Friedrich Ludwig Schröder
Der Vetter in Lissabon
Ein bürgerliches Familiengemälde in drei Aufzügen

Personen

[60] Personen.

    • Herr Wagner.

    • Mad. Wagner, dessen zweite Frau.

    • Sophie, Wagners Tochter erster Ehe.

    • Charlotte,
    • Wilhelm, , Wagners Kinder zweiter Ehe.

    • Fritz, ein Kind von drei bis vier Jahren.

    • Sivers, Wagners Freund.

    • Kanzelleirath Malldorf.

    • Ein Gerichtsdiener.

    • Ein Kaufmannsdiener.

    • Ein Dienstmädchen.

1. Akt

1. Auftritt
Erster Auftritt.
WAGNER.

Wieder ein Posttag verstrichen, und noch kein Brief! – Er kennt ja meine Noth nicht. – O, der falschen Scham, daß ich ihm nicht offenherzig meine Umstände schrieb! kann ich nach diesen Ausdrücken Indem er einen Brief aus der Tasche nimmt. an seiner Hülfe zweifeln, wenn er weiß, daß ich ihrer bedarf? – Edler Mann! Er liest. »Der einzige Wunsch meines Herzens ist, meine nächsten Verwandten meiner werth, und, darf ich es sagen, in Umständen zu finden, daß das große Vermögen, das Gott mir gab, ihnen nutzen möge!« – Ach! so wahr unsere Umstände elend sind, so wahr sind wir deines Herzens nicht werth.

2. Auftritt
Zweiter Auftritt.
Wagner, Sophie, die Fritz hineinläßt und gleich zurückgeht. Fritz in sehr dürftigem Anzuge.

FRITZ.
Guten Morgen, lieber Herr! bist du gesund?
WAGNER.

Ja, mein Kind. – Armer Junge! Du Bild des Mangels! O, der Wollust, dies Kind wohlgekleidet seinen Eltern wieder zu schicken! – Ach! um so selige Augenblicke hab' ich mich selbst gebracht.

FRITZ.
Bist du nicht hungrig, Herr? – Fritz ist sehr hungrig.
WAGNER.
Dich hungert?
FRITZ.
Alles hungert. Vater hungert; Mutter hungert; der arme kleine Fritz hungert.
WAGNER.

Komm, Fritz! ich will mit dir theilen. Ihr könnt doch ein Brod dafür kaufen. Ihm Geld gebend. Geh' aber gleich, und gib es deiner Mutter.

FRITZ
freudig herumspringend.
Dank, lieber Herr! Nicht mehr hungern! Brod kaufen für den kleinen Fritz.
[61]
WAGNER.
Deiner Mutter sollst du es geben. Hast du verstanden?
FRITZ.

O ja, Fritz versteht gut. Der Mutter soll ich's geben. – Mutter hat den armen Fritz gestern geschlagen, – viel geschlagen. Vater ist so nach Hause gekommen, Er taumelt wie ein Betrunkener. und da hat Fritz gelacht, und sagte: der Vater ist besoffen. – Und Mutter hat den armen kleinen Fritz so auf's Maul geschlagen – so – und sagt: Still, du Spitzbub! Still, du Spitzbub! Und da sagt der Vater: wirf den kleinen Hund auf den Mist. Und da hat Fritz geweint; denn Fritz ist kein Hund.

WAGNER.
Armes, armes Kind!
3. Auftritt
Dritter Auftritt.
Vorige, Mad. Wagner.

MAD.

WAGNER. Nun? was macht denn der Beteljunge wieder hier? – Wie oft soll ich's sagen, daß ich die Kreatur nicht leiden mag?

WAGNER.
Du weißt, daß mir das Kind lieb ist.
MAD.

WAGNER. Ganz gewiß hast du ihm wieder etwas zugesteckt. Deine Familie mag sehen, wie sie sich durchhilft, aber den Bettlern muß reichlich gegeben werden.

FRITZ
schmeichelnd.
Warum bös? – Nicht bös sein!
MAD.
WAGNER. Bleib mir vom Leibe! – He! Sophie! Sophie!
WAGNER
seufzend.
Geh, mein Kind!
4. Auftritt
Vierter Auftritt.
Vorige, Sophie.

MAD.

WAGNER. Bring' das schmuzige Geschöpf fort! und sage dem Bettelvolke, sie sollen sich nicht mehr unterstehen, ihr Kind in honette Häuser zu schicken.

SOPHIE
sehr gerührt.
Es ist ein so gutes Kind!
FRITZ
der Sophien entgegen lief, und mit ihr zurückkehrte.
Ja, Fritz ist gut; recht viel gut!
MAD.

WAGNER. So behalt' Sie's bei sich in der Küche, Mamsell! In meinem Zimmer will ich keine unsaubren Bettelkinder leiden. Untersteh dich auch nicht, dem Volke zuzustecken; wir haben jetzt nichts übrig.

SOPHIE
nimmt das Kind auf und küßt es.
Komm, mein Kind!
[62]
MAD.
WAGNER die den Kuß sieht. Pfui! der ganze Vater mit Leib und Seele.
FRITZ.
Adieu! Adieu! Wirft ihnen nach kindischer Art Kußhände zu.

Sophie geht mit dem Kinde ab.
5. Auftritt
Fünfter Auftritt.
Wagner, Mad. Wagner.

MAD.
WAGNER. Nun, wie stehts? hast du Geld?
WAGNER.
Wo soll ich's hernehmen?
MAD.
WAGNER. Das geht mich nichts an.
WAGNER.
Aber, liebste Frau!
MAD.
WAGNER. Aber, liebster Mann! – Ich muß heute durchaus Geld haben – durchaus. Schaff' Rath.
WAGNER.

Gedulde nicht nur zwölf Tage – dann bekomm' ich die letzten tausend Gulden für mein Haus. Für das Haus, in welchem ich geboren ward; dessen Thüre jedem Bedrängten offen stand, und das ich nur aus Mitleid des Käufers noch ein halbes Jahr bewohnen darf.

MAD.

WAGNER. Dank sei es deiner Nachlässigkeit, deiner Faulheit, daß das Haus hin ist; daß es uns an den ersten Nothwendigkeiten des Lebens mangelt!

WAGNER.
Louise! versündige dich nicht. – Wer zwang mich gleich nach unsrer Heirath, die Handlung aufzugeben?
MAD.

WAGNER. Ich; aber du hättest aufrichtiger sein – dich vor der Heirath nicht für reicher ausgeben sollen als du warst.

WAGNER.
Ich liebte dich! –
MAD.
WAGNER. Und für diese Liebe muß ich nun darben.
WAGNER.
Wer zwang mich, das Landgut zu kaufen?
MAD.
WAGNER. Ich; aber du hättest klüger sein sollen.
WAGNER.

Wer zwang mich, da ich den Rest meines Vermögens wieder zur Handlung anwenden wollte, Tausende im Lotto zu wagen?

MAD.
WAGNER. Ich; aber du hättest klüger sein sollen.
WAGNER.
Wer zwang mich – doch, du hast ja nur eine einzige Antwort für das alles!
MAD.

WAGNER. Es wäre freilich vernünftiger, anstatt deine Thorheiten entschuldigen zu wollen, daß du dich zu dem Käufer des Hauses bemühtest, um die rückständigen tausend Gulden zu erhalten.

WAGNER.
Du hast ja seine Antwort gelesen.
MAD.

WAGNER. Ei was! – Ein halbes gesprochenes Wort ist besser, als hundert geschriebene. – Aber die Bequemlichkeit! die Bequemlichkeit!

WAGNER.

Liebe Louise! der Mann hat zu eigennützig gehandelt, als daß er ohne merklichen Abzug vor der Zeit bezahlen sollte.

MAD.

WAGNER. Nun, was thut's wenn man auch etwas fallen läßt! – Weißt du was? schreib ihm, daß du es mir überließest, mit ihm einig zu werden.

[63]
WAGNER.
Aber –
MAD.

WAGNER. Aber und tausendmal aber – Ich muß durchaus noch heute Geld haben, sonst steht mir der entsetzlichste Schimpf bevor.

WAGNER.
Wenn du nicht zu viel bedarfst, könnt' ich Sivers ansprechen –
MAD.

WAGNER. Den gemeinen, hochbrüstigen, sauertöpfischen Kerl? durchaus nicht. Ueberdieß muß ich fünfhundert Gulden haben, und wie kämen Sivers und fünfhundert Gulden zusammen?

WAGNER.
Fünfhundert Gulden?
MAD.

WAGNER. Den Grobian ansprechen! – Vor acht Tagen that ich, als wenn ich mich nicht nach meinem Zimmer bemühen wollte, und sprach ihn in einem nachläßigen hingeworfenen Tone und vierzig Ducaten an – der Flegel! – Ich habe kein Geld zum Verleihen, war seine Antwort.

WAGNER.
Er ist ein ordentlicher Mann, und hat leider nicht viel übrig.
MAD.

WAGNER. Darum ist er auch dein Freund. Gleich und gleich gesellt sich gern. – Aber, ich hab' ihm die Wahrheit gesagt er hat sich auch seit der Zeit nicht wieder sehen lassen.

WAGNER.
Mein Kind! wenn du jedem die Thüre weisen willst, der dir Geld verweigert, so –
MAD.
WAGNER. Laß doch dein Moralisiren; es kleidet sich so schlecht – und schreib das Billet.
WAGNER.
Soll denn das Wenige noch –
MAD.

WAGNER. Ich weiß nicht, was du seit einigen Tagen für einen Widersprechungsgeist hast! Ist es nicht genug, daß ich dir die Mühe erspare, selbst hizugehn?

WAGNER.
Ich fürchte nur, er wird dir zu viel abziehn?
MAD.
WAGNER. Ja, wenn ich so leicht zu übertölpeln wäre, wie du.
WAGNER.
Und unsere Umstände –
MAD.

WAGNER. Unsre Umstände sind so übel noch nicht. Vielleicht ist der Vetter von Lissabon schon gar unterweges.

WAGNER.
Und wenn er kommt, sind wir seiner Hülfe gewiß?
MAD.

WAGNER. Steht nicht ausdrücklich in dem letzten Briefe, daß er uns arm wünschte, um sein großes Vermögen mit uns zu theilen? Sind wir nicht seine nächsten Verwandten? Und was soll er mit seinem Gelde anfangen?

WAGNER.
Er kann sich verheirathen; oder Arme unterstützen, die es ohne ich Verschulden sind.
MAD.

WAGNER. Das bin ich mit meinen Kindern. – Aber was soll das unnöthige Plaudern? Setz dich, und schreib.

WAGNER
setzt sich zum Schreibtische.
O Gott!
MAD.
WAGNER. Schreib, schreib! – Wenn es auch etwas kostet; der Vetter von Lissabon macht alles gut.
WAGNER.
Ich bin am Ende meiner Hofnungen.
MAD.
WAGNER. Ich wollte, du wärst am Ende deines Moralisirens, und schriebst.
WAGNER.
Wenn ich durchaus muß – Er schreibt.
MAD.

WAGNER. Endlich. Für sich. Was man für Plage mit den [64] Männern hat, die wie Kinder müssen geängelt werden! Laut. So recht! einmal dazu geseufzt! – Ja, es ist keine kleine Arbeit, zwei Zeilen zu schreiben.

WAGNER.

Wenn man voraus sieht, daß man sie theuer bezahlen muß. Gibt ihr das Papier. Da! handle nach deinem Gewissen, und denk' an mich und unsre Kinder.

MAD.

WAGNER. Du weißt, daß ich schon lange keiner Lehren bedarf; drum spare die Mühe. Nun sage mir, wie steht es mit dem Kanzleirathe? Ihr habt ja gestern eine lange Unterredung gehabt – hat er sich erklärt?

WAGNER.
Nicht bestimmt. Aber ich vermuthe, seine Absichten gehn auf Sophien.
MAD.

WAGNER. Da käm' er mir recht! – Nimmermehr! ich lasse meine Charlotte nicht zurücksetzen. – Ueberdies hab' ich dein Versprechen – da ich dir den Betrug verzieh, durch den ich deine Frau ward – daß meine Tochter vor der Deinigen sollte versorgt werden.

WAGNER.
Sie sind beide meine Töchter; und du schwurst, Sophiens Mutter zu sein.
MAD.
WAGNER. Kurz, er soll Charlotten heirathen.
WAGNER.
Du bist ja nicht Herr über die Neigungen eines freien Mannes. Wenn er Charlotten nicht liebt –
MAD.
WAGNER. So ist er ein Narr; und dann wird er auch deine Tochter nicht glücklich machen.
WAGNER.
Wahrscheinlich wird ihn unsere Armuth von beiden abschrecken.
MAD.
WAGNER. Was? du hast ihm unsere Umstände entdeckt?
WAGNER.

Nein; aber er schien sie erforschen zu wollen. Er muß auch von dem Verkaufe des Hauses gehört haben –

MAD.

WAGNER. Das hat er, und von mir. Ich sagte ihm, daß wir es darum veräußerten, weil es nicht Bequemlichkeit genug hat, den Vetter von Lissabon zu beherbergen. Ich hab' ihm sogar aufgetragen, sich nach einem größern, schönern zu erkundigen.

6. Auftritt
Sechster Auftritt.
Vorige, Charlotte.

CHARLOTTE.
Guten Morgen, Papa! – Haben Sie gestern noch Briefe vom Vetter aus Lissabon gehabt?
WAGNER.
Nein, mein Kind.
CHARLOTTE.
Das ist doch entsetzlich von dem Vetter, daß er weder selbst kommt, noch von sich hören läßt!
MAD.

