
stimmung ihres Stiftbriefes wegen jeden Freitag offen gehalten
werden muss.
Zu den schönsten Gebäuden von Belfast zählt das in den Fünf-
zigerjahren errichtete, in italienischem Styl gehaltene Zollamt am
Donegall Quai. Natürlich mangelt es auch hier nicht an Kirchenbauten
beider Confessionen. Belfast ist eigentlich die Metropole der irischen
Presbyterianer, und die St. Enochs-Kirche nimmt unter ihren gottes-
dienstlichen Häusern den ersten Rang ein. Die irische Kirche weist
auch eine stattliche Anzahl von Gebäuden auf, darunter St. Anna in
Donegall Street, 1788 gebaut, St. Georg in High Street, die Christus-
kirche auf dem College Square. Ebenso sind die in der Stadt ziemlich
zahlreichen Methodisten mit einigen Kirchen vertreten. Die Katholiken
haben die sehr schöne und imposante St. Patrick-Kirche und nebst
anderen auch die zierliche St. Malachias-Kirche.
Die Erziehungs- und Lehranstalten von Belfast haben seit jeher
[1091]Belfast.
einen guten Ruf, und man hat diesem Zweige immer viel Aufmerk-
samkeit zugewendet. Den ersten Rang nimmt das in einem stattlichen,
im Tudorstyle gehaltenen Gebäude untergebrachte Queens-College ein,
welches eine Art Filiale der Royal University of Ireland bildet. Es
wurde 1849 eröffnet. Grossen Zuspruch geniesst das Collegium der
Methodisten im University Road. Bemerkenswerth ist ferner das
Belfaster Museum und die Royal Academical Institution.
Zu den erwähnenswerthen öffentlichen Gebäuden zählt auch
das Stadthaus in Victoria Street, 1871 erbaut, dann die in sehr
elegantem Style gehaltene Ulster-Bank in Waring Street, mit einer
dorischen Façade, die zu Bällen und Concerten verwendete Ulster Hall
in Bedford Street, deren grosser Saal 4000 Personen aufnehmen kann.
Dem Theatre Royal in Arthur Street rühmt man nach, dass kaum eine
Provinzstadt des Königreiches ein schöneres aufzuweisen habe. Stolz
ist man auch und mit einigem Rechte auf den botanischen Garten,
der ein grosses eisernes Pflanzenhaus besitzt und nicht nur ein voll-
ständiges Bild der Flora von Irland liefert, sondern auch durch eine
besonders reiche Sammlung von Eichen eine gewisse Berühmtheit
erlangt hat. Von dem alten Castell ist kein Rest mehr vorhanden als
der Namen des Platzes, wo es gelegen war. Es wurde bereits 1708
durch eine Feuersbrunst zerstört.
Wenden wir uns nun dem Flusse zu, auf dessen rechtem Ufer
eine Art von Vorstadt gelegen ist; derselbe wird von zwei Brücken,
der Albert-Brücke und der stattlichen Queens-Brücke, dann auch noch
von einer Eisenbahnbrücke übersetzt. Unterhalb von Queens-Bridge,
über welche man sofort in das Herz der Stadt gelangt, erstrecken
sich auf beiden Ufern des Flusses Quais. Jene am rechten Ufer sind
mit Schienensträngen der Central Railway versehen. Am linken Ufer
zieht sich eine Tramway entlang, welche die Verbindung mit der
Eisenbahn beim Belfast Northern County Terminus herstellt. Diese
Tramway verästelt sich auch in die Docks des linken Ufers. Die
vorher erwähnten Quais sind begleitet von einer Reihe stattlicher
Docks. Zunächst können wir deren Besprechung beginnen mit dem
Clarendon Dock, einem Bassin in reckteckiger Form mit einer Einfahrt
aus dem Flusse, welches mit einem kleinen Molo und zwei Trocken-
docks sowie auch einer Werfte ausgerüstet ist. Von Clarendon-Dock
führt der Princes-Quai zum Princes-Dock, das sich der Länge nach
ins Land hineinzieht und mit einigen Speichern ausgestattet ist.
