II.
Die Frau Professorin.

[101][103]

Es kamen zwei fremde Gesellen

Es kamen zwei fremde Gesellen.

Da sitzt der Wadeleswirth am Gartenfenster im Stüble, er hat den Ellbogen auf den Sims gestemmt und den Kopf in die Hand gestützt; nach seiner Gewohnheit hat er die Füße hinter die vordern Stuhlbeine geschlagen, als wollte er da festwurzeln; denn wo er einmal sitzt, da braucht's fast eine Wagenwinde, um ihn wieder in die Höhe zu schroten.

Freilich sitzt er nicht mehr da, es thut ihm schon lang kein Finger mehr weh, seiner Zeit aber haben seine Finger Manchem weh gethan; die Rede ging, wo der Wadeleswirth Einen an den Kopf trifft, da wächst kein Haar mehr nach, darum versetzte er auch aus Barmherzigkeit seine Schläge in's Genick, da gibt's auch kein Blut und thut doch wacker weh. – War der Wadeleswirth so ein Raufbold? Ihr werdet ihn schon kennen lernen, daß er ein Mensch war, so lammfromm und gutmüthig wie nur Einer; das hindert aber nicht, daß man zu guter Stunde Einem, der's begehrt, gesalzene Faustknöpfle austheilt: kurzum, der Wadeleswirth war, wie man's nimmt, ein absonderlicher Mensch oder auch nicht. Eigentlich hieß er nicht Wadeleswirth, [103] sondern Lindenwirth, wozu er durch die Linde vor dem Hause und auf dem Schilde das klarste Recht hatte. Jener Name aber – ja das ist eine schlimme Sache, man redet nicht gern davon, es schickt sich nicht, und doch ist das, worauf es sich stützt, nichts Geheimes, man macht dort wo der Mann her ist gar kein Hehl daraus, also: vom innern Kniegelenke bis gegen die Knöchel – rund heraus, die Wade war beim Lindenwirth tapfer bestellt und darum wurde er so genannt.

Jetzt können wir uns schon ruhiger beim Wadeleswirth niederlassen, wir müssen aber damit eilen, denn es gibt bald großen Halloh im Hause und im ganzen Dorfe und Alles durch einen einzigen Menschen oder zwei.

Der Wadeleswirth sitzt also still da und läßt seine Gedanken um sich her schwirren wie die Fliegen, die summend die Stube durchschwärmen. Freilich hat man nicht viel Gedanken, wenn man so müde ist und wie der Wadeleswirth eben vom Feld heimkommt, wo man einen Wagen Heu aufgeladen; da thut's wohl, geruhig zu verschnaufen und die Gedanken, wenn man deren hat, machen zu lassen was sie wollen. Der Katze, die auf dem äußern Fenstersims hockte und gar viel mit sich zu thun hatte, nickte er einmal zu, dann kehrte er sich um und rief:

»Lorle!« Aus der Kammer antwortete eine Stimme: »Was?«

»Ich mein', du machst's auch wie die Katz; die putzt sich, wie wenn wir Fremde bekämen.«

»Mir ist's auch so,« antwortete es von innen.

[104] »Mach' dich nur fertig, und wenn du verkühlt bist, hol mir einen Trunk (Most) aus dem Keller; ich verdurst' schier.«

»Gleich, gleich,« antwortete es wieder aus der Kammer. Man hörte eine Kiste zuschlagen, dann Jemand die Treppe hinablaufen und bald wieder heraufkommen, die Thür öffnete sich, da ... da fiel hart am Fenster ein Schuß, ein gellender Schrei entfuhr dem Mund des Mädchens, das Glas mit dem Most lag auf dem Boden und die Katze sprang in die Stube ganz nahe vorbei an dem Gesichte des Wadeleswirths. Dieser stand auf und fluchte, und das Mädchen war in der halbgeöffneten Thür verschwunden.

Wir aber müssen dem seltsamen Ereigniß nachgehen ...

Zwei junge Männer schreiten durch den Bergwald; der eine in grauer Tyrolerjuppe mit grünen Schnüren, groß und breitbrustig, mit braunrothem unverschorenem Bart, einen grauen Spitzhut, breitkrämpig und vielfach zerdrückt auf dem Kopfe; der andere mit bescheidener Mütze, unter der ein feingeschnittenes Gesicht mit wohlgezogenem Backenbart sichtbar wird, seine kleine Gestalt etwas nach vorn gebeugt mit einem zertragenen schwarzen Ueberrock bekleidet. Die Beiden wandern wortlos dahin. Ein alter Bauer trägt ihnen zwei Ränzchen, eine Zither, einen Malerstuhl und eine Flinte nach. Jetzt treten sie aus dem Walde und im Thale vor ihnen zieht sich ein langes Dorf hin, wie man sagt: nur auf einer Seite gebacken, denn die Häuser stehen längs des Baches, der murrend und [105] wildrauschend über und zwischen Felsen wegrollt; ein Steg führt über den Bach, wo jenseits auf einsamem Hügel die Kirche steht.

»Da hast du's, das ist Weißenbach,« sagte der Große mit klangvoller Bruststimme.

»Ille terrarum mihi praeter omnes angulus ridet,« sagte der Kleine, in dessen schwarzem Gewande wir mit Recht einen abgetragenen Schulrock vermuthet haben.

»Laß deinen Horaz,« erwiderte der Große, dem wir ohne Scheu den Malerstuhl zuerkennen dürfen.

»Gern,« versetzte der Kleine und sich umschauend fuhr er lächelnd fort: »Ite, missa est, ihr Bücher sollt mir nicht zwischen die Beine laufen in der freien Natur, still! Bruder, das solltest du malen, oder ich will ein Märchen schreiben, wie das Steckenpferd des Autors, das in jedem Buche aufgezäumt an die Krippe gebunden ist, lebendig wird und mit dem Buch davonjagt; es müßte herrlich sein, wenn so ein Rudel Bücher, so eine ganze Bibliothek da den Berg hinunterritte, hussa! hussa! Ich will das Märchen schreiben.« –

»Du thust's doch nicht, du speist dir immer in die Hände und greifst nie zu.«

»Leider hast du Recht, aber hier will ich frisches Leben holen. Sieh, wie das Dorf hier so friedlich im Mittagsschlummer daliegt als wär's ein großes Wasserungeheuer, das sich am Ufer sonnt; die Strohdächer sind wie große Schuppen. Sieh dort die Kirche! Ich liebe die Kirchen auf den Bergen, sie gehören nicht mitten in den Häusertrödel. Auf diesen Felsen will [106] ich meine Kirche erbauen – das ist schön! Auch leiblich sollen die Menschen aufsteigen, sich erheben zur geistigen Erhebung. Wie diese Kirche hier jenseits des Steges auf dem Berge steht, ist sie die wahrhaft transcendente, supranaturalistische.«

Nach einer Pause fuhr er fort: »Hörst du die Hunde bellen und die capitolinischen Wächter schnattern? Hörst du die Kinder dort jauchzen? Die guten Kinder! Sie ahnen nicht, daß du kommst, ihre Jugend im Bilde zu verewigen. Schon Virgil sagt sehr schön: O fortunatos nimium, sua si bona norint, agricolas. Das Volk ist doch wie die stille Natur, es weiß nichts von der Schönheit seines Lebens, es ist vegetabilisches Dasein und wir kommen, die Geistesfürsten, und verwenden ihre gebundene Welt zu freien Gedanken und Bildern.«

»Und wer weiß,« erwiderte der Große endlich, »wie der Weltgeist uns verwendet, zu welchen Gedanken und Bildern wir ihm dienen.«

»Du bist frommer als du glaubst, das ist ein großer Gedanke,« entgegnete der Gelehrte und der Maler fuhr auf:

»Numero A 1. Gib doch nicht gleich Allem, was man sagt ein Schulzeugniß.«

Die Beiden schwiegen. Der Maler, der seinen Kameraden doch zu hart angelassen zu haben glaubte, faßte seine Hand und sagte: »Hier bleiben wir nun, schüttle allen Schulstaub von dir, wie du dir's vorgenommen, denk nichts und will nichts und du wirst Alles haben.«

[107] Der Kleine erwiderte den Händedruck mit einem unendlich sanften Blicke und der Maler fuhr fort: »Ich muß dir den Mann schildern, bei dem wir bleiben.«

»Nein, thu's nicht, laß mich ihn selber finden,« unterbrach ihn der Kleine.

»Auch gut.«

Als sie sich jetzt dem Dorfe näherten, schlug der Maler den Fußweg ein, der hinter den Häusern herläuft: der Kleine bemerkte: »Es liegt ein tiefes Gesetz darin, daß die Naturstraßen nirgends gradlinig sind; der Bach hat einen undulirenden, einen wellenförmigen Weg, und die Straßen von Dorf zu Dorf ziehen sich selbst durch die Ebene in Schwingungen dahin. Die Philosophie der Geschichte kann davon lernen, daß Natur und Menschheit sich nicht nach der logischen Linie bewegen.«

»Bei den Straßen hat das einen einfachen Grund,« bemerkte der Maler, »ein Gefährt geht viel leichter, wenn es durch eine Biegung wieder einen Schwung bekommt; bei einem schnurgeraden Wege liegt auch das Pferd zu gleichmäßig und ermüdend im Geschirr. Das ist Fuhrmannsphilosophie.«

Mit diesen Worten waren die Beiden in einen Baumgarten getreten; der Maler nahm dem Bauer die Flinte ab und schoß damit in die Luft, daß es weithin wiederhallte, dann schrie er »Juhu!« sprang die Treppe hinauf und hinein in die Stube ...

Da sind wir also wieder beim Wadeleswirth, in dem Augenblick, da die Katze ihm am Gesicht vorbeigesprungen und das Glas Most auf den Boden gefallen [108] war. Der Wirth steht da, hat beide Fäuste geballt und flucht:

»Kreuzmillionenheideguguk, was ist denn das? Was gibt's in's –«

»Ich bin's,« rief der Maler, die Hand zum Willkomm ausstreckend.

Die Faust des Wirthes entballte sich und er rief: »Wa ... Was? Ja, bigott, er ist's; ei Herr Reinhard, sind Ihr auch wieder ause gelaufen? 1 Das ist ein fremder Besuch, da sollt' man ja den Ofen einschlagen.« 2

»Weil's Sommer ist, alter Kastenverwalter,« erwiderte der Begrüßte, indem er derb die Hand des Wadeleswirths schüttelte, der jetzt fragte:

»Seid Ihr's gewesen, der im Garten geschossen hat?«

»Nein, nicht ich, da mein Weib,« sagte der Maler, die Flinte aufhebend, »kann das Maul nicht halten.«

»Ihr seid noch allfort der Alte, aber der Mann muß für's Weib bezahlen; es kostet Straf', wenn man schießt.«

»Weiß wohl, ich bezahl's gern.«

Reinhard stellte nun seinen Freund, den Bibliothekscollaborator Reihenmaier vor.

»Reihenmaier,« sagte der Wadeleswirth, »so haben wir hier auch ein Geschlecht.«

Der Collaborator erwiderte lächelnd:

[109] »Es können weitläufige Verwandte von mir sein, ich stamme auch von Bauern ab.«

»Wir stammen alle von Bauern ab,« sagte der Wadeleswirth, »der Erzvater Adam ist seines Zeichens ein Bauer gewesen.«

»Wo ist denn Eure Eva, alter Adam?« frug Reinhard.

»Sie kommt gleich mit dem Heuwagen, ich bin dieweil voraus. Lorle! Lorle! Wo bist?«

»Da,« antwortete eine Stimme von unten.

»Mach hurtig die Scheuer auf, daß sie mit dem Wagen gleich 'rein können, es wird einen Regen geben, und komm hernach 'rauf.«

»Die Grundel? Ich bin begierig die Grundel 3 wie der zu sehen,« sagte Reinhard; der Wadeleswirth erwiderte schelmisch lächelnd und mit dem Finger drohend:

»Oha, Mannle! Das ist keine Grundel mehr, das kann sich sehen lassen, es ist ein lebfrisches Mädle; bigott aber Ihr könnet Euch nicht sehen lassen, man meint Ihr wäret ein alter Hauensteiner Salpeterer, Ihr habt ja einen ganzen Wald im Gesicht, Rothtannen und Blutbuchen, was kostet das Klafter? Saget einmal, lassen denn die Kesselflicker und Scherenschleifer in den Kanzleien so einen Bart ungerupft und ungeschoren? Machen sie's ihm nicht auch wie den Büchern und den Zeitungen –«

»Mann! Um Gottes willen, Mann!« unterbrach ihn Reinhard, »kommt Ihr jetzt auch mit diesen [110] Geschichten an? Hat man denn nirgends mehr Ruhe vor der verdammten Politik?«

»Ja gucket, das geht einmal nimmer anders, wir dummen Bauern sind jetzt halt auch einmal so dumm und fragen darnach, wo unsere Steuern hinkommen, für was unsere Buben so lang Soldaten sein müssen und –«

»Weiß schon, weiß schon alles,« betheuerte Reinhard.

Der Collaborator aber faßte die Hand des Wirths, klopfte ihm auf die Schulter und sagte:

»Ihr seid ein ganzer Mann, ein Bürger der Zukunft.«

Der Wadeleswirth schüttelte sich, hob beide Achseln, schaute den Collaborator mit gerunzelter Stirne an und sagte dann, indem er lächelnd nickte:

»Einen schönen Gruß und ich ließ' mich schön bedanken.«

Der Collaborator wußte nicht, was das bedeuten soll. Es gab aber nicht lange Bedenkzeit, man vernahm Peitschenknallen auf der Straße, der Wadeleswirth ging nach der »Laube«, dem bedeckten Söller, der das Haus, mit Ausnahme der Gartenseite, umschloß; die beiden Fremden folgten.

»Fahr' besser hist,« rief der Wirth dem jungen Manne zu, der auf dem Sattelgaule vor dem Heuwagen saß; »noch schärfer hist, sonst kommst du nicht herein, du lernst's dein Lebtag nicht; so, so, jetzt frischweg, fahr' zu!«

Der Wagen war glücklich herein; freier athmend ging man wieder nach der Stube.

Der Collaborator fragte bescheiden:

[111] »Warum lasset Ihr denn das Scheunenthor nicht weiter machen, da es doch so mühsam ist hereinzufahren?«

Der Wadeleswirth, der zum Fenster hinausgesehen hatte, kehrte sich um, dann schaute er wieder in's Freie und sprach hinaus:

»Das junge Volk braucht's nicht besser haben als wir, es soll eben auch lernen, die Augen bei sich haben und geschickt sein und wissen was hinter ihm drein kommt. Ich bin mehr als dreißig Jahr da hereingefahren und bin nie stecken blieben.« Jetzt wendete er sich nach der Stube und fuhr fort: »Was ist denn eigentlich Euer Geschäft, Herr Kohlebrater?«

»Ich bin Bücherverwalter.«

Nun kam die Frau, der Sohn, der Knecht und die Magd in die Stube. Alle bewillkommten Reinhard und die Frau bemerkte, auf den Bart deutend:

»Ihr seid recht verwildert in den zwei Jahren, wo wir Euch nicht gesehen haben.«

»Unser Tamburmajor,« sagte Stephan der Sohn, »hat auch so einen gottsjämmerlichen Bart gehabt, er hat ihn aber alle Morgen schwarz gewichst.«

»Wenn ich jung wäre, mich dürftet Ihr mit dem Bart nicht küssen,« sagte Bärbel, eine bejahrte, starkknochige Person, die als Magd im Hause diente; Martin, der Knecht, der hinter ihr stand, war ihr Sohn. Dieser hatte seine besondere Meinung, die er nun auch preisgab:

»Und ich sag', der Bart paßt ihm staatsmäßig, er sieht aus wie der heilig' Joseph in der Kirch'!«

[112] »Und du wie der Mohrenprinz,« endete der Wadeleswirth; »aber wo steckt denn das Lorle? Alte, hol mir einen Trunk aus dem Keller und gib mir ein Mümpfele 4 Käs' und dann richtest du dem Herrn Reinhard sein altes Zimmer her und der andere fremde Herr kann auf dem Tanzboden schlafen.«

Der Wadeleswirth bekam nun doch endlich seinen Trunk; er ging lieber eine Stunde im brennenden Durst umher, ehe er die zwei Treppen hinab- und wieder hinaufstieg. Der Collaborator setzte sich zu ihm.

Reinhard machte einen Gang durch das Dorf; alle Kinder liefen ihm nach, und einige muthvolle riefen sogar aus sicherm Versteck:


Rother Fuchs dein Bart brennt an,

Schütt' ein bisle Wasser dran.


Reinhard ging in das Haus, wo der Bader wohnte, die Kinder warteten vor der Thür bis er wieder geschält herauskäme; als er aber mit vollem Bartschmucke wieder erschien, lachten und jubelten sie aufs Neue.

Im Hause des Baders wohnte noch Jemand, dem Reinhard einen Auftrag gegeben hatte, es war der Dorfschütz, der jetzt mit der Schelle herauskam. Er klingelte an allen Ecken und sprach dann laut und deutlich: »Der Maler Reinhard ist wieder ankommen mit einem großmächtigen rothen Bart. Wer ihn sehen will, soll in die Linde kommen, allda ist der Schauplatz. Eintrittspreis ist, daß Jeder ein groß Maul machen und seine Zähne weisen muß, wenn er hat.

[113] Um halb neun Uhr geht die Fütterung an. Kinder sind frei.«

Ein unaufhörliches Gelächter zog durch das ganze Dorf, die Kinder folgten jubelnd und johlend dem Schütz auf dem Fuße, sie waren kaum so lang zum Schweigen zu bringen, daß man die Verkündigung hören konnte.

Als es bereits Nacht geworden und der Himmel mit schweren Regenwolken überzogen war, saß Reinhard auf der Steinbank unter der Linde vor dem Wirthshause; er lachte vor sich hin, der urplötzlichen Heiterkeit gedenkend, mit der er unversehens die Seelen aller Einwohner erfüllt hatte. Da hörte er ein verhaltenes Schluchzen in der Nähe, er stand auf und sah ein Mädchen das nach der Scheune ging.

»Lorle?« sagte er in fragendem Tone.

»Grüß Gott,« antwortete das Mädchen, die dargebotene Hand fassend, ohne aufzuschauen und ohne die Schürze vom Gesicht zu nehmen.

»Du hast ... Ihr habt ja geweint, warum denn?«

»Ich, ich ... hab' nicht geweint,« erwiderte das Mädchen und konnte vor schnellem Schluchzen kaum reden.

»Warum gunnet Ihr mir denn keinen Blick und sehet mich nicht an? hab' ich Euch was Leids than?«

»Mir? mir, nein.«

»Wem denn?«

»Euch.«

»Ja wie so?«

»Es gefällt mir nicht, daß Ihr Euch so zum G'spött vom ganzen Dorf machet, das ist nichts und uns habt[114] Ihr doch auch zum Narren; das hätten wir nicht von Euch denkt.«

»Ihr seid recht groß und stark geworden, Lorle; kommet 'rein in die Stub', daß ich Euch auch sehen kann.«

»Brauchet nicht jetzt noch mit mir Euern besondern Possen haben,« endete das Mädchen, raffte sich schnell zusammen und sprang davon durch das Hofthor nach der Straße.

Reinhard saß mit zusammengekniffenen Lippen vor sich niederschauend wieder auf der Bank. Was ihm vor einem Augenblicke noch wie ein übermüthiger, aber harmloser Scherz vorgekommen war, das hatte jetzt eine ganz andere Gestalt. Von sich sah er bald ab und dachte: Das Kind hat Recht, es ist ein Stück Aristokratie in diesem Scherze: wir wissen nicht wie viel von schmählichem Hochmuth in Jedem von uns steckt. Ich habe das ganze Dorf zu meinem Spaß verwendet.

Der Collaborator kam jetzt auch herab und sagte:

»Ein sonderbarer Mann unser Wirth! Ich bin doch schon durch alle Examina gesiebt worden, aber der hört gar nicht auf mit Fragen und dabei hat er so was Mißtrauisches.«

»Das ist's nicht,« sagte Reinhard, »die Bauern haben eine alte Regel: wenn man mit einem fremden Löffel essen will, soll man vorher dreimal hineinhauchen, verstehst Du?«

»Jawohl, das ist ein tiefsinniger Gedanke.«

»Einen schönen Gruß und ich ließ' mich schön bedanken, Herr Kohlebrater,« entgegnete Reinhard lachend.

[115] Viele Männer und Burschen aus dem Dorfe sammelten sich, von Allen ward Reinhard herzlich bewillkommt; die heitere Weise, die sie herbeigelockt, erhielt eine entsprechende Fortsetzung. Man ging nach der Stube und Reinhard wußte den ganzen Abend allerhand schnurrige Geschichten von seinen Fahrten in Oberitalien und Tyrol zu erzählen, das Gelächter wollte kein Ende nehmen. Reinhard gab sich selbst mehr zum Besten, als es eigentlich seine Art war; er wollte indeß ein Uebriges thun, weil er sie Alle zum Besten gehabt hatte, wie er in gesteigerter Selbstanklage sich vorwarf. Nach und nach gerieth er aber aus innerer Lustigkeit auf allerlei tolle Seltsamkeiten, denn er konnte sich, namentlich in zahlreicher Gesellschaft, wahrhaft in eine Aufregung hineinarbeiten.

Reinhard war so voll Lustigkeit unter den Menschen gewesen und allein auf seinem Zimmer ward er verstimmt und düster; die Welt erschien ihm doch gar zu nüchtern, wenn er nicht selber sie etwas aufrüttelte.

Lorle war den ganzen Abend nicht in die Stube gekommen.

Tief in der Nacht »schlurkte« noch Jemand in Klapp-Pantoffeln durch das ganze Haus und drückte an allen Thüren; es war der Wadeleswirth, der nie zu Bett ging, bevor er Alles von oben bis unten durchgemustert hatte.

Fußnoten

1 Zum Besuch kommen, sonst nur von ganz nahen Nachbarn gebräuchlich.

2 Eine gewöhnliche Redensart, wenn ein unerwarteter Freund kommt.

3 Grundel, Gründling, kleiner Fisch.

4 Mümpfele – mundvoll.

Das war ein Sonntagsleben

Das war ein Sonntagsleben.

Am andern Morgen stand der Collaborator ganz früh vor dem Bette Reinhard's und sang mit wohlgebildeter, [116] kräftiger Stimme, die man ihm nicht zugemuthet hätte, das Lied aus Preciosa: »Die Sonn' erwacht« mit Weber's thaufrischer Melodie. Reinhard schlug murrend um sich.

»Ein Mann wie du,« sang der Collaborator recitando, »der das herrliche Bild Sonntagsfrühe abconterfeit, darf einen Morgen nicht verschlafen, wie der heut, bum, bum.«

Reinhard war still und der Collaborator fuhr sprechend fort: »Was fangen wir heut' an? Es ist Sonntagmorgen, es hat heut Nacht geregnet, als ob wir's bestellt hätten; Alles glitzert und flimmert draußen. Was treiben wir nun? Giebt's keine Kirchweihe in der Nähe? Kein Volksfest?«

»Brat' dir ein Volksfest,« entgegnete Reinhard, »trommle dir die Massen zusammen, die du brauchst, und sattle dein Gesicht mit einem Operngucker; wirf Geld unter die Kinder, daß sie sich raufen und übereinander purzeln, dann hast du ein Volksfest mit ipse fecit.«

»Du warst gestern Abend so lustig und bist heute so mürrisch.«

»Ich war nicht lustig und bin nicht mürrisch; ich bin nur ein Kerl, der eigentlich allein sein sollte und verdammterweise doch keinen Tag allein sein kann. Paß auf, wie ich's meine. Es ist mir lieb, wenn du bei mir bist; ein Freund wie du, der's so treu meint, ist wie wenn man Geld im Schrank hat; braucht man's auch nicht, es unterstützt doch, weil man weiß, man kann's holen, wenn Not an Mann geht. Also bleib' [117] die noch übrigen Tage deiner Ferien da, aber laß mich auch ein bischen mir.«

»Ich begreife dich wohl. Hier empfängst du den Kuß der Muse und da darf kein fremdes, betrachtendes Auge dabei sein. Ich will dich gewiß ganz dir überlassen, stets zurücktreten, wo sich dir irgend ein Motiv zu einem Bilde bieten könnte; da darf man nicht mit Fingern hindeuten, nicht einmal profanen Auges hinschauen. Die Wurzel, die schaffende Triebkraft alles Lebens, ruht im Dunkel, wo kein Sonnenblick, wo kein Auge hindringt.«

»Das auch,« sagte Reinhard, »und für dich selber merke dir: will nicht von jedem Augenblicke etwas, ein Resultat, einen Gedanken und dergleichen; lebe und du hast Alles. Wir stecken in der Gedankenhetzjagd, die uns gar nicht mehr in Ruhe das Leben genießen läßt, du vor Allen, aber ich kann auch sagen wie jener Pfarrer in seiner Strafpredigt: Meine lieben Zuhörer, ich predige nicht nur für Euch, ich predige auch für mich. – Laß uns leben! leben! Der Hollunder blüht, er blüht und nicht blos, damit Ihr Euch einen Thee daraus abbrüht, wenn Ihr Euch erkältet habt.«

»Entschuldige, wenn ich dir sage,« bemerkte der Collaborator in zaghaft rücksichtsvollem Tone, »es steckt mehr Romantik in dir als du glaubst, das war ja auch die blaue Blume der Romantiker: ohne alle Reflexion zu sein, im Vollgenuß des Nichtwissens.«

»Bin nicht ganz einverstanden, aber meinetwegen heiß' es Romantik, wenn das Kind einen Namen haben muß.«

[118] Reinhard stand halb angekleidet am Fenster und sog die Morgenluft in vollen Zügen ein; plötzlich prallte er zurück, der Collaborator sprang schnell an das leere Fenster und sah hinaus. Das Wirthstöchterlein ging über den Hof, luftig gekleidet, ohne Jacke und barfuß. Eine Schaar junger Enten umdrängte sie schnatternd.

»Ihr Fresserle,« schalt sie und verzog damit trotzig den Mund, »könnet's nicht verwarten bis eure Kröpfle vollgestopft sind? Euch sollt' man alle Viertelstund' anrichten, nicht wahr? Nur stet, ich hol's ja, nur Geduld, ihr müsset halt auch Geduld lernen; aus dem Weg! ich tret' euch ja.«

Die jungen Entchen hielten an, als ob sie die Worte verständen, das Mädchen ging nach der Scheune und kam mit Gerste in der Schürze wieder. »Da,« sagte sie, eine Handvoll ausstreuend, »g'segn' euch's Gott! Gunnet's euch doch, ihr Neidteufel und purzelt nicht übereinander weg, scht!« scheuchte sie und warf eine Handvoll Gerste weiter abseits, »ihr Hühner, bleibt da drüben.« Der Hahn stand auf der Leiter an der Scheune und krähte in die Welt hinein. »Kannst's noch, accurat wie gestern,« sagte das Mädchen sich verbeugend, »komm' jetzt nur 'runter; bist halt grad wie die Mannsleut, die lassen immer auf sich warten, wenn das Essen auf dem Tisch steht.«

Der Hahn kam auch herabgeflogen und ließ sich's wohl schmecken, plauderte aber viel dabei; wahrscheinlich hatte er eben etwas Geistreiches oder Possiges gesagt, denn eine gelbe Henne, die gerade ein Korn aufgepickt hatte, schüttelte den Kopf und verlor das Korn. Der [119] Galante sprang behende herzu, holte das Verlorene und brachte es mit einem Kratzfuße, einige verbindliche Worte murmelnd.

»Guten Morgen Jungferle,« rief jetzt der Collaborator in den Hof hinab; das Mädchen antwortete nicht, sondern sprang wie ein Wiesel davon und ins Haus; die jungen Enten und die Hühner schauten bedeutsam nach dem Fenster hinauf, sie mochten wol ahnen, daß von dorther die Störung gekommen war, die ihnen die fernere Nahrung entzog.

»Das ist ein Mädchen! ach, das ist ein Mädchen!« rief der Collaborator in die Stube gewendet und ballte beide Fäuste zum Himmel; er durchmaß hierauf zweimal ohne zu reden die Stube, stellte sich dann vor Reinhard und begann wieder:

»Da hast du's, ich kann weiter nichts sagen als: das ist ein Mädchen. Kein Epitheton genügt mir, keines. Hier haben wir ein Gesetz der Volkspoesie, sie gibt den vollsten Ausdruck, macht die tiefste Wirkung oft blos durch das einfache Substantiv, ohne Epitheton; meiner Sprache steht jetzt in solcher Entzückung nicht mehr zu Gebote, als der eines Bauernburschen.«

»Was hältst du davon, wenn wir uns mit dem Epitheton ›göttlich‹ begnügten?«

»Spotte jetzt nicht, das Mädchen mußt du malen, wie es dastand, eins mit der Natur, zu ihr redend und von ihr begriffen, die vollendete Harmonie.«

»Es wäre allerdings etwas nie Dagewesenes: ein Mädchen im Hühnerhofe.«

»Nun, wenn auch nicht so, das Mädchen mußt du[120] malen, hier ist dir ein süßes Naturgeheimniß nahegestellt, du –«

»In's Teufels Namen, so schweig doch still, wenn es ein Geheimniß ist. Du schwatzest schon am frühen Morgen, daß man nicht mehr weiß, wo Einem der Kopf steht.«

Die beiden Freunde saßen eine Weile lautlos bei einander; endlich sagte der Collaborator aufstehend:

»Du hast Recht, der Morgen ist wie die stille Jugendzeit, da muß man den Menschen allein lassen, für sich, bis er nach und nach aus sich erwacht; man soll ihn nicht aufrütteln. Ich gehe in den Wald, du gehst doch nicht mit?«

»Nein.«

Der Collaborator ging und Reinhard saß lange still, das viele Reden und Rütteln des Collaborators hinterließ ihm die Empfindung, als ob er von einer geräuschvollen Reise käme; die ruhige Spiegelglätte des Morgenlebens war ihm zu hastigen Wellen aufgehetzt. Reinhard war verstimmt und nervengereizt, er legte sich nochmals auf das Bett und verfiel in leisen Schlummer. Die Glocken des Kirchthurmes weckten ihn, es läutete zum Erstenmal zur Kirche. Reinhard ging hinab in die Küche; die Bärbel, seine alte Gönnerin, die sonst so freundlich mit ihm geplaudert hatte, war unwirsch, sie sagte, er solle nur in die Stube gehen, sie hielte ihm schon seit drei Stunden den Kaffee bereit und man könne ja das Feuer nicht ausgehen lassen von seinetwegen. Reinhard war eben im Begriffe ihr eine barsche Antwort zu geben, er hatte es genug, [121] sich über den gestrigen Scherz hart behandeln zu lassen, da hörte er die Stimme Lorle's von der Laube:

»Bärbel, komm ause, guck ob's so recht ist.«

»Komm' du 'rein, ist grad so weit; mach nur fort, es wird schon recht sein.«

Ohne eine Antwort gegeben zu haben, verließ Reinhard die Küche, er ging aber nicht in die Stube, sondern fast unhörbar nach der Laube. Ungesehen von dem Mädchen konnte er dasselbe eine Weile beobachten; er stand betroffen beim ersten Anblick. Das war ein Antlitz voll seligen, ungetrübten Friedens, eine süße Ruhe war auf den runden Wangen ausgebreitet; diese Züge hatte noch nie eine Leidenschaft durchtobt oder ein wilder Schmerz, ein Reuegefühl verzerrt, dieser seine Mund konnte nichts Heftiges, nichts Niedriges aussprechen, eine fast gleichmäßige zarte Röthe durchhauchte Wange, Stirn und Kinn, und wie das Mädchen jetzt mit niedergeschlagenen Augen das Bügeleisen still auf der Halskrause hielt, war's wie der Anblick eines schlafenden Kindes; als es jetzt die Krause emporhob, die großen blauen Augen aufschlug und den Mund spitzte, trat Reinhard unwillkürlich mit Geräusch einen Schritt vor.

»Guten Morgen, oder bald Mittag,« nickte ihm Lorle zu.

»Schön Dank, seid Ihr wieder gut?«

»Ich bin nicht bös gewesen, ich wüßt' nicht warum. Habt Ihr gut geschlafen?«

»Nicht so völlig.«

»Warum? Habt Ihr was träumt? Ihr wisset ja, [122] was man in der ersten Nacht in einem fremden Bett träumt, das trifft ein.«

»Aber mein Traum nicht.«

»Nun, was ist's denn gewesen? Dürfet Ihr's nicht sagen?«

»Ganz wohl, und Euch besonders, ich hab' von Euch träumt.«

»Ach, von mir, das kann nicht sein. Gucket, machet mir keine Flatusen; es hat mich verdrossen, wenn Ihr mich früher Grundel geheißen habt, aber es wär' mir noch lieber, wenn Ihr so saget, als wenn Ihr mir so was Gaukliches vormachet.«

»Ich kann ja auch was träumt haben, das gar kein' Flatuse ist. Machet aber nur kein Gesicht, es ist nichts Böses, es ist blos dumm. Mir hat's träumt, ich sei mit Euch auf dem Bernerwägele gesessen und Euer Rapp war angespannt und hat eine großmächtige Schelle um den Hals gehabt, die hat geläutet wie die Kirchenglock', und der Rapp ist nur so durch die Luft dahingeflogen, seine Mähne ist hoch aufgestanden und man hat kein Rad gehört und wir sind doch immer fort und fort. Ich hab' den Rapp halten wollen, er hat mir aber schier die Arme aus dem Leib gerissen, und Ihr seid immer ganz ohne Angst neben mir gesessen und so immer fort; plötzlich legt sich der Wagen ganz sanft um und wir sind auf dem Boden gelegen, da ist mein Kamerad kommen und hat mich geweckt.«

»Das ist ein wunderlicher Traum, aber in den nächsten vier Wochen fahr' ich nicht mit Euch. Was ich hab' sagen wollen, Euer Kamerad ist ein wunderlicher [123] Heiliger, mein Vater sagt, er sei stolz und hochmüthig, ich mein' eher, er sei zimpfer und ungeschickt.«

»Ihr habt ihm doch seine Störung verziehen?«

»Ja. Seid Ihr auch schon auf gewesen?«

»Nicht ganz. Mit meinem Kameraden habt Ihr Recht, er ist nicht stolz, im Gegentheil scheuch und furchtsam.«

»Ja, das hab' ich auch denkt, und grad weil er scheuch und furchtsam ist, da geht er so auf die Leut' 'nein und thut wie wenn er sie zu Boden schwätzen wollt'. Wie ich vorlängst bei der Vroni auf der Hohlmühle gewesen bin, Ihr wisset ja, sie ist mit meinem Stephan versprochen, sie heirathen bis zum Herbst und er übernimmt die Mühle; Ihr seid doch auch noch da zur Hochzeit?«

»Kann sein, aber Ihr habt mir was erzählen wollen?«

»Ja, das ist Recht, daß Ihr Einen beim Wort behaltet, ich schwätz' sonst in den Tag 'nein. Nun wie ich drunten in der Hohlmühle bin, da wird's Nacht und da haben sie mir das Geleit geben wollen, ich hab's aber nicht zugeben und es wär' mir doch recht gewesen. Ich bin halt jetzt allein fort, im Wald da ist mir's aber katzhimmelmäuslesangst worden, und weil ich mich so gefürcht't hab', da hab' ich allfort pfiffen, wie wenn ich mir aus der ganzen Welt nichts machen thät. Ja, wie komm ich denn aber jetzt da drauf, daß ich Euch das erzähl'?« schloß Lorle, die Lippen zusammenpressend und die Augen nachdenklich einziehend.

[124] »Wir haben von meinem Kameraden gesprochen und –«

»Ja, Ihr bringet mich wieder drauf; der pfeift auch so lustig, weil er Angst hat, nicht wahr?«

»Vollkommen getroffen. Ihr müßt nun aber recht freundlich gegen ihn sein, er ist ein herzguter Mensch, der's verdient, und es wird ihn ganz glücklich machen.«

»Was ich thun kann, das soll geschehen. Ist er noch ledig?«

»Er ist noch zu haben, wenn er Euch gefällt.«

»Wenn Ihr noch einmal so was saget,« unterbrach Lorle, das Bügeleisen aufhebend, »so brenn' ich Euch da den Bart ab. Ja, daß ich's nicht: vergess', lasset Euch Euern Bart nicht abschwätzen, er steht Euch ganz gut.«

»Wenn er Euch gefällt, wird er sich um die ganze Welt nichts scheeren.«

»Was gefällt? Was ist da von gefallen die Red'?« ertönte eine kräftige Weiberstimme, es war die der Bärbel.

»Das Lorle ist in meinen Kameraden verschossen,« sagte Reinhard.

»Glaub' ihm nichts, er ist ein Spottvogel,« rief das Mädchen und Bärbel entgegnete:

»Herr Reinhard, ganget 'nein und trinket Euern Kaffee; Ich g'wärm ihn Euch nimmer.«

»Geht Euer Goller da in die Kirch?« wendete sich Reinhard an Lorle und erhielt die Antwort:

»Nein, das gehört der Bärbel, die geht, ich bleib' daheim; Ihr geht doch auch?«

[125] »Ja,« schloß Reinhard und trat in die Stube. Er hatte eigentlich nicht die Absicht gehabt, in die Kirche zu gehen, aber er mußte und wollte jetzt; er mußte, weil er's versprochen, und wollte, weil Lorle allein zu Hause blieb. Und wie wir unseren Handlungen gern einen allgemeinen Charakter geben, so redete er sich auch ein, er gewinne durch die Theilnahme an dem Kirchengange auf's Neue die Grundlage zur Gemeinsamkeit des Dorflebens und ein Recht darauf.