WAGNER. Vielleicht ist der Brief wieder bei Sidotti eingeschlossen; oder er ist selbst unterweges. Wagner setzt sich traurig nieder.

CHARLOTTE.
Nun, Mama! bekomm' ich keine Chemise à la Guimar?
MAD.
WAGNER. Ja, Lottchen, noch heute.
[65]
CHARLOTTE.
O, ich bin gewiß, es wird mir außerordentlich gut stehn.
MAD.

WAGNER. Das denk' ich auch. In einer Stunde bekomm' ich Geld, und dann geh' ich gleich zur Mamsell Dupuis.

CHARLOTTE.
Ich will Sie begleiten, Mama.
MAD.
WAGNER. Wozu das? du kannst dich auf meinen Geschmack verlassen.
CHARLOTTE.
Nein, Mama, in solchen Sachen folg' ich nur meinem Geschmacke; ich gehe mit.
MAD.
WAGNER. Wie du willst.
CHARLOTTE.
Haben Sie meine Uhr nicht gesehn, Mama?
MAD.
WAGNER. Nein; vielleicht hat sie dein Bruder gestern Abend zu sich gesteckt.
CHARLOTTE.
So ist sie gewiß verspielt oder verkauft.
MAD.
WAGNER. Warum nicht gar! – Nun, wenn auch! so kauf' ich dir eine bessere.
CHARLOTTE.
Da ist Wilhelm!
7. Auftritt
Siebenter Auftritt.
Vorige, Wilhelm.

WILHELM.
Guten Morgen!
MAD.
WAGNER. Du bist heute sehr früh ausgegangen.
WILHELM.
Ja.
CHARLOTTE.
Wo ist meine Uhr, Wilhelm, meine Uhr?
WILHELM.
Fort.
CHARLOTTE.
Hm! das ist nicht artig.
MAD.
WAGNER. Fort? auf welche Art?
WILHELM.
Ich – ich habe sie verloren.
MAD.
WAGNER. Verloren? das glaub' ich nicht. – Die Wahrheit! du weißt, ich kann keine Lügen leiden.
WILHELM.
Ich habe sie versetzt, um meine Schuld auf dem Kaffehause zu bezahlen.
WAGNER.
Wilhelm! unsere betrübten Umstände sind dir bekannt, und gleichwohl –
WILHELM.
Ich bin nicht Schuld an unsern Umständen, Papa! durch mich sind sie nicht betrübt geworden.
WAGNER.
Auch von dir Vorwürfe? – das thut weh!
MAD.

WAGNER zu ihrem Manne. Du machst auch aus jeder Kleinigkeit ein Aufsehen, als wenn das Ende der Welt daran hinge. – Es ist freilich unrecht von ihm; aber Jugend hat keine Jugend.

WAGNER
für sich.
Welch' ein Grundsatz!
WILHELM.

Sie wollten mich arretiren lassen – und da war's doch besser, die Uhr hinzugeben, als sich solcher Prostitution auszusetzen.

MAD.
WAGNER. Um wie viel gabst du die Uhr?
WILHELM.
Um dreißig Gulden.
[66]
WAGNER.
Sie hat vier und neunzig gekostet.
MAD.
WAGNER. Hm! sie muß eingelöst werden.
WILHELM.
Haben Sie denn Geld, Mama? Hat der Vetter aus Lissabon geschrieben?
MAD.
WAGNER. Ach nein!
WILHELM.
Ich verwette mein Leben, der Vetter ist ein Windbeutel.
CHARLOTTE.
Ei, Mama! wenn das wahr wäre! –
MAD.
WAGNER. So müssen wir auf andere Mittel denken. Ich rechne auf deine Heirath mit dem Kanzleirathe.
CHARLOTTE.
Es ist doch sonderbar, daß der Herr so lange zögert, sich zu erklären.
WILHELM.
Ha, ha, ha! das sag' ich auch.
8. Auftritt
Achter Auftritt.
Vorige, Sivers.

SIVERS.
Guten Morgen!
WAGNER
steht auf und gibt ihm die Hand.
MAD.

WAGNER für sich. Ist der dummdreiste Kerl doch wieder da! sie wendet ihm nebst den Kindern den Rücken zu.

WAGNER.
Willkommen, lieber Herr Sivers! Acht Tage hab' ich Sie nicht gesehn.
SIVERS.
Ich war wieder auf Wanderung, und habe Menschen gesucht –
MAD.
WAGNER. Und Bären gefunden.
CHARLOTTE.
Ha, ha, ha!
WILHELM.
In jedem Hause gibt's Spiegel.
SIVERS.

Wie beliebt! – Ja, Madam! auch Bären hab' ich gefunden; aber weit mehr Pfauen, Katzen, Füchse, Krokodille, Kamäleons – Gänse –

MAD.
WAGNER. Eine feine Gesellschaft! – Sie haben sich doch ohne Zweifel wohl unterhalten?
SIVERS.
Wie sich ein Mensch unterhalten kann, der Mitleid mit den Thoren, und Haß gegen den Boshaften hat.
WAGNER.
Und Sie waren so unglücklich, nur Gegenstände des Mitleids und des Hasses zu treffen?
SIVERS.

Beinahe? Aber, wie die Mode die Kleider ändert, so ändert sie auch die Namen der Tugenden und Laster. Bald werden wir gar keine Laster haben. Verschwendung heißt nun Freigebigkeit; Eigensinn, Standhaftigkeit; Geiz, Mäßigkeit; Verläumdung, Offenherzigkeit; Betrug, Geschicklichkeit; Plauderei, Gesprächigkeit! Wollust, Zärtlichkeit; Heuchelei, Frömmigkeit; Prahlerei, Tapferkeit – Kurz, ich habe fast lauter Menschen gefunden, die grade das Gegentheil von dem sind, was sie scheinen wollen.

WAGNER.
Es gibt noch gute Menschen –
SIVERS.

Schwache Menschen. – Und wirklich ist dies noch [67] die beste Gattung, die ich kenne. Menschen, die aus Schwachheit ihren Mitgeschöpfen nicht schaden.

MAD.
WAGNER. Zu welcher Gattung gehören Sie, Herr Sivers?
WILHELM
halb für sich.
Das möcht' ich auch wissen.
CHARLOTTE.
Ha, ha, ha!
SIVERS
der nicht darauf zu hören scheint.

Einen einzigen Handwerksmann traf ich, der meines Mitleids werth schien – schien – ob er's ist, das weiß der, der jede Falte des menschlichen Herzens kennt.

MAD.

WAGNER. Ich bin sehr begierig, auf welche Art Sie Ihr Mitleid äußerten! – Es bestand doch wohl in Worten?

SIVERS.
In Worten, und grade so viel Unterstützung, als ich entbehren konnte, und ihm nothwendig war.

Charlotte und Wilhelm spotten pantomimisch über Sivers.
WAGNER.
Lassen Sie hören, guter Sivers!
SIVERS.

Vor einer elenden Wohnung, in einem abgelegnen Gäßchen, hörte ich heftigen Wortwechsel; ich horte ein Weib mit zwei erwachsenen Kindern, den Mann, den Vater auf's grausamste behandeln; hörte von den Nachbarn, daß dieser Tischler ein ehrlicher, aber äußerst schwacher Mann sei, daß die Faulheit, Nachläßigkeit und Verschwendung seiner Familie ihn zum Bettler gemacht; daß das schändliche Weib ihm vor vier Tagen das Handwerkszeug verkauft, um mit ihren Kindern einer Hochzeit beizuwohnen.

WAGNER.
Gott!
SIVERS.

Und diese unnatürlichen Geschöpfe belegten den Mann mit Vorwürfen; quälten ihn um Brod, da sie ihm doch selbst die Mittel benommen, sie zu nähren.


Wagner setzt sich tiefsinnig nieder.
MAD.

WAGNER für sich. Ich will sterben, wenn die ganze Geschichte nicht auf uns gemünzt ist! – Der abscheuliche Kerl!

CHARLOTTE
theilnehmend.
Und wie halfen Sie dem armen Manne?
SIVERS.

Ich kaufte ihm Handwerkszeug, um sich zu nähren; lehrte ihn, welche Pflichten dem Hausvater obliegen; lehrte ihn, Herr seines bösen Weibes zu sein – Mad. Wagner Tabak präsentirend. Beliebt?

MAD.

WAGNER. Ich danke! – Ich hab' es vermuthet, daß Ihre Wohlthat nicht mit großen Unkosten verknüpft war.

SIVERS.

Ich bin nicht reich. Und wär ich es auch – nie würd' ich einem Menschen zum Müßiggange behülflich sein.

9. Auftritt
Neunter Auftritt.
Vorige, Sophie mit einem einballirten Kästchen.

MAD.
WAGNER. Was ist das?
WILHELM.
Von wem kommt es?
CHARLOTTE.
Von der Post?
SOPHIE.
Vom Kaufmann Solting. Es ist ihm von seinem Korrespondenten in Lissabon geschickt worden.
[68]
MAD.
WAGNER. Das ist vom Vetter aus Lissabon!
WILHELM.
Endlich schickt der Windbeutel doch etwas.
WAGNER
verweisend.
Wilhelm!
WILHELM.

Hab' ich nicht Recht? – In jedem Briefe prahlt er mit Reichthümern, ohne daß wir etwas anders als Briefkosten von ihm haben.

SOPHIE
leise zu Mad.
Wagner. Mama! der Diener fodert acht Ducaten für die Unkosten.
MAD.
WAGNER aufschreiend. Acht Ducaten! ist der Kerl rasend?
WAGNER.
Acht Ducaten!
MAD.
WAGNER sich fassend. Morgen will ich ihm das Geld hinschicken.
SOPHIE
leise.

Das sagt' ich ihm schon, Mama! aber er will auf der Stelle bezahlt sein, oder das Päckchen zurücknehmen.

MAD.

WAGNER für sich. Zum Rasendwerden! Geht zu ihrem Manne und sagt leise. Schaff' Rath! nur daß du den groben Kerl nicht ansprichst. Laut, nach der Uhr sehend. Hilf Himmel! es ist die höchste Zeit, daß ich gehe. – Macht unterdessen mit dem Menschen Richtigkeit. Geht ab.

CHARLOTTE
für sich.
Das ist ein Schimpf! Laut. Mama! Sie vergessen, daß ich mit Ihnen gehe! Sie geht ihr nach.
WAGNER
für sich.
Gott! ich verzweifle noch. Er geht ab.
WILHELM.
Wir wollen das Ding aufmachen. Ist's nicht so viel werth, so gibt man's dem Kerl wieder.
SIVERS.
Das wär' ein feiner Streich!
SOPHIE.
Nein, lieber Bruder! das geht nicht an.
WILHELM.

Nun, da ist das Geld – Daß dich der Henker! eben fällt mir ein, daß ich kein's bei mir habe. Zu Sivers. Leihen Sie mir doch die acht Ducaten auf eine Stunde.

SIVERS.

Sie beliebten vorhin, mich einen Bären zu nennen: unglücklicher Weise bin ich kein Tanzbär – und die übrigen Bären, wissen Sie wohl, können kein Geld verdienen; sind also nie bei Kasse.

WILHELM
für sich im Abgehn.
Ein rechter Lumpenhund!
SOPHIE
will gehen.
SIVERS.
Wohin, Mademoiselle?
SOPHIE
beschämt.
Ich –
SIVERS.
Gutes Kind! – Da sind grade acht Ducaten, mein ganzes gegenwärtiges Capital –
SOPHIE.
Lieber Sivers! Sie geben Ihr Geld weg, und –
SIVERS.

Stille! – Bezahlen Sie den Mann. Ich werde Gelegenheit nehmen, Sie heute allein zu sprechen. Eine gute Nachricht wartet Ihrer.

SOPHIE.

O, mein einziger Freund! – giebt's für mich noch eine? Sie läßt das Kästchen stehn und geht seufzend ab.

SIVERS
sieht ihr einige Zeit nach und geht dann nach Wagners Thüre.
Freund Wagner! auf ein Wort.
10. Auftritt
[69] Zehnter Auftritt.
Wagner. Sivers.

SIVERS.
Wagner! Wagner! ist das freundschaftlich.
WAGNER.
Was?
SIVERS.
Schon gut. – Ich habe die acht Ducaten ausgelegt.
WAGNER
stutzt, dann drückt er ihm die Hand und sagt sehr gerührt.
Ich kann nichts sagen – ich darf nichts sagen.
SIVERS
sich von ihm losmachend.
Schon gut. Für sich. Pinsel!
11. Auftritt
Elfter Auftritt.
Vorige. Wilhelm mit einem Messer und Hammer.

WILHELM.

Nun wollen wir gleich sehen, was uns der Herr Vetter aus Lissabon bescheert hat. Er rückt einen Tisch in die Mitte und öfnet das Kästchen. Der Henker! das ist gut verwahrt.

12. Auftritt
Zwölfter Auftritt.
Vorige, Mad. Wagner, Charlotte, Sophie.

MAD.

WAGNER. Du bist doch ein neugieriges Geschöpf, Charlotte! hätten wir's nicht zeitig genug gesehn? Läßt mich auf dem halben Wege wieder umkehren!