Hierauf folgt der Albert-Quai, an dessen Innenseite ein Holzbassin
placirt ist. Neben diesem Bassin ist das Dufferin-Dock, welches seinen
137*
[1092]Der atlantische Ocean.
Zugang durch das grosse viereckige Spencer-Bassin hat. Ausserdem
sind auf diesem Ufer mehrere Holzbassins situirt.
Auf dem rechten Ufer des Lagan befindet sich das Abercorn-
Bassin, hinter welchem grosse Eisenwerke und Maschinenwerkstätten
einen bedeutenden Raum einnehmen. Dann ziehen sich den Fluss
entlang eine Anzahl von Schiffswerften hin, welche ihren Abschluss
bei dem grossen Alexandra-Trockendock finden. Die eigentlichen Docks
haben 39 ha Wasserfläche. Alle diese Anlagen verdanken ihr Ent-
stehen der Regulirung des Flusses und den Bemühungen der Harbour-
Commission, einer 1831 durch Parlamentsacte eingesetzten Corporation.
Vorher mussten die Schiffe wenigstens vier Meilen unter der
Stadt bleiben, und war daher der Verkehr hiedurch äusserst erschwert,
da man viel mit Lichterbarken zu arbeiten genöthigt gewesen ist.
Heute ist all dem durch obige Arbeiten gründlich abgeholfen, und
Belfasts Verkehr kann noch eine erhebliche Steigerung ertragen, ohne
in seiner Entwicklung behindert zu werden.
Die Zufahrtsverhältnisse von Belfast sind indes nicht die gün-
stigsten, denn viel zu lange liess man die Verschlammung des Lagan-
flüsschens anstehen, und erst neuerer Zeit war man gezwungen, um
den Hafen für grössere Schiffe praktikabel zu machen, zu grossen
Arbeiten zu schreiten. Der nahezu 5 km lange innerste Theil der
Bucht war derart versandet, dass sich bei Ebbe durch diese Barrière
nur die seichte Wasserader des Laganflüsschens durchgrub. Bei
Regulirung des letzteren wurden sowohl Baggerungen vorgenommen
wie auch Dammbauten aufgeführt. Man vertiefte das Bett bis auf
3·6 m unter den Ebbestand und erbaute die beiden Dämme West und
East Twin Islands, welche zusammen den Victoria-Canal bilden. Da
nun die Flut in der Bucht auf 3·4 m ansteigt, so können jetzt aller-
dings Schiffe bis zu 7 m Tauchung den inneren Hafen und die Docks
erreichen, allein bei der zunehmenden Grösse der Schiffe ist eine
weitere Vertiefung für die Dauer wohl unvermeidlich.
Legende zum Plan von Belfast.
A Whitehouse-Rhede, B Victoria-Canal, C Alter Lagan-Canal, D Spencer-Dock, E Dafferin-Dock, F Leucht-
feuer, G Bauholzbassin, H Princes-Dock, J Clarendon-Dock, K Abercorn-Dock, L Co. Down-Station,
M Northern Counties-Station, N Gt. Northern-Station, O Eisenbahnstationen der Centraleisenbahn,
P Zollamt, Q Donegall-Quai, Q1 Queens-Quai, R Donegall Str., S York Street, T Queens Bridge,
U Albert Bridge, V Ormean Bridge, W Royal Academy, X Linen Hall, Y Smithfield, Z Militärkasernen.
— 1 Court House, 2 County-Gefängniss, 3 Belfast Union Workhouse, 4 Taubstummeninstitut, 5 Queens
College, 6 May Street, 7 St. Annen-Kirche, 8 Christkirche, 9 Docks und Werften, 10 Marine-Schiffbau-
werkstätte, 11 Hafenamt, 12 Shankhill Road, 13 Old-Lodge Road, 14 Corporation Str., 15 Royal Avenue
16 University Road.
[[1093]]
(Legende siehe auf Seite 1092).