Während Reinhard in der Stube dies überdachte, sagte Lorle draußen auf der Laube: »Denk' nur, Bärbel, er hat heut Nacht von mir träumt.«

»Wer denn?«

»Nu, der Herr Reinhard.« Lorle verfehlte nie, auch wenn sie von dem Abwesenden sprach, das Wort »Herr« zu seinem Namen zu setzen.

»Laß dir von dem Fuchsbart nichts aufbinden,« entgegnete Bärbel.

»Und der Bart ist gar nicht fuchsig,« sagte Lorle voll Zorn, »er ist ganz schön kästenbraun und der Herr Reinhard ist noch grad so herzig wie er gewesen ist, und du hast doch früher, wie er nicht dagewesen ist, immer so gut von ihm gered't, und du hast Unrecht, daß du jetzund so über ihn losziehst. Wenn er auch den Spaß mit dem Ausschellen gemacht hat, er ist doch nicht stolz, er red't so gemein und so getreu.« –

»Ich kann nichts sagen als: nimm dich vor ihm in Acht, und du bist kein Kind mehr.«

»Ja das mein' ich auch, ich weiß doch auch wie Einer ist, ich ...«

[126] »Gib mir mein Goller, du zerdrückst's ja wieder,« sagte Bärbel und ging davon.

Reinhard wandelte sonntäglich gekleidet mit Stephan und Martin nach der Kirche. Alles nickte ihm freundlich zu, Manche lachten noch über die seltsame Bartzier, aber der Träger derselben war ihnen doch heimisch; sie fühlten es dunkel, daß er zu ihnen gehörte, da er nach demselben Heiligthume, zu derselben Geistesnahrung mit ihnen wallfahrtete.

Auf dem Wege fragte Martin: »Nun was saget Ihr aber zu unserm Lorle? nicht wahr, das ist ein Mädle?«

»Ja,« entgegnete Reinhard, »das Lorle ist gerad wie ein feingoldiger Kanarienvogel unter grauen Spatzen.«

»Es ist ein verfluchter Kerle, aber Recht hat er,« sagte Martin zu Stephan.

Reinhard saß bei dem Schulmeister auf der Orgel, der brausende Orgelklang that ihm wundersam wohl, er durchzitterte sein ganzes Wesen wie ein frischer Strom. Die Bärbel, die ihn jetzt von unten sah, dachte in sich hinein: Er ist doch brav! Wie seine Augen so fromm leuchten! Reinhard hörte nur den Anfang der Predigt. An den Text: »Lasset euer Brod über das Meer fahren,« wurde eine donnernde Strafrede angeknüpft, weil das ganze Dorf sich verbunden hatte, nichts für das zu errichtende Kloster der barmherzigen Schwestern beizusteuern. Reinhard verlor sich bei dem eintönigen und nur oft urplötzlich angeschwellten Vortrage in allerlei fremde Träumereien. Drunten aber lag die Bärbel auf den Knien, preßte ihre starken Hände inbrünstig zusammen und betete für Lorle; sie[127] konnte nun einmal den Gedanken nicht los werden, daß dem Kinde Gefahr drohe, und sie betete immer heftiger und heftiger; endlich stand sie auf, fuhr sich mit der Hand bekreuzend über das Gesicht und wischte alle Schmerzenszüge daraus weg.

Der Orgelklang erweckte Reinhard wieder, er verließ mit der Gemeinde die Kirche. Nicht weit von der Kirchenthüre stand die Bärbel seiner harrend; indem sie ihr Gesangbuch hart an die Brust drückte, sagte sie zu Reinhard: »Grüß Gott!« Er dankte verwundert, er wußte nicht, daß sie ihn erst jetzt willkommen hieß.

Als Reinhard nun noch einen Gang vor das Dorf unternahm, begegnete ihm der Collaborator mit einem gespießten Schmetterling auf dem Mützenrande.

»Was hast du da?« fragte Reinhard.

»Das ist ein Prachtexemplar von einem papilio Machaon, auch Schwalbenschwanz genannt; er hat mir viel Mühe gemacht, aber ich mußte ihn haben, mein Oberbibliothekar hat noch keinen in seiner Privatsammlung; es waren zwei, die immer in der Luft mit einander kosten, immer zu einander flatterten und wieder davon; sind glückselige Dinger, die Schmetterlinge! Ich hätte sie gern beide gehabt oder bei einander gelassen, habe aber nur einen bekommen, und schau wie ich aussehe; in dem Moment wie ich ihn haschte, bin ich in einen Sumpf gefallen.«

»Und Stecknadeln hast du immer bei dir?«

»Immer; sieh hier mein Arsenal,« er öffnete die innere Seite seines Rockes, dort war ein R aus Stecknadelköpfen gesetzt.

[128] »Aber daß ich's nicht vergesse,« fuhr er fort, »ich habe das Wort gefunden.«

»Welches Wort?«

»Das Epitheton für das Mädchen: wonnesam! Es ist ein Vorzug unserer Sprache, daß dieses Wort transitiv und intransitiv ist, sie ist voll Wonne und strahlt Jedem Wonne in die Seele. Aber halt! Eben jetzt, indem ich rede, finde ich das Urwort, das ist's:Marienhaft! Was die Menschheit je Anbetungswürdiges und Wonniges in der Erscheinung der Jungfrau erkannte, das drängte sie in dem Wort Maria zusammen. Das kann keine andere Sprache, solch einnomen proprium allgemein objektivisch bilden.Marienhaft! das ist's.«

Reinhard ward still; nach einer Weile erst frug er:

»Warst du die ganze Zeit im Walde?«

»Gewiß, o! es war himmlisch, ich habe einen tiefen Zug Waldeinsamkeit getrunken. Sonst wenn ich den Wald betrat, war mir's immer, als ob er schnell sein Geheimniß vor mir zuschließe, als ob ich nicht würdig sei, durch diese heiligen Säulenreihen zu schreiten und den stillen Chor der ewigen Natur zu vernehmen; mir war's immer, als ob beim letzten Schritte den ich aus dem Walde thue, jetzt erst hinter mir das süße geheimnißvolle Rauschen beginne und unerfaßbare Melodien erklingen. Heute aber habe ich den Wald bezwungen. Ich bin emporgedrungen durch Gestrüpp und über Felsen bis zum Quellsprung des Baches, wo er zwischen großen Basaltblöcken hervorquillt und ein breites rundes Becken ihn sogleich aufnimmt, als dürfte er da zu [129] Hause bleiben. Du warst gewiß noch nicht dort, sonst müßtest du's gemalt haben; das muß nun dein erstes Bild sein. Die Bäume hangen so sehnsüchtig nieder als wollten sie das Heiligthum zudecken, daß kein sterbliches Auge es sehe, in jedem Blatt ruht der Friede; der rote und weiße Fingerhut läßt seine Blüthenkette zwischen jeder Spalte aufsteigen, es ist eine Giftpflanze, aber sie ist entzückend schön! Die sanfte Erika versteckt sich lauschend hinter dem Felsen und wagt sich nicht hervor an das rauschende Treiben. Dort lag ich eine Stunde und habe Unendlichkeiten gelebt. Das ist ein Plätzchen, um sich in's All zu versenken. Morgenglocken tönten von da und dort, mir war's wie das Summen der Bienen, die sich heute bei der Sicherheit des schönen Wetters weit weg vom Hause wagten. Ich war emporgeklommen, hoch hinauf auf Bergeshöhen, die die Kirchthürme weit überragen, ich stand über Zion auf den Spitzen des unendlichen Geistes; da fühlte ich's wie noch nie, daß ich nicht sterben kann, daß ich ewig lebe; ich faßte die Erde, die mich einst decken wird, und mein Geist schwebte hoch über allen Welten. Mag ich freudlos über die Erde ziehen, klanglos in die Grube fahren, ich habe ewig gelebt und lebe ewig.« ...

Reinhard setzte sich auf den Wegrain unter einen Apfelbaum, er zog auch den Freund zu sich nieder. »Sprich weiter,« sagte er dann; der Angeredete blickte schmerzlich auf ihn, dann schaute er vor sich nieder und fuhr fort:

»Ich lag lange so in selig traurigem Entzücken, ich sah dem unaufhörlich sich ergießenden Quell zu. Wie[130] ätherklar springt er hervor aus nächtiger Verborgenheit; wie rein und hell schlängelt er sich in die Schlucht hinab, bald aber noch bevor er den ruhigen Thalweg erreicht, wird er eingefangen; was ficht's ihn an? Er springt keck über das Mühlrad und eilt zu den Blumen am Ufer. In der Stadt aber dämmen sie ihn ein, da muß er färben, gerben und verderben; er kennt sich nicht mehr. Es kann auch einem reinen klaren Naturkinde so ergehen. Was thut's? Du einzler Quell vom Felsensprung! ströme zu bis hin in das unergründliche, unbezwungene Meer, dort ist neue, dort ist ewige Klarheit und unendliches Leben, ein Ruhen und ein Bewegen in sich ... Bei dem Ersten, was ich dachte, war mir's nicht eingefallen, es festzuhalten, jetzt aber wollte ich Alles in melodische Worte fassen; ich quälte mich in allen Versarten, hin war meine Ruhe. Da fielst du mir wieder ein: wozu ein Resultat? Ich hab's gelebt, was braucht es mehr?« ...

»Ich kenne dein Waldheiligthum schon lange,« sagte Reinhard auf dem Heimwege, »ich habe auch genug dort geträumt, aber mit dem Pinsel konnte ich ihm nicht beikommen; ließen sich deine Gedanken malen, ja dann wär's anders. Ich habe mich von der Landschaft entfernt, und doch so oft ich hieher komme, ist mir's als ob hier eine tiefere Offenbarung noch meiner harre, besonders jetzt; vielleicht ist's dein Waldheiligthum, vielleicht auch nicht.«

»Wo warst denn du während meines Waldganges?«

»Ich war in der Kirche; du hättest eigentlich auch dort sein sollen; das einigt mit dem Bauernleben.«

[131] »Ja, ja, du hast Recht, ei, das thut mir leid; nun, ich gehe heut Mittag.« –

Im Wirthshause war eine große Veränderung.

Als der Collaborator neu beschuht herunterkam, rief ihm Lorle freundlich zu: »Das ist schön, Herr Kohlebrater, daß Ihr nicht auf Euch warten lasset. Wo seid Ihr denn gewesen?«

»Im Walde droben. Saget aber nicht Kohlebrater, ich heiße mit meinem ehrlichen Namen Adalbert Reihenmaier.«

»Ist auch viel schöner. Nun erzählet mir auch 'was, Herr Reihenmaier.«

»Ich kann nicht viel erzählen.«

»Ja, wir wollen warten bis Mittag, Ihr gehet doch auch mit auf die Hohlmühle? und Ihr könnet ja so schön singen.«

»Ich bin bei Allem, absonderlich wo Ihr seid; ich hab' im Walde an Euch gedacht.«

»Müsset mich nicht so zum Possen haben, ich bin zu gut dazu und Ihr auch; es schickt sich nicht für so einen Herrn wie Ihr seid. Hübsch ordelich sein, das ist recht. Ihr müsset aber auch Euren Sonntagsrock anziehen. Habt Ihr denn keinen?«

»Mehr als einen, aber nicht hier.«

»Ja, Ihr habt's doch gewußt, daß Ihr am Sonntag bei uns seid? Nun – schad't jetzt nichts. Ich will Euch den Martin schicken, er soll Euch ein bisle aufputzen.«

Jubelnd sprang der Collaborator die Treppe hinauf und holte eine Sammlung Volkslieder – (die er zu [132] etwaigen Ergänzungen und Varianten mitgenommen hatte – aus seinem Ränzchen; er warf das Buch an die Zimmerdecke in die Höhe und fing es wieder auf. »Hier,« rief er, das Buch hätschelnd, als wäre es etwas Lebendiges, »hier seid ihr zu Hause, nicht in der Bibliothek eingepfercht; heut sollt ihr wieder lebendig werden.«

Beim Essen herrschte die alte Gewohnheit nicht mehr, für Reinhard und seinen Freund war in dem Verschlag besonders gedeckt. Reinhard sagte dem Wirth, daß er wie ehedem am Familientisch essen wolle. Der Alte aber schüttelte den Kopf ohne ein Wort zu erwidern, nahm die weiße Zipfelmütze ab und hielt sie zwischen den gefalteten Händen auf der Brust, damit das Gebet beginne.

»Bärbel, traget nur die zwei Gedecke heraus, wir essen nicht allein,« rief Reinhard. Der Wadeleswirt setzte schnell die Mütze wieder auf, schaute, ohne eine Miene zu verziehen, rechts und links und sagte:

»Nur stet.« 1 Er machte dann eine ziemliche Pause, wie jedesmal, wenn er dieses Wort sagte, das als Mahnung galt, daß Keiner mucksen dürfe bis er weiter redete; endlich und endlich setzte er hinzu:

»Drin bleibt's. Es ist kein Platz da für zwei.« Er hob die Arme bedachtsam auf, strich die Hände wagrecht über die Luft, wie den Streichbengel über ein Kornmaß, was so viel hieß als: abgemacht.

Die Freunde setzten sich in den Verschlag, Lorle trug ihnen auf.

[133] »Kann denn das die Bärbel nicht?« fragte Reinhard, und der Collaborator ergänzte: »Ihr solltet uns nicht bedienen.«

»O du liebs Herrgöttle,« beschwichtigte Lorle, »was machen die für ein Gescheuch von dem Auftragen. Ich thu's ja gern, und wenn Ihr einmal eine liebe Frau habt, Herr Reihenmaier, und ich komm' zu Euch und ihr gunnet mir ein warm Süpple, da soll mich Euer Weible auch bedienen.«

»Woher wisset Ihr denn, daß ich heirathen möcht'?«

»Da kann man mit der Pelzkappe darnach werfen, so groß steht's Euch auf der Stirn geschrieben: ich glaub', daß eine Frau mit Euch rechtschaffen glücklich wird.«

»Woher wisset Ihr denn das?«

»Ihr seid so ordelich mit der Handzwehle 2 umgangen.«

Alles lachte, und draußen am Tische sagte der Vater: »Es ist ein Blitzmädle, und es hat sonst in einem Jahr nicht so viel geschwätzt, wie jetzt seit gestern.«

»Ja,« sagte die Mutter, nachdem sie mit besonderer Zufriedenheit einen Löffel Suppe verschluckt, jetzt mit dem Löffel auf den ihres Mannes klopfend, »du wirst's noch einsehen, was das für ein Mädle ist; das ist so gescheit wie der Tag.«

»Das hat es von dir und von unserm Vorroß, von der Bärbel da,« schloß der Wadeleswirth, den Schlag zurückgebend.

Die beiden Freunde unterhielten sich vortrefflich mit [134] Lorle, das immer ein Auge auf jegliches Erforderniß hatte, seltsamerweise aber Alles mit der linken Hand anfaßte; der Collaborator sah sie mehrmals scharf darob an und Lorle sagte:

»Nicht wahr, es ist nicht in der Ordnung, daß ich so links bin? Ich hab' mir's schon abgewöhnen wollen, aber ich vergess' es immer.«

Schnell nahm Reinhard das Wort: »Das schadet nichts!« Leiser, daß man es in der Stube draußen nicht hören konnte, setzte er hinzu: »Ihr machet Alles prächtig. Wer kann's beweisen, daß die rechte Hand die geschicktere ist? Eure Linke ist flinker als manche Rechte, und mir gefällt's so ganz wohl.«

Bei diesen Worten richtete sich Lorle grad auf, eine eigentümliche Majestät lag in ihrem Blicke.

»Sind keine Musikanten im Dorf?« fragte der Collaborator.

»Freilich, sie sind alle bei einander.«

»Die sollten uns heut' Abend einige Tänze spielen, ich bezahle gern ein Billiges.«

»Ja, das geht nicht, der Schultheiß ist heut verreist und es ist vom Amt streng verboten, ohne polizeiliche Erlaubniß Musik zu halten; in Eurer Stub' droben hängt die Verordnung.«

»O Romantik! Wo bist du?« sagte der Collaborator und Lorle erwiderte: »Das haben wir hier nicht, aber ein Clavier steht droben, das darf man –«

Die beiden Freunde brachen in schallendes Gelächter aus, so daß sie sich kaum auf ihren Sitzen halten konnten. Reinhard faßte sich zuerst wieder, denn [135] er sah, wie es plötzlich durch das so friedliche Antlitz des Mädchens zuckte und zitterte, Pulse klopften sichtbar in den Augenlidern und ein tiefschmerzlich fragendes Lächeln lag auf den Lippen. Lorle stand da mit zitterndem Athem; sie wand das festangezogene Schürzenband um einen Finger, daß es tief einschnitt; dieser körperliche Schmerz that ihr wohl, er verdrängte einen Augenblick den seelischen. Reinhard gebot in barschem Tone seinem Freunde, mit dem »einfältigen Lachen« endlich aufzuhören. So sehr sich nun auch der Collaborator entschuldigte und sich Mühe gab, Lorle zu erklären was er gemeint habe, das Mädchen räumte schnell ab und blieb verstimmt, so verstimmt wie das Klavier, das der Collaborator alsdann in seiner Stube probirte.

Das war eine grausam zerstörte Harmonie, fast keine Saite hatte mehr den entsprechenden Klang, da mußten viele Menschen darauf losgetrommelt haben. »Ja,« dachte der Collaborator, »wenn ein Wesen einmal zur Mißstimmung gebracht ist, dann arbeitet Jedes zum Scherze oder muthwillig darauf los, es noch mehr und vollends zu verstimmen, und haben sie's vollbracht, dann lassen sie es vergessen im Winkel stehen.« Der Collaborator sah darin nur ein Bild seines Lebens, er dachte nur an sich. – Von den vielen Wanderungen und Empfindungen ermüdet, verschlief er dann richtig die Mittagskirche, zu seinem und vielleicht auch zu unserm Frommen. Wer weiß, ob das Waldheiligthum vom Morgen ungestört geblieben wäre.

Als Lorle aus der Mittagskirche kam, ging sie mit[136] ihrem Bruder rasch nach der Hohlmühle. Der Vater, das wußte sie, war nicht so bald loszueisen, er versprach mit der Mutter nachzukommen. Freilich hatte sich's Lorle heute Morgen schön ausgedacht, wenn auch die Fremden mitgingen. Es lief auch ein Bißchen Stolz mit unter. Das war aber nun Alles vorbei. Nach vielem Drängen folgte das alte Ehepaar mit den Freunden zwei Stunden später. Der Collaborator war wieder ganz aufgeräumt.

»Ihre Uhren hier gehen falsch,« bemerkte er dem Wirthe, »ich habe die meinige nach dem Meridian auf der Bibliothek gestellt. Sie könnten sich hier auch eine Sonnenuhr einrichten, etwa an der neuen Kirche, die jetzt gebaut wird; à propos, warum bauen Sie die neue Kirche nicht mehr drüben auf dem Hügel, das war ja so schön, daß man sich erhebt, wenn man zur Kirche geht?«

»Ja, wir wollen jetzt die Kirch' bei der Hand haben, zu allen Gelegenheiten wo man's braucht.«

»Da habt ihr auch Recht, die Religion und die Kirche sollen nicht mehr oberhalb, fern von dem Leben stehen, sondern mitten unter demselben. Ach, da blüht schon vorzeitig die Genziana cruciata,« unterbrach sich der Collaborator und sprang über den Weggraben nach der Blume.

Der Wadeleswirth schaute ihm lächelnd nach und sagte zu Reinhard: »Das ist ein sonderbarer Mensch! Hat man nicht gemeint, er will mit aller Gewalt die Kirch' wieder auf den Berg setzen, und wenn man's ihm anders auslegt, gleich ist es ihm auch Recht; bei[137] dem ist's wie bei dem Verwalter auf der Saline drunten, der hat einen Schlafrock, den man auf all beiden Seiten anziehen kann. Grausam gelehrt muß er aber sein; was hat er denn eigentlich g'studirt?«

»Zuerst geistlich und dann viele Sprachen; jetzt ist er auf dem Bücherkasten angestellt, und da hat er von Allem was wegkriegt. Er hat im Ganzen wohl feste Meinungen, und grundbrav ist er, das könnet Ihr mir glauben.«

»Ja, ja, glaub's schon.«

Der Collaborator war wieder herbeigekommen. Er konnte sich nicht enthalten, auf jedem Schritte Reinhard auf die Schönheiten des Weges aufmerksam zu machen; da war eine Baumgruppe, eine Durchsicht, ein knorriger Ast, Alles rief er an »und sieh,« sagte er wieder, »wie das Sonnenlicht so herrlich in Tropfen durch die Zweige und von den Blättern rinnt!«

»Laß doch dein ewiges Erklären!« fuhr Reinhard auf; der Collaborator ging still, um sich wieder eine Blume zu holen und zerschnitt sie mit dem Federmesser.

»Ihr müsset ihn nicht so anfahren,« sagte der Wadeleswirth, »das ist ja ein glücklicher Mensch; wo ein Anderes gar nichts mehr hat, hat der noch überall Freude genug, an der Sonn', an einer Blum', an einem Käfer, an Allem.« –

Man war endlich am Mühlgrunde angekommen: dort wandelten zwei Mädchen durch die Thalwiese Hand in Hand und sangen. »Lorle!« rief die Mutter, das Echo hallte es wieder, Vroni blieb stehen und Lorle sprang den Kommenden entgegen. Der Wadeleswirth [138] stand da, weitspurig und die Hände in die Seiten gestemmt, er nickte nur einmal scharf mit dem Kopfe und hier sprach sich sein ganzer Vaterstolz aus: Zeiget mir noch so ein Mädle landaus und landein, sagten seine Mienen.

Reinhard ward auf der Mühle herzlich bewillkommt, auch sein Freund wurde traulich begrüßt, denn hier, wo Alles in der Sippschaft lebt, werden die Freunde wie Familiengenossen angesehen. Um den Tisch unter dem Nußbaum saß die Gesellschaft, der alte Müller zeigte Reinhard, wie sein Name, den er vor Jahren in die Rinde geschnitten, groß geworden war.

Der Collaborator wendete keinen Blick von dem alten Manne, für dessen Antlitz er später die eigene Bezeichnung erfand, indem er es ein »geschmerztes Gesicht« nannte; es war eines jener edlen, länglichen Gesichter, hohlwangig, mit breiten Backen- und Stirnknochen und großen blauen Augen, voll Demuth und langen Harmes, darauf die Leidensgeschichte des deutschen Volkes geschrieben ist.

»Ja,« sagte der Alte, Reinhard mit dem Finger drohend, »der Schelm soll mich ja, wie sie sagen, in einem besondern Bild gemalt haben. Ist das auch ehrlich und recht?«

»Das macht der Katz' keinen Buckel,« lachte der Wadeleswirth, »mich dürft' er meinetwegen malen wie er wollt', ich behielt' mich doch.«

»Eingeschlagen, bleibt dabei,« rief Reinhard, die Hand hinstreckend; als er aber keine Hand erhielt, setzte er lachend hinzu: »Es war nur Spaß, es giebt gar keine so dicken Farben, wie Ihr seid.«

[139] Unter dem allgemeinen Gelächter sagte dann der Müller: »Jetzt saget's frei, was habt Ihr denn aus mir gemacht?«

»Nichts Unrechtes. Wie ich damals die Mühle abgezeichnet hab', da geh' ich einmal Abends weg, die Sonne ist grad' im Hinabsinken, da geht Euer Fenster auf, Ihr gucket 'raus, ziehet die Kapp' vom Kopf, haltet sie zwischen den Händen und betet laut in die untergehende Sonne hinein. Da hat mich's heilig angerührt und ich hab' Euch so gemalt, nur mit der Aenderung, daß Ihr unter der Halbthür statt am Fenster stehet.«

»Das ist nichts Unrechtes, das kann man sich schon gefallen lassen,« sagte die Wirthin.

Man saß ruhig und wohlgemuth beisammen und Reinhard vertraute unter dem Gelöbniß der Verschwiegenheit, daß er in die neue Kirche ein Altarbild stiften wolle. Der Wadeleswirt bot ihm freie Zehrung in seinem Hause an, so lang er hieran arbeite, und der Müller wollte auch etwas thun, er wußte nur noch nicht was.

Eine Weile herrschte Stille in dem ganzen Kreise, Niemand fand, nachdem man so gute und fromme Dinge besprochen, etwas Anderes. Der Collaborator verhalf zu einer andern Stimmung. Die Mädchen waren ab- und zugegangen und hatten Essen aufgetragen, die Gläser waren eingeschenkt, aber Niemand griff zu, weil die Gedanken Aller in der Kirche waren. Lorle hatte den Collaborator offenbar vermieden. Dieser fragte nun Vroni:

[140] »Hat man keine Sagen von dem Mühlbache? Baden sich keine Nixen droben im Quell?«

»Ja, nix badet sich drin,« erwiderte Vroni; Alles kicherte in sich hinein.

Der Collaborator ließ aber nicht ab und wendete sich an den Alten: »Erzählt man sich denn gar nichts von dem Bache?«

»Ach was! Das sind Sachen für Kinder, das ist nichts für Euch.«

»Ich bitte, erzählet doch. Ihr thut mir einen Gefallen damit.«

»Nun, man berichtet allerlei, so von dem Wasserweible, und so.«

»Ja, davon erzählet, ich bitte.«

»So hat im Schwedenkrieg ein Schwed hier der Tochter vom Haus Gewalt anthun wollen und da ist sie auf den Fruchtboden entlaufen und hat die Leiter nachzogen und da hat der Schwed' die Mühle gestellt und ist am Rad 'naufgestiegen, und wie er halb droben ist, da ist das Wasserweible kommen, hat die Mühle in Gang bracht, und patsch! ist mein Schwed' unten gelegen und ist versoffen.«

»Das ist eine herrliche Sage.«

»Ja, Aberglaube ist's,« eiferte der Müller, »der Schwed' hat die Mühl nicht recht stellen können und da ist sie halt wieder von selber in Gang kommen.«

Der Nachmittag ging unter mancherlei Gesprächen vorüber, man wußte nicht wie. Die beiden Mädchen machten sich über den Collaborator auf alle Weise lustig, sie hielten ihn für abergläubisch und erzählten[141] ihm Spuk- und Geistergeschichten; besonders Lorle war froh, ihm seinen gelehrten Hochmut heimzahlen zu können und machte ihn so »gruseln«, daß er gewiß in der Nacht nicht schlafen könne; sie stellte sich, als ob sie an Alles glaube, um ihm rechte Furcht einzujagen. Der Collaborator war ganz glückselig über diese reiche Fundgrube und merkte Nichts von der versteckten Schelmerei.

Auf dem Heimwege sagte der Wadeleswirth ein gar weises Wort zu Reinhard: »Euer Kamerad ist doch grad wie ein Kind und er ist doch so gelehrt.«

Stephan war auf der Mühle geblieben, Lorle ging neben der Mutter, der Collaborator begleitete sie und sagte einmal: »Da kann man nun Vergangenheit und Zukunft sehen, so wie das Lorle müsset Ihr einmal ausgesehen haben, Frau Wirthin, und das Lorle wird auch einmal so eine nette alte Frau, wie Ihr.«

Die Wirthin schmunzelte, es war ihr aber doch unbehaglich, so von sich sprechen zu hören; denn wenn die Bauern auch noch so gern ein Langes und Breites selber von sich reden, ist es ihnen doch unlieb, wenn ein Anderer sie in ihrem Beisein schildert oder gar kritisirt.

Unser gelehrter Freund aber begann wieder: »Saget doch, woher kommt's, daß man so selten schöne ältere Leute auf dem Dorfe sieht, besonders wenig schöne ältere Frauen?«

»Ja gucket, die meisten Leut' haben ein kleines Hauswesen und können keinen Dienstboten halten und da muß oft so eine Frau schon am vierten, fünften Tag, nachdem sie geboren hat, an den Waschzuber[142] stehen oder auf's Feld. Wenn man sich nicht pflegen und warten kann, wird man vor der Zeit alt.«

»Ihr solltet einen Verein zur Wartung der Wöchnerinnen stiften.«

»Ja wie denn?«

Der Collaborator erklärte nun die Einrichtung eines solchen Vereins, die Wirthin aber machte viele Einwendungen, besonders, daß manche Frauen sich ungern von Nichtverwandten in ihre unordentliche Haushaltung hineinsehen lassen; endlich aber stimmte sie doch bei und sagte: »Ihr seid ein recht liebreicher Mensch,« und Lorle bemerkte: »Aber die Mädle können auch bei dem Verein sein?«

»Gewiß, der Verein verpflichtet sich, jede Wöchnerin mindestens vierzehn Tage zu pflegen.«

Es war Dämmerung als man im Dorfe anlangte, Reinhard schloß sich einem Trupp Burschen an und zog mit ihnen singend durch das Dorf. Als es längst Nacht geworden war, kam er heim, sprang schnell die Treppe hinauf und wieder hinab. Der Collaborator saß auf seiner Stube und notirte sich einige der heute vernommenen Sagen; als er aber von der Straße herauf Zitherklang hörte, ging er hinab.

Unter der Linde saß Reinhard, die Zither auf dem Schooße, die ganze Männerschaft des Dorfes war um ihn versammelt. Er spielte nun zuerst eine sanfte Weisung, er wußte das liebliche Instrument so zart zu behandeln, daß es, bald schmelzend, bald jubelnd, alle Gemüthsregungen verkündete. Die Zuhörer standen still und lauschend, es gefiel ihnen gar wohl und doch, [143] als er jetzt geendet, fürchteten sie, er möchte immer blos spielen. Martin sprach daher das allgemeine Verlangen aus, indem er rief: »Ihr könnet doch auch singen, gebt was los.«

»Ja, ja,« stimmten Alle ein, »singet, singet.«

Reinhard gab nun viele kurze Lieder preis, die er auf seinen Wanderungen aufgehascht hatte; hell klang seine Stimme hinein in die stille Nacht und die Jodeltöne sprangen wie Leuchtkugeln hinauf zum Sternenhimmel und stürzten sich wieder herab.

Lorle, die sich eben hatte zu Bett legen wollen, schaute zum Fenster heraus und horchte hinab; die Worte mit den Lippen sprechend, aber nicht der Luft anvertrauend, sagte sie:

»Es ist doch ein prächtiger Mensch, so gibt's doch gewiß Keinen mehr auf der ganzen Welt.«

Nun sang Reinhard das Lied:


Und wann's emol schön aber 3 wird,

Und auf der Alm schön grüen,

Die Böckle mit de Geisle führt,

Die Sendrin mit de Küehn;

Die Wälder werden grün von Laub,

Die Wiesen grün von Gras,

Und wann i an mein' Sendrin denk,

No g'freut mi halt der G'spaß.


Der Collaborator kannte das Lied und begleitete es im Grundbaß, Lorle oben machte aber bei den nachfolgenden Versen das Fensterchen zu und legte sich still zu Bett. Gegen das Ende des äußerst naiven Stelldichein, [144] welches im Liede besungen wurde, konnten schon fast alle Burschen mitsingen; der eilfte und letzte Vers wurde unter hellem Lachen noch einmal wiederholt:


Der Bue der sait, heut kann's nit sein,

Heut hab i goar koan Freud,

Wann i das nächstmal wieder kumm,

Heut hab i goar koan Schneid.

Er thut en frischen Juchzer drauf,

Das hallt im ganzen Wald;

Die Sendrin hat ihm nachig'weint,

So lang sie hört den Schall.


»Und das Lied hat eine Sennerin gemacht!« schrie der Collaborator in vollem Entzücken.

»Ihrem Herzliebsten zur guten Nacht, gut Nacht,« schloß Reinhard und ging in das Haus. Die Burschen sangen das neue Lied noch weit hinein durch das Dorf und lachten unbändig.

»Das war ein genußvoller Tag,« sagte der Collaborator auf der Stube zu seinem Freunde. »Wie schön ist Musik in der Nacht! Das Licht ist ein Nebenbuhler des Gesangs, es liebt ihn nicht, die dunkle Nacht aber wiegt ihn sanft auf ihren weichen Armen. Du verstehst's mit dem Volke umzugehen, man sollte ihm die neuen Offenbarungen im Gesange mittheilen, da ist Alles wieder eins, die erste und letzte Bildungsstufe ist im Gesange wieder geeint.«

Da Reinhard nicht antwortete, fuhr der Redner fort: »Du hast mir diesen Abend ein Gesetz von der Völkerwanderung der Lieder, ich wollte sagen, von der Wanderung der Volkslieder concret erklärt. Man hat[145] so oft Volkslieder von ganz localer Färbung an fremden Orten gefunden. Menschen wie du sind die Schmetterlinge, die den befruchtenden Blumenstaub von der einen Blume zur andern bringen. Wir hatten heute Alles: Ein Müllerstöchterlein, ein Wirthstöchterlein, ein Maler und Musikant, es fehlte nur noch ein Jäger, dann hätten wir die vollständige Romantik.«

»Laß die Romantik, du bist heut schon übel damit gefahren.«

»Du solltest unsere heutige Versammlung unter dem Nußbaum malen.«

»Du hast mir versprochen, mich nicht aufmerksam zu machen.«

»Ja, verzeih', gut Nacht.«

Reinhard richtete noch bis spät in der Nacht seine Werkstätte ein, er hatte etwas im Sinne und wollte am andern Morgen frisch an die Arbeit.

Fußnoten

1 Langsam, ruhig.

2 Handtuch.

3 Aber = frühlingshell, sonnig.

Bergaus und bergein

Bergaus und bergein.

Nachdem der Collaborator am andern Morgen die unterbrochene Aufzeichnung der Sagen vollendet hatte, suchte er seinen Freund auf und fand denselben vor einer fast fertigen Farbenskizze: ein Tyroler, der oberschwäbischen Burschen und Mädchen ein neues Lied vorsingt.

»Da hast du ja mein Gesetz verbildlicht,« bemerkte der Collaborator, »das Bild gewinnt eine tiefe Tendenz.«

»Bleib' mir vom Hals mit deiner Tendenz,« entgegnete der Maler, »die Menschen haben den Teufel [146] zur Welt hinausgejagt, aber den Schwanz haben sie ihm ausgerissen und der heißt Tendenz. Wie in dem Märchen von Mörike legen sie ihn als Merkzeichen in's Buch, in Alles. Ich möchte einmal Etwas machen, bei dem sie gar keine Tendenz herausquälen könnten, wo sie blos sagen müßten: das Ding ist schön.«

»Du hast Recht, das Symbolische und Typische, was jedes Kunstwerk in sich hat, muß sich auf naturwüchsige Weise gestalten.«

»Naturwüchsig? Ein schönes Wort; warum sagst du nicht naturwuchsig oder naturwachsig?«

»Spotte nur, meine Behauptung steht doch fest: in jedem Kunstwerke ist Symbolisches und Typisches; die Situation, das Ereigniß ist für sich da, bedarf keiner äußern Ideenstütze, ist selbständig; in der tieferen Betrachtung aber muß sich ein sinnbildlicher oder vorbildlicher Gedanke darin offenbaren, das Concrete wird an sich ein Allgemeines. Das ist nicht Tendenz, wo man in die magere Milch Butter gießt, um glauben zu machen, die Kuh gebe von selbst Milch mit solchen Fettaugen, das Gedankliche ist vielmehr als Saft und Kraft in jedes Atom vertrieben. Dein Bild hier kann ganz vortrefflich werden, nur ist die Frage, ob das Musikalische, das punctum saliens gegenständlich werden kann für die Malerei. Du mußt Lessing's Laokoon studiren, dort sind die Grenzen der Kunst haarscharf gezogen. Ich sehe wohl, daß der Tyroler mit der Zither auf dem Schooße, wie er mit der einen Hand die Finger schnalzt, wie er den Mund öffnet, ein lustiges Lied singt; du hast in der Gruppe zwischen dem Burschen [147] und dem Mädchen, die sich hinter dem rücken des Alten zuwinken und hier zwischen den Hand in Hand stehenden, staunenden beiden Mädchen gezeigt, daß eine Liebesstrophe gesungen wird, ob aber –«

»Du wolltest ja heute das Clavierstimmen,« unterbrach ihn Reinhard.

»Das will ich. Hier an dem Clavier habe ich auch wieder ein Symbol des deutschen Volksgemüthes: alle Saiten sind noch da, keine braucht frisch aufgezogen zu werden, aber fast alle sind von rohen, ungeschickten Händen verstimmt, nur einige tiefe Töne sind noch rein. Auch das ist bezeichnend, daß ich mir jetzt vom Schulmeister den Stimmhammer holen muß. Ich gehe nun.«

»Grüß' mir den Schulmeister,« schloß Reinhard und schaute eine Weile nach der Thür, die er hinter dem Störenfried verschlossen hatte. Zur Staffelei gewendet, versank er in Gedanken; er hatte so rüstig und zuversichtlich begonnen und jetzt war's ihm doch, als ob das Musikalische nicht wohl zu malen sei. Er erinnerte sich nun, daß er ein Bild für die neue Kirche versprochen, und ging nach dem neuen Bau, um sich Räumlichkeit und Größe zu betrachten; einmal aus der Werkstatt, ging er nicht wieder zurück, sondern wanderte ins Feld. Als er hier die arbeitenden Bauern betrachtete, zog der Gedanke durch seine Seele: Wie glücklich sind diese Menschen in der Stetigkeit ihrer Arbeit. Sie wissen nichts von Stimmungen und Zwiespältigkeiten des Berufs, ihre Arbeit ist so fest und unausgesetzt, wie das ewige Schaffen der Natur, der sie dienen. Wär' ich [148] ein Bauer, ich wäre glücklich. – Nun fiel ihm auch eine Bäuerin ein, er saß im freien Felde am hellen Mittag auf dem Pfluge, ein Weib kam den Rain herauf, sie trug das einfache Essen im tuchumwickelten Topfe, ihr Antlitz leuchtete, als sie ihren Mann sah, der, die schirmende Hand an die braune Stirn gelegt, nach ihr ausschaute; sie lächelte und ihr Mund schwellte sich wieder zum Kusse. – Wir sind genußsüchtige Menschen, dachte Reinhard, aus seinen Träumen aufseufzend; wie glücklich könnte ich leben, vermöchte ich's, mich in die Beschränkung einzufrieden.