SIVERS.
Ich glaubte, Sie wären nach Ihrem Zimmer gegangen, Madam!
MAD.
WAGNER. Um Vergebung! ich war schon am Ende der Straße.
SIVERS.
Der Henker! so mag ich nicht mit Ihnen um die Wette gehn.
MAD.
WAGNER für sich. Der Mensch ist zu meiner Qual auf der Welt!
CHARLOTTE.
Geschwind, Wilhelm, geschwind!
MAD.
WAGNER thüt, als ob sie nach dem Geldbeutel griffe. Da, Sophie! gib dem Manne die acht Ducaten.
SOPHIE.
Herr Sivers hat sie bezahlt.
MAD.
WAGNER. So!
SIVERS.
Geben Sie mir die acht Ducaten, Madam! so ist alles in Ordnung.
MAD.
WAGNER ohne auf ihn zu hören. Nun, Wilhelm! Du machst lange!
CHARLOTTE.
Ja wohl; ich sterbe fast vor Ungeduld.
[70]
WILHELM
hat unter dieser Zeit den Kasten geöfnet.
Da ist ein Brief.
MAD.

WAGNER öfnet ihn begierig und liest. »Ich sende Ihnen hiemit einige Seltenheiten Indiens. – Noch ist das Schiff mit meinen Reichthümern nicht angelangt; aber ich er erwart' es täglich. Dann hoffe ich Sie bald zu umarmen. Ihr treuer Vetter, Steinburg.«

CHARLOTTE.
Seltenheiten! das sind gewiß Perlen, Mama!
MAD.
WAGNER. Diamanten wären mir lieber.
WILHELM.

Goldstangen mir noch lieber, Er packt aus, was er nennt. Was Teufel ist das? – Ein Federschurz – Ausgestopfte Vögel – Eine Cocusnuß – Pfeile – Federn – hol ihn der Teufel mit seinen Seltenheiten! Geht ab.

CHARLOTTE.

Schöne Perlen! schone Diamanten! – Entweder der Mensch ist verrückt, oder er hat uns zum Besten. Geht ab.

MAD.

WAGNER die voll Erstaunen da stand. Der unverschämte Kerl! uns auf eine so nichtswürdige Art um acht Ducaten zu prellen!

SIVERS.
Die ich noch nicht wieder bekommen habe –
MAD.
WAGNER zu ihrem Manne. Das sieht einem Verwandten von dir recht ähnlich!
WAGNER.
Weiß er denn –
SIVERS.
Meine acht Ducaten –
MAD.
WAGNER. Er soll nur kommen! ich will ihn mit seinen Geschenken –
SIVERS.
Meine acht Ducaten –
MAD.
WAGNER. Der Prahler, der Windbeutel!
SIVERS.
Meine acht Ducaten –
MAD.
WAGNER. Da – da! Erholen Sie Sich an den indianischen Seltenheiten. Sie geht ab.

Sophie hat unter diesen Reden alles zusammengenommen, was zum Kästchen gehört, wirft Sivers einen bedeutenden Blick zu, und geht ab.
13. Auftritt
Dreizehnter Auftritt.
Wagner, Sivers.

SIVERS
nach einer Pause.
Was sagen Sie denn zu dem Betragen Ihrer Familie?
WAGNER.
Ich bin ein unglücklicher Mann!
SIVERS.
Ein schwacher Mann, der sich und die Seinigen durch Schwachheit ins Verderben stürzt.
WAGNER.
Ach!
SIVERS.
Bis jetzt fühlte ich das innigste Mitleid für Sie – aber nun –
WAGNER.
Was?
SIVERS.
Ich hab' eine Unvollkommenheit an ihnen entdeckt, die – Den Kopf schüttelnd.
WAGNER.
Welche?
[71]
SIVERS.
Stolz. – Weh dem Manne, bei dem sich Stolz und Dürftigkeit vereinigen! – der ist zu allem fähig.
WAGNER.
Ich stolz? –
SIVERS.
Was war es denn, das Sie hinderte, mich um acht Ducaten anzusprechen?
WAGNER.
Nicht Stolz. Gezwungen. Meine Frau will Ihnen nicht verpflichtet sein.
SIVERS.
Sind Sie ein Mann?
WAGNER.

Nennen Sie mich, wie Sie wollen – schwach – blödsinnig – ich bin ehrlich; und als ein ehrlicher Mann kann ich nicht anders handeln.

SIVERS.
Als ein ehrlicher Mann?
WAGNER.

Ich weiß, daß mein liebstes Kind unterdrückt wird; aber sie fühlt ihr Schicksal nicht, und ich vermag nicht, es zu ändern. Ich weiß, daß meine andern Kinder nicht den Weg gehen, der zur wahren Glückseligkeit führt – aber ich habe mich der Herrschaft über sie begeben; ich suche durch Lehren zu nützen. Ich weiß, daß mein Weib mich nie so innig liebte, als ich sie – aber ich hab' es nicht um sie verdient.

SIVERS.
Nicht um sie verdient?
WAGNER.

Ich erhielt sie durch Betrug; gab mich für reicher aus, als ich war, und ward verdienstvollen reichern Mitbuhlern vorgezogen. Ist sie tadelnswerth, daß sie sich Ergötzungen überließ, zu denen mein vorgebliches Vermögen sie berechtigte? Ich hinterging sie, und nun sollt' ich ein Weib tyrannisiren, das ich unglücklich machte?

SIVERS.

Ich entschuldige keinen Betrug. Aber beim Himmel! härter ward ein Betrug aus Liebe noch nicht bestraft.

WAGNER.
Freund!
SIVERS.

Wenn ich's bin – wenn ich's sein soll, so lassen Sie mich reden. Ich bin arm; nur durch Wahrheit kann ich Ihnen nutzen, und das will ich. Alle Gründe zu Ihrem Betragen, die Sie mir eben her erzählten, sind Ihnen selbst unwichtig. – So wahr ich lebe! Sie fühlen sie nicht. Daß Sie Ihre Frau so sehr liebten, und Sich um ihren Besitz der Lügen bedienten, ist ein Streich Ihres Herzens, zu dem Sie Jugend und Leichtsinn verführten. Aber wodurch hat diese Frau noch jezt die unbegreifliche Herrschaft über Sie? – Sie verfolgt Ihre Sophie, erzieht ihre eignen Kinder zu Lastern; mäßigt weder ihren Hochmuth noch ihre Verschwendung, und weiß, daß Ihr Ruin ihr Werk ist. – Nur dies Haus ist Ihnen übrig, und bald –

WAGNER.
Ach, Sivers! das Haus ist fort –
SIVERS.
Was?
WAGNER.
In diesem Augenblicke holt sie die letzten tausend Gulden, die ich noch zu fordern hatte.
SIVERS.
Und wenn die verzehrt sind – was dann?
WAGNER.
Mein Vetter in Lissabon –
SIVERS.

Ihr Vetter in Lissabon ist unabhängig, und ist ein Mensch! wie bald ändert ein Mensch seinen Willen! – Und wenn er Ihre Frau sieht –

WAGNER.
Sie wird sich nach ihm bequemen, sich seiner Gewogenheit versichern –
[72]
SIVERS.

Das läßt sich nach dem Auftritte vermuthen, den die indianischen Seltenheiten veranlaßten. Welch' eine Frau! Ihre Sophie – ein Mädchen, das unbegränzte Hochachtung verdient, ist von ihr verstoßen; wird zur Magd erniedrigt und stündlich gemißhandelt. – Sie fühlt ihr Schicksal nicht? – O Wagner! sie fühlt es tief – tief; aber – Ihr Sohn, der Mutter Liebling, ist ein Ausbund der pöbelhaftesten Ausschweifung. Ihre jüngste Tochter, der auch nicht eine einzige Unvollkommenheit der Mutter fehlt, ist noch überdieß so läppisch und albern, daß jede andre Mutter sich ihrer schämen würde. – Wagner! um Ihrer selbst willen! um der Rechenschaft willen, die Sie an jenem Tage von der Erziehung Ihrer Kinder ablegen müssen – sein Sie ein Mann! greifen Sie zur erlaubten Strenge – noch ist es Zeit.

WAGNER.

Ich habe mein Weib unglücklich gemacht – sei es durch meine Schwachheit, Thorheit und Liebe – aber sie ist durch mich unglücklich. Ich kann sie nicht kränken.

SIVERS
mit Verzuckung, sich aber fassend.

In Gottes Namen! – Ich wünschte, Sie nicht gewarnt zu haben; desto weniger hätten Sie zu verantworten! – Aber gewarnt zu sein, und dennoch – Wagner! Sie träumen jezt, aber Weh Ihnen, wenn Sie erwachen! – wenn Gram und Kummer Ihre Sophie tödten – wenn Schandthaten Ihren Sohn um Schaffot führen – wenn Dummheit und Mannsbegierde Ihre jüngste Tochter zur nichtswürdigsten Kreatur erniedrigen – wenn Ihr Weib zur Erkenntniß kommt und verzweifelt – wenn Sie für Ihre Schwachheit und für die Ausschweifungen Ihrer Familie im Gefängnisse büßen – o, so gebe Gott! daß Sie Sich dessen nicht erinnern, was ich heute zu Ihnen sagte!

WAGNER.
Sivers! Sivers! spricht so der Freund zum Freunde?
MAD.
WAGNER von innen. Ist er noch da?
SIVERS.
Ja, das gilt mir! – Ich gehe; schwerlich könnt' ich jezt gelassen bleiben.
WAGNER.
Sivers! Sie hassen meine Frau.
SIVERS.
Ja; weil sie Sie unglücklich macht. Leben Sie wohl! Er geht und begegnet Mad. Wagner.
14. Auftritt
Vierzehnter Auftritt.
Vorige, Mad. Wagner.

MAD.

WAGNER. Warten Sie, Herr Sivers, und nehmen Sie die acht Ducaten mit, die Sie meinem Mädchen geliehen haben.

SIVERS.
Sehr gern!
MAD.

WAGNER zieht einen Beutel mit Gold heraus, und bezahlt ihn. So. – Sie sehn sich eine Zeitlang starr an. Sie wollten ja gehen – worauf warten Sie noch?

SIVERS.
Auf Ihren Dank.
MAD.
WAGNER. Ha! ha! ha! Sehr stolz. Bei Gelegenheit, Herr Sivers! bei Gelegenheit.
[73]
SIVERS.
Madam, Madam! vielleicht kommt die Gelegenheit, mir danken zu müssen – eh Sie glauben.Er geht ab.
15. Auftritt
Funfzehnter Auftritt.
Mad. Wagner, Wagner.

MAD.
WAGNER. In meinem Leben sah ich keinen so impertinenten Menschen, als den!
WAGNER
der unterdessen schmerzhaft auf und ab ging.
Hast du das Geld bekommen?
MAD.
WAGNER. Ja.
WAGNER.
Zog er dir viel ab?
MAD.

WAGNER. Das ist der hartnäckigste Wucherer im ganzen Lande! Für tausend Gulden bot mir der nichtswürdige Mensch sechs hundert. Ich setzte ihm aber so lange zu, bis er sich mit hundert und dreißig begnügen ließ.

WAGNER.

Hundert und dreißig Gulden für zwölf Tage Nachsicht! – das konntest du thun? Für sich. Sivers! Sivers!

MAD.
WAGNER. Nun, hast du andern Rath gewußt?
WAGNER
etwas bitter.
Lieber einige Galanterien von dir und Charlotten versetzen –
MAD.

WAGNER. Und uns in der Leute Mäuler bringen; unsre elenden Umstände bekannt machen, damit der Kanzleirath wieder abspringt, und Charlotten sitzen läßt?

WAGNER.
Gib mir das Geld.
MAD.
WAGNER. Ha, ha, ha! dir? – Wozu?
WAGNER.
Um damit hauszuhalten.
MAD.

WAGNER. Ha, ha, ha! du bist der wahre Haushalter! ich will sterben, wenn er nicht morgen alles Bettelvolk in unsrer Nachbarschaft neu kleidete!

WAGNER.

Das werd' ich nicht. Ihr Unglücklichen seid mir jezt die nächsten. – Ich will das Geld treu verwalten. Verzeih mir, mein Kind, daß ich darauf bestehe.

MAD.
WAGNER ihn starr ansehend. Ist das Ernst?
WAGNER.
Ja. Zürne nicht – es ist traurige Nothwendigkeit.
MAD.

WAGNER. So? – Da ist es! Sie wirft ihm das Geld in die Hand. Und nun versorg uns. Folge deinem Freunde Sivers! Laß dich von seiner Weisheit leiten! Du übergabst mir freiwillig die Regierung des Hauses – du nimmst sie wieder zurück – gern! du bist Mann, und ich weiß mich zu bescheiden. Es kann sein, daß ich zuweilen fehle – aber ich bin fest überzeugt, daß du weit öfter fehlen wirst. Ich bin nur gegen meine Kinder schwach – du gegen die ganze Welt. – Ich will dich nicht an dein Versprechen erinnern, mich für das Beste der Familie sorgen zu lassen – will dich nicht erinnern, daß es auf unser jeziges Benehmen ankommt, unsre Charlotte, und folglich auch uns glücklich zu machen – will dir nicht vorwerfen, wie du mich hintergangen hast; daß ich ohne deinen [74] Betrug ein höchst glückliches Weib geworden wäre – Der Hofrath lebt noch, und seine Umstände sind bekannt –

WAGNER
drückt ihr das Geld in die Hand.
Da – da! – Louise! Louise! du strafst mich schrecklich.Er geht ab.
MAD.

WAGNER. Was ist das mit dem Manne? – Wart', Sivers! ich will dich aus dem Hause bannen, und sollt' es gerichtlich geschehn. Sie geht ab.

2. Akt

1. Auftritt
Erster Auftritt.
Wilhelm, Charlotte.

WILHELM.

Charlotte! ich bitte dich, sei nicht dein eigner Feind! stoß dein Glück nicht von dir. Der Baron betet dich an –

CHARLOTTE.
Er gefällt mir aber nicht.
WILHELM.
Weil du in den Kanzleirath geschossen bist.
CHARLOTTE.

