Hugo von Hofmannsthal
Der Unbestechliche
Lustspiel in fünf Akten

[452]

Personen

Personen.

    • Die Baronin.

    • Jaromir, ihr Sohn.

    • Anna, dessen Frau.

    • Melanie Galattis.

    • Marie Am Rain.

    • Der General.

    • Theodor, Diener.

    • Hermine, eine junge Witwe.

    • Der kleine Jaromir, vier Jahre alt.

    • Die Beschließerin.

    • Die Jungfer.

    • Der Kutscher.

    • Das Küchenmädchen.

    • Der Gärtner.

1. Akt

1. Szene
Erste Szene
DIE JUNGFER.
Das ist wieder eine Anordnung vom Theodor.

Ab.
BESCHLIESSERIN
eilig auftretend.
Ist die Frau Baronin nicht da? Es wäre notwendig, ihren Rat einzuholen. Rasch ab.
GÄRTNER
eilig auftretend.
Theodor, die Dispositionen müssen geändert werden. Wir haben zu wenig Zimmer. Rasch ab.

Alles ist im größten Tempo zu spielen.
BESCHLIESSERIN
tritt eilig wieder auf.
Ist die Frau Baronin nicht da?
GÄRTNER
tritt eilig wieder auf.
Ist die Frau Baronin nicht da?
JUNGFER
tritt eilig wieder auf.
Ist die Frau Baronin nicht da?

Sie treten alle drei zugleich von verschiedenen Seiten auf.
JUNGFER
mustert den Gärtner.
In der Livree wollen Sie mitservieren? Wer hat das angeordnet?
BESCHLIESSERIN.

Wenn man auf mich gehört hätte, – – wenn man die Einteilung so gemacht hätte, wie ich vorgeschlagen, und hätte dem Fräulein Am Rain das kleine Jägerzimmer neben der Frau von Galattis gegeben – –

[453]
2. Szene
Zweite Szene
Baronin ist von links eingetreten, ein Telegramm in der Hand. Jungfer macht der Beschließerin ein Zeichen, sie solle schweigen.

BARONIN.

Machen Sie kein Geschwätz, Wallisch, Anordnungen treffe ich, und zu ihrer Durchführung ist der Theodor eingesetzt, und damit basta! Zur Jungfer. Den Kutscher will ich sehen, – wie er ist, in der Stalljacke, in Hemdsärmeln, wie er ist!

JUNGFER
geht durch die Glastür.
BARONIN
liest indessen das Telegramm.

Eintreffe Zollerndorf, drei Uhr elf, herzlich Melanie. Das Telegramm ist in der Früh dagelegen – – heißt das jetzt heute oder morgen? Eine zu dumme Form! Kann sie nicht hinschreiben »Mittwoch«!? Was hat sie nur »Melanie« zu unterschreiben? So intim sind wir nicht! – – Und drei Uhr elf kommt kein Schnellzug an, soviel ich weiß – Kann dieses Spatzengehirn von einer Modepuppe nicht ordentlich im Fahrplan nachschauen? Den Gärtner bemerkend. Wer hat denn Sie in dieses Faschingskostüm gesteckt?

BESCHLIESSERIN.

Das sind, Euer Gnaden Frau Baronin, diese Bosheiten, diese Willkürlichkeiten, die sich der Theodor gegen jeden einzelnen von uns herausnimmt!

BARONIN.

Wallisch, ich habe Sie nicht um Ihre Ansicht gefragt! Zum Gärtner. Und Sie – hinaus! – Als Jäger anziehen, grauen Rock, graue Hose und grüne Lampas – Um vier Uhr dreißig gestellt zum Tee! Abtreten!

GÄRTNER
macht rechtsum kehrt und geht.
BARONIN.
Sind die Fremdenzimmer endlich vorbereitet?
BESCHLIESSERIN.

Ich bitte gehorsamst, daß ich davon nichts gewußt habe, wenn jetzt plötzlich die Frau von Galattis allein kommt ohne den Herrn Gemahl – wenn der Theodor nicht der Mühe wert befindet, mich zu verständigen, wenn angeordnet und wieder umgestoßen wird – –

BARONIN.
Kein Wort mehr über den Theodor! Genug!
[454]
3. Szene
Dritte Szene
Jungfer mit dem Kutscher kommt über die Terrasse.
Der Kutscher ist in Stalljacke und einer Schürze.
Beschließerin wartet noch einen Augenblick, geht dann ab.

BARONIN
zum Kutscher.

Es sind auf beiden Bahnhöfen Gäste abzuholen. – Da – Gibt ihm das Telegramm. Erkundigen Sie sich auf der Station, wann der Zug ankommt, von dem hier so beiläufig die Rede ist.

KUTSCHER
nimmt das Telegramm und behälts in der Hand.
Melde gehorsamst, das geht nicht.
BARONIN.
Was geht schon wieder nicht?
KUTSCHER.
Zweierlei Abholungen am heutigen Nachmittag. Die Schimmel müssen geschont werden.
BARONIN.
Nehmen Sie die Mascotte in die Gabel vorm Dogcart, Himmel Herrgott!
KUTSCHER.

Melde gehorsamst, das geht nicht! Auf der Mascotte ist der Stallbursch in die Stadt geritten, den Schlosser holen.

BARONIN.
Jetzt?!
KUTSCHER.
Befehl vom jungen Herrn Baron! Es ist eine Dachreparatur, sehr dringend, bevor die Gäste da sind.
BARONIN.

Richten Sie sich ein, wie Sie können. Ihr »Das geht nicht« will ich nicht mehr hören! Warum geht denn alles, wenn der Theodor dahinter ist? Genug! Gehen Sie, bevor ich mich ärgere!


General öffnet ein bißchen die Tür links, steckt den Kopf durch den Spalt und verschwindet wieder.
KUTSCHER.
Melde gehorsamst, der Theodor versteht nichts vom Stalldienst. Ab.
[455]
4. Szene
Vierte Szene
GENERAL
kommt sofort, wie er die Baronin allein sieht, herein.
Amelie! Sie ärgern sich –
BARONIN.

Ich ärgere mich nicht, meine Dienstleute ärgern mich! Der Theodor hat mir am Ersten gekündigt! Heute ist der vierzehnte Tag, und er hat seine Kündigung bis zu dieser Stunde nicht zurückgenommen und sich obendrein krank gemeldet.

GENERAL.
Der Theodor! Das ist ja –

Er bleibt stehen.
BARONIN.

Das ist von allen Dingen auf der Welt, die hätten passieren können, ungefähr das einzige, mich vollkommen aus der Fassung zu bringen. Wenn es das ist, was Sie sagen wollen, Ado – dann haben Sie das Richtige zu sagen vorgehabt.

GENERAL.
Ja, wie ist denn das möglich! Das kann sich ein Dienstbote nicht unterstehen.
BARONIN.

Sie wissen sehr genau, Ado, daß der Theodor kein Dienstbote ist, sondern eben – der Theodor. Und außerdem hab ich ihm bei einem gewissen Anlaß vor zwei Jahren schriftlich gegeben –

GENERAL.
Sie sind zu gut, Amelie!
BARONIN.

– daß er jederzeit berechtigt sein soll, den Wunsch erkennen zu geben, sich auf seinen Ruhesitz zurückzuziehen, das kleine Anwesen mit der Mühle, das er von seiner Großmutter geerbt hat in seiner Heimat irgendwo in den Waldkarpathen, wo sich die Wölfe gute Nacht sagen.

GENERAL.
Ja, und dieser Kerl hat nicht so viel Herz, so viel Anhänglichkeit an Sie –
BARONIN
geht auf und nieder.
Ich bin ihm genau so gleichgiltig, wie allen Menschen eine Frau meines Alters ist.
GENERAL.
Amelie, das sagen Sie mir!
BARONIN.

Alte Frauen sind fremden Menschen langweilig, ihren Angehörigen lästig und ihren Enkeln ein Schrecken. Ich weiß das.

GENERAL
leise.
Ich existiere nur in Ihnen.
BARONIN.

Sie sind sentimental, Ado, und sentimentale Menschen sind kritiklos und wissen selbst nicht, was in ihnen vorgeht. [456] Boshaft wie ein verwöhntes Kind. Wenn man mir aber zumutet, von heut auf morgen den einzigen Domestiken zu entbehren, dessen Umsicht und Verläßlichkeit mir noch ermöglicht, in dieser odiosen Welt eine einigermaßen erträgliche Existenz zu führen, wenn man mir die Krücke aus der Hand windet, Sie stößt mit dem Stock auf den Boden. an der ich noch mit einem Rest von Dezenz durch das Leben humple –

GENERAL
mit einer fliegenden Röte, die sein Gesicht plötzlich sehr jung macht.

Ich werde selbst den Theodor in seinem Zimmer aufsuchen. Er war vor siebenundzwanzig Jahren Ulan in meiner Schwadron – er hat noch militärischen Geist in sich. Er hält ja heute noch Rapporte mit der Dienerschaft.

BARONIN.

Nur um Gottes willen keinen martialischen Ton, Ado. Sie kennen seine krankhafte Empfindlichkeit! – Aber vielleicht, daß wieder irgendwelche außerordentliche Konzessionen –

GENERAL.
Zu denen Sie also bereit wären?
BARONIN.
Zu jeder!
GENERAL.
Ich gehe – Amelie.

Er bleibt aber stehen.
JAROMIR
kommt über die Terrasse, tritt durch die Glastür ein.
Wohin denn, Ado?
GENERAL
im Abgehen.
Ich habe eine Mission.
5. Szene
Fünfte Szene
JAROMIR.

Ah, ich höre, der Theodor hat sich zur Abwechslung in den Schmollwinkel zurückgezogen! Ich hab dirs gesagt, Mama, wie er vor vier Jahren, kurz nach meiner Heirat, sein Bon plaisir zu erkennen gegeben hat, aus meinen Diensten wieder in deine zurückzutreten. Ich kann ihn nach siebzehnjährigem Beisammensein nicht mehr aushalten – wenn du es versuchen willst, à la bonne heure! Er ist ja eine Perle und in seiner Klasse ein ungewöhnlicher Mensch, aber er liebt Szenen – und da mir Szenen beiläufig [457] das Verhaßteste auf der Welt sind – und da ich hauptsächlich darum eine äußerst vernünftige und friedfertige kleine Frau geheiratet habe, um in meinen reiferen Jahren mich friedlich umgeben zu wissen –

BARONIN.
Der Theodor ist ein ganz ausgezeichneter Mensch!!
JAROMIR.

Aber ohne Frage, ein Erzengel. Aber ich vertrage eben nicht, einen Erzengel zum Diener zu haben, in dem alle paar Monate lang der Machtkitzel erwacht, mir zu zeigen, daß er der Stärkere von uns beiden ist.

BARONIN
geht geärgert auf und ab, raucht.

Du scheinst die Möglichkeiten dessen, was ein beschränktes Hauspersonal leisten kann, etwas zu überschätzen, mein Lieber, sonst hättest du nicht heute, an dem Tag, wo deine verschiedenen Freundinnen von sämtlichen Bahnhöfen abzuholen sind, den zweiten Kutscher zu Pferd in die Stadt geschickt, um den Schlosser für eine schließlich gleichgiltige Dachreparatur herzubestellen –

JAROMIR.

Pardon, Mama, gerade diese Dachreparatur ist unaufschieblich. Es ist unmöglich, in der Nacht ein Auge zuzumachen, wenn eine losgerissene Dachrinne an ein wackelndes Eisengitter schlägt, – das muß ich als Bewohner der Mansarde wissen.

BARONIN
stehend.
Du hast dir oben ein Schreibzimmer eingerichtet, höre ich. Aber du schläfst doch nicht oben?
JAROMIR.
Allerdings – seit einer Woche.
BARONIN.
Ah?
JAROMIR.

Seit die Baby in der Nacht mit den Zähnen so unruhig ist, hat Anna darauf bestanden, daß ich mich umquartiere.

BARONIN
geht auf und nieder.
Auch deine diversen Freundinnen sind jedenfalls sehr große Verhältnisse gewohnt.
JAROMIR.
Wie meinst du das, Mama?
BARONIN.

– Häuser gewohnt, wo es gar keine Umstände macht, wenn man im letzten Moment seine Dispositionen abändert.

JAROMIR.
Inwiefern?
BARONIN.
Er, Galattis, erscheint also plötzlich nicht oder erscheint erst später – Madame kommt allein.
[458]
JAROMIR.

Die Melanie Galattis kommt allein! Ah, da bin ich sehr überrascht. Das tut mir leid. Ich habe auf ihn gerechnet.

BARONIN
stehenbleibend.

Da bist du überrascht? So. – Und ihre Jungfer bringt sie plötzlich auch nicht mit. Man richtet also die Turmzimmer für drei Personen ein, es erscheint eine.

JAROMIR
scheinbar sehr erstaunt und amüsiert.

Die Melanie kommt ohne Jungfer! So eine bizarre Frau! Ich hätte nicht gedacht, daß sie ohne Jungfer eine Nacht in einer Jagdhütte verbringen würde. Aber so ist sie, unberechenbar. Sie wird dich unterhalten.

BARONIN
wieder auf und ab.
Frauen unterhalten mich selten! Besonders nicht, wenn ich sie durch längere Zeit sehen muß.
JAROMIR.

Und meine Idee war gerade, daß eine solche Anwesenheit von ein paar neuen Gestalten dich zerstreuen würde –

BARONIN.
Das war einer der Irrtümer, in die jüngere Angehörige in bezug auf ältere öfter verfallen.
JAROMIR.

Dann darfst du dich wenigstens absolut nicht stören lassen, durch die Gäste ebensowenig wie durch uns und die Kinder. Das ist mein und Annas einziger Wunsch.

BARONIN
grimmig.

Ich bin euch für den Wunsch sehr verbunden. Sie stößt plötzlich den Stock auf den Boden. Himmelherrgott – Ruft. Theodor! – Wenn dieser Herr Galattis jetzt plötzlich wegbleibt, so ist doch das Bridge über den Haufen geworfen! Da muß ich ja noch Knall und Fall jemanden herschaffen! Ruft. Theodor! Besinnt sich. Hört denn wieder kein Mensch! Milli!

JAROMIR.
Aber Mama, schone doch deine Nerven. So wird eben nicht Bridge gespielt werden.
BARONIN.
Und die Abende?
[459]
JAROMIR.

Man wird plaudern, man wird ein bissl im Park umhergehen. – Jedenfalls führst du das Leben, das dir konveniert, ungestört weiter, die Anna das ihre – ich das meine. Ich denke zum Beispiel nicht daran, eine der Damen selbst von der Bahn abzuholen –

BARONIN.
Ah, du willst das uns überlassen? Reizend von dir!
JAROMIR.

Du schickst den Wagen hinaus – und bleibst vollkommen ungestört hier – indessen ich einen Spaziergang mache und mit mir und meinen Gedanken allein bin. Ich habe seit letzter Zeit, es muß das mit meinem vorgerückten Alter zu tun haben, ein ungeheures Einsamkeitsbedürfnis.

BARONIN.
Dann war es ein außerordentlich glücklicher Gedanke, dir das Haus voller Gäste zu laden!
JAROMIR.

Man isoliert sich nie so leicht, als wenn das Haus voller Gäste ist. Ich werde jedenfalls die Vormittage durchaus unsichtbar sein.

BARONIN.
Du schreibst wieder?
JAROMIR
bejaht stumm.
BARONIN.
Und du wirst es wieder drucken lassen? Amüsiert dich das so sehr?
JAROMIR.

Ich weiß nicht, was du meinst? Es ist üblich, daß man geistige Erzeugnisse durch die Druckpresse verbreitet –

BARONIN.
Natürlich, wenn man ein Autor ist –
JAROMIR.

Ich weiß nicht genau, Mama, worin du das Kriterium siehst, das mich von dieser Klasse von Menschen abtrennen würde. Für die Welt bin ich nämlich ein Autor, der meines ersten Buches. Mein Roman ist sehr anerkennend besprochen worden, er hat ein gewisses Aufsehen gemacht.

BARONIN.

Das Kriterium sehe ich darin, mein lieber Jaromir, daß die Berufsschriftsteller etwas erfinden, während du, der du eben keiner bist, und auch keiner zu sein verpflichtet bist, dich in deinem sogenannten Roman damit begnügt hast, dich selber und deine eigenen Gefühle und Ansichten zu Papier zu bringen, auf Draht gezogen mit Hilfe einiger Vorfälle aus deiner engeren Erfahrung, die ich weder interessant noch mitteilenswürdig finde, die aber vielleicht drei bis [460] vierhundert Personen veranlaßt haben, das Buch zu kaufen, in der Hoffnung, in der sie dann allerdings enttäuscht worden sind, darin etwas handgreiflichere und indiskretere Details über persönliche Bekannte zu finden, als ihnen tatsächlich darin aufzustöbern gelungen ist.

JAROMIR.

Ich danke dir, Mama, daß du nicht gesagt hast: Steht auf. noch handgreiflichere und indiskretere Details, aber ich glaube, das ist ein Thema, in dem wir nicht weiterkommen. Ich darf also noch einmal wiederholen, daß ich in bezug auf den Aufenthalt der Damen gar keine speziellen Wünsche habe und alles – aber alles! – deinem Gutdünken und der bewährten Umsicht und Tatkraft deines Theodor überlasse – und um halb fünf zum Tee natürlich erscheinen werde. Verneigt sich und geht ab über die Terrasse.

6. Szene
Sechste Szene
BARONIN
vor sich.

Jetzt sind wir also, da die Melanie allein kommt, plötzlich sechs zum Bridge, statt sieben. Bleibt die Wahl, ob man den Forstrat, der so laut atmet wie ein Küniglhas, oder den affektierten Bezirkskommissär ... Ruft nach links. Theodor! Erinnert sich, stampft auf den Boden, ruft. Milli!


Die Tür links wird halb geöffnet und Anna mit dem kleinen Jaromir treten ein.
DER KLEINE JAROMIR
läuft hin, küßt der Baronin die Hand, sieht sich um.
Wo ist denn der Onkel Ado?
BARONIN
zu Anna.
Was sagst du dazu, daß plötzlich der Galattis nicht mitkommt?
ANNA.
Aber Mama, das haben wir ja schon vor ein paar Tagen gewußt. Hat dir denn der Jaromir –
BARONIN.
Keine Silbe. Er schien sehr erstaunt darüber.
ANNA.

Du mußt verzeihen, es ist seine Arbeit, die braucht ein [461] solches Maß von Vertiefung, daß er für alle anderen Sachen zerstreut ist. Du weißt, er schreibt wieder ein Buch.

BARONIN
bei ihren Gedanken.

Ich hab gehört, sie bringt auch keine Jungfer mit. Es ist doch unmöglich, eine junge Frau mutterseelenallein in dem Turmzimmer wohnen zu lassen, wo weit und breit kein Mensch zu errufen ist.

ANNA.
Aber der Jaromir wohnt doch jetzt oben in der Mansarde.
BARONIN.
Das hör ich. Das heißt, vor zwei Minuten hab ich es gehört.
ANNA.

Also, wenn sie Bedienung braucht, wird sie läuten, und wenn sie sich ängstigt, was übrigens gar nicht in ihrem Charakter liegt, so ist das Fenster von Jaromir fünf Meter von ihrem Balkon, und er hört, wenn sie noch so leise ruft – also ist kein Grund, sich über Zimmereinteilung zu beunruhigen.


Baronin wirft ihr einen Blick zu und konstatiert die völlige Harmlosigkeit von Annas Miene.
DER KLEINE JAROMIR.
Mami –
ANNA.

Sei still. Zur Baronin. Und was das Abholen betrifft, so werd ich mich sofort herrichten und werd der Melanie entgegenfahren, ich möcht besonders artig zu ihr sein, weil sie doch früher – vor unserer Heirat – eine große Freundin von Jaromir war, – und die Marie Am Rain holt der Dogcart ab. – Der Jaromir darf unter keiner Bedingung durch irgend etwas, was mit den Gästen zusammenhängt, belastet werden. Er hat mir das erklärt: er ist, wenn er an einem Werk arbeitet, von einer einfach nicht vorstellbaren Empfindlichkeit und Verstimmbarkeit.

BARONIN.
Er läßt sich sehr gehen, der gute Jaromir.
ANNA.

Ich glaub, Mama, davon haben wir beide keine Vorstellung, was in einem solchen Phantasiemenschen vorgeht, wenn in diese innere Einsamkeit plötzlich die Menschen sich eindrängen –

DER KLEINE JAROMIR.

Großmama, der Theodor hat mir erlaubt, wenn er einmal krank ist, so darf ich ihn besuchen. [462] Aber allein darf man nie in sein Zimmer gehen – es ist eine Zauberei im Zimmer, die macht, daß man eins zwei den Fuß nicht vom Boden wegkriegen kann und so stehen muß, bis der Theodor kommt und einen mit einem Sprüchel wieder losmacht.

ANNA.
Aber Bubi, wer wird denn solchen Unsinn glauben?
7. Szene
Siebente Szene
General kommt wieder von links.

BARONIN.
Also nichts ausgerichtet? Ich seh! Ich seh ja schon!
DER KLEINE JAROMIR.
Warst du beim Theodor, Onkel Ado? Liegt er im Bett? Hat er ein seidenes Kappel auf?
BARONIN
ungeduldig.
Also was wars denn, Ado?
GENERAL.

Er sagt, er wäre überrascht und betroffen davon, daß Sie Ihrerseits überrascht seien – wo Sie doch vor vierzehn Tagen seine Kündigung zur Kenntnis genommen hätten –, es scheint, daß dieses Ignorieren Ihrerseits die Sache verschlimmert hat, liebe Baronin.

BARONIN.

Aber es muß doch eine tatsächliche Ursache haben. Er tut mir doch so etwas nicht ohne eine schwerwiegende Ursache –

GENERAL.

Es war nicht möglich, ihn auf irgendeine Einzelheit zu bringen. Er hat mir nur die vier Dutzend Krawatten gezeigt – die er beim Servieren trägt. Er sagt, er ist heute nach Mitternacht aufgestanden und hat sie einsam in seinem Zimmer gebügelt, um sie heute der Beschließerin zu übergeben, und die Gedanken, die ihm während dieses Bügelns durch sein Inneres gegangen seien, die könnte er in diesem Leben niemandem offenbaren.

BARONIN.

Er gibt der Beschließerin die Krawatten ab! Dann betrachtet er sich ja schon als aus dem Dienst getreten!

DER KLEINE JAROMIR.
Mami, darf ich jetzt zum Theodor hinaufgehen?
ANNA.

Ja, lauf hinauf und sag dem Theodor, daß ich zu ihm [463] hinaufkommen und mit ihm sprechen will. Sag: in drei Minuten.

DER KLEINE JAROMIR.
Ja, Mami. Läuft fort.
8. Szene
Achte Szene
BARONIN.
Du –
GENERAL
zu Anna.
Aber das ist doch unmöglich, Baronin, eine junge Frau wie Sie – er liegt schließlich im Bett –
BARONIN.
Lassen Sie sie, wenn sie will. Sie ist sehr in der Gnad beim Theodor. Vielleicht erreicht sie etwas.
ANNA.
Ich hab zwar das Gefühl, daß er mich haßt.
BARONIN.
Im Gegenteil!
ANNA.
Er hat manchmal eine Art, mich anzuschauen, als ob er mich fressen wollte.
GENERAL.
Glauben Sie mir, Baronin, hinter diesem Blick ist nicht so viel von Liebe oder Anhänglichkeit.
BARONIN.
Vielleicht haßt er uns und liebt uns zugleich?
GENERAL.
Zugleich?
BARONIN.
Abwechselnd. Ich kann mich da ganz gut hineindenken.
GENERAL.
Sie können sich schon wieder in dieses Subjekt hineindenken! Und mir ist alles an ihm unbegreiflich.
9. Szene
Neunte Szene
DER KLEINE JAROMIR
schießt wie ein Pfeil zur Tür hinein.
Er wird gleich herunterkommen.
BARONIN.
Wer?
DER KLEINE JAROMIR.

So ist er aus dem Bett gesprungen, Zeigt, indem er blitzschnell drei Treppenstufen herunterspringt. wie ich ihm gesagt hab, daß die Mami zu ihm kommen will und hat gesagt: Ich werde mich sofort anziehen und unten im Salon erscheinen, – und warum er von uns weggehen will, hab ich ihn gefragt, und da hat er gesagt: das Ganze [464] paßt ihm nicht, und er wirds der Großmama schon erklären. – Aber auf mich ist er nicht bös, und wenn die Mami es erlaubt, so nimmt er mich mit auf seine Mühle, und die steht mitten im Wald, und auf einem großen alten Eichenbaum hoch oben ist ein Zimmerl aus Lindenholz, ganz wie ein Vogelkäfig, dort sitzen wir dann bis Mitternacht und zaubern mitsammen.

BARONIN.
Das Ganze paßt ihm nicht – hat er gesagt: nicht mehr oder nicht, Bubi?
DER KLEINE JAROMIR.
Das weiß ich nicht mehr.
ANNA.

Das wird sich ja alles ganz gut aufklären und ebnen lassen. Somit bin ich hier überflüssig, und küß die Hand, Mama. Ich fahr auf die Station.Geht ab mit dem kleinen Jaromir.

10. Szene
Zehnte Szene
GENERAL
seufzt und schüttelt den Kopf.
Das ist schrecklich!
BARONIN.
Was irritiert Sie, Ado?
GENERAL.
Daß es gerade im Juni hat sein müssen, daß eine solche Unruhe dieses Haus erfüllt.
BARONIN
zerstreut, sie glaubt gehört zu haben, daß es klopft.
Was hat das mit dem Juni zu tun?
GENERAL.

Amelie, es sind mehr als dreißig Jahre her, am elften Juni, daß Sie – daß ich – wissen Sie wirklich dieses Datum nicht mehr?

BARONIN.
Ado, Sie sind ein Mathematiker, mit Ihren ewigen Ziffern! Mich interessieren Ziffern nicht!
GENERAL.

Amelie, die Zeit ist doch gar nichts – wenn ich Sie so vor mir sehe – da existiert doch nichts, als daß Sie da sind!


Es klopft.
BARONIN.
Herein! – Pardon, Ado, es hat geklopft.
[465]
11. Szene
Elfte Szene
GENERAL.
Es klopft immer, wenn ich ein bißchen mit Ihnen sprechen will.
THEODOR
tritt ein, nicht in Livree, sondern in einem schwarzen Röckchen und dunklen Beinkleidern.

Ich habe mir erlaubt anzuklopfen, weil ich heute sozusagen als wie ein Besuch meine Aufwartung mache, aber da ich sehe, daß ich unbedingt störe –

BARONIN
wirft einen verzweifelten Blick auf den General.
GENERAL.

Aber im Gegenteil. Bleiben Sie hier, lieber Theodor, und sprechen sich aus. Ich werde indessen im Park patrouillieren und melde Ihnen, Baronin, wenn der erste Wagen in die Allee einbiegt.Ab durch die Glastür.

12. Szene
Zwölfte Szene
BARONIN.
Sie betrachten sich also hier nicht mehr im Dienst befindlich?
THEODOR.
Allerdings, seit heute mittag zwölf Uhr.
BARONIN.
Ja, was soll denn da werden? Sie wissen doch, daß ich zu allem noch Gäste erwarte!
THEODOR
mit bedauernder Gebärde.

Es ist mir selber sehr peinlich, aber sehr gewichtige Umstände haben mich in die Zwangslage versetzt –

BARONIN.
Theodor, haben diese Umstände etwas mit meiner Person zu tun?
THEODOR.
Euer Gnaden bitte ich nur in untertänigster Dankbarkeit die Hände küssen zu dürfen.
BARONIN.
Hat jemand vom Personal sich gegen Sie etwas zuschulden kommen lassen?
THEODOR.
Ich möchte in diesem Augenblick das Personal keiner Erwähnung wert halten!
BARONIN.

Sie haben sich nicht entschließen können, dem Herrn General irgendeine Andeutung zu machen – aber der Kleine hat etwas dahergeplauscht –

[466]
THEODOR.
Das Kind in seiner Unschuld versteht besser als durchtriebene Menschen ein Gemüt wie das meinige.
BARONIN.
Der Kleine hat ausgerichtet: das Ganze paßt dem Theodor nicht mehr. Was soll das heißen?
THEODOR.

Diese Worte sind sehr schicklich, um in einer allgemeinen Art das auszudrücken, was im besonderen vielleicht peinlich sein würde.

BARONIN.
Ja, wie soll man da –
THEODOR.

Es wurde auf solche für beide Teile peinliche Aussprachen im Falle meines mir nötig erscheinenden Rücktrittes im vornhinein gnädigst verzichtet, meine Gründe im vornhinein bewilligt.


Er will in die Tasche greifen.
BARONIN.
Lassen Sie das stecken. Ich weiß, was ich geschrieben habe.

Schweigt und bohrt mit dem Stock auf dem Boden.
THEODOR.

Dieses gnädige Handschreiben wurde an mich erlassen zu meinem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum in diesem herrschaftlichen Hause, als ein Zeichen besonderen ungewöhnlichen Vertrauens.

BARONIN.
Das war meine Absicht.
THEODOR.

Es sollten damit die Jahre, welche ich noch in dienender Stellung zu bleiben mich entschließen würde, herausgestrichen werden als Ehrenjahre. Mit erhobener Stimme. Wer solche Ehrenjahre abdient, müßte demgemäß vor einer Mißachtung seiner Person geschützt sein.

BARONIN.

Ja, wer bezeigt Ihnen denn Mißachtung? Wer untersteht sich das? Setzen Sie sich nieder, Theodor, und sprechen Sie sich aus.

THEODOR
setzt sich auf den Rand des Stuhles.

Es sind an mir in diesem Leben viele Ungeheuerlichkeiten begangen worden! Ich hätte bekanntlichst eine geistliche Person werden sollen, aber als eine vaterlose Waise bin ich durch Gemeinheit gemeiner Menschen in den dienenden Stand gestoßen worden.

BARONIN.

Ich kenne Ihre Biographie, Theodor. Sie ist sehr achtenswert! Ihr Vater war ein Lump –, aber Ihre Mutter – [467] Gott hab sie selig – eine der gescheitesten Frauen auf der Welt, und Sie haben ihren Verstand geerbt.

THEODOR.
Seine Freiherrliche Gnaden Herr Oberst ist demgemäß in meinen Armen abgestorben.
BARONIN.
Ja, Sie haben meinen Mann treu gepflegt.
THEODOR.

Der Herr Oberst hat mir in seiner letzten Lebensstunde gesagt, daß ich ihm meine Jugend aufgeopfert habe, und hat mich mit Tränen in seinen sterbenden Armen beschworen, seinen Jaromir nicht im Stich zu lassen, und mir den heiligen Eid abverlangt, daß ich dem jungen Herrn mein Mannesalter aufopfern werde. Denn er hat die vielen und großen Schwächen dieses Jünglings erkannt.

BARONIN.

Und dann haben Sie siebzehn Jahre im Dienst meines Sohnes verbracht und sich tadellos geführt. Aber endlich haben gewisse Verschiedenheiten in Ihren beiden Charakteren es wünschenswert erscheinen lassen, daß Sie aus seinem Dienst wieder in meinen traten, was mir natürlich sehr lieb war.

THEODOR.

Das könnte man gesellschaftlich so sagen, aber es wäre weiter nichts als eine vertuschende Redeweise. Sehr stark, aber nicht laut. Die Wahrheit ist diese: das ganze Leben, das er geführt hat, war eine fortgesetzte Beleidigung meiner Person.

BARONIN.
Pst, pst, Sie sprechen von meinem Sohn!
THEODOR
stehend.

Ich bitte nichts anderes, als die Hände küssen und mich stillschweigend untertänigst zurückziehen zu dürfen, auf immer. Als wollte er gehen.

BARONIN.
Ich wünsche aber, daß Sie bleiben, Theodor.
THEODOR.

Jawohl, meine Eltern haben mir in der heiligen Taufe den lieben Namen Theodor zugeeignet. Er hat den Namen nicht beliebt. Ich bin bei ihm die Jahre hindurch Franz gerufen worden, Franz, wo ich, bitte, Theodor zu heißen die Ehre habe! Darin bitte zu erkennen, wie er die Menschenwürde in mir geachtet hat! Das Ganze war eine siebzehnjährige automatische Mißachtung.

BARONIN.
Aber das sind doch schließlich nur Kleinigkeiten.
THEODOR.

Kleinigkeiten? Für die menschliche Seele gibt es [468] keine Kleinigkeiten, das müssen Euer Gnaden als hochgeborene und gebildete Dame wissen. Er hat vor meinen sehenden Augen ein Junggesellenleben geführt von einer beispiellosen Frivolität und eiskalten Selbstsucht.

BARONIN
stößt mit dem Stock.
THEODOR.

Sehr richtig! Sie klopfen, Sie haben recht! Ich habe es ertragen. Ich habe Krawatte hergerichtet, den Jackett oder Smoking, wenn ich gewußt habe, er geht darauf aus, ein weibliches Wesen in einer nächtlichen Abendstunde mit kaltherziger Niederträchtigkeit um die Seele zu betrügen.

BARONIN.
Aber Theodor, Sie sind mir doch auch kein Heiliger!
THEODOR.

Ich bin kein Heiliger! Aber wenn ich eine liebende Handlung begehe, so begehe ich sie mit meinem ganzen Herzen und stehe dafür ein mit meiner ganzen Seele. Bei ihm aber ist das Gegenteil der Fall, und das kann ich nicht mehr vertragen mit meinem Auge zu sehen! Und jetzt ist der Tropfen gekommen, der den Becher bringt zum Überfluß!

BARONIN.
Jetzt, wieso denn?
THEODOR.

Jetzt, wieso denn? Wenn er sich jetzt seine Maitressen paarweise herbestellt ins Haus, jetzt wo er verheiratet ist, jetzt wo er eine Aufgabe hätte im Leben – wo sie ihm zwei Kinder gespendet hat, dieser gesegnete Engel – und da ladet er sich die Betreffenden hier aufs Schloß ein, nachdem er selbst in einem Büchel, in einem sogenannten Schlüsselroman ohne einen literarischen Wert, diese ganze Geschichte mit der Marie auf den Pranger hingestellt hat.

BARONIN.
Ich verstehe absolut nicht, wovon Sie reden, Theodor.
THEODOR.
Demgemäß bitte ich Hände zu küssen und mich stillschweigend zu entfernen –

Als wollte er gehen.
BARONIN.
Jedenfalls gehören diese Dinge, möge selbst etwas daran gewesen sein, längst der Vergangenheit an!
THEODOR.

Bei ihm gibt es keine Vergangenheit, so ist er [469] nicht! Bei ihm ist nichts vorüber. Um etwas aufzugeben, dazu gehört eine innerliche Reinlichkeit.

BARONIN
stößt den Stock auf den Boden.
THEODOR
leise.

Dieses unglückliche Fräulein Marie, das ist ja eine Blume, die er geknickt und zertreten hat. Er ist wie eine Boa constrictor: ausgesogen hat er ihr die Seele viereinhalb Jahre lang! Aber jetzt, jetzt haben wir in Erfahrung gebracht, hat sich diesem Mädchen ein anderer genähert, der, scheint es, einer wirklichen Liebe, einer Hingebung fähig ist. Das reizt ihn aufs neue, da zieht er sie wieder herbei, damit sie seiner Herrschaft nicht entgeht und mag darüber ihre Jugend verwelken wie ein abgemähtes Gras! Wie wagt er das – vor meinen sehenden Augen? Wie darf er sich so über meine siebzehnjährige Mitwisserschaft hinwegsetzen? Bin ich sein Hehler? Sein Spießgefährte, der ihm die Mauer macht? Da tritt er ja meine Menschenwürde in den Kot hinein. Wie wagt er es vor meinen sehenden Augen, diese andere Person, dieses berüchtigte Frauenzimmer, diese Melanie hierher zu bestellen? Wie wagt er dann solche Manöver, daß er selber das Schlafzimmer verläßt, wo dieser gütige Engel mit ihm ehelich wohnt, und hinaufquartiert sich in die Mansarde, und bei hellichtem Tag den Schlosser daherkommen läßt, den Verbindungsgang herzustellen für eine nächtliche ehebrecherische Promenade, damit nur nichts klappert. Das spricht ja Hohn allen göttlichen und menschlichen Gesetzlichkeiten!

BARONIN.
Aber Theodor! Theodor!

Geht auf und nieder.
THEODOR
folgt ihr nach.

Wo in mir in meiner nichtvergessenden Herzkammer alle diese seine Weibergeschichten und Schlechtigkeiten abphotographiert sind bis in die kleinsten und niederträchtigsten Zärtlichkeiten und Meineide!

BARONIN.
Aber mäßigen Sie sich doch etwas!
THEODOR
tritt zurück.

Ich bin müd, demgemäß eher gemäßigt. Aber meine gekränkte Person benötigt demgemäß eine große Heilung, damit ich die männliche Erbärmlichkeit vergessen kann. Ich muß in meine einsame Heimat, auf meine abgelegene Scholle, und alte, liebe Eichbäume müssen [470] immerfort zu mir flüstern: Theodor, du bist ein Heiliger gegen diesen! Er ist nicht wert, die Riemen deiner staubigen Schuhe aufzulösen! Du hast ihn geschont aus Gnade, weil du eine große Seele hast vor deinem Herrgott!

GENERAL
erscheint auf der Terrasse.
Baronin, Sie müssen empfangen. Ich höre den ersten Wagen anrollen.
BARONIN.
Das auch noch! Gleich. Gehen Sie unterdessen – ich komme.
GENERAL
ab über die Terrasse.
BARONIN.

Aber Theodor, es wird doch einen andern Weg geben, irgendeine andere Form, Ihnen eine innere Genugtuung zu schaffen. Ich werde Sie doch deswegen nicht verlieren müssen?!

THEODOR.

Frau Baronin, Gnaden, ich bin keine käufliche Seele. Eine Genugtuung, die mir in dieser Lebensstunde noch genügen sollte, die könnte sich nicht, wie in früheren Fällen, in der Dienstbotenatmosphäre abspielen – die dürfte nicht aus Äußerlichkeiten bestehen, die müßte auf das Große und Ganze gehen! Die müßte zeigen, wo Gott eigentlich Wohnung hat!

BARONIN.
Eine solche kann ich doch unmöglich verschaffen.
THEODOR.
Nein. Die könnte mir allerdings nur ein Stärkerer schaffen als Euer Gnaden!

Lächelt.
BARONIN.

An was denken Sie denn? So reden Sie doch! Ich bitte Sie mit aufgehobenen Händen – so reden Sie doch!

GENERAL
erscheint.
Baronin, das Fräulein von Am Rain fährt vor. Ab.
BARONIN.

Wenn es von mir abhinge, daß die Damen nicht erscheinen oder gleich wieder abreisen – würde ichs machen, aber ich kanns nicht.

THEODOR.

Euer Gnaden können es nicht. Schön. Ich könnte es sehr leicht! Sehr leicht vielleicht nicht, aber mit einer gewissen Mühe. Die würde ich mir nehmen.

BARONIN.
Sie?
THEODOR.
Mit einem Atemzug würde ich diese zweischneidigen Techtelmechtel vor mich hinjagen wie Stäubchen.
[471]
BARONIN.

Ja, wie denn, um Gottes willen? Sie werden doch nicht in offener Opposition meinem Sohn entgegentreten wollen?

THEODOR.

Im Gegenteil. Ich würde sorgen, daß die Damen selbst in zartfühlender Weise dem Herrn Baron über die Gründe ihres Verschwindens anliegen werden.

BARONIN.

Und eine solche Lösung, wenn sie denkbar wäre, – würde Sie – Sie würden dann Ihre Kündigung zurücknehmen?

THEODOR.

Die Entscheidung darüber müßte ich vorbehalten, abhängig zu machen von dem Ausgang des Ganzen, ob derselbe mir in meinem Innern eine wahre und ausreichende Genugtuung bietet.

GENERAL
erscheint.
Baronin, es ist die höchste Zeit. Man ist schon da!
BARONIN
im Abgehen.
Bleiben Sie hier!
13. Szene
Dreizehnte Szene
Bevor die Baronin noch hinausgetreten ist, erscheint Marie Am Rain auf der Terrasse. Sie ist sehr blaß und scheint von der Reise angegriffen. Die erste Begrüßung erfolgt auf der Terrasse, dann treten die beiden Frauen herein. Der General folgt ihnen. Die Jungfer ist zugleich von links hereingetreten.

MARIE
im Auftreten.

Und es war unendlich gut von Ihnen, daß Sie mir erlaubt haben zu kommen, und das zu einer so schönen Jahreszeit!

BARONIN.

Bei uns ist die Jahreszeit nie schön, aber ich hoffe, daß Sie sich in unserm alten Kasten halbwegs gemütlich fühlen werden.

GENERAL.
Und Ihr guter Vater, wie gehts ihm?
MARIE
indem es wie ein Schleier über ihre Stimme fällt.
Nicht sehr gut, Herr General.
GENERAL.
Und das ist gerade ein Mann, der verdienen würde, daß es ihm gut ginge, grade der, wie kein zweiter!
MARIE.
Ich danke Ihnen, Herr General, daß Sie mir das sagen. Das ist lieb!
[472]
BARONIN.

Darf ich Ihnen das Zimmerl zeigen, das die Kinder für Sie bestimmt haben? Es hat eine hübsche Aussicht, das ist das einzige.


Macht Miene, mit Marie abzugehen.
GENERAL.

Baronin, ich höre den zweiten Wagen anfahren. Zu Marie. Die Baronin erwartet nämlich noch die Frau von Galattis.

MARIE
sichtlich unangenehm überrascht.
Oh – dann bitte bleiben Sie doch, Baronin! Nein, bitte, bleiben Sie doch!
JUNGFER.
Darf ich das gnädige Fräulein –
GENERAL.

Ich bringe Sie bis an Ihre Tür. Sie müssen mir noch mehr von Ihrem Vater sagen. Das ist doch der sympathischste Mann von unserer ganzen Generation – Schon im Abgehen mit Marie. Sie können ja Gott danken, daß Sie ihn haben. Ab.

14. Szene
Vierzehnte Szene
BARONIN
zurückbleibend.

Also kommen Sie her, Theodor. Schnell. Sie haben mir da früher Dinge vorerzählt, ich habe einen ganz heißen Kopf bekommen. Ich hab nur so viel daraus entnommen, daß Sie unter gewissen Bedingungen, von denen ich allerdings nicht ahne, wie sie könnten erfüllt werden, bleiben würden. Ich kann nur eines sagen ...

THEODOR.

Ich glaube von meinen Bedingungen in deutlicher Weise gesprochen zu haben. Meine Genugtuung wünsche ich zu erblicken darin, daß das ganze Gebäude von Eitelkeit und Lüge zusammenstürzen muß, als eine unbegreifliche Wirkung meiner höheren Kräfte.

BARONIN.
Ja, aber diese Bedingung ist doch unerfüllbar!
THEODOR.
Ich habe deutlich gezeigt, daß sie erfüllbar ist, wenn man mir die freie Hand läßt.
BARONIN.
Ich habe keine Ahnung, was Sie mir da vorgeredet haben.
THEODOR.

Mir ist diese ausweichende Redeweise bei weiblichen [473] Personen bekannt. Demgemäß werde ich mich in Ruhestand zurückziehen.


Er heftet einen durchdringenden Blick auf sie.
BARONIN
schnell.
Ich weiß nur das eine, daß ich mit Ihnen zufrieden bin und keinen Grund sehe, Sie zu verlieren.
THEODOR
lächelt und verneigt sich.

Ich werde demgemäß meine Maßregeln einleiten. Ich bin mit beiden Weiblichkeiten sehr vertraut aus langjähriger Bekanntschaft. Diese da – Er zeigt auf die Tür, durch welche Marie eben abgegangen ist. ist ein unglückliches Wesen, mit einer schönen geängstigten Seele. Diese werde ich direkt anspielen. Die andere Person werde ich von der Bande anspielen.

BARONIN.
Von der Bande? Was soll das heißen?
THEODOR.

Das sind Ausdrücke, vom Billardspiel entlehnt. Ich habe gedacht, daß sie allgemein bekannt sind. Die Melanie ist wie die meisten Frauenpersonen dumm und gescheit zugleich. Demgemäß habe ich ausgesprochen, daß man sie indirekt oder von der Bande anspielen muß. Zu dem Behuf habe ich schriftlich schon herausgegeben, daß diese junge Witwe, die Hermine, sich hier auf dem Schloß einfinden und aushilfsweise Damenbedienung übernehmen soll.

BARONIN.

Die Hermine? Ja, ich bin ganz einverstanden, aber ich habe gedacht, zwischen der und Ihnen stehts nicht ganz richtig?

THEODOR.

Ich habe ihr verziehen und dies in einem Brief zu erkennen gegeben. Sie wird demgemäß heute abend glücklich erscheinen und mir blind ergeben sein. Sie ist gleichzeitig in feinerer Damenbedienung eine ausgelernte Persönlichkeit.

BARONIN.
Meinetwegen. Und was soll ich tun?
THEODOR.

In keiner Weise das Allergeringste gar nicht, mit Ausnahme: mir in diskreter Weise freie Hand zu lassen.

BARONIN.
Ich beschwöre Sie, Theodor, ich weiß ja nicht, wo mir der Kopf steht.
THEODOR.

Ich bitte, jetzt keine Beschwörungen mehr anzuwenden, sondern lediglich ein einziges Wort später auszusprechen, [474] damit jedermann in diesem Hause weiß, woran er sich zu halten hat.

BARONIN.
Ich sprech gar nichts aus. Ich will gar nichts wissen. Was für ein Wort denn?
THEODOR.

Euer Gnaden werden ganz einfach sagen: »Und Sie, lieber Theodor, übernehmen jetzt wieder die Aufsicht über das Ganze.« Dies bitte ich auszusprechen, wenn das niedere Personal gegenwärtig sein wird.

BARONIN.
Aber ich hab doch gar nichts mit Ihnen verabredet!
THEODOR.

Sehr wohl. Darauf werde ich bestehen, daß es wörtlich ausgesprochen wird und in einer äußerst huldvollen Weise: »Und Sie, lieber Theodor, übernehmen jetzt wieder die Aufsicht über das Ganze.« Es wird für mich eine geheime unterirdische Bedeutung haben, die anzuhören meinen Ohren eine schmeichelhafte Genugtuung bereiten wird.


Sieht sie scharf an.
BARONIN.
Also, ich werd es sagen, ich werd es sagen –
15. Szene
Fünfzehnte Szene
GENERAL
erscheint.
Die Damen –

Anna und Melanie erscheinen auf der Terrasse. Hinter ihnen der Gärtner in grauer Jägerlivree, der Melanie eine kleine Tasche nachträgt.
Baronin geht ihnen entgegen.
Milli, die Jungfer, ist gleichfalls eingetreten.
MELANIE.
Es ist zu gut von Ihnen, Baronin, daß Sie mir erlaubt haben, zu Ihnen zu kommen.
ANNA.

Sie ist ganz frei. Ihr Mann fischt Forellen, und sie wird sehr lang bei uns bleiben. Ich freue mich riesig. Wir harmonieren schon wie zwei Zigeuner auf einem Pferd.


Baronin wirft unwillkürlich einen ängstlichen Blick auf Theodor.
Theodor erwidert den Blick mit einem überlegenen Lächeln.
DER KLEINE JAROMIR
kommt hereingelaufen.
Mami –
ANNA.
Das ist unser großer Bub, die Kleine zeig ich dir dann gleich!
[475]
BARONIN.

Und mein Sohn. Was sagen Sie zu dem ungeschickten Menschen? Er wollte Ihnen entgegen. Er muß den Feldweg genommen und bei der langen Hecke den Wagen übersehen haben.

ANNA.

Aber, Mama, du brauchst nicht schwindeln, sie kennt doch den Jaromir so gut, die Melanie versteht alles an ihm.

BARONIN.

Darf ich Ihnen das Turmzimmer zeigen, wo die Kinder durchaus gewünscht haben, Sie einzuquartieren. Ich hätte Ihnen ein bequemeres Appartement zugedacht.


Gebärde, sie zum Gehen einzuladen.
MELANIE
hat Theodor bemerkt.
Ah, Sie sind auch da, Franz! Nickt ihm zu.
BARONIN
schon im Abgehen, bleibt noch einmal stehen.

Theodor sieht sie scharf an. Unter seinem Blick sagt sie sehr nachdrücklich. Und Sie, lieber Theodor, übernehmen jetzt wieder die Aufsicht über das Ganze!


Die Damen gehen ab.
General folgt, nachdem er einen sehr befriedigten Blick auf Theodor geworfen hat.
THEODOR
zum zurückbleibenden Personal.

Antreten! Kurz und schnell befehlend. Das Personal stellt sich auf. Zum Kutscher. Pferde abreiten!Zum Küchenmädchen. Obers schlagen! Zur Jungfer. Kerzen aufs Zimmer! Zum Koch. Forellen besorgen! Zum Gärtner. Blumen auf die Zimmer! Zur Beschließerin. Verschwinden!


Alle eilen rasch ab.
Theodor geht stolz ab.
Vorhang.

2. Akt

1. Szene
Erste Szene
Die gleiche Dekoration.
Anna und der kleine Jaromir an einem Tisch links.

DER KLEINE JAROMIR.
Mami, wirst mich in Zirkus mitnehmen? Wann? Bis die Damen abgereist sind?
ANNA
stickend.
Ja.
DER KLEINE JAROMIR.
Mami, die Damen sollen schon abreisen!
ANNA
stickt und antwortet nicht.
DER KLEINE JAROMIR.

Sind sie zu dir oder zum Papi gekommen, die Damen? Hat der Papi sie herbestellt und haben sie kommen müssen? Mami, kann der Papi alles? Ja? Sag mir, was er nicht kann?

ANNA.
Seckier mich nicht!
DER KLEINE JAROMIR.
Sag mirs. Sag mir was einziges, was er nicht kann, der Papi!
ANNA.
Komm her, ich werd dirs sagen!

Der kleine Jaromir läuft zu ihr.
ANNA
sieht ihm ernsthaft ins Gesicht.
Eine Unwahrheit sagen, das kann der Papi nicht. Sie stickt weiter.
DER KLEINE JAROMIR
sieht nach hinten in den Park.
Mami, da kommt der Papi mit einer der Damen, mit der, die so gut riecht!
ANNA.
Geh hinauf zu der Baby und schau, ob sie schon auf ist, aber leise.
DER KLEINE JAROMIR.
Gehst du jetzt auch hin zu der Dame?
ANNA.
Geh, geh.

Kleiner Jaromir läuft über die Terrasse ins Haus.
Anna geht schnell nach rechts hinüber und verschwindet.

[477]
2. Szene
Zweite Szene
Jaromir und Melanie kommen aus dem Park.

MELANIE.

Hier ist jemand gesessen und bei unserem Näherkommen aufgestanden. Es war entweder die Marie Am Rain oder es war Ihre Frau. In jedem Fall ist das sehr sonderbar. Wenn man es harmlos auffaßt, daß zwei Menschen miteinander durch den Park gehen, so bleibt man sitzen, bis sie herangekommen sind.

JAROMIR.

Es war in gar keinem Fall die Marie, die hier gesessen und bei unserem Kommen aufgestanden ist. Es war unbedingt meine Frau.

MELANIE.

Warum soll es nicht Ihre Freundin Marie gewesen sein? Ich habe das deutliche Gefühl gehabt, daß es jemand ist, der uns in einer offensichtlichen Weise aus dem Weg geht!

JAROMIR.
Das kann nicht die Marie gewesen sein, es ist Schirokko.
MELANIE
sieht ihn an.
JAROMIR.
Sie hat an einem solchen Morgen unfehlbar Migräne und muß bis Mittag in ihrem Zimmer bleiben.
MELANIE.
Es geht doch fast kein Wind.
JAROMIR.

Es muß kein Wind gehen, wenn die Luft so glänzt, dann ist Schirokko. Dann sehen die Blumen und die Bäume schöner aus als je – – Übrigens auch die Frauen. Das Weiße in Ihren Augen hat einen ganz anderen Glanz, Näher. und die Perlen an so einem Hals nehmen einen feuchten Schmelz an, der unbegreiflich ist. Man weiß nicht, sind es die Perlen, die der Haut so gut stehen, oder umgekehrt. Noch näher. Und während viele Menschen in solcher Luft abgeschlagen sind und lauter traurige Gedanken haben, erweckt diese Luft in anderen, zum Beispiel in mir, ein unbeschreibliches Wohlgefühl und ich begreife mich selber nicht, das heißt, ich begreife mich sehr gut, aber ich begreife nicht, daß es überhaupt Zeiten gibt, Wochen, Monate, wo man die Geduld [478] hat, auf etwas zu warten, das sich in Wochen oder Monaten ereignen soll, während doch schon ein ganz unbegreifliches Maß von Geduld dazu gehört, sich zu sagen, daß man frühestens heute gegen Abend –

MELANIE
weicht ihm aus und sieht verstohlen überall hin, ob sie nicht beobachtet werden.

Ich glaube, Sie haben mich auf etwas aufmerksam gemacht, und ich gehöre zu den Menschen, die diese Luft eher auf unangenehme Gedanken bringt. Es war mir zum Beispiel gestern abend noch ganz gleichgiltig, daß Ihre Freundin Marie wieder hier ist. Aber heute ärgert es mich, daß diese blasse Märtyrerin überall dort auftaucht, wo ich Sie treffe.

JAROMIR.
Daß Sie voriges Jahr in Gebhartsstetten war, ist ein bloßer Zufall gewesen.
MELANIE.

Es gibt keine Zufälle. Ich hab mir auch gestern abend noch keine Gedanken darüber gemacht, daß Sie mir auf der Veranda unter dem Vorwand, mir die Plejaden zu zeigen, gesagt haben, daß Ihre arme kleine Frau bis heute nichts davon weiß, wie oft wir uns im April in Gebhartsstetten getroffen haben.

JAROMIR.
Es ist ganz überflüssig, daß sie es erfahren sollte.
MELANIE.

Aber heute erscheinen mir alle diese Dinge in einem höchst unangenehmen Zusammenhang. Auf diese Art bin ich ja von der Diskretion Ihrer schmachtenden Freundin abhängig.

JAROMIR.
Die gute Marie hat keine Ahnung von uns beiden.
MELANIE.

Ich finde dieses junge Mädchen unglaublich! Hat sie nicht genug mit der Publizität, die Ihr Roman ihr gegeben hat? Will sie sich noch ein bißchen mehr kompromittieren?

JAROMIR.

Sie ist ein Engel an Güte! Sie ist nicht imstande, irgend etwas, das von mir ausgeht, in dem häßlichen Licht zu sehen, in dem, wie es scheint, die Welt die Dinge sieht. Sie denkt nicht daran, in einer erfundenen, aus meiner Phantasie entsprungenen Figur sich wiederzuerkennen, und ist über alles Getratsch erhaben.

MELANIE.

Ich bin aber leider nicht Nachtwandlerin genug, um über die ganze Welt erhaben zu sein. Ich hoffe, daß das, was Sie schreiben, sich in keiner noch so entfernten Weise [479] mit mir befaßt. Jaromir, ich hoffe, Sie erinnern sich immer an das, was Sie mir im April in dieser Beziehung geschworen haben!


Theodor erscheint auf der Terrasse, macht sich dort zu schaffen, dann verschwindet er wieder.
Melanie, durch das Erscheinen Theodors irritiert, macht eine zornige Bewegung.
JAROMIR.

Du bist über alle Maßen reizend, wenn du zornig bist, und es ist außerdem von einer herrlichen Vorbedeutung.

MELANIE.
Was heißt das?
JAROMIR.

Immer waren die Vormittage so, auf die dann ein besonders entzückender Abend gefolgt ist. Denk an Gebhartsstetten, an das Aprilwetter, an die finstere Jagdhütte!

MELANIE.

Damals habe ich Angst gehabt, dich zu verlieren an diese unverschämte Amerikanerin, und zugleich Angst vor meinem Mann!

JAROMIR.

Ganz verfahrene Situationen sind deine Stärke! Dann wirst du absolut wunderbar! Deine Augen werden größer, deine Lippen verwandeln sich, deine Hände, dein Gesicht! Wer dich so nicht gesehen hat, hat keine Ahnung, wer du bist!

MELANIE.
Schwör mir, daß du damals nichts notiert hast!
JAROMIR.
Damals, in diesen himmlischen Minuten? Bist du denn närrisch, mein Schatz?
MELANIE.
Aber du könntest etwas notieren. Du wärst imstande, für einen Roman, eine Novelle!
JAROMIR.
Aber nein, niemals!
MELANIE.
Ach!
JAROMIR.
Was hast du?
MELANIE.
Dort hinter der Glastür, der Franz schaut auf uns!
JAROMIR.
Soll er! er hat uns oft genug miteinander gesehen.
MELANIE.

Warum geht Ihr Diener Franz immer dort hin und her? Früher hab ich ihn dort drüben im Gebüsch gesehen.

JAROMIR.
Mein Gott, er wird halt irgend etwas zu tun haben.
MELANIE.

Ich kenne ihn zu gut, Ihren Franz. Er hat nie etwas Harmloses zu tun, dazu war er zu lange in Ihren Diensten. Er ängstigt mich, er weiß zu viel von mir. Schicken Sie ihn für ein paar Tage fort von hier.

[480]
JAROMIR.
Das kann ich nicht. Er ist gar nicht mehr mein Diener, sondern der meiner Mutter.
MELANIE.

Haben Sie gesehen, wie er jetzt auf mich herabschaut? Ich fühle, er legt mir einen Hinterhalt, und ich werde ihm sicher hineinfallen. Ich habe heute nacht von ihm geträumt, ich weiß nicht mehr was, aber etwas Unangenehmes. Er ist zu sehr verknüpft mit allem Aufregenden, das ich um Ihretwillen erlebt habe. Ich sehe überhaupt nur mehr ihn, wenn ich mich an Sie erinnere.

JAROMIR.
Ich danke Ihnen sehr.
3. Szene
Dritte Szene
Hermine, mit einer Schreibmappe und einem Fußpolster, tritt aus dem Haus auf die Terrasse.
Theodor beobachtet sie streng, sozusagen dienstlich.
Hermine wird unter seinem Blick langsamer und tritt dann etwas unschlüssig die Stufen hinunter, sie schickt sich an, die Schreibsachen auf den Gartentisch links zu legen.

MELANIE.
Ach, das sind meine Schreibsachen, auf die ich gewartet habe. Ich danke Ihnen, meine Liebe.

Theodor macht Hermine ein Zeichen, daß sie den Fußpolster nicht richtig gelegt habe. Hermine gerät in Verwirrung. Theodor eilt hin, richtet den Fußpolster anders und winkt Hermine abzutreten.
MELANIE
tut einen Schritt gegen den Tisch.

Ich habe sehr das Bedürfnis, der Tinka einen langen Brief zu schreiben. Sie wissen doch, Baron Jaromir – Absichtlich laut. daß die Tinka Neuwall jetzt meine beste Freundin ist.

HERMINE
ist über die Terrasse abgegangen.

Theodor hat das Schreibzeug auf dem Tisch
geordnet, sich überzeugt, daß Fließpapier in der Mappe ist und zieht sich jetzt diskret zurück über die Terrasse.
MELANIE
nachdem sie sich überzeugt hat, daß sie jetzt wieder allein sind, in einem anderen Ton.

Wirklich, ich möchte ihr gerne [481] einen Brief schreiben, in dem ich ihr sage, daß ich zwar gerne hier bin und wir uns oft und gemütlich sehen, daß es uns aber entgegen ihren, Tinkas, pessimistischen Voraussagen ganz leicht wird, einen freundschaftlichen Verkehr in den Formen durchzuführen, deren Einhaltung ein Gebot der primitivsten Selbstachtung und Vorsicht ist.

JAROMIR.
Schreib diesen Brief, schreib ihn unbedingt. Leiser. Aber zuerst komm daher.
MELANIE
tritt unwillkürlich ihm näher.
JAROMIR.
Schau dort hinauf. Zeigt nach oben links.
MELANIE
schaut hinauf.
JAROMIR
dicht bei ihr, aber ohne sie zu berühren.
Siehst du dort droben das Fenster mit dem kleinen Balkon?
MELANIE.
Ist das das meinige?
JAROMIR.

Das ist das deinige, und dort drüben die Mansarde, das ist das meinige, und der kleine Weg zwischen beiden – dort, wo etwas Weißes liegt, jetzt hebts der Wind auf, ein Blatt Papier ist es – dort dicht unter der Turmwand, hart überm Rand der Dachrinne, dort ist der Weg, den ich heute nacht, wenn alle schlafen, zu dir komme!

MELANIE.
Schwör mir, daß du nie etwas von mir in einem Roman bringst. Oder es ist wirklich aus zwischen uns!
JAROMIR.
Was für Ideen du dir in den Kopf setzt!

Er faßt sie beim Handgelenk und will sie an sich ziehen.
MELANIE
den Kopf von ihm weggebogen, macht sich mit einem Ruck los, fährt zugleich mit beiden Händen an ihren Hals und ruft.
Meine Perlen! Mein Gott, gerissen!
JAROMIR.
Was ist denn?
MELANIE
die gerissene Schnur mit beiden Händen haltend.

Gerissen! Und ich hab sie erst vor zwei Jahren fassen lassen! Gehen Sie weg! Bleiben Sie stehen! Keinen Schritt! Sie können auf eine treten!Sie geht zum Tisch und legt vorsichtig die gerissene Schnur ab und fängt angstvoll an zu zählen.

JAROMIR.
Haben Sie alles?
[482]
MELANIE
zählend.

Das weiß ich doch noch nicht. Dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn, achtzehn ... Zu Jaromir. So gehen Sie doch fort von mir! Sehen Sie denn nicht dort drüben bei der großen Linde Ihre Mutter und den alten General, die wahrscheinlich schon alles gesehen haben? Zählt. Sechsundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig ... Zu Jaromir. So gehen Sie doch schon und sagen Sie Ihrer Mutter guten Morgen. Vierunddreißig – waren es vierunddreißig? Jetzt hab ich mich verzählt, mein Gott! Zu Jaromir. So gehen Sie doch schon!

JAROMIR
ist leise, mit vorsichtigen Tritten, auf den Boden schauend, abgegangen.
MELANIE.

Das auch noch. So alte Leute sind so entsetzlich weitsichtig. Zählt. Zehn, elf ... Das ist doch ein solches Unglückszeichen. Da bleibt einem doch vernünftigerweise nichts übrig als sofort abzureisen. Zählt leise weiter.

4. Szene
Vierte Szene
Theodor ist plötzlich erschienen.

MELANIE
zählt zu Ende.
Siebenundfünfzig, achtundfünfzig, neunundfünfzig ...
THEODOR.
Neunundfünfzig waren es schon immer. Es ist demgemäß alles in Ordnung!
MELANIE
erschrickt über seine plötzliche Nähe.
Haben Sie je meine Perlen in der Hand gehabt?
THEODOR.

In der Hand nicht, aber am Hals hab ich sie gezählt. Ich habe sehr gute Augen, unsereins muß manchmal in unbeachteter [483] Haltung warten, und da sucht man sich eine Beschäftigung.

MELANIE
ordnet etwas an ihrem Kleid.
THEODOR.

Auch ich habe wahrgenommen, daß die Kleider nicht ordentlich gepackt waren, ich habe demgemäß der dienenden Person Befehle gegeben, die Toiletten ordentlich zu bügeln und instand zu setzen.

MELANIE.
Ich danke Ihnen, Franz.
THEODOR.

Das ist meine Schuldigkeit. Ferner wäre dieses: Euer Gnaden haben, höre ich, befohlen, daß die Koffer auf den Boden geschafft werden. Es wäre allerdings für einen längeren Aufenthalt das Richtige. Im anderen Falle wäre es vielleicht ratsamer, die Koffer ganz in der Nähe zu haben.

MELANIE
unsicher.
Ich habe die Absicht gehabt, eine Woche oder zehn Tage hierzubleiben.
THEODOR
mit einem eigentümlichen Lächeln.
Wenn Euer Gnaden allen zum Trotz diese Absicht werden durchführen wollen –
MELANIE.
Was meinen Sie mit »allen zum Trotz«?
THEODOR.
Ich meine eine Unbequemlichkeit, der eine unbegleitete Dame in einem fremden Haus ausgesetzt ist!
MELANIE.
Was wollen Sie damit sagen? Was für Unbequemlichkeit?
THEODOR
immer mit dem gleichen ominösen Lächeln.

Beispielsweise die Dachreparatur am heutigen Nachmittag. Wie sollen sich da Euer Gnaden in gebührender Weise zurückziehen, Siesta abhalten, wenn da gehämmert wird, unmittelbar unter dem Fenster. Das sind sehr peinliche Sachen.

MELANIE.
Das Dach wird repariert?
THEODOR
wieder mit diesem Lächeln.

Natürlich, man könnte es noch aufschieben. Aber wenn beispielsweise heute nacht ein Wind käme, da sind solche Gitterteile am Blech, die klappern, daß kein Mensch ein Auge zumachen kann da droben, und gerade da zwischen Euer Gnaden Ihrem Fenster und Herrn Baron seinem nächtlichen Arbeitszimmer. Freilich, wenn kein Wind ist, da müßte schon gerade jemand herumlaufen, bereits wie ein Somnambuler, damit es zu einem Klappern käme. Aber wer sollte bei uns solche Exkursionen unternehmen? Wer, frage ich? [484] Er sieht Melanie scharf an, dann abspringend. Aber es ist eben bei uns sehr windig. Da droben ist eine Zugluft, bereits wie auf einem Berggipfel. Ich bitte nur gütigst zu sehen, da fliegen ja etliche Papierbogen gerade herum wie die Hexen. Das ist mir sehr peinlich, daß ich das wahrnehme. Das könnten nämlich sehr gut lose Blätter aus dem Herrn seinem Tagebuch sein, – diese sogenannten Notizblätter, aus denen er dann seine Romane zusammensetzt. Da bin ich sehr aufgeregt, denn das sind große Diskretionssachen. Er nennt nämlich in diesen Notizen immer alles sehr stark beim Namen, das darf in keine gemeinen Hände fallen!

MELANIE.
Wo sehen Sie solche gräßlichen Blätter herumfliegen?
THEODOR.

Da droben! Aber da können Euer Gnaden nicht wissen, wie mich das aufregt. Für Euer Gnaden hat das keine Bedeutung, ob so was in unrechte Hände kommt, aber für mich, der ich in diesem Haus die Verantwortung trage für alles – –

MELANIE.

So gehen Sie doch, laufen Sie hinauf und bringen Sie diese Blätter auf die Seite. Da sehen Sie nur, jetzt trägt der Wind eins davon. Da hängts an der Dachrinne. Das ist ja – ich geh mit Ihnen, ich helfe Ihnen.

THEODOR
bemerkt den General, der im Hintergrund erschienen ist.

Ich werde gleich hinaufeilen. Aber Euer Gnaden werden begrüßt vom Herrn General. Bitte sich demgemäß umzudrehen.

5. Szene
Fünfte Szene
General mit einem Strohhut, grüßt, bleibt im Hintergrund auf einer Stufe der Terrasse stehen.
Melanie geht zu ihm nach einem Moment der Verlegenheit und einem verzweifelten Wink nach dem Dach hin.

GENERAL.
Die Baronin wünscht, Ihnen ihre Lieblingsblume zu zeigen! [485] Mit Melanie ab.

Theodor sieht ihnen nach, schaut dann mit befriedigtem Ausdruck nach oben in der früheren Richtung. Ab.
6. Szene
Sechste Szene
Marie tritt links aus dem Haus und hält ein Buch unterm Arm. Anna ist im gleichen Augenblick aus der Orangerie herausgetreten. Beide erschrecken und haben eine gewisse Mühe, unbefangen zu erscheinen, Anna ist blaß und verändert.

MARIE.

Oh, Sie sinds! Man sieht so schlecht gegen die Sonne. Ich habe geglaubt, das ist die Melanie Galattis.

ANNA.

Das war auch meine Idee, wie ich Schritte und ein Kleid gehört habe. Ich war drin und hab etwas gesucht. Die Kinder haben einen Ball verworfen!

MARIE.

So werde ich Ihnen suchen helfen. Kleine verlegene Pause. Sie sind hier gesessen. Ich sehe, daß Ihre Sachen da liegen. Darf ich mich ein bißchen zu Ihnen setzen?

ANNA.
Ich seh Ihnen doch an, daß Sie haben wollen allein sein mit Ihrem Buch, nein?
MARIE
lächelnd.
Gar nicht! Setzen wir uns her!
ANNA.
Aber dann hierher, Zögernd. das sind der Melanie Galattis ihre Schreibsachen.
MARIE
tritt schnell weg vom Tisch.
Oh, dann nicht!
ANNA.
Ach, da sind Sie gar nicht so intime Freundinnen?
MARIE.
Ich habe keine intime Freundin.

Ihre Miene hat sich verändert.
ANNA
schnell und zart.

Sie brauchen mir nichts zu sagen. Ich weiß, Sie haben Ihren Vater! Mein Vater war auch mein bester Freund, er hat mich dem Jaromir gegeben.

MARIE
sieht sie freundlich an und lächelt traurig.
So?
ANNA.
Nein, Sie sind nicht zu fürchten.
MARIE
sieht sie groß an.
Ich, ach mein Gott!

Beide lachen.
[486]
ANNA
wirft einen Blick nach hinten in den Park.
Da kommt die Melanie, ich muß ihr guten Morgen sagen.
STIMME DES KLEINEN JAROMIR.
Mami, so komm doch schon!
ANNA.
Und da rufen mich auch meine Kinder.
MARIE.
Zeigen Sie mir Ihre Kinder.
ANNA.
Also gehen wir schnell hinein!
MARIE.
Ja, schnell.

Sie verschwinden links ins Haus.
7. Szene
Siebente Szene
Hermine kommt über die Terrasse heran. Sie scheint Melanie zu suchen.
Theodor erscheint, tut, als bemerke er Hermine nicht.

HERMINE.
Herr Theodor, sind die gnädige Frau nicht mehr hier?
THEODOR
beachtet sie nicht.
HERMINE.
Sind die gnädige Frau vielleicht auf ihr Zimmer gegangen?
THEODOR
vertieft sich in die Betrachtung eines blühenden Strauches.
HERMINE
etwas unsicher.
Herr Theodor –
THEODOR
als bemerke er sie erst jetzt.
Ach, Sie wagen sich hierher? Sie riskieren, mir unter meine Augen zu gehen?
HERMINE
näher bei ihm.
Ich hab geglaubt, daß du jetzt wieder gut bist auf mich?
THEODOR.
Wieso haben Sie das geglaubt?
HERMINE.
Du hast doch oben im Zimmer ganz freundlich auf mich geredet!
THEODOR
geringschätzig.

Ich habe dienstlich an Sie die nötigen Worte gerichtet und damit war basta. Das lassen Sie sich gesagt sein, Sie Hermine. Mit meiner Empfindung spaßt man nicht.

HERMINE.

Ich hab halt geglaubt, wie du mir geschrieben hast, ich soll wiederkommen aufs Schloß, daß damit zwischen uns alles wieder so ist wie früher.

[487]
THEODOR
macht sich mit den Pflanzen zu schaffen, ordnet den Tisch und tut, als wäre er allein.
HERMINE
zornig und dem Weinen nahe.
So darfst du mit mir nicht umgehen!
THEODOR
blitzschnell.

Ich habe etwas von Nichtdürfen vernommen. Näher bei ihr mit einem erschreckenden Blick. Wer darf hier dürfen? Aber halt, was seh ich denn da fliegen? Diese Papiere da, das kommt doch von dort droben, von den Zimmern, die Ihnen anvertraut sind!

HERMINE.
Das sind gewiß die Papiere, die auf dem Schreibtisch gelegen sind.
THEODOR.
Auf was für einem Schreibtisch?
HERMINE.
Ich glaub, dem Herrn seinem Schreibtisch, den wir miteinander abgestaubt haben.
THEODOR
empört.

Was, miteinander? miteinander?Scharf. Sie haben abgestaubt, und ich habe beaufsichtigt. Leiser. Und da stehst du so ruhig? Davon redest du so bagatellmäßig? Ja, auf wen fällt denn das zurück?

HERMINE.

Aber ich hab doch gesagt, hier ist so eine Zugluft, da werden gewiß die Schreibereien beim Fenster hinausfliegen, und darauf hast du das zweite Fenster noch aufgemacht!

THEODOR.

Was? du schaust ja aus wie eine, die ausschaut, als wenn sie mir ins Gesicht eine Frechheit behaupten wollte. Ich hätte den Schwerstein weggelegt, das behauptest du? Das bringst du aus deinem Mund heraus?

HERMINE.

Kein Wort habe ich vom Schwerstein gesagt! Den können Sie weggelegt haben oder nicht weggelegt haben, oder nicht weggelegt haben oder doch weggelegt!

THEODOR
sehr drohend.
Ich kann den Schwerstein weggelegt haben? Das! das wagst du mir ins Gesicht zu flüstern?
HERMINE.
Sie verdrehen ja einem das Wort im Mund!
THEODOR.

Ich verdrehe? Da! Es fliegen hinten noch einige Blätter schief durch die Luft. [488] Ja, so rühren Sie sich! Ihnen anvertraute Sachen fliegen zwischen Himmel und Erde herum!

HERMINE
hascht einige Blätter.
THEODOR.

Dort liegt noch eins! Bewegen Sie sich ein bißchen flinker. Es geht jetzt um etwas anderes als um eine Schlosserliebschaft.

HERMINE
bückt sich.
THEODOR.
Und jetzt hinauf damit! Aber halt! Wissen Sie denn, auf welchen Schreibtisch diese Sachen gehören?
HERMINE.
Ja, am Herrn Baron seinen!
THEODOR.

So, und wissen Sie nicht, ob es nicht Korrespondenzen von der Dame darunter sind? Auch dieses Fenster steht nämlich offen, und bei der Unordentlichkeit, mit der Sie Schreibsachen aufräumen, können sehr wohl aus dem Fenster der Dame Papiere ausgeflogen sein. Da müssen Sie sich sehr in acht nehmen.

HERMINE
zornig und dem Weinen nahe.
Ja, was soll ich denn jetzt tun mit die Fetzen?
THEODOR.

Was, Fetzen? Sprechen Sie zu mir in einer ordentlichen dienstlichen Haltung! Benehmen Sie sich! Gehen Sie ein bißchen in sich!

HERMINE
weint.
Du redest ja, als wenn ich dir eine fremde Person wäre!
THEODOR
wild.

Schluß, Schlosserliebchen! Du bist für mich abgeschlossen! Zu einer Herrschaftsbedienung unter meiner Aufsicht gehört eben etwas anderes als eine Liebschaft mit einem ordinären, notorischen Schlosser! Also, jetzt bringen Sie die Sache in Ordnung! Es wäre gescheiter für Sie, es wüßte niemand, daß so diskrete Schriftsachen in Ihrer Hand gewesen sind. Legen Sie es in eine Mappe. Je schneller Sie so etwas aus den Fingern kriegen, desto besser ist es, das rate ich Ihnen im Guten! – Aber nicht hierher, – aufs Zimmer! Er spricht die letzten Worte von der Terrasse und verschwindet dann blitzschnell im Haus. Sie Infusorie! Ab.


Vorhang.

3. Akt

1. Szene
Erste Szene
Dekoration wie im ersten und zweiten Akt.
Marie sitzt in der Laube und verbirgt, da sie Schritte hört, ein Blatt Papier, worauf sie mit einer Füllfeder geschrieben hat, in einem Buch. Dann steht sie auf und verschwindet nach rechts. Anna kommt mit dem kleinen Jaromir die Treppe herunter.

DER KLEINE JAROMIR.
Mami, wann wirst du mich in den Zirkus mitnehmen?
ANNA
gibt keine Antwort.
DER KLEINE JAROMIR.

Wer hat dem Elefanten alles angeschafft? was er tun muß? Sein Wärter? Sag, Mami, darf er ihm alles anschaffen? Warum, weil er ihn dressiert hat?

ANNA
nickt zerstreut vor sich hin.
DER KLEINE JAROMIR.
Gelt, Mami.
ANNA.
Ja.
DER KLEINE JAROMIR.
Und dir darf der Papi alles anschaffen? Hat er dich auch dressiert?
ANNA
rüttelt sich auf.
Geh, sei still, Bubi!
DER KLEINE JAROMIR.
Mami, da sitzt die Marie und liest.
ANNA.
Komm, Bubi.
DER KLEINE JAROMIR
im Abgehen.
Mami, wann wirst du mich in den Zirkus mitnehmen und auf dem Elefanten reiten lassen?

Sind nach links abgegangen.
2. Szene
Zweite Szene
MARIE
kommt wieder, setzt sich auf ihren früheren Platz.

Sie nimmt das Blatt Papier wieder hervor und will weiterschreiben, läßt es wieder sein, sie sieht nach ihrer Armbanduhr, sieht auf, vom Warten gequält, späht nach oben ins Haus. Jetzt werd ich bis zwanzig zählen – und dann wird er bei mir sein. [490] Sie schließt die Augen. Eine Pause. Schlägt die Augen wieder auf, ringt die Hände, flüstert vor sich hin. Ich hätte nicht hierherkommen dürfen, ich hätte nicht hierherkommen dürfen!

3. Szene
Dritte Szene
Theodor kommt lautlos die Treppe herab und geht leise und schnell vor sie hin.

MARIE
erschrickt.
Sie, Franz? Faßt sich. Haben Sie etwas für mich?
THEODOR.
Habe ich Sie erschreckt? Oh, da bitte ich Euer Gnaden um Verzeihung.
MARIE.
Ich habe geglaubt, ein Brief, eine Nachricht für mich! Ich weiß nicht, ich bin so erschrocken.
THEODOR.

Das kann ich begreifen. Sie haben durch seine Briefe sehr viel ausgestanden – und ich war der Überbringer! Schon mein Gesicht muß Ihnen unangenehm sein.

MARIE
ängstlich.
Franz, haben Sie einen Auftrag an mich?
THEODOR.

Meinen vielleicht wieder einen solchen wie am siebzehnten April vor fünf Jahren, wo Sie in meine Arme hineingefallen sind bereits wie eine Tote? Nach einer Pause. Nein. Aber – ich erlaube mir zu bemerken, Euer Gnaden hätten nicht hierherkommen sollen.

MARIE
vor sich.
Da liegt der Brief, in dem ich es ausspreche.
THEODOR.

Sie müssen dem Herrn Vater Aufregungen ersparen. Ich habe ihn in der Stadt gehen sehen, so vor ein paar Wochen. – Ich verstehe mich auf Gesichter –

MARIE
nickt.
THEODOR.

Soll das Spiel vielleicht von neuem angehen, nach einer bereits fünfjährigen Pause? – – Der Anfang war doch bereits genau so. Ich erlaube mir zu erinnern: er hat Sie wollen einem anderen abjagen, der sehr große Liebe für Sie gehabt hat! Sie sind in ahnungsloser Angst vor ihm geflüchtet![491] Leise, aber sehr entschieden. Ich habe Ihre Spur gefunden und ihm Nase darauf geführt und er mit seiner Zungenfertigkeit ohne Herz und ohne Seele hat Sie beredet und erstes folgenschweres Wiedersehen durchgesetzt!

MARIE
seufzt.
THEODOR.

Damals war es nicht möglich – – aber heute ist es möglich, Ihnen einen Rettungsanker zu überreichen. – – Sie sind mit einem schlechten Gewissen gekommen. Mit einer Unwahrheit gegen Ihren Herrn Vater!

MARIE.
Franz, was erlauben Sie sich denn!
THEODOR
zieht schnell einen Brief aus der Tasche, aus einer anderen eine kleine silberne Platte und übergibt ihr den Brief am Ende des folgenden Satzes.

Ich entnehme das, indem der Herr Vater seinen täglich pünktlich besorgten Brief auf einem Umweg schickt! Haben ihm Adresse angegeben wo bis gestern waren, dieser Ausflug hierher ist ihm unbekannt geblieben.

MARIE
ist aufgestanden.
THEODOR.

Oh – – also der Vater sitzt jetzt zu Hause – und sein kränkliches Herz, das weiß ich doch, ist angefüllt mit Sorge um sein einziges Kind. Da denkt er sich jetzt die freundliche Zukunft von seiner verräterischen Tochter aus, als Gemahlin eines rechtschaffenen Menschen, wenn er einmal nicht mehr da sein wird. Ist das vielleicht eine Kleinigkeit, ein Vater, der dort sitzt an einem Fensterplatz, wo er vielleicht nicht mehr lange sitzen wird – und hinausschaut durchs Vorgartl auf die Straße – ob vielleicht eine gewisse Fräulein schon bald nach Hause kommt, die sein Alles ist? Aber diese Dame ist auf Abwegen befindlich und Vater schaut sich umsonst die Augen aus –

MARIE
steckt den Brief zu sich, rafft ihre Sachen zusammen.
THEODOR.

Ja, ja wirklich! Sie müssen fortgehen! Aber nicht nur von dieser Terrasse, den ganzen Aufenthalt müssen Sie abbrechen – augenblicklich!

MARIE.
Ja, ich habe schon ohnehin fort wollen. Ich werde alles – – schreiben.
THEODOR.

Ah, Briefel, damit er wieder Briefel schreibt. O [492] nein! Ohne Briefel! Sie sind doch keine Madame Melanie! Er kann ja nicht leben, scheint es, wenn er nicht zwischen Ihnen beiden abwechselt. Dieses doppelte Gespiel hat ja einen ausprobierten Reiz für ihn.

MARIE
mit der letzten Kraft.

Das ist eine boshafte Lüge! Ein Zufall, an dem ich schuld bin! daß diese Dame und ich gleichzeitig hier sind!

THEODOR
lächelnd.

Oh, Sie sind ein guter auf sich nehmender Engel. Leiser. Er ist doch Ihr Feind! Hat er Sie nicht an Gott und der Welt verzweifelt gemacht? Sagen Sie es!

MARIE.
Woher wissen Sie diese Dinge?
THEODOR.

Das wird schwer zu wissen sein! Er wird jetzt kommen. Treten Sie vor ihn hin und machen Sie sich frei von ihm auf ewig, sagen Sie ihm, daß Sie aufgerufen sind, Ihr Herr Vater ist weniger wohl, werden Sie sagen! Es ist telephoniert worden, werden Sie sagen, und ich habe soeben Ihnen diese Nachricht gemeldet!

MARIE.
Was wird er sagen, wenn ich plötzlich wieder abreise?
THEODOR.
Was immer er sagen wird, es wird keine Wahrheit sein!
MARIE.
Ich kann ihm nicht weh tun!
THEODOR
leise, aber eindringlich.

Aber dem Vater, ja! Er geht über die Stufen auf die Terrasse, kurz. Also demgemäß Abreise neun Uhr fünfzehn und einpacken! Er verneigt sich, geht schnell ab.

4. Szene
Vierte Szene
Jaromir tritt auf, einen Fliederzweig in der Hand.

MARIE
schnell, allem was er sagen könnte zuvorkommend.
Ich muß fort, heute noch! Etwas unsicherer im Ton, hastig. Mein Vater ist weniger wohl.
[493]
JAROMIR.
Sie haben eine Nachricht? Wann? Durch wen?
MARIE
mühsam.
Ihr Diener Franz! Es ist telephoniert worden.
JAROMIR.
Marie?
MARIE
hat ihre Sachen im Arm.
Ich will fort! Ich muß fort!
JAROMIR.
Marie!
MARIE.

Nicht heftig sein, Jaromir! Nicht mir verderben diesen einen schönen letzten Tag! Ich war hier. – Ich habe diese Luft geatmet, Ihre Kinder gesehen. Ich habe in Ihrem Hause gewohnt, bin in Ihrem Garten gesessen!

JAROMIR
näher.

Marie! Du hast mich noch lieb! Sonst wärest du nicht gekommen! Du kannst nicht aufhören, zu mir zu gehören!

MARIE
ohne ihn anzusehen.
Ich will fort! Ich muß fort!
JAROMIR.
Oh! Du bist eifersüchtig!
MARIE
schüttelt mit schmerzlichem Lächeln den Kopf.
JAROMIR.

Auf die Melanie? – Dir zulieb hab ich sie eingeladen. Dir zulieb! – Ich weiß, in dir sitzt diese Angst, daß du mich belasten könntest. Du willst meinen Tag nicht ganz! – Für dich habe ich das alles so eingeteilt und jetzt willst du mich im Stich lassen!

MARIE.
Ich habe es vor meinem Vater verheimlicht, vor allen Menschen gelogen! Ich muß fort.

Sie tritt eine Stufe höher.
JAROMIR.

Bist du eine Egoistin geworden? Du, Marie? Du weißt doch, bis zu welchem Grade, Marie, ich mich einfach selbst verlier, wenn mich nur der Verdacht anweht, daß das Leben – der unbeschreibliche, unbegreifliche Fonds der Existenz selbst – daß das mir versagen könnte! Begreifst du denn nicht, daß du mich nicht im Stich lassen darfst!?

MARIE
auf der obersten Stufe.
Was Sie brauchen, wird Ihre Frau Ihnen geben – – Ihre Kinder – – Aber ich muß fort.
JAROMIR.

Das sind Ausflüchte! Sprechen wir nicht von mir, sprechen wir ernstlich von dir. Was war denn der Inhalt deiner Existenz?

MARIE
schon weggewandt.
Ja, ja, aber ich muß fort!
JAROMIR.
Du bist auf meine Frau eifersüchtig! Ist es möglich?
MARIE.

Ich segne Ihre Ehe. Ich segne alles, was Sie umgibt – wenn Sie mich nicht hindern fortzugehen. Mögen Ihre Kinder lieben und geliebt werden!

[494]
JAROMIR
sieht, daß er sie verloren geben muß.
Marie –
MARIE.
Geben Sie Ihrer Frau alles, was Sie zu geben vermögen. – Mir nichts mehr. Kein Wort! Keinen Brief!
JAROMIR.
Mit was für Augen schaust du denn auf mich!
MARIE
schon im Verschwinden.
Adieu, für immer. Adieu!
5. Szene
Fünfte Szene
Theodor erscheint wieder, kommt über die Treppe.

JAROMIR
ratlos.
Das Fräulein Marie will plötzlich abreisen. Sie ist ganz verstört durch eine Nachricht.
THEODOR.

Sehr wohl! Ich habe schon demgemäß im Stall angeordnet. Er sieht sich um, ob Marie wirklich fort ist. Ich habe befohlen, Blumen in den Wagen zu legen, ein großes Bukett dunkelroter Rosen, so wie in früheren Zeiten. Sieht sich um. Ah, da hat sie ihre kleine Tasche vergessen!


Geht hin.
JAROMIR
spricht für sich.

Man bildet sich ein, von einer zu wissen, daß sie auch in der letzten Faser ihres Herzens keine Egoistin ist und einen nicht jeder Regung ihrer Laune oder ihrer schlechten Nerven aufopfert!

THEODOR
rechts, indem er das Täschchen hält, für sich.
In seiner ganzen Verlassenheit und Schwäche hat so ein Mädchen doch so eine heldenmütige Stärke –
JAROMIR
ebenso.
– und irgendein zufälliger Anstoß kommt und belehrt uns eines Besseren!
THEODOR
ebenso.

Da müßte man doch, wenn man ein Herz im Leibe hätte, jeden Seufzer und jede Träne sammeln in einem Körbchen aus Birkenrinde!

JAROMIR
zu Theodor, in einem anderen Ton.

Den Wagen haben Sie bestellt? Ja, warum denn alles so überstürzt? Warum denn alles in der Mama ihrem militärischen Tempo? Franz! Vielleicht wird doch das Fräulein ihre Abreise noch verschieben.

[495]
THEODOR
fast wie wenn er allein wäre.
Die bleibt nicht mehr hier! Die habe ich demgemäß direkt in Gang gebracht!
JAROMIR.
Wie, was sagen Sie?
THEODOR
nimmt sich zusammen, kann aber seinen Triumph nicht ganz unterdrücken.

Ich habe demgemäß die Abreise anbefohlen, wollt ich sagen, direkt im Stall anbefohlen, weil keine Aussicht war, das gnädige Fräulein durch meine noch so inständigen Zureden zurückzuhalten ... Geht schnell ins Haus ab mit dem Täschchen.

JAROMIR.
Darüber könnte man melancholisch werden. Ab.
6. Szene
Sechste Szene
MELANIE
erscheint auf der Terrasse.
Sie geht über die Stufen rechts. Franz!
THEODOR
erscheint.
MELANIE.
Franz!
THEODOR.
Sehr wohl!
MELANIE.

Ich habe Sie hergerufen, weil Sie der einzige hier vom Personal sind, der mich kennt und den ich kenne!

THEODOR.
Sehr wohl!
MELANIE.

Ich fühle mich nicht ganz wohl, aber ich wünsche nicht, daß zu den Herrschaften darüber gesprochen wird!

THEODOR.
Befehlen, daß in der Stille Abreise vorbereitet wird?
MELANIE.
Das ist gewiß nicht notwendig. Es ist ein Zustand, der wechselt!
THEODOR.
Befehlen, daß Doktor geholt wird?
MELANIE.

Nein, ich möchte nur für alle Fälle meine Jungfer hier haben, verstehen Sie mich? Trachten Sie eine Verbindung mit Waldsee zu bekommen, ich werde selbst sprechen.

THEODOR.

Verbindung kommt gewöhnlich, während Herrschaften bei Tisch sind. Dürfte ich vielleicht um Auftrag bitten?

MELANIE.

Sie soll herkommen, mit dem Nachmittagszug [496] oder per Auto. Wie immer, ich will, daß sie um elf Uhr abends spätestens hier ist!

THEODOR.
Ich werde mit allem Nachdruck so ausrichten.
MELANIE.
Ich danke Ihnen, da ist eine Kleinigkeit für Ihre Mühe.

Sie reicht ihm eine zusammengefaltete Banknote, die sie aus einem Seitenfach der Mappe zieht.
THEODOR
nimmt das Geld, indem er sich verneigt und Miene macht abzutreten.
MELANIE.
Noch etwas!
THEODOR.
Befehlen?
MELANIE.

Es könnte sein, daß mir gegen Abend besser ist! Dann kann die Jungfer irgendwo im Hause untergebracht werden. Aber es könnte sehr leicht sein, daß mir ängstlich ist, verstehen Sie mich?

THEODOR.
In diesem Falle müßte man im Toilettenzimmer neben Euer Gnaden eine Ottomane aufstellen.
MELANIE.

Sehr gut! Aber ich möchte nicht, daß im Hause davon herumgeredet wird. Es ist ja für alle anderen uninteressant.

THEODOR.
Ich werde alles persönlich in der Stille besorgen!
MELANIE
nickt ihm zu und geht über die Terrasse ins Haus.
THEODOR.

O nein, meine liebe Melanie, die Jungfer wird nicht herkommen, sondern du wirst abreisen, heute abend! So eine wie du, die werde ich doch noch mürbe kriegen! Du bist doch eine Gewöhnlichkeit! Dich schmeiß ich doch um mit dem ersten Anblasen. Er fährt nach seiner Westentasche. Ah, da habe ich ja Fieberthermometer bei der Hand, da kann ich deine Temperatur ablesen. Er hält die Banknote in der noch geschlossenen Hand empor, als wollte er zwischen den Fingern hineinblinzeln. Kenn ich dich vielleicht nicht? Für gewöhnlich bist du eine gewöhnliche Personnage. Aber wenn du eine Angst kriegst, dann schmeißt du um mit dem Geld, damit du dich herausziehst. Da werden wir sehen, ist es nur eine Zwanziger-Note, da müssen wir dich noch eine Weile hupfen lassen, da müssen deine Nerven noch ein paar Überraschungen erleben! [497] Ist es ein Fünfziger, so ists Spiel schon halb gewonnen! Er öffnet ein wenig die Hand und blickt hinein. Was, ein Hunderter!? O du heiliger Stanislaus, du fährst heute ab, um neun Uhr fünfzehn! Über dich komm ich ja wie ein Wirbelwind!Tanzt ab.


Vorhang.

4. Akt

1. Szene
Erste Szene
MELANIE
sieht gebückt in einen Stoß beschriebener Blätter, in denen sie liest.

Natürlich bin ich das. Es schwimmt mir vor den Augen. »M – M – M« das bin ich. – »Begegnung im Walde« – »Eine Jagdhütte« – »Ein Aprilwetter« – »Suchende im Walde mit Fackeln« – »Der Ehemann, der nachfährt«. – Er nennt ihn Gustav. Was nützt das, wenn sonst alle Details stimmen? Kommt jemand? Sie wirft ein Peignoir über das Paket, nachdem sie die Blätter schnell geordnet hat, läuft an den Spiegel, richtet sich. Ein Schatten an der Balkontür von außen. Jaromir, was fällt Ihnen ein, durchs Fenster zu kommen! Wie können Sie –

THEODOR
durchs Fenster herein, indem er die angelehnte Glastür von außen nach innen öffnet.
MELANIE.
Ah, Sie sinds, Franz?
THEODOR.

Ich bitte untertänigst um Vergebung. Ich habe in Eile schnellsten Weg genommen, um zu melden wegen der Jungfer. Ich habe mit großer Mühe Verbindung bekommen –

MELANIE.
Sie kommt also –
THEODOR.
Leider – nein! – Es ist dort etwas dazwischengekommen.
MELANIE.
Ja, was denn? Sie hätten nichts dazwischenkommen lassen dürfen! – Ich will nicht allein bleiben!
[499]
THEODOR.

Wenn ich melden dürfte? Ich habe die Jungfer an Telephon rufen lassen, sie läßt Hände küssen und läßt melden, sie könnte nicht abkommen, weil unversehens die Damen Galattis oder so etwas – angekommen sind.

MELANIE.
Meine Schwägerinnen in Waldsee?
THEODOR.

Unversehens zurück aus Mähren – – und da hat die Jungfer heiklige Bedienung übernehmen müssen und da ist sie der Meinung, Euer Gnaden selbst, wenn das gewußt hätten, hätten demgemäß unbedingt befohlen dort zu bleiben – – und dem hab ich beigestimmt – weil ich doch weiß, was das für Spioninnen sind, diese beiden teilweise unverheirateten, teilweise verwitweten Frauenspersonen. Habe ich denn vergessen, was uns diese so vor vier Jahren dort an der Riviera für eine Hetze angezettelt haben!

MELANIE.
Ah, diese fürchterliche Geschichte im Eden-Hotel in Nervi, die wissen Sie noch!
THEODOR.

Vergesse ich denn so etwas – – bin ich denn ein solcher Hudri Wudri, ein oberflächlicher, daß ich solche Schreckenstage von meiner Seele abbeuteln könnte wie ein Hund die Flöhe? – Sehe ich denn Euer Gnaden nicht dastehen bereits wie eine verlorene Person – wo? In meinem geistigen Auge! Von damals rede ich, wie diese beiden Schwägerinnen uns nachgereist sind und unversehens dagestanden sind in Hotelhalle! – Und der Herr Gemahl, ist mit ihm zu spaßen? Ist das ein angenehmer Gegner? Täte der ein Erbarmen kennen, wenn noch diese beiden Furien ins Feuer blasen, heute wie damals?

MELANIE
will etwas sagen.
Er läßt sie nicht.
THEODOR.

Und die sind zähe Rabenviecher, diese Intrigantinnen! Nicht einmal unsere Verehelichung hat ihnen ganz ihr Mißtrauen eingeschläfert! Und wenn die den kleinsten Anhaltspunkt wiederum bekämen – so ein Dokument – so irgendwelche Inflagrantisachen – so wie damals die Photographien, die der Haderlump, dieser Zimmerkellner, aufgenommen von Eurer Gnaden und meinem Herrn Baron in einem Mondschein sehr nahe beisammen.

MELANIE.
Wieso erinnern Sie sich denn an das! Das ist doch gräßlich, daß Sie das noch wissen!
[500]
THEODOR
sehr ernst.

Ich erinnere mich an alles. Deswegen braucht man sich vor mir in keiner Weise zu schämen. Es gibt Individuen, die interessiert nichts, als die eigene Person. Zu dieser Sorte gehöre ich nicht. – Ich bin es – nebenbei – gewesen, der diesem Haderlumpen die Platte abgekauft hat, und damit ist Beweisstück aus den Händen geräumt gewesen und die Schwägerinnen sind abgezogen als unbeweisbare Verleumderinnen und haben gekocht vor Gift und Galle – Im Zimmer umher Ordnung machend. Ich werde dieser bedienenden Person einschärfen, öfter unter Tags aufzuräumen. Sie scheint nicht zu wissen, was Damenbedienung ist. Er hebt das Peignoir auf und entdeckt das Manuskript. Ah, das ist aber! Ja, wie kommt denn das daher! Ah da trifft mich der Schlag!

MELANIE.
Sie kennen diese Schriften?
THEODOR.

Ja, was ist denn das? Je, wie käme denn das daher! Ob ich das kenne? Das ist doch der neue Roman. Ich habe doch alles miterlebt! Es sind natürlich Ungenauigkeiten darin. Er hat ein schwaches Gedächtnis. Geringschätzig. Gelegentlich frägt er mich um etwas: und das ist dann demgemäß die einzelne Sache, auf die gerade alles ankommt. – Er blättert. Aber da bin ich demgemäß sehr überrascht. Hat also Aussprache darüber Er zeigt auf das Manuskript. stattgefunden und haben in schwacher Stunde Zustimmung gegeben?

MELANIE.
Ich? Gott im Himmel!

Sie zerknüllt ihr Taschentuch zwischen den Händen.
THEODOR.

Aber das ist, halten zu Gnaden, nicht ungefährlich. Käme das diesen Schwägerinnen in die Hände, die möchten schweres Geld geben – – die wären ja im Nachhinein rehabilitiert als rechtschaffene Angeberinnen. Die möchten ja das bereits wie ein Corpus delicti benützen! Aber ich[501] bitte um Vergebung! Euer Gnaden werden sich das alles besser überlegt haben. Ich bitte um Begnadigung, wenn ich mich durch alte Anhänglichkeit hinreißen lasse!

MELANIE.

Franz, Sie sind ein alter treuer Begleiter und Diener, ein alter Vertrauter – Ich werde Ihnen alles sagen! – Es ist – ich habe – ich bin – ich weiß nicht. Dieses Paket ist da gelegen – ich bin außer mir.

THEODOR.
Also dann nicht. Herr Baron hat es überreicht zur Kenntnisnahme.
MELANIE.

Ich sag Ihnen ja! Ich hab keine Ahnung! Es ist da gelegen! Ich habe es aufgeschlagen und war wie vom Blitz getroffen.

THEODOR.
Belieben zu setzen in einem Fauteuil.
MELANIE
setzt sich.

Ich habe – im Gegenteil, der Herr Baron hat mich bestimmt versichert – ich meine, ich habe ihn so verstanden, daß er niemals die Erinnerungen, die sich auf mich und unsere früheren Begegnungen beziehen, zu einer Aufzeichnung benützen wird.

THEODOR.
Ich verstehe. – Ah, da geht mir aber ein Licht auf! Ah, da sehe ich ja deutlich!
MELANIE
springt wieder auf.
Was, Franz, wer? Lieber Franz! Was meinen Sie?
THEODOR.
Jetzt versteh ich!
MELANIE.
Was verstehen Sie?
THEODOR.

Das Herumschleichen von der Milli und so fort. – Und diese Rosa steht heute noch in Verbindung mit denen Schwägerinnen: das ist mir bewußt.

MELANIE.
Franz, so helfen Sie mir doch!

Sie greift nach ihrem Portemonnaie, das wo liegt.
THEODOR.

Es waren sehr viele Geräusche am Telephon, sehr schlecht zu verstehen – aber das ist sicher: die Jungfer hat nicht herkommen wollen, hat sich Ausrede machen wollen, diese tückische Person! Die hat Respekt vor dem Herrn Gemahl. Die weiß, daß mit dem Herrn nicht gut Kirschen essen wär, wenn man als Gelegenheitsmacherin in seine starken Hände fallen täte! Euer Gnaden sehen nicht gut aus! Befehlen, daß ich Tee und Kognak heraufserviere?

MELANIE
winkt nein.
[502]
THEODOR.
Sie hat auch etwas gemurmelt von schlechter Laune von Herrn Gemahl, das fällt mir jetzt erst ein!
MELANIE.
Was soll ich tun, Franz?

Sie hat ihr Portemonnaie in der Hand.
THEODOR.
Fragen mich – oder benützen nur so allgemeine Redeweise?
MELANIE.
Ich frage Sie, lieber Franz! Natürlich frage ich Sie!
THEODOR
in bezug auf das Manuskript.

Das muß aus der Welt! Dann sind die heimtückischen Mitwisser ohne Beweisstück und können sich aufhängen!

MELANIE
gibt ihm schnell viel Geld aus ihrem Portemonnaie, indem sie es ihm zusammengedrückt in die Hand schiebt.
Tun Sie, was Sie für gut halten!
THEODOR
nimmt das Geld, schiebt es in die Westentasche, tritt aber zurück.
Wie meinen das, bitte?
MELANIE.
Räumen Sie es weg, verbrennen Sie es!
THEODOR
legt das Manuskript weg, auf den Tisch, als ob es ihn brennte.

Ah, das getraue ich mich nicht! Ja, wer bin ich denn? Ich bin in einer dienen den Stellung. – Wo er das bei seinem schlechten Gedächtnis hütet wie seinen Augapfel – ja – da riskiere ich ja meine Existenz! Wenn das aufkäme!!!

MELANIE
ringt die Hände.
Mein Gott, so geben Sie mir doch einen Rat!
THEODOR.
Befehlen Rat? Ratsam wäre eines: abreisen, diesen Abend, und mitnehmen die Sache als Eigentum.
MELANIE.
Mitnehmen?
THEODOR.
Man wickelt ein und legt in Koffer. Dann sind Euer Gnaden sicher wie in Abrahams Schoß.
MELANIE.
Aber wie kann ich denn das?
THEODOR.

Wieso können? Was kann er machen geltend? Moralisch? Ah, da möchte ich sehen. Soll er hinfahren und sich wieder holen. Soll er betteln darum, Euer Gnaden werden diktieren!

MELANIE.
Ich kann doch nicht etwas stehlen!
THEODOR
legts hin.
Ah, bitte! Dann nicht! Da werde ich mich dementsprechend zurückziehen!
MELANIE.
Franz, legen Sie es in meinen Koffer, schnell, ich reise ab!

Es klopft.
[503]
THEODOR
lächelt befriedigt.

Schlimmstenfalls sagt man, es ist aus Versehen eingepackt worden, und schiebt es aufs Aushilfspersonal. Er nimmt das Paket.

MELANIE.
Herein! Zu Theodor. Packen Sie es in den Kleiderkoffer ganz unten. Nochmals gegen die Tür. Herein!

Theodor, das Paket unterm Arm, geht langsam gegen die kleine Tür rechts.
2. Szene
Zweite Szene
JAROMIR
tritt links ein, erstaunt.
Was machen Sie schon wieder hier? Leise zu Melanie. Ich bin überrascht!
MELANIE.

Wieso denn schon wieder? Ich hab den Franz gerade gerufen. Er muß mir helfen, alles schnell in Ordnung bringen. Sie sieht auf die Armbanduhr. Ich reise in zwei Stunden und zwanzig Minuten.

JAROMIR.
Sie reisen? Sie reisen – von hier ab?
MELANIE.
Um neun Uhr fünfzehn –

Theodor ist eifrig tätig, kleine Toilettengegenstände, Sachets, Pantoffel, Bänder, Handschuhe, die in allen Teilen des Zimmers verstreut liegen, zusammenzusuchen.
JAROMIR
fassungslos vor Staunen und Ärger.
Sie – Unwillkürlich sich zu Theodor wendend. Was soll denn das heißen?

Theodor hält Jaromirs Blick aus, erwidert ihn mit verbindlichem Lächeln und zeigt auf Melanie.
MELANIE.

Warum fragen Sie denn ihn? Ich will es Ihnen gerade erzählen. Leiser. Ich habe beim Fortfahren von zu Haus kein gutes Gefühl gehabt.

[504]
JAROMIR.
Inwiefern?

Theodor, im Begriff ein Morgenkleid an sich zu raffen, das dort liegt wo Jaromir lehnt, nötigt diesen, ihn devot anlächelnd, seine Stellung zu wechseln.
MELANIE
halblaut.

In bezug auf meinen Mann und diesen Ausflug hierher. Ich habe telephoniert. Es war, wie ich gedacht habe. Er nimmt es sehr übel, daß ich ohne ihn gefahren bin.

JAROMIR
völlig verstört und zu laut, ja mit einem Aufstampfen des Fußes.
Das ist ungeheuerlich!
THEODOR.
Befehlen?
JAROMIR.
Ich habe nicht zu Ihnen gesprochen.

Theodor lächelt und sammelt Nadelpolster, Photographien, französische Bücher, Flakons und anderes, trägts ins Toilettenzimmer, eilig ab und zu gehend.
MELANIE
sieht wieder auf die Armbanduhr.

Es bleibt mir gerade die Zeit, mich bei Ihrer Frau Mutter zu entschuldigen und Ihrer Frau adieu zu sagen.

JAROMIR
beißt seine Lippen.
MELANIE
von jetzt an mit einer reizenden Ruhe und Sicherheit.

Sie haben eine reizende kleine Frau. Leiser. Wir haben zu wenig an Ihre Frau gedacht. Und auch zu wenig an meinen Mann.

JAROMIR
so zornig, daß er nicht mehr höflich ist.
Jetzt auf einmal, das ist unerhört!
MELANIE
sehr ruhig und sanft.
Ich habe das heute vormittag plötzlich gefühlt.
JAROMIR
ganz leise und sehr böse.
Heute vormittag! Ah! ah!
MELANIE
wegrückend und zugleich einen lauten Ton nehmend.

Es hat mich sonderbar und nicht angenehm getroffen, wie Sie diese Geschichte – die im April passiert ist – diesen Abend in der Jagdhütte – wie Sie das sehen –

JAROMIR.
Wie ich das sehe?
MELANIE.
Ja, die Rolle, die mein Mann dabei gespielt hat – dabei und bei früheren Vorfällen –
JAROMIR.
Vorfälle nennen Sie das? Das ist ein etwas unerfreulicher Ausdruck.
[505]
MELANIE
ruhig und halblaut.

Ich weiß. Ich habe das erlebt, Jaromir, erlebt, gelebt und Leiser. vielleicht auch genossen. Ich bin manchmal eine sehr leichtsinnige Person – und – ich kann es nicht ertragen, einen Freund zu verlieren, und deshalb reise ich ab.

JAROMIR.
Das ist ja ein böser Traum! Diese Aufeinanderfolge, diese Duplizität der Fälle –
MELANIE.

Was haben Sie denn? Welche Duplizität? Ich sage es Ihnen doch: ich habe gefühlt, daß mein Mann nicht gerne sieht, daß ich allein hier bin. Ich bin auf einen Sprung hergekommen, um Ihre Ungeduld zu stillen – denn Sie sind ein ungeduldiger Mensch und ich bin eine alte gute Freundin –

JAROMIR.
Das nennen Sie meine Ungeduld stillen?
MELANIE.

– und ich fahre zurück und komme, wenn es Ihnen recht ist, die nächste oder übernächste Woche – mit meinem Mann. Er wird sich hier sehr wohl fühlen. Er hat einen besonderen Sinn für Wesen, wie Ihre Frau eines ist.

JAROMIR
wütend.

Da ist irgend was passiert, das du mir verheimlichst. Dahinter steckt ein Mann, aber nicht der deinige!

MELANIE
sieht ihn an.
Oh, wie schlecht Sie mich kennen, Jaromir, das könnte einen beinahe traurig machen!
JAROMIR.
Ich kenne dich schlecht?
MELANIE
sehr ruhig.

Sie kennen vielleicht manches von mir, aber nicht das, was vielleicht das Beste an mir ist. Nicht die Seite, die zum Beispiel mein Mann kennt. Es ist meine Schuld. Ich habe das vor Ihnen versteckt, ebenso, wie ich vor ihm das andere versteckt habe. Und ich weiß wiederum, Sie verstecken geflissentlich vor mir Ihr Bestes –

JAROMIR.
Ah, ah, das wäre?
MELANIE.

Ihre Ehe und die große Liebe, die nach einem etwas überstürzten, Ihrerseits geradezu frivolen Anfang diese gerade, ehrliche, bezaubernde und in Sie verliebte hübsche Person in Ihnen geweckt haben muß –

JAROMIR.

Ah, Sie empfehlen mir meine Frau! Ah – das ist ja eine Serie! Ihr seid eine wie die andere! Sklavinnen eurer [506] mehr oder minder hysterischen kleinen Launen! Seid noch so verschieden voneinander, in einem seid ihr gleich, in einer grenzenlosen Selbstsucht – Wer erlaubt euch, das Herrliche, das uns euch ausliefert, in dieser Weise zu verwalten?


Es klopft an der Tür links.
MELANIE
schnell.
Herein.
3. Szene
Dritte Szene
Theodor, hinter ihm Hermine treten links ein.
Jaromir trommelt wütend mit den Fingern auf der Kommode, nächst der er steht.

THEODOR
indem er auf seine Uhr sieht.
Euer Gnaden werden verzeihen, wenn wir mit Packen schon anfangen. Gepäckwagen geht vor acht Uhr.
MELANIE.

Ja, natürlich, packen Sie nur. Bringen Sie auch den zweiten Koffer hier heraus, hier ist mehr Platz. Und geben Sie nur acht, Franz, daß später dann das zuunterst gelegt wird, was ich Ihnen früher übergeben habe.

THEODOR.
Sehr wohl, ich werde beaufsichtigen.

Ab mit Hermine ins Toilettenzimmer, dessen Tür offen bleibt.
MELANIE
mit einem Blick auf Jaromir.

Und jetzt bleibt gerade noch die Zeit, daß Sie mich zu Ihrer Mutter begleiten, damit ich mich verabschiede. Die letzte halbe Stunde dann vor dem Souper will ich mit Ihrer Frau verbringen – aber ohne Sie. Wir Frauen haben einander eine Menge zu sagen.


Theodor und Hermine bringen mehrere Koffereinsätze, auf denen Blusen, Kleider, kleine
Morgenmäntel, Kimonos und dergleichen aufgehäuft liegen.
JAROMIR
will etwas antworten.
MELANIE
wendet sich indessen zu Hermine.

Ich mache Ihnen viel Mühe, meine Liebe, erst mit dem Auspacken, jetzt mit dem Einpacken, behalten Sie dafür diese Bluse. Ich hoffe, sie gefällt Ihnen.

HERMINE.
Oh, Euer Gnaden!

Küßt ihr die Hand.
[507]
JAROMIR
ärgert sich wütend, murmelt.
So vergeuden Sie diese letzten paar Minuten!
MELANIE
wendet sich zu ihm.

Ihnen, Baron Jaromir, kann ich zum Abschied nichts schenken! Im Gegenteil, von Ihnen nehme ich etwas mit – etwas, das mit mir zu nehmen mir sehr viel bedeutet.

JAROMIR
ohne zu achten, was sie sagt, mit einem letzten Wunsch, sie zu sich hinüberzuziehen, leise, während Theodor und Hermine für einen Augenblick wieder im Toilettenzimmer verschwunden sind.

. Siehst du dort die kleine Brücke? Sie hätte heute jemandem ein Weg sein sollen – hierher, einem zärtlichen Freund, Melanie! Soll sie umsonst gebaut sein?

MELANIE
laut, da Theodor und Hermine wieder eintreten, beladen mit Kleidern und Mänteln.

Wie sagen Sie, Baron Jaromir? Nein, das Hämmern da draußen auf dem Dach hat mich gar nicht gestört. Ich schlaf nie nachmittags. Ich habe gelesen, nicht wahr, Franz, Sie haben mich lesend gefunden.

THEODOR.
Jawohl.
MELANIE.

Sie wissen, ich lese ganz selten in Büchern, außer in ganz oberflächlichen, die einem gar nichts nützen, aber manchmal passiert es doch, daß ich durch eine Lektüre auf einmal recht weit vorwärts komme. So etwas ist heute nachmittag passiert. Die Grenze zwischen zärtlich attachierend und frivol ist mir auf einmal ganz klar geworden. Und auch die zwischen dem, was man vielleicht noch entschuldigen könnte, und dem, was einfach unerlaubt ist.

JAROMIR
verstockt.
Ich verstehe Sie absolut nicht.
MELANIE
sehr ernst.

So? Sie verstehen mich nicht? Wirklich, Jaromir? Sie haben hier in diesem Hause mehr als Sie verdienen. Und ich habe anderswo das, was schließlich meine Existenz ist. Darum gehe ich jetzt weg und Sie bleiben hier.

JAROMIR.
Ich verstehe kein Wort. Aber ich werde Sie zu meiner Mutter begleiten.
MELANIE
an der Tür.

Nein, ich möchte, daß Sie mich allein gehen lassen und über das, was ich gesagt habe, für sich selber ein bißchen nachdenken,Sie geht. – ein ganz kleines bißchen nachdenken!


[508]
Jaromir bleibt zurück und stößt zornig die Zigarette in eine kleine Aschenschale, bis sie verlischt.
THEODOR
der ihn mit einem eigentümlichen, undurchdringlichen Ausdruck beobachtet.
Stören wir Euer Gnaden? Sollen wir mit den Koffern ins Nebenzimmer?

Jaromir zuckt zusammen und geht ohne Antwort schnell aus dem Zimmer.
4. Szene
Vierte Szene
THEODOR
noch bevor die Tür sich schließt, zu Hermine, ohne sie anzusehen.
Sie packen ein – ich sortiere und reiche.
HERMINE
mit ein paar zartfarbigen Kimonos und ähnlichem überm Arm.
Schön ist das!
THEODOR
ohne sie anzusehen.
Du verlierst ja die Augen aus dem Kopf über diesem Zeug! Da – vorwärts!
HERMINE
legts in einen Koffereinsatz.

Wenn man denkt! Das anhaben, da muß eins doch das Gefühl haben, als ob man ein Engerl wäre mit Flügeln hinten.

THEODOR
ebenso.
Was ist da weiter? Da, pack ein diese Fetzen! Reicht ihr.
HERMINE
kniet und packt ein.
Und dabei sollen sie doch nicht viel wert sein, die Gnädigen!
THEODOR.
Was redst du da? Mach weiter. Ich habe Zeit nicht gestohlen.
HERMINE
sieht auf.

Ja, vor dir darf ich das nicht sagen. Es wird ja geredet, du bist verliebt in die junge Baronin, deswegen ist dir jetzt unsereins viel zu gewöhnlich!

THEODOR
ohne sie eines Blickes zu würdigen, aber immer so, daß es scheinen kann, er richte, mit dem Sortieren beschäftigt, nur zufällig immer seine Augen anderswohin als auf Hermine.

Das sind Tratschmäuler, erbärmliche. Diese Menschen haben die Unfähigkeit, einen Menschen, wie ich es bin, zu erfassen. Weil ich einen Blick der Liebe und Aufmerksamkeit auf eine menschliche Kreatur wie diese Anna werfe, deswegen glauben sie schon, daß sie mich in ihre Mäuler nehmen [509] können. Auch noch so eine Melanie, wenn ich sie in meinen Armen in die Höhe gehoben mir denke – Er hat eines von Melanies leichten Abendkleidern in der Hand und zieht flüchtig das Parfüm ein, das davon ausgeht. Die ist ja noch tausendmal besser als wie der Gebrauch, den er von ihr macht! Und da hat sie seine Photographie stehen, als wie einen Götzen, ganz ungeniert! Er wirft ihr das Kleid und noch ein paar andere zum Einpacken hin. Was kann er denn an einem menschlichen Geschöpf wahrnehmen, als das da, diese Seiden – diese Pelze, diese Batiste, diese Chiffons – Er wirft ihr dergleichen in Haufen zu. das ist ja sein Um und Auf! Bis dahin reichen seine fünf Sinne – da, diesen parfümierten Fetzen versteht er nachzulaufen, darauf hat er Appetit – und dazu muß die ganze Weiblichkeit herhalten und dazu ist eine Stadt nicht groß genug – da müssen Eisenbahnen her und Hotel muß her! und Dienerschaft muß her, und Schlafwagen her und Automobil und Theater muß her, und eingepackt muß werden und ausgepackt muß werden und Hetzjagd geht weiter – und Telephon muß her – und Brieferl werden geschrieben und Büchel werden gelesen und englisch wird parliert und französisch und italienisch – und in diese frivole Sprache schlieft er hinein wie in seidene Pyjama, mit denen er ausgeht auf nächtliche Niederträchtigkeiten. Aber hat er denn eine Seele im Leib, die aus ihm hervorbricht? Ja? Nein! Da! – Er räumt das unterste Fach einer Kommode mit wildem Griff aus, es taumeln Stiefeletten und Halbschuhe aller Arten und Farben ihm entgegen, weiße, graue, schwarze, violette, goldfarbene. Das ist gaunerische Sprache, auf die er eingelernt – da hast du – Er nimmt zwei Schuhe auf die Hände und agiert mit ihnen wie mit Puppen. kitzlige Sprache, auf die seine blasierten, schläfrigen, niederträchtigen Blicke mit Feuer antworten. Da! Da!Er schleudert die Schuhe wie Geschosse gegen die Einpackende. [510] Das ist oberste Vierhundert! Da! Das ist Blüte der Menschheit! Da! Da! Dafür ist Welt geschaffen, von unserem Herrgott, damit auf oberstem Spitzel er mit seinem von irgendeinem Franz geputzten Lackschuh kann fußeln mit dem Ding da, was ich da in Händen halte. Da! Da! Ah du! Dein Gesicht will ich nicht mehr sehen, dein blasiertes, niederträchtiges! So stehst du da in goldenem Rahmen! So! Er hat blitzschnell Jaromirs Photographie aus dem Rahmen gezogen, reißt sie mitten durch und schiebt sie zerrissen wieder hinein.

HERMINE
springt zurück.

Was Sie für Augen machen, Herr Theodor! man könnte sich ja fürchten vor Ihnen! Nein, was Sie für einer sind!

THEODOR
mit einem Sprung, nimmt sie um die Mitte.

Ists nicht gut, wenn du dich fürchtest? Bin ich denn böse auf dich? Dir läufts ja, scheint mir, eiskalt über den Rücken herunter.

HERMINE
tut, als wolle sie sich ihm entziehen, aber nicht mit voller Kraft.
Nein, lassen Sie mich! Ich bin ja viel zu gewöhnlich für Sie!
THEODOR
bei ihr.

Ah, wenn ich zu fürchten bin, dann fürchtest du dich zu wenig! Was hast du denn zu der Wallisch über mich gesagt? Du hast gesagt: meine Männlichkeit wirkt dir nicht mehr! Du bist mir aus meinen Krallen geschlupft! Ja, da hast du ja ein Sakrilegium begangen! Plötzlich den Ton wechselnd, mit äußerster Zärtlichkeit. Freilich hast du diese Gemeinheiten gesagt! Aber das ist mir ja recht! Oh, du gewöhnliche Gewöhnlichkeit du! Küßt sie. Wer sagt mir denn, daß ich nicht deine Gewöhnlichkeit mit einer brennenden Liebe rundherum fangen und in die Höhe heben will?

DER KLEINE JAROMIR
draußen.
Papi! Papi!
HERMINE.
Aber lassen Sie mich doch! Draußen is wer! Herr Theodor!
DER KLEINE JAROMIR
an der Tür, noch außen.
Papi!
THEODOR
ist sofort in Miene und Ton umgewandelt.
So, jetzt packen Sie zu Ende!

Der kleine Jaromir wird an der Tür hörbar.
[511]
HERMINE
halblaut.
Wie kann ich denn jetzt? Jetzt bin ich da ganz verwirrt!
THEODOR
ebenso, aber sehr stark.

Bei deiner Seele! Kein frivoles Wort vor dem Kinde! Er schiebt sie mit einem Griff ins Toilettenzimmer.

5. Szene
Fünfte Szene
DER KLEINE JAROMIR
tritt herein.

Papi, guten Tag sagen! Er sieht sich ängstlich um, dann erst bemerkt er Theodor, der in der Türnische zum Toilettenzimmer steht, den Rücken gegen die Tür.

THEODOR
lächelt liebreich.
DER KLEINE JAROMIR
zuerst erschrocken, dann erfreut.

Theodor! Wo ist der Papi? Wo ist der Papi? Ich kann ihn nicht finden, und Mutti hat mich auch weggeschickt! Wo ist der Papi?!


Theodor zeigt mit einer seltsamen Gebärde, er weiß es nicht.
Der kleine Jaromir lächelt.
THEODOR
einen Schritt hervortretend.
Wie sagt der Zauberer zu dem Kinde?
DER KLEINE JAROMIR
ängstlich, aber entzückt.
Komm, du liebes Kind – fürchte dich nicht – ich sehe aus wie ein gewöhnlicher Mensch – Stockt.
THEODOR.

Komm, du liebes Kind, ich habe dich lieb wie Vater und Mutter, ich verstehe deine Seele, – ich werde mit dir fliegen – Packt den Kleinen blitzschnell, drückt ihn zart und fest an sich und schwingt sich mit ihm über den Balkon.


Der kleine Jaromir lacht vor Freude.
Vorhang.

5. Akt

1. Szene
Erste Szene
Es treten rechts oben ein: Theodor im Frack, mit einem großen Servierbrett, worauf Gläser, Karaffen und silberne Eßbestecke; der Gärtner in grauer Jägerlivree, mit einem gleichen Brett, worauf die Teller und im anderen Teil das Besteck; dann Hermine, schwarz angezogen, mit weißem Häubchen, weißer Schürze und weißen Handschuhen, mit einem gleichen Brett, worauf Tischwäsche. Sie stellen ab und ordnen auf zwei Kommoden links und rechts von der Glastür, die als Anrichte dienen. Hermine nimmt das Tischtuch, geht durch die Glastür und beginnt, einen Tisch für sechs zu decken, der in der Terrasse mittelst, auch in der Mittelachse des Zimmers steht.

THEODOR.

Rasch, rasch, beeilen Sie sich! Es muß schnell serviert und gegessen werden, denn dann erfolgt Abreise, schnelle Abreise, sehr schnelle Abreise!

GÄRTNER.
Seit wann wird denn jetzt auf der Terrasse serviert, statt im Speisezimmer? Das ist ganz was Neues.

Ab.
THEODOR.

Erstens ist dies nichts Neues, sondern ganz was Altes, und das geht Sie einen Schmarren an! Zu Hermine. Und weißt du, wo ich dir heut nacht dein Zimmer anweisen werde? Da droben! Er zeigt senkrecht nach oben. Da, wo wir diese Melanie einquartiert haben, da wirst du dich hinaufbegeben, und ich werde diesen Weg – Er zeigt, wie ein Seiltänzer, der balanciert. – dort über schwindlichem Dach werde ich zu dir kommen, dir einen kleinen Besuch machen, verstanden?

[513]
HERMINE.
Maria! Da droben schläft doch der Herr Baron, der hört doch alles!
THEODOR.

Gerade durch sein Zimmer werde ich meinen Weg nehmen, und ihn werde ich heut anderswo einquartieren. So hab ich mir schon überlegt.

HERMINE.
Was Sie zusammenreden!
THEODOR
galant und scherzhaft.
Was unterstehst du dich!? Mir scheint, du hast dich schon zu lange nicht vor mir gefürchtet!
HERMINE
lacht.
THEODOR.

Zuckst du? Na wart! Dir muß ich den Herrn zeigen! Du wirst mich heut in der neuen Bluse empfangen als Zeichen, daß du dich vor mir fürchtest!

HERMINE.
Das werden wir schon sehen.
THEODOR
zärtlich.
Oh, du lachst! Mir scheint, da habe ich eine boshafte Schlange an meinem Busen aufgewärmt!
BARONIN
von oben rechts.
Theodor, haben Sie eine Ahnung, wo ich mein Lorgnon liegenlassen habe?
THEODOR
von oben rechts, eilt hin, nimmt das Lorgnon von einem Möbel und überreicht es.
BARONIN
sehr huldvoll und aufgeheitert.

Was sagen Sie dazu, Theodor, daß jetzt beide Damen auf einmal abreisen müssen? Das ist doch eine außerordentliche Überraschung.

THEODOR
mit einer Miene, die alles sagt und doch nichts preisgibt.
Ich danke untertänigst für gnädige Anerkennung.
BARONIN
mit einer leisen Spur von Einverständnis.
Ich habe ja nichts gesagt.
THEODOR.
Haben allergnädigst zu erkennen gegeben.

General tritt links ein, zuerst schüchtern durch die halbgeöffnete Tür spähend.
Theodor entfernt sich schnell durch die Glastür, die er hinter sich schließt.

[514]
2. Szene
Zweite Szene
BARONIN
wie sie den General sieht, nickt ihm in guter Laune zu, indem sie mit dem Kopf hinter sich auf Theodor deutet.

Er bleibt, er hat aus freien Stücken seine Kündigung zurückgenommen. Heute ist er wieder ganz der alte Theodor! Haben Sie seinen Gang bemerkt?

GENERAL.

Das ist der gewisse Gang, den er hat, wenn er mit sich zufrieden ist! Darin liegt ja ein förmlicher Krampf von Hochmut!

BARONIN
gegen die Bank hin.

Eben. In diesem Augenblick habe ich sofort etwas mit ihm abgemacht. Sie wissen, daß mein Mann zu der Zeit, wie er noch Militärattaché in Konstantinopel war, den Theodor überall mitgenommen hat, nach Smyrna, nach Damaskus, ich weiß nicht, wohin noch!

GENERAL
erschrocken.
Amelie! Sie wollen wieder reisen?
BARONIN.

Das glaub ich, und nicht mit einer idiotischen Jungfer, der ich auf allen Perrons das Handgepäck nachtragen muß und, wenn sie seekrank wird, den Kopf halten muß. Der Theodor ist ein idealer Reisemarschall, er kennt sich überall aus!

GENERAL.
Amelie, ich habe es geahnt, daß Sie wieder reisen wollen.
BARONIN.

Ich bin es satt, unter diesem ewigen Regenhimmel Neuralgie zu haben! Ich will noch einmal unter dieser goldenen Luft in einem hellen Kleid auf einer Hotelterrasse sitzen und Minaretts vor mir sehen!

GENERAL.
Sie werden zwei, drei Monate wegbleiben?
BARONIN.
Ein halbes Jahr hoffentlich!
GENERAL
schüttelt traurig und resigniert den Kopf.
Wie soll ich denn das aushalten? Steht auf.
BARONIN.

Und wenn ich Ihnen sage, daß der Theodor selbst, ohne daß ich ein Wort davon gesagt hätte, den Gedanken aufs Tapet gebracht hat, wie es denn wäre, wenn Sie mir nach Smyrna oder Athen entgegenkämen?

GENERAL
in jähem Umschwung zu kindlicher Freude.
Ich darf Ihnen entgegenkommen?!
[515]
BARONIN
mit großer Grazie.
Wenn es Ihnen nicht zu unbequem ist, einen Schiffskoffer zu packen.
GENERAL
außer sich vor Freude.
Amelie! Plötzlich wieder betrübt. Ah, es war der Theodor, der das proponiert hat! Und Sie – –
BARONIN
mit Grazie und Ernst.

Ado, ohne Sie wäre ich doch die gewisse alte Person, die in Kurorten und Hotels einsam und mürrisch dasitzt und von der niemand begreift, wozu sie noch auf der Welt ist! Sie reicht ihm die Hand zum Kusse.


General mit Tränen in den Augen, wie er sich über ihre Hand beugt und ihre Fingerspitzen küßt.
3. Szene
Dritte Szene
ANNA
links oben eintretend.

Oh, – ich habe geglaubt, der – der Jaromir ist da! Nämlich die Melanie war jetzt bei mir. Das ist so eine liebe Person. Ich glaube, sie sucht dich! Sie hat mir versprochen, daß sie im August mit ihrem Mann wieder herkommt.

MILLI
sieht links herein.

Frau Baronin, Frau Galattis sitzen im Boudoir droben und Fräulein Am Rain möchte sich auch verabschieden –

BARONIN.
Ich komme!
GENERAL.
Wenn Sie erlauben, so gehe ich mit.

Beide links ab.
4. Szene
Vierte Szene
Jaromir kommt vorne links, wo jetzt fertig gedeckt ist und Theodor gerade das Mittelstück mit Blumen auf den Tisch stellt.
Anna hat Jaromir gesehen und wartet, sie steht an der Seite rechts.
Jaromir, ärgerlich und zerstreut, will quer durch das Zimmer gehen und bemerkt Anna nicht gleich.

[516]
ANNA.
Jaromir!
JAROMIR.
Ah, du!
ANNA.
Du bist verstimmt über etwas?
JAROMIR.

Ich komme aus dem Stall. Sie haben aus irgendeinem Grunde den kleinen Zweispänner eingespannt, in dem allerhöchstens für drei Personen Platz ist! Das bedeutet doch, da man die zwei Frauen nicht ohne jede Begleitung wegfahren lassen kann, daß ich allein mitfahren muß. Eine dumme, irritierende Sache! Es kommt einem alles zusammen!

ANNA.
Was denn noch, Jaromir? Sag mirs!
JAROMIR.

Mir ist ein Manuskript verlorengegangen, die erste provisorische Niederschrift von meinem neuen Roman. Verloren oder verlegt, jedenfalls ist es nicht da! Und wenn ich den Roman überhaupt noch schreiben will, so ist es mir unentbehrlich.


Setzt sich auf die Bank.
ANNA.

Verloren kanns ja nicht sein. Wenn dus vor kurzem noch gehabt hast, so ist es eben verlegt! Geh morgen früh spazieren und laß mich während dieser Zeit suchen. Ich werde es finden.

JAROMIR.
Hast du denn schon einen Anhaltspunkt?
ANNA.

Nicht den geringsten. Aber ich weiß bestimmt, Jaromir, wenn ich etwas, was du brauchst, für dich suche, so werde ich es finden.

JAROMIR.

Da brauch ich also nie mehr den heiligen Anton von Padua anzurufen, sondern dich! Um so besser! Aufstehend. Auf Wiedersehen. Ich gehe! Ich muß die Damen begleiten.

ANNA.
Ich bitte dich, hab einen Moment Zeit für mich, du mußt sie dir nehmen! Ich muß dir etwas sagen!

Vor dem Tisch.
JAROMIR.
Ist dir etwas? Du bist ein bisserl blaß.
ANNA.
Ich habe einen sehr argen Tag durchgemacht!
JAROMIR.
Ist mit der Baby was los?
ANNA.
Nein, ganz anders, in mir.
JAROMIR.
Du hast auch Komplikationen? Seit wann denn?
ANNA.

Hör mich an, Jaromir, ich bin eine ganz mindere Person. [517] Ich bin gar nicht das, wofür du mich nimmst. Du mußt mich führen mit einer sehr strengen, festen Hand. Ich hab schon gestern abend und heute von früh an, ich hab ganz die Gewalt über mich verloren! Ich habe gegen ganz was Niedriges, ganz Unwürdiges in mir nicht mehr ankämpfen können, – ich war eifersüchtig.

JAROMIR.
Auf die Melanie?
ANNA.
Ja, auf die Melanie! Aber zugleich auch auf die Marie! Lach mich nur aus, auf beide!
JAROMIR
mit etwas gekünstelter Heiterkeit.
Aber das ist ja eine ernste Krankheit, mein Schatz!
ANNA.

Ja, es war sehr ernst! Denn es hat mich so weit getrieben, daß ich mich nicht geschämt habe, etwas zu tun, was ich mich so sehr schäme, dir einzugestehen, aber es muß heraus!

JAROMIR.
Ja, was denn?
ANNA.
Ich habe gehorcht!
JAROMIR.
Ah, ah!

Runzelt die Stirn.
ANNA.

Du bist bös, – du hast recht! Straf mich! Ich habs verdient – Da Jaromir nichts sagt, fortfahrend. Heute früh warst du mit der Melanie hier im Park, und da hab ich mich in der Orangerie versteckt und habe gehorcht –

JAROMIR.
Und?
ANNA.

Mir war, als hätte ich dich ihr du sagen gehört. Lächelt. Aber jetzt weiß ich ja, daß ich mich geirrt habe. Und plötzlich habt ihr viel leiser zu sprechen angefangen, und da bin ich aus Stolz mit einem Ruck heraus aus dem Haus. Dann haben wir zu Mittag gegessen, und dann bin ich mit der Mama und der Melanie ausgefahren und dann war der Tee, und diese ganze Zeit über habe ich dich doch verloren gehabt.

JAROMIR.
Mich verloren?
ANNA.

Ja, ich bin herumgegangen und habe gehört, was die anderen reden, und habe die richtigen Antworten gegeben. [518] Aber überall zwischen mir und allen Dingen habe ich etwas gesehen, was dir ähnlich war und doch nicht du! Ich kann es nicht anders sagen: wie ein in Fetzen gerissenes unheimliches Bild von dir.


Fährt mit der Hand über ihre Augen.
JAROMIR.

Aber, das ist ja ein Fiebertraum! Und man hat dir ja gar nichts angemerkt, du Kleines, du armes Kleines!

ANNA.

Da hab ich einen Augenblick geglaubt, daß ich es auch ertragen könnte, wenn es sein müßte, – und auch ohne dich leben könnte! Aber dann, wie mir die Baby ihre kleinen Arme entgegengehoben hat, da ist mir eingefallen, daß du das Kind seit zwei Tagen mit keinem Blick angeschaut hast. Und da ist etwas über mich gekommen, Jaromir, etwas so Furchtbares, so, wie wenn gar nichts mehr in der Welt zu mir gehören würde, auch meine Hände nicht, meine Füße nicht, auch mein Gesicht nicht!

JAROMIR
zieht sie an sich.
Aber wie hast du dir denn diese Geschichte so zu Herzen nehmen können?
ANNA
entzieht sich ihm sanft.

– und da hab ich gewußt, wenn ich jetzt nicht gleich zu unserem Herrgott beten kann, daß er dich mir wiedergibt, so bin ich verloren!

JAROMIR.
Aber ich gehöre doch zu dir und du gehörst zu mir! Vor sich. O nie, nie wieder!
ANNA.

Aber richtig beten hab ich auch nicht mehr können, nur das denken und mich so zu ihm hinfallen lassen –

JAROMIR
wie oben.
Da, zu mir, wo du hingehörst!
ANNA.
– und er hat mich erhört! In der Sekunde, und hat dich mir wiedergegeben!
JAROMIR.
Wie denn, du Engel?
ANNA.
Ich habe gespürt, er schickt dich von irgendwoher ganz zu mir zurück, unverlierbar –
JAROMIR.
Und nie wieder kann uns etwas auseinanderreißen!
ANNA
hat sich sanft aus Jaromirs Arm gelöst, sie spricht jetzt in leichtem fröhlichem Ton weiter.

Und dann hab ichs klopfen gehört, und auf einmal ist die Melanie dagestanden und dann ist auch die Marie gekommen, auch, mir adieu zu sagen, und beide waren so lieb!

[519]
JAROMIR.
Du bist lieb! Du bist mein einziges, süßes Liebstes auf der Welt!
ANNA
wie oben.

Die Marie ist ein besonderes Wesen, so ein Herz, und die Melanie ist so was Loyales, Aufrichtiges, Gescheites, Hübsches!

JAROMIR.
Du bist das alles, du, nur du!
ANNA.
Und da hab ich alles verstehen können!
JAROMIR.
Was denn?
ANNA.

Alles, alles auf einmal! Das weiß ich doch, daß diese beiden Frauen sehr an dir hängen und daß man darüber geredet hat, und eben wegen der Leute hast du wollen, daß sie beide einmal hier bei uns gewesen sind – – nur aus Güte und Zartgefühl für sie beide!

JAROMIR.
Das kann ich doch gar nicht alles anhören!

Küßt sie heftig.
ANNA.

Damit sie fühlen, daß, wenn du sie schon nicht hast wählen können, du sie doch sehr hochstellst und immer stellen wirst. Und ich, ob ich sie nun viel oder wenig sehen werde, ich bin ihnen jetzt schon so anhänglich – – ich hab doch gespürt, wie sie beide sind.

JAROMIR.
Ich hab gespürt, was du bist! In dieser Stunde so wie nie.
ANNA
zwischen Lachen und Weinen.
Nicht, ich bitt dich, nicht!
JAROMIR.

Und hörst du, ich will nicht, daß du das Manuskript suchst. Küßt sie. Und wenn ich es finde, so wird es verbrannt, ich brauche es nicht. Ich will es nicht. Nie wieder, das ist alles nur eine eitle, unwahre Grimasse! Ein abscheuliches Überbleibsel aus meiner zu langen Junggesellenzeit! Das brauch ich nicht. Küßt sie. Das will ich nicht haben. Dich will ich haben, dich!

ANNA
zwischen Lachen und Weinen entzieht sich ihm.
Sag kein Wort mehr! Kein Wort! Sonst muß ich sofort heulen wie ein Hofhund beim Aveläuten –
THEODOR
ist wieder auf der Terrasse erschienen.
Herr Baron, die Damen sind in Abreise begriffen –
JAROMIR
überhört die Meldung.
Ich muß dir so viel sagen! Heute noch, heute, sag doch wann?
[520]
ANNA.
Laß mich, es ist zuviel!

Theodor steht in der Mitte.
Anna, sehr erregt, und dem Weinen nahe, weicht Jaromir aus bis an die äußerste vordere Ecke. Sie läuft rechts hinaus.
THEODOR
nähert sich Jaromir.
Dürfte ich jetzt etwas melden?
JAROMIR.
Was denn?
THEODOR
sich umwendend, ob niemand horche.
Ich hab mir erlaubt, unvorgreiflich eine provisorische Anordnung zu treffen.
JAROMIR.
Was denn, das geht doch alles die Mama an.
THEODOR.

Nein, das geht Herrn Baron persönlich an! Ich habe in Erwägung gezogen, daß Herr Baron nicht gerne haben, wenn Gesellschaft aus drei Personen besteht, besonders wenn Damen sind, wo man doch gewöhnt ist, mit jeder einzelnen sich zu unterhalten.


Tritt näher.
JAROMIR.
Was wollen Sie denn, wovon reden Sie denn?
THEODOR.

Demgemäß habe ich nachgedacht, wie peinliche Situation bei so einem Abschied sich in manierlicher Weise vermeiden ließe, und hab für alle Fälle im Stall befohlen, die Mascotte zu satteln. Es ist schöner Mondschein, Euer Gnaden können zeitweise Trab reiten neben dem Wagen, zeitweise wieder Galopp und Schritt quer über Wiesen, so ist man in Gesellschaft und ist doch für sich allein –

JAROMIR.

Das ist ja eine wunderbare Idee! Franz! Sie sind ein außerordentlich gescheiter Mensch! Ich danke Ihnen sehr, Franz! Da brauche ich mich nun nicht umzuziehen. Ich sehe, daß Sie mir Ihre alte Anhänglichkeit bewahrt haben –

5. Szene
Fünfte Szene
GÄRTNER
von oben rechts, meldet dem Theodor.
Die Mascotte ist gesattelt!

Gleichzeitig mit dem Gärtner ist die Baronin aufgetreten, die die Meldung hört.
Marie, Melanie, General, Dienerpersonal folgen ihr.
THEODOR.
Vorführen!
[521]
BARONIN.
Wer reitet denn aus, jetzt so spät abends?
THEODOR.
Der Herr Baron wird die Damen begleiten zu Pferd!
BARONIN
zu den Damen.
Ich wußte es ja, natürlich begleitet Sie der Jaromir!
MELANIE.
Ich wußte gar nicht, daß Fräulein Am Rain auch abreist?

Melanie und Marie ziehen ihre Mäntel an, die ihnen die Jungfer und die Beschließerin reichen. Theodor nimmt der Beschließerin mit einem geringschätzigen Blick Maries Mantel aus der Hand und hilft Marie hinein.
Brocken von Gesprächen währenddessen.
ANNA
zu Marie.

Jedenfalls schickst du uns gleich eine Nachricht, wie du deinen Vater gefunden hast, obwohl ich ja ein so gutes Gefühl habe, daß du ihn viel wohler finden wirst als du hoffst.

GENERAL.

Ich beneide Jaromir um diesen Ritt im Mond über die Anwiesen. Wenn ich denke, daß ich drei Jahre auf keinem Pferd gesessen bin – wirst du mir nächstens die Mascotte für einen Morgenritt anvertrauen?

JAROMIR.

Es wird für mich und für die Mascotte die größte Auszeichnung sein. Zu Melanie, ihr in den Mantel helfend. Sie haben recht gehabt, tausendmal recht!

MELANIE.
Gottlob, daß Sie das einsehen!
BARONIN
zu Marie, die, völlig angezogen, etwas abseits steht, sehr gütig.
Und wir beide haben doch kaum ein Wort miteinander gesprochen, das tut mir sehr leid!
MARIE
nicht mehr imstande, ihre Tränen zurückzuhalten, beugt sich über ihre Hand und küßt sie.
O danke, danke!
ANNA
zu Jaromir, auch abseits der übrigen.
Hast du deine Handschuhe und den Reitstock? Ich bringe sie dir! Ab ins Haus.
GENERAL.
Meine Damen, es ist die höchste Zeit, wenn Sie den Zug erreichen wollen!
BARONIN.
Daß dieser Aufenthalt nur so kurz war, ist wirklich eine schmerzliche Überraschung für uns.

Geht ab.
[522]
JAROMIR
dem Anna Hut, Reitstock und Handschuhe gebracht hat.

Anna, wenn ich dir sagen könnte, wie ich dich sehe! Seit du hier so zu mir gesprochen hast – wie ich dich sehe, so eine Seligkeit!

ANNA
mit süßer Freude.
Du-mich-wirklich? Du mich auch? Ja, von was kommt denn das?
JAROMIR.

Das Ganze ist so unbegreiflich! Ich werde nie imstande sein, etwas so Ungeheueres zu verstehen, – wie es heut in mir zustande gekommen ist, und hinter dem Ganzen, wenn ich jetzt bedenk, liegt so eine Planmäßigkeit, als ob jemand es darauf angelegt hätte, mich zu mir selber zu bringen und dadurch auch ganz zu dir – aber wer?

ANNA.

Wer? Halt der, durch den alles geschieht! Was er für Werkzeuge dazu gebraucht, das können wir ja nie durchschauen!

JAROMIR.
Anna!

Küßt ihr die Hand.
ANNA
will sie wegziehen.
Nicht! Ich bins heute nicht mehr wert!
JAROMIR.
Du – nicht wert? Ah Gott!
STIMME DER BARONIN
über die Terrasse her.
Jaromir! Jaromir!
JAROMIR.
Wie soll ich denn jetzt weg?
ANNA.
Du mußt aber weg, und ich muß hinauf!
JAROMIR.
Wie ist denn die Baby jetzt? Schläft sie unruhig?
ANNA.
Nur die erste Stunde. Dann so fest, daß sie nichts hört, aber gar nichts!
JAROMIR.
Ja, dann darf ich also zu dir kommen?
ANNA
versteht, was sie gesagt hat ohne es sagen zu wollen, schämt sich sehr.
Jetzt schäm ich mich, daß ich das so gesagt hab! Ich habe ja gar nicht an das gedacht!
THEODOR
über die Terrasse.
Herr Baron, es ist die höchste Zeit! Die Damen sitzen im Wagen.
JAROMIR
reißt sich los.

Darf ich kommen – über die Wendeltreppe? Laß mir die Tür offen. Wirst du, ja? Auch, wenn ichs nicht verdient habe!? Läuft weg, bleibt nochmals stehen. Du! Läuft schnell fort.


Anna nickt und steht wie betäubt.

[523]
6. Szene
Sechste Szene
Theodor betrachtet Anna, schließt dann die Glastür und verriegelt sie mit einem Balken.
Hermine erscheint leise an der Tür links, vorsichtig. Sie hat weder Schürze noch Häubchen, noch Handschuhe, sondern sie trägt die hübsche neue Bluse und eine Blume im Haar.
Theodor deutet ihr, daß Anna da ist.
Hermine macht ein Mäulchen, als sei sie eifersüchtig.
Theodor mit einer gebietenden Bewegung weist sie nach oben, sich in ihr Zimmer zu verziehen. Dann deutet er lächelnd an, er werde wie ein Kater geklettert kommen, dann jagt er sie weg mit einem Wink.
Hermine verschwindet und verschließt die Tür, alles hinter Annas Rücken.

ANNA
dreht sich auf das Geräusch der zugehenden Tür rasch um.
Ah, Sie sinds, Theodor?
THEODOR
ihr etwas näherkommend.

Es ist sehr gütig, daß Euer Gnaden mich mit meinem richtigen Namen bezeichnen. Darin liegt eine gütige Seele ausgesprochen. Dafür bitte ich diese – Mit einer kleinen Überlegung. oder vielmehr künftige Nacht für Euer Gnaden zu unserem Herrgott beten zu dürfen.

ANNA
nach einer Sekunde.
Haben Sie zugesperrt?
THEODOR.
Sehr wohl, ich melde untertänigst, es ist alles in Ordnung.
ANNA
wendet sich zum Gehen, etwas geziert.
Aber der Herr Baron muß noch herein.
THEODOR.
Da hab ich Licht brennen lassen an der kleinen Nebentür und auf der Wendeltreppe.
ANNA.
Ah, dort? Weiß das der Herr Baron?
THEODOR.

Er wird das Licht schon sehen und sich demgemäß dorthin wenden. Ich habe gemeint, Herr Baron wird Wunsch haben, nach zwei so unruhigen, gestörten Tagen die beiden Kinder anzuschauen, ob sie ruhig schlafen –

ANNA.
Ah, gut, danke!

Sieht ihn lächelnd an.
[524]
THEODOR.

Es sind Euer Gnaden die irdischen Dinge sehr gebrechlich. Es kann auch eine sehr starke Hand keine Schutzmauer aufbauen für ewige Zeiten um ihre anbefohlenen Schützlinge. Aber ich hoffe, solange ich hier die Aufsicht über das Ganze in Händen behalte, wird demgemäß alles in schönster Ordnung sein!


Vorhang.

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TextGrid Repository (2012). Hofmannsthal, Hugo von. Dramen. Der Unbestechliche. Der Unbestechliche. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-7790-1