Aber – so sonderbar ist der Mensch in seiner Doppelnatur geartet – Reinhard konnte wenige Minuten darauf sein Traumbild in flüchtigen Umrissen in sein Skizzenbuch zeichnen. Wohl that er's nur zur Erinnerung, aber es war doch noch mehr, und daß er überhaupt so bald eine Träumerei in eine Skizze verwandeln konnte, mußte ihm zeigen, wie weit ab er davon war, seinen Künstlerberuf hinter sich zu werfen. – Die Züge des Weibes hatten unverkennbare Aehnlichkeit mit einem nicht gar fernen Mädchen. Reinhard wollte sich selbst entfliehen, indem er mit voller Kraft den Bergwald hinaufrannte: er schweifte lange umher, da sah er in einer Schlucht die zur Trift abgeholzt war, einen Hirtenknaben, der auf seinen Stock gelehnt über die weidenden Kühe hinweg nach dem Thal schaute. Reinhard schlich leise an ihn heran, nahm ihm den breiten, schwarzen Hut vom Kopfe und machte eine tiefe Verbeugung; der Knabe lachte und dankte vornehm nickend, ein frisches Antlitz von feuerrothen Lockenkrausen umwallt, schaute zu Reinhard auf.

[149] »Nun? ist das Alles?« fragte der Knabe keck; »her mit dem Hut!«

»Nein, ich will dich abzeichnen, willst du still halten?«

»Ja, wenn Ihr mir einen Groschen gebt.«

Reinhard ward handelseins, der Knabe aber wollte nichts vom Stillehalten wissen, bis er den Groschen in der Tasche habe. Reinhard mußte willfahren. Während der Arbeit erfuhr er nun, daß der Knabe beim Lindenwirth diente und hier dessen Kühe hütete.

»Wen hast du denn am liebsten im Hause?«

»Da sitzt er und hat's Hüetle auf,« antwortete der Knabe schelmisch, was so viel hieß als: man wird dir's nur schnell sagen, ja, wart' ein Weilchen.

»Also die Bärbel?« fragte Reinhard.

»Nein, die gewiß nicht; ich kann's Euch meinetwegen auch sagen, aber wenn Ihr's verrathet, werdet Ihr gestraft um sechzehn Ellen Buttermilch.«

»Also wer ist's?«

»Versteht sich das Lorle. Du lieber Himmel! Wenn ich nur nicht erst dreizehn Jahr' alt wär', das Lorle müßte mein Weible sein; ich hab' aber nur fünf Gulden Lohn im Sommer und ein paar Nägelschuh' und ein paar Hosen und zwei Hemden, das gibt kein Heirathgut. Aber das Lorle, das ist ein Mädle, potz Heidekukuk! Es kommt immer daher, wie wenn es aus dem Glasschränkle käm', und es schafft doch sellig, und da guckt es so drein, daß man nicht weiß, darf man mit ihm reden oder nicht; es hat so getreue Augen, daß man satt davon wird wenn man's ansieht, und es sagt nichts und es ist Einem doch wie wenn [150] es über alle Menschen zu befehlen hätt', und wenn es was sagt, muß man ihm durch's Feuer springen, da kann man nimmer anders.«

Reinhard sah den Knaben so verwirrt an, daß dieser die Hand an die Seite stemmte und herausfordernd fragte: »Was gibt's denn? Was wollet Ihr?«

»Nichts, nichts, red' nur weiter.«

»Ja was weiter? Da habt Ihr Euern Groschen wieder, wenn Ihr mich zum Narren habt, und ich red' jetzt gar nicht, just nicht, gar nicht.«

Reinhard beruhigte den Knaben, der sich in Zorn hineinarbeiten wollte, er schenkte ihm noch einen Groschen; das that gute Wirkung. –

Als die Zeichnung vollendet und Reinhard weggegangen war, jauchzte der Knabe laut auf, daß die Kühe, das abgegraste Futter im Maul haltend, nach ihm umschauten. Der Knabe setzte sich schnell auf den Boden und betrachtete mit unendlicher Befriedigung Wappen und Schrift an den beiden Groschen, dann zog er das in ein Knopfloch gebundene Lederbeutelchen vor, darin noch anderthalb Kreuzer waren, legte schmunzelnd das neue Geld hinein und sagte, den Beutel zudrehend: »So, vertraget euch gut und machet Junge.«

Während sich dies im Walde zutrug, hatte der Collaborator im Dorfe ganz andere Begebnisse. Er besuchte den Schullehrer und traf in ihm einen abgehärmten Mann, der schwere Klage führte, wie sein Beruf so viel Frische und Spannkraft erheische und wie der bitterste Mangel ihn niederdrücke, so daß er sich selber sagen müsse, er genüge seinem Amte nicht. Der Collaborator [151] gab ihm zwei Gulden, die er nach Gutdünken verwenden solle, den Schulkindern eine Freude damit zu machen, ausdrücklich aber verbot er, ein Buch dafür zu kaufen. – Der neuen Kirche gegenüber auf den Bausteinen saß ein hochbetagter Greis, der jetzt den Collaborator um eine Gabe bat. Auf die Frage nach seinen Verhältnissen erzählte der Alte, daß ihn eigentlich die Gemeinde ernähren müsse und daß sie ihm auch Essen in's Haus geschickt habe; er habe es aber nur zweimal angenommen, er könne nicht zusehen wie seine sieben Enkel um ihn her hungern, während er sich sättige. Die umstehenden Maurer bestätigten die Wahrheit dieser Aussagen. Der Collaborator begleitete den alten Mann nach Hause und das Elend, das er hier sah, preßte ihm die Seele so zusammen, daß er zu ersticken glaubte; er gab hin was er noch hatte, er hätte gern sein Leben hingegeben, um den Armen zu helfen. Lange saß er dann zu Hause und war zum Tode betrübt, endlich machte er sich an die Arbeit, das Clavier zu stimmen.

Mittag war längst vorüber, da kam Lorle zu ihm; sie hatte sich zwar gestern vorgenommen mit dem »Ueberg'studirten« zu trutzen, aber es ging nicht. Für ein gutes Gemüth giebt es keine schwerere Last, als erfahrene Unbill oder Kränkung in der Seele nachzutragen. Lorle hatte alles Recht dazu, wieder freundlich zu sein.

»Da sehet Ihr's jetzt, wie der Herr Reinhard ist,« sagte sie, »wenn er einmal vom Haus fort ist, muß man ihm das Mittagessen oft bis um viere warm halten. Das muß man sagen, schleckig ist er nicht, er ist mit Allem zufrieden; aber es thut Einem doch leid,[152] wenn das gut Sach' so einkocht und verdorrt, und man kann's doch nicht vom Feuer wegthun. Und, Herr Reihenmaier, ich hab' auch viel an Euch denkt; Ihr habt gestern so eine gute Sach' gesagt und so schön ausgelegt, jetzt lasset's aber nicht blos gesagt sein, Ihr müsset's auch eingeschirren und in's Werk richten.«

»Was denn?«

»Das mit dem Verein für die Kindbetterinnen; gehet zum Pfarrer, daß der die Sach' in Ordnung bringt«

»Gut, ich gehe.«

»Ja,« sagte Lorle, »jetzt nach Tisch ist grad die best' Zeit beim Pfarrer, und Euch wird Euer Essen noch viel mehr schmecken, wenn Ihr so was Gutes in Stand bracht habt.«

Der Collaborator traf den Pfarrer im Lehnstuhl, zur Tasse Kaffee eine Pfeife rauchend. Nach den herkömmlichen Begrüßungen wurde das Anliegen vorgetragen, der Pfarrer schlürfte ruhig die Tasse aus und setzte dann dem Fremden auseinander, daß der Plan »unpraktisch« sei, die Leute hülfen einander schon von selbst. Der Collaborator entgegnete, wie das keineswegs der Fall sei, daß man deshalb die Wohlthätigkeit organisiren müsse, um zugleich frischen Trieb in die Menschen zu bringen. Der Pfarrer stand aus und sagte mit einer kurzen Handbewegung: man bedürfe hier der Schwärmereien von Unberufenen nicht. Jetzt gedachte der Collaborator der Armuth und Noth, die er erst vor wenigen Stunden gesehen; immer heftiger werdend rief er:

»Ich kann nicht begreifen, wie Sie die Kanzel besteigen und predigen können, indem Sie wissen, daß[153] Menschen aus der Kirche gehen die hungern werden, während Sie sich an wohlbesetzter Tafel niederlassen.«

Der Pfarrer kehrte sich verächtlich um und sagte: er würdige solche demagogische Reden – er war noch aus der alten Schule und hatte den Ketzerstempel communistisch noch nicht – kaum der Verachtung. Er machte eine Abschiedsverbeugung und rief noch: »Sagen Sie Ihrem Freunde, er möge seine Liederpropaganda unterlassen, sonst giebt's eine Polizei. Adieu.«

Der Collaborator kam leichenblaß zu Reinhard in das Wirthshaus und aß keinen Bissen. Als ihn Lorle nach dem Erfolge seines Ganges fragte, erwiderte er wie zankend: »Ich bin ein Narr!« dann preßte er wieder die zuckenden Lippen zusammen und war still.

Reinhard hielt Lorle sein Skizzenbuch hin und fragte: »Wer ist das?«

»Ei der Wendelin. Lasset mir's, ich will's der Bärbel zeigen.«

»Nein, das Buch gebe ich nicht aus der Hand.«

»Warum? Ist Jemand darin abgezeichnet, das ich nicht sehen darf?«

»Kann sein.«

Lorle zog ihre Hand von dem Skizzenbuche zurück.

Auf dem Spazirgange, den die Freunde nun gemeinsam machten, schüttete der Collaborator sein ganzes Herz aus; Reinhard verwies ihm sein Verfahren und er erwiderte:

»Du bist zu viel Künstler, um dir die Noth und das Elend vor Augen halten zu können; du suchst und hältst nur das Schöne.«

[154] »Und will's auch so halten, bis ich einmal durch ein Wunder ausersehen werde, die kranke Menschheit zu operiren.«

»Ich kann's oft nicht fassen,« fuhr der Collaborator wieder auf, »wie ich nur eine Stunde heiter und glücklich sein kann, da ich weiß, daß in dieser Stunde Zahllose, berechtigt zum Genusse des Daseins wie ich, ihr Leben verfluchen und bejammern, weil sie am Erbärmlichsten, an Speise und Trank Noth leiden.«

Die Beiden gingen geraume Zeit still den Bergwald hinan; ein alter Mann, der ein Bündel dürres Holz auf dem Rücken trug, begegnete ihnen, der Collaborator stand still und sah ihm nach, dann sagte er: »Der Instinct, was wir mit dem Untermenschlichen gemein haben, das hilft uns noch am meisten. Wir müßten ohnedies vergehen im Kampf gegen die Welt, wohlweislich aber ist's von Gott in alle Wesen und in den Menschen besonders gesetzt. Hast du beobachtet, wie der Alte vorgebeugt seine Last trug? Er kennt die Organisation seines Körpers nicht, weiß nichts von Schwerpunkt und Schwerlinie, und doch trägt er seine Last ganz vollkommen mit den Gesetzen der Physik übereinstimmend – vielleicht trägt auch die Menschheit ihre Last auf naturtriebliche Weise, die wir noch nicht als Gesetz erkennen.«

Auf diese Nothbank des Vielleicht suchte der Collaborator seine quälende Sorge abzusetzen; es gelang ihm nicht, aber er konnte doch verschnaufen, doch so viel freien Athem schöpfen, um neuen Eindrücken offen zu sein. Reinhard traf das rechte Mittel, um den Freund [155] zu erlösen, er stimmte jetzt mitten im Walde das Weber'sche »Riraro! der Sommer der ist do« an, der Collaborator begleitete ihn schnell im kräftigen Baß; sie wiederholten die Strophen mehrmals, und so ein Lied thut Wunder auf eine betrübte Seele, die sich nach Freiheit sehnt, es leiht dem Geiste Schwingen, daß er mit den Tönen frei über die Welt hinschwebt.

»Es giebt doch keinen festeren Halt, keine sicherere Freude als die Natur;« sagte der Collaborator wiederum, »selbst die Liebe, glaube ich, kann der namenlosen Wonneseligkeit nicht gleichen, die wir in der Natur empfinden. Der Natur Dank, daß sie stumm und gemessen fortlebt, uns nur sieht und nur zu uns spricht, wenn der Geist Natur geworden. Denke dir, wir könnten die ganze Natur hineinreißen in den grausen Wirrwarr unserer Philosopheme, Theorien und Zwiespälte, sie unterbräche durch dieselben auch ihr Dasein, experimentirte mit in unseren Ideen – wie unglücklich müßten wir werden! Nein, die Natur ist stumm und von ewigen Gesetzen gebunden. Es mag eine tiefe Deutung darin gefunden werden, daß nach der Bibelurkunde Gott die ganze Welt durch das Wort, aber ohne ausgesprochenen Willen schuf: erst als er den Menschen formte, sprach er: wir wollen einen Menschen schaffen. Die Natur spricht nicht und will nicht, wir aber sprechen und wollen, wir werden uns selbst zu Gegensatz und Kampf.«

»Lustig! Und wenn der Bettelsack an der Wand verzweifelt,« rief Reinhard endlich dazwischen, schnalzte mit den Fingern und begann zu singen:


[156]

»Jetzt kauf i mir fünf Leitern

Bind's aneinander auf,

Und wann's mich unt' nimer g'freut

Steig i oben hinauf.

Hiudidäh u.s.w.


Bin kein Unterländer,

Bin kein Oberländer,

Bin ein lebfrischer Bue,

Wo's mi freut, kehr i zue.


Drei 'rüber, drei 'nüber,

Drei Federn aufm Huet;

Sind unser drei Brüder,

Thut keiner kein guet.


Sind unser drei Brüder

Und i bin der klenst,

Hat e Jeder ein Mädle

Und i han die schönst.


E schön's Häusle, e schön's Häusle,

E schön's, e schön's Bett,

Und e schön's, e schön's Bürschle

Sust heirath i net.


Wenn i nunz ein Haus han

Han i doch e schöne Ma'n,

Dreih ihn 'rum und dreih ihn 'num,

Schau ihn alleweil an.


Mein Schatz, der heißt Peter,

Ist e lustiger Bue,

Und i bin sein Schätzle,

Bin au lusti gnue.«


[157] Mit solchen »G'sätzle«, die Reinhard schockweise kannte, überschüttete er seinen Freund; so oft dieser zu grübeln beginnen wollte, sang er ein neues und der Collaborator konnte nicht umhin, die zweite Stimme zu übernehmen. Wohlgemuth kamen sie zu Hause an und merkten nicht, daß die Leute die Köpfe zusammensteckten und allerlei munkelten.

Am andern Morgen stand Reinhard vor dem Bett des Collaborators und sagte: »Frischauf! du gehst mit, wir wandern ein paar Tage in's Gebirge; das wird dir das Blut auffrischen und ich kann doch nichts arbeiten, es gefällt mir nichts.«

Der Aufgeforderte war ohne viel Zögern bereit, er hatte sich's zwar vorgesetzt, so viel als möglich sich in das Kleinleben des Dorfes zu versenken; nun sollte sich's ändern.

Erkräftigende, sonnige Wandertage verlebten die beiden Freunde; wie der Himmel in ungetrübter Bläue über ihnen stand, so breitete sich auch eine gleiche einige Seelenstimmung über sie. Was der Eine that und vorschlug, war dem Andern lieb und erwünscht; nie wurde hin und her erörtert, und so hatte jeder Trunk und jeder Bissen den man genoß eine neue Würze, jedes Ruheplätzchen doppelte Erquickung. Freilich war der Collaborator noch immer der Nachgiebige, aber er war's nicht aus rücksichtsvoller Behandlung, sondern unmittelbar in freudiger Liebe. Da er es selten unterließ, einen gegenwärtigen Zustand mit einer allgemeinen Betrachtung zu begleiten, sagte er einmal: »Wie herrlich ist's, daß wir vom Morgen bis zum Abend [158] beisammen sind. Ich bin oft gern allein der stillen Natur gegenüber, ist aber ein Freund zur Seite, so ist's eine höhere Wonne, unbewußt durchzieht mich die Empfindung, daß ich nicht nur mit der Natur, sondern auch mit den Menschen einig und in Frieden bin, sein möchte.« –

Reinhard gab auf diese Rede seinem Freund einen derben Schlag auf die Schulter, er hätte ihn gern an's Herz gedrückt, aber diese Form seines Liebesausdruckes war ihm genehmer und dünkte ihn männlicher. –

Sie kamen nun in eine geologisch höchst merkwürdige Gegend. Der Collaborator vergaß eine Weile all das menschliche Elend was ihn bedrückte, denn er machte in den Steinbrüchen manchen glücklichen Fund; er fand in einem Kalkbruch nicht nur einen Koprolith von seltener Vollkommenheit, sondern auch noch manche andere Seltenheit. Als er mehrere sehr schöne versteinerte Fischzähne gefunden, äußerte er seine eigenthümliche Empfindung, hier Ueberbleibsel einer alten Welt zu haben, die viele tausend Jahre älter ist als unsere Erde. Reinhard hörte solche Auseinandersetzungen gern an, denn ihm ward jetzt auf den Wegen die Entstehungsgeschichte unserer Erde eröffnet. Der Collaborator liebte es in komischen Darlegungen auseinanderzusetzen, wie dieser unser Erdball mehrmals durch's Examen gefallen, bis er den Doktor, den Menschen gemacht. Er wiederholte oft, daß die Geologie die einzige Wissenschaft sei, der er sich mit voller Lust widmen möchte, er liebte sie auch besonders, weil, wie er sagte: die Astronomie der Altgläubigkeit das Dach über'm [159] Kopfe abgehoben und die Geologie ihr den Boden unter den Füßen weggezogen habe.

Die Taschen des Collaborators füllten sich übermäßig, er mußte manche schöne Versteinerung, deren Fund ihn ganz glücklich gemacht hatte, zurücklassen, er entschädigte sich aber dafür, indem er solche an ungewöhnlichen Orten versteckte; mit kindischer Freude malte er dann aus, wie nachkommende Stümper tiefe Abhandlungen über diese seltsamen Erscheinungen schreiben würden. Als ihm Reinhard bemerkte, daß er ja hierdurch die Wissenschaft verwirre, stand er stutzig da und half sich dann mit einem leichten Scherze darüber weg. Dennoch ließ er jede Versteinerung, die er nicht mitnehmen konnte, fortan an ihrem Orte liegen. Bei den naturgeschichtlichen Auseinandersetzungen hörte Reinhard willig zu; wenn es aber wieder an die Fragen vom Weltübel ging, begann er zu singen:

»Collaborator! Collaborator. Ihr Bäume, Vögel, Steine, der Collaborator ist da und will euch eine Predigt halten. Sieh, ich lehre die Vögel im Walde deinen Titel, wenn du nicht einpackst.«

Ueber eine Sache jedoch hörte Reinhard mit besonderm Wohlgefallen zu. Sie ruhten einst unter einem Nußbaume mitten im Walde, da bemerkte der Collaborator: »Der Volksmund berichtet, einem Raben sei an solcher Stelle die Frucht, die er im Schnabel trug, entfallen und sie sei zum Baume aufgewachsen. So steht auch oft mitten unter Menschen mit rauhen Sitten und Seelen ein zartes, hohes Gemüth.«

[160] »Aber ein schöner Leib muß auch dabei sein,« bemerkte der Maler.

»Gewiß, wie glücklich ist ein schönes Menschenantlitz; freundlich lacht ihm die Welt entgegen, alle Blicke, die sich ihm zuwenden, erheitern sich, ein Widerstrahl des Wohlgefallens kehrt aus Allen zu ihm zurück.«

Sie nannten Lorle nicht und doch dachten Beide an sie.

Sie sprachen einmal von Liebe und Reinhard bemerkte: »Mir ist's oft, als wäre all das Singen und Sagen von der Liebe eitel Tradition; ich kann mir jenen süßen Wahnsinn, da der ganze Mensch in Liebe ausbrennt, nicht denken.« –

Reinhard sagte dies selber nur als Tradition aus einer vereinsamten Vergangenheit, es hatte keine Wahrheit mehr für ihn und doch wiederholte er's wie aus Gewohnheit; sein Freund mochte das fühlen, er sah ihn bedeutsam und traurig an, indem er dann erwiderte: »Solch ein Mädchen ist wie ein Lied, das ein ferner Dichter geschaffen und zu dem ein Anderer die Melodie findet, die Alles und hundertfältig mehr daraus offenbart.«

Als Antwort stimmte Reinhard das Lied an: »Schön Schätzichen wach auf!«

Der Collaborator fand eine reife Erdbeere am Felsen, er hielt sie vor sich hin und sagte: »Wie duftig und voll würziger Kühle ist diese Beere, wie lange bedurfte das Pflänzchen, bis es Blüthe und Frucht reifte, und nun steht es da zu unserer Erquickung.[161] War sein ganzes Dasein nur ein stilles Harren auf mich? Hat der Schöpfer es bereit gehalten, bis er mich herführte?«

Reinhard betrachtete seinen Freund mit glänzenden Augen und sagte dann: »Wenn ich dich einst male, fasse ich dich so: die frische Frucht zum Genusse in der Hand und du sie betrachtend.«

In den Dörfern wo man übernachtete, brachte der Collaborator eine seltsame Bewegung unter die Bewohner; er ließ sich in der Nacht vom Küster die Kirche öffnen und berauschte sich im Orgelspiel, das er meisterhaft verstand. Noch viele Tage redete man in den Dörfern von dem wunderlichen, nächtigen Orgelspieler und der Collaborator selber sagte auf dem Heimwege: »Es ist tief bedeutsam, wie in jedem Dorf ein großes, heiliges Instrument aufgerichtet ist, dessen harrend, der einst die freien Klänge daraus erwecke. Auch das: ich bin nicht der rechte Mann des Volkes, ich verstehe nur das höchste Instrument des Dorfes, die Orgel zu spielen, und zwar wesentlich zu meiner eigenen Erholung.« – –

Die Wandertage hatten die Freunde auf's Neue an einander geschlossen; sie kehrten Freitag spät in der Nacht heim, am andern Mittag mußte der Collaborator nach der Stadt in sein Amt zurück.

In aller Frühe stimmte er noch vollends das Clavier und sagte mit schmerzlichem Lächeln zu dem eintretenden Reinhard: »Unter der Hand wird mir Alles zum Sinnbilde. Ich habe nun das Clavier gestimmt, werde aber morgen keine lustigen Tänze darauf spielen. [162] Après nous la danse. Nach uns geht der Tanz der Weltgeschichte an. Diese Steine und die paar Schmetterlinge, das ist Alles, was ich aus dem Dorf mitnehme.«

Er eilte nochmals zu der armen Familie, um zu sehen wie es ihr erginge; die Leute waren unwirsch und er glaubte, sie wüßten, daß er ihnen nichts mehr geben könne.

Von allen Hausgenossen war es Lorle allein, die innigen Abschied vom Collaborator nahm. Als er fort war, sagte sie zu Reinhard: »Ich kann's nicht glauben, aber die Pfarrköchin hat's im Dorf ausgesprengt, der Herr Reihenmaier sei ein gottloser Heid', er häb beim Pfarrer auf das Predigen geschimpft und den neuen Kirchenbau verflucht. Er kann aber nicht schlecht sein, nicht wahr? Er hat doch so ein gut Herz.«

Reinhard sah dankend auf Lorle. Der Abschied vom Freunde that auch ihm wehe, und doch dünkte er sich jetzt erst recht frisch und frei; er glaubte jetzt alle störsame Reflexion los zu sein, da sie von seiner Seite gewichen war ....

In einem geheimen Buche der Residenz wurde mehrere Tage darauf ein neues Conto für einen Kunden eröffnet. Darin hieß es »Ministerium des Cultus. Der Collaborator Adalbert Reihenmaier, nach Denunciation des Pfarrers M ... zu Weißenbach laut Bericht des Amtes zu G., atheistisch gesinnt, Versuch zur Aufreizung des Volkes. Reg. VII. b. act. fasc. 14263.«

[163]

Hoch zum Himmel hinan!

So wohl sich Reinhard jetzt fühlte, schaute er am andern Morgen doch oft nach der Thür, als müsse der Freund eintreten.

Mit frischer Lust wurde nun die Ausführung der Farbenskizze fortgesetzt, es wurde noch ein Plätzchen für Wendelin erübrigt, der mit dem Hirtenstocke in der Hand stehen blieb, während die Kühe sich im Hintergrunde verloren; hiedurch bekam das Abendliche, das über dem Ganzen liegen sollte, noch ein weiteres Motiv. Einigen Zuhörern im Hintergrunde gab Reinhard Lasten auf den Kopf, sie kehrten eben vom Felde heim und blieben stehen; der Collaborator würde sagen, dachte Reinhard lächelnd: das zeigt symbolisch oder typisch, daß das Volk durch das Lied die bedrückenden schweren Lasten vergißt! ... Nun ward auch noch der Collaborator in eine Ecke gestellt, es war offenbar, daß er das neue Lied aufschrieb.

Reinhard aß fortan wieder am Familientisch; er war doch erst jetzt wieder in seinen alten Verhältnissen. Mit Lorle sprach er oft und viel von dem fernen Freunde und daß sie allein im ganzen Dorf einen Menschen lieb hatten, den die Anderen vergaßen oder schmähten, das gab ihrem Verhältniß noch eine geheime Besonderheit. Es ergab sich nun, daß der Collaborator allerdings in seinem tiefen Aufruhr sich zu heftigen Aeußerungen eigentümlicher Art hatte hinreißen lassen; er hatte im Hause des alten Klaus ausgerufen: »man möchte an Gott verzweifeln, daß er die Sonne scheinen [164] und die Bäume wachsen läßt, daß er's duldet, daß man ihm eine Kirche erbaut, während die Menschen solches Elend ihrer Brüder ruhig mit ansehen.« Lorle entschuldigte ihn immer bis auf's Aeußerste und beklagte, daß die Leute, denen er doch nur Gutes gethan, ihn dafür jetzt beim Pfarrer verläumdet und angegeben hätten. Sie gönnte sich jetzt auch fast keine Ruhe und keinen Genuß mehr, sie wollte überall im ganzen Dorfe wo es dessen bedurfte beispringen und helfen.

Reinhard war überaus fleißig und, wie das immer Ursache und Wirkung des schöpferischen Fleißes, auch überaus lustig; er war zu Scherz und Schelmerei aller Art aufgelegt, es schien als ob das ganze Haus nur ihm gehörte. Man konnte nicht recht sagen was er trieb; in den Stunden, in denen er nicht arbeitete, war's eben als ob ein Kobold umherrenne und Alles lachen und springen mache.

Der Wadeleswirth sagte oft gar bedächtig: »Nur stet, lasset mir nur das Haus über'm Kopf stehen;« zwei Minuten darauf mußte er aber selbst ganz ungewöhnliche Sprünge machen. Reinhard verstand nämlich zweierlei Künste besonders: zuerst die Bauchrednerei; er brachte einst den Wadeleswirth so in Gang, wie sich dessen Beine seit Jahren nicht erinnern konnten, denn er ahmte die Stimme Lorle's nach, die vom Speicher nach Hülfe rief. Ueber ein anderes Kunststück Reinhard's rief Bärbel einmal alle Hausbewohner zusammen. Die jungen Schweinchen, die man erst vor Kurzem eingethan, grunzten plötzlich auf dem obersten Speicher, und als man hinaufkam, hatte Reinhard blos [165] die Stimmen der bescheidenen Geschöpfe nachgeahmt. Man konnte dem übermüthigen Gesellen nicht gram sein und Lorle sagte einmal:

»In unserm Haus dürfet Ihr die Späß' machen, aber nur nicht vor andern Leuten, die haben sonst keinen Respect vor Euch.«

Reinhard war von diesem Augenblicke an ruhiger und nur wenn die Gelegenheit gar zu lockend war, vollführte er noch einen Schabernack.

Lorle war viel im Dorf, aber nicht zu Hause, sondern bei der Mutter Wendelins, die mit dem sechsten Kinde, einem Knaben, niedergekommen war. Reinhard hatte sein Bild rasch untermalt und wollte sich nun, so lange die Farben trockneten, Ruhe, das heißt freies Umherschweifen in Wald und Feld gönnen. Er putzte seine Büchse, um auf die Jagd zu gehen, aber er kam nicht dazu, denn schnell drängte sich ein anderes Bild auf die Staffelei und mit frischem Eifer vollendete er die Farbenskizze zu demselben, es war das versprochene Altarbild. Reinhard hatte die Hochzeit zu Canä dazu gewählt und malte mit fast immer lächelndem Antlitz, denn er hatte die Figuren aus dem Dorf genommen, die er gar nicht mit langen Bärten und Talaren verkleiden wollte; es war eine einfache deutsche Bauernhochzeit, unter die der Heiland trat: Stephan war der Bräutigam, die Braut aber sah nicht Vroni ähnlich, der Wadeleswirth und der Hohlmüller nahmen sich als Schwiegerväter stattlich aus. Reinhard pfiff allerlei lustige Volkslieder während er malte, und als er einmal das Ineinandertönen der Farben aus [166] der Ferne betrachtete, dachte er vor sich hin: »Wie würde sich der Collaborator freuen, wenn er sähe, wie ich unser Bauernleben dem altjüdischen als Kukuksei ins Nest practizire. Was könnte er da für culturgeschichtliche Bemerkungen machen! Wie würde er mir beweisen, daß auch Shakspeare dadurch Leben gewonnen, daß er die Römer zu Engländern gemacht.«

Nach Vollendung der Farbenskizze kam dennoch ein Mißmuth über Reinhard; ihm bangte wie so oft vor der Ausführung, er hatte die Freude des Schaffens vollauf bei dem Entwurfe genossen.

Es liegt eine tiefe Erfrischung in dem drängenden Treiben, das die Künstlerseele tagtäglich zu neuen Gebilden erweckt; die wahre, nachhaltige Erquickung liegt aber nur in der Treue, in der unablässigen, sorgsamen Vollendung dessen, was man in der Stunde der Weihe empfangen und begonnen. In dieser Treue ersteht die Schaffensfreude, wiedergeboren durch den Willen, erhöht und verklärt.

Reinhard gelobte sich Treue in seinem Berufe und doch ging er stets mit bewegtem Herzen als suche er Etwas, als müsse er ein Ungeahntes finden, als stehe er auf der Schwelle einer Offenbarung, deren Pforten sich plötzlich aufthun und Wunder schauen lassen. Er wandelte auf dem Boden der gewohnten Welt wie auf knospenden Geheimnissen, und doch war ihm wiederum so wohl in Wald und Flur; Baum und Strauch und Gras, Alles stand ihm so nah wie noch nie, er lebte ihr Leben mit, er hatte nicht Auge genug für diese unendlich reiche Welt, die sich aufthat als ginge er mit [167] ihr eben aus der Hand des Schöpfers hervor; Alles war ihm wie neu, als sehe er's zum Erstenmale. Er stand einst vor einer Schlehdornhecke und versank in ihrem Anschauen in tiefe Betrachtung: Wie das hier aus dem Boden steigt, Aeste treibt Frucht und Blatt ansetzt, wie schön gezackt und glänzend, und der Winter kommt, es stirbt und fällt und grünt wieder – Alles, das einfachste Naturleben war Reinhard ein neues Heiligthum geworden. »Was soll aus mir werden?« sagte er dann, indem er zu sich zurückkehrte. »Heilige Natur! Mache aus mir was du willst, laß mich nur kein verpfuschtes Wesen sein, irr in sich – Ich will dir gehorchen.«

So schwellte namenloses Sehnen die Brust Reinhards und selbst im Hause saß er oft stundenlang wie mit offenen Augen träumend. Die Leute schüttelten den Kopf über ihn, sie kannten ihn gar nicht mehr; aber Jedes in der Welt hat zu viel für sich zu thun, um den Gedanken eines Andern nachgehen zu können, zumal wenn diese eben der Art sind, daß sie sich nicht fassen lassen. Reinhard machte den Versuch, sich aus seinen Träumereien herauszureißen, er ging auf die Jagd; das erheischte ein zusammengehaltenes, geschlossenes Wesen und festen Blick nach außen. Eines Mittags kehrte Reinhard mit der Büchse auf der Schulter und zwei Birkhühnern in der Tasche nach Hause, da sah er Lorle unter der Linde sitzen mit den zwei jüngeren Geschwistern Wendelin's. Das kaum einjährige Kind stand auf dem Schoße des Mädchens aufrecht und Lorle schnalzte mit den Fingern [168] und lachte und koste, um das Kind zu erheitern; der Knabe der ihr zu Füßen stand, schaute aber trotzig drein. Lorle nickte dem herzutretenden Reinhard freundlich zu und fuhr dann fort, mit dem Kinde zu spielen, indem sie sang:


Ninele, Nanele,

Wägele, Stroh,

's Kätzle ist g'storbe,

's Mäusle ist froh.


Reinhard setzte sich auf einen Baumstamm Lorle gegenüber und starrte drein, sie ließ ihn gewähren, sie war's gewohnt, daß er sie oft anstierte, sie fragte nur:

»Wird denn der Herr Reihenmaier nicht schreiben?«

»Nein,« sagte Reinhard.

Das war doch nur ein einfaches Nein, aber in dem Tone der Stimme lag ein Ausdruck, den die liebevollsten Worte nicht ersetzen mochten. Plötzlich fing der Knabe zu Füßen Lorle's an zu weinen und schrie: »Ich will heim.«

»Bleib',« beschwichtigte Lorle, »dein' Mutter schlaft und du kannst nicht heim.« Auf ein Rothkehlchen deutend, das vor ihnen umherhüpfte, sagte sie: »Guck einmal, was der Vogel ein weißes Unterwämmschen anhat, paß auf, wenn er auffliegt; scht!« Der Vogel flog auf und man sah die weißen Federn unter seinem Flügel. »Hast's gesehen?« fragte Lorle, der Knabe ließ sich aber dadurch nicht zerstreuen, und erst als er das Versprechen erhielt, daß ihm Lorle eine Geschichte erzähle, schluchzte er still. Lorle trocknete ihm das [169] thränennasse Gesicht und erzählte nun eine jener eigentlich inhaltlosen Geschichten, bei denen aber Ton und Geberde eine ganze Seele voll Liebe ausspricht und erweckt. Es wurde weiter nichts berichtet, als daß ein Knabe eine schöne Kirsche hatte, die ihm ein Vogel wegnehmen wollte, die Mutter aber den Vogel verscheuchte.

Lorle und ihr Zuhörer lachten darüber laut auf, es waren eben Kinder, die sich über sich selbst und mit einander freuten. Der Knabe wollte aber immer wissen, wie es weiter ging, und fragte immer: »Und dann?« Bis Lorle sagte: »Und dann? dann lassen wir die Hödel und die Gizle heraus.« Und so geschah es auch. Die Geis und die Zieglein wurden aus dem Stall geholt, Lorle freute sich wol eben so sehr an den Sprüngen derselben als die Kinder, die sie hütete.

Zu Hause lehnte Reinhard alle seine Bilder und Entwürfe mit dem Gesicht gegen die Wand; er wollte nichts sehen als ein Bild, das er im Geiste vor sich erschaute.

Am Abend hatte er im Stüble eine lange Unterhandlung mit dem Wadeleswirth, und besonders durch die Erinnerung an das großmüthig zurückgegebene Versprechen auf der Hohlmühle ward Reinhard willfahrt. Der Vater rief endlich seine Tochter herein und sagte:

»Lorle, da der Herr Reinhard braucht dich zum Abmalen für das Kirchenbild; willst du?«

»Für die Kirch'?« fragte Lorle, sie schaute um und auf, als grüßte sie ein fremdes Wesen hinter ihr und über ihr.

[170] »Was guckst du so?« fragte der Vater.

»Nichts, ich hab' gemeint, es wär' Jemand hinter mir, ich weiß nicht.«

Der Vater begann wieder: »Die Mutter bleibt von morgen an die ganz' Woch' zu Haus, wir bekommen Drescher und da kann sie drauf Acht geben und auch bei euch sein. Willst du?«

»Ja,« sagte Lorle mit fester Stimme; auf ihrer Kammer aber weinte und betete sie die ganze Nacht; sie wußte nicht recht warum, es war ihr so wohl und so weh zu Herzen.

Auch Reinhard war die ganze Nacht voll Unruhe, und als er mit dem ersten Sonnenstrahl erwachte, sagte er laut vor sich hin: »Marienhaft! er hat Recht.« – Still verließ er dann das Haus, er schwang den Hut, um das Haupt in der Morgenluft zu kühlen, und stand noch einen Augenblick so da, als grüßte er die heilige Frühe. Am Kirchberge begegnete er dem Küster, der eben hinanging, um zur Frühmette zu läuten; er begleitete ihn und stieg den Thurm hinan, saß in der Glockenstube und schaute zur Lucke hinaus in's Weite. Drunten im Thale kämpften noch Sonne und Nebel, die Sonne aber ward bald Meister. In der Kirche begann die Orgel zu brausen und zu dröhnen, Reinhard saß hoch oben und dachte Unendliches.