[1094]Der atlantische Ocean.
Belfast zeigt während der letzten drei Jahre folgende Handels-
bewegung:
| [...] |
In der Getreideeinfuhr Belfasts, welche den wichtigsten Theil seines Im-
portes bildet, sind Weizen und Mais am stärksten vertreten. Es wurden in
den letzten drei Jahren eingeführt:
| [...] |
Der Import von „Provisions“ und Früchten ist ein ziemlich lebhafter.
Die Zwiebeleinfuhr betrug 1889 29.326 hl.
An Getränken bezog Belfast im letzten Jahre 5780 hl Wein und 2902 hl
Spirituosen.
Der Import von Zucker belief sich im selben Jahre auf 28.000 q.
Sehr bedeutend ist die Einfuhr von Flachs mit 153.700 q und Hanf mit
22.900 q.
Die Einfuhr von Oel wird durch 431 t Olivenöl repräsentirt. Bedeutender
ist die Einfuhr von Oelsamenkuchen mit 2259 t.
Unter den 1889 importirten Samenarten ragen Flachs- und Leinsamen mit
1990 q und Klee- und Grassamen mit 1330 q hervor.
Petroleum bildet einen der wichtigsten Importartikel und weist 1889
89.900 hl, 1888 48.583 hl, 1887 61.395 hl aus.
Einen verhältnissmässig geringen Import verzeichnen Metalle; dieser be-
schränkte sich im letzten Jahre in der Hauptsache auf 10.868 q Stahlfabricate.
In der Reihe der übrigen Artikel sind nach den Einfuhrslisten pro 1889
hervorzuheben: Verschiedene Düngemittel mit der Gesammtziffer von 7625 t,
Glas aller Art in der Höhe von 13.200 q, Lumpen und andere Materialien für die
Papierfabrication mit 7562 t.
Zum Schlusse ist noch die Einfuhr von Holz hervorzuheben, welche in der
gleichen Zeitperiode umfasste: 26.500 m3 gefälltes Holz (Balken), 133.000 m3 ge-
sägtes und gespaltenes Holz, 1155 m3 Fassdauben und 267 t Mahagoniholz.
In der Ausfuhrsbewegung Belfasts spielt nur der Exportinländischer
Erzeugnisse eine Rolle, weshalb wir hier auch nur diesen besprechen.
Bei der hochentwickelten Leinenindustrie ist es denn auch natürlich,
dass deren Erzeugnisse in der Ausfuhr überwiegen. Sie nehmen mehr als 60 Per-
cent der Gesammtausfuhr für sich in Anspruch und weisen 1889 folgende Ziffern
auf: 1889 Leinenstückwaare 11,844.800 m im Werthe von 314.967 ₤, Leinen-
zwirne im Werthe von 93.799 ₤.
Den nächstwichtigen Exportartikel bilden irische Spirituosen im Werthe
von 79.809 ₤.
Erwähnenswerth ist ferner noch die Ausfuhr von Maschinen im Werthe von
[1095]Belfast.
13.036 ₤ und die von verschiedenen Metallwaaren im Gesammtwerthe von
31.071 ₤.
Der Werth aller anderen im Jahre 1889 ausgeführten Waaren beziffert
sich auf rund 150.000 ₤.
Seine Stellung als bedeutendste Handelsstadt Irlands verdankt, wie schon
erwähnt, Belfast der Leinenindustrie und dem durch sie genährten Handel.
Neben grossartigen Flachsmühlen und Leinenfabriken besitzt Belfast zahlreiche
Webereien und Baumwollfabriken. Daneben werden Seilerei- und Segeltuchfabrication
in starkem Masse betrieben. Unter den übrigen in Belfast etablirten Industrien
sind zu nennen: Eisengiessereien, Maschinenbau, Werften für den Bau eiserner
Schiffe, Buchdruckereien, Brauereien und Brennereien.