Und du in des Barons Schwester. Und ich soll den Baron heirathen, weil er dir sonst die Schwester nicht geben will – das ist die ganze Ursache deines Quälens und Plagens.

WILHELM.

Ganz recht, sie ist's; aber dein Glück ist von dem meinigen nicht getrennt. Aus einem armen Bürgermädchen eine reiche Baronesse zu werden – ist das nichts?

CHARLOTTE.
Der Kanzleirath gefällt mir aber; und ich möchte auch gern mit Mama in einer Stadt wohnen.
WILHELM.
Glaubst du denn, daß der Kanzleirath dich liebt?
CHARLOTTE.
Ja; Mama hat's gesagt.
WILHELM.

Mama sieht durch's Vergrößerungsglas der mütterlichen Liebe. Hat er auf eine von Euch ernsthafte Absichten, so ist's Sophie, und nicht du.

CHARLOTTE.
Er sollte Sophien mir vorziehn? das wäre zum Verzweifeln! – Ha, wenn ich das wüßte! –
WILHELM.

Verlaß dich auf unparteiische Augen, Charlotte! Vielleicht kann ich dich noch heute überzeugen, denn er besucht uns ja alle Tage. – Denk, Schwester, wie glücklich wir leben können! du bekommst einen reichen Mann von Stande; ich eine reiche, allerliebste Frau. Wir werden nur eine Familie ausmachen; immer reisen und fröhlich sein.

CHARLOTTE.
Das ist alles recht gut; aber es mißfällt mir, daß Mama nichts davon wissen soll.
WILHELM.

Um alles in der Welt nicht! – Nur unter der strengsten [75] Verschwiegenheit kann uns der Baron glücklich machen. Du siehst selbst ein, daß sein Stand ihn nöthigt, einen Ort zu suchen, wo man unsre Herkunft nicht kennt. – Sag Ja, Charlotte, und wir können noch heute fort.

CHARLOTTE.
Erst muß ich sehen, wie der Kanzleirath gegen mich gesinnt ist.
WILHELM.
Hängt deine Einwilligung von seiner Gleichgültigkeit ab, so bin ich glücklich.
CHARLOTTE.

Dann muß ich dir sagen, Wilhelm, daß Mama vor einiger Zeit einen Gedanken äußerte, den sie aufgegeben hat, der aber auf mich viel Eindruck machte. Der Vetter in Lissabon ist, wie der Kanzleirath, nur vier und dreißig Jahr alt, und so entsetzlich reich – was meinst du zu einem solchen Manne?

WILHELM.

Der Vetter in Lissabon ist ein Windbeutel, darauf setz ich meinen Kopf: davon zeugt jeder seiner Briefe: nichts als Widerspruch und Widerspruch. – Ueberdies hab' ich gehört, daß er überaus häßlich ist; auf einem Fuße hinkt; auf einem Auge schielt –

CHARLOTTE.
Pfui!
WILHELM.

Noch einmal, Charlotte! greif zu. Ist das Vermögen des Vetters in Lissabon ein Luftschloß – wofür ich bürge; so bleibt uns nichts übrig, als Papa und Mama im Betteln Gesellschaft zu leisten.

CHARLOTTE.
Aber der Kanzleirath –
WILHELM.
Ich will ihn den Augenblick besuchen. Du sollst deines Korbes bald gewiß sein. Er geht ab.
2. Auftritt
Zweiter Auftritt.
CHARLOTTE.

Sophie sollte ihm besser gefallen, als ich? – Das glaub' ich nimmermehr! denn, ohne Eitelkeit, bin ich zehnmal schöner, als sie, und immer gut gekleidet. He! Sophie, Sophie! – Ich will sie doch wirklich einmal genau betrachten, ob man sich wohl in sie verlieben kann. Sie nimmt eine Schleife vom Arme.

3. Auftritt
Dritter Auftritt.
Sophie, Charlotte.

SOPHIE.
Was willst du, Schwester?
CHARLOTTE.
Da, steck' mir die Schleife an.
SOPHIE.
Das kannst du ja selbst. Ich habe in der Küche zu thun.
CHARLOTTE.
Soll ich Mama rufen?
SOPHIE.

Nein, nein, gib her. Sie steckt ihr die Schleife an, während Charlotte sie aufmerksam betrachtet. Kann ich nun gehen?

[76]
CHARLOTTE.
Ja, ich erlaub' es dir.
SOPHIE.
Charlotte! wie kannst du mir so begegnen? Bin ich nicht deine Schwester?
CHARLOTTE.
Das ist eins von deinen alten Liedern! – Geh nur, geh nur! Sophie will gehen.
4. Auftritt
Vierter Auftritt.
Vorige, Kanzleirath Malldorf.

MALLDORF.
Verzeihen Sie, daß ich so gradezu gehe –
CHARLOTTE.
Ihre Dienerin, Herr Kanzleirath!
SOPHIE
grüßt und will gehn.
MALLDORF.
Sie entfernen Sich, da ich komme?
SOPHIE.
Verzeihen Sie! häusliche Geschäfte –
CHARLOTTE.
Lassen Sie sie gehen, Herr Kanzleirath! sie hat in der Küche zu thun.
MALLDORF.
Sie vereinigen alle Vollkommenheiten Ihres Geschlechts.
SOPHIE.
Beschämen Sie mich nicht –
CHARLOTTE.
Geh nur, daß das Essen nicht verdirbt. Mama ist so von deiner Kocherei nicht erbaut.
SOPHIE.
Erlauben Sie –
MALLDORF
leise zu Sophie.
Ich fühle Ihren Zustand. Laut. Sein Sie so gütig, mich Ihrem Herrn Vater melden zu lassen.
SOPHIE
geht ab.
5. Auftritt
Fünfter Auftritt.
Malldorf, Charlotte.

CHARLOTTE
sehr kokett.
Sie haben mit meinem Vater zu sprechen?
MALLDORF
immer kalt und höflich.
Ja, Mademoiselle!
CHARLOTTE.
Wahrscheinlich von einer wichtigen Sache?
MALLDORF.
Ja, Mademoiselle!
CHARLOTTE.
Darf ich sie nicht auch wissen?
MALLDORF.
Lange wird sie Ihnen nicht verschwiegen bleiben.
CHARLOTTE.
Auf die Art darf ich wohl nicht einmal zugegen sein?
MALLDORF.
Das wird von Ihrem Vater abhängen.
CHARLOTTE.

Wenn ich Sie mit meiner Fürsprache unterstützen kann, so befehlen Sie! ich gelte viel bei meiner Mutter.

MALLDORF.
Sie sind allzugütig.
CHARLOTTE
für sich.
Er will nicht beichten.
MALLDORF
für sich.
Das naseweise Ding!
CHARLOTTE.
Wir haben heute Briefe vom Vetter in Lissabon bekommen.
[77]
MALLDORF.
So?
CHARLOTTE.

Er wird mir ein Kleid von einer indianischen Königin schicken – von lauter Federn, und über und über mit Perlen und Diamanten besetzt.

MALLDORF.
Ich gratulire.
CHARLOTTE.

Auch hat er nicht undeutlich zu verstehn gegeben, daß ich ein außerordentliches Hochzeitsgeschenk zu erwarten habe.

MALLDORF.
Ich gratulire.
CHARLOTTE
für sich.
Nachgrade glaub' ich's selbst, daß er mich nicht liebt.
MALLDORF
für sich.
Sie geht noch nicht.
CHARLOTTE
zeigt die Schleife.
Wie gefällt Ihnen das Band?
MALLDORF.
Sehr gut.
CHARLOTTE.
Grade solchen Atlas gibt es auch.
MALLDORF.
Das freut mich.
CHARLOTTE.
Mama meint, er würde zum Brautkleide sehr schön stehn.
MALLDORF.
Sehr schön!
CHARLOTTE.
Ich mußte lachen, daß Mama an's Brautkleid denkt, eh' sich ein Bräutigam gemeldet hat.
MALLDORF.
Es ist auch sehr lächerlich.
CHARLOTTE.
Das Sprichwort sagt zwar: Unverhofft kommt oft! –
MALLDORF.
Ja, so sagt es.
CHARLOTTE.
Es werden doch allerhand närrische Dinge gesprochen!
MALLDORF.
Das kann ich bezeugen.
CHARLOTTE.
So sagt man auch von Ihnen, daß Sie auf Freiersfüßen gingen.
MALLDORF.
Verzeihen Sie, ich bediene mich meiner eignen.
CHARLOTTE.
Ha, ha, ha! verstehn Sie das nicht? – Das heißt: Sie würden heirathen.
MALLDORF.
Ja, so!
CHARLOTTE.
Ist es denn wahr?
MALLDORF.
Das weiß ich nicht.
CHARLOTTE.
Sie scherzen! Wer soll es denn wissen?
MALLDORF.
Ich will heirathen; aber ob ich werde – das hängt von dem Gegenstande meiner Neigung ab.
CHARLOTTE.
Ich sollte nicht denken, daß sie Einwendungen machen wird.
MALLDORF.
Meinen Sie?
CHARLOTTE.
Sie müssen bei ihr nur nicht so von weitem herumgehn – so etwas ist verdrießlich.
MALLDORF.
Ich werde Ihrem Rathe folgen.
CHARLOTTE
für sich.

Ich kann nicht klug aus ihm werden. Entweder er will mir eine unvermuthete Freude machen – oder Wilhelm hat Recht. Laut. Haben Sie meinen Bruder gesehn.

MALLDORF.
Nein. Für sich. Dem Himmel sei Dank! da kommen die Eltern.
6. Auftritt
[78] Sechster Auftritt.
Vorige, Wagner, Mad. Wagner.

WAGNER.
Willkommen, Herr Kanzleirath!
MAD.
WAGNER. Ergebne Dienerin!
MALLDORF.
Verzeihen Sie, wenn ich Sie von Geschäften störe.
MAD.
WAGNER. Gar nicht, gar nicht.
WAGNER.
Ich habe leider keine Geschäfte.
CHARLOTTE.
Er hat von einer sehr wichtigen Sache mit Ihnen zu reden, Papa.
WAGNER.
So laß uns allein, Charlotte.
MAD.
WAGNER. Warum denn? es kann ja sein, daß die Sache sie interessirt.
MALLDORF.

Daß ich die Ehre Ihres Umgangs suchte, hatte eine Absicht zum Grunde, Sie mit dieser Absicht bekannt zu machen, bin ich hier.

MAD.
WAGNER. Sie wird uns gewiß angenehm sein.
MALLDORF.

Das wünsch ich. Ich weiß nicht, ob Sie Sich während unsers Umgangs die Mühe gegeben haben, meinen sittlichen Karakter zu prüfen; wenigstens hab' ich keine Gelegenheit versäumt, mich Ihnen zu zeigen, wie ich bin.

WAGNER.
Als einen rechtschafnen Mann.
MALLDORF.

So wie ich geprüft zu werden wünschte, hab' ich ein Frauenzimmer geprüft, mit dem ich Gut und Leben theilen möchte, ich bin aufs heiligste überzeugt, daß es mich glücklich machen kann – und erbitte mir zur Gattin – Ihre Sophie.

MAD.
WAGNER erstaunt. Sophie!
CHARLOTTE
im Abgehn.
Gesegnete Mahlzeit, Herr Kanzleirath Für sich. Ich nehme den Baron! Sie geht ab.
7. Auftritt
Siebenter Auftritt.
Wagner, Mad. Wagner, Malldorf.

MAD.
WAGNER. Sophie, sagten Sie, Sophie?
MALLDORF.
Ja, Madam.
MAD.

WAGNER. Ihr Antrag setzt mich in Erstaunen, Herr Kanzleirath! und ich begreife nicht – Ich glaubte ganz gewiß, Sie würden Charlottens Vorzügen Gerechtigkeit widerfahren lassen!

MALLDORF.

Wer ist Meister seiner Neigung? – Ich habe nur für Sophien Augen. Ein sanftes, unschuldiges, vernünftiges, und nicht reiches Mädchen, war der Wunsch meines Herzens.

MAD.
WAGNER. Hm! es gibt noch ärmere Mädchen, als sie.
MALLDORF.

Madame! wär' Ihnen meine Denkungsart genau bekannt – Sie würden Sich oft die Verlegenheit erspart haben, [79] reicher scheinen zu wollen, als Sie sind. Der Verfall Ihres Vermögens ist mir bekannt.

MAD.

WAGNER in merklicher Verwirrung. Ich – will nicht läugnen, daß unsre Umstände jezt ein wenig derangirt sind – aber wir haben einen Vetter in Lissabon –

MALLDORF.

Ich wünsche herzlich, daß er Ihren Hofnungen entsprechen möge! aber, da er noch nichts für Sie gethan hat, so zweifle ich, daß es je geschieht. – Ich will nur Sophien – und versichre Sie, mein Antrag wäre nicht geschehen, wenn sie Vermögen hätte. – Sei es Grille – aber ich möchte gern meiner Frau Glück machen. Dankbarkeit vergrößert die Liebe.

MAD.
WAGNER. Warum kann Charlotte diese Grille nicht befriedigen?
MALLDORF.

Weil ich sie nicht liebe. – Ueberlegen Sie meinen Antrag, und lassen Sie mich dann Ihren Entschluß wissen. Haben Sie Gründe, mich abzuweisen, oder eine Tochter der andern vorzuziehn, so bescheide ich mich. Ich bin ein Mann von gemäßigten Leidenschaften. Meine Achtung Gegen Wagner. wird sich darum nicht ändern: Nur erwägen Sie Gegen Mad. Wagner. ob Parteilichkeit für ein Kind einen Schwiegersohn verwerflich macht, der bereit ist, sein Vermögen mit seinen Schwiegereltern zu theilen. Er geht ab.