Als die Kirche zu Ende war, kam der Küster und bat Reinhard hinabzusteigen, da er schließen müsse. Still ging Reinhard dahin, da begegnete ihm Lorle, die aus der Kirche kam.

[171] »Ihr seid auch in der Kirch' gewesen?« sagte sie halb fragend.

»Ja, oben.«

Die Beiden konnten nicht reden, sie waren tief erschüttert, wie von einer überirdischen Macht erregt, und doch war es auch ihr eigener Wille.

Lorle sah blaß aus, die Mutter fürchtete, sie sei krank, da sie auch nichts über die Lippen brachte; Lorle konnte aber kaum eine Antwort geben, es war ihr als sollte sie gar nichts reden.

Nun endlich saß sie bei der Staffelei und Reinhard sagte: »Wir wollen lustig sein, warum denn traurig? Juhu!«

Er sagte: »wir wollen«, und konnte doch nicht, auch ihn ergriff es, wie wenn Jemand seine tiefste Seele gepackt hätte und festhielte.

»Meinet Ihr nicht auch, daß es eine Sünd' ist?« fragte Lorle, verschämt die Augen niederschlagend.

»Nein,« antwortete Reinhard wieder mit jenem herzinnigen Tone, und Lorle sah heiter auf; diese einfache Betheuerung genügte ihr vollkommen.

Die Mutter ging ab und zu, während Lorle ruhig da saß. Anfangs war Lorle stets in der peinlichsten Verlegenheit, und wenn Reinhard geflissentlich Scherze machte, fragte sie: »Darf ich denn auch lachen? Darf ich denn auch schwätzen? Saget's nur, ich will Euch nicht aufhalten.«

Reinhard versicherte, daß sie sich nur ganz natürlich benehmen solle, Eines aber bat er, sie möge sich nicht so viel mit der Hand in's Gesicht langen, worauf [172] Lorle bemerkte: »Ihr habt Recht, ich merk's, ich hab' die üble Gewohnheit, ich will mir's gewiß abgewöhnen; aber es ist mir als wenn ich's im Gesicht spüren thät, daß Ihr mich jetzt da malet und jetzt da. Ich bin dumm, nicht wahr? Ihr dürfet's frei 'raus sagen, ich nehm' Euch nichts übel.«

Reinhard mußte an sich halten, Lorle nicht um den Hals zu fallen; die Mutter kam, stand von fern und hielt die Hände hart am Leibe, damit sie ja nicht vor Erstaunen das nasse Bild anrühre; sie konnte sich aber nicht genug verwundern, wie man Lorle schon ganz gut erkenne. – Es wurde ausgemacht, daß Niemand im Dorf etwas von der Sache erfahren solle bis zur Einweihung der Kirche.

Wie still und friedsam flossen nun die Stunden hin, in denen die Beiden bei einander waren. Von fern aus der Scheune hinter dem Hause vernahm man die Taktschläge der Drescher und von der Straße hörte man bisweilen ein Kind schreien, einen Wagen rollen; und wieder war Alles still und lautlos.

Lorle sagte einmal: »Ich mein' ich wär' gar nicht mehr im Dorf oder ich schlaf' und hör' das Alles nur so, ich weiß nicht wie. Ich weiß nicht, für keinen an dern Menschen auf der Welt thät ich so da sitzen.«

»Gutes Lorle,« erwiderte Reinhard, »ich weiß, Ihr habt Niemand auf der Welt so lieb als mich. Zittere nicht,« fuhr er fort, ihre Hand fassend, »ich kenne dein ganzes Leben; du hast, während ich in der Ferne umherschweifte, still meiner gedacht, du hast dich gegrämt, daß ich dich so oft geneckt und hast mich doch lieb [173] gehabt; und als ich wiederkam, hast du an jenem Abend geweint, weil Jemand auf mich schimpft?«

»Um Gottes willen hat das die Bärbel verrathen?«

»Also war's die Bärbel! nein, es hat mir Niemand was gesagt. Mir zu lieb warst du so freundlich gegen den Collaborator, und in jener Nacht, als ich unter der Linde das lustige Lied sang, hast du still getrauert in deinem Kämmerlein, weil ich mich so heruntergäbe.«

»Heiliger Gott! woher könnet Ihr das alles wissen?«

»Weil ich dich lieb hab', weiß ich Alles. Hast du mich auch recht lieb?«

»Ja, tausend tausendmal.«

In einem seligen Kusse umschlangen sich die Beiden.

»Jetzt, jetzt,« rief endlich Reinhard, »jetzt möcht' ich sterben und du auch.«

»Nein,« rief Lorle sich aufrichtend und Reinhard mit starken Armen fassend, »nein, erst recht leben, lang, lang leben.« In ihrem Blicke lag eine Heldenkraft, eine stolze Spannung, als könne sie jeden Tod besiegen.

»Du willst also ewig mein sein?« fragte Reinhard.

»Ja, ja, in Gottes Namen, Alles, Alles.«

Bei diesem Zusatze: in Gottes Namen – zuckte es fremd in den Mienen Reinhard's; er glaubte, Lorle umfasse ihn nicht mit ganzer Seele, nicht mit freudigem Jubel; er bedachte nicht, daß auch Lorle mit sich gekämpft hatte und daß sie sich dieser Liebe demüthig fügte, als einem Gebote Gottes.

»Was ist? Hab ich was nicht recht gemacht?« fragte sie.

»Nein, nichts.«

[174] »Darf ich jetzt gehen und es meiner Mutter sagen?«

»Nein, bleib, wir wollen das Geheimniß noch still bewahren; glaub mir, es ist besser so.«

»Ja, ja,« sagte Lorle zaghaft, »ich thu' gern Alles; befiehl mir nur recht und immer, was ich thun soll, du guter Reinhard.«

»Heiß' mich nicht mehr Reinhard, nenne mich bei meinem Vornamen Woldemar.«

Lorle lachte laut auf und auf die verwunderte Frage Reinhard's, was es gebe, sagte sie: »Verzeih, Woldemar! das ist so lächerig, Woldemar, das ist, wie wenn man die Treppe herunterfällt, Poldera, so macht's grad. Nein, darf ich nicht mehr allfort Reinhard sagen? Ich hab' dich so lieb bekommen, ich bin dich so gewohnt, laß mich so dabei.«

»Auch gut,« sagte Reinhard, halb verdrießlich lächelnd.

Es ist eine Kleinigkeit, aber doch hat fast Jeder eine gewisse Liebe für seinen Vornamen, als wäre er nicht etwas Verliehenes, sondern ein Stück des eigensten Wesens; man verträgt's nicht leicht, daß man ihn unschön findet. Ist's ja auch dieser Klang, der uns vor Allem mit den Menschen verbindet, uns ihnen kenntlich macht; liegen darin ja auch die süßesten Zauber der Kindeserinnerung.

»Du mußt recht gut gegen mich sein,« sagte Lorle, die Hand auf die Schulter Reinhard's legend, »sonst vergeh' ich vor Angst; ich bin dich ja doch nicht werth, ich bin viel zu gering. Ja, und was ich noch hab' sagen wollen, du mußt im Dorf nichts von mir reden, [175] gar nichts; du hast zum Martin gesagt, ich sei ein Kanarienvögele, und jetzt heißen sie mich im ganzen Dorf so; mir liegt nichts dran, wenn sie mich ausspotten, aber es ist mir von wegen deiner, es weiß doch kein's als ich –«

»Was denn?«

»Was du für ein lieber Kerle bist,« sagte Lorle, die Zähne zusammenbeißend und Reinhard am Barte zausend.

Wer kann all das süße Kosen und Plaudern wiedergeben, das von diesem Tage an die sonst so stille Werkstatt Reinhard's in sich schloß? In Demuth entfaltete Lorle eine Fülle des Liebesreichthums, daß Reinhard staunend und anbetend vor ihr stand. Der Schluß ihrer Rede war aber fast immer: »Ach Gott! ich bin dich nicht werth.«

»Nein,« rief Reinhard, »du bist millionenmal besser als ich, als alle Männer, als alle Menschen. Ich möchte siebenmal sieben Jahre um dich dienen.«

»Da könntest du alt werden,« sagte Lorle still lächelnd, und Reinhard fuhr fort: »Sieh, ich habe schon oft die ganze Welt und mich verloren gehabt, im Taumel hineingelebt, mitten in der Neue ein Sünder – doch, du kannst nicht begreifen, wie weit ich untergegangen war.«

»Ich kann Alles begreifen, sag' du mir's nur ordelich.«

»O du herzige Liebe! Nimm dich in Acht mit mir, ich habe noch nie einen Herzfreund gehabt, den ich nicht quälte; der Collaborator ist der Einzige, der mir[176] treu ausharrte. Ich bereite den Menschen oft Schmerzen, denen ich nur Gutes und Glückliches zufügen möchte. Erst seitdem ich dich sehe, seitdem ich dein bin, sehe ich auf den alten Woldemar, und das ist ein gar wüster Geselle, nicht werth, daß er den Saum deines Kleides berühre. Ich kann dich glücklich machen, wie noch kein Weib auf Erden war, und – unendlich unglücklich.«

Lorle weinte große Thränen, aber sie trocknete sie bald und sagte: »Hab' dich nur lieb, von da siehst du viel besser aus.« Sie deutete dabei auf ihre Augen und setzte nun schmollend hinzu: »Und ich leid's nicht, daß Jemand auf den Reinhard schimpft, und du darfst auch nicht. Und jetzt mach' mich nur nicht stolz; komm her, wir wollen mit einander gut und brav sein, Gott wird schon helfen.«

»Ja, du machst mich wieder ganz fromm,« sagte Reinhard und stand mit gefalteten Händen vor ihr. –

Das Bild wurde rüstig gefördert, Lorle ermahnte immer zur Arbeit und Reinhard trug ihr noch auf, ihn nicht lässig werden zu lassen. Niemand im Hause ahnte etwas von der neuen Wendung der Dinge, nur Vroni ward ins Vertrauen gezogen; man ging nun öfters nach der Mühle. Wie die Kinder jubelten die beiden Liebenden, wenn sie sich im Walde haschten und versteckten.

»O Welt voll Seligkeit!« rief einst Reinhard, als er so vor Lorle stand, »das hat sich der Weltgeist allein vorbehalten, die Liebe, sie kommt aus ihm; das läßt sich nicht machen und nicht bilden. Da steht ein[177] Wesen und hält mich zauberisch gefangen; schön ist Alles, Alles, was du bist. Und hätte ein Wesen Seraphsflügel und ist die Liebe nicht, spurlos zieht es dahin. Dank dir, ewiger Weltgeist, du hast mir gegeben was ich nicht suchte.«

»Ich verstehe dich nicht recht,« sagte Lorle.

»Ich verstehe mich ja selber nicht. Was braucht's? Komm, sieh mich an, laß mich schauen, stumm, welch ein gutes Leben in mir ist.«

Das Bild reifte seiner Vollendung entgegen, die beiden Liebenden sprachen von Allem, nur nicht von der Zukunft; Beiden bangte innerlich davor, Reinhard weil er nicht wußte, wie sie sich gestalten solle, und Lorle weil sie fühlte, wie schmerzlich sie aus dem elterlichen Hause gerissen würde.

Nun ergab sich aber auch eine Mißhelligkeit zwischen den Liebenden. Lorle, die zu einer Madonna gesessen hatte, sollte jetzt das Kind mit dem sie unter der Linde gespielt hatte, wieder auf den Schoß nehmen; unter keiner Bedingung wollte sie das thun: »Es ist eine Sünd', es ist eine gräßliche Sünd'!« betheuerte sie immer, aber Reinhard war unbeugsam und sie willfahrte endlich, indem sie seufzend sagte: »Ich muß in Gottes Namen Alles thun, was du willst.« Sie zitterte aber am ganzen Leibe; so daß das Kind laut schrie, bis Reinhard endlich Beide beschwichtigte, das Kind mit Süßigkeiten und Lorle mit liebreichen Worten.

Die Gewänder waren nur flüchtig untermalt, und nun sollte dem Kopf die letzte Zusammenstimmung der Farbentöne gegeben werden; das sagte Reinhard eines [178] Tages und bat Lorle, daß sie Beide noch diese wenigen Stunden sich recht still verhalten wollten. Lorle nickte still, sie wagte schon jetzt nicht mehr zu reden. Ihr Kopf war nach dem Wunsche Reinhard's aufgerichtet und sie sah hinauf nach dem blauen Himmel: weiße Wolkenflocken zogen leicht dahin, still und friedlich war's im weiten Raume, kein Laut vernehmbar; da fließt eine Wolke sanft hin, sie nimmt eine kleine mit und versinkt mit ihr unter den Gesichtskreis, eine andere streckt schon ihr Haupt empor, wer weiß wie lang sie ist, wie dunkel ihr Grund, wie bald sie abbricht; nur wer am Himmelsbogen steht, kann sie ermessen. Da drunten liegt die Welt, weitab, Alles, Alles zieht vorbei, vorbei, die Erde ist untergesunken: ein Geist schwebt über den Wolken ...

So hatte Lorle sich in den Himmel hineingedrängt. Reinhard hatte sie eine Weile starr betrachtet und dann emsig gemalt.

Stille war's lange; die Beiden wagten kaum zu athmen.

»Was hast du so eben gedacht? Dein Antlitz war verklärt?« fragte Reinhard.

»Ich bin gestorben gewesen und allein,« sagte Lorle mit geisterhaftem Blicke, ihre Arme hoben sich und fielen wie leblos wiederum nieder. Reinhard faßte ihre Hand, er konnte aber nicht reden, er schaute sie an wie eine überirdische Erscheinung.

»Jetzt möcht' ich auch sterben,« sagte Lorle endlich und Reinhard erwiderte: »Ich sag' wie du: nein, erst recht leben, lang, lang leben.«

[179] »Bin ich jetzt fertig?« fragte Lorle aufstehend.

»Ja.«

»So will ich gehen, es wird jetzt schon wieder fröhlicher werden.«

Reinhard wollte sie zum Abschied küssen, sie aber wehrte streng ab und sagte: »Jetzt nicht, nein, mir zulieb.« –

Reinhard gönnte sich nun auch wieder einige Erholung. Auch ihm war ganz eigen zu Muthe, da er seit vielen Tagen in einer steten Spannung und Aufregung gelebt hatte. Als er das Lorle erklärte, sagte sie: »Mir ist auch so, wie wenn ich aus der Fremde käm', wie wenn ich gar nicht daheim gewesen wär'.« –

Auf seinen Wanderungen begegnete Reinhard wiederum Wendelin, der trübselig aussah. Reinhard fragte: »Was hast? Warum bist so traurig? Weil du ein neues Brüderle bekommen hast?«

»O nein, von deswegen nicht, mein Vater hat gesagt, wo Fünfe halb hungern, kann ein Sechstes auch mitthun.«

»Nun was hast du denn?«

»Ja gucket, mein Scheck da (er wies auf eine stattliche Kuh), der ist vorgestern verkauft worden für 53 Gulden; der Metzger Heuberer von G. (er nannte die Amtsstadt) hat ihn 'kauft und läßt ihn noch sechs Wochen laufen, nachher holt er ihn. Ich krieg' einen Sechsbätzner Trinkgeld, aber es macht mir kein' Freud; der Scheck ist mir doch der liebst' von allen und jetzt thut mir's so weh um den Scheck, der frißt jetzt da fort wie [180] wenn er ewig leben sollt', und da kommt der Metzger und schlägt ihm auf Einmal auf den Kopf und da liegt er, todt ist er.«

Der Knabe sah Reinhard gedankenvoll an, dann fuhr er fort: »Mich freut's nur, daß der Metzger betrogen ist.«

»Wie so denn?«

»Ja gucket, er hat den Scheck viel zu theuer 'kauft, aber er möcht' gern dem Meister (Dienstherrn) das Maul süß machen, weil er sein Lorle heirathen möcht', und da ist er doch angeführt.«

»Warum? Denkst du nicht mehr so gut vom Lorle?«

»O Ihr!« sagte der Knabe zornig, »wie er mich anguckt, wie ein gestochener Bock mit seinem langen Bart; ja gucket nur zu, ich fürcht' mich nicht, ich bin nicht in Euch vernarrt wie das Lorle.«

»Woher weißt du das?«

»Ja, ich bin nicht so dumm. Wie vergangenen Sonntag der Martin nach der Stadt ist, hab' ich für ihn Eure Stiefel 'putzt, und da ist das Lorle kommen und hat gesagt, ich soll's gut machen und hat die Stiefel anguckt mit ein paar Augen, das waren Augen! Und da hab' ich's gleich gemerkt, was es geläutet hat. Und gestern Nacht, wie ich in der Kammer lieg', da hör' ich wie mein' Mutter dem Vater erzählt, daß das Lorle in Euch verschossen ist. Und wenn das Lorle fort ist und mein Scheck ist fort, und da geh' ich halt auch fort.«

Reinhard suchte den Knaben zu trösten, es bedurfte dessen kaum, denn er sang und jodelte hinter Reinhard lustig in die Welt hinein.

[181] Reinhard sah nun, daß ihr Verhältniß doch schon dorfkundig war; er ging nachdenklich das Thal entlang. Es wurde Abend, die Mäher waren emsig, das thaunasse Oehmdgras zu mähen, die sterbenden Gräser hauchten noch würzigen Duft aus, Reinhard breitete oft die Arme aus, als wollte er tausend Leben an seine Brust drücken. Jetzt befiel ihn aber ein Trübsinn: rasch, in voller Blüthe ihrer frischen Liebe, wollte er Lorle Sein nennen, und doch war seine Zukunft so unsicher; er warf die Sorge von sich, er wollte den Tag genießen, die fliehende Minute, und was gelingt nicht einem frischen Herzen im freien Wandern? Reinhard sah eine Weile sein selbst vergessend den Abendbremsen zu; die zogen erst jetzt auf Nahrung aus und schwebten oft ganz ruhig, unbewegt auf einem Fleck in der Luft, wie an einem Abendstrahl aufgehangen; ihre Flügel drehten sich wie leichte Wolkenrädchen zur Seite, bis sie wie angestoßen auffuhren; sie hatten eine kaum sichtbare Beute erhascht und hielten sich nun wieder ruhig auf ihrer neuen Stelle. Der geräuschvolle Tag verstummte immer mehr, ein sanftes, nächtiges Flüstern hauchte durch Zweig und Gras, Reinhard schweifte immer weiter, es zog ein Lied durch seinen Sinn, er wußte nicht was, ihm war traurigfroh zu Muthe; da hörte er einen einsamen Burschen jenseits des Baches singen:


Ihr Sternle am Himmel,

Ihr Tröpfle im Bach,

Verzählet mei'm Schätzle

Mein Weh und mein Ach.


[182] O die Liebe kann nicht genug Boten finden, ihre unnennbare Seligkeit und ihr tiefes Leid zu verkünden. Und der Bursche sang weiter:


Die Sternle in's Wasser,

Die Fischle in 'n See,

Die Lieb geht rief abe,

Geht niemals in d' Höh'.


Und jetzt ward noch mit anderer Weisung der lustige Schluß angehängt:

Ganget weg, ihr Burgersmädle,

Ganget weg, ihr Patschele,

Da nehm' i mir e Bauernmädle,

Das sind recht wackere.


Als Reinhard spät Abends nach Hause kam, fand er einen Brief aus der Stadt vor; er war vom Collaborator und lautete:


»Kleinresidenzlingen, an einem der Hundstage.


Oft habe ich im Wald einem Vogel zugehorcht, der mir seine Melodie hundertmal vorsang, als müßte ich sie verstehen, und wenn ich mich endlich zum Fortgehen anschickte, war mir's als singe der lustige Kauz jetzt erst recht aus voller Seele, als riefe er mir nach: Du verstehst doch nicht was ich singe, und Millionen werden nach dir kommen und werden's auch nicht verstehen. So geht mir's jetzt auch mit dem Volksgeiste. Mir ist's als ob jetzt, da ich fort bin, es erst recht zu singen und zu klingen begänne. – Diese romantische Sehnsucht der modernen Menschheit nach dem was hinter [183] ihr ist, verdreht ihr den Kopf; ich habe auch einen krummen Hals.

Es ist nicht gut, daß dieser Mensch auf sich stehe, drum will ich ihm eine Anstellung schaffen. So sprach Gott der Herr, als er den deutschen Menschen gemacht hatte. Die Eichen im Walde werden nächstens auch angestellt und erhalten das allerhöchste Decret, das sie zu einstweiligen Symbolen und Hütern der deutschen Kraft und deutschen Freiheit ernennt; es gibt dann Referendars-, Assessors-, geheime und wirkliche geheime Eichen mit eigenem Laub. Wir Deutschen sind die solideste Nation der Welt, es ist die schändlichste Verläumdung, daß man uns Gemeinsinn abspricht; wer nur irgend ein gemachter Mann sein will, setzt sich auf den Besoldungsstuhl und speist aus der Communschüssel. Fichte hat das Wesen des deutschen Gelehrten zu sehr aus seinem subjectiven Idealismus erfaßt, ich mache mir jetzt Excerpte, um in biographischen Umrissen nachzuweisen, welchen Einfluß die Staatsanstellungen auf die Gestaltung des deutschen Geistes gehabt haben.

Ich habe für die vornehme Species der Menschen einen eigenen Namen gefunden, sie heißen: die eisfressenden Thiere. Heute Morgen war ein Prachtexemplar bei mir, dein Gönner, der dicke rothe Tabled'hotenkopf; der hochwohlduftende Comte de Foulard, er hat sich sehr nach dir erkundigt; der Prinz ist aus Italien zurück, hat dort viel Bilder gekauft, hat in Rom dein Lob gehört, ist entzückt von deiner Waldmühle, kurz man will eine Gallerie errichten, will dich fesseln, das heißt anstellen. Da hast du's also. Wenn du kommst, ist die [184] Sache abgemacht. Ich weiß nicht wie du darüber denkst, ich habe um meine Stelle auch supplicirt in der geheimen Hoffnung, daß nichts daraus wird, und nun weide ich schon bald sieben Jahre die geduldige Bücherheerde und scheere nur das eine und das andere um ein Excerpt, so was im Zaun hängen bleibt. Lieb wär mir's wenn du einen Schleiftrog am Bein hättest, daß wir dich hier behielten. Mach' aber was du willst, ich rathe nichts; hast du Lust, so komm baldigst.

Ich habe mit meiner Schwester eine neue Wohnung bezogen, sie hat endlich ihr Putzgeschäft aufgegeben und pflegt nun mein Alter. Ich esse Mittags und Abends Suppe und kann hundert Jahr alt werden, wenn ich's erlebe.

Grüße mir die Alpenrose, Gott sende ihr Thau und Sonnenschein genug und lasse sie gedeihen.

Ich schreibe dir diesen Brief auf dem neuen Katalog den ich anzufertigen habe; ich bin ganz allein, mein Oberwallfisch wascht sich im Seebad.

Dein

Kohlebrater.


Beiwagen: Die sieben Gulden, die du mir zur Heimreise geliehen, kann ich dir erst zum Quartal, den 1. Oktober, wenn ich meine Löhnung fasse, erstatten. Brauchst du's früher, will ich's anderweitig entlehnen.

Unser Schulkamerad R., das sogenannte durchlöcherte Princip, hat eine Vocation in's Departement des Jenseits bekommen, er ist Assistent beim Weltgericht geworden.

[185] Das Erdbeben, das wir vorgestern hatten, hat mich unendlich ergötzt; ach! wie haben sie hier Alle gezittert! So muß einem Floh zu Muthe sein, der auf einem fieberkranken Pudel haust.«

Nachdem Reinhard diesen Brief gelesen, verkündete er daß er am Morgen nach der Hauptstadt abreise und bald wiederkomme. Lorle schlief die ganze Nacht nicht, sie machte sich allerlei Gedanken über die so schnelle Abreise; Reinhard hätte sie durch ein einziges Wort beruhigen können und er dachte nicht daran. Am Morgen sah er Lorle noch einen Augenblick allein und sagte ihr schnell: »Wenn ich ein Glück bekomme, theilst du's mit mir?«

»Wenn ich dich nur Dich ganz krieg',« war die Antwort, vom Theilen sagte sie nichts.

Im Hause des Wadeleswirths war's nun wieder so still und friedsam wie ehedem. Hatte Reinhard in der letzten Zeit auch weniger tolle Streiche losgelassen, so machte er doch noch immer Lärm genug im Hause; jetzt ging Alles wieder seinen alten Weg, kaum daß Einer mehr des Fernen gedachte. Wie schnell schließt sich der Strom des Lebens hinter einem Menschen, der aus einem Kreise tritt! Nur Lorle hegte das Andenken Reinhard's tief im Herzen, Tag und Nacht. War sie früher stets liebreich und gut gegen die Eltern und Alle im Hause gewesen, so war sie's jetzt doppelt; sie wollte immer Alles thun und bereiten für Jedes. Niemand wußte woher das kam, und man kümmerte sich auch nicht viel darum; Lorle aber that dadurch im Innersten Abbitte, daß sie die Ihrigen in Gedanken schon verlassen [186] hatte und bald ganz von ihnen scheiden werde, sie wollte ihnen noch Gutes erzeigen, so viel sie vermochte.

In der Stadt betrieb Reinhard seine Anstellung mit allem Eifer. Als der Collaborator seine Verwunderung darüber äußerte, erwiderte er: »Ich will dir's nur gestehen, ich bin mit Lorle verlobt.«

»Was?« rief der Collaborator gedehnt, Staunen und Kummer sprach aus seinem Antlitze; »wenn sie Einer heirathen und aus ihrem Boden reißen dürfte, so wär' das nur ich, ich allein; ja lache nur, ich verstehe sie allein; du bist viel zu wild, du darfst eigentlich gar nicht heirathen. Hat dir denn der Vater das Mädchen gegeben?«

»Nein.«

»O, so ist noch Hoffnung, daß sie Keiner von uns Beiden bekommt,« schloß der Collaborator schelmisch.

Reinhard ging nicht vom Fleck, bis er sein Ernennungsdecret erhalten hatte. Am Morgen nachdem solches ausgefertigt war, sagte er beim Erwachen zu sich selber: »Guten Morgen Herr Inspektor, mit dem Titel Professor; haben Sie wohl geruht? Hast dir nun auch ein Hundsband umbinden lassen und war dir doch so wohl, als du frei umhergelaufen bist.« Als er vor dem Spiegel stand, verbeugte er sich ganz höflich und sagte: »Ihr Diener, Herr Professor! Gehorsamer Diener siebente Rangklasse.«

Dennoch freute sich Reinhard in dem Gedanken, wie ganz anders er nun vor den Wadeleswirth hintreten und um dessen Tochter freien könne, und wie glücklich auch Lorle sein werde.

[187] Schnell packte er seine Gliederpuppe und einiges alte Seidenzeug zusammen, das er zur Gewandung gekauft hatte, und bald rollte er wieder dem Dorfe zu, wo seine Liebe wohnte.

Nur stet

Nur stet.

Auf dieser Fahrt machte ein Gedanke die Wangen Reinhard's von einer fremden Glut entbrennen. Er kam so eben aus den Kreisen der teppichunterbreiteten Existenzen, alsbald überkam ihn ein besonderes Behagen an dieser verfeinerten Welt, an dieser Anmuth heiterer Geistesspiele, voll tändelnder Musik und sprühender Witzfunken, fernab von der rauhen Wirklichkeit, ausschreitend aus der engbürgerlichen Umzäunung; er hatte das Gelüste rasch niedergekämpft, jetzt kam es in veränderter Gestalt wieder und zeigte ihm, wie Lorle diese Freiheit des Lebens nie verstehen werde, wie sie doch seinem ganzen künstlerischen Denkkreise fern stehe – er war in seinem eigenen Hause mit seinem tiefsten Wollen ein Fremder.

Das war ein böser Blutstropfen in Reinhard und er machte ihm die Wangen glühen.

Den Gedanken: Lorle nach und nach heranzubilden, warf er bald von sich und er rief fast laut: »Nein, sie soll das frische Naturkind bleiben mitten im Trödel der Stadt; sie bedarf keiner andern Welt, ich bin ihre ganze Welt.« – Er bat sie in Gedanken um Verzeihung, daß sein Sinn nur einen Augenblick sich von ihr entfernen konnte.

[188] Für ein erregbares Gemüth haben weite Strecken, die von einer Lebenswendung bis zur andern zu durchmessen sind, ihr Gutes und ihr Schlimmes; sie dämmen oft die berauschende Seligkeit des Gefühls, beschwichtigen aber auch die leicht sich eröffnenden Zwiespältigkeiten.

Sorglos, als wäre das nicht der entscheidendste Lebensgang, fuhr Reinhard dahin; selbst seine Sehnsucht war eine abgeklärte, friedsame. In der Amtsstadt ließ er sein Gepäck zurück und eilte auf dem Waldwege dem Dorfe zu. Je näher er kam, desto heftiger loderten die Flammen der Liebe wieder in ihm auf; mit zitternden Pulsen rannte er dem Hause zu. Die Bärbel stand unter der Thür und reichte ihm die schwielige Hand: »Ihr kommet bald wieder, ich hätt's nicht glaubt,« sagte sie; Reinhard konnte nicht antworten, zu Lorle wollte er sein erstes Wort sprechen; er eilte die Treppe hinan, Niemand war im Hause. Lorle war, wie Bärbel erzählte, mit den Eltern nach der Stadt gefahren, von wo Reinhard eben herkam.

Mit der Botschaft der Lebenserfüllung auf den Lippen stundenlang harren zu müssen, das war eine schwere Aufgabe.

Reinhard machte sich bald wieder auf, den Ankommenden entgegen zu gehen, aber als er schon eine Stunde den Waldweg gegangen war, besann er sich erst, daß er so in Gedanken dahingeschritten sei, während doch das Wägelchen mit den Heimkehrenden bereits den Fuhrweg dahingerollt sein konnte; er kehrte still wieder um, traf jedoch auch die Erwarteten noch jetzt [189] nicht zu Hause. Mit namenloser Angst quälte ihn der Gedanke, daß ihm Lorle mit Gewalt entzogen sein konnte, die Eltern waren ja mit ihr in der Stadt und er mußte sich sagen, daß er durch seine Zweifel solches verschuldet haben konnte; aber die ganze Treue Lorle's stand wieder vor ihm, und als es Nacht wurde, war es ihm als ob das Bild auf der Staffelei hell leuchte; er zündete Licht an und betrachtete jetzt nach längerer Abwesenheit das Bild wieder; er staunte fast vor sich selbst, hier war ihm Etwas gelungen, was ein Anderer, ein Mächtigerer geschaffen hatte.

Reinhard nahm die Zither und wollte spielen und singen, aber er hörte bald wieder auf, er legte sich endlich angekleidet auf das Bett, er wollte heute noch die Seinigen sprechen, keine Stunde seines Glückes versäumen; er verschlief aber doch die Ankunft der Hausbewohner, die spät in der Nacht erfolgte.

Die Mutter war zu Bett gegangen, der Vater saß im Stüble und las die mitgebrachten Zeitungen, Lorle machte sich aber, trotz aller Ermahnungen, noch immer Etwas in der Stube zu schaffen; endlich kam sie zaghaft zum Vater in's Stüble und sagte:

»Aetti, ich hab' ein' Bitt'. Machet das Licht aus und bleibet da.«

»Nur stet, warum denn?«

»Ich bitt', ich hab' Euch was zu sagen und ich kann's nicht so.«

»Närrisches Kind, meinetwegen. Nun jetzt ist das Licht aus, nun jetzt red'.«

Lorle legte die Hand auf die Schulter des Vaters[190] und sagte ihm mit zitternder Stimme in's Ohr: »Der Herr Reinhard hat mich gern und ich ihn auch, und er will mich und ich will ihn und keinen andern auf der ganzen Welt.«

»So? Und das habt ihr unter euch ausgemacht?«

»Ja.«

»Nur stet, gang jetzt schlafen, morgen ist auch ein Tag; wir reden ein Andermal davon.«

Kein Bitten und kein Betteln Lorle's half, sie erhielt keinen andern Bescheid.

Als der Wadeleswirth nun noch gewohntermaßen das ganze Haus durchmusterte, fand er die Thüre Reinhards halb offen, er drehte von außen den Schlüssel um; Reinhard war eingeschlossen.

Am Morgen ward Lorle vom Vater »zeitlich« geweckt. Als sie herabgekommen war, sagte er: »Du gehst gleich auf die Hohlmühle und bleibst da bis ich komm'.«

Lorle mußte gehorchen, sie wußte wohl, da half keine Widerrede; sie durfte nicht mehr die Treppe hinauf, sondern mußte sich schnurstracks aufmachen.

Der Wadeleswirth ging umher und zankte mit Stephan und mit Allen, weil sie eben keine so schlaflose Nacht gehabt hatten wie er; endlich saß er im Stüble und las die Fruchtpreise auf den verschiedenen Schrannen, aber trotz der hohen Sätze hatte er die Lippen zusammengekniffen und trommelte unwillig mit dem Fuße auf dem Boden. Von oben vernahm man jetzt mächtiges Pochen an eine Thüre, da erinnerte sich der Wirth, daß er Reinhard eingeschlossen habe, und befahl der Bärbel, ihm aufzuschließen; dadurch ersparte er sich's [191] auch, dem Maler alsbald frischweg die Meinung zu sagen. Reinhard kam zum Wirt und streckte ihm beide Arme entgegen, dieser aber saß ruhig, hielt mit beiden Händen die Blätter und so darüber wegschauend, sagte er: »Auch wieder hiesig?«

»Und ich hoffe zu Hause,« sagte Reinhard.

»Nur stet. Ich sag's Euch grad heraus, packet Eure Sachen zusammen und b'hüt Euch Gott.«

»Und das Lorle?« fragte Reinhard zitternd.

»Das will ich schon wieder zurecht bringen, das ist mein' Sach', da hat Niemand nichts drein zu reden.«

»Und ich geh' nicht aus dem Haus, bis mir das Lorle selbst gesagt hat, daß ich gehen soll.«

»So? Ist das der Brauch bei Euch Herren aus der Stadt? Ich kann auch anders ausgeschirren. Verstanden?« sagte der Wadeleswirth aufstehend.

»Ich hätte den Bauernstolz nicht bei Euch vermuthet,« sagte Reinhard.

Der Wadeleswirth schnaubte grimmig und ballte beide Fäuste; er schaute Reinhard von oben bis unten stumm an, wie wenn er sagen wollte: was glaubst? Bin ich der Mann, mit dem man so redet?

Reinhard schüttelte den Kopf und sagte endlich: »Ihr seid doch sonst ein gescheiter Mann, warum seid Ihr jetzt so wild. Was hab' ich Euch leid's than?«

Diese sanft gesprochenen Worte verfehlten ihre Wirkung nicht und der Wadeleswirth sagte mit stockender Stimme: »So? Und mein Kind, mein' einzige Tochter wegstehlen?«

»Lorle soll reden. Wo ist sie?« fragte Reinhard.

[192] »In der Haut bis über die Ohren, wenn sie nicht da ist, ist sie verloren. Das Lorle ist nicht da, so lang Ihr da seid.«

Nach einer Weile, in der er das schmerzdurchwühlte Antlitz Reinhards betrachtet hatte, fuhr der Wirth fort:

»Ich kann's Euch schon sagen, wo das Mädle ist: auf der Hohlmühle.«

»Ich verspreche Euch«, sagte Reinhard schnell, »kein Wort ohne Euer Wissen mit ihr zu reden.«

»Glaub's, Ihr seid sonst allfort ein rechtschaffener Mensch gewesen, und jetzt muß ich auf's Feld,« sagte der Wadeleswirth ruhiger.

Er ging fort und Reinhard auf sein Zimmer. Wie glücklich war dieser jetzt, daß er nach der Gliederpuppe die Gewänder malen konnte; er war unausgesetzt fleißig und ließ sich sogar das Mittagessen auf sein Zimmer bringen.

Die Bärbel, die Alles wußte, tröstete Reinhard und sagte, er solle nur die Hoffnung nicht fahren lassen, der Alte sei zäh', er müsse ein gut Weilchen am Feuer stehen bis er weich werde. Auch die Mutter kam leise herauf geschlichen, sie redete nichts von der Hauptsache, aber an der Sorglichkeit, die sie für alle Bedürfnisse Reinhards hatte, konnte er wohl merken, daß sie auf seiner Seite war.

Am Abend erzählte Reinhard dem Vater, wie er blos Lorle zulieb sich eine Anstellung geholt habe und wie er sie ewig glücklich machen wolle. Der Wadeleswirth war still und schaute über das Glas weg, das er eben zum Munde führen wollte, Reinhard bedeutsam an.

[193] Als die Bärbel am andern Morgen Reinhard den Kaffee brachte, sagte sie:

»Glück und Segen!«

»Wozu?«

»Ihr seid ja Professor geworden, der Alte hat gestern nacht seiner Frau noch viel davon vorgeschwatzt; es gefallt ihm doch wohl, das Wasser fangt schon zu sieden an.«

Der Alte ging immer brummig im Hause umher und hatte sogar, was sonst nie geschah, kleine Häkeleien mit seiner Frau; er hätte gar zu gern gehabt, sie möchte ihm weidlich mit Reden und Bitten zusetzen, daß er die Sache doch in's Reine bringen möge; sie aber that, wie man sagt, »kein Schnauferle«, sie wollte die Verantwortung für spätere Tage nicht haben. Und dann war's ihr doch auch wind und wehe, ihr Kind so weit weg unter ganz fremde Verhältnisse zu geben; sie war von dem Sorgen und Nachdenken so müde, daß sie bald da bald dort, wo nur ein Plätzchen war, sich niedersetzte und ausruhte.