Nachstehende Tabelle veranschaulicht den Schiffsverkehr von Belfast
| [...] |
Den lebhaftesten Verkehr unterhält Belfast mit Liverpool und Glasgow als
den Hauptvermittlern seines Aussenhandels. Es ist auch Station für die Dampfer
der Dominionlinie (Liverpool—Montreal) und der Statelinie (Glasgow—New-York).
Von Belfast gehen zwei Eisenbahnlinien nach dem Inlande, drei Kabel nach
Stranraer in Schottland.
Die wichtigsten Banken von Belfast sind: Bank of Ireland, Nationalbank,
Belfast Banking Co., Provincial Bank of Ireland.
In Belfast unterhalten Consulate: Argentinien, Belgien, Dänemark
Deutsches Reich, Hawaii, Liberia, Peru, Vereinigte Staaten von Amerika.
[[1096]]
Reykjavik.
Im fernen Nordmeere, dort wo Eis und Schnee weithin das
Scepter führen und die Natur nur unter schwerer Mühe zu einiger
Entfaltung gelangt, liegt Island, das Land des Eises, des feuerspeien-
den Hekla und der wunderbaren Geyserquelle, die Ultima Thule
alter Geographen. Skandinavische Männer, auf abenteuerlicher und
bisweilen auch räuberischer Seefahrt begriffen, haben die Besiedelung
dieser grössten europäischen Insel veranlasst, eine Besiedelung, der
freilich durch die Beschaffenheit des Bodens enge Grenzen gezogen
sind. Kennt man doch auf Island keinen Baumwuchs! Von hier aus
ward schon in früher Zeit Grönland entdeckt; von hier aus hat man
die Küste Nordamerikas, wenn auch nur vorübergehend, besucht, ehe
noch Columbus dahin seine Fahrt mit spanischen Schiffen antrat. Island
lag abseits von dem Treiben der übrigen Welt, und nur der Umstand,
dass es nach einer mehr als dreihundertjährigen Selbständigkeit in-
folge innerer Streitigkeiten fremde Intervention anrief, brachte es
unter norwegische Oberhoheit und damit später mit Norwegen unter
die dänische Herrschaft. Die Dänen haben die Insel eigentlich bis
herauf in die allerjüngsten Tage nicht günstig behandelt, indem sie
die Freiheit ihres Handels beschränkten und die Isländer zwangen,
ihre Bedürfnisse nur von dänischen Importeuren zu nehmen. Unter
König Christian IX. wurden diese Beschränkungen beseitigt und bekam
die Insel zugleich mit einer ganz selbständigen Verfassung auch volle
Freiheit ihrer commerziellen Bewegung.
Island ist 105.000 km2 gross, zählt aber bloss 72.000 Ein-
wohner, welche zumeist an den Küsten in Einzelhäfen leben, darum
hat die Insel eigentlich nur einen Ort von Bedeutung, das an der
Westküste in dem Faxa-Fjord gelegene Reykjavik.
Diese Stadt schreibt ihre Gründung der Fahrt norwegischer Edlen unter
Ingolf zu, welche um das Jahr 874 vor heimischer Bedrückung fliehend sich
nach dem bereits durch frühere Fahrten von Landsleuten bekannten Island be-
gaben. Ingolf gelobte hiebei, so wird von der Sage erzählt, eine Stadt an jener
[[1097]]
Reykjavik.
Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 138
[1098]Der atlantische Ocean.
Stelle zu gründen, welche ihm durch seine Hausgötter, deren Denksäulen er mit
sich genommen und in der Nähe der Insel in See geworfen hatte, gewiesen werden
würde. Diese Säulen verschwanden jedoch zunächst, ehe sie Land erreichten, und
die Männer Ingolf’s landeten an der Südküste und blieben dort durch mehrere
Jahre, bis man Kunde erhielt, dass jene Götterbilder an einer anderen Stelle
ans Land geschwemmt worden seien. Nun zog Ingolf dahin und begründete die
obgenannte Stadt, welche seither der Hauptort Islands geblieben ist.
Reykjavik liegt unter 64° 9′ nördl. Br. und 22° westl. L. v. Gr.
im Hintergrunde des sehr breiten und gegen Seegang wenig ge-
schützten Faxa-Fjordes, ziemlich geschützt. Es hat 1360 Einwohner,
meist nur einstöckige Häuser, aus Lavasteinen erbaut, oft mit Holz
verkleidet. Die Häuser, unter denen eigentlich nur das Parlamentshaus
hervorragt, während sogar das amtliche Wohnhaus des Gouverneurs
sich durch bescheidene Einfachheit auszeichnet, haben Holz-, meist
aber Grasdächer. Die Strassen sind gut und breit, ein freier Platz
ist geschmückt mit einem Monumente Thorwaldsen’s. Die Lebens-
ansprüche der Isländer, welche noch die Sprache der Wikinger, das
Altnordische, reden und die jeder wenigstens lesen und schreiben
können, sind genügsam, wenn auch durch die Verhältnisse vielfach
diese Bescheidenheit auferlegt wird. Die Isländer, in deren Volks-
charakter sich noch die meisten germanischen Tugenden, besonders
die Ehrlichkeit, Treue, Offenheit bewahrt haben, zeigen auch darin
eine sehr lobenswerthe Eigenschaft, dass sie in der Art ihres Er-
werbes nicht wählerisch sind und sich je nach Umständen auch mit
einer Art des Verdienstes begnügen, der ihnen nicht immer gerade
der nächstliegende ist. Fischfang und Viehzucht bilden die Haupt-
beschäftigungszweige der Isländer. Namentlich sind es die Kabeljaus,
Häringe, Robben, Wale und Haifische, denen man besonderes
Augenmerk zuwendet. An dem felsigen Gestade von Reykjavik
werden überall Dorsche gereinigt, gesalzen und getrocknet. Auf den
Inseln und an den einsamen Küsten hausen Eidergänse, deren Nester
man der Eiderdunen wegen zweimal jährlich plündert. Die reichen
Wiesen des Landes, dem wegen der geringen Sommerwärme der
Ackerbau fehlt, nähren Schafe und kleine, aber ausdauernde und
flinke Pferde. Der Ausfall der Heuernte ist daher ebenso wichtig für
den Wohlstand des Landes, wie das Ergebniss des Fischfanges.
Als Hafen hat natürlich Reykjavik im Weltverkehre keine
Stellung, aber als Hauptstadt der in ihrer Art einzig dastehenden
Insel, deren Bewohner mit ihrer uralten Sprache, Cultur, ihrer Armut
und eigenartigen hohen Bildung wie eine Säule aus den Tagen der
Nibelungen in unsere Zeit hereinragen, verdient sie unsere Aufmerk-
[1099]Reykjavik.
samkeit. Vor Reykjavik und der westlich gelegenen Bucht Havne-
Fjord finden die Schiffe bei gutem Ankergrund gesicherte Liegeplätze.
Eigentliche Hafenanlagen gibt es in Reykjavik nicht. Man
operirt dort noch in einfacher Weise. Wohl darf man auch nicht
vergessen, dass der Hafen einen Theil des Jahres des Eises wegen
nicht zugänglich ist. Den Verkehr mit Island unterhalten haupt-
sächlich dänische Postdampfer, deren einer monatlich von Kopen-
hagen über Leith in Schottland und Thorshave auf den Faröern
ankommt, und englische Dampfer ebenfalls von Leith her. Von Leith
F Leuchtfeuer.
aus erreichen diese Dampfer bei gutem Wetter in fünf Tagen den
Hafen von Reykjavik. Die englischen Schiffe vermitteln die verhält-
nissmässig starke Auswanderung der Isländer nach Canada und der
Union, wohin in den letzten Jahren Tausende zogen und noch ziehen
und sich eine neue wirtliche Heimat gründen.
Reykjavik ist der wichtigste Handelsplatz der Insel, aber auch hier wird
der Handel wie überall sehr primitiv betrieben und ist eigentlich nur ein Tausch-
handel. Die Geschäfte werden in den Factoreien abgeschlossen, welche meistens
in Kopenhagen wohnenden Kaufleuten gehören. Eine Factorei auf Island muss
Alles führen, selbst Apothekerwaaren, weil es auf der ganzen Insel nur vier
Apotheken gibt.
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[1100]Der atlantische Ocean.
Die Hauptartikel der Einfuhr sind Roggenmehl, Roggen, Tabak, Kaffee,
Salz und Spirituosen, die billigsten Sorten Bretter und Steinkohlen; alles gelangt
über Kopenhagen und Leith hieher.
Der wichtigste Theil der Ausfuhr Islands, auf welche sich die folgenden
Ziffern beziehen, sind Klippfische, in kleinerem Masse Stockfische, zusammen jähr-
lich etwa 60—70.000 q, die nach Dänemark, Grossbritannien und Spanien gehen.
Häringe werden meist nach Dänemark versendet, der ausgeführte Thran
ist zum grössten Theile Haileberthran, zu einem kleineren Theile Dorschleberthran.
Schafwolle wird nach Dänemark und Grossbritannien ausgeführt, im
Ganzen etwa 6—7000 kg, gesalzene Schaffelle, gesalzenes Lammfleisch und Talg
gelangen fast nur nach Kopenhagen, wohin auch beinahe alle Eiderdunen gelangen
(1888 5000 kg). Dagegen ist die Ausfuhr lebender Pferde und Schafe nicht nach
Dänemark gerichtet. Gewiss höchst bemerkenswerth ist, dass dieser ärmste Fleck
Landes im Verkehrsorganismus von Europa und Island in seiner Handelsbilanz
activ ist.
In Reykjavik unterhält nur Grossbritannien ein Consulat.
Wenn dort jene Zeit herangebrochen ist, in welcher die
Sonne nicht vom Horizonte verschwindet und da es zur nächtlichen
Stunde auch hell bleibt, wenn man die armselige Vegetation und die
eigenthümlichen Gletschergebilde betrachtet und ringsumher das ge-
waltige Nordmeer erbraust, dann wähnt man kaum mehr auf Europas
Boden zu stehen. Und doch erinnern wieder die Sprache, die Zeichen
einer alten und hochentwickelten Cultur, die Beziehungen des Landes
an den europäischen Charakter seines Daseins. Aber ist es auch
Europa, so fühlt man doch in dessen Ultima Thule zu sein.
Vom hellen, sonnigen, lebenswarmen Süden bis hinauf nach dem
strengeren, ernsteren, aber in Thätigkeit hochangespannten Norden,
von den gefürchteten Küsten des Euxinus bis zu den Gestaden der
Atlantis sind wir gewandert und haben gesehen, wie in einer Reihe
grosser Häfen der Antheil am Weltverkehr in den verschiedensten Ge-
staltungen und Formen sich bemerkbar macht, und nach der Fülle von
gewonnenen Eindrücken halten wir einen Augenblick Rast an Islands
Strand, einer zur Sammlung geeigneten Stätte. Einst fuhren dessen
Söhne schon nach dem Westen. So wollen wir auch, das alte Europa
verlassend, nunmehr eine andere Welt suchen und betrachten, wie
die neuen Schöpfungen dieser Welt sich zu jenen verhalten, von denen
wir bei Island jetzt Abschied nehmen.
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Appendix A
Druck von Johann N. Vernay in Wien.
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Port maritimes de la France, insbesondere die interessante Arbeit des Ingenieur
en Chef des Ponts et Chaussées M. René Pocard Kerviler benützt.
vergessen ist, dass Antwerpen viel transitirt, während Hamburg eine Kopfstation ist.
Hauptquartier des grossen englischen Yachtclubs „Royal Yacht Squadron“, welcher
hier seine berühmten Wettfahrten veranstaltet.
- Holder of rights
- Kolimo+
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- TextGrid Repository (2025). Collection 4. Die Seehäfen des Weltverkehrs. Die Seehäfen des Weltverkehrs. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bqk9.0