8. Auftritt
Achter Auftritt.
Wagner, Mad. Wagner.

WAGNER.
Du kannst noch anstehn? – Dich bei unsern Umständen noch bedenken?
MAD.
WAGNER. Daß die Küchenmagd den Vorzug haben soll!
WAGNER.
Louise! Du weißt, wie tief du mich dadurch verwundest!
MAD.

WAGNER. Zum Rasendwerden! Eine solche Partie! O, ich weiß, wie alles gekommen ist. Da wird dein Töchterchen in Beisein fremder Leute bis in den Himmel erhoben – tausend vortrefliche Eigenschaften hingelogen – dazu ihr einschmeichelndes kokettes Wesen –

WAGNER.
Sie, kokett? Ich zweifle sogar, daß sie Neigung für ihn hat.
MAD.
WAGNER. Soll sie nicht etwa gar gefragt werden, ob sie will, oder nicht?
9. Auftritt
[80] Neunter Auftritt.
Vorige, Charlotte, Wilhelm.

CHARLOTTE.
Mama! ein Brief vom Vetter aus Lissabon.
WILHELM.
Sidotti schickt ihn. Da, Mama!
MAD.

WAGNER. Wahrlich seine Hand! Der Himmel gebe, daß er Gutes enthalte! Sie bricht ihn hastig auf, übersieht ihn, und fällt dann in einen Stuhl. Ach! ich bin des Todes! wir sind verloren, ruinirt!

WAGNER.
Faß dich, liebe Louise, faß dich!
WILHELM
nimmt den Brief, den sie fallen läßt.

Nun, was schreibt er denn? Er liest. »Theuerster Vetter! ich bin der Unglücklichste aller Menschen! – Vor meinen Augen, im Hafen von Lissabon, ging mein Schiff nebst meinem ganzen Vermögen zu Grunde, und ich ward ein Bettler. Mir bleibt nichts übrig, als mich in Ihre Arme zu werfen,« – Ja, da wirst du sanft ruhen! – »und Ihr Mitleid und Ihre Unterstützung zu erflehn. Mit dem ersten Schiffe reise ich ab.« – Wenn ich Ihnen rathen soll, Herr Vetter – so bleiben Sie dort.

WAGNER.
Armer, unglücklicher Mann!
MAD.

WAGNER. O, der Streich schlägt mich zu Boden! bringt mich zur Verzweiflung! – Gib mir den Brief! Sie liest ihn noch einmal leise.

WILHELM
leise zu Charlotte.
Bedenkst du dich noch, dem Baron zu folgen?
CHARLOTTE
leise.
Nein, Bruder. Ich war schon des dummen Kanzleiraths wegen entschlossen.
WILHELM
leise.

Komm auf dein Zimmer, um alles zu verabreden. Laut. Trösten Sie Sich, Mama! und geben Sie Sophien dem Kanzleirathe. Er geht ab.

CHARLOTTE.
Ja, Mama! thun Sie's nur. Ich gebe meine Einwilligung. Sie geht ab.
10. Auftritt
Zehnter Auftritt.
Wagner, Mad. Wagner.

MAD.

WAGNER. Das ist ein entsetzlicher Schlag! alle meine Hofnungen auf einmal vernichtet! – Freilich muß ich sie nun wohl dem Narren geben.

WAGNER.

Und ich, liebes Kind! will thätig werden. Will alle meine Freunde bestürmen, mir zu einem kleinen Dienste zu helfen – oder einen Handel anfangen, der –

MAD.

WAGNER. Ja, komm mir mit so einem Lumpenhandel, oder Schreiberdienst! – daß dann die ganze Welt mit Fingern nach mir wiese! Ich will schon auf andre Mittel denken. Fürs erste [81] hilft uns der Kanzleirath; dann will ich mich um einen guten Mann für meine Charlotte umsehn – nur muß des Vetters Unglück aufs sorgfältigste verschwiegen werden. – He! Sophie! Sophie! – Die Hälfte seines Vermögens bietet uns der Kanzleirath an – ich will ihn beim Worte nehmen.

11. Auftritt
Elfter Auftritt.
Vorige, Sophie.

SOPHIE.
Was befehlen Sie?
MAD.
WAGNER. Du sollst heirathen.
SOPHIE
erschrickt heftig.
MAD.
WAGNER. Der Kanzleirath hat um dich angehalten, und wir willigen ein.
SOPHIE.
Liebste Mama –
MAD.
WAGNER. Nun, was gibt's?
SOPHIE.
Warum soll meine Schwester nicht –
MAD.
WAGNER. Weil der Narr dich will.
SOPHIE.
Lassen Sie mich bei Ihnen bleiben – ich habe keine Neigung zur Heirath.
MAD.
WAGNER. Mach' keinem Umstände, Mädchen! du mußt; und damit gut.
SOPHIE.
Soll ich durchaus unglücklich werden?
MAD.

WAGNER. Unglücklich? O, der Närrin! – Kurz, du mußt ihn nehmen. Wir haben nichts mehr. Der Vetter in Lissabon hat sein Vermögen verloren; er war unsere einzige und lezte Hofnung. Der Kanzleirath erbietet sich, sein Vermögen mit uns zu theilen. Da sind meine Gründe. – Geht die Heirath um Deinetwillen zurück, so jag' ich dich aus dem Hause, und erkenne dich nicht mehr für mein Kind. – Ich hab' ausgeredet; nun frag' du dein Töchterchen, ob sie sich bequemen will, ihren Vater vom Bettelstande zu retten. Sie geht ab.

12. Auftritt
Zwölfter Auftritt.
Wagner, Sophie.

WAGNER.
Sophie! du liebst, wie die Sachen stehn! – du hast deine Mutter gehört.
SOPHIE.
Ach!
WAGNER.
Hast du Abneigung gegen den Kanzleirath?
SOPHIE.
Mein Vater!
WAGNER.
Das Schicksal deiner Familie ist in deinen Händen. – Du kannst uns Brod geben.
SOPHIE.
O, daß Sie wahr redeten! daß ich es könnte!
[82]
WAGNER.
Du kannst nicht? – Du willst nicht. Nimm den Mann, und uns ist geholfen.
SOPHIE.
Auf wie lange?
WAGNER.

Ich weiß, was du sagen willst – spar deine Vorwürfe! Freilich hat meine Weichherzigkeit uns zu Bettlern gemacht – aber ich bin gewitzigt, und will von nun an Mann und Vater sein, wenn du mein Kind, meine Tochter sein willst.

SOPHIE.
Gott im Himmel!
WAGNER.
Sophie! – dein Vater bittet dich um Brod.
SOPHIE.
Sie zerreißen mir das Herz! – Ich kann ihn nicht heirathen.
WAGNER.
Gut. Geht auf und ab – nach einer Pause. Weil er dir nicht gefällt?
SOPHIE.
Was für ein verworfnes Geschöpf wär' ich, wenn das mich abhalten könnte, meinen Vater zu retten.
WAGNER
erstaunt.
Was könntest du sonst für Ursache haben?
SOPHIE.
O, mein Vater! ich fürchte, Sie schmerzlich zu betrüben.
WAGNER.
Sophie! hättest du deine Pflicht vergessen?
SOPHIE.
Ach!
WAGNER.
Deine Pflicht vergessen?
SOPHIE
wirft sich ihm zu Füßen.
WAGNER.
Steh auf – die Mutter könnte kommen.
SOPHIE.
Verzeihung mein Vater!
WAGNER.
Hast du deinen guten Namen der Schande Preis gegeben – so mag ich kein Brod von dir.
SOPHIE.
Nein, mein Vater, nein. Nur gegen Sie hab' ich gefehlt. Ich bin nach den Gesetzen verbunden.
WAGNER.

Ohne mein Wissen? – Bin ich denn ein Tyrann? – Mein Gott! wenn der gütigste Vater dies erlebt, was kann der harte, der strenge Vater erwarten? – Wie heißt dein Mann? wo ist er? wer ist er?

SOPHIE.
Der französische Hauptmann, der im lezten Kriege –
WAGNER.
Was? mit dem? –
SOPHIE
schmerzhaft.
O, Mutter! Mutter!
WAGNER.
Recht so, gib der Mutter die Schuld deines Vergehens.
SOPHIE.

Sie selbst nöthigte ihn in unser Haus. Sie begünstigte ihn, uns zu allen Zeiten zu sehn, um ihn mit Charlotten zu verheirathen. Er unterhielt ihren Vorsatz; stellte sich zärtlich gegen meine Schwester und liebte mich.

WAGNER.
Warum blieb mir das verschwiegen?
SOPHIE.
Wollte meine Mutter nicht durchaus Charlotten zuerst versorgen?
WAGNER.
Gut. Aber warum hast du dich nicht mir – mir entdeckt?
SOPHIE.
Weil – Gott!
WAGNER.
Ich verstehe – Bitter. Weil ich unter der Ruthe stand.
SOPHIE.

Wir wurden heimlich von einem Feldprediger getraut. [83] Bald hernach siegte unsre Armee, und er mußte der seinigen folgen. Ach! seit dieser Zeit hab' ich nichts von ihm gehört.

WAGNER.
Wenn er noch lebt – o so beuge ihn Gott, wie mich!
SOPHIE.
Barmherziger Himmel! muß auch ich Ihnen Kummer machen?
WAGNER.
O! du hast mir das Herz zerrissen! – dennoch vergeh' ich dir.
SOPHIE.
Gütiger Vater!
WAGNER.
Schwacher Vater! – Kannst du die Gültigkeit deiner Ehe beweisen?
SOPHIE.
Vollkommen. Durch des Priesters und meines Mannes Hand – durch lebende Zeugen.
WAGNER.
Wer sind die?
SOPHIE.
Unsre Nachbarn; der arme Weber und seine Frau.
WAGNER.

Die? – Undankbares Volk! ist das der Lohn meiner Wohlthaten, daß ihr meinem Kinde zu seinem Verderben behülflich war't?

SOPHIE.
Auch ihnen Vergebung, mein Vater!
WAGNER.
Wie übel werd' ich von allen Seiten behandelt! – Nach einer Pause. Dein Mann muß todt sein.
SOPHIE.
Gott weiß es!
WAGNER.

Er ist todt. So grausam kann kein Mann ein Mädchen verlassen, das er liebte; das er nach den Gesetzen ehelichte; dem er vor Gottes Angesichte schwur, an ihm zu hangen.

SOPHIE.
Ach! Bosheit ist Ihnen fremd!
WAGNER.

Nein, nein, allmählig wird sie mir bekannt. Aber bis zu solchem Grade kann ich sie mir nicht denken. – Ich schreibe noch heute – dann, liebe Sophie! hindert dich ja nichts, den Kanzleirath zu heirathen, und deine Eltern vom Untergange zu retten.

SOPHIE.
Soll er denn erfahren? –
WAGNER.
Warum nicht? du bist Witwe! kann das seine Gesinnungen ändern?
SOPHIE.
O. Sie wissen noch nicht alles –
WAGNER.
Nun?
SOPHIE.
Wird dieser Mann auch Vater meines Kindes sein wollen?
WAGNER
heftig.

Deines Kindes? – Du hast ein Kind? und auch das verschwiegst du mir? – Wie? wodurch hast du es vor dem Hunger geschützt? – Wie nährtest, wie kleidetest, wie erzogst du das Kind? – Wo ist es? ich will es sehn.

SOPHIE.

Ach! wie oft wollte mein Herz von Wehmuth und Zärtlichkeit brechen, wenn es sich an Ihren Busen schmiegte – wenn Sie es an Ihr Herz drückten. – Noch heute –

WAGNER.
Wie? das Bettelkind – das vermeinte Kind des Webers –
SOPHIE.
Ist mein Kind; ist Ihr Blut.
WAGNER
sie von sich stoßend.

Fort von mir, unnatürliches, grausames Geschöpf! – Du konntest dein Kind darben, leiden sehn, ohne dich mir zu vertrauen? – Bist du Mutter? hast du mütterliches Gefühl? – Wie oft riß die unglückliche Kreatur mit Heißhunger ein Stück Brod aus meiner Hand? Wie oft beneidete es [84] den Hund um seinen Bissen! und du schwiegst? verläugnetest die Menschheit! – Das vergeb ich dir nie – nie! Fort, aus meinen Augen und meinem Herzen! du veränderst meine Natur – meine Sanftmuth in Wuth – mein Wohlwollen in Menschenhaß. – Sein Kind zu hassen!

SOPHIE.
Hassen? – O, mein Vater! ich lieb' es so sehr, daß mein ewiges Wohl von seinem Leben abhängt.
WAGNER.
Worte! – die That spricht gegen dich. – Muß ich dies von meinem liebsten Kinde erleben!
SOPHIE.

Hören Sie mich, mein Vater! hören Sie mich! O daß meine Rechtfertigung Sie nicht noch heftiger betrüben möge!

WAGNER.
Du kannst dich rechtfertigen? du?
SOPHIE.

Was bin ich in diesem Hause? Ihr Kind? hab' ich je Mutter-, Bruder- und Schwesterliebe empfunden? Bin ich nicht eine Magd, der man aus Mitleid notdürftigen Unterhalt und Obdach gibt? – Was eine Magd für ihr Kind thun kann, hab' ich gethan. Ich hab' es durch meiner Hände Arbeit in schlaflosen Nächten bis jezt erhalten. Wodurch konnt' ich es anständiger versorgen? Oder sollte ich ein Geheimniß entdecken, das Sie, guter, lieber – Gott! daß ich es sagen muß! – allzuschwacher Vater! meiner Stiefmutter in demselben Augenblicke wieder vertraut und mich und mein Kind doppelt unglücklich gemacht hätten!

WAGNER
außer sich.

Wahr! wahr! Verflucht sei meine Schwachheit! Verflucht sei mein weibisches Herz! es hat mich und die Meinen elend gemacht.

SOPHIE.
O, Verzeihung, mein Vater! für –
WAGNER.

Weib! spotte nicht! – Wer bedarf Verzeihung, als ich? – Hier – hier – Er wirft sich ihr zu Füßen. Verzeih! vergib! –

SOPHIE.
Fassen Sie Sich! – um Gottes willen! fassen Sie Sich!
WAGNER
springt auf, geht heftig herum, die Hände ringend; dann küßt er Sophien und will fort.
SOPHIE
ihn haltend.
Wohin? ich lasse Sie nicht in dieser Heftigkeit –
WAGNER.

Dein Kind will ich holen; will's mit meinem Blute nähren, wenn mir andre Nahrung fehlt.Er reißt sich los und geht ab.

SOPHIE
ihm nachstürzend.
Mein Vater! um aller Barmherzigkeit willen! –

3. Akt

1. Auftritt
Erster Auftritt.
SOPHIE.

Er kommt noch nicht – Gott! in welcher Angst ich bin! – Ich zittre für ihn, wie für mich! – Was wird aus mir werden, wenn es die Mutter erfährt! – Ich bin verloren – ohne Rettung verloren! O, wie schmerzlich muß ich einen einzigen Fehler büßen! und vielleicht ist das, was ich bis jezt erduldete, noch das kleinste der Leiden, die mir bevorstehn.

2. Auftritt
Zweiter Auftritt.
Sivers, Sophie.

SIVERS.
Wo ist Ihr Vater, Mademoiselle?
SOPHIE.
Kommen Sie, bester Sivers! rathen Sie, helfen Sie!
SIVERS.
Sie erschrecken mich! was ist Ihnen?
SOPHIE.
Mein Vater drang in mich, dem Kanzleirath meine Hand zu geben –
SIVERS
erschrickt.
Wie?
SOPHIE.
Mein Herz konnte seiner Zärtlichkeit nicht widerstehn, und ich endeckte ihm meine Heirath.
SIVERS.
Zu früh, zu früh!
SOPHIE.
Alle Hofnungen meines Vaters sind dahin. Der Vetter in Lissabon hat sein Vermögen verloren.
SIVERS
erschrickt.

Wie? Sich gleich fassend. Es geht mir nahe, aber nur um Ihretwillen. Wohl Ihrem Vater, daß er am Ende jeglicher Hofnung ist! – Können ihm Millionen ein gutes Weib und tugendhafte Kinder geben? die Gewissensbisse ersticken, daß Sie durch ihn vernachläßiget sind? Armuth und Gefahr der öffentlichen Schande – das muß ihn zum Manne machen; ihn Thätigkeit und Arbeitsamkeit lehren.

SOPHIE.
Sivers! welche Sprache! Ist dies Ihr Trost und Rath.
SIVERS.

Verzeihen Sie, Mademoiselle! Ich vergaß, daß ich von Ihrem Vater redete, ob ich gleich Wahrheit sprach.

SOPHIE.

Meine Stiefmutter dringt heftig auf diese Heirath; denn der Kanzleirath will sein Vermögen mit uns theilen.

SIVERS.
Und was werden Sie thun?
[86]
SOPHIE.
Was kann ich, wenn der Verräther, mein Mann noch lebt?
SIVERS.
Im Fall er aber todt wäre – was würden Sie dann? –
SOPHIE.

Meinen Vater retten, und unglücklich werden; denn lieben kann ich den Mann nicht. Ich kenne seine Grundsätze, seine Launen. Er will eine Sclavin, und keine Frau. – O Sivers! hätten Sie meinen Vater gesehn! – Nein, nie ging eine so plötzliche Aenderung in der Seele eines Menschen vor!

SIVERS.
Desto besser!
SOPHIE.

Der wüthende Schmerz, daß ich ihm bis jezt das Dasein meines Kindes verschwieg; daß er uns durch seine Weichherzigkeit unglücklich gemacht. – O, daß er nicht erfährt, daß ich Ihnen mein Geheimniß vertraute – er würde mir nie vergeben.

SIVERS.
Besorgen Sie nichts. Wo ist er?
SOPHIE.
Ach! er holt mein Kind.
SIVERS.
Sind Ihre Geschwister zu Hause?
SOPHIE.
Nein.
SIVERS
für sich.

Ha, so muß ich – Laut. Mademoiselle! verschiedene Umstände nöthigen mich, Ihnen früher, als ich wollte, mein Herz zu öfnen. Ich bin überzeugt, daß bis jezt weder ein Wort noch Blick es Ihnen verrathen konnte. Um so mehr werden Sie Sich wundern, wenn ich Ihnen entdecke: daß ich Sie von ganzer Seele liebe.

SOPHIE
erstaunt.
Sie?
SIVERS.

Daher mein Bestreben, die Ursache Ihres Kummers zu ergründen; daher die List, durch welche ich Ihr Geheimniß entlockte. Theilnahme an Ihrem Schicksale ward zur zärtlichsten Liebe. – O, warum bin ich arm! warum kann ich Sie nicht nach meinen Wünschen glücklich machen! aber leider! kann das ein jährliches Einkommen von vier hundert Thalern nicht.

SOPHIE.
Ach! zur Zufriedenheit bedarf man keines Reichthums.
SIVERS.

Kann ich dies zu meinem Vortheile auslegen? – Entdecken Sie mir Ihre Gesinnungen unverstellt, liebste Sophie! – Bin ich Ihnen gleichgültig, oder darf ich hoffen?

SOPHIE.
Sie sind der rechtschaffenste Mann, den ich kenne.
SIVERS.
Nicht jeder Rechtschafne wird geliebt.
SOPHIE.
Sie sind eines glücklichern Mädchens werth. – Auch wenn ich frei wäre –
SIVERS.

Sie sind's. Das ist die gute Nachricht, auf die ich Sie heute vorbereitete. Empfangen Sie die gültigsten Zeugnisse von dem Tode Ihres Mannes.Gibt ihr ein Paket von vier Schriften. Er starb vor anderthalb Jahren; und nie hat der Boshafte weder gegen Freunde noch Verwandten seiner Heirath erwähnt!

SOPHIE
schmerzhaft.
Unglückliche Nachricht!
SIVERS
erstaunt.
Unglückliche? – Wie so?
SOPHIE.
Ach!
SIVERS.
Darf ich hoffen, wenn –
SOPHIE.
Sivers! Sivers! – Nein.
SIVERS.
Nein!
[87]
SOPHIE.

Dieser Tod kettet mich unauflöslich und einzig an meinen Vater, – Sie sind arm – ich muß meinen Vater retten. Sie trocknet sich die Augen und will gehn.

SIVERS
hält sie zurück.

Noch ein Wort! – Wie sehr diese kindliche Zärtlichkeit meine Ehrfurcht und Liebe vermehrt – vermag ich nicht auszudrücken.Halb für sich. Ach, ich sehe leider! daß der Mensch nur durch harte Prüfungen zu einem so hohen Grade der Vortreflichkeit gelangen kann. – Ich muß gehen! Gewähren Sie mir nur die einzige Bitte: nicht zu rasch in Ansehung des Kanzleirths – nicht zu rasch. – Leben Sie wohl! Er geht ab.

3. Auftritt
Dritter Auftritt.
SOPHIE.

Dürft' ich meinem Herzen folgen, guter Sivers! – nie würde ein andrer als du – Nein, ich muß mich für meinen armen Vater aufopfern. Werd' ich auch unglücklich; ich will nicht murren. Meine heimliche Heirath, ohne den Willen, ohne den Segen meines Vaters, verdient Strafe. Die ich bis jezt erduldete, hat mein Vergehen noch nicht getilgt; mein Kind war mein Trost, und ich war dieses Trostes nicht werth.

4. Auftritt
Vierter Auftritt.
Sophie, Wagner ohne Schnallen in den Schuhen, mit Fritz und einem Matrosenkleidchen auf dem Arme.

SOPHIE.
Mein Vater!
WAGNER.
Da – nimm' – reinige das Kind, und kleid' es.
FRITZ.
Zieh an, zieh an! mach den kleinen Fritz schön!
SOPHIE.
Gütigster – vortreflichster Vater! – Aber was wird Mama sagen –
WAGNER.
Kümmre dich darum nicht.
SOPHIE.
Soll sie es wissen, daß Fritz –
WAGNER.
Nein.
SOPHIE.
Sie sind noch immer in so heftiger Gemüthsbewegung –
WAGNER.

Nicht doch. Ich bin kalt, wie das Grab. – Aber sprich – wie konnte mir deine Heirath und die Geburt des Kindes verborgen bleiben?

SOPHIE.
O, Gott! Ihr Landgut war die Gelegenheit meines Unglücks und dessen Verbergung.
WAGNER.
Nun, Sophie! kann ich den Kanzleirath deiner Einwilligung versichern?
SOPHIE
standhaft.
Ja, mein Vater!
[88]
WAGNER.
So will ich noch heute schreiben. – Aber an wen wend' ich mich?
SOPHIE.

Er ist todt, mein Vater! seit anderthalb Jahren todt. Gibt ihm das Packet seufzend. Hier sind die unwidersprechlichsten Beweise.

WAGNER.

Ist's möglich! – O mein Herz fühlt wieder Freude! Er sieht die Papiere durch. Aber wer verschafte dir das?

SOPHIE
betroffen und unschlüssig.
Sivers.
WAGNER.

Sivers? – Bitter. Er war also dein Vertrauter? Ihm öfnetest du dein Herz, und – Als wenn er sich besönne. Doch, ich darf darüber ja nicht murren.

SOPHIE.
Er weiß nicht, welchen Antheil ich an der Sache nehme. Ich handelte im Namen einer Freundin.
WAGNER.
Welcher Freundin?
SOPHIE.
Ich nannte niemand.
WAGNER
schüttelt den Kopf, und wendet sich plötzlich zu Fritz.
Was machst du, Fritz?
FRITZ
hat unterdessen das Kleid von Sophien genommen, besehen, und sich an den Leib gehalten.
Fritz sein Kleid ist schön! – Zieh an! Zieh an!
SOPHIE.
Gott! da kommt Mama.
5. Auftritt
Fünfter Auftritt.
Vorige, Mad. Wagner.

MAD.
WAGNER. Was ist das? ist der Betteljunge schon wieder hier!
WAGNER
die Zähne knirschend.
Hm! Zu Sophien. Nimm das Kind und kleid' es an.
FRITZ.
Fritz schön machen! Adieu! Adieu! Sophie geht mit Fritz ab.
6. Auftritt
Sechster Auftritt.
Wagner, Mad. Wagner.

MAD.
WAGNER. Was soll das bedeuten? – Sprich!
WAGNER.
Ich will Vaterstelle bei dem Kinde vertreten.
MAD.

WAGNER. Bist du von Sinnen? – Erst vertritt Vaterstelle bei deinen eignen Kindern – Schaff' mir den Jungen aus dem Hause, sag' ich.

WAGNER
hart.
Nein. – Er bleibt bei mir.
MAD.

WAGNER erstaunt, für sich. Was steckt dahinter? – Ihn betrachtend. Wo hast du deine silbernen Schnallen gelassen?

WAGNER.
Sophie wird den Kanzleirath nehmen.
MAD.
WAGNER. So wahr ich lebe! du hast die Schnallen verkauft, um den Jungen zu kleiden.
[89]
WAGNER.
Ich hab' ihn herbestellt, und will ihm ihren Entschluß ankündigen.
MAD.
WAGNER. Wagner! wie kommst du mir vor? – du sprichst ebenso verwildert, als du aussiehst.
WAGNER.

Drum bitt' ich dich, verwildre mich nicht noch mehr; und laß mich mit dem Kinde handeln, wie ich will. Es soll dir nicht im Wege sein – Bitter. Es soll deinen Kindern nichts entziehn.

MAD.
WAGNER. Ich erstaune! – Warum nimmst du dich denn des Kindes so sehr an.
WAGNER.
Weil – weil ich es liebe.
7. Auftritt
Siebenter Auftritt.
Vorige, ein Kaufmannsdiener.

KAUFMANNSDIENER.
Mamsell Dupuis läßt sich empfehlen, und zum leztenmale um das Geld bitten.
MAD.
WAGNER. Mein Sohn hat es schon hingetragen.
KAUFMANNSDIENER.
Sie wollen scherzen!
MAD.

WAGNER. Mit Leuten seinesgleichen scherz' ich nie. – Vielleicht ist mein Sohn von einem guten Freunde aufgehalten worden; aber er bringt es gewiß noch in dieser Stunde.

KAUFMANNSDIENER.

Das sind wieder Ausflüchte, Madam. Ich habe Ordre, wenn Sie nicht auf der Stelle bezahlen, mich mit dem Wechsel an die Obrigkeit zu wenden.

MAD.
WAGNER. Wend' Er Sich an den Teufel, und geh' Er!
KAUFMANNSDIENER.

Schon gut. Ich will Ihnen einen Gerichtsdiener über den Hals schicken, der Teufelsstelle vertreten soll. Er geht ab.

8. Auftritt
Achter Auftritt.
Wagner, Mad. Wagner.

MAD.
WAGNER. Flegel!
WAGNER
kalt.
Der Mensch ist von der Galanteriehändlerin?
MAD.
WAGNER. Ja.
WAGNER.
Wie viel ist dort zu bezahlen?
MAD.
WAGNER. Fünfhundert Gulden – von denen ich dir diesen Morgen sagte.
WAGNER.
Hab' ich den Wechsel mit unterschrieben?
MAD.
WAGNER. Freilich!
WAGNER.
Hm! hm!
MAD.

WAGNER. Du darfst nicht denken, daß es eine neue Rechnung ist – sie ist von Jahr und Tag. Es war auch eine goldne Dose dabei, die ich leider wieder verkaufen mußte. – Für sich. Ich [90] will doch auf alle Fälle zur Dupuis gehn; sie ist toll genug, mir einen Gerichtsdiener über den Hals zu schicken. Wilhelm ist gewiß auf dem Kaffehause, die Uhr einzulösen; er hat auch noch andre Kleinigkeiten für mich zu bezahlen. – Laut. Sollte der Kanzleirath unterdessen kommen, so sei so gut, und halt' ihn auf – denn ich will die Bedingungen mit ihm ausmachen. Sie geht ab.

9. Auftritt
Neunter Auftritt.
WAGNER.

Geh, Unempfindliche! der Schleier ist gefallen. Gott! gib meinen Kindern nur nothdürftigen Unterhalt, und –

10. Auftritt
Zehnter Auftritt.
Wagner, Sophie.

SOPHIE
traurig.

Der Kanzleirath ist da. Weil Sie ihn allein sprechen wollten, hat er sich indessen bei mir aufgehalten.

WAGNER
auf einmal sehr unruhig.
Gut, gut. – Für sich. O, Gott! wenn er nicht – Ja – er soll kommen. – Ist – ist Fritz angekleidet?
SOPHIE.
Ja.
WAGNER.
Gut, gut. – Er soll kommen! – Halt! Bist du noch entschlossen, ihn zu nehmen?
SOPHIE
standhaft.
Ja.
WAGNER.
Und hast keine Abneigung? – Nimmst ihn nicht aus Mitleid für deine Eltern?
SOPHIE
standhaft.
Nein; aus Neigung.
WAGNER.

Gut, gut! denn bei dem Allmächtigen! nur um dich und deines Kindes willen, wünsch' ich diese Heirath. – Er soll kommen.

SOPHIE
geht ab.
WAGNER
geht einigemal unruhig auf und ab – dann setzt er Stühle.
11. Auftritt
Elfter Auftritt.
Wagner, Malldorf.

MALLDORF.
Sie haben mich rufen lassen –
WAGNER.

Setzen Sie Sich, Herr Kanzleirath! Sie setzen sich. Verzeihen Sie, daß wir die Ehre Ihres Antrages nicht auf der Stelle annahmen. Erst mußten wir der Reigung unsrer Tochter [91] gewiß sein. In einem solchen Punkte dürfen Eltern nicht despotisch handeln.

MALLDORF.
Sie genehmigt meinen Wunsch?
WAGNER.
Ja; und wir geben unsre Einwilligung mit Freuden.
MALLDORF.

So bin ich glücklich. Ich danke Ihnen Herzen! und versichre Sie einer jährlichen Unterstützung von tausend Thalern.

WAGNER
bis zu Thränen gerührt.

Sehr – sehr großmüthig! Leider hab' ich mich in die Nothwendigkeit gesetzt, mein Kind auf gewisse Art zu verkaufen.

MALLDORF.

Ein harter Ausdruck! – Ich werde Ihr Sohn, und es ist des Sohnes Pflicht, für seine Eltern zu sorgen. Lassen Sie uns ohne Zeitverlust die Sache zu Stande bringen.

WAGNER.

Warten Sie! Ich muß noch mehr von Ihrer Großmuth erbitten. – Können Sie Sich entschließen, zugleich Mann und Vater zu werden?

MALLDORF
erstaunt.
Vater?
WAGNER.
Meine Sophie ist Witwe, und hat ein Kind.
MALLDORF
wie vorher.
Ein Kind?
WAGNER.

Ein holdes, liebenswürdiges Kind, das keinen Bösewicht zum Vater verdiente. Verschiedene Umstände nöthigten das arme Mädchen, sich heimlich, ohne unser Wissen, zu verheirathen. Aus diesen Todeszeugnissen können Sie sehen, wer ihr Mann war, und wann er starb. – Gibt ihm die Papiere. Ich hole das Kind. Er geht ab.

12. Auftritt
Zwölfter Auftritt.
MALLDORF
er sieht die Papiere mit dem äußersten Erstaunen durch.
13. Auftritt
Dreizehnter Auftritt.
Malldorf, Wagner. Fritz angekleidet.

WAGNER.
Komm, mein Kind! erwirb dir einen Vater – sei dein eigner Fürsprecher.
FRITZ
sein Kleid zeigend.
Fritz ist schön!
WAGNER
stutzend.
Wie soll ich Ihr Stillschweigen auslegen?
MALLDORF.

Daß ich mich von der unvermutheten Ankündigung kaum erholen kann! – Gibt ihm die Papiere zurück, und steht auf. Gibt es denn keine Unschuld mehr in der Welt! –

WAGNER.
Herr Kanzleirath! – sie ist eine ehrliche Witwe – war gesetzmäßig verheirathet.
MALLDORF.

Mein Wunsch gong nicht nach einer Witwe, sondern [92] nach einem jungen, armen und unschuldigen Mädchen. Sie wissen, daß ich selbst es Grille nannte, und daß man ungern von einer Grille abgeht. – Sie hätten Sich durch eine andre Wendung ein Geständniß ersparen sollen, daß bei vielen Andern der Ehre Ihrer Familie schaden könnte, denn – erlauben Sie mir, es Ihnen zu sagen – Witwenschaften dieser Art sind immer Zweideutigkeiten unterworfen. Sein Sie meiner Verschwiegenheit versichert, und leben Sie wohl! Er geht ab.

14. Auftritt
Vierzehnter Auftritt.
Wagner, Fritz.

WAGNER
der unter dieser Rede unbeweglich da stand, lacht bitter.
FRITZ
der unter dieser Scene immer sein Kleid besah, zupft Wagner.
Fritz ist schön!
WAGNER
ihn mitleidig anblickend.
Armer Wurm!
15. Auftritt
Funfzehnter Auftritt.
Vorige, Sophie.

SOPHIE
tritt schüchtern herein.
Ist mein Schicksal entschieden?
WAGNER
bitter lachend.

Ja. – Er will dich nicht.Pause. Er gibt ihr Geld. Kauf mir ein A.B.C. Buch – ich will das Kind lesen lehren.

SOPHIE.
Liebster Vater! in welchem Gemüthszustande sind Sie?
WAGNER.
Willst du lesen lernen, Fritz?
FRITZ.
Ja. A.B.C.
WAGNER.
Könnt' ich dich auch lehren weise werden! ha, ha, ha!
SOPHIE
für sich.
Mein Gott! – Laut. Warum schlug mich der Kanzleirath aus?
WAGNER
immer bitter lachend.
Weil du Witwe bist – weil du ein Kind hast.
16. Auftritt
Sechzehnter Auftritt.
Vorige, Mad. Wagner.

MAD.

WAGNER die die lezten vier Worte gehört hat. Was? ein Kind hat? – Ha! nichtswürdige Kreatur! ist das die Ursach, warum der Kanzleirath – Ich dachte, der Schlag trift mich! – Fort aus meinem Hause, du Schandfleck deiner Familie! Fort, oder – Sie will auf sie zu gehn.

[93]
WAGNER
hält sie bei den Armen.
Weib! – Geh, Sophie! Sophie geht mit Fritz ab, der äußerst ängstlich ist.
17. Auftritt
Siebzehnter Auftritt.
Wagner, Mad. Wagner.

MAD.

WAGNER. Laß mich! – Sie soll auf der Stelle aus dem Hause; oder ich rufe ihre Schande auf öffentlichem Markte aus.

WAGNER
sie heftig auf einen Stuhl setzend.
Weib!
MAD.
WAGNER. Wagner! – Du vergreifst dich an mir!
WAGNER.

Danke Gott, daß noch ein schwacher Strahl der Vernunft in mir dämmert, sonst – stieß ich dir ein Messer ins Herz.

MAD.
WAGNER. Gott im Himmel! was ist das?
WAGNER.

Sieh, Weib! wozu du mich gebracht hast! – wohin du den sanftmüthigsten Mann bringst! – Denk zurück, Weib! was ich zwanzig Jahre duldete – wie du mir für unaussprechliche Liebe gelohnt hast! Um deinen Besitz gab ich mich für reicher aus – Ich betrog dich nur um Geld – aber du betrogst mich um deine Liebe – um meine Ruhe – um meinen guten Namen – und vielleicht um meine Seligkeit.

MAD.
WAGNER. Wagner! um dein selbst willen! komm zu dir! faß dich!
WAGNER.

Ohne sie, deren Schande du, unmenschliches Weib! auf dem Markte ausrufen willst, wär ich vielleicht nicht mehr. Sie und ihr Kind sind die einzigen Bande, die mich noch ans Leben knüpfen.

MAD.
WAGNER. Liebster Mann!
WAGNER.

Wär' sie von Schande gebrandmarkt, so wär' sie es durch dich. Wer führte den französischen Hauptmann ins Haus? Wer erleichterte ihm die Mittel zur Verführung? Wer wollte ihn an Charlotten verkuppeln?

MAD.
WAGNER. Faß dich nur!
WAGNER.
Sie war verheirathet, ehrlich verheirathet –
MAD.
WAGNER. Das wußt' ich ja nicht.
WAGNER.
Ach! nur mein Segen hat ihr gefehlt.
MAD.
WAGNER. Wagner!
WAGNER.
Ehrlich ist Mutter und Kind. Nur der Vater verdient die Hölle.
MAD.

WAGNER. Sei nur ruhig! sie soll durch mich nie gekränkt werden. Für sich. Gott! was ist mit dem Manne vorgegangen!

18. Auftritt
[94] Achtzehnter Auftritt.
Vorige, Sivers.

WAGNER.

Auch das Vertrauen meines Kindes hast du mir geraubt! – Da, diesem fremden, gleichgültigen Manne schüttete sie ihr Herz aus.

SIVERS.

Nennen Sie mich darum fremd und gleichgültig, weil ich nicht zu Ihrer Familie gehöre? Wann sprach theilnehmende Freundschaft aufrichtiger, als heute durch meinen Mund?

WAGNER.
Erinnern Sie mich nicht! Sie haben feurige Kohlen auf mein Haupt gesammelt.
SIVERS.

Noch ist es Zeit, dem Uebel vorzubeugen, das Sie bedrohte. Bestreben Sie sich Beide, die heiligen Pflichten zu erfüllen, die Ihnen obliegen, und Sie werden das vorzüglichste Gut der Menschen – Zufriedenheit erlangen.

WAGNER.

Zufriedenheit? die ist auf ewig für mich dahin. O mein Fritz! o meine Sophie! könnt' ich mit meinem Blute – könnt' ich Euch nur versorgen! Euch dem Hohne, dem Tadel, der Verachtung der Menschen entziehn!

SIVERS.
Der Verachtung?
WAGNER.
Hat er sie nicht auf's schändlichste verachtet?
SIVERS.
Der Kanzleirath.
WAGNER.

Das ist dein Werk, grausames Weib! Du hast mich elend gemacht – das möge dir Gott vergeben! aber meine Sophie –

SIVERS.
Wagner! – geben Sie sie mir zum Weibe!
WAGNER.
Wen? – Sophien?
SIVERS.

Ja – Ist Ihnen mit einem Schwiegersohne gedient, der die äußerste Hochachtung mit der zärtlichsten Liebe gegen Ihre Tochter verbindet; der es zu seinem einzigen Geschäfte machen wird, die Thräne des erlittenen Kummers zu trocknen; Ihr Herz der Freude wieder zu öffnen – so bin ich der Mann.

WAGNER.
Sivers! rechtschaffener Sivers! – Sie sind arm. –
SIVERS.

Nicht bettelarm. Ich habe vierhundert Thaler jährlich, und die gewisse Hofnung eines Dienstes, der eben so viel einträgt. Wir werden bürgerlich – ehrlich leben können. Verlangen Sie Ueberfluß, dann freilich –

WAGNER.

Mann! den mir Gott zum Troste schickt – du hast meine Einwilligung, meinen Segen! Möchte doch die Neigung meines Kindes, meinem Wunsche gemäß sein! – Aber, sie muß entscheiden. Er geht ab.

19. Auftritt
[95] Neunzehnter Auftritt.
Mad. Wagner, Sivers.

SIVERS.
Darf ich auch Ihre Einwilligung erbitten, Madam?
MAD.
WAGNER. Sie ist nicht mein Kind. Wagners Einwilligung ist Ihnen genug.
SIVERS
verbeugt sich.
Warum so unruhig? Bedenklich.
MAD.

WAGNER. Ach! meines Mannes wegen. Ich begreife nicht, was mit ihm vorgefallen ist! Ich fürchte, daß sein Verstand gelitten hat.

SIVERS.
Sie wundern Sich darüber? Sie?
MAD.
WAGNER um Schonung bittend. Herr Sivers!
SIVERS.

Ich habe einen Theil Ihrer Unterredung angehört. Ich beschwöre Sie, Madam! treiben Sie ihn nicht weiter; er ist der Verzweiflung nahe. Sein Sie Gattin! Sein Sie Mutter!

MAD.

WAGNER. Ist es Verbrechen, daß ich meine leiblichen Kinder einer Stieftochter vorziehe? daß ich mich im Hause der Gewalt bediene, die er mir freiwillig gab?

SIVERS.
Nein! aber Sie gingen in beiden Fällen zu weit.
20. Auftritt
Zwanzigster Auftritt.
Vorige, Wagner, Sophie, Fritz.

WAGNER
Fritz und Sophien hereinführend.
Sivers! versprechen Sie mir, dem Kinde Vater zu sein?
FRITZ.
Willst du Vater sein?
SIVERS
das Kind küssend.
Ja; nach den strengsten Begriffen des Worts.
WAGNER
ihm Sophien gebend.
So ist sie die Ihrige. Gott segne Ihre Ehe so sehr, als er meine verf –
MAD.
WAGNER einfallend. Wagner!
SOPHIE.
Hab' ich Ihre Verzeihung, Ihre Einwilligung, liebste Mama?
MAD.
WAGNER. Alles, alles! Gib mir dafür das Herz meines Mannes wieder.
SOPHIE.
Mein Vater!
WAGNER.
Nun mag Gott über mich verhängen, was er will; ich bin ruhig.
SIVERS
mit Nachdruck.
Mein Glück ist vollkommen! Ich hab' ein Weib gefunden, das mich um mein selbst willen nahm.
21. Auftritt
[96] Ein und zwanzigster Auftritt.
Vorige, Dienstmädchen.

DIENSTMÄDCHEN.
Da ist ein Brief an Sie, Madam. Der Bote wollte nicht auf Antwort warten. Sie geht ab.
MAD.
WAGNER. Was ist das? Charlottens Hand?Zu Sophien. Ist sie nicht zu Hause?
SOPHIE.
Schon seit zwei Stunden nicht.
MAD.

WAGNER. Gott! was heißt das? Sie erbricht den Brief und liest. »Mein Bruder und der Herr Baron wollten durchaus nicht, daß ich Ihnen schreiben sollte; aber ich kann's nicht über das Herz bringen, Sie ohne Abschied zu verlassen – Sie sinkt in einen Stuhl. Ich unglückliche Mutter!

WAGNER
setzt sich ganz kalt mit Fritz an einen Tisch und zeichnet.
SOPHIE.
Liebste Mama!
SIVERS.
Fassen Sie Sich, Madam! vielleicht ist noch Hülfe!
MAD.
WAGNER die Hände ringend. Ich unglückliche Mutter!
SIVERS.

Das Uebrige des Briefes gibt uns vielleicht gehörigen Aufschluß und Mittel. Er liest. Bei Ihren betrübten Umständen wär' es Sünde, wenn wir Ihnen länger zur Last fielen. Wir haben also selbst für unser Glück gesorgt, und sind mit dem Herrn Baron Pollwizki und seiner Schwester fortgereist. Sobald wir auf seinen Gütern ankommen, geht die doppelte Heirath vor sich, wozu wir Ihren Segen erbitten. Ich habe nichts, als meine Galanterien und einige Kleider mitgenommen. Wilhelm ist aber so leichtfertig gewesen, alles Geld, was Sie ihn gaben, zu behalten. Daß es wider meinen Willen geschehn ist, können Sie sicher glauben Ihrer gehorsamen Tochter, Charlotte. Meine Empfehlung an Papa, und meine Gratulation an Sophie zu ihrer Heirath mit dem Kanzleirath. Unter Lesung des Briefes sieht er oft nach Wagnern.

MAD.
WAGNER tief gebeugt. Ich unglückliche Mutter!
WAGNER.
Sieh Fritz! das ist eine Kirche. Mach' das einmal nach.
FRITZ.
Ja. Nachmachen.
SIVERS.
Man muß ihnen nachsetzen, sie verfolgen –
MAD.

WAGNER. Der Fluch ihrer Mutter möge sie verfolgen, sonst nichts. – Ha, Ihr Undankbaren! für die ich alles aufopferte – meines Mannes Liebe, und vielleicht sein – Ich elendes Weib!

SOPHIE
weint bitterlich.
SIVERS
betrachtet Wagnern sehr aufmerksam.
WAGNER.
Hübsch grade, Fritz!
MAD.

WAGNER. Da sitzt er – fühlt nichts mehr! – ist todt und kalt gegen sein Weib, gegen sein Blut. – Sie geht zu ihm. O Wagner! vergib mir, vergib mir!

WAGNER.
Sieh wie schief! grade, Fritz!
SIVERS
schüttelt den Kopf und geht zu ihm.
Kommen Sie zu Sich, Wagner! es kann noch alles gut werden.
[97]
WAGNER
dumpf.
Hm! es ist schon alles gut. Fritz und Sophie sind versorgt. – Was kümmert mich die übrige Welt!
SOPHIE.
Liebster, bester Vater!
WAGNER.
Gut, Fritz! nun die Fenster –
FRITZ.
Wo sind die Fenster?
MAD.
WAGNER trostlos auf und abgehend. Ich elendes, unglückliches Weib!
22. Auftritt
Zwei und zwanzigster Auftritt.
Vorige, ein Gerichtsdiener.

GERICHTSDIENER.
Madam! ich komme im Namen der Mamsell Dupuis, die Zahlung des verfallenen Wechsels zu fodern.
MAD.
WAGNER in Verzweiflung. Ich habe nichts; ich kann nicht bezahlen.
GERICHTSDIENER.
Sie wissen, was Wechselrecht ist!
MAD.
WAGNER. Thut, was Ihr wollt – ich kann nicht bezahlen.
GERICHTSDIENER.
So muß ich Ihnen Arrest ankündigen.
MAD.

WAGNER. Da bin ich! werft mich ins tiefste Gefängniß! Nehmt mir auch das Leben! ich verfluch' es, weil ich undankbare Kinder gebar.

SIVERS.
Madam!
SOPHIE.
Liebste Mama!
MAD.
WAGNER. Kommt! ich bin bereit – wohin soll ich gehn?
WAGNER.

Elendes schwaches Herz! Ich bin Euer Schuldner – ich habe den Wechsel unterschrieben. Mich schleppt ins Gefängniß – züchtigt mich zwiefach für die Schwachheit, daß ich dich nicht hassen kann.

MAD.

WAGNER fällt ihm um den Hals. Nein, nein – du sollst meine Schuld nicht büßen. Nur laß mich erst ein Wort der Vergebung, der Zärtlichkeit von dir hören!

WAGNER.
Gott segne dich, leb' wohl! Er will gehen.
SIVERS.

Halt! Zum Gerichtsdiener. Geben Sie der Mamsell Dupuis diese Anweisung – Gibt ihm ein Papier mit Geld. Und dies ist für Ihre Mühe.

SOPHIE.
Liebster! Bester!
MAD.
WAGNER. Sivers!
WAGNER.
Mann! denk' an dein Weib und Kind!
GERICHTSDIENER.
Gehorsamer Diener! Er geht ab.
23. Auftritt
Drei und zwanzigster Auftritt.
Wagner, Mad. Wagner, Sivers, Sophie, Fritz.

SIVERS.

Wagner! umarmen Sie Ihre Frau! Laßt Eure Fehler durch eine wechselseitige Vergebung auf ewig vergessen sein.

WAGNER
umarmt seine Frau.
Louise! vergib mir, wie ich dir vergebe!
[98]
MAD.
WAGNER. Ach! du fehltest durch Güte, aber ich –
SIVERS.

Ihr habt beide befehlt; habt beide gebüßt, und seid zur Erkenntniß gekommen. Möchte doch das Glück, das Eurer wartet, Euch nicht auf Eure vorigen Irrwege leiten! – Madam! Ihre Kinder sind da.

MAD.
WAGNER. Wie?
SIVERS.

Der saubre Baron liebte Ihre Tochter; gab ein nichtswürdiges aber schönes Weibsbild für seine Schwester aus; verführte durch sie Ihren Sohn, und dieser seine Schwester. Um das öffentliche Aufsehn zu verhüten, wurden sie im nächsten Dorfe arretirt, und den Herrn Baron, der nichts weiter, als ein falscher Werber und Spieler ist, wird man, nach einer guten Züchtigung mit seiner Fräulein Schwester, des Landes verweisen.

WAGNER.
Wer that das?
MAD.
WAGNER. O, warum ließ man die Undankbaren nicht ihrer Züchtigung entgegen gehn!
SIVERS.

Es ist Pflicht des Menschen, zu bessern; nicht zu verderben. Wollen Sie mir die Besserung überlassen?

WAGNER.
Gern! gern!
MAD.
WAGNER. Von Herzen! – Nur, daß sie mir nicht zu bald vor Augen kommen!
SIVERS.

Das soll nicht geschehn. Lassen Sie uns nun von Ihrer künftigen Nahrung reden. – Wagner! wollen Sie arbeiten?

WAGNER.
Ob ich will?
SIVERS.
Sie waren ein guter Kaufmann – hätten Sie noch Vergnügen an dieser Beschäftigung?
WAGNER.
Ja, herzliches Vergnügen! aber gleichviel – nur Arbeit – Arbeit!
SIVERS.

Ein Mann von einem unermeßlichen Vermögen will Ihnen einen Theil seiner Handlung anvertrauen, und Sie dafür eines jährlichen Einkommens von vier tausend Gulden versichern.

WAGNER.
Mir? – der Scherz ist bitter!
SIVERS.

Er hat schon verschiedenes für Sie gethan. Er war es, der auf Ihre Kinder ein wachsames Auge hatte, und sie von ihrem Verderben rettete. Er kaufte unter der Hand Ihr Haus an sich, und schenkt es Ihnen nun nebst der dafür bezahlten Summe zurück.

MAD.
WAGNER. Ist's möglich!
WAGNER.
Gütiger Himmel!
SOPHIE
für sich.
O, das kann nur Sivers!
SIVERS.

Werden Sie ihm aber auch verzeihen, daß er, um Sie zu bessern, Sie sogar ins Gefängniß bringen wollte? – Auf sein Anstiften verfuhr die Galanteriehändlerin so strenge – und falls Sie sie durch das lezte Geld von Ihrem Hause befriedigt hätten, so war er noch mit einer Summe von sieben hundert Gulden bewafnet, die er Ihrem Fleischer, Becker, Weinhändler, Schuster und Schneider bezahlt hat. Aber dem Himmel sei Dank! Ihre väterliche Zärtlichkeit gegen Sophien überhob ihn dieser scharfen Mittel zu Ihrer Besserung.

WAGNER.
Sivers! – mein Sohn! spottest du deines Vaters?
MAD.

WAGNER. Nein, nein, es ist Ernst in seinem Ton und [99] Blicke? – Wer ist der großmüthige Mann, der so viel Mitleiden mit uns Elenden hat?

SOPHIE.
Ach! mein Herz hat ihn schon genannt.
SIVERS.

Der Mann, der Sie um acht Ducaten betrog – der nichtswürdige, prahlende, bettelhafte Vetter aus Lissabon.

WAGNER, MAD. WAGNER UND SOPHIE. Der Vetter aus Lissabon? – Pause.

STEINBURG.
Ja, Euer Vetter Steinburg, der wahr und lebendig vor Euch steht.
WAGNER, MAD. WAGNER UND SOPHIE ihn anstarrend. Sie?
STEINBURG
indem er Wagnern einige Briefe zeigt.
Sind Ihre Briefe an mich Ihnen fürs erste Beweis genug?

Sie werfen sich zu seinen Füßen.
WAGNER.
Großmüthiger!
MAD.
WAGNER. Wohlthätiger!
SOPHIE.
Edler, Vortreflicher!
STEINBURG
hebt sie schnell auf.

Steht auf! steht auf, liebste Eltern! Ihr habt mir schon gedankt! Ihr habt mir den größten Lohn gegeben, den Ihr geben konntet – ein schönes und tugendhaftes Weib.

SOPHIE
an seinem Halse.
Steinburg! – Komm, Fritz!
STEINBURG.

Sophie! – mein Sohn! – daß ich Euch, liebste Eltern, von meinem großen Reichthume Nachricht gab, war eine Ubereilung, die ich auf der Stelle bereute. Ich reis'te also her; schlich mich unter fremden Namen bei Euch ein, und sehe leider! daß es zu Eurer Besserung und Hülfe kein anderes Mittel gab, als das, was ich ergrif. – Meine besten Eltern! – kann Reichthum Euch Zufriedenheit geben – kann Reichthum Eure jüngsten Kinder auf den Weg der Tugend führen – kann Reichthum Sophiens Tugend belohnen – so sei er gesegnet! so sind wir die glücklichste Familie auf Erden.

WAGNER.

O, mein rechtschafner Verwandter! – mein Sohn! – lies meinen Dank in meinen Thränen! – Und du, meine Louise! du, nach einer zwanzigjährigen Ehe – nach so vielem Gram und Kummer noch immer geliebtes Weib! gib mir nicht Anlaß, meine Gemüthsart zu ändern – laß mich sanft bleiben, wie ich war.

MAD.

WAGNER. Liebster Mann! – Vetter! Sohn! – O, mein Herz! – Vergib mir, Sophie! deiner Vergebung bedarf ich am meisten. In Thränen. Warum sind meine Kinder dir nicht gleich.

SOPHIE
ihre Hand küssend.
Der Ewige wird ihre Herzen lenken!
STEINBURG.

Kommt, liebste Eltern! – Komm, meine Sophie! wir müssen an deine Geschwister denken. Und du, o Gott! laß mich dies Beispiel stets vor Augen haben! laß meine Zärtlichkeit für Weib und Kind nicht zur Schwachheit werden!

[100]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Schröder, Friedrich Ludwig. Drama. Der Vetter in Lissabon. Der Vetter in Lissabon. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-FFEF-7