Am dritten Tage kam der Wadeleswirth zu Reinhard auf sein Zimmer, setzte sich und redete lange nichts; endlich begann er:

»Ich hab' mich resolvirt. Es geht mir ein Stück aus dem Herzen, wenn ich das Kind so weit weg geb'; aber was ist da zu machen? Ich thu' Euch also den Vorschlag, ich will mein Lorle noch auf ein Jahr zu den Klosterfräulein thun, da soll's lernen, was man in der Stadt braucht, und seid ihr Beide dann noch so gewillt wie jetzt, nun, so in Gottes Namen.«

[194] Reinhard widersprach und betheuerte, daß Lorle nichts zu lernen habe, gerade so, wie sie jetzt sei, mache sie ihn glücklich; der Alte lächelte und ging davon.

Drei Tage und drei Nächte hatte Lorle in schweren Gedanken auf der Mühle zugebracht; kein Bote kam, Stephan wußte nichts, und oft war's in Wahrheit als ob sie in eine andere Welt versetzt wäre. Am vierten Morgen kam der Wadeleswirth und holte seine Tochter, er hatte ein unwirsches Ansehen und Lorle folgte ihm still wie ein Opferlamm. Der Vater zürnte nicht auf das Kind, er zürnte nur mit sich selber, weil er nun doch nachgeben müsse.

»Hast du den Reinhard noch gern?« fragte er einmal, als sie schon eine gute Strecke miteinander gegangen waren.

»Ja, so lang ich leb',« erwiderte Lorle. Und nun gingen sie wieder still dahin, Keines redete ein Wort. Der Wadeleswirth war durchaus der Mann nicht, der sorgfältig Ueberraschungen zu bereiten strebte; das Kind mußte nur schweigen, so lang er nicht zu reden begann, und er wollte nicht reden, weil's ihm nicht darum war; auch war's ihm zu viel, das was er zu sagen hatte, zweimal vorzubringen.

Reinhard hatte indeß von der Bärbel die Mittheilung erhalten, daß Lorle mit dem Vater käme; er eilte den Beiden entgegen und als sie sich jetzt zum Erstenmale wieder sahen, flammte ihre ganze Liebe auf und Reinhard rief: »Vater, gebt mir das Lorle jetzt, hier.«

»Nur stet, das ist nichts so, wie Bettelleut' hinter der Heck; wartet bis wir heim kommen.«

[195] In diesem Schlußsatz lagen vielverheißende Worte. Hand in Hand schritten die Liebenden dahin, sie bedurften keines Austausches der Worte. Als man gegen das Dorf kam, machte sich Lorle Etwas an ihrem Schurzbändel zu schaffen, sie ließ dadurch die Hand Reinhards los und faßte sie nicht wieder.

Im Stüble war endlich die ganze Familie beisammen; Alles stand, nur der Vater saß und nach einer sattsamen Pause begann er:

»Alte, was meinst? sollen wir sie einander geben?«

»Wie du's machst, ist's Recht,« sagte die Frau.

»Guck, Lorle, so muß eine Frau sein, merk' dir das, bis du einmal eine bist,« sagte der Vater und Lorle ward glühendroth, da sie ihre Zukunft sich vorhalten hörte. Der Vater sagte nun aufstehend: »Ich mein' wir machen jetzt die Handreichung und wenn die Ernt' vorbei ist, halten wir Verspruch, und über's Jahr könnet ihr in Gottes Namen heirathen. Hat mein Bauernstolz Recht?« fragte er, Reinhard derb auf die Schulter klopfend.

»Guter Vater!« war Alles, was dieser hervorstottern konnte.

»Nun, Ihr seid auch ein guter Mensch, ich will das nicht läugnen. Jetzt fertig.«

Alles reichte sich nun die Hand und Reinhard küßte noch die Mutter innig, den Vater konnte er nicht küssen, dieser schüttelte ihm nur starr die Hand.

Als die halb unterdrückte Rührungsscene noch nicht vorüber war, stellte sich der Wadeleswirth wieder breitspurig vor Reinhard und sagte:

[196] »Jetzt hab' ich noch ein Wörtle mit Ihm zu reden, du Lump, du liedricher! Und was ich dem Mädle geb', darnach fragt Er gar nicht und thut wie wenn Er ein Bettelmädle bekäm'? Und unser gut Sach', was wir erhauset haben, das ist Ihm ein Pfifferling, das ist Ihm gar nichts werth? Potz Heidekukuk, das ist ein' Lumpenwirthschaft. Ja, es ist mir ernst, es ist da nichts zum Lachen, Himmelheide –«

»Um Gottes willen sei doch still,« rief die Mutter, »wenn's ja Ein's hört, so meint es, du thätest zanken und wir hätten Händel.«

»Lorle,« erwiderte der Vater; »merk' dir das jetzt auch, das mußt du nicht thun; wenn der Mann red't, muß das Weib still sein. Jetzt genug, jetzt ganget an's Geschäft.«

Alles entfernte sich, Lorle wollte mit Reinhard Hand in Hand weggehen, der Vater aber winkte ihr und sagte: »Bleib du noch ein bisle da.« Lorle war allein mit dem Vater im Stüble und dieser sagte: »Jetzt bist doch zufrieden? brauchst nicht heulen, darfst lustig sein; jetzt paß auf ... ja, was ich doch sagen will, ja ... mach', daß du dein Kränzle am Hochzeitstag mit Ehr' und Gewissen tragen kannst.«

Lorle fiel dem Vater nicht um den Hals, sie verbarg ihr Antlitz nicht, frei und stolz schaute sie drein und sagte fest: »Aetti, Ihr wisset gar nicht, wie brav er ist.«

»Glaub's, ist mir schon Recht, wenn er brav ist, verlaß dich aber auf kein' andere Bravheit als auf die deinige; jetzt gang.«

[197] Das waren nun glückselige Tage, die den Verlobten aufgingen. In Reinhard hatte das Offenkundige ihres Verhältnisses gar nichts geändert, Lorle dagegen fühlte sich jetzt viel freier; sie war stets voll Entzücken, wenn Eines nach dem Andern aus dem Dorf kam und ihr Glück wünschte. Fast Jedes hatte etwas Besonderes an Reinhard zu loben und man bedauerte nur, daß Lorle so weit weg käme; sie nahm aber Jedem das Versprechen ab, daß es sie besuchen, bei ihr wohnen und essen müsse, wenn es nach der Hauptstadt käme.

Einige Besonderheiten Lorle's zeigten sich schon jetzt. Fast nie ließ sie sich von Reinhard am Arme durch das Dorf führen, draußen aber faßte sie ihn von selbst, hüpfte und sang voll Freude. Nie war sie zu bewegen an einem Werktage Mittags mit Reinhard spaziren zu gehen, wenn aber der Feierabend kam, dann war sie bereit; das war der Dorfsitte gemäß, unter deren Herrschaft sie stand.

Ein Umstand veranlaßte viele Erörterungen zwischen dem Schwiegervater und Reinhard. Dieser wollte nämlich schon zum Frühherbst heirathen, er konnte nicht lange Bräutigam sein, sich nicht Monate und Jahre mit der Sehnsucht nähren; der Schwiegervater wollte aber durchaus nicht, daß man die Sache so über's Knie abbreche. Das Weibervolk im Hause wußte indeß, daß er schon nachgeben werde, und die Mutter ließ bei allen Webern in der Umgegend tuchen und bei allen Näherinnen schneidern, während die Schwester des Collaborators nach einem genauen Maß die Stadtkleider für Lorle fertigte.

[198] Lorle wollte durch ihre Brautschaft keinerlei Arbeit und Verbindlichkeit im Hause entledigt sein, ja sie war emsiger als je; sie wollte noch Alles in Stand bringen und in Ordnung verlassen, es war ihr wie einem ehrenhaften Dienstboten, der, bevor er den Dienst verläßt, freiwillig das ganze Haus von oben bis unten scheuert und säubert. Reinhard mußte sie gewähren lassen, dafür war sie aber auch auf den Abendspazirgängen voll frischen Lebens.

»Mir ist allfort,« sagte sie einmal, »wie wenn heut Samstag wär' und morgen ist Sonntag, und da kommt wieder ein Tag und da kommt mir's wieder wie Samstag vor und so fort. Ich bin so froh, so froh, ich möcht' nur, ich weiß gar nicht was ich möcht'.«

Ein Andermal, als sie durch den Wald gingen, flogen Lorle gar viele Nachtfalter in's Gesicht, sie ärgerte sich darüber und Reinhard bemerkte: »Dein Gesicht ist so lauter Licht, daß sich die Nachtfalter drin verbrennen wollen; ich bin auch so.«

Lorle faßte einen Baumzweig, schüttelte Reinhard den Nachtthau in's Gesicht und sagte? »So, da ist gelöscht.«

Ueber Zittergras und blaue Glockenblumen weinte Lorle die ersten Brautthränen.

Die Verlobten gingen mit einander über die Wiese; da raufte Reinhard jene Pflanzen aus und zeigte Lorle den wundersam zierlichen Bau des Zittergrases und die seinen Verhältnisse der Glockenblume; »das gehört zu dem Schönsten was man sehen kann,« schloß er seine lange Erklärung.

[199] »Das ist eben Gras,« erwiderte Lorle und Reinhard schrie sie an: »Wie du nur so was Dummes sagen kannst, nachdem ich schon eine Viertelstund' in dich hineinrede.«

Große Thränen quollen aus den Augen Lorle's hervor, Reinhard suchte sie zu beruhigen, aber innerlich war er doch voll Aerger, denn er vergaß, daß nur wer die Seltenheit und Pracht der Zierpflanzen lange erschaut hat, wieder an den einfach schönen Formen des Grases sich ergötzen mag.

Dieser Abend bebte wehmüthig in der Seele Lorle's nach, sie gab Reinhard keine Schuld, sondern ward nur fast irr an sich; sie kam sich nun wirklich grausam dumm vor und oft, wenn er sie um Etwas fragte, schreckte sie zusammen, aber lügen konnte sie nicht, keine Theilnahme und kein Verständniß heucheln. Die Liebe aber überwindet Alles. Lorle nahm sich vor, recht aufzumerken, wenn Reinhard Etwas sagte, denn er war ja viel gescheidter. So verlor sich nach und nach ihre Zaghaftigkeit wieder und sie war das harmlose Kind von ehedem.

Auch ein Schreckbild ward Reinhard einmal für Lorle. Einst saß er Abends mit dem Vater überaus lustig beim Glase, Lorle schnitt Brod ein zur Suppe und war ganz glückselig, daß die Beiden sich so lieb hatten, sie sah immer von Einem auf den Andern und legte zuletzt die Hände fest zusammen, als wären es die Hände der beiden treuen Menschen, die so traut bei einander saßen. Reinhard war wieder zu allerlei Schalkhaftigkeiten aufgelegt, er taumelte nun in der[200] Stube umher, sprach mit lallender Zunge unverständliche Worte, ganz wie ein Betrunkener. Lorle wußte doch, daß er nur scherze, aber sie rang die Hände über dem Kopf und rief aus allen Kräften: »Um Gottes willen, Reinhard, Reinhard! Laß das bleiben! So darfst du nicht aussehen.«

Reinhard hörte sogleich auf, aber Lorle zitterte noch lange über diesen Scherz; sie war keineswegs so empfindsam, sie kannte das Leben und seine Verunstaltungen und hatte schon manchem Bruder Saufaus tüchtig den Marsch gemacht, aber Reinhard kam ihr durch solche Nachahmung ganz verzerrt und entwürdigt vor; sein hohes Wesen, zu dem sie so demüthig aufschaute, durfte auch nicht im Scherze so erniedrigt werden. Fast die ganze Nacht konnte sie das häßliche Bild nicht vergessen, und erst, als Reinhard ihr am andern Morgen versprach, nie mehr solchen Scherz zu treiben, verschwand es aus ihrer Seele.

Diese beiden Zwischenfälle waren die einzigen Störungen in dem Liebesleben; sonst ging stets Freude vor ihnen her und Entzücken grüßte sie von jedem Baumblatt und aus jedem Gräschen.

Wer kann erfassen, wie eine Seele in sich jauchzt und jubelt, wenn sie stumm aufgeht in ihr Jenseits? Warum klingt uns allüberall in tausendfältigen Klängen die Kunde von den Schmerzen und Zwiespältigkeiten des Lebens entgegen? Ist's der Schmerz allein, der zum Bewußtsein ruft und drin haftet? Die Freude und das Entzücken sind das wahre Dasein, da ist das Einzelbewußtsein untergesunken, in Liebe aufgelöst, in [201] ihr gestorben und lebt doch das wahre, das selig ewige Leben ....

Die Madonna war vollendet und zur Ausstellung nach der Stadt geschickt. Zu seiner Betrübniß erhielt Reinhard die Nachricht, daß der Collaborator unvorsichtigerweise verrathen hatte, wer zur Madonna Modell gesessen. Ein in Rom katholisch gewordener Engländer, der sich eben in der Residenz aufhielt, bot eine namhafte Summe für das Bild; Reinhard gab es hin, sowohl weil er seine Frau nicht nach der Stadt bringen wollte, wo das Bild war, als auch aus einem andern Grunde. Die materielle Kehrseite fehlt keinem Verhältnisse. Reinhard bedurfte Geld zu seiner häuslichen Einrichtung, und sah er auch mit Wehmuth das, was er aus tiefster Seele geschaffen, in eine verlassene Kapelle nach England wandern, um es nie wieder zu schauen; er ließ es ziehen.

Der Collaborator miethete für Reinhard eine Wohnung und seine Schwester richtete sie ein. Mit dieser Nachricht wurde nun der Wadeleswirth bestürmt, die baldige Hochzeit zu gestatten.

So voll Selbstgefühl und freigesinnt auch der Wadeleswirth war, so that es ihm doch besonders wohl, wenn er bei den Leuten im Dorfe: »Mein Tochtermann, der Professor,« sagen konnte; auch hatte er Reinhard in der That von Herzen lieb gewonnen. Als nun die Frauen sich mit den Bitten Reinhard's vereinten, sagte er:

»Ich seh' schon, Ihr habt die Sach' mit einander gebestelt, ich weiß wohl, ich gelt' nichts im Hause; nun meinetwegen.«

[202] Reinhard lief sogleich zum Pfarrer und bat ihn, Sonntag das erste Aufgebot zu halten. An dem versprochenen Kirchenbilde arbeitete er nun mit erstaunlichem Fleiß, er warf es in derben Zügen für die Ferne hin und nur einzelnen Köpfen widmete er eine sorgfältige Ausführung. Auf den Sonntag vor der Einweihung der neuen Kirche war der Hochzeitstag bestimmt. Lorle bat, daß sie doch noch über die Festlichkeit bleiben möchten, aber Reinhard hatte keine Luft mehr, diesen Jubel mit zu feiern: er sehnte sich fort aus dem Dorf.

Sie ziehen in die weite Welt

Sie ziehen in die weite Welt.

Vroni war von der Mühle hereingekommen und blieb die ganze letzte Woche, sie schlief mit Lorle in einem Bette und die Mädchen verplauderten oft die halben Nächte. Lorle konnte der Vroni nicht genug an's Herz legen, wie sie die Eltern pflegen solle, wenn sie nicht mehr da sei.

Am Vorabend der Hochzeit stand Lorle bei der Bärbel und weinte bitterlich, daß sie nun auch diese getreue Pflegerin verlassen solle; sie klagte, wie sie sich in der Stadt werde gar nicht zu helfen wissen, da sagte die Bärbel:

»Ich kann's nicht mehr, ich hab' ihm versprochen, daß ich nichts sagen will, aber es geht nicht. Sei ruhig, der Reinhard hat so lange an mir bittet und zerrt, daß ich jetzt zu euch nach der Stadt geh'. Sei heiter, ich bleib' bei dir, so lang du mich behältst.« –[203] Lorle eilte zu Reinhard und umhalste ihn mit maßloser Innigkeit; sie verscheuchte ihm dadurch auch den Mißmuth, den er so eben durch einen Brief des Collaborators empfunden hatte; er hatte ihn als seinen einzigen Freund zur Hochzeit eingeladen; die abschlägige Antwort, die verweigerten Urlaub als Grund angab, war voll grämlicher Bitterkeit auch gegen Reinhard.

Am Hochzeitmorgen sah Reinhard Lorle nur einen Augenblick und er sagte: »Mir ist so stolz und hoch zu Muth, wie einem König an seinem Krönungstage.«

»Nicht so, fromm sein,« erwiderte Lorle, das waren die einzigen Worte, die sie vor der Trauung mit ihm redete.

Lorle ließ sich noch in ihrer Dorftracht trauen. Als sie aus der Kirche kam, ging sie auf ihr Kämmerlein, um die Stadtkleider anzuziehen. Lange lag sie hier auf den Knieen und betete weinend: »Heiliger, guter Gott, ich will gern sterben, wann du willst, du hast mir bisher geholfen, ich will Alles auf mich nehmen, ich hab' das erlebt, du bist gut und hast mich das erleben lassen, hilf mir gut sein, hilf!«

Sie richtete sich auf und rief Vroni, daß sie sie ankleide; sie zog keines der weit ausgeschnittenen seidenen Kleider an, sondern ein einfaches weißes, das bis an den Hals geschlossen war.

Ein Jedes sah voll Freude auf Lorle, als sie so herabkam, ihr Gang, jede Bewegung ihrer Hand, Alles war so feierlich wie ein heiliger Choral.

Bei Tische ging's lustig her, der Wadeleswirth war[204] überaus aufgeräumt und machte allerlei Späße. Lorle war's, als wäre sie verantwortlich für alle Reden ihres Vaters und sie fand Manches nicht am Platze; sie gäbelte nur immer so auf dem Teller herum, aß aber Nichts, trotz aller Zureden. »Ich bin satt, ganz satt,« war ihre stete Entgegnung, die die vollste Wahrheit enthielt.

»Lasset's in Fried',« rief endlich der Wadeleswirth, »wenn das Lorle auch nichts ißt, meine Kinder sind g'frässig und g'süffig, es schmeckt ihnen Alles, sie kommen aus einem rauhen Stall; von deßwegen, Professor, könnet Ihr mit meinem Lorle bis Paris reisen, es ist nicht schleckig.«

Nach dieser Rede schaute er rundum allen Leuten in's Gesicht, sich den Beifall zu holen, weil er so etwas gar Gescheites gesagt hatte; als aber Niemand Lob zunickte, rief er, vom Wein erregt: »Zur Gesundheit, Herr Pfarrer, auf die neu' Kirch' und daß sie auch von innen ... ja ich hab' was, aber es wird nicht gesagt, von meinem Tochtermann, aber es wird vorher nichts gesagt.«

Die Tafelmusik spielte manche lustige Weise und die Fröhlichkeit hatte noch lange nicht ihren Gipfelpunkt erreicht, als man jetzt in einer Pause Peitschenknallen vor der Thür vernahm: Reinhard und Lorle standen auf, Alles folgte ihnen. Vor dem Hause stand das Wägelchen, das Gepäck war sorgsam festgebunden, der Rapp war angespannt und Martin stand da und hielt das Leitseil.

Lorle sah immer auf den Boden als sie über den[205] Hof ging, als wäre überall Etwas, das sie aufhielte, über das sie wegsteigen müsse. Die Hochzeitsgäste standen alle rings um das Wägelchen, da kam der Wendelin und übergab Lorle schluchzend eine Amsel, die er gefangen, in einem selbstverfertigten Käfig, Lorle solle sie mitnehmen; man versprach ihm, daß die Bärbel sie mit nach der Stadt bringen werde, da sie nicht für die Reise tauge. Der Knabe ging still mit seinem Vogel davon. Der Wadeleswirth hatte die Peitsche vom Wägelchen genommen und hieb dem Rappen eins auf, daß dieser sich hoch aufbäumte und ihn Martin kaum halten konnte.

»Paß auf,« sagte jetzt der Wadeleswirth zu Reinhard, »wenn man von Haus wegfährt, muß man dem Gaul ein Fitzerle geben, daß er's auch weiß, daß man die Peitsch' bei sich hat; hernach braucht man sie oft den ganzen Weg nicht mehr. So ist's auch mit dem Weib. Man muß sie gleich von Anfang merken lassen, wer Meister ist, nachher ist's gut und man kann die Peitsche ruhig neben sich hinstecken, aber das Leitseil muß man festhalten, rr! hu! Rapp! o oha.«

Der Wadeleswirth sah schmunzelnd auf ob seiner klugen Rede; er hatte heute Unglück, er konnte noch so Gescheites vorbringen, man hörte nicht recht darauf. Lorle stand an die Mutter gelehnt und weinte; es war als wollte sie zusammenbrechen vor Schmerz. Die Mutter sagte: »Alter, du könntest auch was Besseres reden zum Abschied wenn ein Kind fortgeht, kann sein auf ewig.« – Sie preßte die Lippen zusammen, sie konnte nicht weiter sprechen.

[206] Dem Wirth war's plötzlich wie wenn man ihm einen Kübel Wasser über den Kopf schüttete; er legte die Peitsche auf das Wägelchen und sagte:

»Nu, nu, nu, nur stet. Lorle, ich will dir was sagen, heul' nicht; wenn du Geld brauchst, was dir fehlt, was es ist, du weißt du hast einen Vater, und wenn's einen Buben giebt weißt wo du die Gevattersleut' holst, verstanden? Jetzt heul' nicht, ich kann das Heulen nicht leiden; heul' nicht, oder ich lass' dich bigott nicht vom Fleck.« – Er schlug sich den Hut tiefer in den Kopf, ballte beide Fäuste und fuhr fort: »Du bist mir nicht feil, nicht für ein' Million. Professor, komm her; wenn du noch Reu' hast, komm her, kannst mir mein Lorle da lassen, bleib' daheim Lorle.«

Die junge Frau schlug lächelnd die Augen auf und reichte dem Vater die Hand, dieser fuhr fort: »Professor, jetzt hör' noch Eins, ich will dir was sagen, bleib' da mit sammt dem Lorle; wirf denen in der Stadt den Bettel vor die Thür, du brauchst's nicht, du bist mein Tochtermann und übernimmst die Wirthschaft, du kannst Lindenwirth sein, ich übergeb' dir Alles, wir ziehen in's Unterstüble; laß abpacken, bleibet da.«

»Und meine Kunst und mein Geschäft?« fragte Reinhard.

»Ja freilich, davon versteh' ich nichts,« antwortete der Vater, er hielt Lorle's Hand in der seinen und schärfte sich die Lippen mit den Zähnen; das sollte die Bewegung, die sich seines Antlitzes bemächtigte, zurückdämmen.

Die Mutter nahm Reinhard bei Seite und sagte:

[207] »Habt nur immer ein getreu Aug' auf mein Lorle, so giebt's kein Kind mehr, soweit der Himmel blau ist; es hat ein gar lindes Herz und wenn es einen Kummer hat, verdruckt es ihn in sich hinein, wenn's ihm auch schier das Herz abstoßt und ... sorget dafür, daß es sich in den Stadtkleidern nicht verkältet, es ist nicht dran gewohnt, und lasset ihm ein Fleischsüpple kochen, wo Ihr über Nacht bleibet, es muß sie essen, es muß, es hat heut noch keinen Bissen über's Herz bracht und ... und denket auch oft an Eure Mutter im Himmel ... und b'hüt Euch Gott.«

Mit Lorle selbst sprach die Mutter fast gar nichts mehr, sie streichelte nur immer den schönen Mantel, den sie über hatte, und fragte: »Hast auch warm? Nimm dich nur in Acht, es wird kühl gegen Abend, besonders im Fahren.«

Lorle nickte bejahend, sie konnte nichts mehr reden.

Jetzt rief der Wadeleswirth: »Stephan! bring' noch ein' Butell Altweiberwein auf den Gaul. Ich bring' dir's Professor, trink, und Lorle trink auch, du mußt.«

»Ja,« sagte die Mutter, »trink, es g'wärmt.«

Lorle mußte zuletzt noch trinken, eine Thräne fiel in das Glas.

Nun wurde sie in das Wägelchen gehoben und als Reinhard eben auch hinaufwollte, gab ihm der Wadeleswirth noch einen derben Schlag und sagte:

»Mach', daß du fortkommst, du Lump, du schlechter Kerle, du Heidenbub, nimmst mir mein Mädle mit fort.«

Das waren lauter Liebkosungen und Lorle mußte unter Thränen lachen.

[208] »Jetzt hü! in Gottes Namen, fahr zu!« rief der Wadeleswirth.

Die Musikanten, die bisher still zugeschaut hatten, spielten einen lustigen Marsch und fort rollte das Wägelchen ...

Wer je dabei stand, wie ihm ein Liebes entführt wurde und die ganze Seele drängt sich den Entfernenden nach, der mag mitfühlen wie es den Eltern zu Muthe war als ihr Kind dahinzog. Die Mutter stand da und ihr war's als wanke der Boden unter ihr, als werde sie ebenfalls fortgezogen und nichts stehe mehr fest; ihr Kind, das sie unter dem Herzen getragen, über das ihr Auge wachte, so manches Jahr, in stillen Nächten wie im Lärm des Tages, dahin, dahin – und doch hielt sie die Hand festgeschlossen, als fasse sie ihr fernhinziehendes Kind an einem Geistesbande. Endlich schrie sie laut auf und fiel ihrem Mann um den Hals. Alles sah gerührt auf die Beiden. Der Pfarrer bemühte sich, die Trauernden durch Trostesworte aufzurichten; die Mutter wendete ihm ihr thränennasses Antlitz zu und schüttelte den Kopf verneinend, der Wadeleswirth aber sagte: »Das ist jetzt Alles gut, ja, ja, aber da könnet ihr nicht mitreden, Herr Pfarrer, das könnet Ihr nicht wissen, was das heißt, ein Kind, sein Kind weggeben.«

Der Pfarrer schwieg.

»Komm 'rein Alte,« sagte der Wadeleswirth nun, seine Frau unter'm Arm fassend, was er fast nie that, »komm, jetzt müssen wir uns halt wieder allein gern haben. Von Anfang wie wir gehaust haben, haben [209] wir keine Kinder gehabt und jetzt haben wir bald wieder keine daheim, komm, wir wollen noch ein Tänzle machen. Spielleut', hellauf!«

In der Wirthsstube war der Wadeleswirth froh, seinen Gram in Zorn verwandeln zu können; er schimpfte auf die neue Mode, daß man alsbald nach dem Hochzeitstisch wegfahre und den Tanz allein lasse: »das ist ja wie ein Kindbett ohne Kind,« sagte er immer.

Lorle war indeß mit Reinhard rasch dahingefahren ohne sich umzuschauen, sie hielt sich fest am Wagensitz, es war ihr als ob sie jetzt zum Erstenmal in ihrem Leben auf einem Wägelchen sitze: da steigt man auf ein hohes Gestell und läßt sich fortrollen und bewegt sich nicht selber. »Wir fahren fort« – sagte sie zu Reinhard, er wußte nicht was das zu bedeuten habe.

Vor dem Dorfe saß Wendelin mit seinem Käfig am Wegraine. Als die Hochzeitsleute ihm nahe kamen, nahm er den Vogel heraus und hielt ihn hoch hinauf den Fahrenden hin. War's freiwillig oder von ungefähr? Der Vogel entwischte der Hand und flog davon, Wendelin kehrte mit dem leeren Käfig heim.

Wortlos fuhr das junge Ehepaar dahin, Lorle hatte so viele Gedanken, daß sie eigentlich keinen bestimmten hatte. Als man jetzt an der Steige hielt, wo gesperrt wurde, sagte sie: »Fahr' nur stet, Martin. Warum hast du denn den Rappen eingespannt, der geht ja nicht gern in der Lanne? Komm Reinhard, wir wollen auch absteigen.«

»Wollen wir nicht lieber sitzen bleiben? Doch, wie du willst.«

[210] Reinhard sprang vom Wägelchen, er half nun auch Lorle und hielt sie eine Weile auf beiden Händen frei in der Luft, bis sie rief: »So laß mich doch auf den Boden.«

Im Weitergehen sagte Reinhard: »Wie ich dich frei in der Luft gehalten, so habe ich dich hinweggehoben von deinem Boden; ich allein halte dich, du bist mein, von allen Menschen der Welt, vor Allen.«

Lorle wußte nicht recht, was er damit sagen wollte, sie meinte nur, er habe gesagt, daß er viel stärker als sie und ihr Herr sei; sie ließ sich das gern gefallen.

»Denkst du noch was du träumt hast?« fragte sie jetzt.

Reinhard hatte den Traum von der ersten Nacht im Dorf völlig vergessen, Lorle betheuerte aber bei der Wiedererzählung, daß sie sich deshalb nicht im Mindesten fürchte. »Ich glaub' nicht an Träum',« versicherte sie, »ich hab' schon mehr als zehnmal träumt mein Vater sei gestorben und ich hinter der Leich' drein gangen, und er ist doch mit Gottes Hülf' noch frisch und gesund; aber es macht mir doch bang, daß er so dick wird und nimmer gern laufen mag. Wenn ich nur wüßt', wie es ihm jetzt geht. Es ist mir wie wenn ich ihn schon ewig lang nicht gesehen hätt', aber nein, jetzt sind sie daheim am Geschirraufspülen; da werden sie vor zehn in der Nacht nicht fertig und des Wendelins Mutter die hilft, die ist so ungeschickt und läßt Alles aus der Hand fallen.«

»Laß jetzt die Bärbel am Spülstein und sei bei mir,« entgegnete Reinhard.

[211] »Ja, ja, jetzt schwätz aber auch du, ich bring sonst lauter dumm Zeug vor.«

»Wir brauchen gar nicht reden, wenn ich dich nur hab'.«

»Ist mir auch recht.«

Man war in G., der nächsten Stadt, angekommen; Reinhard und Lorle aßen allein auf ihrem Zimmer, er gab ihr die ersten Löffel Suppe zu essen wie einem Kinde, sie ließ sich's gefallen, dann aber griff sie selber tapfer zu. Als abgegessen war, stellte Lorle die Teller aufeinander, schüttelte das Tischtuch zum Fenster hinaus ab und legte es in die kenntlichen Falten.

»Da sieht man die Wirthstochter,« sagte Reinhard lachend, »das brauchst du nicht thun, das kann der Kellner.«

»Laß mich nur,« entgegnete Lorle, »ich kann's nicht leiden, wenn abgegessen ist und das Geschirr steht noch auf dem Tisch.«

Er ließ sie gewähren und nannte sie sein Hausmütterchen, das ihm jede fremde Wohnung zur Heimath mache. Sie saßen nun ruhig an einander gelehnt beisammen, aber plötzlich fiel Reinhard vor ihr nieder umfaßte ihre Knie und rief schluchzend und weinend:

»Ich bin dich nicht werth, du Reine, Holde.«

Lorle hob ihn auf und tröstete ihn, dann aber sagte sie: »Jetzt hab' ich auch eine Bitt', wir wollen weiter fahren, es ist ja so schön mondhell; thu's mir zu lieb, lieber Reinhard.«

Die Beiden fuhren weiter durch die mondbeglänzte Nacht in stillem Entzücken.

[212] Lorle gedachte aber auch oft nach Hause, sie hätte gar zu gern gewußt, ob sie jetzt wol schon schlafen gehen oder ob sie noch tanzen. Einmal sagte sie zu Reinhard: »Kennst du noch den schönen Dreher, den sie aufgespielt haben, wie wir daheim fortgefahren sind? Mir ist's allfort, wie wenn ich Musik hör'.«

Zur selben Zeit war zu Hause die Mutter hinaufgegangen in Lorle's Kämmerchen, und als sie hier das Bett des Kindes sah, konnte sie sich erst recht ausweinen; sie blickte lange hinein in den Mond und ging dann endlich still hinab.

Der Tanz hatte bald geendet, denn man mußte sich aufsparen für den nächsten Sonntag, da die Einweihung der Kirche stattfinden sollte.

Martin fuhr das junge Ehepaar noch drei Tage und Lorle war's immer als ob das nur eine Spazirfahrt wäre, von der sie morgen wieder nach Hause kehrten und Alles bliebe im alten Gange.

Hatte die Verlobung auf Lorle einen so tiefen Eindruck gemacht, während sie Reinhard nur wenig berührte, so war dies jetzt mit der Trauung umgekehrt. Durch die Verlobung sah sich Lorle dem ganzen Dorf gegenüber als eine ganz neue Person an und für sie war schon damals der Bund unauflöslich geschlossen; Reinhard dagegen, der der weiten Welt angehörte, kam sich jetzt in ihr wie ein ganz anderer Mensch vor; durch ein unauflösliches Band mit einem Wesen außer ihm verbunden, er, der sonst so ganz allein war – ihm war's als ob die Bäume und Berge ihn neu anschauten, [213] als hätte Alles ein anderes Leben gewonnen, weil er selber ein anderes begann.

Eine Eigenheit Lorle's, die wol zum Theil noch vom strengen Regiment ihres Vaters herrührte, wesentlich aber auch aus ihrem Mitgefühl für Mensch und Vieh stammte, war die, daß sie in fieberischer Unruhe war, sobald das Wägelchen vor dem Hause angespannt stand. »Es ist mir, wie wenn ich selber angespannt wär',« sagte sie auf die Zurechtweisung Reinhards. Um ihr solche Hast und Unruhe abzugewöhnen, zögerte Reinhard nun noch viel bequemer und behaglicher als sonst bei der Abfahrt, und Lorle entschuldigte sich jedesmal bei Martin, daß sie ihn so lang warten ließen.

Am dritten Abend, vom Dreikönig in Basel aus, machte sich Martin auf den Heimweg. Tief im Herzen weh that Lorle diese letzte Trennung von ihrem eigenen Wägelchen, vom Rapp und besonders vom Martin und sie sagte: »Viel tausend Grüß' an Alle daheim, so viel Grüß' als nur auf den Wagen gehen und der Rapp ziehen kann.«

Während Lorle dem Wegfahrenden nachtrauerte, sagte Reinhard, sie tröstend: »Sei fröhlich, laß die ganze Welt hinter dir versinken; ich habe dich herausgetragen aus dem Strom des gewohnten Lebens, wir sind allein, ganz allein. Denk jetzt nicht mehr heim.«

Heute zum ersten Mal speisten sie auch an der öffentlichen Wirthstafel. Reinhard wollte Lorle zerstreuen, und doch ward er übellaunig, als ihm dies gelang. Lorle's Tischnachbar, ein lustig aussehender[214] junger Mann, sagte zu ihr: »Sie sind gewiß eine fertige Clavierspielerin, gnädige Frau?«

»Ei warum?«

»Die Clavierspielerinnen gebrauchen die linke Hand wie die rechte, sie reichen sie oft beim Gruße.«

»Nein, ich kann nicht Clavier spielen, wir haben aber daheim ein eigen Clavier; mein Vater hat gewollt, ich soll's lernen, ich hab' aber kein' Geduld gehabt und hab' mich auch geschämt, so nichts zu thun. Das ist blos eine üble Angewohnheit von mir mit der linken Hand.«

Der junge Mann war äußerst verbindlich und verwickelte Lorle bei jedem frischen Gerichte in ein neues Gespräch, so sehr sich auch Reinhard Mühe gab, selber das Wort zu ergreifen und Lorle an sich zu ziehen; der Fremde hatte alsbald wieder Lorle zum Reden gebracht und machte sie oft laut lachen. Reinhard war fest überzeugt, daß der Fremde sich über sie lustig mache, obgleich er eigentlich keinen Grund dafür angeben konnte, er war voll Zorn und fand doch keine Gelegenheit ihn auszulassen. – Auf dem Zimmer bedeutete er dann Lorle, daß es sich für eine Frau nicht schicke, an einer öffentlichen Tafel so laut zu lachen, und daß es überhaupt nicht passe, mit jedem Nachbar zu reden. Gegen letzteres wehrte sich Lorle, sie behauptete, wenn man mit Jemanden von Einer Schüssel esse, müsse man auch mit ihm reden, sie habe im Gegentheil die Anderen bemitleidet, die für sich gegessen hätten, wie ein Krankes auf seinem einsamen Bette. Daß sie sich das Linkische abgewöhnen solle, [215] gab sie zu, obgleich Reinhard das früher so schön gefunden habe.

»Bist du mir nun bös?«

»Ach Gott im Himmel, warum denn? Du bist ja so gut.«

»Du mußt auch Manches an mir ändern, mußt mir nicht nachgeben; wir wollen uns vornehmen, einander zu bessern.«

»Nichts so vornehmen, gradaus sein,« entgegnete Lorle. Sie konnte sich nicht leicht eine Norm und Richtschnur machen, sie lebte und handelte aus der Sicherheit ihres Naturells; während Reinhard, von den besten Anflügen erfaßt, sich das Edelste vorsetzte, dabei aber doch meist, wenn's drauf und dran kam, aus der augenblicklichen Stimmung handelte.

Nun ging's hinein in die Pracht der Alpenwelt.

Beim Alpenglühen rief Lorle einmal aus: »Reinhard, sag', ist's denn im Himmel schöner?«

»Gutes, herziges Kind, das kann ich auch nicht wissen.«

»Nicht Kind sagen,« bemerkte Lorle.

»Nun denn, Engel, ja du bist's; ich weiß nun wie's im Himmel ist, ich bin bei dir.«

Die untergehende Sonne überglühte zwei selig Umschlungene.

Reinhard hatte eine willige Zuhörerin, indem er nun auf den Wanderungen die Schönheiten der Natur und die malerischen Gesichtspunkte erklärte; Lorle hörte ihn immer gern sprechen, auch wenn sie ihn nicht ganz begriff. Bisweilen machte sie auch eine Abschweifung, [216] indem sie ihn auf den Stand der Kartoffeln aufmerksam machte und wie die Ochsen ganz anders eingespannt seien als daheim. Schnitten solche Anmerkungen auch oft eine begeisterte Auseinandersetzung entzwei, so nahm Reinhard sie in Geduld wieder auf. Eine Eigentümlichkeit offenbarte sich bei diesen Auseinandersetzungen: Reinhard hatte bis jetzt durchaus im Dialekt mit Lorle gesprochen, zwar ohne Vorsatz, denn es ergab sich von selbst, auch war ihm wohl und heimisch dabei; nun aber war's ihm oft, als hätte er mit seiner Seele eine Fastnachtsmummerei vorgenommen, es war ihm ein fremdes Kleid für den Werktag, er fühlte, daß die ganze Welt der Reflexion, der Allgemein-Gedanken, keine rechte Heimath im Dialekte hatte; alles Persönliche konnte er darin kundgeben, aber nichts was darüber hinausging. Er bat daher auch Lorle, sich nach und nach mehr an das Hochdeutsche zu gewöhnen und sie versprach's willfährig; sie sah immer staunend an ihm hinauf, wenn er so Herrliches redete, und sie sagte einmal:

»Du hättest doch eine Gescheitere oder gar nicht heirathen sollen, aber nein, es hat dich doch Niemand so lieb wie ich, du herziger Mensch.«

Er bat sie nun, immer recht Theil zu nehmen an dem was er denke und erstrebe, sie war voll Demuth zu Allem bereit; sie wiederholte sich oft manche Worte, die er gesagt hatte und die gar schön geklungen hatten, mehrmals leise, um sie sicher zu behalten.

Seitdem Lorle den Modehut aufhatte, plagte sie die Sonne weit mehr als früher da sie noch barhaupt [217] ging, und doch vergaß sie beim Ausgehen fast jedesmal ihren Sonnenschirm, man mußte ihn oft nachholen, und war er nicht aufgespannt, so ließ sie ihn beispiellos oft fallen; es that ihr wehe, wenn Reinhard galanterweise ihn aufhob, und sie band sich ihn daher fest um die Hand. – Mit dem großen Uebertuche konnte sie sich gar nicht bewegen, eben so wenig mit der Echarpe; sie knüpfte ersteres, sobald sie aus der Stadt war, auf dem Rücken zusammen, und letztere band sie wie eine Ritterschärpe an der Seite. Nie durfte ihr Reinhard Etwas abnehmen, ja sie wollte ihm bei Wanderungen seinen Rock tragen, wie die Bauernmädchen in der Regel die Jacke ihrer Burschen am Arm hängen haben. So lange sie Handschuhe an hatte, kam sie sich ganz fremd vor, sie konnte nicht so gut reden als sonst; sobald sie nur konnte wurden daher die Handschuhe abgestreift. Diese Kleinigkeiten gaben zu vielen heiteren Neckereien Anlaß.

Auf dem Zürichersee weinte Lorle die ersten Frauenthränen, und zwar über die neue Kirche zu Weißenbach.

Schon bei der Abfahrt sprach Lorle von nichts Anderem, als daß jetzt, an diesem hellen Sonntag, zu Hause die Kirche eingeweiht werde; sie sah nichts von all der Herrlichkeit rings umher und Reinhard hörte ihr eine Weile ruhig zu, dann bat er sie, doch auch umzuschauen nach dem was sie hier umgebe; sie ward still, Reinhard setzte sich auf ein einsames Plätzchen auf dem Schiffe. Als nun die Kirchenglocken von nah und fern erklangen, ging er zu Lorle und sagte: »Horch wie schön!«

[218] »Ja,« sagte sie, »jetzt gehen sie daheim in die Kirch', und die Vroni hat ihre neue Haub' auf und der Wendelin hat die neu' Jack' an, die ich der Bärbel für ihn geben hab'.«

Reinhard sagte zornig: »Du kannst doch ewig nicht über dein Dorf hinaus denken, das ist einfältig!«

Heiße Thränen rollten über die Wangen Lorle's, und Reinhard ließ sie eine Stunde allein sitzen.

Am Abend war indeß Lorle ganz glücklich durch die Mittheilung Reinhard's, daß sie sich nun auf den Heimweg machen wollten. Reinhard hatte dies beschlossen, weil er die Ueberzeugung hatte, daß Lorle erst im eigenen Haushalt sich vollkommen wohl fühlen werde und er selbst sehnte sich auch nach stiller Häuslichkeit. Seit vielen Jahren hatte er ohne Familie frei sich in der Welt umhergetummelt, er mochte kaum ahnen, mit welchen zarten und doch starken Wurzeln das Leben solch eines Mädchens mit dem Heimatboden verwachsen war; jetzt sollten sie Beide gemeinsam auf neuem Grunde wachsen.

Vorher aber mußte Reinhard noch dafür zugestutzt werden. Auf der letzten Station, wo man Halt machte, nahm er sich seinen schönen Bart ab, denn der Oberhofmeister hatte ihm bemerkt, daß sich dieser mit Reinhard's Titulatur und Hofstellung nicht vertrage. Scherzend, aber doch mit einer gewissen Wehmuth, gab sich Reinhard die etikettemäßige Glätte. Lorle jammerte gar sehr, indem sie sagte: »Du bist gar nimmer so schön wie früher, heißt das: mir ist's gleich, aber es ist doch schad.« Sie strich ihm mit der Hand über [219] das kahle Gesicht und beklagte, daß es nun so rauh sei. »Wenn das dein Vater sähe, würde er lachen; er hat's prophezeit,« sagte Reinhard. –

Lorle ahnte dunkel, welchen kleinlichen, engbrüstigen Verhältnissen sie entgegen gingen; sie suchte aber sich und Reinhard zu erheitern, und es gelang ihr.

Zwischen hohen Mauern

Zwischen hohen Mauern.

Wie war Lorle voll Freude, als sie in ihrer Wohnung die Bärbel schon fand. Man war in der Nacht angekommen und Lorle durchmusterte sofort Alles, das war ja nun ihre neue Welt. Mit einer immer sich steigernden Seligkeit ordnete sie noch am Abend fast ihre ganze Aussteuer in die Schränke ein. Wie viel Unerwartetes hatte die Mutter hinzugesellt, die gute Mutter! Der Vater hatte sich's nicht nehmen lassen, nach altem Brauch eine Wiege zu schicken, und Lorle ward feuerroth, als sie diese gewahrte; dann war sie aber voll Freude über die vollen Mehlschränke, über die umfangreichen Schmalztöpfe und alle Bedürfnisse einer vollen Haushaltung, die Bärbel mitgebracht hatte; jeden Topf in der Küche wollte sie beschauen als ihr nunmehriges Eigenthum. Reinhard wollte Anfangs Einhalt thun, dann aber ging er selber mit durch Küche und Kammer und freute sich an dem Glücke seines »lieben Hausmütterchens«.

Bis spät in die Nacht saßen dann die Beiden noch beisammen auf dem Sopha, und Reinhard erzählte, wie er, das einzige Kind seiner Eltern, diese schon früh verloren, [220] wie er in einem Institut erzogen, später im Widerspruch mit seinem Vormunde die Studien aufgegeben und sich der Kunst gewidmet, wie er, aller Bande los und ledig, frei in der Welt umhergeschweift. »Nie,« schloß er, »hab' ich's empfunden, was ein Heimathherd ist; meine tiefe Sehnsucht ist nun erfüllt, freilich mit einem schweren Opfer, ich habe mich in Dienst begeben, aber freudig gebe ich einen Theil meines freien Künstlerthums hin, um eine Heimath, ein Nest zu haben.«

Lorle umhalste ihn und sagte: »Du sollst gewiß immer gut und gern daheim sein, du armer Mensch, den sie so in die Welt hinausgestoßen haben.«

Am andern Morgen kam der Collaborator mit seiner Schwester zur Bewillkommnung; er hatte gleich am Tage nach der Hochzeit alle Thüren der neuen Wohnung mit Kränzen geschmückt; als aber die Ankunft der Erwarteten sich verzögerte und die Kränze welk wurden, nahm er sie still wieder ab.

»Es wird mir auch mit der Zeitgeschichte so ergehen,« sagte er, »ich winde meine Kränze zu früh für den Einzug des neuen Lebens; die harrenden Blumen verdorren und am Ende zieht die neue Welt durch ungeschmückte Thore. Sei's, wenn sie nur kommt.«

Leopoldine, die Schwester des Collaborators, ein von Natur liebreiches aber durch Jahre und Schicksale herb gemachtes Gemüth, hatte mit wahrhaft schwesterlicher Sorgfalt allem vorgesorgt; traf solches Anordnen und Einrichten auch mit ihrer Neigung zusammen, so war doch nicht minder wirkliche Güte dabei thätig. Unter dem wiederholten Danke des jungen Ehepaares führte [221] sie nun Lorle in der Wohnung umher und zeigte ihr den Gebrauch jedes Schränkchens, und wie man es in Ordnung halten müsse, wie man die Schlüssel umdrehe, die Schublade ausziehe, Alles. Lorle war eine willfährige Schülerin, zu Manchem aber bemerkte sie doch: »Das brauchet Ihr mir nicht sagen.« Sie sprach das in reiner Ehrlichkeit, sie kannte die Gesellschaftslüge noch nicht, der zufolge man sich unwissend stellen muß, um dem Andern in seiner Weisheit angenehm zu erscheinen; sie wollte der »guten Person« nur die unnöthige Mühe ersparen. Leopoldine sah aber hierin einen bäurischen Stolz, der sich nicht gern zurechtweisen ließe; sie war indeß zu erhaben, um sich von dem Dorfkinde beleidigen zu lassen, sie widmete ihr fortwährend mitleidvolle Gönnerschaft, zumal sie wirkliches Bedauern fühlte, daß sich »das Kind« mit einem so wilden Naturell wie das Reinhard's war, auf ewig verbunden hatte.

Der Collaborator war in seltsamer Stimmung, er ging scherzend und singend durch alle Zimmer und versuchte allerlei Schabernack; es hatte den Anschein, als wollte er eine frühere Weise Reinhard's sich aneignen; er nöthigte Reinhard schon am frühen Morgen, eine Flasche Wein mit ihm auszustechen, obgleich die Schwester bemerkte, daß ihm das nie gut bekäme. Als ihr Bruder aber dennoch nicht nachgab, verzerrten sich ihre Züge auf eine höchst unangenehme Weise; mit Schrecken bemerkte dies Lorle, Leopoldine aber redete kein Wort mehr.

Nachdem »die beiden Junggesellen«, wie sie Reinhard nannte, sich verabschiedet hatten, kam es Lorle vor als [222] wäre ein fremdes Leben durch ihre Zimmer geschritten, als ob die Möbel anders stünden als früher; erst nach und nach heimelte sie's wieder an in ihrer Behausung.

»Nun, was sagst du zu Leopoldine?« fragte Reinhard. –

»Die ist Weinessig, ist einmal Wein gewesen,« erwiderte Lorle.

Reinhard bemühte sich, ihr eine bessere Anschauung beizubringen, und hier zum Erstenmal erfuhr er eine ihm unerklärliche Schärfe des Urtheils bei Lorle, die er der Zartheit ihres liebevollen Gemüthes nie zugetraut hätte. Er bedachte nicht, daß es eine Menschenliebe gibt, die streng und rücksichtslos urtheilt, die aber, trotzdem daß sie die Mängel erkennt, in ungeschwächtem Wohlwollen verharrt; daß ferner ein unverborgenes Naturell ohne Rückhalt und unbarmherzig die augenblickliche Empfindung als Urtheil ausspricht.

Mit Bärbel hatte Lorle an diesem ersten Morgen auch schon einen Kampf, denn die gute Alte deckte den Tisch nur für zwei Personen; keine Ermahnung und keine Bitte, daß sie doch mit am Tisch essen solle, fruchtete; denn sie behauptete, es schicke sich nicht, ja sie verbot Lorle, ihren Mann irgend damit zu behelligen, da er sie sonst für gar zu einfältig halten müsse.

Die Suppe stand endlich auf dem Tisch, Lorle betete still, Reinhard betete nicht und sie wiederholte das Gebet noch einmal anstatt ihres Mannes.

Als sie nun beisammen saßen, fragte Reinhard: »Lorle, sind die Teller unser eigen?«

»Ja freilich, wem denn?«

[223] »Juhu! Wenn ich jetzt einen Teller zerbrech', brauch' ich dem Wirth nicht zahlen; das ist mein, Alles mein eigen.« – Er nahm einen Teller und warf ihn jubelnd auf den Boden.

»Er ist von einem ganzen Dutzend,« sagte Lorle.

»Mein Dutzend hat nur zehn,« rief Reinhard und warf noch einen entzwei, dann tanzte er singend mit Lorle um den Tisch herum.

»Du bist ein wilder Kerle,« sagte sie, die Scherben zusammenlesend, »ich will andere Teller holen.«

»Nein, wir essen miteinander aus der Schüssel.«

»Mir auch recht.«

Die Bärbel kam, da sie das Zerschmettern vernommen hatte, Lorle aber sagte: »Brauchst heut' keine Suppenteller mehr bringen, wir essen aus der Schüssel, da haben wir's g'rad wie daheim.« –

Reinhard stellte seine Frau Niemand vor, sie bedurfte ja Niemand außer ihm, er war ihr Alles; er machte seine Antrittsbesuche bei Vorgesetzten, Gönnern und Bekannten, und wo man ihm zu seiner Verheirathung glückwünschte, dankte er einfach und lenkte das Gespräch bald ab.

Die Gallerieangelegenheit war noch keineswegs erledigt, wenn auch schon ein Beamter dafür angestellt war; in diesem Winter sollte ein außerordentlicher Landtag, und zwar wie man solche am meisten liebt, ein bloßer Finanzlandtag einberufen werden, um wegen der in Aussicht stehenden Verheirathung die Gelder zum Baue eines Schlosses für den Thronerben zu bewilligen; auch über die Kosten zum Baue des Galleriegebäudes [224] sollte dann mit den Ständen eine Vereinbarung getroffen werden; eine Gesetzesvorlage über Wiesenberieselung sollte den Schein des Gemeinnützigen hergeben.

Während Reinhard sich durch seine Besuche eine umfassende Kenntniß des Staatskalenders verschaffte, konnte Lorle zu Hause sich noch gar nicht in das Stadtleben finden. Wenn Alles so sehr gesäubert und in Ordnung war, daß sich nun durchaus nichts mehr aufbringen ließ, vermochte es Lorle über die Bärbel, daß sie sich zu ihr in die Stube setzte; es bedurfte hierzu vieler Ueberredung, denn die Bärbel, die nun schon seit mehr als dreißig Jahren diente, hatte ihre festen Ansichten, man möchte sagen ihre Handwerksregeln für das Leben, von denen sie nicht gern abging; sie sagte immer zu Lorle: »Herrschaft ist Herrschaft und Dienst ist Dienst.« Erst wenn Alles verschlossen war, gab sie nach und setzte sich zu ihrer »Madam« in die Stube, aber weit ab vom Fenster, daß man sie aus den Häusern gegenüber nicht sehen konnte. Kam dann Reinhard, der den Schlüssel zur Hausflurthür hatte, so wollte sie sich rasch auf ihren Posten zurückziehen; sie mußte jedesmal dringend ersucht werden, doch ungestört zu bleiben. Man durfte ihr hundertmal etwas zugestehen, was außerhalb ihres Kreises lag, sie sah es dadurch nie als ihr Recht an, stets mußte sie auf's Neue dazu gebracht werden; sie setzte einen gewissen Stolz darein, nicht in den vertraulichen Ton einzugehen, ihr Grundsatz war: geb' ich dir dein' Ehr', mußt du mir mein' Ehr' geben, kannst mich nicht das Einemal an den Tisch setzen und das Anderemal [225] hinter die Thür stellen. – Reinhard aber sah in dieser fortgesetzten Haltung eine bäurische Umstandsmacherei, er verlor wenig Worte mehr mit der Bärbel. In seiner Abwesenheit saß sie nun bei Lorle, emsig plaudernd. Die Wohnung war, obgleich in einem ganz neuen Stadtviertel, dennoch im dritten Stock, da unsere weitgreifende Zeit gleich von vornherein hoch baut.

»Ach Gott!« klagte Lorle einmal, »es ist so hoch oben, wenn einmal Feuer ausgeht; und du dauerst mich auch, man muß das Wasser so weit herauf holen. Es ist so unheimelich. Da guck einmal 'nab, es schwindelt Einem, und man sieht den Menschen nur auf den Hutdeckel. Die Stadtleut' sind aber doch pfiffig, sie bauen in die Luft hinein, da kostet's keinen Platz, da spart man das Feld dabei. Ich lass' aber nicht nach am Reinhard, bis er ein eigen Haus kauft, wo wir allein sind und nicht so in einer Kasern'. Da guck, blos da links können wir noch in's Freie sehen, aber da legen schon wieder mächtige Grundmauern, über's Jahr haben wir nichts als Stein vor uns.«

Bärbel, die früher, lange bevor Lorle geboren wurde, ein Halbjahr in der Stadt gedient hatte, konnte die Ausstellungen ihrer »Madam« in Manchem berichtigen. – Lorle hätte gar zu gern gewußt, wer denn die Leute seien die mit ihr unter demselben Dach wohnen, wie ihre Haushaltung ist, wovon sie leben und was sie treiben. Bärbel belehrte sie, daß das einmal in der Stadt so sei; da habe Jedes seinen abgeschlossenen Hausgang und kümmere sich nichts um das Andere. Lorle konnte sich aber dabei nicht beruhigen und sie klagte: »Ich möcht' [226] jetzt nur wissen, wovon der Seiler da drüben lebt; ich hab' nicht gesehen, daß er seit gestern Morgen was verkauft hat. Und wenn ich über die Straß' geh und da sitzen die Leut' in so einem kleinen Lädle und es kauft ihnen Niemand was ab und da möcht' ich wissen, wovon die jetzt heut zu Mittag essen und noch so viel' Menschen, die so herumlaufen und man weiß gar nicht was sie thun.«

»Gut's Närrle, das kann man nicht wissen; daheim da kann man Jedem in seine Schüssel gucken, aber hier geht das nicht und du siehst ja, daß die Leut' doch leben, so laß sie machen.« So tröstete Bärbel.

Vom Hause gegenüber hörte man ein Mädchen fast den ganzen Tag Clavier spielen und singen, nur bisweilen wurde dieses Thun unterbrochen, indem ein Lockenkopf am Fenster erschien, straßauf und straßab schaute. »Das muß eine schöne Hausfrau geben,« bemerkte Lorle einmal, »und die kann ja Sonntags an der Musik gar kein' Freud' haben, wenn sie's so die ganz' Woch' hat, und horch' nur, wie sie sich gar nicht schämt und bei offenen Fenstern singt, daß man's die ganze Straß' hinab hört; wie das nur die Eltern zugeben!«

Wenn Reinhard nach Hause kam, war er meist liebevoll und zärtlich. Je tiefer er in das Getriebe der Staatsmaschine und des Staatsdienerlebens hineinschaute, je mehr er die Beengungen erkannte, die es ihm auferlegte, daß ihm der Kopf brauste, um so mehr erfaßte er den stillen Frieden, der in der Luft seiner Häuslichkeit schwebte; er sog ihn in vollen Zügen ein [227] und wollte sich ihn stets erhalten; für ihn hatte er ja die Freiheit seines Seins geopfert. Wenn er bisweilen gedankenvoll und betrübt drein sah und Lorle ihn um die Ursache fragte, antwortete er: »Gutes Kind, du sollst und wirst nie erfahren, wie wirr und kraus es in der Welt hergeht. Du mußt mich nicht immer fragen, wenn ich so in Gedanken bin; es geht mir vielerlei im Kopf herum. Sei jetzt nur heiter, sei froh, daß du Vieles nicht weißt.«

»Was du meinst, daß ich nicht wissen soll, das will ich nimmer fragen,« entgegnete Lorle.

Auf den Gängen durch die Stadt und vor den Thoren begleitete der Collaborator fast immer das junge Ehepaar. Lorle tastete noch immer an der ihr fremden Welt herum und konnte die rechten Handhaben nicht finden.

»Ich weiß nicht,« sagte sie einmal, »mir kommen die Leut' in der Stadt gar nicht so lustig vor wie daheim; wenn's nicht einmal ein Schusterjung' ist, sonst pfeifen und singen die Leut' gar nicht wenn sie über die Straß' gehen, es ist Alles so still als wenn sie stumm wären.«

Der Collaborator gab ihr vollkommen Recht und sagte: »Die Leute bilden sich ein, sie hätten Gedanken statt Gesang, es ist aber nicht wahr.« Reinhard dagegen suchte Lorle klar zu machen, daß solche Ungezwungenheit in der Stadt nicht möglich sei; er knüpfte hieran eine weit abgehende Auseinandersetzung, daß das wahre gesunde Wesen in solcher Beschränkung nicht zu Grunde gehe, sondern sich in sich erkräftige. Der Collaborator [228] durchkreuzte solche Darlegungen durch schneidende Entgegnungen und hier zeigte sich ein oft wiederkehrendes Zerwürfniß zwischen den beiden Freunden, unter dem zunächst Lorle leiden mußte. Wollte Reinhard seiner Frau Achtung vor der Bildung einflößen, sie zur Bewunderung und Nacheiferung solcher Zustände anleiten, von denen sie bisher keine Ahnung gehabt hatte, so suchte der Collaborator Alles in die Luft zu sprengen; denn es entwickelte sich bei ihm immer mehr die Ansicht, die er in seinem Unmuthe auch bisweilen geradezu aussprach: »Wir haben uns mit unserer ganzen Civilisation in eine Sackgasse verrannt.«

Lorle, die zwischen den Streitenden ging, gewann wenig Frucht aus diesen Erörterungen.

Einst bemerkte sie: »Ich mein' die Hunde bellen in der Stadt viel weniger als bei uns im Dorf; es ist wol, weil sie mehr an die Menschen gewöhnt sind.« Da lachte der Collaborator und sagte: »Deine Frau hat die tiefste Symbolik.« – Lorle, die nun schon Muth hatte und sich durch ein fremdes Wort nicht mehr verblüffen ließ wie damals zu Hause, sagte jetzt: »Ihr müsset nicht so g'studirt reden, wenn es mich angeht.« Der Collaborator erklärte nun, wie deutungsreich ihr Ausspruch war und suchte seine ganze Verachtung dieses Lebens nachdrücklich geltend zu machen. Lorle erwiderte nur, sie hätte nicht geglaubt, daß er so grimmig bös sein könne. –

Als sie einst klagte, daß durch die neue Kanzlei ihrem Hause gegenüber die Aussicht in's Freie verbaut würde, wußte der Collaborator auch dies sinnbildlich [229] zu deuten. Lorle verstand den Collaborator besser als er glaubte, aber sie war doch ärgerlich, daß er ihr alle Worte im Munde verdrehe und immer etwas anderes daraus mache als sie gewollt hatte. Einmal nach mehrtägigem, anhaltendem Regen gingen sie durch die Promenade; da sagte Lorle: »Es ist doch viel schöner in der Stadt, da braucht man die Wege nicht erst durch die Hecken treten, da sind überall Wege ausgehauen und werden schnell wieder gangbar.« –

Der Collaborator behielt diesmal seine symbolische Deutungslust für sich. War sie ihm etwa nicht genehm? ...

Reinhard empfand nun erst recht die Wonne der Häuslichkeit, indem er wieder rüstig zu arbeiten begann. Arbeit macht selbst einsame fremde Räume zu heimisch trauten, und wie nun gar die gemeinsam bewohnte eigene Heimath! In dem kleinen Stübchen gegen Norden, das er sich zur einstweiligen Werkstatt eingerichtet hatte, ging er an die Vollendung des Bildes: »Das neue Lied,« das er schon im Dorfe begonnen hatte.

Lorle war oft bei ihm, denn er hatte ihr gesagt: »Ich bitte dich, komm oft zu mir, wenn ich arbeite; ich thue Alles besser und lieber, wenn du da bist. Wenn ich auch nichts mit dir rede, wenn ich auch deiner scheinbar nicht bedarf, du bist mir wie angenehme Musik im Zimmer; es thut sich Alles besser dabei.«

Als er nach vollbrachter Tagesarbeit bei ihr in der Stube saß, sagte er einmal: »Stricke und nähe nicht, arbeite nicht, gar nichts, wenn du bei mir bist; es ist[230] mir, als wärest du nicht Allein, nicht ausschließlich bei mir, als wäre noch ein Drittes bei uns Zweien, als wärest du nur halb bei mir.«

»Hab' dich schon verstanden, brauchst's nicht so um und um wenden,« entgegnete Lorle und legte das Strickzeug weg, »aber die Händ' da, die wollen was zu thun haben, und da muß ich dich halt beim Busch nehmen und zausen.« Sie vollführte dies auch, schüttelte ihm den Kopf mit beiden Händen und gab ihm dann einen herzhaften Kuß.

Das war ein liebewarmes häusliches Winterleben.

Auch an kleinen Neckereien fehlte es nicht. Lorle hatte die Scheuersucht der Frauen in ungewöhnlichem Grade; die Stubenböden waren jetzt ihre Aecker, sie konnten nicht umgepflügt, aber doch sattsam aufgewaschen werden. Reinhard mahnte oft und oft zur Mäßigung, aber vergebens. Als er einmal unversehens nach Hause kam und richtig in kein trockenes Zimmer konnte, faßte er Lorle am Arm und tanzte mit ihr in der Stube herum, indem er sang:


»In Schnitzelputzhäusel, da geht es gar toll

Da trinken sich Tisch' und Bänke voll,

Pantoffel unter dem Bette.«


Auch außer dem Hause wollte Reinhard seiner Frau das neue Leben eröffnen, er führte sie in's Conzert. Der Collaborator unterhielt sie hier sehr eifrig, sie kannte sonst Niemand. Nach einer Beethoven'schen Symphonie fragte er einmal: »Nun sagen Sie mir ehrlich, wäre Ihnen ein schöner Walzer nicht lieber?«

[231] Lorle antwortete: »Aufrichtig gestanden, ja.«

Der Collaborator kam freudestrahlend zu Reinhard und sagte: »Du hast eine herrliche, einzige Frau, sie hat noch den Muth, offen zu gestehen, daß sie sich bei Beethoven langweilt.«

Reinhard kniff die Lippen zusammen, zu Hause aber sagte er ruhig zu Lorle: »Du mußt dich vom Collaborator nicht irre machen lassen, der hat sich an den Büchern übergessen. Du mußt nie über Etwas lachen oder aburtheilen, wenn du's noch nicht ganz begreifst. Es giebt nicht nur eine Musik, nach der sich unsere Körper bewegen, es giebt auch eine solche, wo wir unsere Seele in Trauer und Lust emporsteigen und sinken und sich wiegen lassen, über Alles erhoben – die Seele ganz frei und allein. Ich kann dir's nicht erklären, du wirst es schon finden; aber Respect muß man vor Sachen haben, an welche so viele große Männer ihr ganzes Leben gesetzt. Hab' du nur die Achtung und du wirst die Sache auch schon bekommen.«

Lorle versprach, sich recht zusammen zu nehmen.

Im letzten Winterconzerte, als der Collaborator nach einem Musikstücke fragte, was sie jetzt gedacht habe, sagte sie: »An Alles, und ich weiß doch nicht. Wenn so die Flöten und Trompeten und Geigen miteinander reden und einander anrufen und nachher Alle zusammen sprechen, da ist's doch, wie wenn Andere als Menschen reden und da thut's Einem so wohl, an Alles zu denken, so geruhig; es ist wie wenn die Gedanken auf lauter Musik spaziren gingen, hin und her.«

[232] Der Collaborator murrte in sich hinein: »O weh! die wird nun auch gebildet.«

Am Theater, wohin Reinhard sie in der ersten Zeit einige Mal führte, fand Lorle keine nachhaltige Freude; die lustigen Stücke kamen ihr gar zu närrisch vor, und bei den kreuzweis geköperten Intriguenstücken war's ihr zu Muthe wie in einem Wirbelwind, der von allen Seiten reißt und zerrt, so daß man sich gewaltig zusammennehmen muß. Von zwei Stücken redete sie aber noch lange. Das eine war die Stumme von Portici. Es kam ihr grausam vor, daß die Hauptperson stumm ist und die andern Alle singen; auch meinte sie, es sei schon hart genug, wenn ein Mädchen betrogen wird, es brauche keine Stumme zu sein. Daß die Fischer, nachdem sie einige Soldaten niedergemacht, unmittelbar vor dem Ausbruch der Revolution niederknieten und beteten, kam ihr recht brav vor, aber sie hatte gräßliche Angst, es kommen jetzt andere Soldaten und schießen sie Alle nieder. An Schiller's Tell hatte sie volle Freude. In der versteckten Loge, wohin Reinhard sie immer führte, gab sie ihm während der ganzen Vorstellung kaum eine Antwort; sie sah ihn oft still an, mit der Hand begütigend, als dürfe man Etwas nicht wecken. Auf dem Heimwege sagte sie: »So wie der Tell, so wär' mein Vater in seinen jungen Jahren gewiß auch gewesen.«

Reinhard nahm ihr das Versprechen ab, über derartige Dinge mit niemand Anderm als mit ihm zu reden.

Lorle nahm die ganze Welt um sich her keineswegs [233] als eine gegebene hin; gerade weil ihr die Ueberlieferungen mangelten, worauf sich so Vieles stützt, erschien ihr Alles, als ob es erst heute und für sie erstünde; sie schmälzte und salzte nach ihrer eigenen Zunge.

Reinhard unterließ es jedoch bald, Lorle in die Bildungs- und Kunstsphären einzuführen, und sie hatte auch nie Sehnsucht darnach; war's ihr nicht vor die Augen gerückt, war's für sie nicht da. Reinhard sah sich nun selbst mitten im Strudel einer ihm wesentlich neuen Welt, er trat in die sich vorzugsweise so nennende »Gesellschaft«, in der Alles, was nicht dazu gehört, als zusammengelaufenes, höchstens erbarmungswürdiges Volk gilt. Bei der eigenen Unfruchtbarkeit der Gesellschaft an erfrischenden Elementen ward Reinhard ihr Adoptivkind. In der ersten Zeit betrachtete er das Frequentieren der Salons – eine Phrase mit welcher die kleine Residenz aufputzte – als einen Theil seiner Amtspflichten; es kam ihm nicht in den Sinn, wie traurig es sei, daß Lorle so allein zu Hause sitze; da waren ja noch so viele Andere, die sich mit einer Bürgerlichen und nicht wie er, nun gar mit einem Bauernmädchen »mesalliirt« hatten und sie mußten sich's Alle gefallen lassen, hier als ledige Burschen zu gelten.

Anfänglich war es Reinhard oft, wie wenn man aus freiem Felde in ein dumpfes Gemach tritt; die darinnen waren, wissen nichts von der gepreßten Luft, aber dem Eintretenden beengt sie die Brust. Bald jedoch bewegte er sich in diesem Treiben wie in seiner eigenen Welt. Zwei Umstände förderten dies mit besonderer Raschheit. Der außerordentliche Landtag war [234] einberufen. Der Prinz hatte mit Reinhard oft den Plan durchsprochen, daß man in dem neuen Palais die Bel-Etage des Mittelbaues mit den schönsten Gegenden des Landes zieren müsse, die Reinhard al fresco malen sollte; in dem Fries sollten die eigenthümlichen Volkssitten durch Figuren in den verschiedenen Volkstrachten dargestellt werden. Reinhard war voll Seligkeit, ein solches Werk ausführen zu können, das als Erfüllung eines Lebens gelten durfte; er stellte das Bild »das neue Lied« zur Seite und machte allerlei Entwürfe. Die Vorlegung derselben gab reichen Unterhaltungsstoff, und Reinhard ward dadurch vielfach Mittelpunkt der Gesellschaft. Nun aber ergab sich, daß die Landstände mit großer Mehrheit nicht nur die Gelder zum Bau des neuen Palais, sondern auch für die Gallerie verweigerten, weil die Noth des Landes so groß sei, daß sie keine derartigen Ausgaben gestatte. Mit einer Mehrheit von blos zwei Stimmen wurde hierauf die angesetzte Summe zur Einrichtung der Zimmer über dem Marstall für die Gallerie und der Gehalt Reinhard's bewilligt. Dagegen nahm die Regierung Rache und verweigerte eine Aufbesserung der Volksschullehrergehalte, die auf dem vorigen Landtag schon beantragt war.

Ein tiefer Mißmuth setzte sich in Folge der ersten Behinderungen in Reinhard fest, zu dem er noch die Ueberzeugung gesellte, daß das ständische Wesen alle Kunst vernichte, diese daher nur in dem monarchischen Prinzip einen Halt habe. Reinhard hatte bisher ohne politische Ansicht gelebt, nun war sie ihm geworden. [235] Aus diesen Gründen fühlte er sich heimischer in der »Gesellschaft«; aber noch ein bedeutsames Motiv kam dazu.

Die junge Gräfin Mathilde von Felseneck, eine reizende und vielbesprochene neue Erscheinung, schloß sich an Reinhard auf besonders zuvorkommende Weise an; sie trat jetzt zum Erstenmal in »die Welt,« sie war einsam auf dem väterlichen Schlosse aufgewachsen; denn ihr Vater, der die Tochter seines Rentamtmanns geheirathet hatte, lebte seit zwanzig Jahren fern vom Hofe und von seinen Standesgenossen. Erst jetzt, seit dem Tode der Mutter ward ihm Versöhnung; das Kind wurde willig aufgenommen, zumal es eine blühende reiche Erbin war, von der man mit Zuversicht erwartete, daß sie den Fehler ihrer Abstammung durch eine standesgemäße Ehe ausgleichen werde. Gräfin Mathilde, die das Schicksal ihrer Mutter im Herzen trug, betrachtete sich in diesem Kreise nur als Geduldete, als Bürgerliche; sie fühlte sich zu Reinhard hingezogen, wie man im fernen Lande unter Fremden einen Heimatgenossen begrüßt; dazu ward sie mächtig angesprochen von dem freien und doch so sichern Benehmen Reinhard's, der keine der Gesellschaftsformen verletzte, sie aber doch, nur dem aufmerksamen Blicke sichtbar, mit einem gewissen leichten Uebermuthe behandelte; namentlich bemerkte sie dies dem Comte de Foulard gegenüber, der die Etikette mit einer gewissen priesterlichen Andacht wie ein hochheiliges Mysterium verwaltete. In der That zwang dieses ausgeprägte und feststehende Formenleben Reinhard nur eine kurze Weile [236] eine gewisse Achtung ab, dann überließ er sich der freien Gebarung seines Wesens.

Eines Abends, als man sich eben an verschiedenen kleinen Tischen niederließ und die Bedientenschaar mit märchenhafter Schnelle Alles ordnete und auftrug, sagte der Comte de Foulard zu Reinhard: »Die Gräfin von Felseneck hat sich sehr geistreich über Ihre heute vorgelegten Zeichnungen ausgesprochen; sie bemerkte: die Künstler haben nicht nur in ihrer Schöpferkraft etwas Gottähnliches, indem sie den vorhandenen Reichthum der Welt vermehren, sie müssen auch etwas von der göttlichen Geduld haben, ruhig über ihre Werke Kluges und Unkluges auskramen lassen.« Reinhard wendete sich unwillkürlich nach dem Mädchen um, das an einem andern Tische saß.

»Wenn Sie meiner Cousine vorgestellt sein wollen, bin ich bereit,« sagte ein schmucker Gardeoffizier, der neben Reinhard saß. Das Erbieten wurde mit Dank angenommen.

Von diesem Abend an gestaltete sich ein eigenthümliches Verhältniß zwischen Reinhard und Mathilde. Wenn sie sich bei Hofe oder in den Salons trafen, kam eine gewisse ruhige Sicherheit über sie; so förmlich auch ihr beiderseitiger Gruß war, es lag etwas Zutrauliches darin, als hätten sie sich ohne Verabredung hier ein Stelldichein gegeben. Sie hatten Beide die Empfindung, als ob das Eine mit schützender und vorsorgender Hand dem Andern diese Stunden zu genußreichen bereiten müsse; Jedes hegte gewissermaßen die Verantwortlichkeit für einen Mißgriff oder ein Mißgeschick des [237] Andern in sich. Wenn Reinhard von seinem Gönner, dem Comte de Foulard, mit einem Kunstgespräche in einer Nische festgenagelt wurde, empfand Mathilde die höchste Langweile für ihn und merkte kaum auf die Artigkeiten und Aufmerksamkeiten, die sie umgaben; wenn dann die Gräfin Mathilde singen mußte, bebte Reinhard für sie; war die Reihenfolge ihrer Lieder eine unpassende, so machte er sich selbst Vorwürfe. Bald waren sie dann oft, in der gemessensten Haltung einander gegenüberstehend, in die launigsten Gespräche verwickelt. Nie lobte Reinhard den so seelenvollen Gesang Mathildens, er sprach nur bisweilen über die Schönheiten der Dichtung und Composition; sie mochte daraus erkennen, wie sehr sie ihm zu Herzen gesungen hatte.

Der Vetter Arthur hatte verrathen, daß Mathilde »waldfrische Volkslieder« singen könne, und nun mußte sie, da der Prinz persönlich darum bat, eines derselben vortragen. Sie stand eine Weile an dem Piano und hielt sich krampfhaft an demselben, um Ruhe zu gewinnen; dann stimmte sie in kecken Tönen ein Jodellied aus den Bergen an, so hell und froh wie die Lerche, die mit thaufeuchter Schwinge hineinjauchzt in das Morgenroth. Heute zum Erstenmal lobte Reinhard ihren Gesang, Mathilde aber war betrübt; sie klagte, daß es ihr vorkäme, als ob sie das heilige Geheimniß ihrer Heimathberge verrathen und profanirt habe; sie glaube, daß ihr dieses Lied entweiht sei, weil sie es hier unter Kerzenschimmer und ausgebälgten Uniformen als Curiosität preisgegeben. Reinhard widersprach ihr [238] und erklärte, daß das wahrhaft Heilige, was wir in der Tiefe der Seele hegen, unberührt und unverletzt durch die ganze Welt schreite; daß das, was gestört oder gar zerstört werden kann, in sich und für uns keine rechte Wahrheit hatte. Mathilde war beruhigter.

Oft wollte sie auch, daß Reinhard ihr viel von seiner Frau erzählte; sie hegte offenbar den Wunsch, Lorle kennen zu lernen, aber Reinhard war in seinen Mittheilungen kurz und lehnte jenes nicht angesprochene Ansinnen, ohne es entschieden zu bezeichnen, mit Bestimmtheit ab; er sah darin doch mehr eine bloße Neugier und fürchtete zugleich, daß sich Lorle nicht wie er wünschte benehmen möchte.

Der Graf lud Reinhard auf Veranlassung seiner Tochter zu sich ins Haus und Mathilde, die in Gesellschaft immer etwas Schmerzliches, Empfindsames hatte, war hier das heiterste Kind, voll sprudelnder Jugendlust; sie sang und spielte mit Fertigkeit und Geist und ihre Zeichnungen verriethen ein ungewöhnliches Talent. Alle Blüthen der edelsten Bildung standen hier in schöner Entfaltung und wenn Reinhard etwas derartiges bemerkte, sah Mathilde mit andächtiger Hoheit auf und sagte: »Sie hätten meine selige Mutter kennen sollen.« – Bisweilen sangen sie auch gemeinsam scherzhafte und schwermüthige Volkslieder; von solchen wohlgebildeten Stimmen vorgetragen, hatten diese Töne noch eine ganz besondere Macht.

Wenn nun Reinhard aus der Gesellschaft nach Hause kam, regte sich oft der alte böse Blutstropfen in ihm; seine Häuslichkeit kam ihm so eng, so [239] kleinbürgerlich vor. Drückte dann Lorle mit kindlichem Stottern ihre Gedanken und Empfindungen aus, so hörte er selten darauf und gab sich noch seltener die Mühe, sie zu ergänzen und zu berichtigen; er war es müde, das ABC der Bildung vorzubuchstabiren. Auch fiel ihm jetzt eine eigenthümliche Ungrazie Lorle's auf: die Hastigkeit und Kräftigkeit ihres Gebarens war nun unschön; sie faßte ein Glas, das Leichteste, was sie zu nehmen hatte, nicht mit den Fingern, sondern mit der ganzen Hand, ihre Bewegungen hatten in den Stadtkleidern eine auffallende Derbheit, sie trat immer stark mit den Fersen auf und er bat sie einmal, den schwebenden und sich wiegenden Gang auf den Zehen anzunehmen.

Lorle entgegnete: »Just Alles brauch' ich nicht erst zu lernen, ich hab' schon laufen können, wie ich noch kein Jahr alt gewesen bin.«

Zu den übrigen Residenzbewohnern hatte Reinhard keine Beziehung und er erfuhr erst spät, daß ihn viele den »Civilcavalier« nannten und sich damit erhaben dünkten, während sie doch selber die fürstliche Gnadenprobe vielleicht nicht besser bestanden hätten. Zu den wenigen Künstlern der Stadt war Reinhard in eine schiefe Stellung gerathen; er war so ohne alle Vorbereitung zu seinem Amte gelangt; die Einen glaubten in der That, daß ihm dieß nur durch Winkelzüge gelungen sei, die Anderen verleitete Neid und Bitterkeit zu ungerechter Beurtheilung Reinhard's und seiner Leistungen.

So hatte er außer der Hofgesellschaft nur den Collaborator, aber auch dieser zürnte ihm; er sprach offen [240] seinen Grundsatz aus: »Kein Ehrenmann darf von der innerlich angefaulten Societät mit sich eine Ausnahme machen lassen, so lange sich dort nur noch eine Spur von Exclusivem findet.«

Der Collaborator zürnte mit Reinhard doppelt, weil dieser mit Lorle, dem frischen Naturkinde, kunstgärtnere. Das that ihm wehe, aus persönlichen wie aus allgemeinen Gründen. Er erkannte leicht im Kleinen und Vereinzelten ein allgemeines, ja ein weltgeschichtliches Gesetz. Lorle war ihm ein Typus des Urmenschlichen, des ursprünglich Vollkommenen, an sich Vollendeten, unberührt von den Zwiespältigkeiten der Geschichte und der Bildung; es däuchte ihn eine Versündigung, sie durch alle die Labyrinthe zu quälen, ohne sicher zu sein, daß sie den jenseitigen Ausgang finde, der wiederum zur freien Natur führt – sie stand ja von selber darin, Anfang und Ende sind hier eins. Er behauptete, daß die Menschen zu allen Zeiten das ursprünglich Vollkommene, was ihnen in einem Menschen nahe tritt, martern und kreuzigen und zu Tode quälen, weil das Dasein des absolut Vollkommenen, des Urmenschen, der nichts will und nichts hat von dem ganzen Trödel, den die Menschheit nachschleppt, dieser ein Gräuel sein muß. Und doch muß die Geschichte von Zeit zu Zeit wiederum erfrischt und begonnen werden von solchen ersten Menschen, die aus dem Urquell des Lebens vollendet erstehen.

Der Collaborator wußte wohl, daß Lorle solchem höchsten Ideale nicht entspreche, aber er hatte eine fast abgöttische Verehrung für die Urthümlichkeit ihres Wesens, [241] gegenüber dem Unfertigen, Ringenden und Halben der Civilisation, ihm hatte der vielverbrauchte Ausdruck, daß sie ein Kind der Natur sei, eine tiefere Bedeutung: er erfand diese Bezeichnung wiederum für sie.

Reinhard bestrebte sich, Lorle und Leopoldine mit einander zu befreunden, er brachte sie oft zu dieser; Lorle war's aber immer unheimlich. Leopoldine hatte die überfließende Redefertigkeit einer Ladenfrau, sie konnte Alles, was sie im Sinn hatte ohne Scheu aufzeigen, wie ehedem ihre Haubenmuster; dabei hatte die Vielgeprüfte etwas Entschlossenes, das sie namentlich ihrem Bruder gegenüber in einer Weise geltend machte, daß es Lorle in der nunmehrigen Zaghaftigkeit ihres Gemüthes wie Schärfe und Härte erschien.

Ueber eine Bemerkung Lorle's freute sich Reinhard einst übermäßig; sie gingen von Leopoldine weg und Lorle sagte: »Ach was schöne Blumen hat die, und so im Winter.«

»Du sollst auch solche haben.«

»Nein, ich mag nicht, ich mein' ich könnt' und ich dürft' mich nicht so freuen, wenn's wieder Frühjahr wird, weil ich so gezwungene Blumen vorher in der Stub' gehabt hab', eh' sie draußen sind. Laß mich lieber warten.«

Reinhard war von dieser Aeußerung so entzückt, daß er wieder einen ganzen Tag der Liebevolle von ehedem war.

An den vielen kleinen Sächelchen auf dem Nipptisch Leopoldinens freute sich einst Lorle wie ein Kind; als ihr Reinhard versprach, auch solche Sachen zu kaufen, [242] sagte sie: »Nein, ich möcht' lieber was Lebiges haben; wenn wir einen Stall hätten, möcht' ich eine Geis oder ein paar Schweinchen haben, oder in meiner Stub' Turteltauben oder einen Vogel.«

Am andern Tage nahm Reinhard die Bärbel mit als er ausging und brachte einen Kanarienvogel in schönem Käfig und Goldfischchen in einem Glase. Lorle war voll Freude und Reinhard erkannte auf's neue, wie leicht dieses anspruchslose Wesen zu beglücken war.

Eines Abends, als Reinhard zum Maskenball beim Minister der Auswärtigen geladen war, ging Lorle in die Theevisite zu Leopoldinen. Auf dem Wege sagte sie zur begleitenden Bärbel: »Ich wollt', ich könnt' bei dir daheim bleiben: ich komm' mir oft vor wie ein Waisenkind, das unter fremden Leuten herumgeschubt wird.« –

Die Bärbel tröstete so gut sie konnte.

Lorle trat zitternd in die Stube. Die Frau Professorin Reinhard, die Kammersängerin Büsching, Frau Oberrevisorin Müller, Frau Handschuhfabrikantin Frank; so stellte Leopoldine die Anwesenden vor. Die Frau Oberrevisorin warf stolz den Kopf zurück, ihr gebührte es, vor der pensionirten Kammersängerin vorgestellt zu werden. Die alte Sängerin unterhielt sich schnell mit Lorle und bald war sie auf ihrem Lieblingskapitel, indem sie von ihren ehemaligen Triumphen erzählte und daß sie die erste hier in der Stadt war, die die Emmeline in der Schweizerfamilie gesungen. Ihre Bemerkung gegen Lorle, daß sie auch Volkslieder sehr liebe, wurde schnell verdeckt, denn nun öffneten sich die [243] Schleußen der Unterhaltung und Alles auf einmal sprach vom Theater, d.h. von dem Haushalt der Schauspieler und Sänger und ihren Liebesbeziehungen. Unversehens lenkte sich das Gespräch auf den heutigen Maskenball. Die Frau Handschuhfabrikantin (deren ganzes Personal, aus dem Ehepaar und einem Lehrling bestehend, Leopoldine zur Fabrik erhoben hatte) konnte die intimsten Nachrichten davon preisgeben; sie klagte nur, daß wenn die Fremden, die Engländer, nicht wären, man wenig Handschuhe mehr verkaufte; sonst habe »ein nobler Herr« zwei bis drei Paar an einem Abende verbraucht, jetzt zögen selbst die Gardeoffiziere, die doch von Adel sind, nur bei den ersten Touren frische Handschuhe an und ersetzten sie dann unversehens durch alte.

Die Frau Oberrevisorin sagte: »Ich würde mich schämen, mich um solche Dinge zu bekümmern.«

Nun brach der Zorn der Handschuhfabrikantin los und sie bemerkte, es gebe viele Handwerksleute, die mehr verdienten als die Angestellten; man wisse wohl, da sei's oft außen fix und innen nix. Leopoldine, die den unverzeihlichen Mißgriff gemacht hatte, eine solche gemischte Gesellschaft zu laden, brachte die Sache schneller als sie hoffen konnte, wieder in's Geleise durch die einfache Frage: Ob wohl die Herrschaft bei dem heutigen Ball sein werde.

»Was ist das, die Herrschaft?« fragte Lorle. Alles sah sie erbarmungsreich an.

»Das ist der Hof, das ist die Herrschaft,« erklärte man von allen Seiten.

Lorle aber entgegnete: »Warum denn Herrschaft?[244] Mein' Herrschaft ist's nicht, ich bin kein Dienstbote, ich hab' meine eigne Haushaltung und ihr ja auch.«

Kichernd und lachend erhob sich Jedes himmelhoch über diese furchtbare Einfältigkeit; selbst die Frau Oberrevisorin konnte nicht umhin, der ihr vorgezogenen Kammersängerin Etwas in's Ohr zu zischeln. Lorle athmete erst wieder frei auf als der Collaborator aus dem Bierhause kam und allerlei Scherze losließ.

»Mein' Lebtag geh' ich nimmer in so eine Gesellschaft,« sagte Lorle auf dem Heimwege zu Bärbel.

Sie fühlte wohl die Erbärmlichkeit eines solchen Lebens, wo man, statt an eigener gesunder Kost sich zu erfreuen, nach den Brosamen und dem Abhub der vornehmen Welt hascht.

Während dieses Abends mußte Reinhard viele ergötzliche Neckereien bestehen; er wurde stets von zwei Masken gehänselt, die ganz in derselben Bauerntracht gingen wie einst Lorle. Anfangs war er erschrocken, denn beide Masken sprachen vollkommen den Dialekt; erst beim Entlarven konnte er in der einen die Gräfin Mathilde und in der andern ihre Gesellschafterin, ein armes adeliges Fräulein erkennen.

Als Lorle ihm am andern Morgen die Ereignisse des gestrigen Abends erzählte, hörte er ihr kaum zu; seine Gedanken tanzten noch auf dem Balle.

Dennoch blieb das Verhältniß zur Gräfin Mathilde ohne Fortschritt, fast auf demselben Punkte, auf dem es begonnen hatte; zumal da sie jetzt, nach Schluß der Saison, wieder mit ihrem Vater auf seine Güter zurückkehrte.

[245]

Fürnehmes Leben, fürstliches Brod

Fürnehmes Leben, fürstliches Brod.

Lorle hatte ein vereinsamtes Leben, denn Reinhard war die meisten Abende außer dem Haus, und trieb sich oft Tage lang auf den Hofjagden umher. Jetzt richtete er sich noch seine Werkstatt in den obern Zimmern des Marstalls ein. Lorle war noch nie dort gewesen.

Der Prinz hatte Reinhard beauftragt, eine Erinnerung an die letzte Fuchsjagd zu malen; auf die Entgegnung Reinhard's, daß er sich nicht auf Jagdstücke verstehe, erhielt er die Antwort: »Malen Sie nur ganz nach Ihrer Eingebung, ich lasse der Kunst gern die vollste Freiheit.«

In unglaublich kurzer Zeit vollführte nun Reinhard ein Werk, das er für sein Bestes hielt; es war eine tiefe Waldeinsamkeit, nur ein Fuchs saß ruhig auf seinem Baue unter den alten knorrigen Stämmen und schaute sich klug um; es war der Verstand des Waldes. Triumphirend ließ Reinhard das Bild auf das Schloß tragen: es mißfiel allgemein. »Das ist ja bloß eine Landschaft,« hieß es, man hatte mindestens die Abbilder der Hauptjäger und ihrer Hunde erwartet.

Das war also die »vollste Freiheit« der Kunst, und doch sollte nach Reinhard's Ansicht das monarchische Princip ihre einzige Stütze sein. Verstört und ingrimmig ging er umher.

Zu Hause war auch des Elendes genug und gerade in seinem Berufe hatte er die Erlösung gesucht. Er hatte ein gut Theil jener Unabhängigkeit verloren, die in [246] dem eigenen Bewußtsein sich erhebt; seine gesellschaftliche Stellung verlangte nothwendig die Anerkennung als Künstler.

Die Bärbel kränkelte und Lorle jammerte viel, daß sich die Diensteifrige keine Ruhe gönne. Reinhard bemerkte einmal, die Bärbel solle wieder heimkehren; da weinte Lorle so bitterlich, daß er sie nur mit vieler Mühe beruhigen konnte. Er ließ Lorle immer mehr für sich gewähren, und wenn er dann oft plötzlich an ihr schulte, setzte sie ihm eine störrige Unnachgiebigkeit entgegen. Sie war ihm demüthig ergeben, so lang er sich ihr vollauf widmete, ihr ganzes Tagewerk war oft nur ein Warten auf ihn, manche Arbeit kam ihr nur wie einstweilige Unterhaltung bis zu seinem Wiederkommen vor; nun aber, weil er sonst wortkarg und mürrisch war und fast nur sprach, wenn er Etwas zu tadeln und zu lehren hatte, hörte sie seine Auseinandersetzungen an ohne ein Wort zu erwidern. Reinhard fühlte sich dadurch oft im Tiefsten unglücklich.

Die Bärbel erkannte mit schwerer Bekümmerniß, wie so bald das einige Leben der Eheleute sich schied; sie suchte Lorle auf allerlei Weise zu beruhigen, und ihr Haupttrost war: »Es wird schon Alles besser gehen, wenn du einmal ein Kind hast.«

Da warf sich Lorle weinend an ihre Brust und sagte:

»Ich fürcht', ich fürcht', das wird nie geschehen; ich hab' mich versündigt, ich hab' ein Kind, das den Heiland vorstellt auf den Schoos nehmen müssen, wie er mich damals abgemalt hat. Ich hab's nicht thun wollen, [247] er hat's aber gewollt; Gott wird doch barmherzig sein und mir mein' Sünd' vergeben.« –

Die Bärbel suchte ihr die schweren Gedanken auszureden, glaubte aber selbst mehr daran als die Unglückliche selber.

Als Reinhard einmal wieder auf einen ganzen Tag zur Jagd gegangen war, machte sich Lorle die heimliche Freude und half der Bärbel bei der Wäsche; beim Auswinden derselben drehte Lorle zuerst einen Ring und die Bärbel versäumte nicht, den alten Waschweiberglauben anzubringen, daß Lorle sich eine Wiege drehe; Lorle spritzte nun der Bärbel einige Tropfen in's Gesicht und ging in die Stube.

Eine allerhöchste Laune brachte Lorle unversehens in Berührung mit dem Gesellschaftskreise Reinhards. Ungewöhnlich früh kam dieser eines Abends nach Hause und verkündete, daß der Prinz Lorle zu sprechen wünsche und daß sie daher andern Tages mit ihm auf die Gallerie gehen müsse; daß man begierig war, das Urbild der Madonna zu sehen, verschwieg er wohlweislich.

»Ich mag aber nicht, ich hab' nichts beim Prinzen zu suchen,« entgegnete Lorle.

»Ja, Kind, das geht nicht, einem fürstlichen Wunsche muß man gehorchen, sonst beleidigt man; da wird man nicht vorher gefragt und ich hab's nun auch einmal versprochen.«

»Wenn er noch eine Frau hätt', aber so zu einem ledigen Bursch', weil er's g'rad will!«

»Wie einfältig! Es ist vollkommen schicklich, ich geh' ja mit,« sagte Reinhard heftig; Lorle sah auf und[248] schwere Thränen hingen in ihren Wimpern. Reinhard faßte ihre Hand und sagte: »Sei nicht bös, sei gut, glaub' mir du verstehst das nicht, darum folge mir, du kannst's immer.«

»Ja, ja, ich will's ja thun, aber ich darf doch auch was sagen. Wenn das so fortgeht, weiß ich gar nicht mehr, ob ich nicht närrisch bin, ich ... ich weiß gar nicht mehr, bin ich denn noch und was soll ich denn?«

Als ihr Reinhard Trost einsprach, entgegnete sie: »Gieb jetzt du nur Fried', es ist Alles gut, ja, ich bin zufrieden, sei du's nur auch; aber ich wollt', die ganz Welt ließ' mich in Ruh, ich will ja auch nichts von ihr.«

»Du bist mir doch nicht mehr bös?«

»Nein und zehnmal nein, ich thu' ja was du willst, aber laß mich nur auch reden.«

Reinhard ging nun in das Haus des Collaborators und bat Leopoldine, am andern Morgen zu ihm zu kommen und Lorle für die Audienz vorzubereiten; dann schloß er sich dem Collaborator an und ging mit ihm nach seinem ständigen Bierhause, wo in einem kleinen Stübchen mehrere jüngere Advocaten, Aerzte, Kaufleute und Techniker wohlgemuth beisammen saßen, rauchten, tranken und plauderten. Anfangs war ein stummes Erstaunen, den »Civilcavalier« in der Kneipe zu sehen; dann aber nahm das Gespräch seinen ungehinderten Verlauf. Die tiefsten Fragen von Welt und Zeit wurden hier mit einer Schärfe und Eindringlichkeit, mit einem Feuer verhandelt, daß Reinhard im Stillen bemerken mußte, wie hier die frischeste [249] Lebendigkeit herrschte, weil Jeder bot, was ihn bewegte, weil man überhaupt nicht auf Unterhaltung ausging; es kam ihm vor, daß im glänzendsten Salon in einem Monat nicht so viel ursprünglicher Geist laut werde, als jetzt hier in dem kleinen, spärlich erleuchteten Stübchen. Das Laute und die Derbheit mancher Formen war ihm wieder neu und fremd, denn er kam aus den Kreisen, wo man flüstert und lächelt und nicht streitet und lacht. An einem monarchischen Mittelpunkte fehlte es indeß auch hier nicht, und seltsam genug war dies der Collaborator; seine machtvolle Stimme und sein ausgebreitetes Wissen sicherten ihm diese Würde ohne alle Etikette. Reinhard blieb länger als er gewollt hatte, er war wie in einer fremden Stadt: dort war ein Menschenkreis voll wirklicher und eingebildeter Interessen, der nie aus sich heraustrat und sich geberdete, als ob er allein die Welt sei und so dem Geringfügigsten, einem Anreden oder Uebersehen, einem halben oder einem ganzen Lächeln eine Bedeutung beilegte. Und hier – hundert Schritte davon lebten Menschen aus einem andern Jahrhundert, die sich im Kampfe erhitzten, als ob sie vom Forum, aus der Volksversammlung kämen oder sich darauf vorbereiteten.

Wenn er an Lorle dachte, befiel ihn eine unerklärliche Angst; er meinte, es geschehe zu Hause ein großes Unglück, das Haus brenne ab und jeden Augenblick müsse man die Sturmglocke hören; dennoch saß er wie festgebannt. Ahnte er vielleicht, in welchen schweren Gedanken Lorle in Schlaf gesunken war? Als er endlich nach Hause kam, athmete er leichter auf; da [250] stand wie immer das Oellämpchen auf der Treppe; er ging leise in die Kammer. Lorle schlief ruhig, er betrachtete sie lange, sie sah so heilig aus in ihrem Schlafe, fast wie damals als er sie zum Erstenmal auf der Laube wiedergesehen, nur lag jetzt ein Zug des Schmerzes auf ihrem Antlitz und ihre Lippen zuckten öfters.

Ein Außerordentliches geschah. Reinhard war am andern Morgen früher auf als Lorle, er hatte die Schlüssel gefunden und legte nun die Kleider zurecht, die sie anziehen sollte. Als er so über Kisten und Kasten kam, lobte er im Stillen die Ordnungsmäßigkeit seiner Frau; er freute sich auf ihren Dank für seine Vorsorglichkeit und ging immer auf den Zehen umher; es war ihm so leicht als würde er getragen.

Als Lorle erwachte und die Kleider sah, rief sie: »Was hast du gemacht? Ich bitt' dich um der tausend Gotts willen, überlaß mir Alles ganz allein. Denk nur nicht immer, daß ich gar nichts versteh'. Du hast mir gewiß Alles untereinander gekrustet. Ich bitt' dich, laß mich Alles allein in Richtigkeit bringen.« –

In Reinhard wogte und brauste es, er hielt aber an sich und ging in die Stube; dort stand er eine Weile, die Stirn an die Fensterscheibe gedrückt, in tiefem, namenlosen Schmerz. Schnell nahm er dann Hut und Stock und ging davon. Es war ein frischer Morgen, im Schloßgarten blühten die Blumen so schön und die Vögel sangen so lustig, unbekümmert in wessen Garten sie sich so laut machten, und ob die Bäume, in deren Zweigen sie saßen, einen Titel angehängt hatten [251] oder nicht. Reinhard sah und hörte nichts; es kam ihm vor, als ob Jemand leibhaftig ihm das Wort aus Hebels Karfunkel in's Ohr geraunt hätte: »Los, du duursch mi ... mittem Wibe hesch's nit troffe;« 1 er suchte das Wort wegzubannen, aber es kam immer wieder und sprach sich von selbst.

Als er heimgekehrt war, sagte er zu Lorle: »Wir wollen gut sein.«

»Ich bin ja nicht bös,« entgegnete sie.

»Nun, es ist jetzt eins, ich bin gewiß viel Schuld, aber laß Friede sein.«

Dieser war nun auch bis Leopoldine kam. Sie half Lorle ankleiden, lehrte sie einen Knicks machen und wie man den Kronprinzen anreden müsse. Lorle schien zu Allem willig; als aber Leopoldine sich entfernt hatte, riß sie Haube und Chemisette herunter und sagte: »Ich geh nicht, ich geh' nicht, ich bin kein Staarmatz, und du läßt'st auch einen Narren aus mir machen und ich merk's wohl: wenn man mich dumm macht und da werd' ich immer schlechter, und ich bin so jähzornig und so ungeduldig ... Guter Gott! Was soll denn aus mir werden?«

Sie weinte laut auf. Reinhard sagte mit thränengepreßter Stimme: »Nichts, du sollst nichts Anderes werden, bleib du das gute Kind.«

»Ich bin kein Kind, das hab' ich dir schon hundertmal gesagt. Jetzt will ich mich aber ordelich anziehen, und du wirst sehen, ich mach' keinen Unschick.«

[252] Endlich gingen sie miteinander zur Gallerie. Reinhard wagte es kaum mehr, Lorle eine Verhaltungsregel zu geben. Als sie nun hier zum Erstenmal die Werkstatt Reinhards sah, erschrak sie über die grausige Unordnung; sie wollte scheuern und kehren, mußte aber der dringenden Bitte nachgeben, sich doch ruhig zu verhalten und ihre glänzenden weißen Handschuhe zu schonen. Vor Unruhe konnte sie keine Minute still sitzen, eine fieberische Aufregung durchwogte sie, sie wollte sich nicht verblüffen lassen, sondern dem Prinzen zeigen, daß sie auch nicht auf den Kopf gefallen sei, und zugleich Reinhard beweisen, wie sie mit Jedem reden könne, sei er wer er wolle. Mit Bangigkeit bemerkte Reinhard diese Erregung, er ahnte die gewaltsame Hast und Unruhe in Lorle und daß sie diesem Ereignisse gegenüber die Unbefangenheit und Harmlosigkeit ihres Wesens aufgegeben; aber er hatte die Zügel verloren, um dieses Naturell zu halten, er konnte nichts thun, als um Ruhe bitten. Endlich wurde der Prinz gemeldet und man ging nach dem großen Salon. Man mußte hier noch eine Weile warten, und dieses Kommenlassen, Warten, Melden und Wiederwarten machte Lorle doch etwas bang; sie meinte, es müsse jetzt etwas ganz Besonderes vorgehen.

Der Prinz trat in Militärkleidung rasch ein und auf die sich verbeugende Lorle zu. In leutseligem Ton sagte er: »Seien Sie willkommen, Frau Professorin.«

»Schön' Dank, Herr Prinz, Königliche Hoheit.«

»Nun, wie gefällt es Ihnen bei uns in der Stadt?«

[253] Lorle hatte, trotz der scharfen Blicke Reinhards, schnell ihre Handschuhe abgestreift; sie wußte, daß sie so besser reden konnte, und sie sagte: »Wo man verheirathet ist, da muß es Einem gefallen; es ist auch recht schön und sauber hier, aber so himmelhohe Häuser.«

»Ich habe schon oft gedacht,« begann der Prinz wieder, »die Bauern sind doch die glücklichsten Menschen auf der Welt.«

»Da hat der Herr Prinz Hoheit unrecht, das ist nicht wahr; man muß schaffen wie ein Taglöhner und Steuern zahlen mehr als ein Baron, sagt mein Vater.«

Reinhard stand wie auf Kohlen; das war unerhört, daß man einem Prinzen sagt: das ist nicht wahr.

Der Prinz fixirte Lorle lächelnd, dann lenkte er ab und sagte, auf die Madonna anspielend: »Ich habe Sie schon früher gesehen, Frau Professorin.«

»Freilich, erinnert sich der Königliche Hoheit noch, wie wir klein gewesen sind? Er ist g'rad acht Wochen älter als ich, ich weiß seinen Geburtstag wohl, wir haben allemal an selbem Tag eine Bretzel in der Schul' kriegt. Weiß er noch, wie er durch unser Dorf kommen ist? Er hat dazumal lange blonde Locken gehabt und einen gestickten Kragen in Hohlfalten gelegt; damals haben wir uns daheim gesehen. Ach Gott! wir haben drei Wochen vorher von nichts Anderem gered't und träumt als: der Prinz kommt durch's Dorf! Den Nachmittag vorher war kein' Schul' und an dem Tag erst recht nicht, und wie wir jetzt Alle da gestanden sind mit Sträuß', und der Martin ist oben auf dem [254] Thurm, und wie der Prinz auf unser' Gemarkung kommt, da haben alle Glocken geläut't und da hat man mit Böllern geschossen, und wir Kinder sind alle auf dem Platz in die Höh' gesprungen, und der Lehrer hat gerufen: still! ruhig! Und jetzt hat man bald gehört, wie die Kutsch' kommt, und da hab' ich aufpassen wollen, daß ich Alles seh', da geht mir grad mein Schurzbändel auf; ich werd' aber noch fertig, und da kommt er und hält: grad' neben uns, und des Luzian's Bäbi hat ein Gedicht an ihn hingesagt, und da haben wir Kinder alle: Vivat hoch! gerufen, und rrr! fort ist der Prinz und hat noch sein Käpple mit der Troddel d'ran gelüpft, und da haben wir ihm unsere Sträuß' nachgeworfen, und da sind die Hofwagen kommen und sind über unsere Sträuß' weggefahren.«

Der Prinz sagte mit sichtbarer Rührung: »Hätte ich damals gewußt, daß Sie da sind, ich wäre ausgestiegen; ich wollte, Sie wären dort meine Jugendgespielin gewesen.«

»Ja, das wär' schon angangen. Ich hab' rechtschaffen Mitleid mit ihm gehabt, er hat doch auch ein arm's Leben gehabt, gar kein' Minut' für sich, 'naus in Wald oder in's Dorf. Wie er da auf der Saline blieben ist, da haben sich immer lauter große alte Leut' an ihn gehängt und er ist kein' Minut' allein gewesen. Weiß der Hoheit denn auch, wie ein Baum im Wald aussieht, wo kein Kammerdiener dabei ist?«

Der Prinz drückte Lorle die Hand und sagte: »Sie sind ein vortreffliches Wesen. Ja, gute Frau, es ist eine schwere Jugend, die eines Fürsten.«

[255] »Nun, so arg ist's g'rad nicht, es muß sich doch ertragen lassen, man sieht ihm just nichts an, daß es ihm so übel gangen ist; aber ich hab' auch wegen dem Herr Prinz Hoheit Ohrfeigen kriegt und es ist mir Alles im Angedenken blieben.«

»Wie so das?«

»Wie der Hoheit auf der Saline blieben ist, da bin ich mit meiner Bärbel auch 'nunter und wir sind draußen am Gitter gestanden, und er ist drinnen im Garten spaziren gangen, und da ist ihm sein Schnupftuch auf den Boden gefallen, und da ist ein steinalter Mann mit weißen Haaren, von denen bei ihm, hingesprungen und hat ihm's aufgehoben; und da hat die Bärbel gesagt: der wird auch in Grundsboden 'nein verdorben, und da hab' ich gesagt: wenn ich ein Prinz wär', ich thät' den ganzen Tag alles wegschmeißen, daß mir's die alte Leut' mit denen Stern' auf der Brust aufheben müßten – und da hat mir die Bärbel ein paar tüchtige Ohrfeigen geben. Nun, mir hat's nichts g'schad't, und dem Herr Prinz Königliche Hoheit sagt man auch viel Gutes nach.«

»Sie machen mich glücklich, da Sie mir sagen, daß meine Unterthanen gut von mir denken.«

»Ich hätt's doch mein Lebtag nicht glaubt, daß ich so mit dem Prinz Hoheit reden könnt', und jetzt möcht' ich ihm doch auch noch was sagen.«

»Reden Sie nur frei und offen.«

»Ja guter himmlischer Gott! Wenn ich's jetzt nur auch so recht sagen könnt'. Der Prinz Hoheit sollt's nur selber sehen, wie schrecklich viel Noth und Armuth [256] im Land ist, und da mein' ich, da könnt' er helfen und da müßt' er auch.«

»Wie meinen nun Sie, daß geholfen werden soll?«

»Ja wie? das weiß ich nicht so, dafür ist der Hoheit da und seine g'studirten Herren; die müssen's wissen und eingeschirren.«

»Sie sind eine kluge und brave Frau, es wäre zu wünschen, daß Alle in Ihrer Heimath Ihnen gleichen.«

»Mein Vater sagt: wenn man Hirnsteuer bezahlen müßt', da kämen wir auch nicht leer davon. Jetzt mach' der Hoheit nur, daß er auch bald eine ordeliche Frau kriegt; ist's denn wahr, daß er bald heirathet?«

In der Pause, die nun eintrat, wechselte Verlegenheit und heiteres Lächeln schnell im Antlitz Reinhard's. Daß Lorle den Prinzen mit Er anredete, erkannte er als beirrende Folge der ihr eingeübten Titulaturen; das letzte aber war nicht nur der ärgste Verstoß, daß man einen Fürsten irgend Etwas fragt, da er vielleicht nicht antworten kann oder will, sondern Lorle sprach hier geradezu Etwas aus, was man selbst in den höchsten Kreisen nur mit den vorsichtigsten diplomatischen Umschweifen zu berühren wagte, weil ein Korb in der Schwebe hing.

Der Prinz aber erwiderte: »Es kann wohl sein; wenn ich eine so nette, liebe Frau bekommen könnte, wie Sie sind.«

»Das ist Nichts,« entgegnete Lorle, »das schickt sich nicht; mit einer verheiratheten Frau darf man keine so Späß machen. Ich weiß aber wohl, die großen Herren machen gern Spaß und Flattusen.«

[257] Schließlich beging nun Lorle den ärgsten Verstoß, denn sie verabschiedete sich, indem sie sagte: »Jetzt b'hüt' Gott den Herr Prinz Hoheit, und er wird auch zu schaffen haben.«

Eben als sie die Hand zum Abschied reichte, kam der Adjutant mit der Meldung, daß die Revue beginne; der Prinz und Reinhard geleiteten Lorle bis an die Thür.

»Herr Professor!« rief Ersterer noch. Reinhard kehrte um und stand wie elektrisirt, als müßte jeder Nerv zuhören; der Prinz fuhr fort: »Kennen Sie den köstlichsten Kunstschatz, den wir auf der Gallerie haben?«

»Welchen meinen Königliche Hoheit?«

»Ihr Naturschatz ist der größte.«

Dieses hohe Witzwort verbreitete sich durch den Mund des Adjutanten in »den höchsten Kreisen«, Lorle ward hierdurch einige Tage Gegenstand allgemeiner Besprechung.

Die Audienz vollendete aber auf eigenthümliche Weise den innern Bruch zwischen Reinhard und dem Hofe; es kränkte ihn, daß man nach der Hofweise diesen Besuch zu einer abgemessenen Zwischenstunde der Unterhaltung angesetzt, während er für ihn und seine Frau die innersten Lebensfragen aufgeregt hatte. Dies gestand er sich offen, keineswegs aber das, wie er nicht die Kraft gehabt, sein häusliches Heiligthum dem Hofe zu entziehen.

Bei Tische sagte Lorle: »Der Prinz ist doch lang' nicht so stolz wie unser Amtmann.«

»Woher weißt du das? Du hast ihn ja gar nicht zu Wort kommen lassen.«

[258] »Es ist wahr, ich bin so in's Schwätzen 'neinkommen, ich hab' mich nachher auch darüber geärgert, aber es schad't doch nichts.«

»Du mußt dich überhaupt mehr mäßigen.«

»Ja, was soll ich denn machen?«

»Nicht überall gleich den Sack umkehren, mit Kraut und Rüben.«

Lorle war still, sie glaubte ihren Fehl genugsam eingestanden zu haben, den letzten Tadel meinte sie nicht zu verdienen, da sie mit dieser Allgemeinheit überhaupt nichts anzufangen wußte.

Reinhard dagegen war voll Trauer, daß Lorle dieses Sichgehenlassen selbst fremden Menschen gegenüber nicht eindämmen konnte; es kam ihm jetzt vor, daß sie weit mehr geplaudert habe als eigentlich der Fall war; es ärgerte ihn, daß Jeder mit herablassendem Wohlwollen diese Naivität beschauen und vielleicht bespötteln könne. Er ahnte, daß dieses offene, rückhaltslos zutrauliche Wesen nothwendig der Dorfumgebung bedurfte, in der fast Niemand, mit dem man in Berührung tritt ein Fremder ist, wo die Thüren überall unverschlossen, wo man bei Nachbarn und im ganzen Dorfe aus- und eingehen mag wie zu Hause, wo man sich kennt, und zwar von Jugend auf mit all' den Eigentümlichkeiten von Naturell und Schicksal. –

So leicht verblendet einmal eingerissenes Mißverständniß, daß Reinhard, statt aus dem letzten Ereignisse Hochachtung vor der unzerstörbaren Naturkraft seiner Frau zu gewinnen, darin eine spröde, alle Bildungselemente abstoßende Halsstarrigkeit beklagte.

[259] Lorle selber fühlte auch immer mehr, ohne sich's zur Klarheit bringen zu können, daß sie in einer fremden Welt war. Das ganze Leben einer solchen anhangslos aus der Fremde in die Stadt versetzten Frau ist durchaus auf ihre Häuslichkeit beschränkt, die ganze Welt um sie her geht sie nichts an; nur eine allgemeine Bildung mag auch hier bestimmte Anknüpfungen finden lassen, denn sie verbindet mit Men schen, die auf fernen Bahnen wandelnd doch dieselben allgemeinen Lebenseindrücke, dieselben Interessen in sich hegen. Lorle dünkte sich selber oft erschreckend verstandesarm, ihr Scharfblick und ihre Klugheit konnten sich nur offenbaren, wenn sie von Bekannten, von Menschen sprechen konnte; daheim war sie viel klüger gewesen. Nothwendig und natürlich kam sie daher in Ermangelung der gemeinsamen Bekannten oder der Allgemeinheiten dazu, daß sie leicht von sich sprach oder ihre ganze Eigenthümlichkeit offenbarte; sie konnte nicht anders, sie mußte auch in der neuen Umgrenzung sich frei walten lassen. –

Eine Lerche, gewohnt und geschaffen hinanstrebend im weiten Raum ihren Gesang erschallen zu lassen, lernt auch im engen Käfig singen wie in der Freiheit, aber am Gitter stehend bewegt sie ihre Flügel in leisem Zittern während sie singt, und nie wird sie zahm, jeder betrachtende und forschende Blick macht, daß sie in wildem Aufruhr sich gegen die Umgitterung wirft und stemmt; sie verstummt und will entfliehen.

So hatte das letzte Ereigniß nach zwei Seiten hin vielleicht tödtliche Keime angesetzt oder längst vorhandene dem Bewußtsein mehr geöffnet.

[260] Nun aber war noch über ein sichtbar erschüttertes Leben zu wachen. Die Bärbel konnte endlich doch das Bett nicht verlassen, Lorle wußte und kannte von nun an nichts mehr, als die Pflege der Getreuen; sie hatte auch die Freude, sie bald wieder genesen zu sehen. Der Arzt erklärte, daß es der Bärbel vielleicht an ermüdender Arbeit in freier Luft fehle, und Reinhard drang nun darauf, daß sie heimkehre; aber zur Freude Lorle's erklärte die Bärbel, daß sie lieber sterben wolle als Lorle verlassen. Bei der anderweit erregten Verstimmung ward nun für Reinhard seine Häuslichkeit immer weniger erquickend, er war es überdrüssig ein Hauswesen zu haben, in dem alle Sorgfalt sich wesentlich auf die Dienstmagd bezog; Lorle durfte er nichts davon mittheilen, denn er war fest überzeugt, sie könne seine Stimmung nicht begreifen, sie werde ihn nothwendig mißverstehen.

Die Bärbel sollte nun ärztlicher Verordnung gemäß oft spaziren gehen, Lorle begleitete sie bisweilen, nöthigte sie aber auch, sich allein aufzumachen; in diesem Falle aber kam sie bald wieder zurück und sagte: »Ich kann nicht so herumlaufen, ja, wenn ich ein Kind zu tragen hätt' da ging's noch, aber so? Ich lauf' die Allee hinauf wie wenn ich wunder was schnell holen müßt', und da kehr' ich doch wieder leer um und da schäm' ich mich.« –

Als im Herbst die Blätter von den Bäumen fielen, sank die Bärbel wieder auf das Krankenlager und nach wenig Tagen war sie todt.

Der Jammer und der Kummer Lorle's war unbeschreiblich. Reinhard theilte ihren Schmerz, aber es[261] ward ihm doch zu viel, daß die Klagen über die Verstorbene immer und immer wiederkehrten und kein Ende nehmen wollten; auch sollte er nun mithelfen und sorgen bei Mißhelligkeiten mit den neuen Dienstboten.

Ein trüber Winter kam heran. Reinhard wurde weniger in die »Gesellschaft« gezogen, er war keine neue Erscheinung mehr und noch dazu offenbar mißgestimmt. Was kümmert sich die Gesellschaft um ein betrübtes Dasein? Sie will nur die Heiterkeit und sei sie auch eine erlogene. Und nun gar die vornehme Welt! Sie kennt die Menschen nur, da sie in Glück und Glanz stehen. Anfänglich verdroß Reinhard diese Zurücksetzung, dann aber war's ihm erwünscht, so vielfacher Störung los zu sein; er blieb indeß nicht zu Hause, sondern schloß sich dem Collaborator und dessen Kreis öfter an. Die beiden Freunde durchsprachen oft den Plan zu einem satyrischen Bilderwerk. Reinhard entwarf treffliche Zeichnungen zu demselben, aber der Collaborator kam nie dazu, den Text zu schreiben. Wenn Reinhard nicht umhin konnte, dennoch eine der früheren Gesellschaften zu besuchen, so machte er sich bald wieder davon und kam im Ballanzuge in das raucherfüllte Bierstübchen, wo er bis spät in die Nacht sitzen blieb und dann oft noch stunden lang mit dem Collaborator durch die menschenleeren Straßen wandelte.

Mit dem Prinzen stand Reinhard noch im alten Verhältnisse, er fehlte nie in den kleinen Cirkeln, die der junge Fürst um sich versammelte; aber auch hier fand er Mißbehagen genug.

[262] »Es ist erbärmlich,« klagte er häufig dem Collaborator auf ihren nächtlichen Gängen: »ich kann mich oft vor Ingrimm nicht halten, wenn ich sehe, welche Bedientenhaftigkeit gegen Ausländer an unseren Höfen herrscht. Wir Eingebornen, wir Deutschen, müssen Adelige oder ausnahmsweise Bürgerliche von einer Auszeichnung des Talents sein, um bei Hof Eingang zu finden; jeder englische Stiefelputzer aber ist hoffähig, weil er eine weiße Halsbinde trägt und englisch spricht. Man muß froh sein, wenn nicht dem Fremden zulieb Alles den ganzen Abend Englisch quatscht. Diese Travellers haben Recht, wenn sie ganz Deutschland wie einen einzigen Lohnbedienten ansehen; beginnen ja die Höfe mit Schändung der Nationalehre.«

Der Collaborator erwiderte: »Laß doch die da drüben auf ihrem drapirten, wurmstichigen Gerüste treiben was sie wollen, die Weltgeschichte kümmert sich nicht mehr darum; sie legt neue Bahnen und die besuchtesten Straßen werden leer stehen. Ich bin kein Freund der Engländer, ich halte sie für die gottloseste Nation auf Erden, trotz und in Folge ihres steifen Kirchenthums. Jeder Engländer hat aber das Recht, sich bei uns als Adeliger zu gebärden, die Geschichte seiner Nation ist die Geschichte seiner Ahnen, die Größe seiner Nation ist die Größe jedes Einzelnen, und wir, wir sind Privatmenschen, mit und ohne Familienwappen.«

In solchen Gesprächen wandelten die Freunde oft bis tief in die Nacht hinein; die Nachtwächter sahen staunend die sonderbaren Schwärmer.

Immer vereinsamter ward Lorle; eine unnennbare[263] Sehnsucht, ein Heimweh regte sich in ihr, aber sie kämpfte, es nicht aufkommen zu lassen. Oft gedachte sie jener Stunde nach der Hochzeit, wo sie Gott gelobet hatte, Alles freudig über sich zu nehmen, da sie so unendlich beglückt war. Jetzt fühlte sie, wie schwer es ist, um eine selige Stunde ein langes banges Leben hinzukümmern; es gebrach ihr an Kraft zu solchem Opfer, weil sie fürchtete, daß sie den Andern, dem sie es brachte, vielleicht nicht damit beglücke. Sie geizte nach einem freundlichen Worte Reinhard's, ein kleines Lob von ihm erhob und erkräftigte sie wiederum; sie bedurfte einer Anerkennung, seiner vor Allen. Wie Reinhard die Sicherheit des Selbstbewußtseins in seinem künstlerischen Lebensberuf, so schien sie solche in ihrem Charakter verlieren zu wollen; sie horchte hin nach anerkennendem Zuruf von außen. Die Verstörtheit Reinhard's steigerte noch ihr Wehe, er stand ihr so hoch, so erhaben über allen Menschen, daß sie der ganzen Welt zürnte, die ihm so viel zu schaffen machte und ihn quälte. In ihrer Fürsorge für ihn bekundete sich eine solche Unterthänigkeit, solch' ein krankenwärterisches Nachgeben, daß er sie oft mit stiller Wehmuth betrachtete.

Warum konnte er nicht glücklich sein?

Wie oft müht und peinigt man sich im kleinen und vereinzelten Leben und sucht ein Nothwendiges mit quälender Angst, und am Ende liegt es bei ruhigem Blicke vor uns offen und frei; es ist als ob ein Dämon uns früher geblendet und verwirrt hätte. Geht's wohl auch im großen, ganzen Leben so?

[264] Reinhard versuchte es, Leopoldine und seine Frau einander zu nähern, aber diese versicherte, daß sie gern allein, daß es ihr so am wohlsten sei. Tage und Wochen lang saß Lorle am Fenster bei dem Vogelbauer und strickte Strümpfe, deren Arbeitserlös sie den Ortsarmen in der Heimath schickte.

Zur Fastnachtszeit gewann sie eine neue, schwere, für sie aber doch erhebungsvolle Thätigkeit. Die Magd erzählte, daß in dem Stockwerk unter ihnen die Frau des Kanzleiregistrators, eine Mutter von fünf Kindern, an der Auszehrung darniederliege und daß Jammer und Noth in der Familie herrsche. Lorle kannte die Leute nicht, sie stand nur einen Augenblick still am Fenster, mit einem Entschluß kämpfend; dann ging sie hinab, klingelte und sagte, sie müsse zur Frau Registrator; dieser bot sie nun Hülfe und Beistand an. Die Kranke hob die durchscheinigen Hände auf und faltete sie mit innigem Dank. Lorle verweilte nicht lange beim Reden, sondern ging alsbald durch Küche und Kammer und ordnete Alles. Von nun an war sie ihre ganze freie Zeit, und das war der größte Theil des Tages, bei der Kranken und ihren Kindern, die mit Liebe an ihr hingen; sie waltete überall als wäre sie die Schwester der Mutter. Die Kranke war eine Frau voll ruhigen schönen Verständnisses für das Wesen Lorle's, da sie dieselbe nicht zuerst durch Reden und Unterhalten, sondern frischweg durch die That kennen lernte; ohne Ahnung ihrer baldigen Auflösung sagte sie immer, wie glücklich sie sei, eine solche Freundin gefunden zu haben und wie schön sie nach ihrer [265] Genesung mit einander leben wollten. Lorle entnahm hieraus einen ganz besondern Trost: eine Stadtfrau hatte sie doch auch verstanden und ihr solche Liebe zugewendet.

Unterdeß gewann die Stimmung Reinhard's eine immer trübere Färbung. Er hatte seit den Universitätsjahren nie so lange mit dem Collaborator gelebt als jetzt; der ätzende Geist des Gelehrten, der immer schärfer wurde, übte einen störenden und verwirrenden Einfluß auf das künstlerische Dichten und Trachten Reinhard's. Im Glück und in der Freiheit wäre er stark genug gewesen, alle Störung von sich abzuschütteln, nun aber bemächtigte sich seiner oft eine nie dagewesene Grämlichkeit und Weichheit, so daß er waffenlos erschien. Wollte er Etwas beginnen oder ausführen, sah er eitel Mangel und Halbheit darin.

Der Trost des Collaborators war ein trauriger, denn er bestand darin, daß in unseren Tagen Alles was gesundes Leben in sich hat, nur negativ sein könne, daß es darum keine Kunst geben könne, bis eine neue positive Weltordnung erobert sei; was sich heute noch zur Kunst gestalten könne, bestände nur noch in Reminiscenzen der vergangenen und noch nicht völlig aufgezehrten positiven Welt. Diese Ansichten verfocht er mit unläugbarem Scharfsinn, und so sehr sich auch Reinhard dagegen stemmte, sie kamen ihm doch in die Quere bei mancherlei neuen Entwürfen; er wendete sich daher wieder ganz der Landschaft zu – das Naturleben blieb doch stetig und fest – innerlich aber trauerte er dennoch um das verlassene Menschenleben. Dazu kam, daß [266] eben dieses ihn von anderer Seite vielfach in Anspruch nahm, und zwar auf die unerfreulichste Weise; er mußte bald bei Hofe, bald in den anschließenden Kreisen lebende Bilder stellen, Maskenzüge ordnen, und all dies Treiben ekelte ihn an. Konnte er Lorle von den Kämpfen um das innerste Wesen seines Lebensberufes Etwas mittheilen?

Sonst, wenn ihm die Mißlichkeiten des Lebens zu nahe rückten, flatterte er davon, ließ all das kunterbunte Treiben hinter sich und vergrub sich still in den Bergen; jetzt war er festgebunden ...

Der Frühling nahte, die Frau des Registrators fühlte sich immer freier, und doch war sie nur noch ein Schatten. Lorle hatte manchen Aerger am Krankenbette, besonders über das singende Mädchen gegenüber; das sang und klimperte fort, mochte daneben ein Mensch sterben und verderben. Lorle konnte sich noch immer nicht in die Welt finden, wo Jubel und Todesschmerz Wandnachbarn sind und doch geschieden wie ferne Welten. –

Bis zum letzten Athemzuge der Kranken harrte Lorle bei ihr aus und drückte ihr die Augen zu. Nun hatte sie wieder eine Befreundete zur Erde bestattet, die Sorge für die Kinder blieb ihre unausgesetzte Pflicht. Im ganzen Haus und in der Nachbarschaft hatte man vernommen, wie aufopfernd und edel Lorle gegen die Verstorbene und deren Familie gehandelt; sie gewann sich dadurch eine stille Achtung und Liebe. An manchem Gruß von ehedem stummen Lippen, an manchem ehrerbietigen Ausweichen auf Treppe und Hausflur [267] merkte dieß Lorle, und es erquickte sie im tiefsten Herzen. Oft dachte sie: »die Menschen sind doch überall gleich, nur kennen sie in der Stadt einander nicht. Vielleicht ist da eine brave Nachbarin, der es lieb wäre wenn ich zu ihr käme, aber wir wissen nichts von einander.«

Wer sollte es aber glauben, daß Lorle ein geheimes und dauerndes Verhältniß zu einem fremden Manne hatte?

Die Kanzlei, dem Hause gegenüber, war vollendet und bezogen. Wenn nun Lorle des Morgens ihren Vogel vor das Fenster hing, öffnete sich gerade gegenüber in der Kanzlei ein Fenster; ein Mann mit wenigen schneeweißen Haaren erschien und begoß seine Blumen, die auf dem äußersten Fenstersims standen. Er sah dann starr nach Lorle, bis ihr Blick ihn traf, er nickte freundlich, sie antwortete mit demselben Gruß und zog sich schnell in ihre Stube zurück; sie konnte nicht unwirsch gegen den guten alten Mann sein, er stellte ihr so schöne Blumen gegenüber, und sie schickte ihm dafür lustigen Vogelsang in die actenstille Stube. Eines Morgens räumte der alte Mann seine Blumen weg und stand, die linke Hand unter die Batte seines Rockes gestemmt, mit glänzendem Gesicht da, nach Lorle hinüberschauend, etwas Farbiges prangte auf seinem Rocke; als ihn Lorle endlich erschaute, nickte er zweimal. Von diesem Tage an ward er nicht mehr gesehen, Lorle wußte nicht, was aus ihm geworden war; hätte sie das Regierungsblatt gelesen, so hätte sie erfahren, daß der Oberrevisor Körner einen Orden erhalten hatte und [268] zum Kanzleirath er nannt war; er ward dadurch auf die Sonnenseite des Staatsgebäudes in das erste Stockwerk versetzt.

Fußnoten

1 Hör', du dauerst mich, mit dem Heirathen hast du's nicht getroffen.

Die Flügel ausgebreitet!

Eine tiefe, entsagungsvolle Schwermuth lag wie ein Bann auf Lorle. Sie sang einmal vor sich hin und plötzlich schaute sie auf, als hörte sie die Stimme eines Andern; sie erinnerte sich jetzt, daß sie seit Wochen und Monden kein Lied gesungen hatte, weder lustig noch traurig.

Die Tage des Lebens, sie vergehen, ob wir sie einsam oder in Gemeinschaft mit den Zugehörigen, ob wir sie in Trauer oder Lust verleben; sie ziehen dahin wie flüchtige Schatten und kehren nimmer wieder.

Lorle war überzeugt, daß die Schuld des getrennten Daseins nicht blos in dem Mangel an Kindersegen beruhe; dieser hätte wohl den Zerfall verhüllt oder ausgeglichen, aber die unzerstörbare Kraft der Liebe kann sich oft gerade da am mächtigsten bewähren, wo zwei Menschen sich allein Alles sein müssen. Die Eltern zu Hause hatten auch lange in kinderloser Ehe gelebt und die Bärbel erzählte oft, daß sie selber mit einander gewesen wie zwei Kinder, so selig vergnügt.

Oft siecht ein Leben seine ganze Dauer hin und oft rafft es sich empor zu neuer, selbstbestimmter Wiedergeburt; es ist ein höherer Wille, der dazu erkräftigt, und zugleich die in sich gehaltene Charakterkraft. Sonne und Regen nähren und erschließen leise und allmälig [269] die Knospe, die der Entfaltung entgegenreift; Sturm und Gewitter können sie urplötzlich sprengen.

Da sind drei Menschen, sie gehen ruhig ihren Lebensweg, und doch verdoppeln sich oft die Pulsschläge ihres Herzens, als müßte jetzt unversehens eine Wendung des Geschicks eintreten.

Lorle lebte still dahin, sie war den Kindern der Verstorbenen eine sorgsame Mutter und erfreute sich in diesem erweiterten Kreise ihrer Pflichten. Da Reinhard fast nie mehr mit ihr spaziren ging, war sie auch froh, nun eines der Kinder zur Begleitung zu haben.

Reinhard war vielfach betrübt: er redete sich ein, daß ihm kein Bild mehr gelinge, auch hatte er viel Unruhe bei der ihm obliegenden Ordnung einer im Unverstand zusammengetrödelten Kupferstichsammlung. Dazu wurde trotz seines Widerspruches manches geschmacklose Bild angekauft, ja man nahm seinen Rath oft erst in Anspruch wenn der Kauf bereits abgeschlossen war; seine Mahnung, einheimische Künstler zu beschäftigen verhallte spurlos, denn man wollte fremde und glänzende Namen im Katalog haben.

Der Collaborator hatte seit geraumer Zeit etwas Geheimnißvolles und Verschlossenes. Niemand ahnte, daß er nun in der That endlich in der Ausführung eines Werkes war, das wissenschaftlich und praktisch zugleich sein sollte, denn es auf nahm Gesetzesvorlagen in einem großen Staate Bezug, den man, nachdem die allgemeine Mißliebigkeit der Maßregel ihm zugefallen war, um so unbehinderter nachzuahmen strebte. Dort sollte nämlich unter der Herrschaft des Ritters von der Phrase [270] der englisirte Sabbath und ein straffes Kirchenregiment eingeführt werden.

Der Collaborator verrieth niemand sein Vorhaben, er hatte schon so oft gesagt, daß er dieses und jenes vollführen wolle, was doch unterblieben war; nun wollte er plötzlich auftreten. Er wußte, daß stark erscheinen oft wesentlich darin besteht: die Vorsätze und Schwankungen zu verbergen und dann mit fertigen Thaten zu überraschen. Der Weg nach der Hölle der Selbstanklage und der Verdammung durch Andere ist mit guten Vorsätzen gepflastert. – Mit einem Gluteifer, den er bisher noch gar nicht an sich gekannt hatte, arbeitete der Collaborator an seinem Werke und fand darin eine Erhebung, die kein noch so tiefes Denken und Fühlen in sich zu gewähren vermag. In der Hingebung, daß er die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen wollte, erquickte ihn auch noch oft der Gedanke an die öffentliche Wirksamkeit, und so empfing er im Stillen den Segen der Geistesthat, der unbelauschten Ausbreitung des eigensten Seins und Erkennens für alle, ein Segen, dem nichts auf Erden gleichkommt; das ganze Einzelleben will sich aufzehren, ein Opfer in den Flammen des Gedankens, und schwebt wiederum unversehrt, geläutert daraus empor.

Oft ward dem einsamen Forscher auch bange, er hatte so viel auf dem Herzen, das er doch nicht auf Einmal offenbaren konnte.

In Gesellschaft der Freunde war er schweigsamer als je; weil er ein Geheimniß mit sich trug. Es war ihm, als ob er sich auch über andere Dinge nicht [271] vollkommen unumwunden aussprechen könne. Bei manchen Gesprächsgegenständen hatte er bisweilen Lust auszurufen: »Wartet nur bis mein Buch kommt, dort habe ich alles dies erörtert und an's Licht gesetzt.« Weil er dies nicht sagen durfte und mochte, schwieg er. Dagegen konnte er nicht umhin, unter dem unmittelbaren Einfluß der Gespräche in seine bereits niedergeschriebenen Darstellungen manchen Zwischensatz einzuschalten, manches »Epitheton« einzukeilen, um diesen oder jenen Mißverständnissen und schiefen Ansichten zu begegnen. –

Eines Mittags ging Lorle mit dem jüngsten Knaben des Registrators nach dem Schloßplatz zur Parade; sie wollte Reinhard dort erwarten, von dessen Werkstatt man gerade nach der Schloßwache sehen konnte. Als sie hier vorüberging, trat ein Tambour auf sie zu mit den Worten:

»Grüß Gott! Ei kennst mich nimmer? Sieh mich einmal recht an.«

»Herr Je! der Wendelin, du bist ja mehr als um einen Kopf gewachsen.«

»Und dir geht auch nichts ab, du bist recht stark worden, Lorle, oder Frau Professorin; nicht wahr, so heißt man dich doch?«

Sie reichten sich die Hände und nach mancherlei Fragen erzählte Wendelin: »Wie du halt fortgewesen bist, bin ich das Frühjahr drauf auch fort und hab' mich zum Grafen Felseneck als Schäfer verdingt, und da hat einmal unser Fräulein, die Gräfin Mathilde, gehört, daß ich von Weißenbach sei und da hab' ich zu ihr 'nauf müssen und da hat sie mich Alles [272] ausgefragt von dir und vom Herrn Reinhard. Es ist ein brav' Mädle unser gnädig Fräulein, und da hat sie mir ein Guldenstückle geschenkt, und von dem Tag an hab's ich's immer besser gehabt auf dem Hof und wenn sie so durch's Feld geritten ist, sie reitet prächtig, da ist sie auf mich zukommen und hat mit mir geschwätzt. Und wie der Herr Graf die Schäferei aufgegeben hat, da hat mich der Vetter, der ist Oberstlieutenant in unserm Regiment, mit hierher genommen und jetzt bin ich Tambour; ich bleib's aber nicht, ich lern' das Horn blasen und über's Jahr komm' ich zur Regimentsmusik und da hab' ich für mein Lebtag ausgesorgt. Ich bin schon vierzehn Wochen hier, ich hab' dich aber noch nicht gesehen.«

»Warum bist du nicht zu mir kommen?«

»Ja, wenn ich's gewußt hätt', daß ich so dürft' und daß du noch allfort so gut bist, ich hätt' dich schon ausgefunden. Ich hab' aber auch sündlich viel zu lernen gehabt, meine Arme sind mir oft wie abgebrochen gewesen und heut' bin ich zum Erstenmal auf der Wacht; es ist mir ein gut Zeichen, daß ich dich grad' seh!«

Während die Beiden so mit einander plauderten, war der Adjutant des Prinzen bei Reinhard, um mit ihm die Transparente zu besprechen, die zur bevorstehenden Vermählung des Prinzen anzufertigen waren; er trat jetzt an's Fenster und rief: »Da unten steht Ihre Frau Gemahlin bei einem Soldaten.«

Reinhard eilte hinab, Lorle sah ihn nicht kommen, bis er ganz nahe war und in heftigem Tone rief: »Was stehst du da? Komm mit fort.«

[273] In den bittersten Aeußerungen ergoß sich Reinhard über diese schmachvolle Unschicklichkeit; Lorle konnte nicht zu Wort kommen. Die Parade zog auf und spielte einen lustigen Marsch, Lorle war's, als müßte sie in den Boden versinken, da sie hier vor aller Welt ihre Thränen nicht zurückhalten konnte; glücklicherweise aber bemerkte Niemand ihr zur Erde gewendetes Antlitz. Endlich konnte sie die Worte hervorbringen:

»'s ist ja der Wendelin, du kennst ihn doch auch.«

Reinhard sah wohl ein, daß es zu hart und heftig gewesen war, aber die Unschicklichkeit war doch zu groß als daß er Abbitte that.

Bei den unerquicklichen Arbeiten, die Reinhard nun auszuführen hatte, ward er zu Hause immer düsterer und gereizter. Als er sich einst wieder zu einer Heftigkeit gegen Lorle hinreißen ließ, sagte sie: »Schmeiß' nur Alles zusammen wie die Teller, die du auch zerbrochen hast.«

Reinhard ward still, seine Frau kam ihm unendlich kleinlich vor, da sie jenen vor Jahren vollführten Uebermuth nicht vergessen konnte. Lorle aber konnte nicht mehr ausführlich mit ihm reden, sie wollte ihm sagen daß er auch sie zerbreche weil sie sein eigen geworden sei; aber sie konnte jetzt ihm gegenüber nur halbe Worte finden, ein Bann lag auf ihrer Seele, den sie nicht zu lösen vermochte.

Sie ging mit Reinhard durch die Straße, da begegnete ihnen ein Wagen mit frischem Heu; Lorle riß eine Handvoll aus und sagte: »Jetzt heuet man,« und[274] Reinhard entgegnete: »Das ist etwas ganz Neues, eine merkwürdige Entdeckung!«

Lorle schwieg, sie konnte wiederum nicht sagen, wie schmerzlich es sie errege, erst zufällig durch einen Heuwagen zu merken was an der Zeit sei, da sie sich so weit vom Feldleben entfernt hatte.

Ein überraschender Besuch verscheuchte auf einige Tage das stille Einerlei der einsamen Häuslichkeit. Der Wadeleswirth hatte schon oft seine Tochter heimsuchen wollen, aber wie das so geht, er kam schwer vom Fleck; bald sollte dieses bald jenes Feldgeschäft noch gethan sein bevor er reiste, und dann redete er sich wieder ein, er wolle die Gevatterschaft abwarten und so verstrich die Zeit. In den Briefen, die Lorle nach Hause geschrieben hatte, sprach sich oft in einzelnen Worten ein sehnsuchtsvolles Heimweh aus. Es hätte sich wohl daraus entnehmen lassen, daß ihr jetziges Leben ihr noch ein fremdes war; die Eltern ahnten wohl dergleichen, aber sie wollten sich's nicht glauben, sie rechneten Alles der übermäßigen Kindesliebe zu. Seit geraumer Zeit entschuldigte Lorle in ihren Briefen jedesmal ihren Mann, daß er nicht selber schreibe weil er gar viel zu thun habe.

Sei es nun durch eine Mittheilung Wendelin's oder durch andere Berichte, im Dorfe ging die Sage, Lorle sei unglücklich und werde in der Stadt wie eine Gefangene gehalten. Nun hatte alles Zaudern und Zögern ein Ende, der Wadeleswirth lief herum, schnaubte und ballte die Fäuste; es that ihm nur leid, daß er den Reinhard nicht gleich packen und tüchtig durchwalken [275] konnte. Den ganzen Tag und die Nacht hindurch fuhr er und kam am frühen Morgen in der Stadt an; er besann sich jetzt aber eines Bessern, er wollte Lorle zuerst allein sprechen und wartete daher bis Reinhard in der Werkstatt war. Als er die drei Treppen hinanstieg, stand er mehrmals still und verschnaufte, sein Blut war in mächtiger Wallung und er meinte die Knie müßten ihm brechen; das war ein harter Gang.

Erschütternd war das Wiedersehen von Vater und Kind, Lorle wollte sogleich nach Reinhard schicken, aber der Vater sagte: »Nur stet, ich hab' zuerst ein Wörtle mit dir allein zu reden.«

Lorle mußte nun ihre Lebensweise berichten. Der Vater runzelte die Stirn und preßte die Lippen auf einander, als er merkte, daß Reinhard nur zum Mittagessen und Schlafen heimkäme; er gestand offen, daß das anders werden müsse und daß er dem »Professor was aufzurathen« geben wolle. Lorle bat und beschwor, ja keine Heftigkeit anzufachen, da das doch zu nichts führe; Eheleute müßten sich selber verständigen, da könne selbst der Vater Nichts thun, sie sei nicht unglücklich und ihre ganze Anschauung des Mißverhältnisses drängte sich in den Worten zusammen: »Gucket, das ist halt in der Stadt anders, das Elend ist eben, daß die Frau dem Mann in seinem Geschäft gar Nichts helfen und beispringen kann, und da muß ein Jedes allein sein; daheim, da geht die Frau mit dem Mann auf's Feld und hilft überall.« –

Dann erklärte sie, wie sehr Reinhard zu bedauern[276] sei, er werde so viel vom Hof in Anspruch genommen und habe doch keine Freude daran.

Eine gemischte Empfindung beruhigte die Aufregung des Wadeleswirths, er bewunderte die Klugheit seiner Tochter und betrachtete sie mit erneutem Stolz; dann freute er sich, daß der Reinhard nichts vom Hofe wolle.

Lorle hatte Reinhard nun doch rufen lassen und dieser kam in Gemeinschaft mit dem Collaborator. Das Wiedersehen von Schwiegervater und Sohn hatte hierdurch eine vielleicht erwünschte fremde Haltung, denn noch war der Zorn des Ersteren nicht ganz verraucht. Reinhard war ganz der Alte, auch äußerlich; denn er hatte sich seinen Bart wieder wachsen lassen, da die Engländer in allen möglichen Bartformen bei Hofe erschienen: man kann fast sagen, daß damit wiederum sein unbändiges Wesen aufwuchs. Reinhard schlug die alte übermüthig lustige Weise gegen seinen Schwiegervater an, Lorle freute sich darüber. Sie wußte nicht, daß er sich innerlich Vorwürfe machte, daß er jetzt mit Absicht und Willen eine Form annahm, die ehedem unwillkürlich zu seinem Wesen gehörte; aber ihm stand keine andere Vermittlungsart mit seinem Schwiegervater zu Gebote. Der Collaborator war überaus zuvorkommend und freundlich gegen den Wadeleswirth; Lorle neckte ihn, weil er sich sonst so wenig sehen ließ; sie konnte nicht ahnen, daß er sich von ihr zurückzog, aus Furcht sein Mitleid und seine Verehrung für sie könne ihm einen bösen Streich spielen.

So hatte die erste Stunde des Zusammenseins einen [277] überaus heitern Anstrich und hätte man später auch Lust oder Veranlassung gehabt, eine andere Farbe zum Vorschein kommen zu lassen, so wäre dies nicht mehr möglich gewesen, wenigstens nicht in der ganzen Schärfe und Bestimmtheit; denn die erste Stunde des Wiedersehens ist der Accord, der die Tonart für den ganzen Verlauf des Beisammenseins angiebt. Außerdem war Reinhard mit Arbeiten überhäuft, wie er mindestens behauptete, er überließ daher seinen Schwiegervater ganz der Leitung und Fürsorge des Collaborators.

Sei es zufällig oder absichtlich, Reinhard ging nie mit dem Wirth, der natürlich in seiner Bauerntracht erschienen war, bei Tage über die Straße. Lorle glaubte, er ahne und fürchte eine unangenehme Auseinandersetzung und wolle dieselbe vermeiden, sie hatte nichts dagegen einzuwenden; daß er sich des Bauern schämen könnte, kam ihr nicht entfernt in den Sinn.

Der Collaborator war ganz glückselig den Wadeleswirth überall geleiten zu können, er erfreute sich nicht nur an dem körnigen naturkräftigen Sinne des Mannes, sondern er wollte auch vor sich und vor Andern beweisen, wie sehr er sich dem Volke nahe fühle; er versuchte sogar Arm in Arm mit dem Wirth zu gehen, was dieser aber als unbequem ablehnte. Der Wirt fand den Gelehrten in der Stadt auch viel schlichter und natürlicher als damals im Dorfe, er war daher auch ganz harmlos gegen ihn und sagte einmal: »Es ist mir doch allemal, wenn ich nach der Stadt da komm', wie wenn ich umfallen müßt'; es ist Alles so eben (flach), es sind keine Berg' da, wo ich mich d'ran halten kann.« –

[278] Der Collaborator erfreute sich an dieser eigenthümlichen Empfindungsweise des Bergbewohners, aber er hatte gelernt, nicht alsbald auf Alles eine Gegenbemerkung zu machen, wodurch der lautere Erguß gehemmt oder in eine andere Richtung gelenkt wurde.

Der Landtag ward gerade wiederum versammelt, der Collaborator brachte seinen Schützling in die Gesellschaft der freisinnigen Abgeordneten. In der ganzen Stadt und zumal »höheren Orts« wurde es übel vermerkt, daß der Collaborator als Staatsdiener, der noch dazu jeden Tag seine endliche Ernennung zum Bibliothekar mit Gehaltserhöhung erwarten durfte, sich offen der ständischen Opposition anschloß; er kümmerte sich aber wenig um die ihm hierüber zugehenden Andeutungen. War nur irgend ein Bedenken berechtigt über den Anschluß an Männer, die auf dem Boden der Verfassung stehend gegen Regierungsmaßregeln kämpften und Normen für die Zukunft feststellten? War er ein Diener der Minister oder des Staates? – Der Wadeleswirth, aus dessen Bezirk ein Regierungsmann gewählt war, wurde dennoch von dem angesehenen Haupt der Opposition mit besonderer Auszeichnung behandelt, weil er nicht nur als freisinniger Wahlmann bekannt war, sondern in ihm auch eine Bürgschaft für die zukünftige Besserung des verlorenen Wahlbezirks liegen konnte. In dem rührigen, ernsten und heitern Leben, das in dieser Gesellschaft den Wadeleswirth umgab und wo er andächtig zuhörte, vergaß er fast ganz, warum er eigentlich nach der Stadt gekommen war; überdieß sah er jetzt wohl ein, daß hier nichts von seiner Seite [279] geändert werden könne, und so war er froh, doch in der Betheiligung an den allgemeinen Landesangelegenheiten eine Erhebung zu finden. Der Collaborator sprach mit seinem Schützling viel über Staatsverhältnisse, aber voll von dem Gegenstande, den er eben jetzt in seiner Schrift behandelte, konnte es auch nicht fehlen, daß er oft darauf zurückkam, man müsse zunächst und vor allem die wahre Religion wieder herstellen und dem »Pfaffenthum den Treff geben«.

»Ich hätt's nicht glaubt,« entgegnete der Wadeleswirth, »daß Ihr so fromm seid; aber lasset doch in Gottes Namen die Pfaffen in Ruh, da ist nicht gut anrühren und die gelten eigentlich doch nur bei den Weibsleuten. Jetzt müssen wir weniger Steuern, müssen Schwurgerichte und Landwehr haben, das ist jetzt die Hauptsach'.«

Trotz aller Bitten Lorle's hatte sich der Vater nicht bewegen lassen bei ihr zu wohnen, er blieb bei einem alten Bekannten, einem Bäcker, der ihn bisweilen beim Fruchteinkaufe besuchte und der zugleich eine Wirtschaft hielt; Lorle mußte oft mit ihm dahin gehen, und sie saßen dann nicht in der Wirthsstube, sondern im Backstüble bei der Familie. Lorle war voll Freude, hier Menschen zu finden, einfach und offen wie daheim, voll rüstiger Thätigkeit im Haus und im Feld. Der Wadeleswirth empfahl noch seinem Gastfreund, er solle Lorle beistehen und ihr geben was sie verlange, und sie versprach öfters zum Besuche bei der Bäckerfamilie zu kommen.

Die Stunde der Abreise nahte. Lorle konnte den[280] Gedanken nicht los werden, daß sie auf lange Abschied nehme und ihren Vater vielleicht nimmer wiedersehe; sie sagte daher bei der letzten Handreichung: »Pfleget Euch nur auch recht gut, daß Ihr gesund bleibet und machet Euch wegen meiner keinen Kummer.«

»Närrle,« erwiderte der Vater; »ich sterb' noch nicht, und wenn ich sterb', du kannst ruhig sein, du hast mir mit Willen dein Lebtag keinen traurigen Augenblick gemacht.«

Lorle weinte.

»B'hüt dich Gott!« sagte der Vater in einem gewaltsam starken Ton, »und komm auch bald auf Besuch.«

Er stieg auf das Wägelchen des Bäckers, mit dem er halbwegs fuhr, wo ihn dann der Martin abholte.

Lorle lebte nun wieder in ihrer alten, ruhig stillen Weise. Die beiden Freunde aber waren in großer Aufregung.

Eine soeben erschienene Zwanzigbogenschrift brachte die ganze Stadt in Aufruhr. Sie hieß: »Die Sonntagsteufel mit den weißen Bäffchen, oder ein Schuß in's Schwarze, von Adalbert Reihenmaier.« Die Vorrede lautete: »Leser, auf zwei Worte! Ich will die Religionsheuchelei an's Messer der Oeffentlichkeit liefern. Ich will die Versteinerungen im Moraliencabinet ordnen. Komm mit.«

Der Collaborator, der ehedem die Ansicht gehegt hatte, man müsse die ganze heutige Welt radical in sich verfaulen lassen, hatte nun doch an das Bestehende angeknüpft, da er zur Einsicht gelangt war, daß jene [281] Erhabenthuerei blos eine Maske der Trägheit und Selbstgefälligkeit ist.

Die Tiefe und Selbständigkeit der philosophischen und geschichtlichen Forschung war in der Schrift unverkennbar, Manches aber nahm sich seltsam aus; denn es waren nackt hingestellte Ergebnisse langer Besprechungen oder weitläufiger innerlicher Denkprozesse, nur für denjenigen vollkommen klar, der den Collaborator kannte. