Friederike Helene Unger
Bekenntnisse einer schönen Seele
Von ihr selbst geschrieben

[3] An Cäsar

Die Lage, worin ich mich gegenwärtig befinde, ist recht eigentlich dazu gemacht, meiner Phantasie einen ganz neuen Schwung zu geben. Abgeschnitten von Ihrem interessanten Umgang, mein angenehmer Freund, und auf mehrere Wochen getrennt von meiner theuren Eugenie, bin ich, mehr als jemals, auf mich selbst zurück geworfen. Die süße Gewohnheit, mich Ihnen oder meiner Freundin mitzutheilen, würde für mich zur Folter werden, böte mir die Schriftsprache keinen [3] Ausweg dar. Wenn ich mich lieber an Sie, als an meine Freundin, wende, so geschieht dies, weil ich aufs bestimmteste weiß, daß Sie nur allzu oft gewünscht haben, die Geschichte meiner Entwickelung vollständig zu vernehmen. Wie vollendet Ihre Diskretion auch seyn mag, mein angenehmer Freund, dieser Wunsch mußte in Ihnen entstehen, so oft Sie sich die Frage vorlegten: Woher es doch kommen möge, daß Ihre Mirabella, trotz ihrem Alter und ihrer Jungfrauschaft, noch immer ihren Platz in der Gesellschaft behauptet, und sogar ein Gegenstand der Zuneigung und Achtung bleibt? Gestehen Sie nur, daß Sie sich einige Mühe gegeben haben, dies Räthsel zu lösen, wäre es auch nur geschehen, um begreiflich zu finden, wie ich, zwischen einem Philosophen Ihres [4] Schlages und einer so gebildeten Frau, als unsere gemeinschaftliche Freundin ist, in der Mitte stehend, ein Band abgeben kann, das man als nothwendig empfindet, und immer ein wenig ungern zerreissen sehen wird. Ich müßte Sie aber sehr wenig kennen, wenn ich nicht vorher wissen sollte, daß die Hauptfrage, welche Sie sich in Hinsicht meiner vorgelegt haben, ohne sie jemals vollständig beantworten zu können, immer die gewesen ist: Wie ich mit den körperlichen und geistigen Eigenschaften, in deren Besitz ich gewesen und allenfalls auch noch bin, eine Jungfrau habe bleiben können? In Wahrheit, dies ist das Hauptproblem, das gelöset werden muß, wenn man mich in meiner Individualität begreifen will.

Nun, mein angenehmer Freund, jegliche [5] Frage, die Sie sich, während unserer zehnjährigen Bekanntschaft, in Beziehung auf mich vorgelegt haben mögen, soll Ihnen durch die nachfolgende Erzählung beantwortet werden. Ich will den Zufall, der mir die Feder in die Hand gegeben hat, recht eifrig benutzen, Sie mir für immer zu verbinden. Erst nach drei Wochen kann Eugenie zurückkehren. Bis dahin gehöre ich Ihnen, so viel ich die mit dem Schreiben unauflöslich verbundene Arbeit ertragen kann. Mein Wille ist der beste von der Welt; auch an Heiterkeit und Laune gebricht es mir nicht; denn der lange Winter, den wir seit einigen Wochen überstanden haben, macht einem so angenehmen Frühlinge Platz, daß das Gefühl des inneren Lebens mit verdoppelter Stärke zurückkehrt.

[6] Erwarten Sie aber in meiner Erzählung keine Abentheuer; ich habe nie zu denjenigen gehört, denen dergleichen begegnen können. Was in meiner Geschichte Außerordentliches ist, bleibt noch immer in der Regel, wenn man die Eigenthümlichkeit der Personen ins Auge faßt, welche einen so wesentlichen Einfluß auf meine Entwickelung hatten. Im Übrigen wissen Sie, mein angenehmer Freund, daß es wenig Menschen giebt, die mit ihrem Geschick zufriedener sind, als ich. Die Natur wollte nun einmal, daß in der Reihe der Wesen auch ein solches Geschöpf existiren sollte, wie ich bin. Eben so weit davon entfernt, mich als Muster darstellen zu wollen, als ich entfernt bin, meine eigene Anklägerin zu werden, will ich mich also nur in meiner Eigenthümlichkeit [7] schildern. Ob diese gut sey, oder nicht, darüber mögen Andere entscheiden. Ich selbst bin, wenn ich die Wahrheit gestehen darf, dahin gelangt, daß mich nichts so sehr in Verlegenheit setzt, als die Frage: Ob dies oder jenes gut sey? und nehme, sowohl für mich selbst als für Andere, meine Zuflucht sehr gern zu dem Grundsatz:What ever is, is right.

Auch Sie, mein angenehmer Freund, werden mich so nehmen; und unter dieser Voraussetzung will ich Ihnen alles bekennen, was nur von einigem Interesse für Sie seyn kann.

[8]

Erstes Buch

[9] [11]Wer meine Eltern gewesen sind, vermag ich nicht zu sagen; denn ich habe sie nie kennen gelernt. In einer gewissen Periode meines Lebens lag mir sehr viel daran, hinter das Geheimniß meiner Geburt zu kommen; allein so viel Mühe ich mir auch zu diesem Endzweck gegeben habe, so hab' ich mit aller angewandten Sorgfalt doch nur zu der Vermuthung aufsteigen können: Meine Existenz sey die Wirkung eines Mißbündnisses, welches entweder durch meine Geburt, oder bald nach derselben aufgehoben wurde.

Meine Erinnerungen reichen bis zu meinem sechsten Lebensjahre herab. – Wo ich auch vorher existirt haben mag, in diesem Alter brachte man mich, nach einer Reise, welche wenigstens drei Tage [11] dauerte, in die Wohnung eines französischen Geistlichen, der mit seiner Schwester auf dem Lande lebte. Ich wunderte mich darüber, daß man mich auch hier Mirabella nannte, sobald ich aus dem Reisewagen gestiegen war; denn ich konnte nicht begreifen, wie ganz fremde Personen mich kennen könnten. Wesen und Namen war für mich noch einerlei.

Welche Richtungen mein Inneres auch bis dahin erhalten haben mochte, so lag es in der Natur der Sache, daß sie durch die neue Lage verdrängt wurden; denn so lange der Mensch noch der Entwickelung fähig ist, bestimmt er sich nach seiner Umgebung, die um so kräftiger auf ihn einzuwirken pflegt, je abhängiger er in jedem Betracht von ihr ist. Eigenen Charakter darf man nur solchen Personen zuschreiben, die sich zu Meistern ihrer Umgebung gemacht haben.

Meine Erzieher waren, nach den Bildern, [12] die mir von ihnen übrig geblieben sind, sehr achtungswerthe Personen. Der Geistliche war nämlich ein Mann von mannigfaltigen Talenten, und in jeder Hinsicht so gesetzt und verständig, daß man hätte in die Versuchung gerathen können, ihn für einen Deutschen zu halten; ja, ich muß bemerken, daß er mir von allen französischen Geistlichen, die mir jemals vorgekommen sind, immer als der einzige erschienen ist, der ein lebendiges Gefühl von der Würde seines Berufs hatte. Seine Schwester war seiner würdig. Höchst reinlich in ihrem ganzen Wesen, geschickt in allem, was zu den Verrichtungen einer guten Hausmutter gehört, sanft und nachgiebig, weil sie in ihrem Verstande immer die nöthigen Hülfsmittel fand, war sie das baare Gegentheil von dem, was Französinnen zu seyn pflegen. Dieselbe Deutschheit, welche ihren Bruder zu einem Mann machte, gab ihr [13] die ächte Weiblichkeit, die man bei so wenigen Französinnen antrifft, weil sie immer erst dann einen Werth errungen zu haben glauben, wenn sie aus ihrem Geschlecht getreten sind. Gleich wohl sprachen diese beiden Personen unter sich immer französisch. Hätte die Sprache ihr Wesen bestimmen können, so würden sie Franzosen gewesen seyn; aber dies vermag keine Sprache in der Welt. Nur der Umgang, oder die Totalität gleichartiger Eindrücke, bestimmt die Individualität.

In dem Hauswesen herrschte die größte Ordnung. Der Bruder bewegte sich in seinem Kreise, die Schwester in dem ihrigen. Beide Kreise berührten sich; aber sie griffen nie in einander, weil dies der Freiheit der Bewegung geschadet haben würde. Es war in der That eine Freude, zu sehen, wie diese Geschwister sich gegenseitig achteten. Großmüthig durch [14] sein ganzes Wesen, fand der Bruder nie den Widerspruch der Schwester, wenn seine Liberalität ihrer Sparsamkeit in den Weg trat. Nicht minder entging der ökonomische Geist der Schwester der Kritik des Bruders. Beide schienen, ohne förmliche Verabredung, darin überein gekommen zu seyn, daß sie sich als vernünftige Wesen in ihrem Thun und Treiben respektiren wollten, da es in der Natur der Sache lag, daß sie sich gegenseitig ergänzen mußten, wenn sie den Charakter der Menschlichkeit in der Staatsbürgerei retten wollten, von welcher sich Niemand ganz losreissen kann. Des Bruders einzige Liebhaberei war eine Baumschule; allein auch in dieser Liebhaberei folgte er nur seinem Hange zur Großmuth und zum Wohlthun. Da er von seinen Einkünften nichts verschenken konnte, ohne sich zu schaden; so wollte er wenigstens die Produkte seines Fleisses verschenken. Die [15] ganze Nachbarschaft versorgte er mit jungen Baumstämmen von der edelsten Gattung, ohne jemals eine Entschädigung in baarem Gelde dafür anzunehmen.

Je mehr der ganze Gang des Hauswesens den Bedürfnissen meines Alters entsprach, desto leichter gewöhnte ich mich daran; und da meine Pflegeeltern unter sich selbst so einig waren, daß alles, was Leidenschaft genannt werden mag, aus ihrem Bezirk verbannt war, so konnte es nicht fehlen, daß ich in diese ihre Stimmung hineingezogen wurde. In so fern Liebe ein bestimmtes Gefühl ist, das zur Aufopferung treibt, war dies Gefühl nicht in mir; aber ich theilte die Harmonie des Hauses, und theilte sie um so mehr, weil ich von allen Hausgenossen gleichmäßig behandelt wurde, und die Entstehung dessen, was man Eigensinn zu nennen pflegt, in mir ganz unmöglich war. Was mir immer vorgehalten werden mochte, ich [16] nahm es als Beschäftigung des Thätigkeitstriebes, und fand daher meine Rechnung eben so sehr im Lehrzimmer, als in der Küche und im Garten. Nur in Hinsicht der Autorität unterschied ich meine Umgebung. Die meines Pflegevaters gab den Ausschlag über jede andere. Ihn betrachtete ich im eigentlichen Sinne des Worts als das Haupt, und wo sein Ausspruch einmal erfolgt war, da galt mir kein anderer. Hätte man mir damals gesagt: Es ist ein Unterschied zwischen Wahrheit und Meinung, so würde ich, vorausgesetzt, daß zwei so abstrakte Dinge nicht ganz für mich verloren gewesen wären, auf der Stelle geantwortet haben: Das weiß ich recht gut; denn die Wahrheit ist bei meinem Vater und die Meinung bei den Andern. Das Geschlecht, zu welchem ich gehörte, gab mir diese Deferenz. Wär ich ein Knabe gewesen, [17] so würde die Autorität meiner Pflegemutter entschieden haben.

Ich habe oft gedacht, daß die Erziehung jedes menschlichen Wesens, das nur einigermaßen gerathen soll, höchst einfach seyn müsse. Es kommt zuletzt doch nur darauf an, daß man eine achtunggebietende Individualität gewinne. Wie will man aber zu einer solchen gelangen, wenn es durchaus nicht gestattet ist, bleibende Falten zu schlagen, die, sie mögen nun in Gefühlen oder in Ideen zum Vorschein treten, allein den Charakter ausmachen? In Städten, vorzüglich aber in Hauptstädten, besteht die Erziehung eigentlich darin, daß der eine Eindruck sogleich durch den andern vernichtet werde, so daß der Zögling am Ende in einem leeren Nichts dasteht; dies ist eine nothwendige Folge der allzuweit getriebenen Zusammengesetztheit der Richtungen, welche der Zögling (ob mit oderohne Absicht, gilt hier [18] gleich viel) in den Städten er hält. Auf dem Lande kann so etwas durchaus nicht statt finden; da der Richtungen an und für sich wenigere sind, so ist die ganze Erziehung einfacher, und die natürliche Folge davon ist, daß das Innere des Zöglings eine bestimmte Form annimmt, die sich zuletzt von selbst gegen alle Unform vertheidigt, und im Kampfe mit derselben zu einer höheren Entwickelung führt.

Ganz unstreitig verdanke ich nicht nur den größten, sondern auch den besten Theil meines Wesens der Erziehung, die ich in dem Hause meines Pflegevaters erhielt. Die Gewöhnung zur Reinlichkeit mußte mir die Reinlichkeit zum Bedürfniß machen; und indem der materielle Schmutz ein Gegenstand des innigsten Abscheues für mich wurde, konnte der immaterielle, vermöge des Zusammenhanges, worin das Physische mit dem Geistigen im Menschen [19] steht, keinen Eingang bei mir finden. Mit der Liebe zur Reinlichkeit aber stand die Schamhaftigkeit in der vollkommensten Harmonie. Da das Wohnhaus geräumig genug war, so hatte jedes Mitglied der Familie sein eigenes Schlafzimmer; dabei erforderte eine hergebrachte Sitte, nicht anders als vollkommen angekleidet aus demselben zu treten. Jene Einrichtung und diese Sitte brachten die Wirkung hervor, daß, wie ungezwungen der Umgang im Übrigen auch seyn mochte, doch Keiner von uns begriff, wie es möglich sey, sich in Gegenwart eines Andern aus- oder anzukleiden. Ich mochte ein Alter von zehn Jahren erreicht haben, als der Anblick eines achtjährigen Knaben, der sich in meiner Gegenwart die Strümpfe aufband, mich in eine solche Verlegenheit setzte, daß ich nicht im Zimmer bleiben konnte; und der bloße Umstand, daß ich diese Scene niemals[20] habe vergessen können, beweiset mehr, als alles, was ich darüber zu sagen vermag, wie sehr die Schamhaftigkeit in mein Wesen übergegangen war. Dies verhinderte indessen nicht, daß ich den Umgang mit Knaben, so oft dazu Gelegenheit war, nicht unendlich interessanter gefunden hätte, als den mit jungen Mädchen. Ein geheimer Zug that hier alles; allein wie unwiderstehlich er immer seyn mochte, so folgte ich ihm doch, ich will nicht sagen, mit Vorsichtigkeit – denn diese war für mich gar nicht vorhanden – sondern mit Beibehaltung alles dessen, was mir einmal zur Gewohnheit geworden war, und worüber ich nicht weiter Herr werden konnte. Und so geschah es, daß ich selbst in einem Alter, dem die Herrschsucht ganz fremd ist, die widerstrebende Natur meiner Gespielen männlichen Geschlechts in den Strudel meiner Individualität zog, und diese rettete, ohne für sie zu kämpfen. [21] Fremde Personen nannten mich nicht selten die gesetzte Mirabella; meinen Pflegeeltern hingegen war eine solche Benennung eben so fremd, als mir; unstreitig weil sie einsahen, daß mit dieser Gesetztheit keine Art des Zwanges oder des Calculs verbunden war. Ich bewegte mich minder lebhaft, weil die Freiheit mir habituell war, und ich folglich keine Aufforderung hatte, mich zu übernehmen.

Mein Pflegevater lehrte mich Zeichnen, Rechnen, Lesen, Schreiben; und nachdem ich ein Alter von zwölf Jahren erreicht hatte, kam der Unterricht in der Naturgeschichte und Geographie hinzu. Wie sehr er auch Geistlicher war, so befaßte er sich doch nicht mit der Unterweisung in der Religion; unstreitig aus keinem anderen Grunde, als weil er noch kein bestimmtes Dogma in mich niederlegen wollte. Auch trug er mir nie eine förmliche Moral vor; und deute ich sein Wesen [22] recht, so hatte er dazu den sehr vernünftigen Grund, daß die Liebe keiner Regulative bedarf, und daß der Haß sie verachtet. Seine Urtheile über Menschen und menschliche Verhältnisse waren die eines gebildeten Mannes, der zwar an Unverstand, aber nicht an Bosheit glaubt, und sich daher immer zur Nachsicht und Schonung berufen fühlt. Nie hab' ich ihn in Leidenschaft gesehen; und wenn der Charakter eines Weisen in der Apathie enthalten ist, so war er mehr als tausend Andere ein Weiser.

Von meiner Pflegemutter lernte ich Stricken, Nähen, Brodiren; alles dieses in einem hohen Grade von Vollkommenheit. Wie sehr auch meine Lehrerin in ihren Wirthschaftsangelegenheiten versenkt schien, so fehlte es ihr doch durchaus nicht an Kunstsinn. Die Gewalt des Wahren war für sie eben so wenig vorhanden, als für irgend ein Weib; aber die Gewalt [23] des Schönen offenbarte sich in allen ihren Schöpfungen, in so fern sie alles verabscheuete, was den ewigen Gesetzen der Harmonie widersprach. Zwar sagt man: »Nur das Wahre sey schön«; allein, so weit meine Beobachtung reicht, gilt dieser Ausspruch nur in Beziehung auf Männer; für Weiber ist nur das Schöne wahr, das heißt, sie wollen immer und ewig nur das Schöne, unbekümmert um das Wahre. Vielleicht rührt dieser Unterschied der Geschlechter daher, daß bei den Männern sich die Phantasie dem Verstande, bei den Weibern hingegen der Verstand der Phantasie unterordnet. Wie dem aber auch seyn mag, noch immer soll das Weib geboren werden, bei welchem die Schönheit des Euclideischen Systems Sache der Empfindung oder Anschauung ist.

Unbemerkt wuchs ich unter so wohlthätigen Einflüssen, als meine Pflegeeltern waren, heran. Meine Entwickelung ging [24] um so glücklicher von statten, da nichts vorhanden war, was sie hätte stören oder verhindern können. In einem Alter von funfzehn Jahren war mein Wuchs vollendet, und meinem Umriß nach hätte man mich für ein junges Mädchen von achtzehn bis zwanzig Jahren halten können. Über das Mittelmaaß hinaus groß und von einer anziehenden Fülle, vereinigte ich Brünettheit mit einer blendenden Weiße, und keiner von meinen Gesichtszügen widersprach der Weiblichkeit. Wer mich sah, verweilte mit Wohlgefallen bei meinem Anblick; was man aber ganz laut bewunderte, war die Üppigkeit meines kastanienbraunen Haarwuchses; ich hätte ihn als Schleier gebrauchen können, so lang und dicht war er. Die Aufmerksamkeit, welche mir alle Fremden bewiesen, führte mich vor den Spiegel, der mir bisher durchaus gleichgültig gewesen war; ich suchte den Grund dieser Aufmerksamkeit, [25] und wer will es mir verargen, daß ich ihn in dem Abstich fand, den meine Gestalt von denen meiner Umgebung machte? Mit Wahrheit aber kann ich versichern, daß mich das öftere Hintreten vor den Spiegel nicht eitel machte; diese Beschauung gewährte mir nur ein Bild von mir selber, und mit dem Bilde die Überzeugung, daß ich, wo nicht schön, doch wenigstens hübsch sey; zu Ansprüchen und zur Coketterie verleitete sie nicht, und konnte sie nicht verleiten, weil meine Vorzüge mir von Niemand bestritten wurden. Man könnte glauben, ich sey in meiner Jugend sehr eitel gewesen, da mir ein so bestimmtes Bild von mir selbst geblieben ist; allein das ist das Eigenthümliche der weiblichen Einbildungskraft, daß sie im Stande ist, die Bilder fest zu halten, welche derselbe Gegenstand in seinen verschiedenen Entwickelungsperioden gegeben hat. Schwerlich wird irgend ein Mann die Gestalt, welche [26] er als Jüngling hatte, in späteren Jahren bei sich selbst zur Anschauung bringen können; ein Weib aber kann dies ohne alle Mühe, und wenn sie sich auf Malerei versteht, so muß an der Wahrheit des Bildes, das sie von ihrem früheren Wesen entwirft, auch nicht das Geringste abgehen, vorausgesetzt nur, daß ihre Einbildungskraft nicht durch Eitelkeit verdorben worden ist.

Es war um diese Zeit öfters davon die Rede, daß meine Erziehung nur in der Hauptstadt vollendet werden könnte; und da mir die Nothwendigkeit einer höheren Ausbildung nicht einleuchtete, so rief der Gedanke an eine nahe Trennung von meinen Pflegeeltern die ersten traurigen Gefühle auf, die ich bis jetzt gehabt hatte. Ob ich diese meine Pflegeeltern liebte oder nicht, war mir bisher eben so unbekannt geblieben, als dem wirklich Gesunden das Gefühl der Gesundheit. Jetzt, wo ich der [27] süßen Gewohnheit mit ihnen zu leben, entsagen sollte, wurde mir zuerst klar, wie innig ich mit allen meinen Neigungen an ihnen hing. Meine Traurigkeit war um so tiefer, je größer meine Unerfahrenheit war, und je weniger ich folglich der Lockung folgen konnte, welche mit der Aussicht auf neue Verhältnisse in der Regel verbunden ist. Dieselbe Stimmung waltete bei meinen Pflegeeltern ob; es lag nur allzu sehr am Tage, daß auch sie sich seit neun Jahren verwöhnt hatten, und daß es ihnen Mühe machte, dem natürlichen Bedürfniß des Menschen, zu lieben und geliebt zu werden, schnell zu entsagen. Selbst mein Pflegevater verlor einen guten Theil seiner gewöhnlichen Heiterkeit, während seine Schwester, den edleren Theil ihres Wesens hinter dem unedleren verbergend, nicht aufhörte zu bedauern, daß ihr für ihre Wirthschaft eine so zuverlässige Stütze entrissen würde, als sie seit drei Jahren an mir gehabt.

[28] Das Schicksal nahm sich der ganzen Familie dadurch an, daß mein Pflegevater als Prediger in die Hauptstadt berufen wurde. Ich sage: »das Schicksal,« weil ich mich nicht anders ausdrücken kann. Unstreitig ging auch dies sehr natürlich zu, und allen meinen späteren Vermuthungen nach, hatte mein Pflegevater seine Berufung bei weitem mehr dem Verhältniß zu verdanken, in welchem er zu mir stand, als seinen persönlichen Eigenschaften, wie achtungswerth diese auch seyn mochten. Dem sey indeß wie ihm wolle, es war uns allen herzlich lieb, daß wir zusammen bleiben konnten.

Das einzige Problem, das noch zu lösen war, bestand in der Trennung von dem Grund und Boden, auf welchem wir bisher gelebt hatten, die Nachbarschaft mit inbegriffen. Vorzüglich fiel es meinem Pflegevater schwer, sich von seiner Baumschule zu trennen, die ihm um so [29] theurer seyn mußte, weil die Entwickelung in ihr nach solchen Gesetzen erfolgte, deren sich die Willkühr vollkommen bemächtigen kann. Er pflegte öfters zu sagen: Er habe nie heirathen mögen, weil er nichts so sehr verabscheut habe, als den Gedanken an ein ungerathenes Kind; aber er freue sich darüber, daß er ein Gärtner geworden sey, weil die Gärtnerei ihm jede Schadloshaltung gewähre, die der Kinderlose wünschen könne. Dem ungeachtet gab das Menschliche in ihm den Ausschlag über das Räsonnement, so oft beide in Opposition geriethen; und dies zeigte sich auch gegenwärtig, da die großmüthige Zuneigung, die er für mich gefaßt hatte, ihn den Kummer überwinden ließ, der mit einer ewigen Trennung von seiner geliebten Baumschule unauflöslich verbunden war. Wie sehr sie ihm am Herzen lag, zeigte sich in der Folge sehr häufig, indem sein Gemüth ihn in den[30] Abendstunden regelmäßig den Gedanken an seine Baumschule zurückrief, bis er nach einigen Jahren die Nachricht erhielt, daß sie durch die gänzliche Vernachlässigung seines Nachfolgers eingegangen sey. Der Seufzer, der ihm bei dieser Gelegenheit entfuhr, sagte sehr deutlich, wie viel er mir aufgeopfert hatte; in der That um so mehr, je uneigennütziger und anspruchsloser er in jeder Hinsicht war.

Nach unserer Ankunft in der Hauptstadt sollte ich vor allen Dingen Musik und Tanz lernen. Beides würde ich mit großer Leichtigkeit gelernt haben, hätte ich solche Lehrer gefunden, als mein Pflegevater war. Es fehlte mir weder an Lust, noch an Fähigkeit; aber die Eigenthümlichkeit meiner Lehrer verhinderte alle Fortschritte, die ich hätte machen können, und wurde auf diese Weise die Ursache, warum zwei Talente, die ich erwerben konnte, mir immer fremd geblieben sind.

[31] Mein Lehrer in der Musik galt für einen Meister in seiner Kunst. Wäre er blos Künstler gewesen, so würde von seinem Wesen so viel auf mich übergegangen seyn, als sich mit meiner Natur vertrug; allein da er zugleich ein galanter Mann seyn wollte, so mußte das, was er seine Artigkeit nannte, ihm einen so lächerlichen Anstrich bei mir geben, daß wesentliche Fortschritte in der Musik unter seiner Leitung für mich unmöglich wurden. Alles ging vortrefflich, so lange er mich für eine junge Person seines Standes hielt; sobald er aber gehört hatte, daß man michFräulein Mirabella nannte, veränderte er seine Methode auf Kosten seiner Kunst. Bis dahin hatte er ganz treuherzig gesagt: So und so muß es seyn. Jetzt bat er, daß es mir belieben möchte, es so und so zu machen. Griff ich f statt fis, so bat er sich ein gnädiges fis aus. Überhaupt war seine Deferenz gegen das Vorurtheil [32] des Geburtsadels so groß, daß er es nicht offenbaren konnte, ohne mich aus allen meinen Angeln zu heben. Unbeschreiblich weh that mir diese Wegwerfung; und um den unangenehmen Gefühlen zu entgehen, welche so wie der Mann nun einmal war, von dem Unterricht nicht getrennt werden konnten, gebrauchte ich den Ausweg, ihn allein ans Clavier zu setzen, und das zu singen, was er spielte. Auf diese Weise bildete ich meinen Sinn für Musik aus, ohne jemals die gewöhnliche Fertigkeit zu erwerben, welche sich durch die Fingerspitzen offenbaret; und ich weiß nicht, ob diese Ausbildung nicht die vorzüglichere war, da sie hinreichte, um zur Kenntniß dessen zu gelangen, was wahre Musik ist, und mich im Übrigen von jener Virtuosität, welche die Weiblichkeit vernichtet, entfernt hielt. Im Grunde hab' ich nie bedauert, daß ich keine größeren Fortschritte gemacht habe.

[33] Mein Tanzmeister war das vollkommenste Gegentheil von meinem Lehrer in der Musik. Ein geborner Franzose, lebte und webte er in seiner Kunst, welche in seinem Urtheil das Complement aller menschlichen Vollkommenheiten war. Ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte, daß er auf das allervollkommenste in ihr untergegangen war; denn nichts verdiente seine Schonung, was der vollendeten Ausübung der Tanzkunst in den Weg trat. Wie wurde mir gleich in der ersten Lection zu Muthe, als er, nach den ersten Vorzeigungen, mich unsanft bei der Schulter faßte, um meinen Füßen durch die seinigen die kunstmäßige Stellung zu geben! Alles, was Gemüth genannt werden kann, wurde in mir aufgeregt, und hätte ich nicht die Idee eines Lehrers festgehalten, so würde ich auf der Stelle die verletzte Schamhaftigkeit gerächt haben. Mit glühenden Wangen kehrte ich auf mein Zimmer [34] zurück, als die Lection geendigt war; und als meine Pflegemutter mich fragte, was mich in einen solchen Aufruhr gesetzt habe, war ich schlechterdings nicht im Stande, ihr irgend eine Antwort zu geben; so groß war meine Verworrenheit. Zagend ging ich in die zweite Lection. Daß meine Geschicklichkeit dadurch nicht gewann, versteht sich ganz von selbst. Mein Lehrer sprach mir den Muth ein, der die große Mehrheit aufrichtet, mir aber gar nicht fehlte. Die Übung wurde fortgesetzt, wiewohl ich schon halb betäubt war. Anstatt zu rechter Zeit abzubrechen, gerieth der Meister in den gemeinen Kunsteifer; und indem er sagte, daß eine so edle Figur, wie die meinige, sich auch edel bewegen müsse, stürzte er auf mich zu, und bog, weil ich die Füße nicht auswärts genug setzte, meine Knie mit den seinigen aus einander. Dies war aber mehr, als ich ertragen konnte. Eine [35] Beleidigung meiner Schamhaftigkeit hatte ich verschmerzt; einen Angriff auf dieselbe glaubte ich ahnden zu müssen. Ich sprang also unmittelbar nach geschehener That auf den Meister zu, gab ihm eine Ohrfeige und lief athemlos auf mein Schlafzimmer. Jetzt mußte die Sache zur Sprache kommen. Der Meister, der nicht wußte, wie er zu der Ohrfeige gekommen war, beklagte sich dar über bei meinem Pflegevater, und als mich dieser zur Rechenschaft forderte, kam mit meiner Unschuld die seinige freilich an den Tag, die Lectionen aber waren einmal für allemal abgebrochen, weil ich erklärte, daß ich lieber gar nicht tanzen lernen, als allein unterrichtet werden wollte. Diese Erklärung hatte die Folge, daß man noch einige andere junge Mädchen in die Lectionen zog; aber wie sehr mein Gefühl dadurch auch erleichtert werden mochte, so konnte ich mich doch nie gewöhnen, das [36] Tanzen als eine freie Kunst zu nehmen. Mit brennenden Wangen ging ich in den Tanzsaal; mit brennenden Wangen verließ ich ihn. Es war mehr ein Abäschern gegen den Willen des Gemüths, als eine Bewegung auf Geheiß desselben, was ich Tanzen nennen mußte; und daher ist es unstreitig gekommen, daß ich mein ganzes Leben hindurch so gleichgültig gegen dies Vergnügen geblieben bin, dem Andere so bereitwillig Gesundheit und Leben aufopfern. Auch bin ich in dieser Hinsicht immer eine Stümperin gewesen.

Obgleich die Lektüre damals noch nicht zu den Dingen gehörte, welche die Elemente einer weiblichen Erziehung ausmachen; so war ich doch durch meinen Pflegevater von meinem funfzehnten Jahre an mit drei französischen Dichtern bekannt geworden, die ich unablässig las und beinahe auswendig lernte. Es waren de la Fontaine, Peter Corneille und Racine. [37] Die Fabeln des erstern zogen mich unendlich an, weil in ihnen eine Welt enthalten ist, worein ein jugendlicher Geist sich nur mit Entzücken verlieren kann. Corneille und Racine beschäftigten mich gleich sehr; und ob man gleich glauben sollte, daß ich, als Frauenzimmer, meine Rechnung nur bei dem letzteren gefunden haben könne, so gestehe ich doch ohne Bedenken, daß die Stärke Corneille's mir wenigstens eben so zusagte, als die Sentimentalität Racine's; ja daß ich dem ersteren um des kräftigen Gemüthes willen, das aus ihm spricht, im Ganzen den Vorzug gab, wie eifrig auch die Männer darauf bestehen mochten, daß ich nur den letzteren lieben könnte und dürfte. Ich müßte mich sehr irren, oder ein Schriftsteller interessirt immer nur in so fern, als seine Gedanken Abgründe enthalten, in welche man nur schwindelnd blickt. Mit der natürlichen Vorliebe, welche der Mensch [38] für das Große und Starke hat, hab' ich in der Folge versucht, mir auch Shakspears Geist anzueignen; allein dies hat mir nie gelingen wollen, und hab' ich mich anders gehörig beobachtet, so ist es der Mangel an Züchtigkeit in den Werken des Engländers, was mich beständig von ihm zurückgeschreckt hat. Shakspear hat nur für Männer geschrieben, und Weiber, welche seine Trauerspiele und Lustspiele mit Vergnügen lesen, verderben nichts mehr an sich selbst, wenn sie Pferde zureiten, Armeen kommandiren, und jedes andere Geschäft verrichten, das die Natur dem Manne zugetheilt hat. Sie haben ihren Lohn dahin, indem sie der Weiblichkeit entsagt haben.

So lange ich auf dem Lande gelebt hatte, waren mir gewisse Empfindungen ganz unbekannt geblieben. Dahin gehörten die des Mitleids und Erbarmens, für welche es auf dem Dorfe, das ich in der [39] Gesellschaft meiner Pflegeeltern bewohnte, keine Gegenstände gab, weil der Überfluß an Naturgütern wohl zur Gefälligkeit, aber nicht zur Großmuth führen kann. In die Hauptstadt versetzt, fand ich nur allzubald Gelegenheit, aus mir selbst heraus zu treten, um mich mit der zahllosen Menge derjenigen zu identifiziren, welche, ausgeschlossen von den Vortheilen der gesellschaftlichen Arbeit, ihre Zuflucht zu der menschlichen Milde nehmen müssen. Je weniger ich auf den Anblick des Kummers und der Ohnmacht vorbereitet war, desto heftiger wirkte er auf mich ein. Ich gab, was ich nur einigermaßen entbehren konnte, und that mir nicht eher genug, als bis ich die Entdeckung gemacht hatte, daß man für Hülfsbedürftige nichts thut, so lange man ihnen nicht gerade das giebt, was ihnen nothwendig ist. Von jetzt an gewann mein Mitgefühl den Charakter der Thätigkeit; und ob es gleich [40] dadurch an innerer Stärke verlor, so war doch jeder Akt der Milde mit desto mehr Vergnügen für mich verbunden, je bestimmter ich mir sagen konnte, wodurch ich ihn zu Stande gebracht hatte. Jenes müssige Wohlthun, wodurch man sich zuletzt entweder von einem unangenehmen Gefühl loskauft, oder sich die eigene Unbedürftigkeit klar macht, ist mir seitdem immer fremd geblieben; und was die Vertheidiger der Selbstheit auch immer zur Rechtfertigung ihres Systemes sagen mögen, so hab' ich immer an mir selbst zu bemerken geglaubt, daß außer der Selbstheit noch etwas anderes im Menschen ist, das, mag man es doch nennen wie man wolle, allein zu Aufopferungen und Anstrengungen für die Gesellschaft führen kann. Es war, wenn ich nicht irre, eine Französin, welche über ihre Thüre schrieb: Sparsamkeit ist die beste Quelle der Großmuth; aber diese Frau empfand bei [41] weitem richtiger, als Helvetius dachte, der in seinen Werken etwas Bewundernswürdiges geleistet haben würde, wenn er das Problem seiner eigenen herrlichen Natur gelöset hätte.

Der Zeitpunkt war gekommen, wo ich in die Gemeinschaft der Christen durch einen förmlichen Akt aufgenommen werden mußte. Mein Pflegevater selbst wollte diesen Akt verrichten, und bereitete mich daher auf das sorgfältigste dazu vor. So viel ich mich seines Unterrichts noch jetzt erinnern kann, unterschied er Christenthum von christlicher Religion. Das erstere setzte er in eine gewissenhafte Anwendung des Moralprincips auf alle die gesellschaftlichen Verhältnis se, in welchen sich das Individuum befindet; in der letzteren erblickte er eine Sammlung von Anschauungen des Inneren der menschlichen Natur, welche die Dumpfheit des Mittelalters in Mysterien verwandelt hatte. Nach ihm [42] war z.B. die Lehre von der Dreieinigkeit mit einer Art von Nothwendigkeit aus dem Innern des Menschen hervorgegangen. »Von jeher,« sagte er, »war das Bestreben des menschlichen Geistes darauf gerichtet, das Unbegreifliche zu begreifen. Hierbei konnte es nicht fehlen, daß der Mensch sich zuletzt selbst an die Stelle der ersten Ursache aller Erscheinungen setzte. Da eine Kraft in ihm vorhanden war, aus welcher alle seine Schöpfungen hervorgingen, so stellte er diese Kraft (den Geist) symbolisch als denVater dar. Eine andere Kraft in ihm (das Gemüth) enthielt die ewigen Aufforderungen zu neuen Schöpfungen; und wie hätte diese Kraft schicklicher personifizirt werden können, als unter dem Bilde des Sohnes, der den Vater liebt und von ihm geliebt wird? Die dritte Kraft ging aus dem Verhältnisse der beiden ersteren hervor, und war in sich selbst das [43] Bewußtseyn der größeren oder geringeren Harmonie der beiden ersteren Kräfte (Gewissen); daher die symbolische Bezeichnung derselben durch den heiligen Geist, der von Vater und Sohn ausgeht. Die Lehre von der Dreieinigkeit lag also wesentlich im Menschen, und ist im Grunde genommen die umfassendste Reflection, die der Mensch jemals über sich selbst gemacht hat. Ein Gegenstand des blinden Glaubens und des spottenden Zweifels, so lange das Innere noch nicht erwacht ist, wird sie ein Gegenstand der unmittelbaren Anschauung und der innigsten Überzeugung, so bald man anfängt, sein eigenes Wesen zu zergliedern. Wie viele Spötter unserer Zeit würden plötzlich verstummen, wenn es möglich wäre, ihnen den wahren Sinn des neuen Testaments und der ersten Kirchenväter einzuimpfen! Man findet es gegenwärtig ehrenvoll ein Atheist zu seyn; aber nur weil [44] man nicht weiß, was ein Atheist ist. Sey man es immerhin in Beziehung auf den Gott der Priester, und so bald von einerfurchtbaren Weltursache die Rede ist; aber ist die Weltursache von beiden nicht wesentlich verschieden? In Beziehung auf diese ist es an und für sich unmöglich ein Atheist zu seyn, und versteht man das neue Testament auch nur einigermaßen, so entdeckt man eine auffallende Harmonie zwischen Schrift und Vernunft. Was kann das Christenthum besser charakterisiren, als der Ausspruch: Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die Liebe treibet die Furcht aus? Und was ist zugleich erhabener und umfassender, als der Satz: Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm? Wir müssen nur nicht außer uns suchen, was nur in uns seyn kann; und wir sind alles, was wir werden können, wenn unser Geist [45] mit unserem Gemüthe in einer solchen Harmonie stehet, daß die Verletzung desselben uns als eine Vernichtung unsers ganzen Wesens erscheinen muß.«

Auf diese Weise erklärte mir mein Pflegevater jedes andere Dogma der christlichen Religion, mir das Geheimniß meines Inneren entschleiernd und mir Achtung vor mir selbst einflößend. Ein Ausspruch, der für ihn einen tiefen Sinn enthielt, und den er mir oft wiederholte, um ein bleibendes Ideal in mich niederzulegen, war der Ausspruch, wodurch der Stifter des Christenthums seine Schüler aufforderte: Klug zu seyn, wie die Schlangen, und ohne Falsch, wie die Tauben. Auch ist mir dieser immer gegenwärtig geblieben.

Der Sitte jener Zeiten gemäß, durfte ein junges Mädchen nicht eher öffentlich erscheinen, als bis sie durch die Confirmation dazu berechtigt war; durch diese [46] erhielt man gleichsam ein Beglaubigungsschreiben der Zulässigkeit und Würdigkeit, und ich gestehe, daß ich diese Einrichtung ungern habe zu Grunde gehen gesehen, weil doch einmal eine gewisse Reife erfordert wird, um das sociale Interesse zu theilen. Mein erster Eintritt in die gesellschaftlichen Kreise der Hauptstadt war ohne allen Eclat. Nach den Vorbereitungen, die ich erhalten hatte, war ich nichts weniger, als verlegen; aber von allen den gesellschaftlichen Eigenschaften, wodurch man in die allgemeine Stimmung eingreift, war auch keine einzige in mir. Mein Äußeres schien in dieser Hinsicht bei weitem mehr zu versprechen, als mein Inneres zu halten im Stande war. Man brachte mich auf allerlei Witz- und Kitzelproben; ich bestand keine einzige derselben, weil mein Geist dazu durchaus nicht abgerichtet war. Dagegen trat mein Inneres bei jeder [47] Gelegenheit so ungeschminkt, gesund und kräftig hervor, daß ich denjenigen, die mich durchaus nach sich modeln wollten, alle Lust benahm, ein hartes Urtheil über mich zu fällen. Ich hatte sehr bald das Vergnügen, zu bemerken, daß man sich in allen ernsthaften Dingen vorzugsweise an mich wandte, und mir also den Mangel an Witz um der höheren Verständigkeit willen verzieh, die mir beiwohnte. Wie viel meine gute Miene dazu beitrug, die Gemüther mit meiner Eigenthümlichkeit zu versöhnen, will ich nicht berechnen; so ausgemacht es auch ist, daß die Anspruchslosigkeit eines sonst klaren und regelmäßig gebildeten Gesichtes immer damit endigen muß, die Herzen zu gewinnen. Mehr als alles Übrige pronirte mich der Beifall bejahrter Frauen in der Meinung des Publikums. Es konnte nicht fehlen, daß ich mit den soliden Eigenschaften, die ich von meiner ersten Jugend [48] an zu erwerben Gelegenheit gehabt hatte, ihnen unendlich mehr Berührungspunkte darbot, als andere junge Mädchen oder Frauen; und indem sie die schwer erworbene Solidität des Alters in mir wiederfanden, und sich also in mir verjüngt erblickten, blieb ihnen schwerlich etwas anderes übrig, als mir das Wort zu reden, wofern sie sich nicht selbst herabsetzen wollten.

Es kam auf diesem Wege nur allzubald dahin, daß ich von Allen gesucht wurde. Man möchte nun glauben, daß ich ein Gegenstand des Neides für andere Mädchen meines Alters geworden sey; dies war aber durchaus nicht der Fall. Da ich keiner in den Weg trat, so wurde ich mit meiner Gutmüthigkeit ein Stützpunkt für alle, so daß selbst diejenigen von ihnen, welche die meisten Ansprüche auf Werthschätzung machten, mir gegenüber diese Ansprüche fahren ließen, und [49] sich, wenn sie uneins mit sich selbst geworden waren, auf mein Urtheil und meine Entscheidung bezogen. In Wahrheit, es mochte keine alltägliche Erscheinung seyn, ein junges Mädchen von siebzehn bis achtzehn Jahren, das, wo nicht schön, doch wenigstens nichts weniger als häßlich war, in physischer und moralischer Kraft den Ausschlag über ihres gleichen geben, und sich doch niemals überheben zu sehen. Das Räthselhafte dieser Erscheinung wurde durch meine Erziehung gelöset; allein diese Erziehung wurde wiederum dadurch zum Räthsel, daß die wenigsten Menschen – weil es einmal das Eigenthümliche der menschlichen Natur mit sich bringt, sich vor allen Dingen mit sich selbst zu beschäftigen – die Fähigkeit haben, solche Charaktere, als meine Pflegeeltern, zur Anschauung zu bringen. Ich blieb also immerdar ein Räthsel, das man nicht anders lösen zu können glaubte, als [50] durch Voraussetzung einer höheren Natur, welche die Morgengabe meiner Geburt gewesen.

Ich selbst fing an, mir unbegreiflich zu werden, so wie ich in der Meinung Anderer höher emporstieg. Dem Abstich, den ich durch meine Individualität bildete, die Deferenz, welche man mir von allen Seiten her bewies, zuzuschreiben, dazu war ich mit aller Verständigkeit doch noch zu unschuldig. Da ich nun in Zeiten lebte, wo man noch gar keine Ahnung davon hatte, daß eine vornehme Geburt nichts geben, wohl aber sehr viel nehmen kann, wenn nicht von staatsbürgerlichem, sondern von rein-menschlichem Werth die Rede ist; so gerieth ich auf die natürlichste Weise von der Welt auf den Gedanken, daß ich über mich selbst unfehlbar ins Reine gekommen seyn würde, so bald ich mir die nöthigen Aufschlüsse über meine Abkunft verschafft hätte. [51] Ich wunderte mich, daß ich einen so gesunden Gedanken nicht längst gehabt hätte. »Man nennt dich,« sagte ich zu mir selbst, »allenthalben Fräulein Mirabella; dies setzt voraus, daß deine Eltern von Adel gewesen sind. Warum ist aber nie von deinen Eltern die Rede? Du kannst doch kein isolirter Strahl seyn. Die ganze Welt um dich her giebt zu, daß du es nicht bist, und doch wirst du wiederum durch die ganze Welt gezwungen, dich dafür zu halten.« Mit solchen Ideen wandte ich mich an meinen Pflegevater, zum voraus überzeugt, daß er mir kein Geheimniß aus meiner Geburt machen würde, wofern er nur selbst davon unterrichtet wäre. »Sie wissen, mein theuerster Vater,« redete ich ihn an, »wie grenzenlos meine Liebe und Achtung für Sie ist. Hatte je ein menschliches Geschöpf Ursach, mit seinem Geschick zufrieden zu seyn, so hab' ich alle möglichen Bewegungsgründe, [52] das meinige zu segnen; der Zufall, der mich Ihrer Pflege übergab, war in jedem Betracht ein beglückender. Allein, da ich nur Ihre geistliche Tochter bin, und von der ganzen Welt, Sie selbst nicht ausgenommen, als solche behandelt werde: so sagen Sie mir doch endlich, wer die eigentlichen Urheber meines Daseyns sind. Ich weiß nicht, ob ich irgend etwas für sie werde empfinden können; denn alles, was von Dankbarkeit und Liebe in mir ist, haben Sie und meine theure Pflegemutter unstreitig für immer in Beschlag genommen. Aber mich drückt das Geheimnißvolle meiner Geburt; und der Wunsch, den Schleier, der auf ihr ruht, gelüpft zu sehen, wird um so lebhafter, je öfter ich bemerke, welchen hohen Werth man auf die Abkunft legt, und wie man auch mich, um meiner vorausgesetzten guten Abkunft willen, auszeichnet. Es ist mir, als wenn mein Inneres [53] gewinnen würde, so bald die Ungewißheit, worin ich über diesen Punkt bisher gelebt habe, beendigt seyn wird.«

Mein Pflegevater hörte mich, seinem Charakter gemäß, sehr ruhig an, und nachdem er mich auf einen Sessel hingezogen hatte, der neben seinem Lehnstuhl stand, antwortete er mir folgendes: »Dein Ursprung, meine geliebte Tochter, ist mir selbst immer ein Geheimniß geblieben. Es war der geheime Rath von K..., der mir deine Erziehung antrug. Von ihm hab' ich sehr regelmäßig die Gelder erhalten, welche bei der ersten schriftlichen Verhandlung stipulirt wurden. Ob er aber im Stande ist, Auskunft über deine Geburt zu geben, weiß ich nicht; ich habe es aber immer vermuthet, weil er dich in seinen Schreiben immer Fräulein Mirabella nannte. Wenn du von mir verlangst, daß ich ihn um Erörterungen bitten soll, so kann ich nicht umhin, dir eine [54] abschlägige Antwort zu geben. Meiner Einsicht nach, wirst du wohl thun, wenn du die ganze Sache fürs erste auf sich beruhen läßt. Ich gebe zu, daß diese Ungewißheit dich drückt; ich gebe sogar zu, daß es gut seyn würde, wenn diese Ungewißheit gehoben werden könnte. Allein so lange deine Eltern nicht von selbst zum Vorschein treten, wirst du dich vergeblich bemühen, sie kennen zu lernen und dich nur unglücklich machen. Zu deiner Beruhigung kann ich dir noch das sagen, daß (der Schleier, der auf deiner Geburt ruht, mag gelüpft werden, oder nicht) dein Schicksal wenigstens in sofern gesichert ist, als du Vermögen genug hast, mit Freiheit in der Gesellschaft dazustehen. Diese Notiz verdanke ich den Erklärungen des geheimen Raths. Ich füge nur noch hinzu: daß die Welt dich immer nach deinem Werthe nehmen wird, und daß es also nur von dir abhängt, das Allerhöchste zu seyn

[55] Die Bemerkung, womit mein Pflegevater seine Antwort beschloß, sprach mich ungemein wohlthätig an; sie machte auf mich ungefähr eben den Eindruck, den ein kühlendes Lüftchen auf den erhitzten Wanderer macht. Ich faßte ihre Wahrheit sogleich, wiewohl ich in keine geringe Verlegenheit gerathen seyn würde, wenn ich sie auf der Stelle hätte zergliedern sollen. Da mein Pflegevater mir unmittelbar vorhergesagt hatte, daß mein Schicksal vollkommen gesichert wäre; so würde ich mich, seinem Wunsch gemäß, beruhigt haben, hätte er mir nicht zu verstehen gegeben, daß der geheime Rath von K... allein im Stande sey, das Dunkel aufzuhellen, das auf meiner Geburt ruhete. Auf eine sehr natürliche Weise erhielt meine Neugierde eine Bundesgenossin an der Eitelkeit. Was meinem Pflegevater nicht gelungen war, das könnte, dachte ich, mir gelingen; und da mir die besondere[56] Aufmerksamkeit, womit der geheime Rath mich beehrte, so oft wir an irgend einem dritten Orte zusammentrafen, nicht entgangen war, so nahm ich mir vor, ihn, der mir, unter anderen Umständen, ewig gleichgültig bleiben mußte, so für mich zu interessiren, daß er von selbst mit dem Geheimniß hervorträte. Mir schlug das Herz, indem ich diesen Vorsatz faßte; allein wie bestimmt ich auch fühlen mochte, daß er meiner unwürdig sey, so hatte ich doch nicht den Muth, ihm zu entsagen, oder ihn nicht in Ausübung zu bringen. Wie wenig kannte ich die Welt! Derselbe Mann, der mir vorher in allen Dingen zuvorgekommen war, und, um mich liebkosen zu können, seinen Ernst beseitigt hatte, nahm die allerabschreckendste Amtsmiene an, so bald er bemerkt hatte, daß ich ihm näher trat. Was blieb mir nun noch anderes übrig, als dem Rathe meines Pflegevaters zu folgen? Die Lektion, [57] die mir für meine Eitelkeit geworden war, tief empfindend, faßte ich den Entschluß, gar nicht weiter an meine Geburt zu denken. Dies gelang mir auch so gut, daß ich nur durch den Tod des geheimen Raths (der ungefähr ein halbes Jahr darauf erfolgte) an die Neugierde zurück erinnert wurde, die mich einen Monat hindurch so eigenthümlich gequält hatte. Als ich die Nachricht von diesem Tode erhielt, war mir zu Muthe, wie einem, der nicht in den Besitz des versprochenen Schatzes gelangt ist, weil seine Wünschelruthe nichts taugte.

Ich war um so gelassener, weil um diese Zeit mein Kopf in eben den Wirbel gezogen wurde, worin sich die Köpfe aller jungen Mädchen von meiner Bekanntschaft dreheten. Nichts ergreift eine weibliche Einbildungskraft so heftig und sicher, als die lebendige Vorstellung des schönen Zukünftigen. Die ganze Gegenwart versinkt, [58] wenn von etwas Schönen die Rede ist, das mit Gewißheit erwartet werden kann; ist dies Schöne aber vollends ein Mann, so dürfte in der Zusammensetzung des Weibes schwerlich etwas enthalten seyn, das verlorne Gleichgewicht sogleich wieder herzustellen. Wie fest ich auch war, und wie noch weit fester ich mich auch glaubte, so verlor ich doch die Tramontane, so bald ich nicht umhin konnte, die Freude zu theilen, welche das Fräulein Z... über die Zurückkunft ihres Bruders aus Italien empfand. Dies hing auf folgende Weise zusammen:

Ungefähr um eben die Zeit, wo meine Pflegeeltern mit mir in die Hauptstadt gezogen waren, hatte sich die Frau von Z... mit ihrer Tochter daselbst niedergelassen. Das Fräulein war von meinem Alter, und ihre nächste Bestimmung fiel mit der meinigen zusammen, in sofern wir unsere letzte Ausbildung in der Nähe eines [59] Hofes erhalten sollten, der in dem Rufe stand, der allergesittetste in Deutschland zu seyn. Unsere Bekanntschaft war bald gemacht, und die Verschiedenheit unserer Charaktere brachte es mit sich, daß wir Freundinnen wurden. Unruhig, heftig, witzig, in ihrem Witze nicht selten beleidigend, und aus allen diesen Gründen zusammengenommen eben so oft von sich selbst, als von der Welt verlassen, bedurfte Adelaide (so hieß meine junge Freundin) einer Stütze, die sie nur in einem so sanften, stetigen und verständigen Wesen finden konnte, als ich nun einmal war. Ich meiner Seits bedurfte eines starken Reizes, um mir, bei dem gänzlichen Mangel glänzender Eigenschaften, der inneren Güte meiner Natur bewußt zu werden; und da ich diesen Reiz vorzüglich in Adelaiden fand, so suchte ich sie wenigstens eben so sehr, als ich von ihr gesucht wurde. Unsere Freundschaft [60] war weit davon entfernt, eine leidenschaftliche zu seyn; aber gerade weil ihr dieser Charakter fehlte, war sie nur um so zuverlässiger und traulicher. Bisweilen mußte es das Ansehn gewinnen, als ob ich für Adelaiden alles dasjenige wäre, was der Mann, als Intelligenz und moralische Kraft genommen, dem Weibe ist; allein da das Weib, seinem geistigen Wesen nach, nie ein Mann werden kann, so geschah es nicht selten, daß sich unser Verhältniß umkehrte. Es waren zwei Talente in Adelaiden, welche dies bewirkten: nämlich das musikalische und das poetische. Ich fühle, daß ich mich hier sehr unvollkommen ausdrücke; aber ich will versuchen, die Sache selbst ohne Kunstausdrücke zu fixiren.

Adelaide hatte eine ungemeine Fertigkeit auf dem Claviere, und liebte es, Proben ihrer Geschicklichkeit abzulegen. In dieser Hinsicht paßten wir vortreflich zusammen; [61] denn da ein solches Talent nicht in mir war, und meine Liebe für Musik darunter gar nicht litt, so halfen wir uns vortreflich aus, Adelaide mir, indem sie mir etwas vorspielte, ich Adelaiden, indem ich mich ihrer Kunst hingab, und diese von Zeit zu Zeit durch meine Stimme verschönerte. Außerdem fand meine Freundin sehr viel Vergnügen am Versemachen. Dies war, genau genommen, ihre schwache Seite; allein da das, was unsere schwache Seite ausmacht, uns immer am meisten am Herzen liegt, so suchte Adelaide für diesen Theil ihrer Beschäftigung – soll ich sagen Bewunderung und Lob, oder Entschuldigung und Nachsicht? und ein sehr richtiger Instinkt sagte ihr, daß sie eins wie das andere nie erhalten könnte, wenn sie einen Mann zu ihrem Vertrauten machte. Es mochten Verse seyn, was sie meiner Beurtheilung vorlegte; Poesie aber war es gewiß nicht. [62] Adelaidens ganze Zusammensetzung verhinderte sie, eine Dichterin zu werden; es fehlte ihr vor allen Dingen an dem Phlegma, das dazu, wie zur Ausübung jeder anderen schönen Kunst, erforderlich ist; mit allen poetischen Ideen, die ihr beiwohnten, konnte sie nie dahin gelangen, auch nur ein erträgliches lyrisches Ganze zu schaffen. Indessen paßten wir auch in dieser Hinsicht herrlich zusammen. War in ihr die Erhebung, welche zu freien Schöpfungen führt, so war in mir die Ruhe, welche diese Schöpfungen vollendet; und nachdem ich das Mechanische des Versbaues weg hatte, fehlte es mir nicht an Kraft, meiner Freundin da nachzuhelfen, wo sie von ihrer Unvollkommenheit in Stich gelassen wurde. Auf diese Weise lebten wir ohne alle Eifersucht, mehr als Schwestern, denn als Freundinnen, bis die Ankunft ihres Bruders unseren gegenseitigen Gefühlen eine andere Wendung zu geben versprach.

[63] Von diesem Bruder war dann und wann die Rede gewesen; aber ohne bemerkbare Wärme und ohne Enthusiasmus, ungefähr so, wie man von Personen spricht, die man zwar liebt, mit denen man aber zufälligerweise in solchen Verhältnissen lebt, daß es eine Thorheit seyn würde, den Empfindungen nachzugeben, welche man für sie unterhält. Gegenwärtig, wo Moritz (so hieß dieser Bruder) seine baldige Zurückkunft angemeldet hatte, veränderte sich die Sprache. Seine Mutter, deren Liebling er immer gewesen war, brannte vor Ungeduld, ihn wieder zu sehen; allein sie sprach nicht davon, unstreitig weil die jungen Mädchen, welche ihre Tochter besuchten, sehr wenig geeignet waren, ihre Gefühle zu theilen. Adelaide hingegen, wie wenig sie auch in Beziehung auf ihren Bruder empfinden mochte, sprach unaufhörlich von ihm; und hätte ich damals die Erfahrungen haben können,[64] welche mir ein fortgesetztes Studium der menschlichen Natur gegeben hat, so hätte mir einleuchten müssen, daß meine Freundin jenes Ideal, das jedes junge Mädchen in seinem Kopfe trägt, treuherzig auf ihren Bruder anwandte; voll von der Voraussetzung, daß ein dreijähriger Aufenthalt in Italien ihm alle die Eigenschaften werde gegeben haben, welche den Mann vollenden. Da ich diese Erfahrungen nicht hatte, so konnte es schwerlich fehlen, daß Adelaide, zum erstenmale seit unserer Bekanntschaft, mit mir durchging. Wie alle übrigen jungen Mädchen, welche in das Familieninteresse eingeweiht waren, glaubte ich an die Wirklichkeit dessen, was Adelaide von ihrem Bruder sagte, und unter uns allen war gewiß keine Einzige, die nicht mit klopfendem Herzen den Augenblick herbeigewünscht hätte, in welchem entschieden werden mußte, welcher der schönste und liebenswürdigste der Männer[65] – denn in diesem Lichte erschien uns der Herr von Z... – den Vorzug geben würde. Für einen ruhigen Zuschauer würde es unstreitig ein großes Vergnügen gewesen seyn, zu sehen, wie Adelaide durch die Art und Weise, wie sie über ihren Bruder sprach, zur Königin des ganzen Mädchenkreises erhoben wurde. Da war auch keine ihrer Launen, der man nicht nachgegeben hätte; ja, selbst ihre Sarkasmen verloren die scharfe Spitze, wodurch sie sonst verletzt hatten; und hätte sie den Vortheil des Augenblicks benutzen wollen, mit Tyranney über uns alle zu walten, so würde sie es ungestraft gekonnt haben. Ich selbst, obgleich von allen am wenigsten von Schwärmerei ergriffen, war in dieser Periode die Nachgiebigkeit selbst, und würde eine ganze Nacht durchwacht haben, um in einen ihrer poetischen Versuche einen erträglichen Sinn zu bringen.

[66] Die Täuschung, worein uns Adelaidens Phantasie gesetzt hatte, hörte nicht auf, als der von Z... wirklich angelangt war. Zwar sagte uns der Augenschein, daß er dem Bilde nicht entsprach, welches wir uns von seinen körperlichen Vorzügen entworfen hatten; allein körperliche Vorzüge sind etwas, das in der Phantasie des Weibes unter allen Umständen der Liebenswürdigkeit weichen muß, und diese blieb unbestritten, so lange keine Beweise vom Gegentheil vorhanden waren. Aus dem Adonis, der Adelaidens Bruder seyn sollte, war ein Mann von mittler Größe, festem Baue und einem Gesicht geworden, das, obgleich nicht ohne interessante Züge, sehr wesentlich von den Blattern verunstaltet war, und sich zuletzt nur durch eine sehr feine Nase und ein Paar großer schwarzer Augen auszeichnete. Auch seine Liebenswürdigkeit war ganz anderer Art, als wir sie uns gedacht hatten. Artig[67] gegen alle, schien er keine einzige zu bemerken; und wiewohl wir alle Ursache hatten, mit einem so klugen Benehmen zufrieden zu seyn, so war doch jede gleich sehr davon empört, weil jede sich einbildete, daß er, ohne ungerecht zu seyn, ihr den Vorzug nicht versagen könnte. Indessen wurden wir alle in Athem erhalten; und diejenigen von uns, bei welchen das Temperament den Ausschlag über den Verstand gab, legten es recht augenscheinlich darauf an, Entscheidung herbei zu führen. Einen solchen Wettstreit zu theilen, hielt ich nicht für rathsam, nicht weil ich mein persönliches Verdienst in einen allzu geringen Anschlag gebracht hätte, sondern weil ich das Unweibliche einer Bewerbung fühlte. Mich zurückziehend, überließ ich den sämmtlichen Freundinnen Adelaidens das Vergnügen, sich um einen Mann zu zanken, von welchem ich aufs bestimmteste ahnete, daß [68] etwas in ihm seyn müsse, wodurch er gegen die Aufmerksamkeit, die ihm von dem schönsten Theile meiner Bekanntschaft bewiesen wurde, gleichgültiger war, als seine Jahre es mit sich brachten.

Wenn Alles um uns her Politik treibt, so giebt es unstreitig kein sicherers Mittel, unseren Concurrenten den Rang abzulaufen, als stilles Zurückbleiben und ruhiges Abwarten des vortheilhaften Augenblicks, wo die Übrigen verzweifeln. Ich sage damit nicht, daß ich dieser Maxime gemäß handelte, als ich mich aus dem Kreise zurückzog, der Adelaiden umgab; ich folgte dabei keiner Idee, sondern nur einem Gefühl. Allein die Idee hätte mich nicht sicherer leiten können, als das Gefühl mich leitete. Kaum war Herr von Z... der Bewerbungen überdrüßig geworden, deren Gegenstand er war, so zog er sich in die Einsamkeit zurück; und kaum war er den Augen seiner Bewerberinnen[69] entschwunden, so stürzte der Thron zusammen, auf welchem Adelaide bis dahin die Huldigung aller ihrer Gespielen erhalten hatte. Verlassen und auf sich selbst zurückgebracht, konnte diese meiner nicht länger entbehren; und als sie zu mir zurückkehrte, fand sie alles, was sie ehemals an mir besessen hatte, um so eher wieder, weil kein förmlicher Bruch uns getrennt hatte. Ich wollte, als sie mich aufforderte, ihren Besuch recht bald zu erwiedern, meine Entschuldigung von dem Aufenthalte ihres Bruders in dem Hause ihrer Mutter hernehmen; allein sie kam meinen Ausflüchten dadurch zuvor, daß sie eingestand: Sie habe sich bei der Beurtheilung des wahren Charakters ihres Bruders nicht wenig geirrt. »Ich kenne ihn gar nicht wieder,« sagte sie. »Ehemals lauter Feuer, ist er jetzt lauter Eis. Wer sollte glauben, daß man sich auf einer Reise durch Italien in die Mathematik [70] verlieben könnte! Und doch ist dies sein Fall. Tag und Nacht brütet er über seinen Folard, und alle Exaltationen, deren er noch fähig ist, beziehen sich auf das verwünschte Kriegeshandwerk. Ich würde ihn hassen müssen, wenn er nicht mein Bruder wäre. Dir, liebe Freundin, aber kann ich mit vollkommner Wahrheit sagen, daß weder deine Jugend noch dein guter Name die mindeste Gefahr läuft, wenn du zu uns zurückkehrst; alle Leute kennen ihn nach gerade als einen harmlosen Sonderling, der Keinem etwas zu Liebe noch zu Leide thut; außerdem ist die Frage: Wie lange er noch bei uns verweilen wird. Denn es ist ihm hier viel zu enge, und ich stehe gar nicht dafür, daß er nicht über kurz oder lang Soldat wird.«

Adelaiden so reden zu hören, kam mir freilich unerwartet; allein da ich mich auf die Wahrheit ihrer Aussage verlassen [71] konnte, so trug ich auch nicht weiter Bedenken, mich in ein Haus zurück zu wagen, das von einem so harmlosen jungen Manne bewohnt wurde. Die erstenmale war ich mit Adelaiden allein, und ich gestehe, daß mich dies ein wenig beleidigte. Das drittemal fand sich indessen der junge Herr von Z... bei uns ein; und da wir gerade von Racine's Phädra sprachen, so nahm er Gelegenheit, uns über das Eigenthümliche der französischen Poesie zu belehren. Er gab zu, daß dies eines der interessantesten Stücke wäre, die jemals aus der Feder eines korrekten Dichters geflossen; »allein,« fuhr er fort, »was ist Korrektheit gegen das Wesen der Poesie gehalten! Wie stolz auch die Franzosen auf ihre Dichter seyn mögen, und wie selbstgenügsam auch einer ihrer Didaktiker die italiänische Poesie Schellengeklingel nennen mag, dennoch bin ich sehr geneigt, die wahre Poesie nur bei [72] den Italiänern zu suchen. Ich will, wenn die Wirklichkeit mir nicht länger behagt, eine von ihr durchaus verschiedene Welt, und diese finde ich durchaus nicht in den Werken französischer Dichter, wohl aber in denen der italiänischen. Welche Schöpfung ist in dem befreieten Jerusalem enthalten; und wo ist der Franzose, welcher behaupten dürfte, eine ähnliche sey von ihm ausgegangen? Der rasende Roland – welches Meisterstück für denjenigen, dessen Geist nicht in den Convenienzen des Lebens untergegangen ist! So hundert andere Dichterwerke der Italiäner, welche hier aufzuzählen am unrechten Orte seyn würde. Was will ich denn, wenn ich einen Dichter in die Hand nehme? Nicht Wahrheit will ich, sondern Schönheit, Übereinstimmung mit sich selbst, Harmonie in der höchsten Bedeutung des Worts. Wahrheit ist die Sache des Verstandes, und kann gelernt werden; Schönheit hingegen [73] ist Sache des Gefühls und der Anschauung, und eben deshalb über das Lernen hinaus. Ich gebe zu, daß Wahrheit zuletzt auch schön ist; aber deswegen ist Schönheit nicht wahr, und so lange es noch einen Dichter auf der Welt giebt, d.h. so lange der letzte Funke der Phantasie noch nicht im menschlichen Geschlecht erloschen ist, verlange ich von dem, der sich mir als Dichter darstellt, daß er mir Vergnügen mache, ohne daß jemals in seinem Werke von Wahrheit die Rede sey. Gerade darin liegt die Schwäche der französischen Poesie verborgen, daß die Franzosen das Wahre vom Schönen nicht zu trennen wissen, und das eine nicht ohne das andere geben wollen. Boileau's rien n'est beau que le vrai ist das Siegel des poetischen Unvermögens der Franzosen, die, wenn sie jemals Dichter werden wollen, von neuem geboren werden müssen. Es ist zuletzt nur die höhere Kraft[74] des Menschen, die ihn zum Dichter macht, und in Hinsicht dieser Kraft stehen die Franzosen bei weitem den Italiänern nach, die, so lange sie eine große Einheit bildeten, die ganze Welt eroberten, und als sich diese Einheit in Trennung auflösete, das Gefühl ihrer vorigen Größe so lange in sich konzentrirten, bis es endlich losbrach und idealische Welten schuf. Ich möchte nicht gern übertreiben; allein soll ich meiner Überzeugung gemäß reden, so waren die Italiäner zur Zeit ihrer Horaze und Virgile, welche die Welt einzig bewundert, noch Barbaren; zur Zeit ihrer Ariosto's, Tasso's und Guarini's hingegen ein hoch kultivirtes Volk.«

Adelaide war, so wie ich, nicht wenig über diese Erklärung erstaunt. Wir kämpften für unsern Corneille und Racine und Voltaire, so viel wir konnten; allein über diesen Punkt fand für den Herrn von Z... kein Capituliren statt. Als wir zuletzt, [75] nicht ohne uns zu schämen, eingestanden, daß wir nicht berechtigt wären, Dinge zu bestreiten, die uns nie berührt hätten, und zugleich zu erkennen gaben, wie sehr wir in die Geheimnisse der italiänischen Poesie eingeweihet zu werden wünschten: so war unser Antagonist sogleich erbötig, unser Mystagog zu seyn. Wirklich nahm der Unterricht im Italiänischen gleich am folgenden Tage den Anfang, und unsere Fortschritte waren, wie unser Lehrer sie nur immer wünschen konnte. Ob Adelaide mich, oder ich Adelaiden fortriß, konnte nicht in Betrachtung kommen, da wir unter den verschiedensten Antrieben standen; sie, indem sie sich in ihrem Lieblingselement, der Poesie, bewegte; ich, indem ich die Autorität eines Mannes ehrte, der mir durch die Eigenthümlichkeit seiner Urtheile täglich bedeutender wurde. Übrigens hatten wir uns kaum acht Wochen ausschließend mit dem Italiänischen beschäftigt, [76] als uns die ganze poetische Literatur der Franzosen ein Greuel war. Wie viel von diesem Abscheu auf Rechnung unseres Lehrers kam, war etwas, das wir nicht weiter untersuchten; aber schwerlich würden wir durch uns selbst, oder unter der Leitung irgend eines anderen Lehrers, zu unserer entschiedenen Vorliebe für die italiänische Poesie gelangt seyn, und Adelaide namentlich ihre ganze französische Bibliothek für eine gute Ausgabe des Aminta von Tasso feilgeboten haben. Solche Keckheit, wenn man sie in Weibern findet, ist immer das Produkt männlichen Einflusses, und beruhet, so weit meine Beobachtung reicht, zuletzt nur auf Autorität, nicht auf Gefühl und Anschauung.

Wenn ich in meinen Urtheilen vorsichtiger war, so hatte diese Vorsichtigkeit ihren Grund nicht in einem schwächeren Gefühl, sondern in dem Verhältniß, worin [77] das Göttliche der italiänischen Poesie mit Adelaidens Bruder für mich stand. Auf eine ganz eigenthümliche Weise waren beide für mich eins; denn indem ich die erstere nur durch den letzteren in mich aufnehmen konnte, mußte es mir vorkommen, als wäre jene nur in diesem vorhanden. Dasselbe würde Adelaiden begegnet seyn, wäre Moritz nicht ihr Bruder gewesen. Sie konnte von der italiänischen Poesie an und für sich sprechen; ich hingegen mußte immer den Herrn von Z... ins Spiel ziehen, und weil ich dadurch mein Geheimniß verrathen haben würde, so schwieg ich lieber. Mein Geheimniß aber bestand darin, daß ich den Herrn von Z... über alle Männer setzte, die mir jemals vorgekommen waren. Außer meinem Pflegevater, dessen moralische Heiligkeit – wenn ich mich so ausdrücken darf – ungefähr eben so auf mich einwirkte, als das Licht, und den ich aus [78] Gewohnheit hochachtete, hatten mich bisher alle Männer so gleichgültig gelassen, daß ich mit Wahrheit von mir sagen konnte: das ganze männliche Geschlecht sey gar nicht für mich vorhanden. Wodurch sich Herr von Z... von meinem Pflegevater unterschied, war mir nicht auf der Stelle klar; aber irgend eine Ahnung sagte mir, daß bei ihm außer dem Lichte auch Wärme sey. Es war, mit einem Worte, die Phantasie, wodurch er mich so unwiderstehlich an sich zog. Was ich damals nicht begriff, was mir aber seitdem sehr deutlich geworden ist, war: daß ein Weib an einem Manne zuletzt nie etwas anderes lieben kann, als jene schaffende Kraft, wodurch er, das Geschöpf, wiederum zum Schöpfer wird. Was Platon die irdische Liebe nennt, ist immer nur ein Abglanz der himmlischen, und ohne diese würde jene gar nicht vorhanden seyn, wenigstens nicht in einer weiblichen [79] Brust. Ich habe viele Weiber gekannt, die man ausschweifende nannte und als solche verabscheute. Die Unglücklichen fanden nur nie, was sie suchten. Sie wollten nicht den physischen Genuß; sie wollten jene Wärme, die das Weib empfindet, wenn es, befreit von den Banden des Egoismus, ganz in Anderen lebt, und dadurch seine Bestimmung vollendet. Wie ganz anders würden sie gerathen seyn, hätte der Zufall sich ihrer erbarmt! Von diesem verlassen, und ohne jemals einen entwickelten Begriff von dem Gegenstande ihres rastlosen Strebens gehabt zu haben, konnten sie freilich nicht anders endigen, als so, daß sie zuletzt als Abschaum der Gesellschaft dastanden; aber was sie zuerst in Bewegung setzte, war dieselbe göttliche Flamme, durch welche allein Veredelung zu hoffen ist. Ein Weib, das einmal einen Mann in der wahren Bedeutung des Wortes fand, ist [80] der Untreue eben so unfähig, als ein Weib, das an einen Lotterbuben gerieth, mit den allerbesten Vorsätzen von der Welt sich nicht in den Schranken der Treue erhalten kann, so bald ein Mann ihr unter die Augen tritt. Dies beruht auf einem Naturgesetz, dem alle gesellschaftliche Institutionen weichen müssen; und wer sich jemals in der Welt umgesehen hat, kann sich hieraus erklären, wie die schönsten Weiber an die (physisch) häßlichsten Männer gerathen, und woher das Übergewicht rührt, das alle ächte Künstler über das weibliche Geschlecht ausüben.

Ich ging, ich bekenne es, nach und nach in Adelaidens Bruder so vollkommen unter, daß ich nur in ihm lebte und webte. War aber jemals ein Mann unfähig, diese vollendete Hingebung auf eine unedle Weise zu benutzen, so war es Moritz. Wie theuer ich ihm war, leuchtete aus seinem ganzen Betragen gegen mich hervor, das [81] schwerlich liebevoller und zärtlicher seyn konnte; allein er schien mir dadurch nur beweisen zu wollen, daß, wenn irgend ein weibliches Wesen ihn fesseln könnte, ich dies weibliche Wesen seyn würde. Frei von aller Leidenschaft, hatte seine Hinneigung zu mir mehr den Charakter des Wohlwollens, als den der Liebe; wenigstens fehlte ihr diejenige Stärke, welche zwei Wesen so verschmilzt, daß sie nur in gegenseitiger Anschauung leben. Ich fühlte dies; und es schmerzte mich, die Wahrheit zu gestehen, um so tiefer, je unendlicher meine Liebe für Moritz war. Allein was konnte, was mußte geschehen, wenn es anders werden sollte? Ich grübelte in den Augenblicken, wo ich mir selbst wieder gegeben war, recht emsig darüber nach; aber ich sagte mir zuletzt immer, daß alle diese Grübeleien vergeblich seyn würden, so lange ich die unbekannte Gewalt, welche Moritzen von mir zurückzog, [82] nicht genauer kennen gelernt hätte. Wie sehr fürchtete ich, daß sie in mir selbst seyn könnte! Wie gewissenhaft erwog ich alle meine Äußerungen und in ihnen mein ganzes Wesen! Vergeblich für meinen Endzweck; ich mochte mich betrachten von welcher Seite ich wollte, alles führte mich zu dem Resultat, daß ich gut und edel sey; und in dieser Überzeugung wurde ich nicht wenig bestärkt, als Adelaide, der mein innerer Zustand nicht entgangen war, mir gelegentlich sagte, daß ihr Bruder nicht ohne Wärme und Enthusiasmus von mir spreche. War aber jene unbekannte Gewalt außer mir – worin bestand sie? Ich schloß auf eine frühere Verbindung, auf ein gegebenes Wort und dergleichen zurück.

Um hierüber ins Reine zu kommen, erkundigte ich mich bei Adelaiden mit aller nur möglichen Schonung nach den Verhältnissen, worin ihr Bruder stehe; [83] aber ihre Antwort war so beschaffen, daß mein Zustand dadurch nur verschlimmert wurde. »Glaube mir,« sagte sie, »über diesen sonderbaren Menschen kommen wir nur dadurch ins Reine, daß wir annehmen, er sey mit allen seinen herrlichen Eigenschaften doch nur ein kalter Egoist, den nichts berührt, was nicht ganz unmittelbar in seine Ideen und Entwürfe eingreift. Ich wenigstens werde sonst nicht klug aus ihm. Dafür kann ich dir einstehen, daß er in keinen Verbindungen lebt, welche der Freiheit Abbruch thun. Sollte man nicht glauben, er habe die eine oder die andere Bekanntschaft auf seinen Reisen gemacht, welche einer thätigen Zurückerinnerung werth wäre? Allein, wie erwiesen es auch ist, daß er mit den allerinteressantesten Personen gelebt hat, so hat er doch seit seiner Zurückkunft, d.h. seit mehr als vier Monaten, bis jetzt an keine lebendige Seele geschrieben. [84] Was in ihm vorgeht, mag Gott wissen. Jeder Augenblick, den er dem Umgange entziehen kann, ist noch immer dem Studium der militairischen Wissenschaften gewidmet. Die sonderbarste Liebhaberei von der Welt, wofern er nicht damit umgeht, sich auf seinen Gütern zu verschanzen! Ich möchte nur wissen, wie alle diese Zahlen und Linien – denn mit etwas anderem beschäftigt er sich gar nicht – ihn wach erhalten können. So etwas muß ja den Geist abstumpfen und tödten; aber weit gefehlt, daß er dies zugeben sollte, besteht er, so oft ich hierüber mit ihm anbinde, darauf, daß dies nur eine andere Art der Poesie sey, die ihre Grundlage in der Wirklichkeit habe, und den Vorzug besitze, für das gesellschaftliche Leben, das durch meine Poesie zu Grunde gerichtet werde, neues Interesse einzuflößen. Mehr bring' ich nicht aus ihm heraus; und wenn seine Behauptungen nicht Unsinn seyn sollen, [85] so muß er sie vor denjenigen vertheidigen, die etwas mehr davon verstehen, als ich.«

Nach diesen Aufschlüssen mußte ich annehmen, daß die Mathematik meine Nebenbuhlerin sey; allein wie hätte ich dazu kommen sollen, dieser Voraussetzung Wahrheit zuzuschreiben, da Moritz höchstens 25 Jahre zählte? Der Reiz der Wissenschaft sey noch so groß, so ist er doch nicht früher vorhanden, als der Besitz. Was uns aber zur Erwerbung treibt, ist nie die Wissenschaft, sondern irgend etwas Menschliches, dem sie als Mittel dienen soll. Was trieb nun meinen Moritz?

Ich war der Katastrophe, welche das Geschick meines Lebens entscheiden sollte, bei weitem näher, als ich glaubte; ehe ich aber der Aufschlüsse erwähne, welche mir Moritz über sein Inneres gab, muß ich von den Zeiten reden, in welchen dies vorfiel.

[86] Der siebenjährige Krieg war seit anderthalb Jahren begonnen, und nicht blos Deutschlands, sondern auch des ganzen Europa Augen waren auf den verwegenen Friedrich gerichtet, der lieber einen Kampf mit den größten Mächten des festen Landes eingehen, als nur einen Fingerbreit von dem einmal Erworbenen zurückgeben wollte. Die Urtheile über seinen Charakter waren verschieden, je nachdem sie von der Schwäche oder der Stärke ausgesprochen wurden. Die große Mehrheit, welcher innere Größe ein unauflösliches Räthsel ist, verdammte ihn bis in den tiefsten Abgrund, als einen Räuber und als einen Tyrannen seiner eigenen Völker; indessen fehlte es nicht an Einzelnen, welche auf die Nothwendigkeit eingingen, worin sich der Monarch befand, und, seinen Muth bewundernd, zugleich seine Einsicht priesen. Wenn jene ihn nicht schnell genug zerschmettert sehen konnte, [87] weil er sich gleich bei Eröffnung des Feldzuges Sachsens bemächtigt hatte; so wünschten diese seinen Unternehmungen jeden glücklichen Erfolg, überzeugt, daß das Genie nur dann zerstört, wenn es aufbauen will, und fest versichert, es werde doch noch einmal eine schöne Welt durch ihn ins Daseyn gerufen werden. Der Ausgang des wunderbaren Kampfes, in welchem der Verstand gegen die Masse zu Felde zog, beschäftigte alle Köpfe; und nicht selten geschah es, daß man sich in einer und derselben Familie über eine von Friedrich gewonnene oder verlorne Schlacht freute und härmte, je nachdem die Mitglieder derselben ihm wohl oder übel wollten. So sehr war seine Angelegenheit die des ganzen Deutschlands, daß seine Thaten selbst in die entferntesten Kreise drangen, und wenigstens die muntere Jugend für den Helden ihrer Zeit begeisterten.

[88] Der Hof, in dessen Nähe ich lebte, war nicht blos durch die Bande der Verwandtschaft an das preußische Haus gefesselt, sondern auch durch Charakterschwung und Genie dem großen Friedrich besonders zugethan. In unserer Hauptstadt galt also nur das preußische Interesse. Wer sich von demselben losgesagt hätte, würde nicht sowohl für einen schlechten Bürger, als vielmehr für einen Einfältigen gegolten haben, der das Edlere und Bessere nicht zu fassen vermögte. So lebendig war die Theilnahme an Friedrichs Siegen, daß sie von Privatpersonen in Familien-Zirkeln gefeiert wurden. Die Neugierde war unersättlich, wenn einmal von dem preußischen König die Rede war. Alles, was zu seiner Umgebung gehörte, wurde als Bestandtheil seines Wesens betrachtet; und so erhielten die Namen seiner vorzüglichsten Generale eine Illustration, welche sie schwerlich auf irgend[89] einem anderen Wege erworben haben würden.

Kein Jahr war reicher an Glückswechseln, als das Jahr 1757. Im Anfang desselben Sieger, so daß Maria Theresia sich in Wien selbst nicht sicher glaubte, wurde Friedrich bald darauf aus Böhmen vertrieben. Von seinen Bundesgenossen verlassen, von allen Seiten mit Feinden umringt, dem Verderben blosgestellt, ermannte er sich zu neuen Triumphen. Die Schlachten bei Rosbach und Leuthen setzten ganz Europa in Erstaunen; vorzüglich die letztere, in welcher eine selbstgeschaffene Taktik dem dreimal stärkeren Feinde den Sieg entriß. Die Wiedereroberung Schlesiens folgte diesem Siege. Gern hätte Friedrich auf seinen Lorbeern ausgeruht; denn der Krieg war gegen alle seine Wünsche erfolgt, und die Fortsetzung desselben störte ihn in edleren Entwürfen. Allein wie tief auch seine [90] Feinde das Übergewicht seines Genies empfunden haben mochten, so fühlten sie sich noch nicht erschöpft, und ihre Kampflust gebot seinen Neigungen.

Ich befand mich bald nach der Schlacht bei Leuthen eines Nachmittags in dem Hause der Frau von Z... Es war die Rede von dem neuen herrlichen Siege, den die preußische Tapferkeit erfochten hatte, und mit tiefgefühlter Theilnahme sprach man von Friedrichs mißlicher Lage bei seiner Ankunft in Schlesien, und von der Art und Weise, wie er, wenige Tage vor der Schlacht, seinen Generalen in einem Kriegsrath den Zustand seines Gemüthes offenbaret. Plötzlich sprang Moritz, der während dieser Unterhaltung stumm und in sich selbst vertieft da gesessen hatte, von seinem Lehnstuhl auf, und, in die Mitte des Zimmers tretend, sprach er, starren Blickes und festen Tones, uns allen unerwartet, folgenden Monolog:

[91]

»Könnt' ich etwas an diesem Friedrich tadeln, so würde es die Vorliebe seyn, die er für französischen Geist und französische Sitte zeigt. Wie wenig kennt er sich selbst, wenn er Formen ehrt, die keine andere Grundlage haben, als die Flachheit selbst! Doch er gebehrde sich, wie er wolle, nie wird er das Gemüth eines Deutschen ganz verleugnen können. Durch dies kräftige, reiche Gemüth gebietet er selbst den Franzosen, deren Schöngeisterei vor seinem Genie verstummt, und deren Hinterhaltigkeit vor seiner Ehrlichkeit erbebt. Ja, er ist das Größte, was das Schicksal diesen Zeiten verleihen konnte; der einzige Mann seines Jahrhunderts, bestimmt, ein neues Geschlecht zu gründen, und in der Weltgeschichte mit unverwelklichem Lorbeer zu prangen. Wer seine Rechtlichkeit anklagt, vergisset, daß das Genie die unversiegliche Quelle neuen Rechtes ist, und jeglichen Beruf aus sich [92] selber nimmt. Alle kräftigen Naturen, so viel ihrer in Deutschland übrig geblieben sind, sollten Kreis um ihn schließen und seine Sache zu der ihrigen machen. Was ist das Leben ohne Liebe, und wie kann man das Leben höher ausbringen, als wenn man große Entwürfe befördern hilft! Ich weiß, daß diese Ziethen und Seidlitz und Keith nur Maschinen sind; allein war jemals der Mensch etwas anderes, als Werkzeug in den Händen des Schicksals, und was ist das Schicksal selbst, wenn es seinen letzten Grund nicht in der Idee eines vielumfassenden Kopfes hat? Friedrichs Planen dienen, ist die höchste Bestimmung, die man sich geben kann. Je größer er der Nachwelt erscheint, desto mehr Verdienst hat man sich um die Mitwelt erworben; denn nur dadurch kann er wahrhaft groß werden, daß man kein Bedenken trägt, sich ihm aufzuopfern. Magnetisch fühl' ich mich an ihn angezogen, [93] und verdorben ist meine ganze Existenz, wenn ich nicht dahin gelange, mich in seinem Geiste zu spiegeln. Mich seiner würdiger zu machen, hab' ich es nicht an Anstrengungen fehlen lassen. Jetzt hat die Stunde der Vollbringung geschlagen. Keinen Augenblick will ich verlieren.«

Es war uns sonderbar zu Muthe bei diesem Monolog; denn so rücksichtslos wurde er gesprochen, daß unsere erste Ahnung keine andere seyn konnte, als die, daß Moritz von Sinnen gekommen sey. Adelaide, welche neben mir saß, umschlang mich mit ihrer Linken und starrte auf ihren Bruder hin. Ob auch ich auf ihn hinstarrte, oder die Augen niederschlug, weiß ich nicht; aber das weiß ich, daß ich nun mit einemmale gefunden hatte, was ich bisher vergebens suchte. Es war also Friedrich der Große, der sich zwischen mich und meinen Moritz in die Mitte stellte und unsere Vereinigung verhinderte. [94] Einen solchen Nebenbuhler hatte ich nicht erwartet. Sollte ich ihm zürnen? Ich konnte es nicht. Er stand ja nur als Idol da; und war er wohl das meinige minder, als Moritzens? Ich begriff den inneren Zustand des jungen Mannes auf der Stelle; und wie sehr ich ihn anbeten mochte, so fühlte ich doch, nach einem solchen Aufschluß, nicht das kleinste Verlangen, ihn an der Ausführung seines Entwurfes zu verhindern. Wie Liebe ohne Eigennutz bestehen könne, begreifen wenige; aber noch weit wenigere haben die Kraft, sich eine leidenschaftslose Liebe zu denken. Ich möchte in diesen Bekenntnissen um keinen Preis zu viel oder zu wenig von mir sagen; aber das wag' ich zu behaupten, daß, wenn der Eigennutz meiner Liebe für Moritz immer fremd geblieben war, die Leidenschaft von Stund an daraus verschwand. Ich kannte das Schöne, ehe ich seine Bekanntschaft gemacht [95] hatte; er versinnlichte es mir und wurde mir dadurch unendlich theuer. Jetzt, wo ich ihn in Regionen aufsteigen sah, die ich nie geahnet hatte, jetzt wurde er für mich eben so das Symbol des Herrlichen, wie das Crucifix in den Händen eines gläubigen Catholiken das Symbol jeder Tugend ist. Was ich hier sage, können nicht Alle zur Anschauung bringen; aber wie soll ich es sagen, um mich deutlich zu machen? Genug, ich verließ das Haus der Frau von Z... mit ganz anderen Empfindungen, als diejenigen waren, mit welchen ich gekommen war; und ich behaupte, daß es unmöglich ist, zugleich ruhiger zu seyn, und einen gegebenen Mann bestimmter anzubeten, als beides bei mir der Fall war. Gelassen zog ich mich aus, nachdem ich zu meinen Pflegeeltern zurückgekommen war; eben so gelassen ging ich zu Bette; und als ich am folgenden Morgen nach einem sanften [96] Schlaf erwachte, war mein erster Gedanke: Moritz ist der erste aller Männer. Ich wollte mir die Gefahren vergegenwärtigen, denen er entgegenging; aber damit wollte es mir durchaus nicht gelingen; die Stimmung, in welcher ich mich einmal befand, brachte es mit sich, an keine Gefahr in Beziehung auf Moritz zu glauben, und diese Idee, wie sonderbar sie auch erscheinen mag, war gewiß eine sehr richtige.

Es wird nach allem, was ich bisher gesagt habe, schwerlich auffallen, wenn ich hinzufüge, daß ich nicht unterließ, meine Freundin, wie bisher, zu besuchen, und mich dadurch dem Herrn von Z... zu nähern; ich konnte dies jetzt um so eher thun, da das Verhältniß, worin ich mit ihm stand, durch die Bestimmtheit, welche seine letzte Erklärung ihm gegeben hatte, eine Unschuld gewann, die es zu einem kindlichen machte. Von dem Auftritte [97] des vorhergehenden Tages war nicht weiter die Rede, nachdem Moritz über das Pathos, womit er seinen inneren Zustand verrathen, gelächelt hatte. Über andere Gegenstände wurde gescherzt; ja irgend eine Freude, die ich nicht beschreiben kann, die aber das unmittelbare Resultat der aufgehobenen Spannung war, herrschte in allen Gesichtern und sprach aus allen Gedanken, als Moritz, ich weiß nicht ob am dritten oder vierten Tage nach der oben beschriebenen Scene, die augenblickliche Abwesenheit seiner Mutter und Schwester benutzend, meine Hand ergriff und folgende Rede an mich richtete:

»Ich gestehe Ihnen, meine Theure, daß ich vor ungefähr einer Woche an den König von Preußen geschrieben habe, um ihm meine Dienste anzutragen. Schon lange war dies mein geheimer Entschluß; allein ehe ich ihn zur Ausführung bringen konnte, bedurfte es mehrerer Vorbereitungen, [98] mit welchen ich erst jetzt zu Stande gekommen bin. Viele werden diesen Schritt tadeln; allein ich bleibe ruhig, wenn ich weiß, daß Sie, meine Theure, nicht zu meinen Tadlern gehören. Sagen Sie selbst, ob mir etwas anderes übrig blieb? Fünf und zwanzig Jahre alt, befinde ich mich in dem Wechselfall, entweder Civildienste zu nehmen, oder auf meine Güter zu gehen, wenn ich durchaus nicht Soldat werden soll. Civildienste – wohin können sie fuhren? Meiner Berechnung nach nur zur Erbärmlichkeit. Jedes einzelne Geschäft, das man als Civilbeamter betreibt, vorausgesetzt, daß man nicht an der Spitze eines Departements steht, ist zuletzt nichts weiter, als eine anständigere Art von Besenbinderei, die, wie gut sie auch remunerirt werden mag, den inneren Menschen tödtet, indem sie den Staatsbürger belebt. Soll ich Prozesse instruiren, oder Landesverordnungen [99] entwerfen, oder Kammerherrendienste thun? Meine Kraft würde mich von jedem Subalternposten, den man mir geben könnte, verdrängen. Ich habe nicht Athem genug, die lange Dienstcarriere zu ertragen. Mich interessirt das in einander greifende staatsbürgerliche Leben, aber nur im Großen, nicht im Kleinen; um das Detail lieb zu gewinnen, müßt' ich vor allen Dingen meinem ganzen Wesen entsagen, d.h. aufhören, ein Edelmann zu seyn. Wahr ist, ich könnte mich auf meine Güter begeben und Herrscher in meinen eignen Staaten seyn. Aber zu welchem Zweck? Meine Vorfahren haben genug erworben, um mich zufrieden zu stellen. Ich will erhalten, was auf mich vererbt worden ist; aber ich will es weder vermehren, noch ängstlich darauf bedacht seyn, Schätze zu sammeln. Kommt Zeit, kommt Rath. Fürs Erste will ich mich zum Bewußtseyn meiner [100] Existenz erheben; und da dies nur im Felde möglich ist, so will ich in den Krieg ziehen. Mich lockt dazu vor allen Dingen die Größe des Helden, der unbezwungen gegen ganz Europa ankämpft. Je kritischer seine ganze Lage ist, desto stärker ist mein Beruf, ihn mit meinen Kräften zu unterstützen. Ich werde keinen materiellen Vortheil davon haben, das weiß ich vorher; aber es wird mich in Athem setzen, und das ist mir genug. Werd' ich meinen Wünschen gemäß angestellt, so komme ich in seine Nähe und finde Gelegenheit, den größten Charakter unseres Jahrhunderts zu studiren. Und was will ich mehr? Der Rückzug auf meine Güter steht mir immer offen. Trete ich ihn nach einigen Jahren an, so habe ich, bis dahin wenigstens, mein Leben hoch ausgebracht und mich mit seltenen Erfahrungen bereichert. Diese Gründe, meine Theure, haben mich bestimmt. [101] Sollten Sie etwas dagegen einzuwenden haben?«

Meine Antwort auf diese Frage war: »Sie haben sich, mein edler Freund, durch diese Analyse vor sich selbst zu rechtfertigen gesucht; aber ich glaube nicht, daß es einer solchen Rechtfertigung bedarf. Es war genug, daß Ihr Gemüth so entschieden hatte. Friedrichs Wesen umschließt alles, was Sie groß und edel nennen; darum drängen Sie sich in seine Nähe, wie ich mich in die Ihrige gedrängt habe. Ich verstehe Sie vollkommen; und weil ich Sie verstehe, muß ich Ihre Schritte billigen. Wie konnten Sie erwarten, daß wir hierin verschiedener Meinung seyn würden? Dies sind wir nie gewesen, dies können wir niemals werden. Der Streit ist nur für diejenigen vorhanden, die sich einander nicht begreifen; wir aber können, dünkt mich, nur zusammen sprechen, nicht mit einander [102] disputiren. Ich, die Ihnen so viel verdankt, ich sollte dieselben Ideen, die Sie in mich niedergelegt haben, gegen Sie wenden? Wie wäre dies nur möglich! Ich habe nicht das Allermindeste gegen Ihren Entschluß vorzubringen; erlauben Sie nur, Ihnen zu sagen, daß Sie im Schlachtgetümmel mir eben so gegenwärtig seyn werden, als Sie es in diesem Augenblicke sind.«

Um keinen Preis hätte ich eine andere Antwort geben können, und ihre Wahrheit ergriff den Herrn von Z... so sehr, daß er in ein tiefes Nachdenken versank. Mutter und Schwester kehrten zu uns zurück, und nun war von anderen Dingen die Rede. Schwerlich ist jemals eine Liebeserklärung in dieser Form gemacht worden; und schwerlich meinten es gleichwohl zwei Liebende ernstlicher und redlicher mir einander. Mit welchem Feuer würden wir uns umfaßt haben, hätte es keinen [103] Friedrich den Zweiten gegeben! Wir fühlten auf das deutlichste, daß wir für einander da waren, aber wir fühlten zugleich, daß der Augenblick unserer Verbindung noch nicht gekommen sey.

Ein Eilbote überbrachte in einem königlichen Handschreiben die Nachricht von Moritzens Anstellung im Gefolge des Monarchen nach einem monatlichen Garnisondienst. Die Anstalten zur Abreise wurden unverzüglich gemacht. Mein Herz klopfte bei dem Anblick derselben, und eine schwarze Ahnung bemächtigte sich meines Gemüths; aber ich half beim Einpacken, indem ich Pflicht nannte, was ich zu meiner Zerstreuung that. Moritz war wechselsweise exaltirt und niedergeschlagen, und ich sah nur allzudeutlich, wie er sich zugleich an mich angezogen und von mir zurückgehalten fühlte. Einmal sagte er mir: »Es bleibt eine ewige Wahrheit, daß die Ruhe nur in dem Gemüthe der Weiber [104] ist.« Ich hatte nicht das Herz darauf zu antworten, wiewohl ich für den Augenblick sehr viel gegen diese ewige Wahrheit einzuwenden hatte.

Die Stunde der Trennung rückte immer näher. Ich wollte einem förmlichen Lebewohl ausweichen, weil ich mich nicht stark genug dazu glaubte; allein Moritz hatte meine Absicht allzugut errathen, um sie nicht zu vereiteln. Überraschend erschien er in meiner Wohnung, und mit einer Miene, welche mir seinen inneren Zustand als sehr aufgeregt darstellte, überreichte er mir, außer einem Ringe, sein Bildniß im Kleinen an einer leichten goldenen Kette mit der Bitte, beides zu seinem Andenken zu tragen. Ich nahm Ring und Bildniß mit dem Versprechen an, daß ich sie tragen wollte, und fragte den Geber: Ob er gleiches Unterpfand von mir zu besitzen wünschte? Auf seine bejahende Antwort verabredeten wir den Ort, wohin [105] ich beides schicken sollte. Moritz zauderte noch. Ich legte ihm die Frage vor: Ob er noch etwas wünsche? »Einen Kuß, Mirabella!« war seine Antwort. »Wiewohl es der erste ist,« entgegnete ich, »den ein Mann von mir erhält; so bin ich doch nicht berechtigt, dieses Zeichen weiblichen Wohlwollens dem vorzuenthalten, den ich für den ersten der Männer halte.« Mit diesen Worten reichte ich ihm meine Lippen. Meine Thränen ergossen sich; die seinigen nicht minder. Und so schieden wir aus einander, hoffend, daß wir uns wiedersehen würden.

Moritz hörte nicht auf, mir gegenwärtig zu seyn, weil er abwesend war. Ring und Bildniß hatten nur eine untergeordnete Kraft, die sich bisweilen ganz verlor. Eine höhere lag in der italiänischen Poesie; denn noch immer dauerte die Täuschung fort, vermöge welcher diese für mich mit Moritz einerlei war. So oft ich das befreiete [106] Jerusalem in die Hand nahm, unterhielt ich mich nicht mit Tasso – dieser war gar nicht für mich vorhanden – sondern mit dem Geliebten, durch welchen sich in mir die Fähigkeit entwickelt hatte, in diesem Gedicht ein Meisterwerk zu schätzen. Vermöge eines besonderen Mechanismus meines Inneren fing ich die Lektüre nie mit der Betrachtung des Bildnisses an, das Moritz mir zurückgelassen hatte; wohl aber endigte ich mit derselben. Und diese Eigenthümlichkeit ist mir mein ganzes Leben hindurch geblieben; ich kann noch immer keinen Vers eines italiänischen Dichters hören oder lesen, ohne sogleich an Moritz zu denken und mir die ganze Periode zu vergegenwärtigen, in welcher ich seine erste Bekanntschaft machte, und durch ihn Richtungen erhielt, die mir eine ganze Ewigkeit hindurch bleiben mußten.

Moritz schrieb häufig an mich und die Seinigen. Am liebsten sprach er von dem [107] großen König, der ihn in seinen Strudel gezogen hatte. In einem seiner Briefe drückte er sich folgendermaßen aus: »Über Friedrichs ganzes Wesen ist ein unwiderstehlicher Zauber verbreitet, der eben so sehr aus seinen großen blauen Augen, als von seinen kleinen geschlossenen Lippen spricht. Eine Folge dieses Zaubers ist, daß er in dem Urtheil seiner Umgebung immer Recht hat. Viele hassen ihn, weil sie nicht von ihm geliebt werden; aber sie vollbringen seine Befehle deshalb nicht langsamer, als ob die feurigste Liebe sie beseelte. Um als Diener eines solchen Monarchen in keinem Widerspruche mit sich selbst zu stehen, muß man auf Gegenliebe Verzicht leisten können; denn er hat sie nicht in seiner Gewalt. Das große Ganze mit seinem Gemüthe umspannend, kann er zu Individuen nicht mit Liebe herabsteigen, ohne sein Wesen zu zerstören. Sie gelten ihm etwas, aber nur [108] im Vorbeigehn, nur im Fluge, nur in so weit sie sich deutliche Begriffe von seinem Geschäfte machen und keine Ansprüche an den Menschen bilden, die der Monarch nicht erfüllen kann, ohne seiner Pflicht zu entsagen. Wer dies nicht fassen kann, weil es ihm an Kraft fehlt, aus sich selbst heraus zu gehen und sich gewissermaßen mit dem Könige zu identifiziren, der ist verloren, wenigstens in sofern sein Verhältniß zu dem Könige nie ein angenehmes für ihn werden kann. Wie neu mir auch der Dienst noch ist, so erkenne ich doch schon aufs deutlichste, daß ich, um jedem Widerspruch zu entgehen, in welchen ich mit mir selbst gerathen könnte, von vorn herein allem Egoismus entsagen und nur in der Liebe leben muß; und um mir die Auflösung dieses schweren Problems zu erleichtern, wiederhole ich mir unaufhörlich, daß Friedrich nichts anderes ist, als die allgemeine Intelligenz des Staates, [109] an dessen Spitze er steht, und daß ich für alle Dienste, die ich ihm leisten kann, hinlänglich belohnt bin, wenn ich ihn als allgemeine Intelligenz begriffen habe. In der That, das ist das große Ziel, das ich mir vorgesetzt habe. Erreiche ich es jemals, so hat die Stunde meines Abschiedes in eben dem Augenblick geschlagen, wo ich es erreicht habe. Eben so unbefangen, ehrlich und uneigennützig, als ich in Friedrichs Dienste getreten bin, verlasse ich dieselben, indem ich dem Monarchen melde, daß ich die Reife erhalten habe, die ich beim Eintritt in seine Dienste suchte. Die Urtheile um mich her berühren mich nicht, weil ich die Quelle derselben aufgefunden habe; wenn das Gemüth die Stelle des Verstandes vertritt, so ist Schiefheit und Verwirrung unvermeidlich. Man muß, einem Friedrich gegenüber, nicht als Mensch, sondern nur als Staasdiener gelten wollen; man muß [110] sich mit ihm identifiziren, ohne jemals zu verlangen, daß er sich mit uns identifizire.«

Moritz, welcher, unmittelbar nach der Übergabe von Schweidnitz, in die Nähe des Königs gekommen war, begleitete sein Idol als Adjutant auf dem Zuge nach Mähren. Viele unvorhergesehene Hindernisse hemmten den Lauf der Kriegsoperationen. Als alle endlich überwunden waren und Olmütz belagert werden konnte, fehlte es an den Belagerungsmitteln, weil es den Österreichern gelungen war, einen großen Theil derselben zu zerstören. Die Lage des preußischen Heeres in Mähren war um so kritischer, da Laudon eine solche Stellung genommen hatte, daß der Rückzug nach Schlesien wo nicht unmöglich, doch wenigstens sehr gefährlich geworden war. Nur Friedrichs überlegenes Genie konnte hier Rettung bringen. Ein Marsch, auf den der österreichische [111] General nicht gerechnet hatte, weil er über lauter Gebirge führte, brachte das preußische Heer in verschiedenen Abtheilungen durch Böhmen und die Grafschaft Glatz dennoch nach Schlesien zurück. Gewiß waren die Mühseligkeiten dieses Marsches für jeden unbeschreiblich; aber, wie andere sie mehr oder weniger empfinden mochten, für Moritz waren sie, wenigstens seinen Briefen nach, gar nicht vorhanden. Überhaupt war es auffallend, daß er nie von den Beschwerden seiner Existenz, sondern nur immer von den neuen Ideen sprach, womit sie ihn bereicherte.

Bekanntlich waren die Russen, während Friedrich in Mähren verweilte, aus Preußen, welches sie als Eigenthum verschonten, verheerend nach Pommern und der Mark vorgedrungen. Küstrin, dessen Festung sie allein verhindern konnte, in das Herz des preußischen[112] Staates einzudringen, wurde von ihnen belagert und in einen Aschenhaufen verwandelt. Der Sturm, womit der russische General die Festung bedrohete, sollte anheben, als sich die Nachricht von der Ankunft des Königs verbreitete. Mit vierzehntausend Mann war Friedrich aus Schlesien aufgebrochen, den Barbaren, die nur zerstören konnten, das Handwerk zu legen. In einem verhältnißmäßig kurzen Zeitraum hatte er unter großen Beschwerden sechzig deutsche Meilen zurückgelegt; und so wie er sich dem Kriegesschauplatz genähert hatte, war sein Gemüth von den Brandstätten und Trümmern ergriffen worden, welche den verheerenden Zug der Russen bezeichneten. Die Stimmung, worin er sich befand, ging, wie ein elektrischer Strahl, auf seine Krieger über. In allen entwickelte sich der Gedanke: daß Verschonung eines solchen Feindes ahndungswürdiger Frevel sey, [113] den man an der Menschheit selbst begehe. Racheschnaubend näherten sich die Preußen den Russen, und in dem Heere der letzteren erfuhr man nur allzubald, daß die ersteren keinen Pardon geben würden. Eine mörderische Schlacht lag im Hintergrunde.

Sie wurde bei Zorndorf geliefert. Was Andere vor mir beschrieben haben, mag ich nicht wiederholen. Genug, diese Schlacht war die Verklärung der preußischen Tapferkeit. Der König selbst stürzte sich in jegliche Gefahr. Um ihn her fielen seine Adjutanten, seine Pagen. Gleich einer ehernen Mauer stand der linke Flügel der Russen da, als der rechte bereits geschlagen war. Was diesem geschehen war, mußte auch jenem zu Theil werden, wenn Friedrich seine Staaten mit Erfolg retten wollte. Seidlitz eröffnete das Gemetzel, indem er die russische Reiterei warf. Es wurde vollendet; aber indem Moritz als [114] Adjutant hiehin und dorthin flog, fiel er, von einer Flintenkugel, welche der Zufall leitete, ereilt, eine halbe Stunde vor dem Ausgang einer der merkwürdigsten Schlachten des siebenjährigen Krieges, mit vielen anderen Edlen, welche im Kampfe fürs Vaterland hier ihr Grab fanden. Erst am folgenden Tage fand man ihn unter den Todten. Die Kugel war durchs Herz gefahren. Den Tod hatte er also nicht empfunden.

Seine Briefe blieben aus. Eine schwarze Ahnung trat in unsere Seelen. Die Sache selbst war gewiß, ehe die Bestätigung erfolgte. Endlich erfolgte auch diese. Die Mutter war trostlos; denn es war ihr einziger Sohn, den sie verloren hatte, und dieser einzige Sohn war um so mehr ihr Stolz, je unerreichbarer ihr die Höhe war, auf welcher er als geistiges Wesen stand. Adelaide weinte; allein ihr Kummer war weder tief, noch von [115] Dauer; die Wandelbarkeit ihres Wesens rettete sie von einem langen Schmerze. Ich – – Was soll ich von mir sagen? Daß es keinen Ersatz für mich gebe, fühlte ich tief; aber in der Größe meines Verlustes selbst lag ein Trost, der, wenn ich ihn auch auf niemand übertragen konnte, doch aufs bestimmteste von mir empfunden wurde. Nur das begränzte Etwas kann ein Gegenstand menschlicher Empfindung werden, und das Gemüth in angenehme oder unangenehme Bewegungen setzen; das unendliche Alles ist immer nur ein Gegenstand des Geistes, und kann daher nie auf die Empfindung zurückwirken. Weil ich in Moritz untergegangen war, konnte ich nicht um ihn weinen. Eine zweite Alceste, hätte ich für ihn eben so bereitwillig sterben können, als er für sein eigenes Ideal gestorben war; aber seinen Verlust bejammern konnte ich nicht. Er war ja nicht der Meinige, wie ich die [116] Seinige war. Dem Gemahl hätte ich folgen müssen in den Tod; den Bräutigam konnte ich um so eher überleben, weil es sehr problematisch war, ob das Verhältniß, worin ich mit ihm stand, so modifizirt werden konnte, daß aus dem Bräutigam ein Gemahl wurde. Denn nur seinem Ideale hatte Moritz gelebt. Wollte er sich mit mir verbinden, so mußte er aus seinem Wesen heraustreten. Konnte er das, wenn er es auch wollte? Konnte er es nicht, so mußte zwischen uns eine Kluft befestigt bleiben, welche durch nichts auszufüllen war; und die natürlichste Folge davon war, daß ich mich in einer ewigen Sehnsucht verzehrte. Und hatte ich durch seinen Tod das Mindeste an ihm verloren? In sofern er für mich das Symbol des Schönen und Edlen war, existirte er für mich noch immer. Auf ihn mußte ich zurückkommen, so oft ich einen Maaßstab gebrauchte, das unsichtbare Große[117] nach allen seinen Dimensionen zu erforschen. War er gleich nie der Meinige gewesen, und war es gleich jetzt physisch unmöglich geworden, ihn als Gemahl zu besitzen; so konnte ich doch nie aufhören, die Seinige zu seyn und ihn mit aller der Hingebung zu lieben, die meiner durch ihn veredelten Natur eigen war.

Ich sage nicht, daß ich in jenen Unglückstagen, wo Mutter und Schwester durch die Bestätigung seines schönen Todes zu Boden geworfen wurden, so dachte; aber ich sage, daß ich so empfand, wenn es anders erlaubt ist, diesen Ausdruck da zu gebrauchen, wo Ruhe und Resignation obwalten. So also, und nicht anders, hätte ich mich gegen den Vorwurf der Fühllosigkeit vertheidigen müssen, wäre er mir gemacht worden. Ich würde sehr Wenigen verständlich geworden seyn; aber alle diejenigen, welchen ein über die gewöhnlichen Schranken hinausgehendes [118] Verhältniß nicht ganz unbegreiflich gewesen wäre, würden den Muth verloren haben, mich zu verdammen. Aller Widerspruch, den man an mir entdeckt zu haben wähnen konnte, lag nicht in mir, sondern in den mangelhaften Vorstellungen derer, die davon beleidigt waren. Man hätte mich, man hätte Moritz ganz kennen müssen, um zu begreifen, wie ich bei seinem Tode gelassen seyn konnte. Ich bin versichert, daß Moritz, wäre mir sein Schicksal zu Theil geworden, auch ruhig geblieben seyn würde, wiewohl ich von allen weiblichen Geschöpfen das einzige war, dem er wohlwollen konnte. Nur da, wo eine Identifikation zweier Wesen vorhergegangen ist, kann eine Trennung mit tödtlichen Schmerzen verbunden seyn; nicht da, wo sie noch im Hintergrunde der Zukunft liegt und aus weiter Ferne winkt. Übrigens war es, in Beziehung auf Moritzens [119] Mutter und Schwester, ein Glück für mich, daß ich mich genug für sie interessiren konnte, um mit ihnen zu weinen – nicht um Moritz, sondern aus jener reinen Sympathie, welche sich bei allen besseren, von keiner Art des Egoismus zusammen geschrumpften Menschen wiederfindet, so oft sie Thränen des Kummers oder der Freude vergießen sehen. Was beide beklagten, war für mich noch kein Gegenstand der Klage; aber sie selbst waren Gegenstände des Mitleids, und so vermischten sich unsere Zähren, während der edlere Theil meines Selbst eben so unumwölkt blieb, als, nach dem Ausdruck des ersten aller Sänger, der Wohnsitz der seligen Olympier ist. So wenig war ich in meinem ganzen Wesen gestört, daß kein einziges meiner Geschäfte stockte. Es kam mir zwar vor, als wäre ich in vielen Dingen hurtiger und bestimmter geworden; und in sofern dies wirklich der Fall war, konnte [120] meine größere Hurtigkeit und Bestimmtheit nur daher rühren, daß mich das Problem, Moritz zu dem Meinigen zu machen, weniger beschäftigte. Ich kann aufs Heiligste versichern, das ich bei der Auflösung dieses Problems nie an seiner Rechtlichkeit zweifelte; durch diese mußte er mir zu Theil werden. Das Einzige, was mir immer zweifelhaft blieb, war: Ob seine höhere Natur ihn, seinen Wünschen gemäß, zu mir hinführen würde? Und bei diesem Zweifel mußte ich nothwendig sehr viel von meiner natürlichen Klarheit einbüßen.

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Zweites Buch

[123] [125]Mein Verhältniß mit dem Herrn von Z... hatte mich seit Jahr und Tag sehr isolirt; allein die gute Meinung, welche man vorher von mir gehabt hatte, war sich gleich geblieben; und so fand ich bei meinem Zurücktritt in die gesellschaftlichen Zirkel, welche ich ehemals besucht hatte, denselben Empfang wieder, womit man mir in allen Dingen zuvor zu kommen gewohnt war. Die etwanigen Bewegungen des Neides, wenn ja dergleichen in dem Busen der einen oder der andern meiner Gespielen vorhanden gewesen waren, hatte Moritzens Tod zum Stillstand gebracht; man näherte sich mir mit desto mehr Freundschaft, je bestimmter man voraussetzte, daß dieser Tod mich sehr unglücklich gemacht hätte. Ich sprach, ganz der [125] Überzeugung gemäß, welche das Anschaun mit sich führt, mit Enthusiasmus von dem Vollendeten; aber ich überließ es Anderen, mein Schicksal zu beklagen, weil ich mich hiermit nicht befassen konnte, ohne zur Lügnerin zu werden, was ich aus allen Kräften verabscheuete. Dafür hatte ich denn freilich den Verdruß, Condolenzen über Condolenzen annehmen zu müssen, von welchen die eine noch abgeschmackter war, als die andere. Überhaupt bemerkte ich bei diesem meinen Zurücktritt in die Gesellschaft, daß ich seit Jahr und Tag eine so spröde Individualität gewonnen hatte, daß ich für den Umgang unendlich weniger taugte, als vorher. Ich untersuchte nicht, ob die Personen, mit welchen ich gerade zu schaffen hatte, über oder unter meinem Horizont waren; allein ich fühlte, daß zwischen mir und ihnen irgend eine Antipathie obwaltete, die, sie mochte nun gegründet [126] seyn, worin sie wollte, die größte Aufmerksamkeit auf mich selbst nöthig machte, da ich als ein unverheirathetes Frauenzimmer nicht berechtigt war, den Ausschlag zu geben. Selbst mit dem größten Wohlwollen und den hellsten Ideen kann man dahin kommen, die Gesellschaft zu fliehen; ja, in solchen Eigenschaften liegt zuletzt der stärkste Bewegungsgrund zur Isolirung, oder wenigstens zur Beschränkung auf einige Wenige, da einmal kein Einzelner verlangen kann, daß alle Übrigen sich in seine Form schmiegen sollen, und es von der anderen Seite doch etwas sehr Wesentliches ist, seine Individualität zu retten. Sind wir einmal breit getreten, so mag es immerhin etwas Gutes seyn, aller Menschen Freund seyn zu können; allein so lange wir es noch nicht sind, müssen wir alles, was unseren Charakter ausmacht, als das köstlichste Kleinod bewahren, weil eine kräftig ausgesprochene [127] Individualität zuletzt mehr werth ist, als die ganze Gesellschaft. Ich sollte dies nicht sagen, weil ich ein Weib bin; aber meine Rechtfertigung liegt in dem Stillschweigen, welches die Männer in Beziehung auf diese Wahrheit behaupten.

Adelaide, welche mir unter diesen Umständen besonders theuer wurde, nicht weil der Unterschied, den die Natur selbst zwischen uns gelegt hatte, durch die Länge der Zeit aufgehoben war, sondern weil die Gewohnheit des Beisammenseyns den Ausschlag über diesen Unterschied gab – Adelaide sah sich seit dem Tode ihres Bruders, der sie zu einer sehr reichen Erbin gemacht hatte, von Bewerbern umgeben, welche den Augenblick, wo sie sich für den einen oder den anderen von ihnen erklären würde, nicht zeitig genug erleben konnten. Das Unglück des armen Mädchens bestand recht eigentlich darin, [128] daß unter diesen Bewerbern kein einziger war, der ihr Achtung abgewinnen konnte. Ich habe immer bemerkt, daß diejenigen Frauenzimmer, welche im Besitze bestimmter Talente sind, in die größte Verlegenheit gerathen, so bald es darauf ankommt, über ihre Person zu disponiren; und in dieser Verlegenheit befand sich auch Adelaide. Was ihre Freier am meisten in Betrachtung zogen, ihr Vermögen, war gerade das, worauf sie den geringsten Werth legte. Dagegen brachte sie ihre Fertigkeit in der Musik und Poesie, oder vielmehr im Clavierspielen und Versemachen, in einen desto höheren Anschlag; und wo nun unter den jungen Männern ihres Standes denjenigen finden, den sie der Erwerbung solcher Talente in ihrer Person würdig gehalten hätte? Es gab Einen, der sich nur hätte zeigen dürfen, um mit offenen Armen von ihr empfangen zu werden; aber dieser Eine war [129] fern, im Kriegesstrudel umgetrieben, vollkommen unbekannt mit der Schönen, welche ihn über alle Männer ehrte; es war der berühmte Kleist, dessen einzelne Gedichte damals anfingen bekannter zu werden, und der, wenig Monate darauf, in der Schlacht bei Cunersdorf verwundet, sein Leben nur rettete, um es im Lazareth auszuhauchen. Alle Übrigen mochten sie noch so sehr loben; da ihr die Idee blieb, daß sie von der Sache selbst nichts verständen, so konnte sie nicht umhin, sie sammt und sonders als ein Pack feiler Schmeichler zu verachten. Mir leuchtete schon damals ein, daß Adelaide für eine Ehe so gut als verdorben sey. Hätte sie kein bedeutendes Vermögen gehabt, so hätte es nur gewisser Umstände bedurft, um ihr die Weiblichkeit wiederzugeben, welche die Talente ihr genommen hatten; durch die Herrschaft, welche sie als reiche Eigenthümerin über die [130] Umstände ausübte, mußte sie ewig verhindert werden, in die volle Weiblichkeit zurück zu treten. Sie war klug genug, um nur dem Manne, dessen Anspruchslosigkeit ihr vollendete Freiheit versprach, ihre Hand zu geben; allein, weil bei ihr alles ins Unendliche ging, so bedurfte sie für ihre Eigenthümlichkeit eines Beschränkers, und da sie diesen in ihrem Gatten nicht fand, so war es wohl kein Wunder, wenn sie in der Folge von der Sonderbarkeit zur Seltsamkeit und von dieser zur Albernheit überging.

Herr von M..., den sie wählte, war ein begüterter Landedelmann, von gesundem Geist und guten Sitten. Er war unstreitig die beste Parthie, die Adelaide machen konnte; das Schlimme war nur, daß es für Adelaiden keine gute Parthie gab. Vermöge der Eigenthümlichkeit ihres Geistes standen ihre Mittel nie in einem nur erträglichen Verhältniß zu ihren [131] Zwecken. Man hätte mit großer Wahrheit von ihr sagen können: Sie setze einen Ocean in Bewegung, um eine Feder fortzuschaffen. Die Liebe ihres Gatten zu gewinnen, glaubte sie sich die Hochachtung der ganzen Welt erwerben zu müssen. Wie bot sie alles auf, um die Meinung zu erwerben, daß sie eine Frau von großem Verstande sey, und wie blieb sie immer und ewig hinter ihrer Erwartung zurück! Ein besonderes Unglück für sie war ihre Kinderlosigkeit. Diese setzte sie in eine Art von Wuth, welche sich dadurch offenbarte, daß sie alles vereinigen wollte, was nur immer ein Gegenstand des menschlichen Wissens ist. Nachdem sie alle Zweige der Naturgeschichte studirt hatte, endigte sie mit dem Studium der Mathematik; aber ihr armer Mann wurde ihr in eben dem Maaße unausstehlicher, in welchem sie selbst gelehrter wurde. Eine Scheidung, die aus allen Gründen nothwendig geworden[132] war, erfolgte, so bald Herr von M... eingesehen hatte, daß seine Individualität sich nur auf diesem Wege retten ließ. Adelaide zog in eine Hauptstadt, um den Bibliotheken und Gelehrten näher zu seyn, als sie es bisher gewesen war; aber auch diese Art der Existenz wurde ihr nur allzubald lästig und abgeschmackt. Sie warf sich in die sogenannte schöne Kunst, und um diesem Studium mit desto besserem Erfolge obzuliegen, ging sie nach Italien, wo sie große Summen verschwendete. Die Briefe, die ich von Zeit zu Zeit von ihr erhielt, sagten mir, wie über Alles reizend ihr diejenige Periode ihrer Jugend erschiene, in welcher sie meine Bekanntschaft gemacht, und wie alles, was sie unternähme, um sich zu zerstreuen, doch nicht die Kraft habe, sie über die Dauer weniger Stunden zu beglücken. Es würde Thorheit gewesen seyn, ihr mit einem guten Rath an die Hand zu gehen, von [133] welchem sie keinen Gebrauch machen konnte; auch sah sie selbst sehr deutlich ein, daß sie nicht mehr genesen konnte. Den Hang nach ewiger Bewegung befriedigte sie dadurch, daß sie von einem Lande in das andere reisete. Von England aus meldete sie mir: Die europäische Welt mache ihr Langeweile, und darum sey sie fest entschlossen, nach Asien zu gehen. – Seit dem hab' ich nichts von ihr erfahren. Mehreren Anzeigen zufolge ist sie auf ihrer Reise nach Ostindien am Kap der guten Hoffnung gescheitert. Anders, aber nicht besser, konnte eine Person endigen, in welcher die Phantasie den Ausschlag über den Verstand gab, indeß das Schicksal dafür gesorgt hatte, daß es ihr nicht an Mitteln fehlte, jeden noch so seltsamen Einfall ins Werk zu richten. Ihre ganze Geschichte hab' ich, der Zeit vorgreifend, an diesem Orte conzentrirt, um nicht auf sie zurückkommen zu dürfen, [134] nachdem wir uns einmal getrennt hatten, und nur neben nichtmit einander gehen konnten.

Um eben die Zeit, wo Adelaide sich mit dem Herrn von M.... verband, wurde mir die Stelle einer Gesellschaftsdame bei der jüngsten Tochter unseres Fürsten angetragen, welche damals ein Alter von funfzehn Jahren erreicht hatte. Dieser Antrag war um so ehrenvoller, weil ich berechtigt war, ihn als das Resultat der guten Meinung zu betrachten, in welche ich mich bei dem Publikum gesetzt hatte. Mehr indessen, als die Ehre, bestimmte mich die Liebenswürdigkeit der jungen Prinzessin, über welche nur Eine Stimme war. Das Einzige, was mich von der Annahme abschrecken konnte, war meine eigene Individualität, die, wie es mir vorkam, sehr schlecht zu den Verhältnissen paßte, welche ein Hof in sich selbst zu erzeugen pflegt. Als dieser Punkt [135] zwischen meinem Pflegevater und mir zur Sprache kam, beruhigte mich dieser durch folgende Vorstellungen, die mir immer gegenwärtig geblieben sind:

»In dem Leben mit Seinesgleichen,« sagte er, »hat man entweder gar keinen, oder nur einen sehr schwachen Antrieb, die eigene Individualität zu verbergen; und indem man sie mit Unbefangenheit Preis giebt, läuft man beständig Gefahr, dadurch anzustoßen, weil jeder einmal die seinige retten will. Nicht so im Umgange mit Vornehmeren. Hier kommt es darauf an, solche Formen zu gewinnen, daß man selbst die kräftigste Individualität rettet, ohne jemals dadurch zu beleidigen. Es ist wahr, daß es Personen giebt, die zuletzt nichts weiter haben, als die Form; allein dies ist nicht sowohl die Wirkung des Hoflebens, als vielmehr die einer ursprünglichen Leerheit, welche sich hinter Repräsentation [136] verkriecht. Wer einmal inneren Gehalt und eigentlichen Kern hat, für den ist das Untergehen in der Form unmöglich; dagegen gewinnt er durch die Form eben das, was der Diamant durch die Politur erhält. Vollendet ist zuletzt doch nur derjenige Mensch, der mit der gefälligsten Form den meisten inneren Gehalt verbindet, den das Individuum erwerben kann. Und gehe von diesem Grundsatz aus, so giebt es für dich, meine liebe Mirabella, keine bessere Schule, als den Hof. In ihr soll dir das Siegel der Vortrefflichkeit aufgedrückt werden; denn in ihr sollst du lernen, wie man, ohne weder seiner Individualität zu entsagen, noch durch dieselbe anzustoßen, allen Menschen ohne Ausnahme gebietet. Könnt' ich befürchten, daß du zu lauter Form würdest, so würde ich der Erste seyn, der dich von der Annahme des dir gemachten Antrages [137] zurückschreckte; denn nichts ist mir in der Welt so sehr zuwider, als ein gehaltloser Mensch, wenn ein solcher noch Mensch genannt werden kann. Aber indem ich dies ganz und gar nicht befürchte, erwarte ich nichts Geringeres von dir, als eine Vereinigung oder vielmehr Verschmelzung der schönen Form mit einem reichen Wesen; gerade wie bei dem Diamant, um bei dem einmal gebrauchten Bilde zu bleiben. Besorge nicht, daß man dir irgend eine Gewalt anthun werde. Alle tugendhaften Neigungen, die in dir sind, wirst du befriedigen können, wenn du Verstand genug hast, deine Pflichten scharf ins Auge zu fassen. Selbst deinen Gewohnheiten brauchst du nicht zu entsagen, wofern du nicht für gut befindest, neue anzunehmen. Sehr bald wirst du die Entdeckung machen, daß man sich auch bei Hofe nicht von dem allgemeinen Gesetze [138] dispensiren kann, den Menschen nur nach seinem inneren Werth zu schätzen, und daß es neben dir noch manche Andere giebt, die davon nicht weniger haben, weil sie gefällige Manieren damit verbinden. Das beste Mittel, dich auf der Stelle geltend zu machen, ist, dich an diese anzuschließen, und dabei deine Stellung so zu nehmen, daß du immer aus der Schußweite der Partheien bleibst. Da ich deine Gutmüthigkeit kenne, so warne ich dich vor nichts so ernstlich, als vor allem Befassen mit Empfehlungen. Verbinde so viel Bedürftige, als du immer kannst, das heißt, so viel deine Einkünfte und deine Kräfte überhaupt erlauben; aber setze deine Freunde nicht in Contribution, weil du sie dadurch zu Gegengefälligkeiten berechtigen würdest, die zu sehr unangenehmen Verwickelungen führen könnten. Das große Problem, das du zu lösen hast, besteht, [139] so weit ich diese Region kenne, darin, daß du von Allen abzuhängen scheinest, und immer deine volle Freiheit behauptest. Man nennt den Boden, den du betreten sollst, schlüpfrich; er mag es auch im Ganzen genommen seyn. Allein wer in einem natürlichen Gleichgewicht mit sich selbst stehet, bewegt sich zuletzt selbst auf einer spiegelglatten Eisfläche mit Leichtigkeit und Anmuth; und meiner Mirabella darf ich es zutrauen, daß sie da nicht fallen werde, wo sich so viele Andere vor ihr aufrecht erhalten haben.«

Diese Bemerkungen meines Pflegevaters beruhigten mich, indem sie mir zugleich die Vermuthung zuführten, daß Alles vorher mit ihm verabredet worden sey. Wenigstens gerieth ich auf den Gedanken, daß seine Connivenz, außer dem pädagogischen Zwecke, den er nicht verhehlte, auch einen politischen haben könnte, [140] da er, seiner Gewohnheit ganz entgegen, in dieser Angelegenheit bei weitem entschlossener war, als ich ihn bei minder wichtigen kennen gelernt hatte. Wie dem aber auch seyn mochte, so hatten alle meine Bedenklichkeiten nach dieser Unterredung ein Ende; und vertrauensvoll trat ich meine neue Laufbahn an.

Sowohl der Fürst als dessen Gemahlin empfingen mich mit einer ausgezeichneten Huld, welche mir um so mehr wohlthat, da sie sich weniger in Lobsprüchen, als in – ich möchte sagen elterlicher Affection offenbarte, und mir zuraunte, daß es nur von mir abhange, um am Hofe wie zu Hause zu seyn. Prinzessin Caroline ihrer Seits kam mir mit aller der Naivetät entgegen, wodurch sie der Zauber aller ihrer Bekannten war. Da sie mich schon sonst gesehen hatte, so lag in meinem Wesen nichts Fremdes für sie; und dies mußte mir nothwendig um so [141] lieber seyn, weil in meiner Miene sehr viel Ernsthaftes war, wodurch ich leicht zurückschrecken konnte. Ich befand mich gegenwärtig in einem Alter von drei und zwanzig Jahren, und die höhere Cultur, die mir durch Studium und Schicksale zu Theile geworden war, konnte mich, einer so jungen Person, als Prinzessin Caroline, gegenüber, nur allzuleicht zu einer Verwechselung der Gesellschaftsdame mit der Gouvernante verführen. Um diesem Übelstand auszuweichen, nahm ich mir vor, alles zu vermeiden, was einer förmlichen Lehre oder Zurechtweisung ähnlich sähe, mich, wie man es gegenwärtig nennt, gehen zu lassen, und immer nur auf die Unterhaltung der Prinzessin, wenn gleich so bedacht zu seyn, daß ich nicht von ihr gezogen würde. Der Erfolg rechtfertigte meine Maximen. Ohne nur ein einzigesmal auf Albernheiten oder Fadaisen eingegangen zu seyn, wurde ich der Prinzessin [142] so nothwendig, daß sie nicht von meiner Seite wich, so lange es ihre übrigen Verhältnisse erlaubten, in meiner Gesellschaft zu seyn. Da ich mich zugleich in einer gewissen Zurückgezogenheit hielt, und alle, mit welchen ich, oder welche mit mir zu thun hatten, mit gleicher Aufmerksamkeit behandelte; so gewann man mich in kurzer Zeit lieb. Vielleicht wußte man nicht, was man von mir denken sollte; allein mir war es auch nur darum zu thun, daß Niemand Nachtheiliges von mir denken möchte.

Ich wünschte, meine Gewohnheiten mit denen des Hofes in Harmonie zu setzen; und dies wurde mir nicht schwer, so bald die Tagesordnung des Hofes mir geläufig geworden war. Seit meinem sechsten Jahre gewohnt, um fünf Uhr des Morgens, im Winter wie im Sommer, aufzustehen, behielt ich diese Sitte bei, indem ich mir berechnete, daß die drei bis vier Stunden, [143] die ich auf diesem Wege gewann, nicht übel angewendet seyn würden, wenn ich sie meinen Privatangelegenheiten widmete. Mochte ich also auch noch so spät ins Bette kommen – und dies war, ich gestehe es, Anfangs keine geringe Beschwerde für mich – so war ich immer zu derselben Zeit aus dem Bette. Mein erstes Geschäft war alsdann, mich mit kaltem Wasser zu waschen, und mein nächstes, mich vollständig für den Vormittag anzuziehen. War ich damit fertig, so las oder schrieb ich im Winter, und verrichtete für mich oder für andere irgend eine weibliche Handarbeit im Sommer. Immer war es mein Stolz gewesen, den größten Theil meiner Bekleidung selbst verfertigen zu können; und diesen Stolz behielt ich bei, weil er mir niemals schaden konnte. So lange ich bei meinen Pflegeeltern lebte, war ich nie allein, wenn ich auch noch so früh aufstand; [144] denn meine Pflegemutter wenigstens war immer schon vor mir aus dem Bette. Es kam mir daher anfangs ein wenig schauerlich an, wenn ich, besonders im Winter, wo die Natur um fünf Uhr selbst noch schläft, das einzige wachende Wesen im ganzen Schlosse war; doch, da ich einmal durchaus nicht im Bette bleiben konnte, wenn ich ausgeschlafen hatte, so suchte ich das unangenehme Gefühl des Alleinseyns durch eine verdoppelte Thätigkeit zu zerstreuen, und dies gelang mir so gut, daß es sich nach und nach gänzlich verlor. Sobald die Prinzessin aufgestanden war, frühstückte ich mit ihr, und von diesem Augenblick an war ich in allem, was Gewohnheit war, au courant des Hofes, ohne mir auch nur die kleinste Abweichung zu gestatten.

In Hinsicht meiner Neigungen hatte ich größere Mühe, mich in den Hof zu schicken. Es gab besonders zwei Punkte, [145] worin ich sehr gern meinem Genius allein gefolgt wäre, hätte es in meiner Gewalt gestanden, die Bedingungen zu machen. Der eine war derTanz, der andere das Spiel.

Um den Tanz zu lieben, fehlte es mir offenbar an Temperament; und da man nicht mit Erfolg tanzen kann, wenn man nicht gern tanzt, so war ich in einer desto größeren Verlegenheit. Es kam aber noch dazu, daß die Prinzessin Caroline über diesen Punkt ganz entgegengesetzter Neigung war, und nicht aufhörte, mich in ihr Interesse ziehen zu wollen. Ich that zuletzt, was in meinen Kräften stand, und erreichte dadurch alles, was ich zu erreichen nur wünschen konnte. Aber im Ganzen genommen blieb mir der Tanz zuwider, und mein liebster Trost war immer, daß die Gelegenheit dazu nicht täglich wiederkehrte.

Spielen hatte ich nie gelernt, wiewohl [146] es mir auch dazu nicht an Gelegenheit gefehlt hatte. An den Hof versetzt, sah' ich sehr bald ein, daß Fertigkeit in dieser Beschäftigung eine von den Haupttugenden sey, die ich mir erwerben müßte. Allein wie in den Besitz dieser Fertigkeit gelangen? Ich ließ mich unterrichten, und ohne Mühe faßte ich die Regeln des Spiels. Doch wie wenig hatte ich dadurch gewonnen! Die Hauptsache war und blieb, diese Regeln mit Leichtigkeit und Grazie anzuwenden; und dahin konnte ich es nicht bringen. Es fehlte mir ganz offenbar der Spielgeist. Um ihn zu erhalten, sagte ich zu mir selbst: »das Spiel, so wie es am Hofe getrieben wird, ist ein pis aller; weil es unmöglich ist, eine große Gesellschaft auf eine edle Weise in Thätigkeit zu setzen, so hat man diesen Ausweg erfunden, sie nicht ganz unbeschäftigt zu lassen. Ohne Spiel würde man in den Hofzirkeln von der Langenweile [147] zu Tode gemartert werden, und jeder den Hof fliehen; eben deswegen aber muß jeder, der dem Hofe keine Schande machen will, sich auf das Spiel verstehen.« Allein, wie ich mich auch stacheln mochte, ich kam in der Sache selbst nicht weiter; ich war und blieb zerstreut, verlor mein Geld, und würde gern das Doppelte verloren haben, wenn ich nur hätte dispensirt bleiben können. Endlich schlug sich der Fürst selbst großmüthig ins Mittel; und indem er erklärte, daß es künftig immer von mir abhängen sollte zu spielen oder nicht zu spielen, fand ich in meiner Abneigung von dem Spiele den Keim zu einer seltenen Tugend, die ich genauer analysiren muß.

Wie ich sie nennen soll, weiß ich nicht; ihrem Wesen nach aber bestand sie darin, daß, indem ich für alle Nichtspielenden die Gesellschaftsdame machte, ich die in der That nicht leichte Kunst lernte, mich [148] mit allen Menschen, wenn ich mich so ausdrücken darf, zu ihrer und meiner Zufriedenheit aus einander zu finden. Es war zuletzt die Langeweile, die mich zur Unterhaltung hintrieb; aber, indem ich diesem Stoße folgte, abstrahirte ich sehr bald, daß man, um mit Erfolg zu unterhalten, so wenig als möglich von dem Seinigen geben, und so viel als möglich von dem Fremden empfangen müße. In wenigen, sehr bestimmt ausgedrückten, das Individuum, welches man vor sich hat, tief ergreifenden Fragen muß die Kraft enthalten seyn, nicht nur Mittheilung überhaupt, sondern auch diejenige Art der Mittheilung zu erzwingen, welche den sämmtlichen Verhältnissen des Hofes entspricht. Die Fragen an und für sich würden nichts bewirken, wenn sie nicht unter solchen Wendungen gemacht und von solchen Manieren begleitet wären, daß, während das Gemüth in den Fesseln des Fragenden [149] einhergeht, der Geist in Freiheit gesetzt wird. Vor allen Dingen kommt es darauf an, den Stolz, der in der Frage selbst liegt, so zu verschleiern, daß er gar nicht sichtbar wird. Eine Kunst, auf welche sich nur sehr Wenige verstehen, die aber, wenn ich nicht irre, das Criterion der gesellschaftlichen Bildung ist. Das ganze Manövre, welches man in dieser Hinsicht macht, setzt den allerschnellsten und feinsten Takt voraus; denn der kleinste Fehlgriff zerstört das Werk, weil man sogleich aus der Stellung gehoben wird, in welcher man sich nothwendig befinden muß, um Anderen die Täuschung zuzuführen, daß man nur mit ihnen beschäftigt sey. Wer sich nicht ganz in seiner Gewalt hat, wird von seiner eigenen Kunst über den Haufen geworfen; denn es kommt nicht nur darauf an, daß man schicklich anfange und gut fortfahre, sondern auch, daß man vortrefflich endige. [150] Die ganze Unterhaltung muß ein Sonnet seyn, in welchem ein interessanter Gedanke so verarbeitet wird, daß die Hauptidee den Beschluß macht. In der That, jene italiänischen Improvisatoren, welche jedes beliebige Thema so ausbilden, daß es mit allen Farben der Poesie zum Vorschein tritt, haben die größte Ähnlichkeit mit wirklich ausgebildeten Hofleuten; und der Zauber, welche beide in den Gemüthern zurücklassen, ist vollkommen derselbe. Alle Saiten sanft berühren, und aus dem Instrument, worauf wir spielen, eine solche Harmonie hervorlocken, wodurch wir selbst nie beleidigt werden, das Instrument selbst aber entzückt wird – dies ist es, worauf wir ausgehen müssen, und was wir gewiß erreichen, wofern es uns nicht an der scheinbaren Entsagung fehlt, die alles Eigenthümliche nur deshalb in den Hintergrund stellt, damit es desto unerreichbarer bleibe. Ob Überlegenheit des Geistes die unerlaßliche [151] Bedingung der besten Ausübung dieser Kunst sey, möcht' ich weder bejahen, noch verneinen, da sie es bei den einen wirklich, bei den anderen gar nicht ist. Ich glaube wenigstens bemerkt zu haben, daß man, wie in vielen anderen Dingen, so auch in dieser Kunst, durch gewisse Eigenschaften des Gemüthes eben so weit kommt, als durch die des Geistes; und der größte Theil ihrer Ausüber dürfte sie wohl durch die ersteren erwerben. Vielleicht ist dies aber nur Schein, und wenn in irgend einer Kunst, so muß in dieser Geist und Gemüth in dem vollkommensten Gleichgewicht stehen.

In welcher bestimmten Individualität ich auch als Weib dastehen mochte, so gab die Weiblichkeit in mir doch den Ausschlag über alles; und da der Grundcharakter des Weibes Resignation ist, so wurde mir die Erlernung jener nahmenlosen Kunst, die ich so eben beschrieben [152] habe, dadurch nicht wenig erleichtert. Für mich selbst gewann ich dabei auf eine doppelte Weise; einmal indem jene spröde Eigenthümlichkeit, die ich an den Hof gebracht hatte, sich nach und nach verlor, ohne daß mein Charakter im Wesentlichen dabei litte; zweitens indem sich mein Gesichtskreis durch alle die Ideen erweiterte, welche mir durch die Mittheilung ganz absichtslos zugeführt wurden. In Beziehung auf den ganzen Hof aber füllte ich eine Lücke aus, die man vor meiner Ankunft mehr empfunden als deutlich gedacht hatte. Hätte ich in jenem zarten Alter über diese Beziehung raisonnirt; so würde ich auf das Resultat gestoßen seyn, daß der ganze Hof, als geistiger Mittelpunkt genommen, in mir conzentrirt wäre; allein daran dacht' ich damals eben so wenig, als irgend einer von denen, die ich in den Stand setzte, ihren Neigungen rücksichtsloser zu folgen.

[153] Die Oberhofmeisterin war im Besitz aller der Formen, welche ihr Geschäft mit sich führte; aber sie war zugleich so sehr in der Repräsentation untergegangen, daß sie, auch wenn sie noch einer Erhebung fähig gewesen wäre, allen Geist für eine Todsünde erklärt haben würde. Man nannte sie in der Regel Madame Etiquette; und diese Benennung beleidigte sie nie, theils weil sie sich bewußt war, als Repräsentantin der Etiquette einen hohen Werth zu haben, theils weil sie keine Ahnung davon hatte, daß es neben dem staatsbürgerlichen Werth noch einen anderen giebt, der zuletzt alles entscheidet. Das einzige Menschliche, was in ihr zurückgeblieben war, bestand in einer Art von Witz, wodurch sie zwar sehr zum Lachen reizte, wobei es aber sehr unentschieden blieb, ob sich das Lachen mehr auf ihre Einfälle, oder auf den Widerspruch bezog, in welchem diese Einfälle [154] mit ihrer Person und ihrem Geschäfte als Oberhofmeisterin standen. Es war nämlich eine gute Mundvoll Zweideutigkeiten, wodurch sie sich auszeichnete: eine üble Angewohnheit, die sie unstreitig ihrer ersten Erziehung zu verdanken hatte, um so übler, weil sie längst über das Alter hinaus war, wo der weiblichen Erfahrenheit ein freieres Wort verziehen wird. – Aus allen diesen Gründen nun konnte kein Abstich auffallender seyn, als der, den ich gegen sie bildete. Ich sage in der That nicht zuviel, wenn ich behaupte, daß in ihr und mir zwei Extreme einander gegenüber standen, von welchen man das eine die vollendete Unweiblichkeit, das andere die höchste Jungfräulichkeit nennen konnte. Dieser Gegensatz blieb nicht unbemerkt; und wenn man sich auch nicht darüber äußerte, so lag die Sache selbst doch dadurch an dem Tag, daß man, aus überwiegender Achtung für mich, eine Frau [155] vernachlässigte, welche, dem Range nach, die erste nach der Fürstin selbst war. Mir war dabei oft sehr peinlich zu Muthe; allein, wie sehr man sich auch an mich anschließen mochte, so sah die gute Oberhofmeisterin darin immer nur die größere Freiheit, welche sie als leidenschaftliche Lhombrespielerin für sich gewann, und das Höchste, was ihr Neid ihr auszupressen vermochte, war: daß ich in ihrem Alter auf gleicher Linie mit ihr stehen würde; eine Prophezeihung, welche niemals eintreffen konnte, weil ich mit meinen Eigenschaften darüber hinaus war, ihre Erfahrungen zu machen. Abgesehen von dieser Opposition, wirkte die Stellung, welche ich genommen hatte, dadurch sehr eigenthümlich auf mich zurück, daß ich, indem ich für alle vorhanden seyn mußte, für keinen Einzelnen vorhanden seyn konnte. Selbst wenn Moritzens Bild mir – wie dies wirklich der Fall war – [156] nicht als Ideal vorgeschwebt hätte, so würde ich durch das Problem, dessen Auflösung ich einmal übernommen hatte, von allem, was Liebe im engeren Sinne des Wortes genannt wird, entfernt geblieben seyn. Ich hatte mich, trotz meines jugendlichen Alters, von der Liste der fühlenden Wesen gestrichen, um mich auf die der Intelligenzen setzen zu können.

Mein Pflegevater freuete sich nicht wenig über diese Verwandlung meines Wesens; sie entsprach seinen Erwartungen von mir eben so sehr, als seinen Wünschen. Unstreitig würde sie noch vollkommner gewesen seyn, hätte nicht mein Verhältniß zu der Prinzessin Caroline meinen ursprünglichen Charakter, d.h. denjenigen, mit welchem ich an den Hof gekommen war, auf das wesentliche festgehalten.

Wie der ganze übrige Hof, so war auch die Prinzessin von der Verbindung belehrt, in welcher ich mit dem Herrn von [157] Z... gestanden hatte; und da sie sich in einem Alter befand, worin keine Unterhaltung willkommner ist, als diejenige, welche einen Liebeshandel zum Gegenstand hat, so bat sie mich in den Augenblicken, wo wir allein waren, sehr oft, ihr etwas von meiner Geschichte zu erzählen. In sofern ich selbst die Heldin derselben war, würd' ich es schwerlich der Mühe werth gehalten haben, den Mund zu öffnen; aber da ich das Andenken an meinen Moritz liebte, so ließ ich mich immer bereitwillig finden, der Prinzessin mitzutheilen, was ihn in seiner eben so kräftigen als edlen Individualität darstellte. Merkwürdig war der Erfolg meiner Erzählung dadurch, daß niemals eine von uns beiden dadurch gerührt wurde, dies Wort in seinem gewöhnlichen Sinne genommen. Meine Erzählung enthielt gewiß alle Elemente des Tragischen; aber auf unsere Thränendrüsen wirkten diese nie zurück. [158] Ich selbst war wie begeistert, und mein Zustand riß die Prinzessin zu einem ähnlichen hin; doch alles, was sich mit Wahrheit von uns sagen ließ, war: daß wir uns im höchsten Grade interessirt fühlten, ohne in unserem Gemüthe im Mindesten verwirrt zu seyn.

Ich kann bei dieser Gelegenheit nicht umhin, eine artistische Bemerkung zu machen, die, wie sehr sie auch den gewöhnlichen Theorien widersprechen mag, mir vollkommen richtig scheint. Sie ist: »daß die wahre Tragödie das Gemüth nicht foltern, sondernheben müsse, so daß der Zuschauer, nachdem der Vorhang gefallen, nicht mit beklommenem, sondern mit freudigem Herzen die Bühne verläßt.« Es ist gewiß nur immer die Schuld des Dichters, wenn dies nicht der Fall ist. Wer sich eines tragischen Stoffes so zu bemächtigen versteht, daß er die Entwickelung in ihrer Nothwendigkeit fortführen [159] kann, der befriediget zugleich unser Gemüth und unseren Verstand; und dabei ist die volle Heiterkeit des ganzen Menschen nicht nur möglich, sondern sogar nothwendig. Wer hingegen den tragischen Stoff zerreisset, und aus poetischem Unvermögen die Einbildungskraft der Zuschauer nöthigt, das Ganze, das er selbst nicht zu Stande bringen konnte, an seiner Stelle zu schaffen; der kann nicht anders als verwirren, ängstigen und foltern. Will man wissen, wer der eigentliche Meister in der tragischen Kunst ist? Derjenige unstreitig, der alles so anzuordnen weiß, daß das Nothwendige immer mit Freiheit vollzogen wird, so daß das Schicksal nie über den Helden, dieser hingegen beständig über jenes siegt, sogar alsdann, wenn er vom Schicksal zerschmettert wird. Wer dies nicht kann, der ist und bleibt ein Pfuscher in der Tragödie, gut genug für den Pöbel, dem [160] es immer nur um Gemüthsbewegung zu thun ist, aber zu schlecht für gebildete Menschen, welche die Freiheit im Kampf mit der Nothwendigkeit obsiegen sehen wollen. Wollte man sagen, daß ich hier als Aristokratin spreche, so würde meine Antwort seyn: »Die größte Aristokratin ist die Kunst selbst, die sich nur in der Region des Idealen bewegen will, weil sie weiß, daß sie, ohne abgeschmackt zu werden, diese Region nicht verlassen kann.« Doch ich lenke wieder ein.

Indem ich der Prinzessin gegenüber meine ganze Individualität festhielt, so konnte es schwerlich fehlen, daß, vermöge der achtungsvollen Anhänglichkeit, die sie für mich empfand, von meinem ganzen Wesen sehr viel auf sie überging. Ich möchte nicht sagen, daß ich mich zu ihr herabließ; dies war durchaus unnöthig, da alle ihre Anlagen von einer solchen Beschaffenheit waren, daß ich sie mit [161] Leichtigkeit zu mir heraufziehen konnte. Es kam dahin, daß wir Studien und Vergnügungen gemein hatten und in einer solchen Harmonie lebten, daß man uns für geborne Schwestern hätte halten können. Im Scherz nannte mich die Prinzessin bisweilen ihren Moritz; und dies mochte ich auch in der That seyn, wenn nur von dem geistigen Verhältniß die Rede ist, das zwischen ihr und mir statt fand. Ob ich durch Übertragung meiner Eigenthümlichkeit der Prinzessin nützlich oder schädlich wurde, war etwas, woran ich gar nicht denken konnte, da die Verhältnisse, in welche sie zu treten bestimmt war, tief im Hintergrunde lagen; wenn ich aber auch daran gedacht hätte, so würde mich keine Klugheit abgehalten haben, meinen ganzen Charakter zu behaupten, weil dieser zuletzt doch das Einzige ist, was der Mensch sein nennen kann, und jede künstliche Modifikation [162] desselben baare Narrheit genannt werden muß. Ich habe mich hinterher, ich gestehe es, sehr häufig über die Unbefangenheit gewundert, womit der Fürst seine einzige Tochter eine Entwickelung gewinnen sah, welche sie in ihren künftigen Verhältnissen nur unglücklich machen konnte; allein mir selbst hab' ich nie den mindesten Vorwurf darüber ge macht, daß ich die Urheberin dieser Entwickelung war; denn ehe man mich zur Gesellschaftsdame wählte, hätte man ausmachen sollen, ob meine Wahl nicht schädliche Folgen haben könnte. Es ging hierin, wie es in der Welt gewöhnlich geht: An das Wesentliche dachte man nicht, und nachdem der Schaden einmal geschehen war, konnte er nicht wieder gut gemacht werden. War es aber auch meine oder der Prinzessin Schuld, daß diejenigen, welche, ihrem Stande nach, zu uns hätten passen sollen, als ob sie für uns geboren gewesen wären, [163] nicht zu uns paßten? Wir konnten unserm Wesen nicht entsagen, ohne uns herabzuwürdigen; aber diejenigen, mit welchen wir zu schaffen hatten, konnten dies sehr wohl; und alles Unglück, das uns begegnete, rührte nur daher, daß sie in ihren Gewohnheiten allzu tief versunken waren, um das Edlere und Bessere zu lieben.

Ehe ich die Räthsel löse, welche in dem vorhergehenden Abschnitt enthalten sind, muß ich, aus Achtung für die Zeitfolge, noch des Todes meines Pflegevaters erwähnen. Er starb, nachdem ich ungefähr drei Jahre am Hofe gelebt hatte. Über sein Hinscheiden weiß ich nur das zu sagen, daß es das Hinscheiden eines ächten Christen war, der, wenn seine letzte Stunde geschlagen hat, mit Ergebung in den Mittelpunkt der Gesellschaft zurücksinkt, welcher er sich, sein ganzes Leben hindurch, nützlich zu machen gestrebt hat. [164] Das Testament, welches er zurückließ, war ganz eigenthümlichen Inhalts, in sofern er seiner eigenen Schwester den kleinsten, mir hingegen den größten Theil seines Vermögens mit dem Zusatze vermachte, daß davon nie etwas auf seine Verwandten zurückfallen sollte. Ich erbte auf diesem Wege von ihm nicht weniger als dreißigtausend Thaler; eine ungleich größere Summe, als wofür man sein Vermögen bis dahin angenommen hatte. Das Wahre von der Sache aber war unstreitig, daß die eben genannte Summe nicht zu seinem Vermögen gehörte, sondern ihm nur von denjenigen anvertrauet war, die es für gut befanden, meine Abkunft zu verschleiern. Immer hatte ich so viel gewonnen, daß ich, ohne mein Kapital anzugreifen, von den Zinsen desselben mit Anstand und Freiheit leben konnte. Dies war die Ansicht, welche ich faßte, sobald ich mich über den Hintritt meines Pflegevaters [165] beruhigt hatte; und dieser Ansicht gemäß nahm ich mir vor, nie zu heirathen, indem ich noch immer daran verzweifelte, einen Mann zu finden, wie der Herr von Z... gewesen war. Auf meine Verhältnisse am Hofe wirkte die Unabhängigkeit, die ich durch mein Vermögen erworben hatte, nicht weiter zurück; denn diese waren so gut, als sie werden konnten, da ich mich schon vorher durch meine innere Kraft frei gemacht hatte.

Ich war kaum mit meiner Erbschaft im Reinen, als das ...sche Fürstenhaus um die Hand der Prinzessin Caroline für den Erbprinzen Carl werben ließ. Ohne gerade glänzend zu seyn, war dieser Antrag ehrenvoll; auch wurde er keinesweges zurückgewiesen. Was man von dem Erbprinzen sagte, war so beschaffen, daß er zu den frohesten Erwartungen berechtigte; man schilderte ihn nämlich als einen schönen jungen Mann von den besten [166] Sitten und den herrlichsten Eigenschaften des Gemüths und des Geistes. Der ganze Hof schätzte die Prinzessin glücklich, einen solchen Bewerber gefunden zu haben; und sie selbst gab sich der süßen Täuschung, alle ihre Wünsche nach kurzer Frist erfüllt zu sehen, nur allzu bereitwillig hin. Da unser Hof den Rang vor dem ...schen hatte, so wurde nur die Bedingung gemacht, daß der Erbprinz sich in eigner Person bewerben möchte, und diese Bedingung zu erfüllen, erschien derselbe anderthalb Monate darauf. Eine schöne Figur, mit einem Gesichte, dem es weniger an Adel, als an bestimmten Ausdruck fehlte! So wie sich der Prinz zum erstenmale produzirte, mußte er gefallen. Die Prinzessin Caroline war eben so bezaubert von seinem Betragen, als von seiner Gestalt. Mir entging, bei einer fortgesetzten Aufmerksamkeit auf den Prinzen, nicht, daß eine gewisse Heftigkeit in [167] ihm war, die sich auf den ersten besten Gegenstand wirft, weil sie denjenigen noch nicht gefunden hat, der sie anhaltend beschäftigen könnte; allein, wie wichtig mir meine Entdeckung um der Prinzessin willen seyn mochte, so hielt ich es doch nicht der Mühe werth, darüber ein Wort fallen zu lassen, da sie einen Fehler betraf, der sehr leicht zu verbessern ist. Die Vermählung würde ohne Carolinens Einwilligung beschlossen und vollzogen worden seyn; aber dies war so wenig nothwendig, daß in dem vorliegenden Falle das Herz recht eigentlich im Bunde mit der Politik zu seyn schien, oder vielmehr wirklich war. Das Einzige, was die Prinzessin sich ausbedung, war, daß es ihr erlaubt seyn möchte, mich als Gesellschaftsdame mit an den ...schen Hof zu nehmen; eine Bedingung, die man sehr gern gestattete.

Von der Vermählung der Prinzessin, [168] welche einige Monate darauf an unserem Hofe vollzogen wurde, kein Wort; denn sie war, wie dergleichen immer zu seyn pflegen. Vierzehn Tage darauf erfolgte die Abreise. Während der Reise hatte ich mehr als eine Gelegenheit, die Bemerkung zu machen, daß meine erste Entdeckung in Betreff des Erbprinzen eine sehr richtige gewesen sey, und ich gestehe, daß ich jetzt anders darüber urtheilte, als vorher; allein wenn mir die Mittheilung meiner Entdeckung früher nicht der Mühe werth geschienen hatte, so war sie jetzt zu spät, und mein Vorsatz konnte kein anderer seyn, als mich mit der größten Behutsamkeit zu betragen, im Fall meine Freundin selbst aus ihrer bisherigen Täuschung erwachen sollte. Diesem Vorsatze gemäß betrug ich mich so, daß ich die junge Fürstin zu keiner Vertraulichkeit aufforderte, wie bestimmt ich es ihr auch schon am vierten Tage nach unserer Abreise [169] ansah, daß sie ihren Busen gegen mich auszuschütten wünschte. Als wir endlich an Ort und Stelle angelangt waren, wurden wir zwar mit allem Pomp empfangen, der bei solchen Gelegenheiten herkömmlich ist; aber über Täuschungen dieser Art erhaben, wie wir einmal waren, rekognoszirten wir nur das Terrain, worein uns das Schicksal geworfen hatte. Ein jeder warf sich, wie sich dies von selbst versteht, in seine besten Atours, und die Erscheinung einer so liebenswürdigen Prinzessin, als Caroline war, trug gewiß nicht wenig dazu bei, daß alle Bewillkommungen und Glückwünsche nur desto besser von statten gingen; bei allem dem aber konnten wir nicht verfehlen, die Entdeckung zu machen, daß irgend ein düsterer Geist über diesem Hof walten müsse, ein unmittelbares Gefühl sagte uns dies, ohne alle künstliche Vernunftschlüsse.

Die nächsten vierzehn Tage klärten [170] unsere Ahnung – denn mehr war unsere Entdeckung nicht – gänzlich auf. Alles beruhete auf einem Mißverhältniß der Herzogin zu dem Herzoge. Von Gewissenszweifeln geängstigt und im höchsten Grade abergläubisch, war die erstere (ihre Kinder allein ausgenommen, welche sie aus unbezwingbarem Instinkt liebte) sich selbst und allen Menschen abhold, während der letztere, wenn gleich nicht minder zum Aberglauben geneigt, mit einer gesünderen Constitution die Freuden, welche er im eigenen Familienkreis nicht finden konnte, außerhalb desselben suchte, und, weil er sie auch da nicht fand, in der Regel mürrisch und auffahrend war, und dadurch alles von sich zurückschreckte. Dies hatte auf Carolinens Gemahl in sofern zurückgewirkt, als er in dem vergeblichen Bestreben, seinen sich selbst so ungleichen Eltern genug zu thun, zuletzt ungeduldig und über die Gebühr heftig geworden [171] war. Unfähig seinen Vater zu lieben, und eben so unfähig sich mit seiner Mutter zu identifiziren, war er, von seinem eigenen Herzen verleitet, die Beute aller derjenigen geworden, in deren Arme er sich geworfen hatte. Wie gesund auch sein Verstand in seinen Anlagen war, so hatte er ihn doch nie in den Besitz der Mittel führen können, durch welche man sich seiner ganzen Umgebung bemächtigt; und je mehr er zwischen hundertfältigen Rücksichten dahin schwankte, desto unzufriedener war er mit seiner ganzen Lage. Vor seiner Vermählung mit einem liebenswürdigen Fräulein verbunden, hatte er dieser Verbindung entsagen müssen, ohne seinen Neigungen entsagen zu können; und wie diese Schwäche von allen denjenigen gemißbraucht wurde, welche, aus früherer Zeit her, im Besitz seines Vertrauens waren, läßt sich ohne Mühe denken. Kurz der ganze Hof war ein [172] Vereinigungspunkt der Antipathien, und, was immer damit verbunden ist, der Intriguen. Keine einzige klare Seele, an welche man sich verdachtlos hätte anlehnen können! Und die Quelle von diesem allen war der Aberglaube in dem Geiste der Herzogin und des Herzogs, der von dem ersten Hofgeistlichen kräftigst unterstützt wurde. Ich habe seitdem sehr oft Gelegenheit gehabt, die Bemerkung zu machen, daß fürstliche Personen ungemein zum Aberglauben hinneigen; und so oft ich mir diese Erscheinung zu erklären versucht habe, bin ich immer auf das Resultat gekommen, daß, während alles, was ihnen untergeordnet ist, nur sie fürchtet und verehrt, sie ihrer Seits auch etwas fürchten und verehren wollen, weil es ihnen unmöglich fällt, der menschlichen Gebrechlichkeit diesen Tribut zu versagen. Nur wenige dürften hiervon eine Ausnahme machen.

[173] Indem ich diese Entdeckungen machte, nahm ich mich wohl in Acht, darüber mit der Erbprinzessin zu sprechen. Ich bot vielmehr meine ganze Heiterkeit auf, sie glauben zu machen, daß ich ganz unbefangen sey und bleibe. Es war mir, ich gestehe es, ein wenig peinlich, meiner Freundin gegenüber der Offenheit zu entsagen, womit ich sie bisher behandelt hatte; allein ich sagte mir wiederum, daß dies ein Opfer sey, das ich höheren Verhältnissen bringen müsse. Sehr deutlich leuchtete mir ein, daß hier nichts zu verbessern sey, daß man aber aus übel leicht ärger machen könnte. Ich nahm mir also vor, meine Stellung immer so zu nehmen, daß ich, so viel an mir wäre, die Sachen in einem erträglichen Gange erhielte. Auf keinen Fall war ich gesonnen, die erste Confidenz zu machen; und war es irgend möglich, die Erbprinzessin von Confidenzen gegen mich zurück zu halten, [174] so wollte ich es nicht an mir fehlen lassen. Am meisten fürchtete ich den Charakter der Herzogin, welche, nachdem ihre Schwiegertochter einmal mit eigenen Augen gesehen hatte, sehr leicht auf den unglücklichen Einfall gerathen konnte, sich vor ihr zu rechtfertigen, und mich darüber zum Zeugen zu nehmen. Ich sah dies so bestimmt vorher, daß ich vorläufig auf den Gedanken verfiel, nichts zu thun, was der Herzogin Vertrauen zu mir einflößen könnte. In der That, ich war sehr übel daran. An unserem Hofe hatte ich mit der größten Freiheit gelebt; hier hingegen war ich von allen Seiten her so eingeklemmt, daß ich mich durchaus nicht bewegen konnte, ohne anzustoßen und Quetschungen und Schrammen davon zu tragen. Meiner ganzen Natur nach ohne Falsch und ohne Hehl, war ich gegen meinen Willen zur Politik hingezogen. Hätte mich das Interesse für meine [175] Freundin nicht aufrecht erhalten, so würde ich, gleich der Tochter Ludwigs des Funfzehnten von Frankreich, den Aufenthalt in irgend einem Carmeliterkloster der meschanten Lage vorgezogen haben, in welcher ich an diesem Hofe war. Der auffallende Entschluß jener Prinzessin hat mich nie in Erstaunen gesetzt, weil ich selbst erfahren habe, wie abgeschmackt und langweilig das Hofleben unter gewissen Bedingungen werden kann.

Die Erbprinzessin verstand mich vollkommen; auch in den zartesten Empfindungen und Ideen begegnete sie mir mit einem Takt, der, wenn ein Dritter als Zuschauer zwischen uns in der Mitte gestanden hätte, diesen nothwendig hätte bezaubern müssen. Wir, die wir drei Jahre hindurch in der vollkommensten Freundschaft gelebt hatten, welche auf Erden möglich ist, verabredeten jetzt stillschweigend unter uns, daß, obgleich unsere Unschuld [176] dieselbe sey, es dennoch Geheimnisse gäbe, welche wir Ursache hätten, uns gegenseitig zu verbergen. Hieraus entwickelte sich ein eigenthümliches Verhältniß, das freilich nie Consistenz gewinnen konnte, aber, so lange es dauerte, unseren inneren Zustand so modifiziren mußte, daß unsere gegenseitige Anhänglichkeit an einander verstärkt wurde. Sonst hatte sich die Erbprinzessin in ihrer Liebe zu mir eben so frei gefühlt, als ich mich in der meinigen zu ihr. Jetzt hingegen, wo die in ihrem Gemahl eingeschlossene zurückstoßende Kraft sie in Ansehung des Spielraums liebender Gefühle so wesentlich beschränkte, und wo ich meiner Seits durch die Erbärmlichkeit des Hofes ganz auf mich selbst zurückgeworfen wurde, jetzt konnten wir den Stützpunkt, dessen wir bedurften, nur eine in der anderen finden. Wir würden glücklich gewesen seyn, hätten wir dem Zuge folgen dürfen, der uns zu vereinigen[177] versprach; aber gerade darin lag das Verzweifelnde unserer Lage, daß wir diesem Zuge nicht folgen durften; wenigstens nicht mit der Rücksichtslosigkeit, welche die Freundschaft gebietet. Wir beide ahneten, daß ein Zeitpunkt eintreten würde, wo wir dem Verderben nur durch festes Aneinanderschließen entrinnen könnten; aber wir wollten diesen Zeitpunkt nicht beschleunigen, welches unvermeidlich war, sobald wir zum voraus gemeinschaftliche Sache machten. Mochte das Problem, das wir uns aufgegeben hatten, immerhin nicht zu lösen seyn; genug wir wollten, was die Klugheit gebot, so lange ehren, als es wahrer Freundschaft unbeschadet geschehen könnte.

Den übrigen Mitgliedern des Hofes war ich ein unerklärbares Räthsel. Was sie durchaus nicht begreifen konnten, war, wie man an einem Hofe fremd und doch so abgeneigt seyn könnte, sich an irgend [178] eine Parthei anzuschließen. Diese meine Eigenthümlichkeit war ihnen um so unbegreiflicher, da ich, dem Anscheine nach, ganz isolirt dastand, und selbst von der Prinzessin, deren Gesellschaftsdame ich seyn sollte, vernachlässigt war. Gern hätte mich die eine oder die andere Parthei für sich gewonnen; aber gerade das, was mich zum Gegenstand so mannichfaltiger Bewerbungen machte, mußte mich behutsam und vorsichtig machen. Dies war nämlich das bischen Verstand, wodurch ich mich auszeichnete. Wie bescheiden ich selbst auch darüber denken mochte, so konnte ich mir doch nicht verhehlen, daß ein Amalgam mit diesen Personen für mich unmöglich sey. Es war vor allen Dingen ihre unbeschreibliche Flachheit, die mich von ihnen zurückschreckte. In der That, man erweiset den Hofleuten in der Regel allzuviel Ehre, wenn man von ihrer Intrigue mit irgend einer Art von [179] Achtung spricht, sollte diese Achtung sich auch nur durch Mißbilligung und Abscheu ausdrücken. In keiner Sache tief, sind sie es eben so wenig in der Intrigue. An dem Kitzel fehlt es ihnen nicht, wohl aber an dem Geiste, der sich ein Ziel setzet und seine Mittel demselben anpaßt. Es würde wenigstens eine Art von Poesie in das Hofleben gebracht werden, wenn dieser Geist vorherrschte; allein dies ist so wenig der Fall, daß es immer und ewig nur die leidige Prose bleiben kann. Es ist wahr, jeder hat sein besonderes Interesse, dem er nachgeht; doch, indem man sich mehr von irgend einem Instinkt als vom Verstande leiten läßt, vertrödelt man das Leben, ohne jemals ans Ziel zu gelangen; und daher die große Zahl der Unzufriedenen, die, wenn sie endlich aus allen ihren Erwartungen herausgefallen sind, wenigstens ihre Rechtlichkeit retten wollen, und, indem sie von unerkannten [180] Diensten sprechen, die sie geleistet haben, sich nur immer selbst verdammen. Kurz: die eigentliche Gemeinheit, in sofern sie mit Flachheit eins und dasselbe ist, wird nirgend sicherer und allgemeiner angetroffen, als an den Höfen, vorzüglich aber an den kleinen deutschen Höfen. Und dies gerade war, was mir in meiner neuen Lage eine Behutsamkeit gebot, welche man unbegreiflich nannte.

Mich zu erforschen schickte man das Factotum des Hofes, den Herrn Hofcapellan, an mich ab. Dieser Mann, der, seinem Berufe nach, der rechtlichste und edelste des ganzen Hofes seyn sollte, war, wie es zu geschehen pflegt, nur der feinste und eigennützigste; und so groß war die Verkehrtheit aller Mitglieder des Hofes, daß man ihn gerade um derjenigen Eigenschaften willen achtete, die ihn vor jedem intelligenteren Richterstuhle verdammen mußten. Seine Erscheinung kam mir nicht [181] ganz unerwartet, wiewohl ich in dem Augenblick, wo er sich melden ließ, auf seinen Empfang nichts weniger als vorbereitet war. Der Zufall wollte, daß Klopstocks Messiade aufgeschlagen vor mir lag, als er in mein Zimmer trat. Der hochwürdige Herr konnte, nachdem die ersten Begrüßungen vorüber waren, nicht umhin, einen neugierigen Blick auf meine Lektüre zu werfen; und als er Klopstocks Messiade erblickte, die er wenigstens von Hörensagen kannte, war seine erste Frage: Ob mir diese Lektüre Vergnügen mache? »Unendliches,« war meine Antwort; »ich erblicke in der Messiade eine Welt, wie sie sich noch keinem schaffenden Geist aufgeschlossen hat. Alles ist groß und erhaben, und weil man das Große und Erhabene nicht betrachten kann, ohne dem Kleinen und Niedrigen zu entsagen, so wäre wohl zu wünschen, daß Klopstocks Schöpfung sich in Jedermanns Händen [182] befände. Aber ich bin versichert, fügte ich hinzu, daß dies Gedicht, anstatt wie andere Werke in dem Zeitstrom unterzugehen, einer ganzen Ewigkeit von Entwickelung trotzen und in eben dem Maaße an Werth gewinnen wird, in welchem es als reine Poesie dasteht.« Dieser Gedanke fiel dem Herrn Capellan auf; und weil er ihn wirklich nicht verstand (was mir sehr wahrscheinlich geworden ist, seitdem ich andere seines Gelichters kennen gelernt habe), oder weil er gute Ursache hatte, ihn nicht verstehen zu wollen, legte er mir die naive Frage vor: Wie ich das meinte? »Ich meine,« erwiederte ich, »daß wenn der religiöse Geist, welcher die Messiade dictirt hat, längst verflogen seyn wird, dies Heldengedicht nicht nur noch bezaubern, sondern auch um so mehr bezaubern wird, je weniger sich der Glaube, oder vielmehr der Unglaube, bei der Lektüre ins Spiel mischet.« Der Capellan, [183] der mich noch immer nicht verstand, ließ irgend etwas Albernes fallen, wodurch er zu verstehen gab, daß er von mir voraussetze, nur Religiosität treibe mich zur Lektüre der Messiade; und als ich hierauf nicht antwortete, nahm er sogleich Gelegenheit, über die Irreligiosität des Zeitalters (welche ihm bei weitem vollendeter erschien, als sie wirklich war) ein Langes und Breites zu sprechen, und sich so eine Brücke zu bauen, um zur Herzogin zu kommen, die er als das Muster aller Fürstinnen vorstellte. Eine nähere Bekanntschaft mit ihr, meinte er, würde mir zeigen, wie sehr es zu wünschen wäre, daß ihr Geist den ganzen Hof durchströmen möchte; und hierauf erfolgten neben den Lobeserhebungen, welche der Herzogin gemacht wurden, mehrere Winke, welche mich orientiren sollten. Ich ließ den hochwürdigen Herrn ausreden, und als er das Bedürfniß fühlte, wieder zu Athem zu [184] kommen, setzte ich das Gespräch durch einige Bemerkungen fort, worin ich zu verstehen gab, daß, allen meinen Beobachtungen zufolge, der Hof wirklich von dem Geiste der Herzogin durchdrungen sey. »Ach wie viel fehlt daran,« antwortete der Hofcapellan; »da ist z.B. der Kammerherr unseres geliebten Erbprinzen, ein Mann, dem außer seinem Vortheile nichts heilig ist, und gegen den sich der ganze Hof verschwören sollte, da er es so geflissentlich darauf anlegt, die liebenswürdigste Prinzessin verhaßt zu machen, um ....« »Still! still, Herr Hofcapellan! fiel ich ihm in die Rede; dies sind Dinge, über welche wir nicht berechtigt sind zu sprechen. Die Wendung, welche Sie der Unterhaltung zu geben geruhen, ist mir so neu als interessant, aber ich darf darauf nicht eingehen, wenn ich nicht einmal für allemal aus der Bahn weichen will, die ich mir vorgezeichnet [185] habe.« Der Hofcapellan sah mich mit so dummen Augen an, als wenn von Verschmitztheit und Ränkesucht nie eine Spur in ihm gewesen wäre. Offenbar erstaunte er darüber, an ein Wesen gerathen zu seyn, dem er nicht gewachsen war; und ob er sich gleich alle Mühe gab, in sein voriges Gleichgewicht zurückzutreten, und seinen Besuch recht absichtlich verlängerte, um mir irgend einen Vortheil abzugewinnen, der alles, was zwischen uns vorgefallen war, wieder ins Gleiche bringen möchte, so schieden wir zuletzt doch so auseinander, daß von einer Gemeinschaft zwischen uns beiden, was auch immer ihr Gegenstand seyn möchte, nicht wieder die Rede seyn konnte.

Was den Kammerherrn des Erbprinzen betraf, so hatte ich längst bei mir ausgemacht, daß er bei weitem unschuldiger sey, als er in der Darstellung des Hofcapellans erschien. Sein Hauptverbrechen [186] war, der Liebling des Erbprinzen zu seyn, dessen Gunst er durch nichts so sehr erobert hatte, als durch seine Polsterartigkeit, wenn man mir diesen Ausdruck gestatten will. Es ist wahr, es fehlte ihm nicht an Verstand; allein sein Verstand war nicht der schöpferische, der Anderen gebietet, indem er ihnen Richtungen giebt, die sie aus sich selbst zu nehmen allzuschwach sind, sondern der legale, der nur immer den fremden Willen bearbeitet, und folglich gar nicht für und durch sich existirt. Des Kammerherrn höchster Grundsatz war: der Erbprinz ist der Herr. Diesem Grundsatz gemäß wagte er es nie, dem Erbprinzen zu widersprechen. Hätte dieser seine Gemahlin lieben können, so würde er nichts dagegen einzuwenden gehabt haben; da aber der Erbprinz dies nicht konnte, so hatte der Kammerherr auch wiederum nichts dagegen, daß er seine Verbindung mit einer [187] früheren Geliebten fortsetzte, und that, was in seinen Kräften stand, die Wünsche des Prinzen in dieser Hinsicht zu befriedigen. Er meinte es gewiß mit der ganzen Welt gut; aber da es einmal unmöglich ist, der ganzen Welt zu genügen, so hielt er es nur mit dem, dem er seine Dienste einmal gewidmet hatte. Seine Furchtbarkeit war gewiß nicht weit her; indessen erschien er allen denjenigen furchtbar, welche in Erwägung zogen, daß es, nach dem Tode des Herzogs, nur von ihm abhängen werde, Premier-Minister zu seyn. Einem solchen Schlag zuvorzukommen, wollte man ihn so zeitig als möglich verdrängen. Wenn man mich in die Cabale zu verflechten wünschte, so geschah dies um der guten Meinung willen, die man von meinem Verstande gefaßt hatte. Nichts beabsichtigte man weniger, als eine Vereinigung des Prinzen mit der Prinzessin, und der Hofcapellan [188] hatte sich nur in das Complott ziehen lassen, weil er erfahren hatte, daß eben dieser Kammerherr im Punkt der Religion ein wenig locker sey. Indem ich also in dem Gegenstande des Partheihasses keinen Widersacher der Prinzessin erblickte, konnte ich unmöglich geneigt werden, mich mit den Übrigen zur Entfernung eines Mannes zu vereinigen, der zuletzt der Unschuldigste von Allen war.

Ich konnte dies um so weniger, weil mir immer deutlicher einleuchtete, daß das Mißverhältniß zwischen dem Erbprinzen und seiner Gemahlin eben so sehr durch die Individualität der letzteren als durch die des ersteren gehalten wurde. Es ist gewiß sehr zu bedauern, wenn die Tugend selbst die Quelle unseres Mißgeschicks und unserer Leiden wird; allein dies ist unter gewissen Umständen eben so nothwendig, als daß das Gegentheil der Tugend zum Mißvergnügen mit sich selbst [189] und zur Opposition gegen die ganze Welt führen muß. Es war ganz offenbar die Liebenswürdigkeit der Erbprinzessin, was sie ihrem Gemahl so verhaßt machte. Wäre der Prinz in den Besitz seiner Gemahlin gekommen, ohne vorher in einem ernsthaften Verhältniß mit einer anderen Person gestanden zu haben; so würde er, bezaubert von der Liebenswürdigkeit seiner Gemahlin, vielleicht sein ganzes Leben hindurch an keine Untreue gedacht haben. Da dies nicht nur nicht der Fall war; da die ehemalige Geliebte noch immer ihren Platz in seinem Gemüthe behauptete, und, von den Eigenschaften der Gemahlin unterrichtet, es sich vielleicht doppelt angelegen seyn ließ, die Zuneigung des Prinzen zu fesseln; so konnte es schwerlich fehlen, daß dieser, von seinen Neigungen auf der einen, und von seinen Pflichten auf der anderen Seite gedrängt, in eine Leidenschaft gerieth, wie sie dem Menschen [190] nur einmal eigen ist, so oft er sich zwischen zwei Feuern befindet. Erleichterung für sich selbst konnte der Prinz unter diesen Umständen nur dadurch erhalten, daß seine Gemahlin Eigenschaften offenbarte, welche die Untreue wo nicht rechtfertigen, doch wenigstens entschuldigen; da diese aber immer in derselben moralischen Schönheit dastand, und, ohne weder zur Rechten noch zur Linken aus der einmal vorgezeichneten Bahn zu weichen, nur immer darauf dachte, wie sie die Weiblichkeit retten wollte, so blieb ihm zuletzt nichts anderes übrig, als entweder sich selbst, oder diejenige zu hassen, die ihn, wenn gleich gegen ihren Willen, in einem solchen Widerspruch mit sich selbst erhielt. In der That, mehr, als alles andere, war dies die Quelle der heftigen Ausbrüche, welche sich der Erbprinz gegen seine Gemahlin erlaubte; und welche Wahrscheinlichkeit, daß sich dies jetzt noch abändern lassen [191] werde! Um anhaltend zu hassen, darf man nur beleidigen; und wen es befremdet, daß fürstliche Personen bei weitem tiefer in ihrem Hasse sind, als andere Erdensöhne und Töchter, der darf nur bedenken, daß jenen die Beleidigung unendlich mehr kostet, als diesen, weil sie sich auf die Kunst des Ausweichens bei weitem besser verstehen, und, nur im höchsten Drange der Noth und nie ohne ihrem Wesen zu entsagen, zu dem, was man Unhöflichkeit nennt, gebracht werden können. Fasset man dies gehörig, so hat man den Schlüssel zu sehr viel Erscheinungen, welche in der Regel äußerst schlecht interpretirt werden. Um nur nicht unhöflich seyn, oder beleidigen zu müssen, (und beides ist zuletzt einerlei) hat man sich, wer weiß wie oft, durch eine Vergiftung aus der Affaire gezogen. Dies ist besonders an großen Höfen der Fall gewesen, wo man noch weit mehr Ursach [192] hatte, die Folgen eines Skandals in Erwägung zu ziehen, als an kleineren, wo die Bürgerei zuletzt, wenn gleich in einer etwas veredelten Gestalt, ihr Wesen forttreibt. Wäre von den Scenen, welche täglich zwischen dem Prinzen und seiner Gemahlin statt fanden, nur eine einzige an dem französischen oder spanischen Hofe vorgefallen, so wäre eine Trennung – gleich viel unter welcher Form – unvermeidlich gewesen. Ich will damit nicht sagen, daß ihre Feindschaft in der Periode, von welcher hier die Rede ist, den höchsten Gipfel erstiegen hatte; allein es giebt Verhältnisse, bei welchen es gleich viel ist, welchen Grad der Verschlimmerung sie erreicht haben, so bald man sagen muß, daß sie aufgehört haben gut zu seyn. Die Erbprinzessin fühlte sich warlich nicht minder unglücklich, weil ihr Gemahl noch einige Rücksichten nahm, die unter Personen fürstlichen Standes nie [193] wegfallen dürfen, wenn sie nicht zu dem Pöbel herabsinken wollen.

Ich machte sehr bald die Bemerkung, daß ein weit höheres Maaß von Kraft erfordert wird, die Dinge in einem gegebenen Zustande zu erhalten, als sie zu leiten. Das Erstere ist in der Regel ganz unmöglich; die menschliche Natur ist es, was diese Unmöglichkeit hervorbringt. Das letztere läßt sich bewerkstelligen; nur erfordert es eine Überlegenheit des Geistes, wodurch man den Ausschlag über seine ganze Umgebung giebt. Nichts war dadurch gewonnen worden, daß ich mich neutralisirt hatte; allein wie meine Taktik so verändern, daß ich das Verlorne wieder gewann? Diese Aufgabe war schlechterdings nicht zu lösen, da ich es mit Personen zu thun hatte, durch welche sich kein einziger von den Planen ausführen ließ, die ich entwerfen konnte. Unaussprechlich leiden sah ich die Prinzessin, und [194] eben so unaussprechlich blutete mein Herz bei diesem Anblick; aber wie ich sie retten, oder wenigstens erleichtern sollte, darüber konnt' ich durchaus nicht mit mir selbst ins Reine kommen. Der Zufall that zuletzt mehr, als ich erwartet hatte.

Es war an einem von den schönen Tagen, durch welche der Frühling zum Sommer übergeht, als die Prinzessin mich gegen Abend zu sich rufen ließ. Ich eilte in ihre Nähe; wir waren allein. Der Vertrag, den wir stillschweigend geschlossen hatten, dauerte fort, und keine von uns beiden beabsichtigte einen Bruch desselben. Die Prinzessin bat mich indessen neben ihr Platz zu nehmen, und redete mich hierauf folgendermaßen an: »Ich kenne jetzt keine angenehmere Zerstreuung, als die der italiänischen Dichter, weil diese mich am schnellsten in die Regionen führen, wo ich die Wirklichkeit vergesse. Aber ich bin nicht länger im Stande, dies hohe [195] Vergnügen allein zu genießen. Sie, meine geliebte Mirabella, sollen es mit mir theilen. Wenn ich Sie ersuche, meine Vorleserin zu seyn, so leitet mich dabei der besondere Eigennutz, die Musik der italiänischen Poesie durch Ihre Stimme erhöht zu fühlen. Wählen Sie, welches Gedicht Sie wollen, und lesen Sie mir vor, was Ihnen beliebt.« Mit der besonderen Zärtlichkeit, die ich noch immer für Tasso's befreites Jerusalem hatte, wählte ich dies göttliche Gedicht; und da der Charakter der Erminia mich immer vor allen übrigen weiblichen Charakteren, die in demselben entfaltet sind, angezogen hatte, so las ich den sechsten Gesang vor. Ich war bis an die Stelle gekommen, wo Erminia auf ihrer Flucht beim Anblick des Lagers der Christen in folgende Klagen ausbricht:


O belle agli occhi miei tende Latine,
Aura spira da voi che mi recrea,
[196]
E mi conforta, pur che m'avvicine.
Cosi a mia vita combattuta e rea
Qualche onesto riposo il Ciel destine,
Come in voi solo il cerco: e solo parme,
Che trovar pace io possa in mezzo all' arme.
Raccogliete me dunque, e in voi si trove
Quella pietà, che mi promise Amore etc.

Als die Prinzessin, von ihren Gefühlen überwältigt, in die Worte ausbrach: »O wäre doch auch für mich eine Flucht möglich!« und unmittelbar darauf dem gepreßten Herzen durch einen Strom von Thränen Luft machte. Mir fiel bei diesem Anblick das befreiete Jerusalem aus den Händen, und, meiner früheren Vorsätze uneingedenk, warf ich mich zu den Füßen der Prinzessin nieder, sie beschwörend, daß sie mir nichts verhehlen möchte. »Ich bin ganz die Ihrige,« rief ich aus, »so bald Sie verlangen, daß ich es seyn soll.«

Die Prinzessin sah mich mit der Miene [197] der Rührung an, und nachdem sie sich gefaßt hatte, sprach sie folgendes:

»Ich habe Sie nur allzugut errathen, Mirabella; um nicht zu verschlimmern, was sich nicht verbessern ließ, nahmen Sie diese Stellung an, worin Sie die Dinge sich selbst überließen. Aber ich hätte Sie nie kennen lernen müssen, wenn ich auch nur einen Augenblick an Ihrer Bereitwilligkeit, alles was in Ihren Kräften steht, für mich zu leiden und zu thun, hätte zweifeln sollen. In dem gegenwärtigen Augenblicke folgen Sie mehr Ihrem Gemüthe, als Ihrem Verstande; aber dies liegt so sehr in der Natur der Sache, daß Sie mir dadurch nur um so theurer werden. Wie die Lage der Sachen ist, wissen Sie, ohne daß wir jemals darüber gesprochen haben. Auch jetzt wollen wir nicht ausführlich darüber werden. Genug, daß ich die Verlassenheit, worin ich mich befinde, nicht länger ertragen kann. An [198] irgend ein menschliches Wesen muß ich mich anschließen können, wenn das Leben einen Werth für mich behalten soll. Mein Gemahl kann es nicht seyn, und wer bleibt mir übrig, als Sie? Ich stehe für nichts, wenn Sie sich mir noch länger entziehen. Berechnen Sie hiernach, was Sie thun müssen. Die Politik, von welcher Sie sich bisher leiten ließen, hat Ihrem guten Herzen zuletzt am meisten Wehe gethan. Warum wollen Sie ihr noch länger folgen? Verderben läßt sich nicht, was schon im höchsten Grade verdorben ist. Ich verzeihe Alles, und verzeihe mit der höchsten Freudigkeit des Gemüths; aber meine Bedingung ist, daß Sie sich fester, als jemals, an mich anschließen. Ihnen gegenüber werd' ich die Kraft haben, Alles zu ertragen, was mir noch bevorsteht; oder vielmehr, ich werde von nun an gar nichts mehr zu ertragen haben, und meines Daseyns von neuem froh werden. Hätt' ich [199] von mir allein abgehangen, wer weiß, ob ich jemals in ein Verhältniß getreten wäre, wodurch eine Scheidewand zwischen uns errichtet werden mußte? Da dies einmal geschehen ist, so wollen wir lieber gar nicht daran zurückdenken. Gewiß, wir sind uns selbst genug; nur müssen wir fest zusammenhalten, und auf die Wirklichkeit um uns her so wenig als immer möglich zurückblicken. Was hab' ich von meiner Freundin, von meiner Mirabella, zu erwarten?«

Meine Antwort auf diese Frage war, wie sie nach einer solchen Scene seyn konnte; ich wiederholte mein: »Ich bin die Ihrige mit Allem, was in mir ist;« denn ob sich gleich die Folgen dieser Vereinigung nicht berechnen ließen, so wollte ich doch lieber aus Heroismus edel, als aus Feigheit klug handeln.

Es war von diesem Augenblick an gleich viel, wo wir existirten; aber um der [200] Prinzessin einige Erleichterung zu verschaffen, entwarf ich den Plan zu einem Sommeraufenthalt auf einem drei Meilen von der Hauptstadt gelegenen Lustschlosse, welches seit vielen Jahren unbewohnt geblieben war. Voraussehen ließ sich, daß dieser Plan große Schwierigkeiten finden würde; vorzüglich von Seiten der Herzogin, wel che seit einiger Zeit ihre Schwiegertochter liebgewonnen hatte, weil sie wenigstens eben so unglücklich war, als die Herzogin selbst. Allein alle diese Schwierigkeiten ließen sich überwinden, sobald es mir gelang, den Kammerherrn des Erbprinzen in mein Interesse zu verflechten. Ich trat zu diesem Ende mit ihm in Unterhandlungen, und so bald er eingesehen hatte, daß für ihn selbst nichts dabei zu wagen sey, bestimmte er den Erbprinzen, seine Genehmigung zu geben. Es gewann für den großen Haufen der Hofleute das Ansehen, als sey eine Versöhnung zwischen [201] dem Erbprinzen und seiner Gemahlin erfolgt, weil ich darauf bestand, daß der Erbprinz, um den Schein zu retten, uns begleiten sollte, und er sich wirklich dazu hergab. Doch, von dem Nachmittag des zweiten Tages an, waren wir uns ganz selbst überlassen, und so wenig um die Folgen unserer Isolirung bekümmert, daß wir nur daran dachten, wie wir recht angenehm leben wollten. Ein ziemlich hoher Berg lag zwischen der Hauptstadt und dem Lustschlosse, und mehr bedurfte es nicht, uns glauben zu machen, daß wir von der ganzen Welt geschieden in dem Paradiese selbst lebten.

Die Lage des Lustschlosses war die reizendste, die man sich denken kann. Auf einer Anhöhe gelegen, war es rechts durch unabsehbare Wiesen und links durch einen dunklen Tannenwald begränzt. Vorn dehnte sich ein geräumiger Garten aus, den man anzubauen nicht vernachlässigt hatte, [202] und in welchem eine zahlreiche Orangerie neben den Treibhäusern hin ihre Wohlgerüche verbreitete. Hinten war ein dicht verwachsener Park mit zahmen Wildprett angefüllt, und an den Park lehnte sich eine Meierei mit hohen Lindenbäumen bepflanzt. Der Aufenthalt war über alle unsere Ertwartungen romantisch und bequem. Ihn durch nichts zu verderben, hatten wir von der Dienerschaft nur diejenigen mitgenommen, die uns unentbehrlich waren. Ein halb geöffneter Wagen mit zwei Pferden war unsere einzige Equipage; aber auch von ihm wollten wir nur selten Gebrauch machen. Unsere Genüsse sollten zugleich einfach und ausgesucht seyn; und dazu war vor allen Dingen nöthig, daß der Tisch nie befrachtet, die Bibliothek hingegen mit allen den Dichtern angefüllt war, die uns jemals entzückt hatten; denn da die Wirklichkeit uns einmal verhaßt war, so wollten wir ihr auf allen [203] möglichen Fittigen entfliehen. Unser Leben sollte, wenigstens für den nächsten Sommer, ein wahres Idyllenleben seyn, und um diese Idee immer gegenwärtig zu haben, nannte mich die Prinzessin in eben dem AugenblickChloe, wo sie mir gebot, sie selbst Daphne zu nennen.

Es fehlte uns beiden nicht an Erfindungskraft. Die ersten Morgenstunden wurden im Garten oder im Park verlebt, wo wir mit irgend einer leichten Arbeit in der Hand, mehr empfindend als denkend, uns nach allen Richtungen hin bewegten. Ward die Sonnenhitze uns allzustark, so begaben wir uns in einen Pavillon, wo wir abwechselnd vorlasen. Der Anfang wurde mit Gesners Idyllen gemacht; allein wir legten sie bald zurück, weil es uns vorkam, als ob der größte Reiz, den sie gewähren könnten, nicht in den Gemälden, sondern in der Einfassung enthalten sey. Ich hatte seit ungefähr [204] einem halben Jahre einen Theil meiner Muße auf das Studium der spanischen Sprache und schönen Literatur gewendet, und die Prinzessin mit dieser Liebhaberei angesteckt. Indem wir frühere Fortschritte gegenwärtig zu unserem Vergnügen benutzen wollten, verfielen wir auf die Diana des Montemayor, und machten sehr bald die Entdeckung, daß dies Meisterstück der sogenannten Schäferpoesie ohne Gleichen dasteht, und allen modernen Idyllendichtern zum Muster dienen muß, wofern der wahre Dichter eines Musters bedarf. Das dritte Buch der Diana, welches die Geschichte der unglücklichen Belisa enthält, bezauberte uns vor allen; wir wurden nicht müde es zu lesen und wieder zu lesen, bis wir ganz davon durchdrungen waren. Bezauberte uns Montemayors Einfachheit, so entzückte uns Boscan's und Garcilaso's kunstreiches Genie nicht minder. Es kam uns vor, als ob [205] der Strom der Gedanken und Empfindungen in diesen Dichtern etwas ganz Eigenthümliches habe, wodurch er von Anfang bis zu Ende aufs innigste zusammenhange und immer nur Ein Erguß sey. Noch andere spanische und italiänische Dichter wechselten mit diesen ab. War die Lektüre geendigt; so kehrten wir in das Lustschloß zurück, wo wir, im rechten Flügel, der lachendsten und unabsehbarsten Aussicht gegenüber, zu Mittag aßen, und uns auf diese Weise selbst das Materielle vergeistigten. Nur die einfachsten Gerichte durften auf unserer Tafel erscheinen, und junges Geflügel war die einzige Fleischspeise, die wir uns erlaubten. Die schwülen Mittagsstunden wurden verschlafen, oder verträumt, wofern dieser Ausdruck auf Personen anzuwenden ist, welche gewissermaßen nie aus ihrem Traum erwachten. Gegen Abend fuhren wir aus. Die ganze umliegende Gegend wurde von [206] uns besucht, und wo wir Gelegenheit fanden, unsere liebenden Gefühle zu ergießen, da blieb sie nicht unbenutzt. Ein leichtes Abendessen empfing uns bei unserer Zurückkunft, und unmittelbar darauf erfolgte jener süße Schlummer, den Gesundheit und Unschuld geben.

In diesem Kreislauf von Beschäftigungen und Vergnügen verstrich ein Tag nach dem andern, bis ein Schreiben von dem Kammerherrn des Erbprinzen mir zu verstehen gab, daß ich die Achtung für den Schein, auf welcher ich vor meiner Abreise in Beziehung auf die Prinzessin so nachdrücklich bestanden, seit meiner Ankunft auf dem Lustschlosse in Beziehung auf den Prinzen ganz aus den Augen gesetzt hätte. Der Vorwurf war gerecht; und wie schwer es uns auch fallen mochte, aus unserer Idyllenwelt, wär' es auch nur auf wenige Stunden, herauszutreten, so mußte doch irgend etwas geschehen, den [207] begangenen Fehler wieder gut zu machen. Ungefähr vierzehn Tage nach unserer Ankunft auf dem Lustschlosse fuhren wir also in die Hauptstadt zurück, um an dem Hofe zu mittag zu essen, und unmittelbar darauf in unsere Einsamkeit zurückzukehren. Ich befürchtete bei dieser Gelegenheit, daß die Erbprinzessin alle die Ungeduld beweisen würde, welche dann einzutreten pflegt, wenn wir uns von geliebten Formen losreissen müssen; allein meine Befürchtung war sehr überflüssig, und ich bemerkte jetzt zum erstenmale, wie meine Freundin, seit ihrer förmlichen Wiedervereinigung mit mir, eine Ruhe gewonnen hatte, die sich durch nichts stören oder unterbrechen ließ. Ein Seufzer aus der äußersten Tiefe der Brust, so bald wir das Stadtthor im Rücken hatten, war alles, was zum Vorschein trat, um ihre Liebe für Freiheit, Offenheit und Unschuld zu beurkunden; und als wir an Ort und Stelle angekommen[208] waren, drängte sich das Geständniß hervor: daß sie nur an meiner Seite glücklich leben könne.

Derselbe Besuch wurde alle vierzehn Tage wieder holt, und zur Abwechselung erhielten wir auch wohl auf einige Stunden die Ehre, von dem Herzog oder dem Erbprinzen selbst besucht zu werden. So wie aber die Zeit vorrückte, fingen wir an, den Winter zu fürchten, den wir uns als diejenige Jahreszeit dachten, in welcher die künftige Freiheit durch die drückendste Sklaverei erkauft werden müßte. Wohlmeinender, liebender und schuldloser konnten schwerlich zwei andere Wesen seyn; allein dies alles rettete uns nicht vor der Langenweile, der Kränkung und dem Argwohn. Mit unseren Eigenschaften mußten wir das Schicksal mancher anderer Weiber theilen, die nur deswegen verkannt werden, weil man ihre Eigenthümlichkeit nicht zu begreifen vermag. Den Klang des [209] Silbers kann man nur durch Silber erforschen; und eben so bedarf es einer sympathetischen Seele, um den wahren Gehalt eines edlen Gemüths kennen zu lernen. Warlich nicht alle Weiber sind lächerlich, die in die Regionen der Kunst und des Schönen streben. Wie können sie es vermeiden, wenn ihre bescheidensten Ansprüche auf die Wirklichkeit unerfüllt bleiben? Zuletzt will jede von uns, die nicht von der Wiege an verdorben ist, nur ihren rechtmäßigen Theil an häuslicher Zufriedenheit; aber wenn auch dieser versagt wird, bleibt dann etwas anderes übrig, als das wirkliche Glück durch ein eingebildetes zu ersetzen? Manche, die von einem bösen Dämon getrieben zu werden scheint, so lange sie disseits der Schwelle ihres Hauses verweilt; manche Andere, welche nur in der schönen Kunst lebt und alle ihre Nerven zerreisset, um als Schriftstellerin zu glänzen, würden, [210] wenn sie an den rechten Mann gekommen wären, das baare Gegentheil von dem geworden seyn, was sie jetzt sind. In der Begränztheit der meisten Männer liegt für Weiber, die nur einigermaßen einer Entwickelung fähig sind, eine zur Verzweiflung treibende Kraft. Das Weib will bewahren, was es instinktmäßig für sein Herrlichstes erkennt, die Weiblichkeit; aber durch die Einseitigkeit des Mannes aus sich selbst heraus getrieben, schwärmt es umher, die verlorne Stütze zu suchen, und findet es sie nicht in der Kunst, so muß es Ruhe in der Zerstörung seines Wesens finden. So endigen die meisten.

Unaufhaltbar näherte sich der Winter. Wir mußten unser Paradies verlassen und in die Hauptstadt zurückkehren. Die Verhältnisse am Hofe waren noch dieselben; aber das Gemüth der Erbprinzessin hatte durch den Aufenthalt auf dem Lustschlosse [211] eine Verwandlung erfahren, welche nicht ohne Folgen bleiben konnte. So lange ihr Gemahl die einzige Stütze war, die es für sie gab, mußte sie sich ihm, wenn gleich gegen ihren Willen und gegen alle ihre Neigungen, unaufhörlich nähern; und da konnte es denn nicht fehlen, daß sie zurückgestoßen und einmal über das an dere beleidigt wurde. Jetzt, wo sie in mir, oder vielmehr in ihrer Liebe für die schöne Kunst, eine Stütze gefunden hatte, jetzt war ihr der Gemahl so gleichgültig, als ob er gar nicht vorhanden gewesen wäre. Der Erbprinz mochte sich hierüber nicht wenig wundern; aber selbst dann, wenn er über diese Verwandlung gar nicht nachdachte, mußte es ihm sehr empfindlich seyn, daß er in seiner Gemahlin keinen Gegenstand des Hasses mehr hatte, während er eines solchen für seine anderweitigen Verhältnisse bedurfte. Immer ruhig, immer gelassen und heiter, ohne irgend [212] eine Spur von beleidigtem Stolze zu zeigen, und ohne irgend einen Anspruch zu bilden, wodurch sie den Neigungen ihres Gemahls in den Weg getreten wäre, stellte sich die Erbprinzessin beständig in den edelsten Formen dar, eben so sehr ein Gegenstand der Verzweiflung für denjenigen, der ihr etwas anhaben wollte, als der liebenden Huldigung für Alle, welche unbefangenen Gemüthes auf sie hinblickten. Dies mußte zu neuen Entwickelungen führen; ich sah es vorher und zitterte vor dem Ausgange, aber ich begriff den ersten Anfang nicht eher, als bis er gemacht war.

Von den Eigenschaften seiner Schwiegertochter bezaubert, und, weil eben diese Schwiegertochter mit allem Glanze der Gesundheit und Schönheit bisher unfruchtbar geblieben war, nicht ohne Sorge für seine Descendenz, wollte der Herzog von den Ursachen belehrt seyn, welche den [213] Erbprinzen und dessen Gemahlin von einander entfernt hielten. Da fehlte es nun nicht an Personen, welche, sich der Erbprinzessin annehmend, alle Schuld auf das Verhältniß schoben, worin ihr Gemahl noch immer mit seiner ersten Geliebten stand. Der Herzog war vor der Vermählung seines Sohnes von diesem Verhältnisse unterrichtet gewesen, hatte sich aber gar nicht träumen lassen, daß es noch immer fortdauerte. In Harnisch gesetzt durch die Entdeckung, wozu man ihm verholfen hatte, hielt er es für seine Pflicht, diesem Unwesen auf dem Wege der Gewalt sogleich ein Ende zu machen. Ohne also auf die Individualität seines Sohnes die mindeste Rücksicht zu nehmen, und ohne irgend eine von den Folgen, welche dieser Schritt nach sich ziehen konnte, schärfer ins Auge zu fassen, ertheilte er Knall und Fall den Befehl, daß Fräulein von M... nicht nur die Hauptstadt, sondern sogar [214] seine Staaten innerhalb vier und zwanzig Stunden räumen sollte. Ich würde alles aufgeboten haben, diesen Streich abzuwenden, wäre ich davon unterrichtet gewesen; allein er fiel so plötzlich, daß er bereits vollendet war, als ich die erste Nachricht davon bekam. Wie sehr ich auch wünschen mochte, daß es für die Erbprinzessin eine wahre Ehe geben möchte, so sah ich doch sehr deutlich ein, daß die Gewalt sie nie herbeiführen werde. Mir war daher sehr übel zu Muthe, als mich der Herzog einige Tage darauf zu sich berufen ließ, und mir erklärte, daß, nachdem von seiner Seite alles geschehen sey, um ein gutes Verhältniß zwischen der Erbprinzessin und seinem Sohne zu begründen, er nun auch von mir erwartete, daß ich das Meinige thun würde, um die Sachen in das gehörige Geleis zu bringen. So mußte freilich der Herzog sprechen, der, weil er im Besitz der Gewalt war, [215] alles nur in dem Lichte der Pflicht betrachten konnte; allein so konnte derjenige nicht sprechen, der das Wort zum Räthsel hatte und zu beurtheilen verstand, welche Hindernisse in der Erbprinzessin zurückblieben, nachdem alle Hindernisse in dem Erbprinzen aus dem Wege geräumt waren. Ich versicherte – und gewiß mit Wahrheit – daß es nie an mir gelegen habe, den Erbprinzen in dem Besitz seiner liebenswürdigen Gemahlin beglückt zu sehen; ich fügte aber zugleich hinzu, daß man es der Zeit überlassen müsse, diejenige Vereinigung der Gemüther hervorzubringen, ohne welche eine Ehe nicht denkbar sey. »Das sind Chimären,« erwiederte der Herzog. »Was bedarf es hier der Zeit? Die Erbprinzessin ist hübsch; mein Sohn ist nicht häßlich. Daraus folgt, daß sich beide lieben können. Ich bin zufrieden, wenn ich vor meinem Tode einen wackern Enkel habe.« Gegen eine [216] solche Sprache läßt sich nie etwas einwenden, und ohne dem Herzog noch irgend eine Bemerkung zu machen, welche seine Logik kompromittirt hätte, entfernte ich mich mit dem Versprechen, daß ich für die Erfüllung seiner Wünsche alles thun würde, was in meinen Kräften stände.

Die Erbprinzessin war gegen die Maaßregel ihres Schwiegervaters so gleichgültig geblieben, als ob sie tausend Meilen von ihr entfernt genommen worden wäre. Das Einzige, was sie dabei zu befürchten schien, war, daß der Prinz, der gewaltsamen Richtung folgend, welche sein Vater ihm gegeben hatte, sich ihr wieder nähern könnte. Sie war weit davon entfernt, ihn zu hassen; allein sie war eben so weit davon entfernt, ihn zu lieben. So theuer waren ihr seit Jahr und Tag ihre Beschäftigungen geworden, daß sie keinen anderen Wunsch hatte, als sich selbst überlassen, [217] d.h. ganz ungestört zu bleiben. Ich, meiner Seits, stand als die Urheberin dieser Vorliebe für das Schöne da, die sich ihrem ganzen Wesen so tief eingefugt hatte. Nie hatte ich eine andere Absicht gehabt, als ihr einen temporären Ersatz für das zu geben, was sie entbehren mußte. Wenn das, wobei ich immer nur an ein pis aller gedacht hatte, vermöge der Vortrefflichkeit ihrer Anlagen, etwas ganz Anderes geworden war – wer konnte die Schuld tragen, wenn sie nicht von eben diesen Anlagen übernommen wurde? Wie achtungswerth, ja wie liebenswürdig sogar, die innere Nothwendigkeit seyn mochte, worin die Prinzessin meinen Blicken erschien; so konnte ich mir doch nicht verhehlen, daß diese Nothwendigkeit eben so eisern sey, als jede andere. Denn wie die Ideale, in welchen sie lebte und webte, wieder aus ihr verdrängen? So lange sie in ihrem bisherigen Geleise blieb, [218] war für die Wünsche des Herzogs nichts von ihr zu hoffen. Es würde mir nichts gekostet haben, mein eigenes Werk in ihr zu zerstören, weil ich wohl einsah, daß es zerstört werden mußte, wenn die Prinzessin wieder in ihr emporkommen sollte; allein wie diese Zerstörung einleiten? Ich verzweifelte, so oft ich hierüber nachdachte; ich verzweifelte um so mehr, weil ich mich selbst genug kannte, um das Nothwendige in mir in einigen Anschlag zu bringen.

Da aber von meiner Seite irgend Etwas geschehen mußte, so glaubte ich nicht besser zum Ziele kommen zu können, als wenn ich mich mit dem Kammerherrn des Erbprinzen zur Wiedervereinigung der beiden fürstlichen Personen verbände. Ich ging von der Voraussetzung aus, daß er, als ein Mann von Verstand, vor allen Anderen mich verstehen müsse, so bald ich ihm über das Wesen der Prinzessin die Aufschlüsse[219] gäbe, die Niemand geahnet hatte. Ehe aber diese Aufschlüsse erfolgten, sondirte ich ihn über die Gesinnungen des Erbprinzen in Beziehung auf dessen Gemahlin. Was ich erfuhr, entsprach meinen Wünschen und übertraf alle meine Erwartungen; denn der Kammerherr sagte mir geradezu, daß der Erbprinz durch die Maaßregel seines Vaters zwar politisch beleidigt, aber nicht menschlich gekränkt worden sey, da er es schon seit längerer Zeit darauf angelegt habe, sich aus der Klemme zu ziehen, worin er sich bisher befunden. Er fügte hinzu, der Erbprinz würde schon seit mehreren Monaten zu seiner Gemahlin zurückgekehrt seyn, hätte diese ihn nicht eine niederschlagende Gleichgültigkeit blicken lassen, wodurch sein Stolz nothwendig hätte geweckt werden müssen. Ich rückte hierauf mit meinen Aufschlüssen über das Wesen der Erbprinzessin hervor. Der Kammerherr sah mich bei dieser Analyse [220] mit so großen Augen an, als ob von den sieben Wundern der Welt die Rede gewesen wäre. Unstreitig verstand er mich nicht, ob er sich gleich das Ansehn gab, als hätte er dies längst vermuthet. »Indem nun,« fuhr ich fort, »die Kräfte so einander entgegen wirken, begreifen Sie sehr leicht, daß unser Plan, in so weit er auf Vereinigung des Erbprinzen mit seiner Gemahlin abzweckt, nur auf einem einzigen Wege durchgetrieben werden kann. Alles ist verloren, wofern die Individualität beider gleich sehr respektirt wird. Von dem, was die Pflicht gebietet, kann hier gar nicht die Rede seyn; denn hat sie nicht immer geboten und ist sie nicht immer unter die Füße getreten worden? Sie müssen von der Voraussetzung ausgehen, daß die Neigungen Ihres Herrn die Erbprinzessin in die Form hineingedrängt haben, worin sie jetzt erscheint, und alles aufbieten, was in Ihren Kräften [221] steht, den Erbprinzen so zu stimmen, daß er keine unzeitigen Ansprüche an die Gemahlin macht, die das Weib in ihr verwerfen muß. Meine Sache wird es seyn, die Erbprinzessin aus dem geistigen Schwerpunkt, in welchem sie versunken ist, wieder heraus zu heben und den Engel in ihr von neuem zu verkörpern. Gemeinschaftlich müssen wir dahin arbeiten, den Erbprinzen in eine Achtung zu setzen, die er bis jetzt noch nicht gefunden hat. Da ich mich nie über ihn erklärt habe, so kann ich, ohne mich mit mir selbst in Widerspruch zu bringen, alles Gute von ihm sagen. Sorgen Sie ihrer Seits dafür, daß es mir dazu nicht an Veranlassung fehle. Wir Weiber achten an den Männern nichts so sehr, als die staatsbürgerlichen Tugenden, und ich stehe Ihnen dafür, daß ich die Prinzessin in den Prinzen verliebt mache, so bald dieser aufhört, seine Bestimmung nur von Seiten der [222] Genüsse zu schätzen, welche damit verbunden sind. Über kurz oder lang tritt er an die Stelle seines Vaters; bewegen Sie ihn doch, sich dazu in jeder Hinsicht vorzubereiten. Ganz neue Gefühle müssen in der Erbprinzessin erwachen, wenn sie, welche nie abfiel, sondern nur verdrängt wurde, wieder an den Gemahl angezogen werden soll.«

Entwürfe dieser Art können nur dann gelingen, wenn sie zwischen einer Palatine und einem Kardinal von Retz verabredet werden. Ich sage wohl nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß der veredelte Geist der Palatine auf mir ruhete, als ich diese Vorschläge that; aber der Kammerherr war weit davon entfernt, ein Kardinal von Retz zu seyn. Es war seine Legalität, was ihn unfähig machte, mit mir vereinigt zu wirken. Gegen den Zweck hatte er nichts einzuwenden; eben so wenig konnte er die Mittel mißbilligen; die [223] Moralität unseres Entwurfs war über allen Zweifel erhaben. Aber woher den Muth nehmen, seinem Herrn eine Richtung zu geben! Dies war die Klippe, an welcher alles scheitern mußte; und ich gestehe, daß, wenn ich diese Klippe geahnet hätte, ich meinen ganzen Entwurf für mich behalten haben würde. Der große, wenn gleich sehr verzeihliche, Fehler, den ich beging, bestand darin, daß ich Verstand und Genie verwechselte. Ich glaubte an dem Kammerherrn einen tüchtigen Gehülfen gefunden zu haben, weil er ein Mann von Verstand war; aber ich bedurfte eines Mannes von Genie, und davon war, genau genommen, keine Spur in dem Kammerherrn. Mochte er noch so sehr versichern, daß er mich vollkommen verstanden habe; er konnte meine Idee nur verderben.

Da meine Operationen von denen des Kammerherrn abhingen; so war ich auf [224] nichts so aufmerksam, als auf das Betragen des Prinzen gegen seine Gemahlin. Gewisse Modifikationen in demselben zeigten mir an, daß eine Unterredung statt gefunden haben müsse; aber diese Modifikationen hatten noch keinen so bestimmten Charakter, daß ich mit Sicherheit auf den Gehalt der Unterredung zurückschließen konnte. Mir schlug das Herz vor Ungeduld; in mehreren Billets zeigte ich dem Kammerherrn an, daß keine Zeit zu verlieren sey. Dieser mochte seiner Seits den besten Willen von der Welt haben; da er aber seiner Einsicht unterlag, so konnte er sein Geschäft nur verderben. Unfähig, einen solchen Charakter, wie der der Prinzessin nun einmal war, zur Anschauung zu erheben, und sich unstreitig einbildend, daß das, was wir erreichen wollten, sich auf mehr als einem Wege erreichen lasse, gab er seinem Herrn lauter solche Anschläge, daß dieser [225] sich in der Achtung der Prinzessin noch weiter zurücksetzen mußte. Soll ich das Betragen des Prinzen mit Einem Worte charakterisiren, so muß ich sagen, daß es ein galantes war. Was in aller Welt konnte aber die Prinzessin mehr empören, als dieses Gemisch von Ehrerbietung und Verachtung, zusammengehalten durch Heuchelei und Niederträchtigkeit? Sie hätte zu den allergemeinsten Naturen gehören müssen, wenn ihr der Prinz auf diesem Wege achtungswerth geworden wäre. Auch fühlte sie sich tief verwundet; und ob sie gleich kein Wort fallen ließ, wodurch sie ihren inneren Zustand offenbaret hätte, so zeigte doch eine gewisse unbeschreibliche Traurigkeit, wie heftig der Schmerz war, der ihr Innerstes durchwühlte. Es lag am Tage, daß der Kammerherr sich nicht hatte von der Idee losreissen können, die er von der Gebrechlichkeit des weiblichen Geschlechts hatte; und wollen wir ihm [226] hier Vorwürfe darüber machen, daß er in dieser Hinsicht auf Einer Linie mit den meisten Männern stand, welche nie begreifen können, wie es außer ihrer Realität noch eine andere geben könne?

Es versteht sich von selbst, daß ich neutralisirt war, so bald die Sache diese Wendung genommen hatte; denn ich hatte mich nur zur Nachhülfe anheischig gemacht, und diese konnte nicht statt finden, so bald das ganze Werk verdorben war. Dies war indessen etwas, wovon sich der Kammerherr nicht überzeugen konnte. Da er sich einem so schwierigen Geschäfte einmal unterzogen hatte, so wollte er dies auch mit Verstand gethan haben. Hierüber fand kein Capituliren mit ihm statt; und weil ich ungern zankte, so blieb ich weit davon entfernt, ihm auch den glimpflichsten Vorwurf zu machen. Er selbst trat mit Vorwürfen hervor, so bald er sah, daß die Sache, anstatt von der Stelle zu[227] rücken, nur schwerkräftiger und schlimmer wurde. Mir war hierbei sehr übel zu Muthe; denn ich sah sehr deutlich ein, daß ich mich in die fatalste Lage von der Welt gesetzt hatte. Es konnte nämlich nicht fehlen, daß ein Ungewitter von Gemeinheit über meinem Haupte losbrach, sobald die von mir zuerst entworfene Wiedervereinigung des Erbprinzen mit seiner Gemahlin nicht wirklich erfolgte. Was blieb mir aber, wenn dies durchaus geschehen mußte, anderes übrig, als entweder meinem Gehülfen den Prozeß machen, oder meinem ganzen Wesen zu entsagen und der Prinzessin eine Gemeinheit aufdringen, die mir selbst fremd war, und die sie ewig verabscheuen mußte? Zu beidem war ich gleich unfähig; ich konnte daher nur die Hände in den Schooß legen, und den Donner, der mich vernichten sollte, voll Ergebung erwarten. In der That, mein Geschlecht ist in jeder Hinsicht [228] sehr übel daran. Werden die Plane eines Biedermannes vereitelt, so darf er sich deshalb rechtfertigen, und je kräftiger er die Wahrheit sagt, desto mehr ehrt man seine Tugend. Ein edles Weib hingegen kann die allertriftigsten Gründe der Rechtfertigung haben; sie darf davon immer nur innerhalb der Schranken der Weiblichkeit Gebrauch machen, wenn sie nicht alles verlieren will. Wie viele weibliche Thränen würden unvergossen bleiben, wenn dem weiblichen Geschlecht die Sprache des Gemüths gestattet wäre!

Was ich mit so viel Bestimmtheit vorhergesehen hatte, blieb nicht lange aus. Die ganze Schuld des Mißlingens fiel auf mich zurück, ob ich gleich nicht dahin gelangt war, auch nur einen Finger in der Sache selbst in Bewegung setzen zu können. Es kam nur noch darauf an, sich das Wie zu erklären. Man er schöpfte sich in Vermuthungen über die Natur [229] meines Verhältnisses mit der Prinzessin; und da es unmöglich war, das Wort zum Räthsel zu finden, so machte man es wie immer: das Heiligste wurde bis zur Scheußlichkeit entheiligt. Man sprach ganz laut von Lastern, die uns selbst dem Namen nach unbekannt waren. Und welche Bewegungsgründe legte man mir unter! Nach Einigen hatte ich es darauf angelegt, die Mätresse des Prinzen zu werden; nach dem Urtheil Anderer war ich damit umgegangen, den Kammerherrn zu erobern, um, nach dem Tode des Herzogs, gemeinschaftlich mit ihm das Land zu regieren. Ein Paar Familien, welche seit hundert und funfzig Jahren im Besitz großer Vorrechte waren, und sich steif und fest einbildeten, daß von der Behauptung dieser Vorrechte nicht nur die Wohlfahrt des Herzogthums, sondern auch die des ganzen heiligen römischen Reichs abhange, nannten mich eine Verderberin [230] der guten Sitten, weil ich eine Fremde war und meine Gesellschaftsdamen-Stelle nicht ihrer Großmuth verdankte. Der Herr Hofcapellan, auf dessen Intriguen ich nicht hatte eingehen wollen, vereinigte sich mit den Übrigen, und eröffnete den förmlichsten Kreuzzug gegen mich, indem er über den Text predigte: Es ist besser, daß Einer umkomme, denn daß das ganze Volk verdorben werde. Rache, Neid und Bosheit liehen der Verleumdung ihre Waffen, um mich zu Grunde zu richten, und nie wirkte eine Verschwörung, in welcher nichts verabredet war, conzentrirter. Hätte man wenigstens die Erbprinzessin verschont! Doch um mich zu stürzen, glaubte man die ganze Hölle in Bewegung setzen zu müssen.

Verworren und dumpf hallten zu der Prinzessin und zu mir die Gerüchte herüber, die man auf unsere Kosten verbreitete. Was sollte, was mußte geschehen,[231] um das Ungewitter abzuleiten? Ich gestehe, daß es Augenblicke gab, in welchen ich mich zermalmt fühlte; aber diese Augenblicke gingen um so schneller vorüber, weil meine Liebe für die Prinzessin immer die Oberhand behielt. Noch hatte sie kein Wort von dem Entwurf erfahren, welcher zwischen dem Kammerherrn und mir zu ihrer Wiedervereinigung mit dem Erbprinzen war verabredet worden. Ich hielt es für meine Pflicht, sie gegenwärtig damit bekannt zu machen, weil in diesem Entwurfe alle die Unfälle eingewickelt lagen, die seitdem über uns zusammengeschlagen hatten. Sie lächelte, als meine Erzählung geendigt war. »Mein Wille war rein,« fuhr ich fort; »meine Absicht edel; meine Mittel auf die herrliche Natur meiner Freundin berechnet.« »Dies ist es nicht,« erwiederte die Prinzessin, »was mir ein Lächeln abdringt; ich lächle nur darüber, daß meine Mirabella auch nur [232] einen Augenblick an die Besieglichkeit der Gemeinheit glauben konnte. Doch was geschehen ist, läßt sich nicht ändern, fuhr sie fort; und die Hauptsache ist und bleibt, welche Maaßregeln wir ergreifen müssen, um aus diesem Kerker ins Freie zu kommen? Was meinen Sie?«

Ich sah es der Prinzessin an, daß sie große Lust hatte, mein Geschick zu theilen; allein dies war etwas, das ich aus allen Kräften, wenigstens für den Augenblick, abwenden mußte. Ich sagte ihr also: Ich nähme mit Freuden die ganze Schuld auf mich, und würde mich darüber an Ort und Stelle schon zu verantworten wissen. Da man es nur auf meine Entfernung anlegte, so wollte ich auch die Einzige seyn, welche das Terrain räumte, ein noch größerer Triumph wäre zu viel Ehre für diese erbärmlichen Seelen. Der Besiegte hätte in den Augen der Welt immer Unrecht, und darum müsse die Prinzessin [233] nicht als besiegt erscheinen. Ich gäbe zu, daß ihr der Aufenthalt an diesem Hofe unerträglich seyn würde, so bald ich mich entfernt hätte; allein es käme auch nur darauf an, einen besseren Vorwand zu finden, und dieser würde nicht zu theuer erkauft, wenn die peinliche Lage der Prinzessin noch einige Monate fortdauerte. Am Ende hätte sie es doch immer in ihrer Gewalt, mit gebietender Herrlichkeit hervorzutreten, so bald sie es für gut befände; denn all dies Volk, das sie in dem gegenwärtigen Augenblick um meinetwillen verunglimpfe, würde sie anbeten, so bald sie es verlangte. »Ob Egoismus, oder Liebe für meine Freundin,« fuhr ich fort, »meine Schritte leitet, darüber kann wohl kein Zweifel statt finden. Alles, was ich vernünftiger Weise bezwecken kann, ist: Rettung derjenigen, die ich gegen alle meine Absichten unglücklich gemacht habe. Ich will bleiben, so bald Sie mir beweisen [234] können, daß mein Bleiben sicherer zum Ziele führt. Allein davon werd' ich mich nie überzeugen; denn der Kampf, in welchen wir gerathen sind, ist von einer so seltsamen Beschaffenheit, daß wir, selbst mit dem höchsten Muthe, die Flucht ergreifen müssen, wenn wir uns nicht für immer besudeln wollen. Sagen Sie selbst, meine Freundin, wodurch wollen wir die Gerüchte niederschlagen, die man gegen uns in Gang gebracht hat? Der bloße Versuch würde uns brandmarken. In uns beiden ist so Vieles enthalten, was sich durchaus nicht vor Gericht stellen läßt; und wer würden unsere Richter seyn, wenn wir es auch in unserer Gewalt hätten, unsere Gegner zu fassen? Das Leben gilt mir alles in Beziehung auf Sie; aber eben deshalb möchte ich nicht vor der Zeit untergehen. Hier können wir uns nur durch das Gefühl unserer Ohnmacht vernichten. Hab' ich mich aber [235] einmal aus dem Strudel gerettet, der uns in seinen Abgrund zu ziehen droht, so bekomm' ich meine ganze Freiheit wieder; und meine Energie wird um so größer seyn, je ehrwürdiger mir das Ziel ist, das ich verfolge. Erlauben Sie mir, zu Ihren Eltern zurück zu reisen, um diesen die nöthigen Aufschlüsse über Ihre Lage zu geben.«

Die Prinzessin empfand, daß ich Recht hatte. Es war nun nur noch davon die Rede, wie meine Entfernung einzuleiten sey. »Ich habe,« sagte ich, »nur von Ihnen abgehangen, und kann daher meinen Abschied nur aus Ihren Händen erhalten.« Die Prinzessin setzte sich sogleich nieder, um dem Herzog und ihrem Gemahl zu melden, daß sie für gut befunden habe, mich zu entlassen, nachdem ich selbst darauf angetragen. Unter stummen Umarmungen schieden wir von einander, nicht ohne Thränen, diesen ewigen Symbolen [236] der Ohnmacht. Mein Reisekoffer war bald gepackt, und nach zwei Stunden befand ich mich auf dem Wege nach W..., freier athmend, mit tausend Entwürfen für die Zukunft beschäftigt, das Bild der geliebten Prinzessin immer vor Augen habend.

Ich kam wohlbehalten an. Mit meinem Berichte fand ich Eingang, so weit die elterlichen Gefühle reichten; da diese aber bei fürstlichen Personen durch politische Verhältnisse in sehr engen Schranken gehalten werden, so war das letzte Resultat meiner großmüthigen Unternehmung, daß man das Schicksal einer geliebten Tochter beklagte, und es ihrem Verstande überließ, die Gewalt desselben zu brechen. Vergeblich sagte ich, daß dies nur dadurch geschehen könne, daß die Prinzessin zur Gemeinheit herabsänke. Die einzige Antwort, die ich hierauf erhielt, war: daß man sich nach seiner [237] Umgebung bequemen müsse. Unstreitig bedachten diejenigen, die mir diese Antwort gaben, nicht, wie abscheulich sie war; ich aber mußte fortan den Muth verlieren, mich noch einmal zu verwenden. Zwar blieb ich in der Nähe des Hofes, und so oft ich an demselben erschien, wurde ich auf eine Art empfangen, welche sehr deutlich anzeigte, daß man mich um der Ideale willen ehrte, die aus mir sprachen; allein, da alle Berührungspunkte, in welchen ich ehemals gestanden hatte, wegfielen, so beschlich mich die Langeweile, und um dieser zu entrinnen, gab es keinen besseren Ausweg, als die Einsamkeit. Mit der Prinzessin blieb ich in Verbindung. Posttäglich empfing ich Briefe von ihr, worin sie mich mit den Begebenheiten des ...schen Hofes bekannt machte; posttäglich antwortete ich ihr, und jeder meiner Briefe enthielt irgend eine Aufforderung, ihren Charakter zu behaupten. Denn [238] ich konnte mich durchaus nicht von der Idee losreissen, daß ein menschliches Geschöpf alles preisgiebt, wenn es dem Heiligsten entsagt, das in ihm ist. Über diesen Punkt war ich mit mir selbst vollkommen im Reinen; und wenn nur diese Denkungsart eine männliche genannt werden kann, so ist es die meinige nicht blos gewesen, sondern auch immer geblieben.

Geschahe es, um meine Einsamkeit aufzuheitern, oder liebenden Gefühlen einen unmittelbaren Gegenstand zu verschaffen, daß ich mich um diese Zeit eines von seinen Eltern verlassenen liebenswürdigen Kindes annahm? Vielleicht war noch etwas Höheres dabei im Spiele. Der Mensch hört nicht auf, die Unschuld zu lieben, welche im Fortgange seiner Entwickelung so nothwendig als unwiderbringlich verloren geht. Nun hatte ich zwar die meinige bisher bewahrt; allein je theurer sie mir zu stehen kam, desto mehr[239] wünschte ich, recht viel an ihr zu besitzen. Sie mir nach ihrem ganzen Werthe zu vergegenwärtigen, gab es unstreitig kein besseres Mittel, als die symbolische Repräsentation derselben in einem Kinde. Ich müßte mich sehr irren, oder es ist nichts als verlorne Unschuld, was so viele Menschen so allmächtig zu Kindern hinzieht; in diesen wollen sie wiederfinden, was für sie selbst nicht mehr vorhanden ist; in diesen wollen sie sich die Möglichkeit einer vom gesellschaftlichen Leben unbefleckten und selbst in ihrer höchsten Entwickelung schuldlos gebliebenen Seele denken. So etwas wirkte freilich nicht in mir; aber, ohne den ersten Anflug davon, würd' ich schwerlich dahin gekommen seyn, mich mit einem Wesen zu verbinden, das in jeder Hinsicht ein Kind war. Von Ideen der Nützlichkeit wurde ich durchaus nicht geleitet; das Nützliche ordnete sich in mir dem Schönen ganz von selbst unter. [240] Um übrigens mein Wesen auf meinen Liebling zu übertragen, erzog ich ihn nach eben den Maximen, welche meiner eigenen Erziehung zum Grunde gelegen hatten. Vor allen Dingen flößte ich ihm die Liebe zur Reinlichkeit und Ordnung ein. Überhaupt dachte ich mir den Körper immer als den Abglanz der Seele; und so wie ich selbst von dem Bedürfniß der physischen Sauberkeit zu dem einer metaphysischen aufgestiegen war, so sollte dies auch bei meinem Zögling der Fall werden. Dies ist mir auch ganz nach Wunsch gelungen, und hätte das Schicksal nicht gewollt, daß meine Luise vor mir hinsterben sollte, so könnt' ich auf die Frau des Professors D... als auf ein Muster aller weiblichen Tugenden hinweisen, diejenigen gar nicht ausgenommen, die zu üben ich selbst nie Gelegenheit gehabt habe. Ich kann von meinem edukatorischen Verdienste jetzt nicht ausführlicher sprechen, [241] wenn ich meine eigene Entwickelungsgeschichte nicht allzuweit aus den Augen verlieren soll.

Während ich mich in Luisen – so hieß mein Zögling – zum zweitenmale erzog, und, weil ich mir selbst lebte, auf keine Weise in der Stimmung gestört wurde, die mich zur Harmonie mit der ganzen Welt führte, gerieth die Erbprinzessin aus einer mißlichen Lage in die andere. Von ihren fürstlichen Eltern verlassen, jeder anderen Stütze beraubt, den Intriguen des ...schen Hofes blosgestellt, und, weil sie überall dieselbe Gemeinheit fand, zuletzt an sich selbst verzweifelnd, schwankte sie so lange hin und her, bis sie sich zu einer Aussöhnung mit ihrem Gemahle entschloß. Von welcher Art diese Aussöhnung war, ist leicht zu errathen; zwei so ungleiche Naturen können nie zu einem dauerhaften Einverständniß zusammenschmelzen, nie diejenige [242] Einheit bilden, ohne welche die Ehe nur ein leerer Schall ist. Immer war indessen die Parthie, welche die Prinzessin genommen hatte, die beste, die sie den Umständen nach nehmen konnte; denn so lange sie auf ihrem Eigensinn beharrte, mußte sie den Hof in einer verderblichen Gährung erhalten, nicht zu gedenken, daß der Erbprinz von allen Personen ihrer Umgebung zuletzt noch die zuverlässigste und edelste war. Die Prinzessin trug einiges Bedenken, mich in diesem Schritte preiszugeben; allein ich selbst hob alle die Gewissensskrupel, welche sie sich hierüber machte. In der That, was konnte es mir, nachdem ich mein Schicksal einmal von dem der Prinzessin getrennt hatte, noch verschlagen, daß man mich am ...schen Hofe eine Furie nannte, welche sich zwischen dem Erbprinzen und dessen Gemahlin in die Mitte gestellt und den Frieden des Hofes gestört hätte? Ich kannte [243] nach gerade die Welt allzugut, um nicht zu wissen, daß es den wenigsten Sterblichen verliehen ist, den Kern von der Schaale, das Wesen von den Formen desselben zu unterscheiden. »Wie man sich auch über mich erklären mag,« schrieb ich der Prinzessin, »so ersuche ich Sie, keine Notiz davon zu nehmen. Mich treffen diese Urtheile nicht; und eben deswegen dürfen sie Ew. Durchlaucht nicht berühren. Die Hauptsache ist und bleibt, daß die ewigen Oscillationen des Hofes zum Stillstand gebracht werden; und wenn dies durch Aufopferung meiner Renommée zu Stande gebracht werden kann, so bin ich damit sehr zufrieden; ich schätze mich sogar glücklich, daß ich mich in Gedanken an die nicht unbedeutende Anzahl der besseren Menschen anschließen kann, die man für Verbrecher oder Wahnsinnige hielt, weil man sie durchaus nicht verstand. Übrigens bin ich unbesorgt für [244] meine Freundin und Beschützerin. Wie auch ihre Umgebung sey, sie wird den Idealen nicht ungetreu werden, die sie bisher zwar gemartert, aber auch hoch beglückt haben; und denke ich mir vollends, daß ihr im Verlaufe der Zeit die Verwandlung ihres Gemahls gelingen werde, so möchte ich die Stunde segnen, wo ich mich freiwillig aus ihrer beglückenden Gegenwart verbannete, um ihr ein besseres Geschick vorzubereiten. Es ist höchst selten der Fall, daß die Dinge gerade die Wendung nehmen, die wir ihnen geben möchten; aber dafür nehmen sie oft eine weit glänzendere.«

Dieser Schluß meines Briefes drückte mehr meine Wünsche als meine Hoffnungen aus. Wie hätte ich auch das Mindeste hoffen können, da sich nicht begreifen ließ, wie eine solche Verwandlung des Erbprinzen zu Stande kommen könnte? Hat sich das Zarte einmal in eine Verbindung [245] mit dem Starken eingelassen, so muß es sich auch darauf gefaßt machen, in ihm unterzugehen. Ich konnte nicht an die Prinzessin zurückdenken, ohne mich der unglücklichen Johanna von Castilien zu erinnern, welche, mit dem Erzherzog Philipp vermählt, so lange mit der Stärke ihres Gemahls rang, bis alle ihre Nerven rissen. Der unbesiegliche Theil des Erbprinzen war jene Heftigkeit, vermöge welcher erschütternde Sensationen ihm allein lieb und werth waren. Er konnte der Mann, aber nie der Gemahl der Prinzessin werden; denn um das letztere zu werden, hätte er sie begreifen und verstehen lernen müssen, wozu auch nicht die mindeste Anlage in ihm war, ob man gleich nicht mit Wahrheit behaupten konnte, daß es ihm an gesundem Verstande und an einem gewissen Adel in den Gesinnungen fehle. Auf jeden Fall mußte die körperliche Schönheit der Prinzessin [246] für dies Verhältniß das Beste thun, und die Sinnlichkeit des Erbprinzen die Vermittlerin einer Harmonie werden, die, wie lange sie auch dauern mochte, ihre Dauer nie über die den körperlichen Reizen von der Hand der Natur selbst gesetzten Schranken hinaus erstrecken konnte. Auch quälte mich in Beziehung auf die Prinzessin nichts so sehr, als der Gedanke an ein trostloses Alter, und mit Schaudern dachte ich an ihre Schwiegermutter zurück, die, bei einem weit geringeren Grad von hellen Gedanken und bestimmten Empfindungen, so nahmenlos unglücklich geworden war, daß man ihr Schicksal verabscheuen mußte.

Noch war seit unserer Trennung kein Jahr verstrichen, als mir die Prinzessin meldete, daß sie sich schwanger fühle. Wie viel Mühe es ihr auch gekostet haben mochte, die mit diesem Geständniß für sie verbundene Schaamröthe zu überwinden, so durchblitzte mich doch bei dieser [247] Nachricht ich weiß selbst nicht welche Ahnung eines besseren Geschickes für meine Freundin. Nicht als hätte ich künftige Mutterfreuden in einen hohen Anschlag gebracht; wie hätte ich dies thun können, da ich aus Erfahrung wußte, daß die Kinder fürstlicher Personen nur einen politischen Werth haben, und eben deswegen als Unterpfänder gegenseitiger Liebe wenig oder gar nicht auf ihre Eltern zurückwirken? Sondern weil ich mir sagte, daß der Zweck der ursprünglichen Verbindung meiner Freundin mit dem Erbprinzen jetzt erfüllt würde, und daß sich von dieser Erfüllung ein höheres Maaß von Freiheit für die vom Schicksal Verfolgte erwarten ließe. Meine Ahnung war, wie die Folge zeigen wird, sehr richtig; was mir aber für den Augenblick die höchste Genugthuung gewährte, war: daß der ganze ...sche Hof, von dem ersten Augenblick der erklärten Schwangerschaft [248] der Erbprinzessin an, um meine Freundin Kreis schloß, daß der alte Herzog außer sich war vor Freuden, seinen letzten Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen, daß selbst die Herzogin zu einem neuen Leben erwachte, als sie die erfahrne Rathgeberin machen konnte. Dazu kam noch, daß, außer den Jagdparthien, welchen die Erbprinzessin gegen alle ihre Neigungen hatte beiwohnen müssen, noch alle übrigen geräuschvollen und heftigen Zeitvertreibe eingestellt wurden, welche ihren gegenwärtigen Zustand gefährlich machen konnten. Der ganze Hof wurde durch die Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, in eine Stimmung gebracht, welche dem ruhigen, von keinen Leidenschaften zersetzten Gemüth meiner Freundin entsprach; und unaussprechlich war die Freude, als sie, nach Ablauf der gewöhnlichen Zeit, von einem so starken als schönen Prinzen genaß. Sie selbst meldete [249] mir, wenig Tage nach ihrer Niederkunft, ihre Entbindung, und forderte mich auf, gegenwärtig zu ihr zurückzukehren, weil sie es in ihrer Gewalt habe, mich vor allen Verfolgungen zu sichern. Hätte ich dem Zuge des Instinkts folgen wollen, der mich unablässig zu meiner Freundin hintrieb; so hätte ich, wie lieb mir auch meine Einsamkeit geworden war, keinen Augenblick verlieren dürfen, mich auf den Weg zu machen. Allein ich zog in Betrachtung, daß die temporelle Ergebenheit des Hofes gegen die Erbprinzessin, wie groß sie auch seyn möchte, keine wesentliche Veränderung in seinen Ideen und Tendenzen hervorgebracht haben könnte; und, wie wenig ich auch mein eigenes Selbst in Anschlag bringen mochte, so blieb es noch immer problematisch, ob meine Wiedererscheinung nicht das Gegentheil von dem wirken würde, was die Erbprinzessin sich davon versprach. In [250] diesem Sinne schrieb ich meine Entschuldigungen nieder; und um der Prinzessin, welche nicht aufhörte, sich nach mir zurück zu sehnen, nicht auf einmal alle Hoffnung zu rauben, versprach ich zu kommen, so bald der Erbprinz seinem Vater in der Regierung gefolgt seyn würde.

Dieser Zeitpunkt stellte sich weit früher ein, als ich es geglaubt hatte; denn der alte Herzog starb wenige Monate darauf. Da die Prinzessin mich an mein Versprechen erinnerte, so machte ich mich auf den Weg, so bald ihr Gemahl mich in einem eigenhändigen Schreiben dazu aufgefordert hatte. Ich kam früh genug an Ort und Stelle, um den Festlichkeiten der Succession beizuwohnen. Die junge Herzogin empfing mich mit all dem Enthusiasmus, welcher ihrer schönen Seele eigen war; aber eben dieser Enthusiasmus sagte mir auch, daß hier alles noch beim Alten sey; denn die Wiedererscheinung der [251] Freundin mußte minderen Eindruck machen, wenn zwischen Gemahl und Gemahlin eine wirkliche Harmonie statt fand. Ich sollte mich auf der Stelle entschließen, den Posten einer Oberhofmeisterin bei der jungen Herzogin anzunehmen; allein wie hätte ich dies gekonnt, ohne dem warnenden Genius entgegen zu streben, der mir zuflüsterte, daß hier kein Gedeihen für mich sey? Im Grunde war ich nur gekommen, das Terrain zu rekognosziren. Ich bat also, daß man mir Zeit lassen möchte; und ich that wohl daran, mich nicht zu übereilen. Der Geist des Hofes war durchaus derselbe. Kaum war es bekannt geworden, daß ich bestimmt sey, Oberhofmeisterin zu werden, als jene Paar Familien, von welchen oben die Rede gewesen ist, alles aufboten, um mich zu kränken und wieder zu entfernen. Ich war aufrichtig genug, darüber mit der Herzogin zu sprechen. Sie zog die Schultern, [252] und eine Thräne des ohnmächtigen Unwillens drang aus ihren schönen Augen.

»Sie haben Recht, Mirabella,« sagte sie, »hier kein Gedeihen zu erwarten; und könnten Sie noch in meiner Achtung gewinnen, so würde es durch die Entsagung geschehen, womit Sie in Beziehung auf sich selbst zu Werke gehen, indem Sie die Stelle der Ersten Dame von sich ablehnen. Ich muß es ganz Ihrem Gutbefinden überlassen, ob Sie bei mir bleiben wollen oder nicht. Welche Parthie Sie aber auch ergreifen mögen, nie werd' ich an Ihnen irre werden, so lange noch etwas in mir ist, wodurch ich das Edle von dem Gemeinen, das Schöne von dem Häßlichen zu unterscheiden im Stande bin. Ich habe, um alles mit einem Worte zu sagen, weder das Recht, Sie unglücklich zu machen, noch die Befugniß, von Ihnen zu verlangen, daß Sie mich durch engeres Anschließen an meine Person noch unglücklicher [253] machen sollen, als ich gegenwärtig bin; denn dies ist es doch zuletzt, was Sie allein vermeiden wollen.«

Es giebt, behaupte ich, kein angenehmeres Gefühl, als sich in einer großmüthigen Idee errathen zu sehen. Und wären mir, während meines kurzen Aufenthalts am ...schen Hofe, die größten Beleidigungen widerfahren; so würd' ich sie in diesem Augenblick vergessen haben. Ich küßte die Hand der Herzogin voll stummer Wehmuth, während sie mit einem Blick, aus welchem etwas Göttliches strahlte, mich ihre ewig theure Mirabella nannte.

Um mir meinen Aufenthalt in der Nähe eines so herrlichen Wesens nicht unnöthig zu verbittern, sorgte ich dafür, daß es noch an demselben Tage bekannt wurde, daß ich die Stelle einer Oberhofmeisterin abgelehnt hätte. Die Wirkungen dieser Nachricht zeigten sich bald. Um die Achtung [254] der meisten Menschen zu gewinnen, darf man ihnen nur unbegreiflich werden. Je weniger man darauf gerechnet hatte, daß ich eine so einträgliche und ehrenvolle Stelle ausschlagen würde, desto emsiger drängte man sich zu mir, um das Warum zu erforschen. Wie geschmeidig waren nun mit einemmale alle die Creaturen, welche sich noch kurz vorher so trotzig und boshaft bewiesen hatten! Dem Kammerherrn muß ich indessen die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er sich auch jetzt seinem legalen Charakter gemäß bewies. Kaum konnte ich mich bei seinem Anblick des Lachens enthalten, so feist und glänzend hatte ihn seine Legalität gemacht, die in ihm, wie in allen anderen Menschen, sich ganz vortrefflich mit der goldenen Mönchsregel vertrug: »daß man seine Pflicht handlich erfüllen, den Herrn Abt in Ehren halten und die Welt gehen lassen müsse, wie sie nun einmal gehen [255] will.« Es war eine Lust, zu sehen, wie der ehrliche Kammerherr, von seiner Corpulenz gedrückt, auf einem Lehnstuhl da saß, die Ellenbogen auf die Lehnen gestützt, die Daumen um einander schiebend, und von Zeit zu Zeit so tief aufathmend, als ob die Bürde der Weltregierung auf ihm lastete. Und diesen Ehrenmann hatte ich einmal in meine Ideale verwickeln wollen; und diesem Manne hatte ich zugemuthet, einem jungen Prinzen Erhebung und bleibenden Antrieb fürs Edle zu geben! Fehlgriffe dieser Art werden in der Welt nicht selten gemacht; aber sehr selten lacht man darüber, weil man nicht auf die Kontraste merkt, zu welchen sie führen. Ich wollte einen Versuch machen, mit dem guten Kammerherrn über unseren ehemaligen Entwurf zu plaisantiren; allein ich hatte kaum davon zu sprechen angefangen, als der Schweiß aus allen seinen Poren hervorbrach; unstreitig weil [256] er sich noch sehr lebhaft der Folter erinnerte, auf die ich ihn gesetzt hatte.

Der bewaffneten Neutralität, in welcher ich den Hofleuten gegenüber dastand, verdankte ich es, daß der Rest meines Aufenthalts am Hofe sehr angenehm war. Lange durft' ich aber nicht bleiben, wofern ich nicht Mißtrauen und Eifersucht erregen wollte. Ich trennte mich also von der Herzogin, so bald ich es nur über mich erhalten konnte. »Wir sehen uns wieder,« sagte sie beim Abschied; »und so Gott will, kommt nun die Reihe des Aufsuchens an mich.« Ich verstand dies so, als ginge sie damit um, ihre Eltern zu besuchen, und antwortete in diesem Sinne. Nähere Verabredungen wurden unter uns nicht genommen. Ich trat meine Rückreise mit frohem Herzen an, weil mir volle Genugthuung zu Theil geworden war. Was ich nach meiner Zurückkunft unserem Hofe berichtete, machte um so mehr Vergnügen, [257] weil es eine indirekte Lobrede auf die Weisheit enthielt, womit man die Dinge sich selbst überlassen hatte. Mit Vergnügen trat ich in meine Einsamkeit zurück, welche nicht mehr einsam war, seitdem sie durch ein junges Geschöpf belebt wurde, das sich täglich herrlicher entwickelte. Die Tage verstrichen mir als Minuten; aber sie dehnten sich desto mehr in der Erinnerung aus; ein sicheres Zeichen, daß sie weder gedanken- noch empfindungslos verlebt wurden. Das einzige, was mein Gemüth in einer unangenehmen Spannung erhielt, waren die Briefe der Herzogin voll bitterer Klagen über ihr Geschick. Doch, ohne hierüber in ein Detail einzugehen, begnüge ich mich, im Allgemeinen zu erzählen, wie sich ihr Geschick entwickelte, und wie wir gegen alle unsere Erwartungen ganz plötzlich wieder vereiniget wurden.

Das höhere Maaß von Freiheit, welches [258] der Herzog durch den Tod seines Vaters gewonnen hatte, wirkte in sofern nachtheilig auf seine häuslichen Verhältnisse zurück, als es ihn zu Liebeshändeln aufgelegt machte, welche sein Ansehn kompromittirten. Seine Gemahlin war nicht sehr geneigt, davon Notiz zu nehmen; allein, indem einzelne Hofleute, die schwache Seite des Herrn benutzend, sich ein Verdienst daraus machten, ihm behülflich zu seyn, so konnte es nicht fehlen, daß alle die Spaltungen erneuert wurden, welche den ...schen Hof in einer früheren Periode zu einem so unangenehmen Aufenthalte gemacht hatten, und daß selbst die Herzogin litte. Es kam aber noch dazu, daß, während sie auf der einen Seite durch das Daseyn eines Erbprinzen ihre Bestimmung erfüllt hatte, der Herzog auf der anderen seiner Gemahlin gegenüber eine Scham empfand, die zu überwinden er zuletzt allzugut war. Es war besonders [259] dieser letzte Umstand, der das edelste Weib, das je die Sonne beschienen hat, lästig, wo nicht gar verhaßt, machte. Die Herzogin fühlte dies, wußte sich aber nicht eher zu rathen noch zu helfen, als bis sie auf den gesunden Gedanken gerieth, ihren Gemahl um die Erlaubniß zu einer Reise nach der Schweiz und Italien zu bitten. Ihr Vorschlag wurde auf der Stelle angenommen, und eine hinlängliche runde Summe zur Bestreitung der Reisekosten ausgemittelt. So wurde die Ahnung erfüllt, die mich bei der ersten Nachricht von der Schwangerschaft der Herzogin durchblitzte.

Zwei Jahre mochten seit meiner Zurückkunft verstrichen seyn, als ich ganz unerwartet ein Schreiben voll Jubels von der Herzogin erhielt, worin sie mir nicht nur den Ausgang des langen Kampfes meldete, den sie gekämpft hatte, sondern auch sagte, daß sie, um bequemer zu [260] reisen, nicht den ganzen Aufwand machen würde, den die eigennützige Großmuth ihres Gemahls ihr zu machen erlaube. Übrigens verstände es sich von selbst, daß ich sie begleiten sollte. »Nur auf diese Weise,« schrieb sie, »konnten wir uns wieder vereinigen, und ich schätze mich glücklich, daß ich endlich zum Ziel gelangt bin.« Ich hatte Mühe mich von meinem Erstaunen zu erholen; allein indem ich die Sache nahm, wie sie einmal da lag, fand ich mich darin, und machte meine Reiseanstalten mit allem Eifer, den meine Liebe für die Herzogin mit sich führte. Meine Luise nicht an Andere abzutreten, beschloß ich, sie mit mir zu nehmen.

Ich war, als dies geschah, ein und dreißig Jahre alt; die Herzogin sechs Jahre jünger. Gesundheit und Erfahrung besaßen wir in gleichem Maaße; unsere Köpfe hatten dieselbe Richtung genommen. War irgend ein Unterschied, den physischen [261] nicht in Anschlag gebracht, zwischen uns, so bestand er darin, daß bei der Herzogin, welche durch eine weit härtere Schule gegangen war, als ich, die Empfindungen mehr Tiefe hatten, während ich, ohne deshalb nur im Mindesten leichtsinnig zu seyn, die ersten Eindrücke bei weitem leichter überwinden und zur Sprache bringen konnte. Selbst vermöge dieses Unterschiedes paßten wir herrlich zusammen; denn indem die Herzogin in ihrer stillen Größe blieb und sich nur selten aussprach, war ich gewissermaßen ihr Dollmetsch, und ihr selbst um so willkommner, weil ich ihre Empfindungen in Ideen verwandelte.

Wenige Wochen nach ihrem letzten Schreiben kam sie bei ihren Eltern an. Diese waren wiederum sehr zufrieden mit der Wendung, welche das Schicksal ihrer Tochter genommen hatte. Sie freueten sich herzlich, sie wieder zu sehen; sie freueten sich aber noch weit mehr der bedeutenden [262] Pension, welche ihr Gemahl ihr ausgeworfen hatte. Es wurden Feste veranstaltet, welche frohe Gefühle wecken sollten, aber, wie immer, nur Langeweile erregten. Die Herzogin konnte den Augenblick nicht erwarten, wo sie in meiner Gesellschaft ihre Reise nach der hochgepriesenen Schweiz antreten sollte. Endlich schlug die Stunde, und wir reiseten in einer wenig zahlreichen Begleitung ab.

[263][265]

Drittes Buch

[265] [267]Befürchten Sie nicht, mein angenehmer Freund, daß ich in meinen Bekenntnissen von Dingen sprechen werde, welche Sie weit besser wissen, als ich. Mein Reise-Journal liegt zwar neben mir; allein ich werde mich wohl in Acht nehmen, Ihnen durch die Mittheilung desselben Langeweile zu machen. Alles, was ich Ihnen mitzutheilen habe, sind einzelne Bemerkungen, hergenommen von dem Eindruck, den Gegenstände der Natur und Kunst, oder auch sehr interessante Personen, während meiner Reise auf mich gemacht haben. Auf diese Weise werd' ich dem Alltäglichen entrinnen, und die Geschichte meiner Entwickelung beendigen, ohne auch nur ein einziges Mal in den unverzeihlichen Fehler der Geschwätzigkeit verfallen zu seyn. [267] Ich selbst finde meine Rechnung bei diesem Verfahren; denn das Schreiben ist in sich selbst eine so große Beschwerde, daß ich gar nicht begreife, wie Leute sie überwinden können, die, um mich des gewöhnlichen Ausdrucks zu bedienen, durchaus nichtsauf ihrem Herzen und Gewissen haben. Doch zur Sache!

Wenn die meisten Reisenden gar keinen Beruf zum Reisen haben, so haben dafür diejenigen Individuen den allerbestimmtesten Beruf, die aus dem Kampf mit der Gesellschaft eine Empfindlichkeit davon getragen haben, vermöge welcher sie, in bleibenden Verhältnissen, nur beleidigen oder beleidigt werden können. Auf Reisen hat man es in seiner Gewalt, seine ganze Eigenthümlichkeit zu behaupten; denn von dem Augenblick an, wo sie bekämpft wird, reiset man weiter; und da dem Reisenden, besonders dem bemittelten Reisenden, alles entgegen kommt, [268] so fehlt es nie an Gelegenheit zu neuen Verhältnissen, die alsdann wiederum so lange dauern, als sie können.

In dieser Hinsicht war mein Bedürfniß zu reisen bei weitem nicht so stark, als das der Herzogin; allein da ich nur an meinen Idealen hing und in der Herzogin die Repräsentantin derselben liebte, so war es mir vollkommen gleichgültig, an welchem Orte ich existirte; und auf diese Weise begegneten die Wünsche meiner Freundin vortrefflich meinen Neigungen. Selbst die Reise nach der Schweiz ließ ich mir sehr gern gefallen, ob ich gleich für dieses Land nie die mindeste Zärtlichkeit empfunden hatte. Die Vorliebe der Herzogin für dasselbe gründete sich von der einen Seite auf die hohe Achtung, welche sie für Haller unterhielt, von der anderen auf die Urtheile jüngerer Dichter, welche die Schweiz als das Land der Freiheit und des Ruhmes besungen [269] hatten. Um keinen Preis hätte sie sich von einer Reise dahin abwendig machen lassen.

Ich gestehe, daß, nachdem wir an Ort und Stelle angelangt waren, die Naturwunder der Schweiz einen starken Eindruck auf mich machten; allein wenn dieser Eindruck zur Erhebung führte, so führte er zugleich zur Niedergeschlagenheit; mit einem Worte: Er verwirrte das Gemüth und raubte die innere Freiheit, ohne welche es unmöglich ist, sich wohl zu befinden. Herrliche Einfassungen, eine üppige Vegetation und – was immer damit zusammenhängt – eine kräftige Animalität zeichnen die Schweiz vor allen Ländern Europa's aus; hat sie aber das, was der gebildete Mensch unaufhörlich sucht – Menschen von höherer Entwickelung? Ich möchte nicht gern darüber absprechen; das aber kann ich mit Wahrheit behaupten, daß ich dergleichen in der Schweiz nicht [270] gefunden habe. Eben deswegen ist mir dies Land immer als ein schöner Rahmen mit einem schlechten Bildniß erschienen. Ich habe nicht den Muth gehabt, dies jemals öffentlich zu sagen, weil ich mich auf den allgemeinsten Widerspruch gefaßt machen mußte; allein deshalb würde ich, wenn es einmal gölte, mein Urtheil nicht minder standhaft vertheidigen. Worin die große Beschränktheit der Schweizer ihren letzten Grund hat, ob in ihrer Umgebung, oder in ihrer Verfassung, das mögen Andere entscheiden; genug daß sie allgemein ist, und daß, wenn man sich mit der Schweizerheit selbst nicht identifiziren kann, eigentlich kein Interesse für diese Nation möglich ist. Selbst die Herzogin, so groß auch ihre Vorliebe für die Schweiz war, trat zuletzt mit dem Geständniß hervor, daß es ihr problematisch geworden sey, ob man die Schweizer zu den Menschen rechnen könnte, da sie [271] immer und ewig auf demselben Punkt blieben, und die Entwickelung des übrigen Europa kaum im Widerschlage theilten. »Ich würde mich,« sagte sie, »auf das tödtlichste langweilen, wenn die todte Natur hier nicht den Ausschlag über die lebendige gäbe; um jener willen muß man dieser etwas nachsehen; es versteht sich ja auch von selbst, daß da, wo Adel ist, auch Gemeinheit seyn muß.«

Nach meiner Zurückkunft in Deutschland hab' ich, um meine Urtheile über die Schweizer zu berichtigen, ihre Geschichte studirt; allein ich muß gestehen, daß mich mein Studium in diesen Urtheilen nur bestärkt hat. Und hier kann ich nicht umhin, die Bemerkung zu machen, daß die Vorurtheile über die Schweiz in dem gegenwärtigen Augenblick so allgemein sind, daß sie sich selbst über den neuesten Geschichtschreiber dieses Volks erstrecken. Wie dieser Mann zu seiner Reputation [272] gelangt ist, begreife ich durchaus nicht. Seine Art zu komponiren hat für mich so viel Widerwärtiges, als ob ich mit entblößten Füßen über scharfe Kiesel laufen müßte. Ich bin so leicht nicht abzuschrecken, wenn es Belehrung gilt; aber es ist mir nicht möglich, acht Blätter von ihm hintereinander zu lesen, ohne mich ermüdet zu fühlen, und ich fordere alle Leute von Geschmack und Bildung auf, mir zu sagen, ob es ihnen besser gelingt? Ich will nicht sagen, daß die Affektation selbst bei der Abfassung den Vorsitz geführt habe, wiewohl ich nicht begreife, wie man ohne der Einfachheit den förmlichsten Abschied gegeben zu haben, so schreiben kann; allein, wenn der Styl in historischen Compositionen auch noch so gleichgültig seyn sollte, so entsteht noch immer die Frage: Wo hier die historische Composition sey? Dieser Mann muß auch nicht die allerentfernteste Idee von einem Kunstwerk [273] haben. Alle guten Geschichtsbücher, die ich bisher gelesen habe, enthielten in der Darstellung selbst so viel Nothwendiges, daß mein Geist wider seinen Willen angezogen und fortgerissen wurde; in der sogenannten Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft hingegen mag ich anfangen wo ich will, mein Interesse ist immer und ewig dasselbe, d.h. gleich null; und wenn es nicht vorher ausgemacht ist, daß die Schwerkraft der Schweizer eben so wenig eine eigentliche Geschichte gestattet, als die der Felsenwände, wovon sie umgeben sind, so kann die Schuld nur an der Unfähigkeit des Geschichtschreibers liegen, der es nicht versteht, die Notizen zu Thatsachen zu erheben, und durch die abgemessene Zusammenstellung dieser Thatsachen ein anziehendes Ganze zu bilden. Doch was geht mich die Kritik an? Ich bitte allen Grazien die Sünde ab, die ich hier begangen habe; dabei versichere ich [274] aber, daß ich sie nicht begangen haben würde, wenn ich es dem Deutschen verzeihen könnte, daß er sich in seinem Götzendienst immer gleich bleibt, nicht ahnend, daß er von allen Bestandtheilen des menschlichen Geschlechts zuletzt der einzige wahre Gott ist und allein Verehrung verdient.

Wie es sich aber auch mit der Schweiz und ihren Bewohnern verhalten mag, immer bleibt es ausgemacht, daß man sich für Italien, als das Land der schönen Kunst, nicht besser vorbereiten kann, als durch einen längeren Aufenthalt in der Schweiz. Schwerlich giebt es zwei Länder, die sich in jeder Hinsicht noch mehr entgegen gesetzt wären. In der Schweiz sind die Menschen nichts; in Italien hingegen sind sie alles. Mag das Weltgeschick die Bewohner dieses schönen Erdstrichs für den Augenblick noch so sehr niedergedrückt haben; deshalb haben sie [275] nicht aufgehört, die Herrn der Erde zu seyn; ihr ganzes Wesen kündigt an, daß sie es gewesen sind, und daß es nur begünstigender Umstände bedarf, damit sie es von neuem werden. Auf keinem Erdfleck hat es seit drei bis vier Jahrhunderten so viel Revolutionen gegeben, als in Italien; und ob man gleich, diesen langen Zeitraum hindurch, nie den rechten Punkt getroffen hat, so folgt doch daraus nicht, daß man ihn niemals treffen werde. Eine bessere politische Verfassung ist es, was den Völkern Italiens fehlt, und ist diese nur erst vorhanden, so wird sich die alte Größe ganz von selbst wieder herstellen. Mailand und Toskana ausgenommen, hat die Natur im Ganzen genommen sehr wenig für die Bewohner Italiens gethan; aber gerade dieser Umstand ist es, dem die Italiäner diesen hohen Grad von Entwickelung zu verdanken haben, in dessen Besitz sie sich befinden.

[276] Wir gingen nach einem zweijährigen Aufenthalt in den verschiedenen Hauptstädten der Schweiz nach Italien. Da die Kunst der Magnet war, welcher uns zog, so eilten wir nach der Hauptstadt des Kirchenstaates, wo wir mehrere Jahre verweilen wollten. Unser Weg führte uns durch das Mailändische nach Florenz. Hier machten wir die Bekanntschaft der Gräfin Luisa Stolberg d'Albania, Gemahlin des Prinzen Stuart, Prätendenten von England; und mehr bedurfte es nicht, um uns auf der Stelle Fesseln anzulegen, die wir Mühe hatten wieder abzustreifen.

Denn welche eigenthümliche Richtungen wir auch in unserer Ausbildung genommen hatten, so zeigte uns doch jetzt die Erfahrung, daß wir nicht die Einzigen unserer Gattung waren. Die Gräfin Luisa d'Albania war Unseresgleichen; auch hatten wir uns kaum kennen gelernt, als wir mit aller der Unzertrennlichkeit an [277] einander hingen, welche gleichgestimmten Gemüthern eigen ist. Das Einzige, wodurch die Gräfin sich von uns unterschied, war ihre Religiosität; da diese aber mit dem, was man kirchlichen Glauben nennt, durchaus nichts gemein hatte, so bildete sie auch keinen trennenden Unterschied. Es giebt offenbar Dinge, welche über alle Beschreibung hinaus sind; und zu diesen Dingen gehört eine solche Religiosität, als die der Gräfin war. Ihrem Wesen nach, so weit ich dasselbe habe beobachten können, bestand sie in einem unablässigen Streben nach Harmonie mit dem Universum. In ihr war also alles begriffen, was Philosophie und Poesie genannt werden kann; nicht etwa diejenige Philosophie, welche darauf ausgeht, einen dynamischen obersten Grundsatz für das All der Welterscheinungen aufzufinden, sondern diejenige, welche über alles, was Erscheinung ist, hinaus strebt, und sich in das Wesen [278] der Dinge versenkt und mit Poesie einerlei ist. Wie die Gräfin zu dieser Entwickelung gelangt war, weiß ich nicht mit Bestimmtheit anzugeben; unstreitig aber hatte ihre Verbindung mit einem so prosaischen Prinzen, als ihr Gemahl war, das Meiste dazu beigetragen. Zwischen beiden fand eben das Verhältniß statt, welches mehrere Jahre hindurch die Herzogin gedrückt hatte; und da die Unmöglichkeit einer Trennung aus staatsbürgerlichen Gründen für die Gräfin eine unwiderstehliche Gewalt erhalten hatte; so war ihr nichts anderes übrig geblieben, als die freieren Sitten Italiens zu einer Verbindung zu benutzen, welche ihrem ins Unendliche hinstrebenden Geiste zwar eine Stütze gewährte, allein doch bei weitem mehr versprach als wirklich leistete.

Der Mann, mit welchem die Gräfin in Verbindung stand, war der Graf Vittorio Alfieri d'Asti, ein Piemontese, dessen [279] Tragödien in Deutschland jetzt bekannter zu werden anfangen. Nie hab' ich einen Sterblichen kennen gelernt, der mir das Bild, das ich mir immer von dem jüngeren Brutus, dem Mörder Cäsars, entworfen habe, getreuer repräsentirt hätte. Ich kann mit Wahrheit sagen, daß er ein Römer im höchsten Sinne des Worts war; eine Natur, wie man sie in unseren Zeiten gar nicht mehr erwarten sollte. Eine lange, hagere Gestalt, bewegte er sich langsam, mit starrem, auf die Erde geheftetem Blick. Sein Gesicht war blaß, seine Lippen fein und geschlossen, seine Zähne weiß und scharf, seine Nase regelmäßig gebildet, seine Augen dunkelblau, seine Stirne groß, aber schön gewölbt. In seiner Miene lag neben unbegränztem Wohlwollen eine Wuth, die auch das Äußerste nicht scheuet; und dies war so ganz der Charakter seines Gemüthes, in welchem die sanftesten Empfindungen neben [280] den allerheftigsten bestanden. In seinem Geiste flossen die Geister des Tacitus, Macchiavelli und J. J. Rousseau zusammen. Wie in einem der edelsten Römer aus den besten Zeiten der Republik, war in ihm Alles auf das Politische hingerichtet. Er hatte keinen Begriff davon, wie die Poesie sich selbst Zweck seyn könnte; und darum wollte er ihr einen politischen Zweck geben. Alle Monarchien der Welt zu stürzen, darauf arbeitete er in seinen Trauerspielen hin, und ohne diesen Zweck würde er es nicht haben über sich erhalten können, eine Feder anzusetzen. Gewissermaßen war dies der böse Dämon der ihn trieb; aber er war weit davon entfernt, ihn dafür anzuerkennen, und würde wüthend geworden seyn, hätte man einen Versuch gemacht, ihm das Falsche seiner Idee zu zeigen. Was man gemeiniglich unter einem Aristokraten versteht, giebt nur eine schwache Idee von seinem Wesen, [281] und ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß er die Repräsentation der Aristokratie in der höchsten Potenz war, gerade so, wie jeder alte Römer, nachdem die Universalherrschaft errungen war. Was er ewig bedauerte, war, in diesen elenden Zeiten geboren zu seyn, die keinen freien Aufflug durch Thaten gestatteten, und in dem Schreiben allein eine Entschädigung erlaubten. »Ich setze mich an den Schreibtisch, nur um meinem Unwillen Luft zu machen und meine Galle zu verdünnen,« sagte er mir mehr denn zehnmal, und ich glaubte es ihm, weil dies mit seinem ganzen Wesen zusammenhing. Ein höchst charakteristischer Zug von ihm war, daß er, um ungehinderter schreiben zu können, oder, wie er sich aus zudrücken pflegte, per poter scemar la bile, seiner Schwester einen sehr wesentlichen Theil seines großen Vermögens abgetreten hatte.

Man hätte glauben sollen, daß die [282] Gräfin Luisa d'Albania und der Graf Vittorio Alfieri mit so entgegengesetzten Eigenschaften sehr wenig für einander vorhanden gewesen wären. Allein, indem die Gräfin mit der unendlichen Liebe, die in ihr war, einen Gegenstand der Hochachtung suchte, mußte der Graf ihr theuer werden; und indem dieser mit seinem gränzenlosen Unwillen gegen das Verderbniß seiner Zeiten doch Etwas lieben wollte, gab es für ihn keinen anderen Gegenstand, als ein Weib von Luisa's Gepräge. Beide bewunderten sich um so mehr, je weniger sie sich begriffen. War der Graf Brutus, so war die Gräfin Portia. Dies Verhältniß wurde zuerst durch unsere Dazwischenkunft abgeändert. Die Herzogin, welche einmal für allemal mit dem männlichen Geschlecht gebrochen hatte, schloß sich enger an Luisen an, weil sie in ihr die eigene Vollendung zu erblicken glaubte. Ich hingegen fühlte mich an Vittorio Alfieri [283] angezogen, unstreitig weil er nach Moritz der einzige Mann war, den ich achten konnte. Mir entging die Schwärmerei nicht, die aus ihm wirkte, und um keinen Preis hätte ich die Seinige werden mögen; allein, da die Phantasie zuletzt das Einzige ist, was ein Weib an einem Mann lieben kann, so huldigte ich in meiner Hinneigung zu dem Grafen, soll ich sagen der Schwäche meines Geschlechtes, oder dem ewigen Gesetz, unter welchem es steht? Übrigens war niemals eine Verbindung unter vier Personen inniger und schuldloser, als die unsrige.

Ich lernte nach und nach den Grafen ganz kennen. Selbst aus seinem besondern Antriebe zum Schreiben machte er mir kein Geheimniß, und es war warlich nicht seine Schuld, wenn ich seinen Tyrannenhaß nicht theilte. Diese Trauerspiele der Freiheit (wie er seine Tragödien nannte), die einander so ähnlich sind, daß sie dem [284] unbefangenen Auge nur als Variationen desselben Thema's erscheinen müssen, hatten alle nur einen und denselben Zweck, nämlich Verunglimpfung der Fürstenmacht. Aus der Emsigkeit und Anstrengung, womit der Graf arbeitete, hätte man schließen sollen, daß ihm die Kunst über Alles theuer wäre; und doch war dies gar nicht der Fall. In ihm ordnete sich der Künstler dem Grafen, oder, wenn man lieber will, dem Aristokraten, auf das allerbestimmteste unter; in der That so sehr, daß er sich selbst verachtet haben würde, wenn er in sich nur den Künstler gesehen hätte. Was ihn unaussprechlich verwundete, war die Unempfindlichkeit seiner Zeitgenossen gegen den Zweck seiner Schöpfungen. Errathen sollten sie ihn und zu einem unendlichen Fürstenhaß hingerissen werden; und da weder das eine noch das andere er folgte, indem die Zuschauer und Leser nur bei dem tragischen [285] Schicksal seiner Helden verweilend, lieber dem Mitleid als dem Unwillen Raum gaben, so wurde der Graf bisweilen zu einer Verzweifelung getrieben, worin es keinen anderen Trost für ihn gab, als dieIdee eines unbegränzten Ruhmes, der seiner in besseren Zeiten harrete. Mit unbeschreiblicher Wollust erfüllte ihn dagegen alles, was die Wahrheit seiner Grundidee auch nur von fernher bestätigte. Die Nordamerikanische Revolution war für ihn eine Erscheinung von unberechenbarer Wirksamkeit für den gesellschaftlichen Zustand von Europa; und so bestimmt sah er durch sie alle Thronen umgestürzt, daß er in einem Washington den Heiland der Welt verehrte. Was ihn zu seiner eigenen Gattung machte, war diese innige Vereinigung des Schönen mit dem Politischen, die sein Wesen so einzig bestimmte. Ob die Idee, von welcher er ausging, probehältig war, oder nicht, das[286] kann und mag ich nicht bestimmen; das weiß ich aber, daß sie in ihm eine philanthropische war. Giebt es für die wahre Größe keinen anderen Maaßstab, als die Ideen, womit ein Individuum sich unablässig beschäftigt; so stand Vittorio Alfieri in einer Größe da, welche die Mehrzahl gigantisch zu nennen gezwungen ist. Und welche Kindlichkeit bei dieser Größe! Eben der Mann, dessen Kopf in politischer Hinsicht einem Vulkan glich, war durchaus unfähig, irgend ein Individuum zu kränken, selbst dann nicht, wenn er es verachten mußte. Er selbst sprach hierüber, als über einen ewigen Widerspruch zwischen seinem Herzen und seinem Kopf, und war nur allzuoft ungewiß, ob er sich für einen Thersites oder Achilles halten sollte; dies rührte aber nur daher, daß er in seinem Unwillen und Haß die Liebe verkannte, welche die Quelle derselben war. In sich selbst war er ein Ganzes, wie die [287] Natur es selten hervorbringt; allein, indem er sich nicht als ein solches erschien, konnte er, anstatt sich seiner Individualität zu freuen, sich nur zerreiben und vor der Zeit zerstören. Bewundernswürdig waren seine Affektionen in Beziehung auf einzelne Zweige der Kunst. Wäre er blos Künstler gewesen, so würde die Kunst für ihn eine einige gewesen seyn; denn er hätte in den Künstlern nur immer die Poeten sehen können. Weil er aber Graf und Künstler zugleich war, so schied er die Poesie von allen übrigen Künsten, und mehrere derselben berührten ihn gar nicht. So waren z.B. Malerei und Bildhauerei durchaus nicht für ihn vorhanden, oder ihm wohl gar verhaßt, weil sie der staatsbürgerlichen Größe dienten. Die Musik hingegen liebte er sehr, ob gleich auch nicht um ihr selbst willen, sondern weil sie ihn in einen Zustand versetzte, worin seine herrschende Stimmung sich in Harmonie [288] auflösete. Überall war der Adel seiner Natur auf eine ganz eigenthümliche Weise mit demjenigen verschwistert, den er seiner Geburt verdankte, und was er am wenigsten ins Reine bringen konnte, war: wie viel von seinem Wesen er sich selbst und wie viel er dem gesellschaftlichen Zustand verdankte? Nichts wollte er dem letzteren zu verdanken haben, und vielleicht hätte er nie eine Tragödie geschrieben, wenn ihm zeitig genug klar geworden wäre, auf welchen Bedingungen seine ganze geistige Natur beruhete, oder, mit anderen Worten, wenn er sich als Aristokraten hätte zur Anschauung bringen können.

Sobald ich den Grafen genauer kennen gelernt hatte, verzieh ich ihm Alles, weil ich in ihm nur denverfehlten Monarchen sah. Ich konnte ihm nicht werden, was die Gräfin d'Albania ihm gewesen war und noch war; dazu fehlte es mir an Einbildungskraft. Allein, indem [289] ich mich zwischen beiden in die Mitte stellte, nahm ich der eisernen Nothwendigkeit, in welcher er dastand, das Lästige, das bis dahin von ihr unzertrennlich gewesen war. Er selbst fühlte sich durch mich nicht wenig erleichtert; und ob er gleich nicht angeben konnte, worin diese Erleichterung bestand, so lag es doch nur allzusehr am Tage, daß er in seinem Wirken durch mich an Freiheit gewonnen hatte. Wir kamen täglich zusammen, bald bei der Gräfin d'Albania, bald bei der Herzogin. Des Grafen Sache war, uns seine Compositionen mitzutheilen. Was erseine Poesie nannte, war freilich sehr wenig für uns vorhanden; allein wir fanden dabei dennoch unsere Rechnung auf eine doppelte Weise. Einmal konnten wir nicht umhin, über das reiche Gemüth eines Mannes zu erstaunen, der, unbekümmert um die gewöhnlichen Hülfsmittel der tragischen Kunst, seinen Personen eine solche innere [290] Stärke gab, daß die Handlung sich mit gleichem Interesse zum Ziele fortbewegte, ohne daß mehr als vier bis fünf Werkzeuge dazu beitrugen; und in der That werden seine Tragödien von dieser Seite immer bewundernswürdig bleiben. Zweitens wurden während der Vorlesung alle die schauerlichen Gefühle in uns geweckt, welche den religiösen so nahe verwandt und doch so wesentlich von ihnen verschieden sind; wir glaubten uns von lauter Gespenstern umgeben, und ich erinnere mich auf das bestimmteste, daß, als der Graf an einem stürmischen Herbstabend seinen Orestes vorlas, die Herzogin sich fest an ihre Freundin anklammerte und starren Blicks auf den Grafen hinschaute, als wollte sie begreifen, wie eine Elektra oder Clytemnestra sich in seinem Gehirn hätte entwickeln können. Dergleichen Vorlesungen endigten sich in der Regel mit einem Streit über die tragische Kunst. [291] Der Graf sprach gern über diesen Gegenstand, weil er nur etwas Vortreffliches liefern wollte; allein da sich, wie ich schon oben bemerkt habe, der Künstler in ihm dem Grafen so wesentlich unterordnete, so war über diesen Punkt kein Einverständniß mit ihm möglich; der eigenthümliche Zweck seiner Tragödien verhinderte die Vortrefflichkeit derselben, ohne daß es möglich war, ihn davon zu überzeugen. Ich hatte schon damals eine Ahnung davon, daß die wahre Tragödie das Gemüth des Zuschauers oder Lesers nicht martern, sondern erheben müsse, und ohne Rückhalt äußerte ich diese Ahnung; allein der Graf war hierüber durchaus entgegengesetzter Meinung, und ob er gleich die Weinerlichkeit von ganzem Herzen verabscheute, so bestand er doch auf Erzeugung eines großen Unwillens, indem er sich einbildete, daß das Gemüth nur durch Gefühle, nicht durch Ideen, erhoben werden [292] könnte. Dies war ein Punkt, auf welchem er standhaft beharrete; und auf welchem er freilich beharren mußte, wenn er nicht seinem ganzen Wesen entsagen wollte. Überhaupt war es mehr die Individualität des Grafen, als seine Kunst, was an ihm beschäftigen konnte. Am reinsten sprach sich diese Individualität in seinen Sonnetten aus, welche vielleicht die schönsten sind, die Italien aufweisen kann. Hätte der Graf den Unterschied der lyrischen und dramatischen Poesie in Beziehung auf seine Natur gekannt, so hätte er es schwerlich jemals darauf angelegt, durch die letztere unsterblich zu werden.

Zwei Jahre waren auf diese Weise verstrichen, als die Herzogin sich nach Rom zu sehnen begann. Die Gräfin d'Albania versprach uns dahin zu begleiten; der Graf Vittorio Alfieri hingegen, welcher seine Mirrha angefangen hatte, wollte sich nach Siena begeben, um seinen republikanischen [293] Ideen in diesem kleinen Freistaat ungehinderter nachhängen zu können. Es wurde die Verabredung genommen, daß der Graf uns, während des nächsten Winters, in Rom auf einen Monat besuchen sollte, und daß wir gegen den nächstfolgenden Winter wieder in Florenz zusammentreffen wollten. Ein florentinischer Maler hatte die Gefälligkeit, uns begleiten zu wollen. Die Reise ging vor sich, wir kamen wohlbehalten in Rom an, und wurden, von der liebenswürdigen Gräfin eingeführt, allenthalben unserem Stande gemäß empfangen.

Obgleich der ausschließende Zweck unseres Aufenthalts in Rom die Kunst und nahmentlich die Malerei war; so konnten wir doch nicht umhin, auch auf die Menschen einzugehen, von welchen wir uns umgeben sahen. Man nennt die Römer schlau und fein; allein man vergißt, daß sie mit diesen Eigenschaften eine Unschuld [294] verbinden, welche erst dann aufhört, wenn eine gewisse Rohheit Forderungen an sie macht, die sie nicht befriedigen können, ohne ihrem Wesen zu entsagen. Einem vielseitig ausgebildeten Menschen muß, allen meinen Erfahrungen zufolge, in Rom sehr wohl zu Muthe seyn, weil er allenthalben auf seines Gleichen stößt. Dem vornehmeren Theil der Römer besonders ist ein Entwickelungsgrad eigen, wie man ihn, außerhalb des Kirchenstaates, schwerlich auf irgend einem Erdfleck antrifft. Je unbestimmter und schwankender die gesellschaftlichen Verhältnisse in Italien, besonders aber im Kirchenstaate, sind, desto stärker ist die Aufforderung, welche jeder Einzelne hat, in diesem Kampfe aller gegen alle seine Existenz zu sichern. Daher die Feinheit, womit man sich gegenseitig behandelt. Schon von der frühesten Jugend an nimmt das Studium menschlicher Kräfte und Eigenthümlichkeiten [295] seinen Anfang; es ist also kein Wunder, wenn man es hierin zu einem hohen Grade der Vollendung bringt. Das Verhältniß der Kirche zum Staate, oder vielmehr das Verhältniß des Mittelpunkts der Theokratie zu der Welt trägt nicht wenig dazu bei, dem Geiste der Römer eine Gewandtheit zu geben, wie man sie sonst nirgend findet; eine Gewandtheit, die, obgleich ursprünglich nur in den ersten Repräsentanten der Kirche vorhanden, von diesen selbst auf die untersten Volksklassen übergeht. Mit Vergnügen erinnere ich mich einer Unterredung mit dem berühmten Cesarotti, der, als von dem Charakter der Römer unter uns die Rede war, mir Folgendes zur Aufhellung desselben sagte:

»Unser ganzes gegenwärtiges Wesen besteht ausdrei Elementen, die, wie verschiedenartig sie auch scheinen mögen, den innigsten Zusammenhang unter einander [296] haben. Das erste ist die Messerträgerei; eine Folge des unvollkommenen gesellschaftlichen Zustandes, in welchem wir leben. Das zweite ist unsere Religiosität, welche mit unserer physischen Trägheit in enger Verbindung steht, und durch nichts so sehr gehalten wird, als durch den Umstand, daß von Rom aus aller kirchlicher Impuls geschieht. Das dritte ist unsere Kunst, wodurch wir, abgesehen von der Kraft selbst, welche sie möglich macht, nichts weiter beabsichtigen, als Sicherstellung unserer Eigenthümlichkeit. Man zerstöre eines dieser Elemente in uns, so sind die beiden anderen zugleich zerstört. Auf den ersten Anblick sollte man freilich glauben, daß die Messerträgerei dem hohen Aufschwunge, welcher in das Gebiet der Kunst führet, nicht gerade nothwendig sey. Ich will auch nicht im Allgemeinen behaupten, daß ohne Messerträgerei keine Kunst statt finden[297] könne. Aber etwas anderes ist Kunst überhaupt, und etwas anderes römische Kunst insbesondere. Die letztere kann nur dadurch möglich werden, daß das Gemüth dem Geiste eine Erhebung giebt, wie sie nun einmal erforderlich ist, um das Außerordentliche zu Stande zu bringen. Hätten wir eine regelmäßige, nur für den Kirchenstaat vorhandene Regierung, beschäftigte sich diese Regierung nur mit der Beglückung der Unterthanen, und fände Jeder im Ackerbau, in der Ausübung irgend eines Handwerks, in Fabrikarbeit und dergleichen, was zur Leibesnahrung und Nothdurft gehört; so wären wir gewiß eben so moralisirt, als die Bürger anderer Staaten. Da wir keine solche Regierung haben, und auch alle übrige Bedingungen geradezu wegfallen; so sind wir nicht moralisirt, aber wir sind Römer, und, was man auch zu unserem Nachtheil im Auslande sagen mag, unseren großen Vorfahren [298] bei weitem mehr verwandt, als die Kurzsichtigkeit es begreifen kann. Was unsere Vorfahren durch eine mit physischer Gewalt verbundene List vollzogen, das vollziehen wir durch die reine List. Die römische Universalmonarchie hat deshalb noch nicht aufgehört, weil es keine römische Imperatoren mehr giebt; die Bande, durch welche die Welt an Rom gefesselt ist, sind nur geistiger geworden. Wollen Sie leugnen, daß dies große Eigenschaften von Seiten der Römer voraussetze? Der würde ein Thor seyn, der unseren gesellschaftlichen Zustand als Muster empfehlen wollte; wer ihm aber alle Kraft abspricht, der versündigt sich an der Wahrheit. Das staatsbürgerliche Elend, das hier vielleicht größer ist, als in irgend einem anderen europäischen Staate, muß vorhanden seyn, damit es einzelnen Menschen gelinge, über die ganze Menschheit hervorzuragen. Das Wesen eines[299] Römers ist auf ein ungemeines Maaß von Kraft berechnet. Wer im Besitze desselben ist, der emergirt, und muß als ein Repräsentant der Römerheit betrachtet werden; wer es nicht ist – nun der gehört zum Pöbel, zu den Lastträgern der Gesellschaft. Von einem höheren Standpunkt aus betrachtet, ist die Kraft immer dieselbe, und der Unterschied besteht nur in der temporellen Richtung, die sie genommen hat. Dasselbe Individuum, daß Sie heute als Bildhauer oder Maler in seiner Werkstätte bewundern, ist vielleicht nach acht Tagen ein Cardinal, und als solcher nicht minder bewundernswerth. Jene Universalität, welche zu jedem ausgezeichneten Lebensgeschäft geschickt macht, finden Sie nur in dem Römer; und man möchte sagen, sie sey ihm angeboren, so bestimmt geht sie aus seinem ganzen Wesen hervor. Anderwärts zerquetschen staatsbürgerliche Klemmen tausend und aber tausend Kräfte; [300] hier ist dies nicht der Fall, weil die Idee des Rechts uns fremd ist, und wir gewissermaßen fortgesetzt im Zustande der Natur leben. Wer dem anderen ein Bein unterschlagen kann, hat auch die Befugniß dazu, und niemand frägt, ob er ungroßmüthig gehandelt habe. Jeder will der Erste seyn; jeder sich zum Mittelpunkt machen. Er thue es auf seine Gefahr; gelingen kann es ihm immer nur in sofern, als er allen Übrigen zusammengenommen gewachsen ist. Möglich, daß unser Wesen in der Folgezeit sehr bedeutend abgeändert wird; aber so lange Rom das Centrum der Theokratie bleibt, wird es auch Römer geben, und überall begreife ich nicht, was den Römer aus der Welt verbannen könnte, da sein Wesen nicht an eine einzelne Form gebunden, sondern immer in der Kraft gegründet ist. Es ist vielleicht sogar wünschenswerth, daß irgend eine Revolution erfolge, die[301] uns aus dem Schwerpunkt hebe, worin wir gegenwärtig stehen. Ich fürchte sie nicht, und überlasse es kurzsichtigen Thoren ihren Eintritt zu bejammern. Die Stützen meines Muthes sind diese sieben unfruchtbaren Hügel, welche so viele Jahrhunderte hindurch unendlich mehr stützten.«

Ich habe hier alles zusammengefaßt, was ich über die Römer zu bemerken hatte, damit ich ungestörter in meiner Erzählung fortschreiten möchte. Sowohl die Herzogin als die Gräfin d'Albania wurden sehr wenig von den Menschen um sie her berührt; die erstere, weil sie nur nach der Weihe strebte, welche die Kunst verleiht, die letztere, weil sie sich durch den Umgang in dem Fluge gehemmt fühlte, den ihre Einbildungskraft zum Universum genommen hatte. Fleißig wurden die Tempel der Kunst besucht, deren Rom so viele hat; aber verschieden waren die Eindrücke, [302] welche die Schöpfungen der auserlesensten Geister auf uns machten. Die Gräfin d'Albania begrüßte sie als Jugendgespielen, an welche wir uns selbst dann noch hingezogen fühlen, wenn wir in unserer Entwickelung weit über sie hinausgegangen sind; sie war seit vielen Jahren mit ihnen vertraut, da sie aber ihrer Bildung zum Grunde lagen, so konnten sie nicht mehr in die selbe eingreifen. Die Herzogin trat in die Sixtinische Capelle, in welche wir zuerst geführt wurden, mit der holden Verwirrung einer Jungfrau, die sich plötzlich in einen Kreis wunderschöner Jünglinge versetzt sieht; erröthend starrte sie hin auf die dem Pinsel entquollenen Gestalten, als ob alle diese Bilder von jeher in ihrer Seele gelegen hätten, ohne daß ihr die Kraft geworden, sie selbst zu erzeugen. Was mich selbst betrifft, so empfand ich zwar das Außerordentliche dieser Schöpfungen; allein sie übten keine [303] anziehende Kraft an mir aus, es sey nun, weil der Verstand in mir den Ausschlag über die Einbildungskraft gab, oder weil Vittorio Alfieri's Geist stärker auf mich eingewirkt hatte, als ich mir selbst gestehen mochte; wenigstens muß ich bekennen, daß ich mich oft instinktmäßig nach ihm umsah, um sein Urtheil zu erfahren.

Diese verschiedene Empfänglichkeit für die Wunder der Kunst führte zu eigenthümlichen Entwickelungen. Während die Gräfin darüber hinaus war, und ich dahinter zurückblieb, ging die Herzogin darin unter. Eine längere Zeit hindurch schwankte sie zwischen verschiedenen Meistern hin und her; ihr Zustand konnte eine ästhetische Betäubung genannt werden, so wie die Allgewalt des Schönen ihn erzeugen muß. Als sie sich aber nach und nach wieder sammelte und mit Bewußtseyn zu empfinden begann, da erklärte sie sich mit allem, was in ihr war, für Raphael. Nie [304] hat eine reinere Seele diesem unsterblichen Meister feuriger gehuldigt. Sie wurde nicht müde, seine Werke zu betrachten, und seine Schöpfungen verdrängten aus ihr alle anderen Bilder, von welcher Art sie auch seyn mochten. Hab' ich sie anders gehörig beobachtet, so fühlte sie sich allzuschwach, die Individualität der Gräfin in sich aufzunehmen; aber Raphaels Begränzung entsprach der ihrigen. Ihn begriff sie in allen seinen Bildungen, und wunderbar waren die Commentare, die sie darüber machte. Sie wußte z.B. alle Widersprüche zu lösen, welche einzelne Kritiker in Raphaels Verklärung anzutreffen geglaubt haben, und nannte dies Werk die Apotheose des Künstlers. Denn ihrer Versicherung nach, waren die beiden Handlungen, die man in diesem Gemälde erblickt, aufs innigste für einander vorhanden, und das Wunder der Verklärung nur durch die fehlgeschlagene Heilung des[305] besessenen Knaben bedeutend und idealisch. Dabei rühmte sie die tiefe Menschenkenntniß, welche Raphael dadurch offenbaret, daß er den schönsten der Apostel in einer Unterredung mit Weibern, die übrigen im Gespräch mit Männern dargestellt habe; und was die in gleicher Linie laufenden Arme der Apostel betrifft, so behauptete sie, daß, die kunstgerechte Anordnung möchte sich noch so heftig dagegen erklären, die Symmetrie der Composition sie nothwendig mache. Um übrigens immer von Raphael umgeben zu seyn, setzte sie sich in den Besitz der besten Copien, vorzüglich in Kupferstichen; und so konnte es schwerlich fehlen, daß dieser Künstler nach und nach der einzige Gegenstand ihrer Liebe wurde.

Es ist unstreitig schon öfter der Fall gewesen, daß ein hingeschiedener Geist einen noch vorhandenen einzig beschäftigt hat; allein schwerlich ist dies jemals auf [306] eine so eigenthümliche Weise geschehen, als in der Liebe der Herzogin für Raphael. So weit eine rein geistige Ehe denkbar ist, vermählte sie sich auf das förmlichste mit ihm. Es war zuletzt nicht der Künstler, es war der Mann, den sie in ihm erblickte, die schaffende Kraft, die sie in ihm anbetete. Die Folgen fürchtend, welche eine so eigenthümliche Wendung ihres Geistes nach sich ziehen konnte, suchte man ihren Enthusiasmus dadurch zu vermindern, daß man ihr Anekdoten von Raphaels Liederlichkeit erzählte. Vergeblich; so keusch sie auch war, so wurde sie dadurch doch nicht beleidigt. »Wie konnte, erwiederte sie, Raphael anders seyn? Was ihr Liederlichkeit nennt, war bei ihm die Folge einer üppigen Fülle. Zugegeben, daß er länger gelebt hätte, wenn er haushälterischer mit seinen Kräften umgegangen wäre, entsteht noch immer die Frage, ob diese Ökonomie ihm [307] möglich war? Und hat er etwa weniger gelebt, weil er im sechs und dreißigsten Jahre gestorben ist? Seine Schöpfungen sagen, daß er viel gelebt hat, und was wir ihm alle beneiden sollten, ist, daß er die Kraftlosigkeit und Erschöpfung des Alters nie empfand, sondern wie Achilles zu den Unsterblichen gewandert ist. Sagt mir, Raphael sey siebzig Jahre alt geworden, weil er durchaus verständig gewesen sey, und ihr werdet euren Zweck erreichen. Was ihr seine Liederlichkeit nennt, redet ihm bei mir das Wort; denn wer das Schöne so darstellt, wie Raphael es dargestellt hat, der kann nur das Schöne lieben und –nur in dem Schönen untergehn.«

Und indem die Herzogin auf diese Weise ihrer Leidenschaft für Raphael das Wort redete, verzehrte die innere Gluth, womit sie empfand, ihre physischen Kräfte zusehends. Es war ein eigenthümliches [308] Schauspiel, das der Gräfin und mir in dieser Hinsicht gewährt wurde; denn wir sahen eine Verklärung von statten gehen, wie man sie selten erlebt. Ohne daß irgend ein Lebensorgan angegriffen war, wurde die Herzogin nach und nach zu einem Schemen. Alles, was Kraft genannt werden kann, blitzte aus ihren großen blauen Augen und sprach von ihren Lippen; aber andere Kennzeichen des Lebens waren nicht in ihr vorhanden. Sie selbst hatte keine Ahnung von ihrem nahen Hintritt, und sprach zu uns nur immer von ihrer Liebe; Ort und Zeit aber war darin untergegangen. In uns erstickte eine gewisse Feierlichkeit alle die gewöhnlichen Gefühle des Mitleides, des Bedauerns u.s.w. Immer mußte es uns schmerzen, eine solche Freundin zu verlieren; aber wie hätten wir sie beklagen können, da sie nur in einem Übermaaß von innerem Leben ihren Untergang finden konnte? [309] Noch ruhiger, als ich, war die Gräfin d'Albania. Sobald sie wahrgenommen hatte, daß der Herzogin nicht mehr zu helfen sey, versetzte sie sich in diejenige Stimmung, wodurch sie dem hohen Flug ihrer Phantasie innerhalb des Gebietes der Kunst nachhalf. Wirklich wurden die letzten Augenblicke der Herzogin dadurch nicht nur aufgeheitert, sondern auch verlängert, und der Ankunft des Grafen Vittorio Alfieri war es aufbehalten, den kritischen Moment herbeizuführen.

Er hatte seine Myrrha vollendet, als er bei uns ankam. Seiner eigenen Vorstellung nach war dies von allem, was er je gearbeitet hatte, das Beste. Er brannte vor Begierde, diese Tragödie vorzulesen, weil er es darin ausschließend auf eine Huldigung der Gräfin angelegt hatte. Meinen Wünschen nach sollte die Herzogin entfernt werden; aber dazu war keine Gelegenheit. Die Vorlesung nahm ihren [310] Anfang, sobald es dunkel geworden war. Wir saßen dem Vorleser gegenüber. Die Herzogin theilte unsere Spannung nicht, wiewohl sie nicht ganz unaufmerksam war. So wie indessen der Charakter der Myrrha, in welchem des Heldenmüthigen genug, des Weiblichen aber nur allzuwenig ist, sich mehr entwickelte, nahm die Unruhe der Herzogin zu. Beim vierten Akt sank sie ganz unerwartet in die Arme der Gräfin. Wir vermutheten nichts weniger als plötzlichen Tod; allein ihre Augen erhielten die Richtung der Verklärten, und zwei Zuckungen, welche unmittelbar darauf erfolgten, vollendeten den Hintritt.

Hatte Alfieri's Vorlesung die Herzogin getödtet, so war Alfieri dabei ganz unschuldig. Es giebt Krankheiten, in welchen ein kaltes Lüftchen die Kraft hat, die leidende Maschine einmal für allemal zu zerrütten. Eine ähnliche Bewandniß mußte es mit dem Zustande der Herzogin [311] haben. Die Gräfin, wie tief sie auch von dem Tode unserer gemeinschaftlichen Freundin verwundet war, behielt ihre ganze Klarheit und vergoß daher keine Thräne. Was mich betrifft, so gesteh' ich, daß die Plötzlichkeit des Todesfalles verwirrend auf mich zurückwirkte, und das Gefühl der Ohnmacht so bestimmt in mir aufregte, daß ich weinen mußte, um mir wieder klar zu werden. Unendlich mehr, als ich, war der Graf Vittorio ergriffen; die Kindlichkeit seines Gemüthes zeigte sich bei dieser Gelegenheit in ihrer ganzen Stärke. Er, der in seinen Trauerspielen den Tod so oft vorbereitet hatte, daß man hätte glauben sollen, er sey in der Wissenschaft der Gesetze, nach welchen der Tod erfolgen muß, abgehärtet worden – er ertrug den vorliegenden Fall so ungeduldig, als ob er unter uns das einzige Weib gewesen wäre. So wenig hatte er das Wesen der Herzogin ergründet, daß [312] er darauf bestand, sie lebe noch, und durch diese kühne Behauptung uns in die Nothwendigkeit setzte, die geschicktesten Ärzte herbei zu rufen. Überflüssige Maaßregel! Sie, die kein Arzt hätte retten können, weil ihre Krankheit über alle Hülfe hinaus war, wurde von den Ärzten für vollkommen todt erklärt, und wohl hatte die Gräfin Recht, wenn sie sagte: »Wie konnte sie noch länger leben, da sie am Ziele war?« Auch bin ich überzeugt, daß die Herzogin, wenigstens in den letzten Tagen ihres Daseyns, eine Ahnung von dem nahen Aufhören desselben hatte; denn, obgleich ihre ehemaligen Verhältnisse mit ihrem Gemahl ganz in ihrer Erinnerung untergegangen waren, so gedachte sie doch noch des Sohnes, dem sie das Leben geschenkt hatte, und schmeichelnd bat sie mich, Erkundigungen von seinem Befinden einzuziehen. Dies würde nicht geschehen seyn, hätte sie nicht die Abnahme [313] ihrer physischen Kräfte gefühlt, und hätte dies Gefühl sie nicht getrieben, der Mütterlichkeit den letzten Tribut zu bringen; denn es ist nun doch einmal die Mutter, die in einem vollendeten Weibe zuletzt stirbt.

Von der Leichenbestattung der Herzogin kein Wort, so glänzend sie auch war, da die Fürstin für eine gute Catholikin ausgegeben wurde, und die römische Geistlichkeit keine Ursache fand, diese Unwahrheit zu bestreiten. Ihr Tod wirkte vorzüglich in sofern auf mich zurück, als er das Verhältniß zerriß, in welchem ich bisher mit Vittorio Alfieri gestanden hatte. Nicht daß ich ihm nicht theuer geblieben wäre; ich blieb ihm alles, was ich ihm jemals gewesen war. Allein die Gräfin war der Zeit nach seine erste Liebe, und mußte es auch dem Range nach bleiben, weil die Unendlichkeit, die in ihr war, durch kein anderes Weib ersetzt werden [314] konnte. Auch die Gräfin ihrer Seits fühlte sich wieder an Vittorio angezogen, da die Herzogin nicht mehr war. Ich stand von nun an zwischen beiden in der Mitte, gleichsam als Dolmetsch ihres gegenseitigen Interesses. Sie baten mich, mit ihnen nach Florenz zurück zu gehen, und ich that es in Ermangelung eines besseren Schicksals. Mehrere Jahre blieb ich bei ihnen, und war ein Zeuge von Alfieri's steigender Verwirrung und Luisa's wachsender Klarheit. In diesem Zeitraume verheirathete ich meine Pflegetochter mit dem Professor D..., einem Deutschen, dessen Bekanntschaft ich in Rom gemacht hatte, wo er jene lieb gewann und nicht eher rastete, als bis ich ihm erlaubte, sie zu ehelichen und mit nach Deutschland zurück zu nehmen.

Der Prätendent von England war indeß gestorben und bald darauf die französische Revolution ausgebrochen. Die Felsenmasse [315] die bisher auf Vittorio Alfieri's Brust gelegen hatte, wurde durch diese beiden Ereignisse versprengt; denn das erstere erfüllte alle die Wünsche, die er in Beziehung auf die Gräfin unterhalten hatte, und durch das letztere glaubte er alle seine politischen Ideale der Realisirung nahe. Den Cothurn von sich schleudernd, faßte er den Entschluß, nach Frankreich zu gehen und ein Bürger der neuen Republik zu werden. Die Gräfin d'Albania war leicht beredet, ihm dahin zu folgen; denn von allen gleichgültigen Dingen war der Ort ihrer Existenz ihr das gleichgültigste. Auch ich sollte mit nach Frankreich gehen; da mir aber die Franzosen noch immer zuwider waren, und alles, was ich jetzt noch lieben konnte, sich in Deutschland befand, so entschuldigte ich mich so gut, als möglich, indem ich versprach, daß ich erst eine Reise in mein Vaterland machen und alsdann meine Freunde in Paris aufsuchen [316] wollte. Beide gingen über Turin nach Lyon, von wo aus sie ihre Wallfahrt nach der Hauptstadt des Reiches fortsetzten. Ich begab mich in die pisanischen Bäder, um daselbst neue Bekanntschaften anzuknüpfen, und mit diesen nach Deutschland zurück zu gehen. Hier war es, wo ich meine Eugenia zuerst kennen lernte. Ehe ich aber in meiner eigenen Geschichte fortfahre, muß ich noch einen Blick auf die Gräfin d'Albania und den Grafen Vittorio Alfieri werfen.

Nur Weniges hab' ich seit meiner Trennung von beiden erfahren. Die erstere kehrte nach Italien zu rück, sobald die Revolution eine blutige Wendung genommen hatte. Der letztere blieb in Paris, bis alle seine Erwartungen getäuscht waren. In einer feurigen Ode besang er die Zerstörung der Bastille; in einer noch feurigern den Umsturz des Thrones. Als aber der Schrecken eintrat, da siegte [317] seine Menschlichkeit über alle seine Ideale. So groß wurde sein Abscheu vor allem, was um ihn her vorging, daß er sich mehr, als jemals, in der Einsamkeit begrub. Sich zu zerstreuen, lernte er Griechisch, und hätte ein Künstler aus ihm werden können, so würde es unter diesen Umständen geschehen seyn. Doch die heitere Region der Kunst sollte ihm ewig verschlossen bleiben. Anstatt sich von den Schlacken der Aristokratie zu reinigen, wurde er trübsinnig und schwermüthig; und wie konnte dies ausbleiben, da von allem, was er geahnet hatte, das Gegentheil erfolgte und sein ganzes System über den Haufen geworfen wurde? Nach einem achtjährigen Aufenthalte in Frankreich kehrte er nach Florenz zurück, wo die Gräfin d'Albania unterdessen gestorben war. Hier lebte er seitdem zerbrochenen Herzens als ein von seinen Idealen Verlassener. Hat er nicht selbst die Dauer [318] seines Lebens abgekürzet, so ist er wenigstens nicht ungern gestorben. Wenige Menschen haben im Kampfe mit sich selbst mehr gelitten. In einem Sonnet, das ich sorgfältig aufbewahre, weil er es zu einer Zeit machte, wo er mit sich selbst höchst unzufrieden war, redet er sich also an:


Uom, sei tu grande, o vil?


Und seine Antwort ist:

Muori; il saprai.


Aber der unglückliche Mann ist nie hinter das Geheimniß gekommen, das ihn einzig beschäftigte; denn nie konnte er seiner Verwirrung Meister werden; sie mußte ihn tödten. Ich habe oft gedacht, daß Alfieri in jenen Zeiten, wo das Feudalwesen in seiner Blüthe dastand, ein herrlicher, hoch hervorragender Mann gewesen seyn würde. Nicht die Feder, sondern Lanze und Schwert waren ihm, allen seinen Anlagen nach, vom Schicksal [319] beschieden; sein großes Unglück war daß seine Existenz in Zeiten fiel, wo sich von beiden kein Gebrauch mehr machen läßt. Sanft ruhe seine Asche; sie ruhe um so sanfter, weil alle Stürme, die sein Daseyn zerrütteten, innere Stürme waren, deren Wuth sich nicht beschwichtigen ließ. Selbst Bonaparten, der das Problem der französischen Revolution so vollständig gelöset hat, mußte Alfieri hassen, weil er nicht an seiner Stelle war.

Gleich bei der ersten Bekanntschaft fühlte ich mich unwiderstehlich an Eugenien angezogen. Es war ihre Physiognomie, was mir die Versicherung gab, daß wir Freundinnen werden könnten; und da dieser Bürge sich in diesem, wie in jedem anderen Falle, bewährt hat, so so seh' ich mich genöthigt, hier einen Theil meines Systemes in Ansehung freundschaftlicher Verbindungen zu enthüllen. Ich werde von der einen Seite sehr viel Mühe [320] haben, mich deutlich zu machen, und von der andern, gegen alle meine Neigungen, zu einer (wenn gleich kurzen) Dissertation über das Verhältniß der Physiognomie zur Freundschaft hingerissen werden. Allein ich muß mich jener Beschwerde und diesem Übelstande unterwerfen, wofern meine Bekenntnisse nur einigermaßen vollständig ausfallen sollen.

Eine längere Zeit hindurch folgte ich in freundschaftlichen Verbindungen einem gewissen Instinkte, welcher mir sagte, daß mit diesen oder jenen Personen ein gutes Verhältniß für mich möglich oder unmöglich sey, weil ihre Physiognomie irgend eine Wendung hatte, die mich anzog oder zurückschreckte. Das Wunderbare hierbei war, daß sich, bei genauerer Bekanntschaft mit eben diesen Personen, beständig fand, daß die Aussage meines Instinktes eine sehr zuverlässige gewesen war. Eben deswegen wünschte ich alles Dunkle aus diesem [321] Instinkte zu verbannen. Allein wie das, was bisher bloßes Gefühl, und zwar ein sehr verworrenes Gefühl, gewesen war, in eine Formel verwandeln, die ich auf jede mir vorkommende neue Physiognomie anwenden könnte?

Daß die Physiognomie selbst nur etwas Symbolisches sey, leuchtete mir sehr bald ein. Eben so begriff ich ohne Mühe, daß sie als etwas Symbolisches nur auf das Gefühl wirken könnte. Wollte ich nun das Gefühl in Idee und den Instinkt in haltbare Formel verwandeln, so blieb mir nichts anderes übrig, als das Symbolische aus der Physiognomie fortzuschaffen, und, wo möglich, in ihr den inneren Zustand des einzelnen Menschen, dessen bloßer Typus sie war, zu erkennen und zu begreifen. Ich sagte mir selbst, daß dies nur auf dem Wege einer sehr genauen Analyse aller meiner Erfahrungen über einzelne Menschen geschehen könnte.

[322] Indem ich nun über diesem Gedanken rastlos brütete, gelangte ich dahin, zwei Grundkräfte im Menschen zu unterscheiden, die eine durch Gemüth, die andere durch Geist zu bezeichnen, und die letzte Bestimmung jedes menschlichen Individuums in die Harmonie dieser beiden Grundkräfte zu setzen. Die Menschen unterschieden sich demnach sehr wesentlich von einander, je nachdem sie mehr Gemüth, oder mehr Geist, oder Gemüth und Geist in Harmonie gesetzt, waren. Da, wo das Gemüth den Ausschlag gab, mußte ein rastloses Streben nach freundschaftlichen Verbindungen statt finden; allein, da in dem Gemüthe keine regulirende Kraft enthalten ist, so konnten die Gemüthreichen weder diskrete, noch standhafte und zuverlässige Freunde werden; sie mußten, vermöge ihrer ganzen Eigenthümlichkeit, immer zu unerfüllbaren Ansprüchen aufsteigen, und sich und ihre [323] Freunde dadurch um den Genuß der eigentlichen Freundschaft bringen; es waren, um alles mit einem Worte zu sagen, nur Passaden in der Freundschaft mit ihnen möglich. Da, wo der Geist den Ausschlag gab, war an gar keine freundschaftliche Verbindung zu denken; denn der Geist ist sich unter allen Umständen selbst genug, und, von dem Gemüthe getrennt, mehr eine umherschweifende, als regulirende Kraft. Nur da, woGemüth und Geist in Harmonie gesetzt sind, war eigentliche Freundschaft möglich, wiewohl nur immer unter der Bedingung, daß zwei gleichartige Wesen zusammen trafen; denn das bloße Gemüth des Freundes würde eben so zerstörend auf die Harmonie zurück gewirkt haben, als der bloße Geist desselben.

Mit diesen Grundbegriffen war ich im Stande, mir alle physiognomische Räthsel zu lösen. Die Idee festhaltend, daß die [324] Physiognomie immer nur etwas Symbolisches oder Typisches sey, sagte ich zu mir selbst: »Da, wo das Gemüth vorherrscht, muß die Physiognomie unregelmäßig und verworren seyn; aus keinem anderen Grunde, als weil es an der regulirenden Kraft gebricht, welche einen bestimmten Charakter wirkt. Da, wo der Geist, vom Gemüthe verlassen, wild umherschweift, wird freilich keine Unregelmäßigkeit und Verworrenheit sichtbar werden, allein der Physiognomie wird es an allem Adel fehlen, und ihre anziehende Kraft gänzlich vernichtet seyn. Nur da, wo Gemüth und Geist in Harmonie stehen, wird man im Antlitz des Menschen das Siegel seiner Oberherrlichkeit entdecken; und was auch der Zufall thun mag, ein solches Meisterstück der plastischen Natur zu verunstalten, so wird es ihm doch nie gelingen, den Charakter desselben aufzuheben, weil dieser auf etwas Innerem [325] beruhet, das über allem Zufall erhaben ist.«

Man urtheile über dies Räsonnement, wie man wolle, für mich ist es so hinreichend, daß ich aufrichtig bekenne, es vertrete bei mir die Stelle mathematischer Evidenz. Nie hat es mich irre geleitet, und eine große Menge von Erscheinungen hab' ich mir nur auf diesem Wege erklären können.

Dahin gehört, daß eben die Nation, der wir das schöne Ideal verdanken, für die Freundschaft so ausschließend vorhanden war, daß sie mit einem besonderen Sinne dafür ausgestattet schien. Allerdings hatte sie diesen besonderen Sinn; aber er lag in der Harmonie des Gemüths und des Geistes, welche den Griechen eigen und unstreitig das Resultat ihrer gesellschaftlichen Institutionen war. Dieselbe Harmonie aber, wodurch sie der wahren Freundschaft empfänglich wurden, [326] wirkte auf ihre Gesichtsbildung und auf ihren ganzen Körperbau so zurück, daß sie vorzugsweise in den Besitz der physischen Schönheit kommen mußten, und einer ihrer Philosophen vollkommen berechtigt wurde, zu behaupten: »Eine schöne Seele könne nur in einem schönen Körper wohnen.«

Wie verschieden von der griechischen Physiognomie ist die italiänische und die französische! In der ersteren lauter Carrikatur, wenn gleich nicht selten erhabene und höchst interessante Carrikatur; meiner Theorie nach, aus keiner anderen Ursache, als weil in dem Italiäner, von alten Zeiten her, das Gemüth den Ausschlag gegeben hat. In der letzteren bei weitem weniger Carrikatur, aber zugleich auch beinahe gar keine Spur von Erhebung und innerer Größe, weil in dem Franzosen das Gemüth dem Geiste weicht, und dieser, von dem Gemüthe verlassen, sich [327] immer nur in witzigen Combinationen, nie in großen, viel umfassenden Ideen offenbaret. Vermöge dieses wesentlichen Unterschiedes ist der Italiäner für die Freundschaft unendlich empfänglicher, als der Franzose; nur daß jener durch die Heftigkeit seines Gemüthes sie unaufhörlich zerstört, während dieser sie zu einem Spielwerk macht, worüber der Muthwille schaltet. Die edelste französische Physiognomie, welche mir jemals vorgekommen ist, hat Racine, so wie er von den Künstlern gewöhnlich dargestellt wird. Auch bin ich vollkommen überzeugt, daß dieser Mann der wahren Freundschaft fähig war. Wäre ich seine Zeitgenossin gewesen, so würde ich mich mit ihm verbunden haben, hätte ihn gleich die ganze Welt treulos und falsch genannt; er konnte es nicht seyn, sobald er einen Gegenstand antraf, an welchem sich die Harmonie seines Gemüthes und Geistes, wovon seine Physiognomie[328] immer nur das Symbol war, offenbaren konnte.

Um bei diesem Gegenstande nicht allzulange zu verweilen, will ich nur noch eine artistische Bemerkung machen, die mir von einiger Bedeutung scheint. Sie besteht darin, daß der Streit, ob die Schönheit oder der Charakter der eigentliche Vorwurf der schönen Kunst sey? ein sehr unnützer Streit ist, weil es, nach allem bisher Gesagten, am Tage liegt, daß die Schönheit als etwas Sichtbares, nur immer das Resultat einer inneren Harmonie ist, die in sich selbst einen Charakter bildet, und zwar den höchsten, den es geben kann. Der Charakter ist also eben so sehr ein Vorwurf der schönen Kunst, als die Schönheit, oder vielmehr, beide sind in Beziehung auf die schöne Kunst eins und dasselbe, so daß der Künstler nie etwas anderes thut, als das Symbol der inneren Harmonie zwischen Gemüth und [329] Geist darstellen. Das Ideal des Schönen wäre demnach nichts weiter, als der Abdruck dessen, was von der inneren Harmonie äußerlich sichtbar wird, und daber versteht sich ganz von selbst, daß jeder Charakter, dessen Wesen nicht mehr auf innerer Harmonie beruht, aufhört, ein Vorwurf der schönen Kunst zu seyn; denn sonst würde Carrikatur und Häßlichkeit mit Harmonie und Schönheit einerlei werden müssen.

Genug von meiner Lebensphilosophie und meinem Kunsttakt. Es kam blos darauf an, begreiflich zu machen, wie ich mich für Eugenien so lebhaft interessiren konnte, ohne sie jemals gesehen oder von ihr gehört zu haben. Die anziehende Kraft, die sie an mir ausübte, brachte uns sehr bald näher; und ich glaube mit Wahrheit behaupten zu können, daß wir Freundinnen waren, ehe wir uns dem Namen nach kannten. Erst am dritten Tage [330] unserer Bekanntschaft entdeckte sichs, daß wir beide geborne Deutsche waren; denn bis dahin hatten wir nur Französisch gesprochen, und uns in dieser Sprache über jedes höhere Interesse, das Menschen an einander kettet, einverständigt. War es mir angenehm, in Eugenien ein Weib kennen zu lernen, dem ich mich aufschließen konnte; so war die Freude Eugeniens über diese Entdeckung in Beziehung auf mich nicht geringer. Ob ich gleich um mehrere Jahre älter war, als meine neue Freundin; so verschwand doch der Unterschied des Alters vor unseren Augen. Was unserer Verbindung eine so plötzliche Innigkeit gab, daß wir von dem ersten Momente unserer Bekanntschaft an unzertrennlich waren, ist etwas, das sich nur dann wird sagen lassen, wenn die menschliche Sprache einen weit höheren Grad von innerer Vollkommenheit erreicht haben wird. Genug, daß das Interesse, [331] welches wir an einander fanden, von dem gewöhnlichen wesentlich verschieden war. Wären wir Männer gewesen, so würden wir uns gegenseitig achten gelernt haben; in dieser Achtung aber hätte unser Verhältniß seinen höchsten Charakter gefunden. Da wir Weiber waren, so mußte zu der Achtung sich noch die Liebe gesellen und unsere Freundschaft um so vollkommner werden. Denn für den Mann, der, es sey durch welches Talent es wolle, immer seinen Stützpunkt in der ganzen Gesellschaft hat, ist die Freundschaft mehr Luxus als Bedürfniß, während sie für ein Weib, das in der ganzen Gesellschaft nie einen Stützpunkt haben soll, ein um so stärkeres Bedürfniß ist, wenn das Weib auch der männlichen Unterstützung ermangelt. Freundschaft unter Weibern ist nur darum so selten, weil sie in der Regel in der Geschlechtsliebe untergeht; ein Fall, in welchem sich keine von uns beiden befand.

[332] Wenn Personen sich einander mit Vertrauen nähern, so ist das Erste, daß sie sich gegenseitig ihre Geschichte erzählen; und ob dies gleich in der Regel sehr absichtslos geschieht, so offenbart sich doch auch hierin das Eigenthümliche der menschlichen Natur, die, weil sie nicht auf einmal wird, was sie werden kann, über sich selbst nur dadurch Aufschluß zu geben vermag, daß sie aussagt, wie sie allmählig zu Stande gebracht worden ist. Auch zwischen Eugenien und mir fand diese Art von Mittheilung statt, und Eugeniens Entwickelungsgeschichte war im Wesentlichen folgende:

Mit großer Sorgfalt erzogen, hatte sie sich in einem Alter von siebzehn Jahren durch ihre Mutter bereden lassen, einem funfzigjährigen Manne, der sich in ihre Unschuld verliebte, ihre Hand zu geben. »Auch mein Herz,« fügte sie hinzu, »würd' ich hingegeben haben, wenn [333] dies von meinem Willen abgehangen hätte. Nicht als hätte ich einen Anderen geliebt; denn in einem solchen Falle würde keine Macht der Welt im Stande gewesen seyn, mir eine meinen Neigungen entgegen strebende Richtung zu ertheilen. Sondern weil der Unterschied der Jahre ins Mittel trat, und ich an meinem Manne nicht lieben konnte, was er an mir liebte. Dies verschlug indessen für die Solidität unsers Verhältnisses sehr wenig. Da mein Mann in jedem Betracht achtungswürdig war, so fand er meine ganze Hochachtung; und in so weit die Liebe durch diese ersetzt werden kann, hat er gewiß nie das Mindeste entbehrt. Etwas Eigenthümliches an ihm war, daß er nicht aufhörte, sich über meine Kälte zu beklagen; allein diese Klage berührte mich sehr wenig von dem Augenblick an, wo ich einsah, daß das, was er meine Kälte nannte, seiner Wärme sehr nothwendig war, und wo ich mich [334] über unser Verhältniß hinlänglich orientirt hatte, um zu wissen, was sich daraus machen ließe, und was nicht. Im Grunde war es auch nur eine Art von Laune, welche meinem Manne diese Klagen eingab; denn im Ganzen genommen lebten wir zufrieden und vergnügt, bis der Moment eintrat, der uns für immer trennen sollte. Dies geschah, nachdem wir eilf Jahre zusammen verlebt hatten. War es nun die Überzeugung, daß ich nie an einen anderen Mann gerathen könnte, der mich aufrichtiger liebte, als er, oder lag seiner Forderung irgend eine andere moralische oder religiöse Idee zum Grunde, die mir nicht ganz deutlich geworden ist – genug mein Mann verlangte auf seinem Sterbebette, daß ich mich nie wieder vermählen sollte; und sobald ich ihm mein Wort gegeben hatte, band er an die gewissenhafte Erfüllung desselben den Besitz seines ganzen Vermögens, von welchem [335] mir nur ein bedeutender Theil werden konnte, wenn die Ansprüche einiger Verwandten in Betrachtung gezogen wurden. Nach seinem Tode entstand die Frage, ob ich verbunden sey, mein Versprechen zu halten. Die Jurisprudenz sprach mich davon los, weil die ganze Sache meinem Gewissen überlassen war; da ich aber mein Versprechen nicht aus Eigennutz gegeben hatte, und in mir selbst auch nicht die allermindeste Versuchung wahrnahm, über die freiwillig gesetzte Schranke hinauszugehen, so mochten mich meine Verwandten noch so sehr für den einen oder den andern Bewerber interessiren, ich blieb meinem Vorsatz, Wittwe zu seyn, nicht minder getreu. Einmal sagte ich zu mir selbst, daß derjenige, der ein freiwillig geleistetes Versprechen, das er halten kann, nicht hält, gewissermaßen zum Mörder seiner Moralität wird. Zweitens war es mir sehr problematisch, ob ich in einer [336] zweiten Ehe finden würde, was ich in der ersten hatte entbehren müssen. Zwar hatte ich es jetzt in meiner Gewalt, zu verhindern, daß der Unterschied der Jahre die Gleichheit der Gefühle nicht aufhob; allein lag nicht in dem Mittel, das ich zu diesem Endzweck anwenden konnte, ein anderes noch wesentlicheres Hinderniß der Gleichheit? Ehemals hatten persönliche Eigenschaften mich wählbar gemacht. Diese waren zwar nicht verschwunden; allein neben ihnen standen staatsbürgerliche Vorzüge von solcher Bedeutung, daß es ungewiß wurde, welche von beiden in einen höheren Anschlag gebracht würden. Ich verabscheuete aber nichts so sehr, als den Gedanken, einen Mann so sehr in Widerspruch mit sich selbst zu setzen, daß ein Heuchler aus ihm werden mußte. Überall konnt' ich nie gewinnen, wohl aber verlieren. Dies gerade machte mich vorsichtig. Um aber meinen Vorsatz desto [337] leichter auszuführen, faßte ich den Entschluß, bis zu einem gewissen Alter nirgend häuslich zu seyn; und kraft dieses Entschlusses haben Sie mich zu Pisa angetroffen, nachdem ich schon seit einigen Jahren umhergereiset bin, die Welt, die ich sonst nur in dem kleinsten Fragment gekannt habe, mehr im Großen kennen zu lernen. Es ist nicht die zweite Ehe, der ich aus dem Wege gehe, sondern die unglückliche Ehe; denn die Ehe selbst ist nach allen Erfahrungen, die ich darüber zu machen Gelegenheit gehabt habe, so wie das natürlichste und einfachste, so auch das genußreichste und edelste aller Verhältnisse, in welches ich ohne Bedenken zurücktreten würde, wenn ich glauben könnte, daß es für mich einen so unschuldigen Gatten gäbe, als ich eine unschuldige Gattin seyn würde.«

Die letzte Bemerkung Eugenia's bezog sich auf neue Heirathsvorschläge, welche [338] ihr in Pisa waren gemacht worden. Ob sie darauf eingehen sollte, oder nicht, darüber war sie nicht länger zweifelhaft, sobald der Zufall uns zusammen gebracht, und eine gewisse Sympathie uns mit einander verbunden hatte. Da sie keinen Beruf fühlte, noch länger in Italien zu verweilen, und ich von einer unbestimmten Sehnsucht in mein Vaterland zurückgetrieben wurde; so vereinigten wir uns leicht, durch das Tyrolische nach Wien zu gehen. Unsere Abreise ging vor sich, sobald die Badezeit vorüber war. Wir kamen ohne Abentheuer in der Kaiserstadt an; und weil der Aufenthalt in den Hauptstädten für Personen, die der Beobachtung noch nicht überdrüßig geworden sind, immer mit großen Reizen verbunden ist, so nahmen wir uns vor, einige Jahre unter den Wienern zu verleben.

Schwerlich hätten wir uns an irgend einem anderen großen Orte so theuer [339] werden können, als in der Hauptstadt der österreichischen Staaten. Hier lebten wir gewissermaßen wie in einer Einöde. Denn nicht genug, daß die Kraft der Hauptstadt eben so auf uns zurückwirkte, als auf die übrigen Bewohner derselben, in sofern sie uns isolirte, fanden wir durch Alles, was wir unsere Eigenthümlichkeit nennen konnten, ein besonderes Hinderniß freundschaftlicher Verbindungen. Dies war die mit Recht verschriene Sinnlichkeit des Volks, unter welchem wir lebten; eine Sinnlichkeit, über welche wir hinaus waren, und die wir eben deswegen weder theilen noch achten konnten. Ist von den geselligen Tugenden der Wiener die Rede, so lasse ich ihnen alle Gerechtigkeit widerfahren; sie sind gastfreundschaftlich und bieder, wie kein anderes Volk, das ich kennen gelernt habe. Allein in diesem Kreise dürften auch alle ihre Vorzüge eingeschlossen seyn; denn sobald von etwas [340] Höherem die Rede ist, strengen sie sich vergeblich an, es zu fassen, und erliegen ihrem geistigen Unvermögen nur allzubald. Mit dem besten Willen, nur Deutsche zu frequentiren, sahen wir uns genöthigt, unseren Geselligkeitstrieb im Umgange mit französischen Ausgewanderten zu stillen, wofern wir nicht ganz auf uns zurückgebracht seyn wollten.

Jahr und Tag war auf diese Weise verflossen, als die französische Gräfin C... sich enger an uns anzuschließen begann. Hätte sie es mit mir allein zu thun gehabt, so würde ihr die Lust dazu nach den ersten Versuchen vergangen seyn; denn meine physiognomische Formel sagte mir gleich bei der ersten Bekanntschaft, daß diese Frau, obgleich, vermöge ihres sehr gebildeten Verstandes, für den Umgang wie geschaffen, zu denjenigen gehöre, mit welchen man sich in kein bleibendes Verhältniß einlassen muß, weil sie seiner unwürdig [341] sind. Da Eugenia aber zwischen uns beiden stand, so war von ihrer Seite der Versuch zu wagen, von der meinigen zu erdulden. Ich war höchst begierig, die Triebfedern kennen zu lernen, welche sie in Bewegung gesetzt hatten; allein wie gespannt auch meine Aufmerksamkeit auf alle ihre Reden seyn mochte, so konnte ich doch eine längere Zeit hindurch nichts Unedles entdecken; und da meine Freundin mir den Vorwurf machte, daß ich in meinem Mißtrauen zu weit ginge, so wurde ich nach und nach sogar geneigt, an der Wahrheit meiner Regel wenigstens in sofern zu zweifeln, als ich einzelne Ausnahmen gestattete.

Die Gräfin war weit häufiger bei uns, als wir bei ihr; die Ursache lag in ihrer gegenwärtigen Lage, wel che eine strenge Ökonomie nothwendig machte. Wie selten wir uns aber auch bei ihr zeigen mochten, so hatten wir doch nie das Vergnügen, irgend [342] eine Spur von Reinlichkeit und Ordnung bei ihr zu finden. Eugenia verzieh auch dies, wiewohl sie eingestand, daß alles anders seyn würde, wenn die Gräfin aus Einem Stücke wäre. Ich mochte also noch so deutlich zu erkennen geben, daß wir durch eine engere Verbindung mit dieser Frau unserem Wesen entsagten; meine Winke waren verloren, und Eugenia schien sogar ein gewisses Ergötzen daran zu finden, daß sie eine Frau kennen gelernt hatte, welche alle Weiblichkeit in den Wind schlug und das Gemüth unter die Füße trat.

Wir mochten unsere Besuche drei bis viermal wiederholt haben, als wir bei der Gräfin eine gewisse Aurora kennen lernten, welche, um alles mit einem Worte zu sagen, die Gräfin in Ungebundenheit des Geistes noch übertraf, wiewohl es mir nicht entgehen konnte, daß sie sich, uns gegenüber, nicht wenig Gewalt anthat. [343] Talentvoller und einschmeichelnder kann übrigens kein Weib seyn, als diese Aurora es war. Zu einer Tassonischen Armida fehlte ihr die Schönheit; allein wer hätte diesen Mangel nicht verziehen, wenn er nur ein einzigesmal ein Zeuge ihrer heitern Laune, ihres sprudelnden Witzes, ihrer Sarkasmen auf sich selbst und der Kindlichkeit war, womit sie gelobte sich zu bessern? Alle Männer waren von Auroren wie bezaubert, und die Weiber trösteten sich mit dem Besitz soliderer Eigenschaften, welche Aurora keiner von ihnen streitig machte.

Wir wurden auf die Bekanntschaft des Chevalier de B... vorbereitet, und nicht lange darauf führte die Gräfin ihn bei uns ein. Ein schöner Mann, wenn von bloßem Wuchse die Rede ist! In seinen Mienen lag etwas Hartes, das er vergeblich durch Geschliffenheit und gut gewandte Phrasen zu mildern suchte. Er [344] behauptete – und seine Manieren bewiesen es unwidersprechlich – daß er bis zum Ausbruche der Revolution in den besten Cirkeln der Hauptstadt gelebt und mit dem Hofe durch die Prinzessin Lamballe in der engsten Verbindung gestanden habe; aber seine Auswanderung motivirte er so schlecht, daß er dem Titel eines Chevaliers die größte Schande machte. Übrigens war seine Parthie gleich nach der ersten Bekanntschaft genommen. Um nämlich Eugenien mit Erfolg den Hof machen zu können, glaubte er mich mit tausend Artigkeiten überschütten zu müssen. Was ihm durchaus nicht klar werden wollte, war das Verhältniß, worin wir standen. Denn anstatt Eugeniens Freundin in mir zu sehen, betrachtete er mich fortgesetzt in dem Lichte einer Duenna, und indem er mich als eine solche behandelte, konnte er nicht verfehlen, mir alle Vorsichtigkeit einer Duenna einzuflößen und [345] sich dadurch selbst zu schaden. Nur allzuoft ist es im Leben der Fall, daß die Combinationen der Listigen in sich selbst zusammenstürzen, weil sie nicht umfaßt haben, was sie zu ihrem eigenen Gedeihen umfassen sollten; und es ist mehr als merkwürdig, daß es, um solche Menschen mit Erfolg zu beherrschen und zu seinen Zwecken zu leiten, nur einer Ehrlichkeit bedarf, die alle List überflüssig macht.

Für einen unbefangenen Einsichtsvollen hätte es ein Schauspiel ganz eigener Art seyn müssen, zwei deutsche Frauen ihre Eigenthümlichkeit gegen die Angriffe vertheidigen zu sehen, welche von zwei sehr gewiegten Französinnen, die von einem eben so gewiegten Franzosen unterstützt waren, darauf gemacht wurden. Ich will unsere Gegner nicht beschuldigen, daß sie es darauf anlegten, uns zu demoralisiren; eine solche Absicht zu haben, hätten sie sich in ihrer wahren Gestalt erkennen [346] müssen, welches durchaus nicht der Fall war. Allein die Demoralisation mußte ganz von selbst erfolgen, sobald wir nachgiebig genug waren, uns von ihnen gebieten zu lassen. Und wie dies vermeiden? Die Unwiderstehlichkeit der Franzosen besteht gerade darin, daß sie es in der Kunst des Ausweichens so weit gebracht haben; sie respektiren, dem Scheine nach, jede ihnen gegenüberstehende Individualität, weil sie wissen, daß man sich ihrer durch nichts so leicht bemächtigt, als durch diesen scheinbaren Respekt. Am allergefährlichsten war Aurora. Nach einem gewissen Maaßstab genommen, gab es für sie gar keine Tugend; allein sie beschönigte alle ihre Laster oder Schwächen dadurch, daß sie kein Geheimniß daraus machte, und so oft die Sache ernsthaft zu werden begann, über sich selbst plaisantirte. Zwischen der Gräfin und dem Chevalier in der Mitte stehend, war sie [347] ein ausgesuchtes Werkzeug zur Erreichung jedes egoistischen Zweckes; denn so vollkommen war alles edlere Gemüth in ihr ausgestorben, daß sie sich den größten Abscheulichkeiten preisgegeben haben würde, ohne nur eine Ahnung davon zu haben, daß es Abscheulichkeiten wären. Bewundernswürdig war es, daß alle diese Personen sich mit Idealen trugen, welche nie von ihnen wichen; allein sie blickten darauf hin, wie auf das goldene Zeitalter, und Asträa war für sie auf immer entflohen. Unpartheiisch gesagt, fanden sie alles, was einen Werth in ihren Augen haben konnte, in uns wieder, und die Art des Interesses, welches sie für uns fühlten, mochte zuletzt nur darauf beruhen, daß wir ihre Gegensätze waren; allein, um dies anzuerkennen, hätten sie aus dem Gespinnst heraustreten müssen, womit sie sich umgeben hatten; und so weit reichte ihre Kraft nicht.

[348] Über alle Veredelung hinaus, konnten sie es immer nur darauf anlegen, uns in ihren Wirbel zu ziehen; und für uns bestand die Aufgabe darin, wie wir uns in unserem eigenen Wirbel halten möchten. Eugenien schien die Gefahr minder groß, als mir. Als ich sie eines Tages auf das Verhältniß aufmerksam machte, worein wir gerathen waren, antwortete sie mir: »Wir hätten es ja in unserer Gewalt, dies Verhältniß aufzuheben, sobald wir es für gut befänden. Sie selbst sähe sehr deutlich ein, daß sie dadurch nie gewinnen könnte; allein so lange der Verlust erträglich wäre, würde sie nicht brechen, weil sie doch einigen Ersatz in dem Geistesreichthum dieser Personen fände. Überall begriffe sie nicht, wie wir den längeren Aufenthalt in der Kaiserstadt ohne diesen Umgang ertragen wollten. Das Casperle zu besuchen, fühlten wir uns zu gut, und ganz und gar in die [349] Einsamkeit zurück zu treten, wäre weder heilsam noch unseren Planen entsprechend. Wie wenig Terrain der Chevalier bei ihr gewönne, davon wäre ich selbst Zeuge. Nur Aurora amüsire sie, als ein Wesen, das mit der ganzen Gesellschaft gebrochen habe und noch immer den Ausschlag geben wollte. Es gäbe ja zuletzt kein anderes Mittel, zum Gefühl seines Werthes zu gelangen, als der Umgang mit Personen dieser Art, die sich so treuherzig beredeten, die Geburt habe alles für sie gethan.«

So lange Eugenia dieser Ansicht getreu blieb, konnte ich ganz ruhig seyn. Ich störte also den Chevalier auf keine Weise in seinen Bewerbungen um meine Freundin, und sah es ruhig an, wie Aurora, anstatt die Ungebundenheit zu predigen, sie auf das allerliebenswürdigste repräsentirte. Meine ganze Aufmerksamkeit war nur darauf gerichtet, welche [350] Wendung diese Verbindung nehmen werde, um einen bestimmteren Charakter zu gewinnen.

Die Gräfin ließ mich nicht lange warten. Nachdem sie einigemale in der Gesellschaft gegähnt hatte, brachte sie das Kartenspiel in Vorschlag. Der Chevalier und Aurora waren nicht abgeneigt davon; und da Eugenia und ich die Wirthe waren, so durften wir uns nicht versagen, wie fremd uns auch der Spielgeist seyn mochte. Als aber die Sache einmal in Gang gebracht war, fand kein Stillstand statt. Wie bedeutend auch unsere Verluste seyn mochten, so durften wir sie nur in dem Lichte solcher Tribute betrachten, welche der Freundschaft dargebracht wurden. Dies war indessen der geringste Nachtheil, den wir von unserer Nachgiebigkeit hatten. Ein nicht zu berechnender stand uns dadurch bevor, daß wir uns durch das Spiel mit unseren Gegnern identifiziren [351] mußten. Es ist nun einmal das Eigenthümliche des menschlichen Geistes, immer dahin zu neigen, wo er die meiste Beschäftigung findet, sollte er sich auch dadurch zerstören. So lange der Austausch von Ideen und Gefühlen unsere einzige Unterhaltung gewesen war, fanden Eugenia und ich darin das Mittel, unsere Individualität gegen jeden Angriff zu vertheidigen. Sobald hingegen alle Unterhaltung in Spiel ausgeartet war, kamen wir in eine so unvortheilhafte Stellung, daß aller Widerstand vergeblich wurde und in sich selbst verging. In der That, man braucht nur aus Neigung zu spielen, um das Gefühl seines Werthes zu verlieren und jeder Erhebung unfähig zu werden; denn indem der Geist seine ganze Kraft auf das Spiel richtet, büßet er sie in Beziehung auf alle edleren Gegenstände ein, auf die sie gerichtet werden könnte.

[352] Indem ich diese Reflektionen machte, war ich auch auf den Rückzug bedacht. Aber wie ihn einleiten? Eugenien zurücklassen und sie dem allerschlimmsten Schicksal preisgeben, war eins; und dies vermochte ich nicht über meine Liebe für sie. Eugenien die Augen öffnen, war mißlich, da das Spiel, welches sie liebgewonnen hatte, zwischen ihr und mir in der Mitte stand, und der freundschaftlichen Wärme, womit sie mir sonst entgegen zu kommen pflegte, nur allzuviel Abbruch that. Ich machte den Anfang meiner Operationen damit, daß ich mich vom Spiele ausschloß und dadurch gewissermaßen aus der Schußweite setzte. Dies mußte sehr übel aufgenommen werden; und dies wurde auch wirklich der Fall. Ohne mich indessen daran zu kehren, spielte ich die Beobachterin. Mir selbst zurückgegeben, bemerkte ich mit Entsetzen, welche Fortschritte durch das Spiel in der Familiarität gemacht [353] waren. Aurora fand es gar nicht mehr der Mühe werth, ihre Gebrechen zu verschleiern; sie sprach darüber, als ob es unmöglich wäre, Verstand zu haben und anders zu seyn, als sie. Der Chevalier hatte das Bischen Galanterie, das ihm vorher eigen gewesen war, an den Nagel gehangen, und behielt nur noch die Manieren eines Glücksritters. Die Gräfin gebot mit einer Unverschämtheit, als ob alle Vorrechte in ihr vereinigt worden wären. Und Eugenia blieb bei allen diesen widerwärtigen Äußerungen immer gelassen, weil sie für den Augenblick die Schärfe des Gefühls verloren hatte, wodurch man gegen fremde Anmaßung empört wird. Ich schauderte vor dem Abgrund zurück, in welchen ich meine Freundin stürzen sah; aber ich hatte nicht den Muth, sie darauf hinzuweisen, so lange sie nicht aus ihrer Gleichgültigkeit hervortrat.

[354] Indessen hatten die Ausgewanderten nicht sobald wahrgenommen, daß ich ihrem Interesse abhold sey, als sie es darauf anlegten, Eugenien von mir zu trennen. Aurora wurde dazu gebraucht, dies Meisterstück der Intrigue zu Stande zu bringen. Niemand hatte dazu mehr Geschicklichkeit; denn niemand war um den Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit weniger verlegen, und niemand verstand sich auf die Kunst des Lächerlichmachens besser, als Aurora. Um aber noch von einer anderen Seite her zu wirken, verstärkten sich die Gräfin und der Chevalier dadurch, daß sie mehrere andere Ausgewanderte bei uns einführten. Dies mochte sich zuletzt ganz von selbst machen, da der Gewinn, den man von Eugenien zog, die Lockspeise war; indessen wurde dadurch immer eine große Mehrheit zu Stande gebracht, in welcher sich Eugenia als die einzige Fremde erscheinen und alle Lust [355] zum Widerstande verlieren mußte. Es war zum Erstaunen, mit welcher Freiheit sich alle diese Personen um meine Freundin hinbewegten. Sie, welche für alle der Mittelpunkt hätte seyn sollen, war nichts mehr und nichts weniger, als die Schußscheibe des Geldinteresses. So vollkommen war man hierüber mit sich selbst einig, daß man aus Poissardensinn gar kein Geheimniß mehr machte.

Ich sah alle diese Manövres mit Gelassenheit an, weil meine Stunde noch nicht geschlagen hatte. Um Eugenien von diesen Vampyren zu befreien, mußte ich den Zeitpunkt abwarten, wo sie sich davon beschwert fühlte. Dieser Zeitpunkt konnte möglicherweise nicht eher eintreten, als bis meine Freundin in Geldverlegenheit gerieth und ihre Zuflucht zu meiner Casse nahm. Ich enthielt mich das erstemal aller Bemerkungen über ihre allzuweit getriebene Nachgiebigkeit; aber das [356] zweitemal legte ich ihr ganz unverholen die Frage vor: Ob sie denn dieses eckelhaften Einerleies nicht überdrüßig würde? Sie betrachtete mich nicht ohne Verwunderung; und als ich kühn genug war, meine Frage zu widerholen, anwortete sie: »Was soll ich machen? Verstrickt, wie ich einmal bin, muß ich mein Schicksal ertragen. Ich selbst fühle wohl, daß ich mich von meiner Höhe herabgeworfen habe; allein wie kann ich es anfangen, sie noch einmal zu erreichen?«

Ohne weder die Gräfin, noch den Chevalier, noch Auroren, noch irgend einen von den Übrigen anzuklagen, stellte ich sie Eugenien als Bedürftige dar, welche sie, aus irgend einem Instinkt, eben so behandelten, als sie ehemals den Hof behandelt hätten, und auf gleiche Weise von ihr abfallen würden, sobald sie nichts mehr zu geben hätte. »Es ist,« fügte ich hinzu, »ganz offenbar die Parasitenkunst, [357] die sie treiben; die eckelhafteste von allen Künsten, die es geben kann, weil sie ihre Grundlage weder im Verstande, noch im Gefühl, sondern in einem dumpfen Egoismus hat, der sich nicht besser zu verschleiern weiß, als dadurch, daß er die Miene annimmt, für das Vergnügen Anderer zu sorgen, während er nur den gröbsten Vortheil im Auge hat. Mag es doch in der Gesellschaft Personen geben, denen ihr Recht widerfährt, wenn sie von einem Parasitenheer umlagert werden; allein zu ihnen zu gehören, kann weder angenehm seyn, so lange man die Wahrheit noch von der Lüge zu unterscheiden weiß, noch ehrenvoll, so lange man noch nicht in leerer Repräsentation untergegangen ist. Meine Freundin muß zu einem neuen Leben erwachen; und dies kann nur dadurch geschehen, daß sie solchem Volke den Rücken weiset und es seinem Schicksal überläßt. Man muß die [358] Kraft haben, einem Umgange zu entsagen, durch welchen man nicht veredelt werden kann; denn sonst läuft man Gefahr, wo nicht selbst verunedelt zu werden, doch wenigstens solche Schrammen und Quetschungen davon zu tragen, daß es unmöglich wird, noch einmal zu einem heitern Lebensgenuß aufzusteigen.«

Recht absichtlich drückte ich mich mit dieser Stärke aus, um einen tiefen Eindruck zu machen. Meinem Vorsatze nach wollte ich mich von Eugenien trennen, so bald sie dadurch beleidigt würde. Dies war aber so wenig der Fall, daß nur von den Mitteln die Rede war, sich aus der Schlinge zu ziehen.

Eugenia wollte sogleich abreisen; dagegen aber hatte ich Mehreres einzuwenden. Vor allen Dingen sollte meine Freundin die Kaiserstadt mit eben so unumwölkter Seele verlassen, als sie in dieselbe eingetreten war. Außerdem aber [359] sollten diese Ausgewanderten, deren Rache ich vorhersah, nicht Raum gewinnen, hinter unserem Rücken zu sagen, was sie für gut befinden würden. Zu diesem doppelten Endzweck schlug ich Eugenien eine Reise in die Gebirgsgegenden Böhmens vor, deren bezaubernde Mannigfaltigkeit alle die peinlichen Gefühle zerstreuen mußte, die ihre Wangen mit Schaamröthe überzogen; zugleich aber bat ich sie, davon nicht eher ein Wort zu sagen, als bis alle Reiseanstalten gemacht seyn würden, und alsdann der Gräfin in einem kurzen Billet außer der Abreise zugleich den Tag der Zurückkunft anzuzeigen. Eugenia gab sich meinen Anordnungen mit der Entsagung vertrauender Freundschaft hin. Nach wenig Tagen waren wir reisefertig. Welchen Eindruck unsere plötzliche Abreise auf die edle Gesellschaft machte, läßt sich nur dann berechnen, wenn man sie in ihrer Gemeinheit kannte. Sie mochte davon [360] eben so betroffen seyn, als die National-Versammlung von der Flucht Ludwigs des Sechzehnten.

Unsere Reise brachte alle die Wirkungen hervor, die ich beabsichtigt hatte, und Eugenia dankte dem Himmel für die Freiheit, die ihr zu Theil geworden war. Zur festgesetzten Zeit kehrten wir nach Wien zurück. Die Ausgewanderten unterließen nicht, sich wieder bei uns einzufinden, sobald sie unsere Ankunft erfahren hatten; allein wir hatten es jetzt in unserer Gewalt, jede beliebige Stellung gegen sie anzunehmen. Aurora stellte sich zuerst ein, und ganz offenbar legte sie es darauf an, uns durch ihre Familiarität in das alte Geleise zurück zu führen. Doch die Feierlichkeit, die wir ihr entgegensetzten, verwirrte sie so, daß sie sich ein Dementi über das andere gab, bis sie mit Bekenntnissen hervortrat, auf welche wir gar nicht gefaßt waren. Ihrer Aussage [361] zufolge war unter allen diesen Personen keine einzige ehrliche Seele. Was sie von jeder einzeln sagte, soll mit Stillschweigen übergangen werden. Genug, wir wurden, wenn auch nur die Hälfte von Aurorens Offenbarungen Glauben verdiente, hinlänglich überzeugt, daß wir es mit eigentlichem Auswurf zu thun hatten, der es wohl verdiente, von der Welt verlassen zu seyn und sich selbst zu bekämpfen. Aurora selbst wünschte sich an uns anschließen zu können; allein wir lehnten ihre Bitte ab, weil, wie gut auch ihre Vorsätze für den Augenblick seyn mochten, ihr Inneres durch langen Mißbrauch allzusehr verdorben war, um noch einmal zu genesen. Wir verweilten noch einige Wochen in Wien, um der Welt zu zeigen, daß es zwischen uns und den Ausgewanderten zu einem förmlichen Bruch gekommen wäre, den wir selbst zu Stande gebracht hätten. Alle Billets der Gräfin, des Chevalier u. [362] s. w., die während dieser Zeit ankamen, wurden angenommen, aber nicht beantwortet. Der Verlust, den Eugenia gelitten hatte, war bedeutend genug; indessen ließ er sich ertragen, wenn man in Anschlag brachte, daß sie bestimmt war, noch weit mehr zu verlieren, und nicht nur ihr Vermögen, sondern auch ihre Moralität und ihre Ehre einzubüßen. Hierüber hatte uns Aurora so vollständige Aufschlüsse gegeben, daß die Sache keinem Zweifel unterworfen war. Wien verließen wir mit der traurigen Reflektion, daß, mit allem guten Willen uns an Deutsche anzuschließen, wir unsere Zuflucht zu egoistischen Franzosen hatten nehmen müssen, die in uns nur die leichte Beute schätzten.

Wir durchreiseten einen großen Theil des deutschen Reichs, um einen Aufenthalt zu finden, der unseren Neigungen entspräche; allein wir kamen nicht eher zur Ruhe, als bis Eugenia sich entschloß, [363] in der Nähe von W... das Gut zu kaufen, das wir noch immer bewohnen.

Seit dieser Zeit leben wir in unserer eigenen Welt, hinlänglich geschieden und hinlänglich berührt von unserer Umgebung, um in voller Freiheit zu existiren. Unsere Sorge ging gleich Anfangs dahin, das Nützliche dem Schönen so unterzuordnen, daß dieses ein hinreichendes Fundament in jenem erhielte; und dies ist uns über alle Erwartung gelungen. Unser Gütchen ist der Wohnsitz der Reinlichkeit, der Ordnung, der Bequemlichkeit und Gastfreundlichkeit; und in sofern diese Schöpfung von uns ausgegangen ist, macht sie, hoff ich, unserem Verstande keine Unehre. Die Angelegenheiten der Wirthschaft sind unter uns so getheilt, daß jede von uns ihren eigenen Wirkungskreis hat, ohne gleichwohl dadurch so beschäftigt zu seyn, daß wir außer Stande wären, uns im Nothfall zu ersetzen; denn wir haben das [364] Geheimniß aufgefunden: Alles so zu ordnen, daß es nur eines leichten Impulses bedarf, um das Ganze im Gange zu erhalten. Den Frieden neben die Thätigkeit zu stellen, dies ist die große Kunst bei allen Organisationen; und diese Kunst ist von uns ausgeübt worden.

Wir würden noch immer glücklich seyn, wenn wir auch ganz von der Welt getrennt lebten. Dies ist aber nicht der Fall; wir leben vielmehr mitten in der Welt. Es kam darauf an, eine solche Stellung zu gewinnen, daß wir von dem Geräusch um uns her nur gerade so viel berührt würden, als sich mit der Bestimmung vertrug, die wir uns selbst gegeben hatten. Zu diesem Endzweck konnten wir uns nur dem Umgange solcher Personen hingeben, die wirklich zu uns paßten; allein, indem wir in dieser Hinsicht so klug als vorsichtig waren, brachten wir es dahin, daß wir die ganze Welt durch [365] wenige Personen in einem kurzen Auszuge um uns herstellten. Wer sich mit dem Volumen befaßt, wird davon erdrückt; wer hingegen Verstand genug hat, nur nach der Quintessenz zu streben, behält seine ganze Freiheit und wird durch die höchsten Genüsse belohnt.

Durch Sie, mein theurer Cäsar, wurde ich von neuem in die deutsche Literatur eingeweihet, die mir seit vielen Jahren fremd geworden war; und dafür danke ich Ihnen, wenn es eines Dankes bedarf. Ich habe mich überzeugt, daß die Deutschen in jeder Kunst und Wissenschaft seit ungefähr dreißig Jahren Riesenschritte gemacht haben; und weit entfernt, an einen nahen Stillstand zu glauben, erwarte ich vielmehr von der Zukunft noch glänzendere Perioden. Mag doch die große Mehrheit der Schriftsteller in gar keine Betrachtung kommen; dies verschlägt demjenigen nichts, welcher einsieht, [366] wie nothwendig sie sind, um einen ausgezeichneten hervor zu bringen. Auch das Gold erzeugt sich nur in Bleistufen; und wer verlangt es, daß kein Blei existiren soll? Alle materielle Industrie ist die Bedingung der immateriellen, und in dieser Ansicht mögen wir jene wohl verzeihen.

In der That, ich freue mich, die Zeit erlebt zu haben, in welcher Göthe's natürliche Tochter erscheinen konnte. Höher als jedes andere Produkt desselben Meisters setz' ich dieses. Mag die Mitwelt darüber urtheilen wie sie wolle, die Nachwelt wird darin nur ein Dokument unseres gegenwärtigen Culturgrades erblicken; und auf diese Weise erwarte ich nichts Geringeres, als daß die natürliche Tochter die Zeiten, in welchen wir leben, verherrlichen werde. Was ist es denn zuletzt, was die Lektüre eines Reineke Fuchs so anziehend macht? Meinem Urtheile nach nichts anderes, als die Entdeckung, [367] daß in diesem Gedichte eine große Welt dargestellt ist, die so und so gegen oder für einander wirkte. Das Feudalwesen in seiner Glorie; dies ist der Inhalt des Reineke Fuchs, und es wäre unendlich zu bedauern, wenn der Verfasser nicht allegorisirt hätte. Das Feudalwesen in seinem Verfall und nahen Zusammensturz; dies ist der Inhalt der natürlichen Tochter, und es wäre eben so unendlich zu bedauern, wenn der Verfasser keinen König, keinen Herzog, keinen Grafen, keinen Weltgeistlichen, keinen Mönch, keinen Gouverneur u.s.w. aufgeführt hätte. Beide Kunstwerke bezeichnen also bestimmte Entwickelungsepochen, und haben in dieser Hinsicht, wie verschieden sie auch ihrem Inhalte nach seyn mögen, gleichen Werth. Ist von der Kraft die Rede, durch welche beide ins Daseyn gerufen wurden, so möchte ich behaupten, daß sie in beiden Verfassern gleich groß [368] war; so daß ich mich gar nicht darüber wundere, wie Göthe der Übersetzer des Reineke Fuchs werden konnte; ein Werk, das mich bezaubert, und dessen sorgfältiges Studium mich zu meiner Ansicht der natürlichen Tochter geführt hat.

Man rühmt es als einen großen Vorzug der letzteren, daß die edlen Formen der Griechen in ihr conzentrirt sind. Was mich betrifft, so bin ich der Meinung, daß die natürliche Tochter als Kunstwerk erbärmlich wenig seyn würde, wenn nur die Formen in Betrachtung gezogen werden sollen. Auch ohne jemals den Aeschylus und Sophokles gelesen zu haben, mußte Göthe, vermöge seines Verstandes, solche Formen erzeugen. Der Geist, welcher in der natürlichen Tochter lebt und webt, ist aber über den der Griechen so un endlich erhaben, daß ich zweifle, Aeschylus und Sophokles würden die natürliche Tochter [369] verstehen, wenn sie ihnen in die Hände gegeben werden könnte.

Da ich einmal ein wenig in das Göthische Kunstwerk verliebt bin; so müssen Sie mir, mein angenehmer Freund, verzeihen, wenn ich zu diesen Bemerkungen noch einige andere hinzufüge, von welchen ich glaube, daß sie zur Sache gehören.

Mir war bei der Lektüre der natürlichen Tochter eben so zu Muthe, als bei der Betrachtung der Verklärung Raphaels. Anfangs wußte ich nicht, wodurch ich in diese Stimmung gerathen war; als ich aber tiefer nachdachte, entdeckte ich zwischen beiden Kunstwerken eine auffallende Ähnlichkeit, welche darin bestand, daß in beiden eine doppelte Handlung vorgeht, welche die höchste Einheit mit sich führt. Wollen Sie sich gefälligst desjenigen erinnern, was ich weiter oben über das Raphaelsche Kunstwerk als Urtheil meiner verewigten Freundin bemerkt habe; so [370] müssen Sie gestehen, daß das Wunder der Verklärung zu der fehlgeschlagenen Heilung des besessenen Knaben in eben dem Verhältnisse steht, worin sich die Revolution zu Eugenia's Schicksal befindet. Vereinigung des Epischen mit dem Dramatischen war wie Raphaels so auch Göthe's Zweck, und beide haben ihn auf das allervollkommenste erreicht, indem sie die doppelte Handlung so stellten, daß die eine die andere beleuchtet und aufklärt. Ist nicht alles, was der Göthischen Eugenia begegnet, von einer solchen Beschaffenheit, daß es in dumpfes Erstaunen setzt, wofern man nicht an das zurückdenkt, was der ganzen Gesellschaft, zu welcher sie gehört, bevorsteht? Nur auf diese Weise ließ sich eine große Revolution auf die Bühne bringen; aber indem sie im Hintergrunde gehalten werden mußte, so konnte es schwerlich fehlen, daß alle diejenigen (Zuschauer oder Leser), denen es an Einbildungskraft [371] gebrach, von der Handlung sehr wenig ergriffen werden, und daß Göthe in dieser Hinsicht Raphaels Schicksal theilte, an dessen Verklärung die gewöhnliche Critik zur Tadlerin werden mußte.

Große, hocherhebende Gefühle wollte der Dichter erzeugen, und solche hat er in allen denen erzeugt, die ihn zu fassen Kraft genug haben. Doch auf die Menge konnte er nicht einwirken. Dieser mußte es sogar problematisch werden, ob sein Kunstwerk für eine wahre Tragödie zu achten sey, da sie sich in derselben durch nichts gemartert und gefoltert fühlte. Mit tiefer, alles umfassender Menschenkenntniß hatte der Dichter gezeigt, wie aus Eugenia's nicht gesetzmäßiger Geburt sich, mit ihren seltenen Talenten und ungemeinen Eigenschaften, ihre Ansprüche auf anerkannte Hoheit und ihre Schicksale entwickelten; allein sich mit einem solchen Wesen, wie diese Eugenia ist, zu identifiziren, [372] ist der großen Menge unmöglich; und da sie die Heldin des Drama's nicht vor ihren Augen vernichtet sieht, so entgeht ihr diejenige Vernichtung, welche Eugenia dadurch erfährt, daß die Flammen der Revolution über alle ihre Wünsche, Hoffnungen und Ideale zusammenschlagen. Nur dem gebildeten Zuschauer oder Leser ist es einerlei, ob er eine Iphigenia in Aulis zum Opferaltare führen, oder eine Eugenia ein Mißbündniß eingehen sieht; und wie sehr der Dichter auf diese höhere Bildung gerechnet habe, liegt darin am Tage, daß er den Schmerz über Eugenia unglückseliges Geschick nicht besser besänftigen zu können glaubte, als wenn er ihrem letzten Schritte Vaterlandsliebe zum Grunde legte, und sie noch obendrein zur Gattin eines achtbaren Mannes machte. Wäre Göthe's Empfindsamkeit allen Zuschauern und Lesern seiner Eugenia eigen, so müßten sie in eben die melancholische [373] Stimmung gerathen, in welcher er sein Kunstwerk schuf. Es ist also nur das Mißverhältniß, worin Göthe, als Culturgeschöpf, zu der Welt, auf welche er einwirken möchte, steht, was alle die schiefen Urtheile zu verantworten hat, die über seine Eugenia, wie über seine übrigen Dramen, gefällt worden sind. Ob dies Verhältniß immer dasselbe bleiben werde, mag ich nicht entscheiden; kommt aber die Welt auf ihrem Entwickelungsgange so weit, daß sie Göthen fassen lernt, so muß das Schicksal seiner Eugenia eben so tiefe Rührungen hervorbringen, als alles, worüber das Publikum gegenwärtig in Thränen zerfließet; nur mit dem Unterschiede, daß man sich in Göthe's Dramen zugleich im Gemüthe verwirrt und im Geiste erleuchtet, zugleich niedergedrückt und gehoben fühlen wird.

So wie die Sachen gegenwärtig stehen, ist dies unmöglich. Denn – um bei [374] der natürlichen Tochter stehen zu bleiben – es ist nicht Eugenia's Individualität allein, was den größten Theil der Zuschauer oder Leser unberührt läßt; die übrigen Personen des Drama's sind ihnen nicht minder unbegreiflich. Um in diesem Herzog den schwankenden Vasallen neben dem gefühlvollen Vater, in diesem Sekretär das egoistische Werkzeug eines fremden Willens, in dieser Hofmeisterin die verzweifelnde Jungfrau, in diesem Gouverneur das Geschöpf militairischer Disciplin, in dieser Äbtissin die durch die weltliche Macht beschränkte Frau, in diesem Mönch den religiösen Schwärmer, in diesem Gerichtsrath den über sein Geschäft hoch erhabenen, das Recht idealisirenden Menschen zu fassen, muß man etwas mehr von der Welt begriffen haben, als die große Mehrheit, der alles, was gesellschaftliches Verhältniß genannt werden mag, ein unauflösliches Räthsel ist. Ohne Zweifel hing [375] es nur von dem Dichter ab, sein Kunstwerk dennoch der großen Mehrheit angenehm zu machen; aber alsdann hätte er eben die Wege einschlagen müssen, welche Schakespear einschlug, so oft es ihm darauf ankam, ungemeinen Charakteren Eingang zu verschaffen; nämlich viel Theatergeräusch in nächtlichen Erscheinungen, Zweikämpfen u.s.w. Da Göthe dies nicht gethan hat, so müssen wir annehmen, daß er dergleichen Behelfe verachtet; und wie kann man anders als sie verachten, wenn man nicht zu dem großen Haufen gehört, oder für ihn lebt? Die Unsterblichkeit sichert man sich nur dadurch, daß man die eigene Individualität vor allen Verunstaltungen bewahrt; und wenn Alfieri über irgend einen Punkt Recht hatte, so war es in der Behauptung, daß nur diejenige Schriftstellerei einen Werth haben könne, deren Inzentiv ein großer, ewig dauernder Ruhm ist. Ich stelle mir vor, [376] daß es mir an Göthe's Stelle Vergnügen machen würde, in meinen dramatischen Werken die Verzweiflung der Schauspieler und Kritiker zu erblicken.

So viel über Göthe's Eugenia, deren Lektüre mir unaussprechliches Vergnügen gemacht hat; ein Kunstwerk, das sich in jedem Betracht den ersten Meisterwerken aller Nationen zur Seite stellen kann, ohne durch die Vergleichung zu leiden, und das ganz unstreitig das allervollkommenste ist, das der deutsche Geist jemals geschaffen hat.

Ich komme nach dieser Abschweifung auf mich selbst zurück.

Durch die Lektüre auserlesener Geisteswerke erhalte ich meinem eigenen Geiste die jugendliche Kraft, wodurch ich mich von anderen Personen meines Alters unterscheide. Allen meinen Erfahrungen nach, giebt es kein besseres Mittel, dem Alter auszuweichen. Eine Sammlung wirklich [377] geistreicher Schriften hat den Vorzug selbst vor der besten Gesellschaft. Einmal behält man seiner Bibliothek gegenüber die vollste Freiheit, welche nothwendig verloren geht, wenn man sich, im persönlichen Umgange, fremden Individualitäten anschmiegen muß. Zweitens hat man den Vortheil, die Geister in ihren Sonntagsschmuck zu sehen, d.h. nicht verunstaltet durch Launen, Antipathien und alle die Wirkungen momentaner Eindrücke, welche die Mittheilung hemmen; denn wer sich einmal an sein Pult gesetzt hat, um mit der Welt zu sprechen, befindet sich gewiß in der ihm vortheilhaftesten Verfassung. Drittens hat man es in seiner Gewalt, aufzurufen welchen Geist man will, nur ihm zu leben, und ihm nur so lange zu leben, als man es für gut befindet. In der That, ich wundere mich, wie so viele Personen, welche auf Bildung Anspruch machen, diese Vorzüge verkennend, den Geselligkeitstrieb [378] nur dann zu befriedigen glauben, wenn sie sich durch den Umgang auf die Folter spannen lassen.

Da von meinen Schicksalen nicht weiter die Rede seyn kann, so bleibt mir nur noch übrig, von meiner Lebensweise und meinen Erwartungen zu sprechen.

Ich habe die Gewohnheiten und Neigungen meiner Jugend immer beibehalten; ich konnte es, weil sie in jeder Hinsicht leicht und bequem waren, und that es, weil ich mich dabei wohl befand. Meiner Mäßigkeit verdanke ich, daß ich nie krank gewesen bin. Aber ich kann mit gleicher Wahrheit sagen, daß ich mich nie unglücklich gefühlt habe; und dies bedeutet etwas mehr. Vielleicht sind die Gemüthskräfte nie so stark in mir gewesen, daß sie mich zu inneren Widersprüchen führen konnten; vielleicht aber auch hat die frühe Gewöhnung, ihren Anfällen zu begegnen, die Wirkung hervorgebracht, [379] daß ich mir zu allen Zeiten klar und gleich bleiben konnte. Dem sey wie ihm wolle – denn hierüber ganz ins Reine zu kommen, ist vielleicht unmöglich – indem ich Anderen eben so sehr gelebt habe, als mir selbst, habe ich immer einer beneidenswerthen Ruhe und Heiterkeit genossen. Jungfrau bin ich geblieben, weil nach Moritz sich mir kein Mann dargestellt hat, dem ich meine Freiheit aufzuopfern der Mühe werth gehalten hätte; ich muß mich so ausdrücken, ob ich gleich bei mir überzeugt bin, daß meine Jungfrauschaft nicht die Folge des Raisonnements bei mir gewesen ist. Wäre ich Gattin und Mutter geworden, so würde ich diesen Verhältnissen keine Schande gemacht haben; denn Treue und Liebe lagen in meinem Wesen eingehüllt. Als eine geborne Catholikin würd' ich mich nach Moritzens Tode entschlossen haben, in irgend ein Kloster zu gehen; schwerlich aber wäre dann aus mir [380] geworden, was ich jetzt bin, und in sofern ich einen Werth auf mich setze, freue ich mich auch, eine Protestantin zu seyn. Ich fürchte weder den Verfall, noch den Tod. Den ersteren betrachte ich als eine Folge des mangelnden Reizes, und so lange mir noch mein Bewußtseyn bleibt, werd' ich dafür sorgen, daß dieser Mangel mich nicht treffe. In dem letzteren seh' ich nur den Stillstand einer Maschine, die nicht für die Ewigkeit geschaffen wurde. So lange ich lebe, werd' ich mich auch wohlbefinden. Mein Arkanum in dieser Hinsicht ist sehr einfach. Es heißt: Fliehe den Umgang mit alten und langweiligen Personen. Nichts verbittert das Leben so bestimmt und tödtet so sicher, als das überhandnehmende Gefühl der Langenweile. Gewissen Anzeigen nach, werd' ich aber ein hohes Alter erreichen, ohne daß ich dies gerade wünsche. Denn blick' ich auf die Vergangenheit zurück, so dehnt sie sich[381] unermeßlich vor mir aus, welches durchaus nicht der Fall seyn könnte, wenn der langweiligen Tage, Wochen, Monate in ihr sehr viele gewesen wären. Ich glaube nämlich die Bemerkung gemacht zu haben, daß es in jedem Menschen ein von allen künstlichen Zeitmaaßen ganz unabhängiges giebt, nach welchem das Fortschreiten der Zeit durch Gefühle und Ideen bezeichnet wird. Vermöge dieses natürlichen Zeitmaaßes muß eben die Zeit, welche im Durchleben sehr rasch vorüber zu fliegen scheint, in der Zurückerinnerung eine große Ausdehnung gewinnen, und umgekehrt die träg vorüber schleichende Zeit in der Erinnerung zusammen schrumpfen. Da ich aber die letzte Erfahrung durchaus noch nicht an mir selbst gemacht habe, so muß ich daraus schließen, daß noch ein hohes Maaß von Lebenskraft in mir ist, und ich für eine ungewöhnlich lange Dauer bestimmt bin. Doch dies komme, wie es wolle, ich werde mit meinem Geschick künftig eben [382] so zufrieden seyn, als ich es gegenwärtig bin. Das Einzige, warum ich den Himmel bitten möchte, ist die Erhaltung der letzten Freunde, die er mir zuführte. Bessere werd' ich niemals wiederfinden, und ein freundloses Leben hat so viel Abscheuliches für mich, daß ich lieber gar nicht mehr existiren will, wenn die nackte Existenz durch sich selbst bedingt ist.


Und nun, mein theurer Cäsar, hab' ich Ihnen alles mitgetheilt, was Sie wissen mußten, um mich nach meinem ganzen Wesen zu begreifen. Von größerer Ausführlichkeit haben mich zwei Rücksichten abgehalten. Einmal wollte ich Ihnen so wenig Langeweile machen, als mir immer möglich wäre, und Ihnen schlechterdings nichts von dem wiederholen, was sonst wohl zwischen uns beiden zur Sprache gekommen ist. Zweitens – ich weiß, Sie verzeihen, daß ich bei einem so unangenehmen Geschäfte, [383] als das Schreiben nun einmal ist, auch an mich gedacht habe – wollte ich mir durch alle diese Bekenntnisse nur die Abwesenheit meiner Freundin erträglicher machen, und folglich nur bis zu ihrer Zurückkunft an meinem Pulte kleben. Ich habe das Vergnügen, Ihnen zu melden, daß Eugenia übermorgen ganz unfehlbar wieder eintreffen wird. Unstreitig werden Sie bald zu uns kommen, und dann Ihre Mirabella mit ganz anderen Augen betrachten, als es bisher der Fall war. Nun, es wird sich zeigen, ob ich durch meine Aufrichtigkeit bei Ihnen gewonnen oder verloren habe. Immer war es meine Sache, für nichts mehr und nichts weniger gelten zu wollen, als was ich wirklich bin. Adieu.

[384]

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TextGrid Repository (2012). Unger, Friederike Helene. Romane. Bekenntnisse einer schönen Seele. Bekenntnisse einer schönen Seele. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-724C-1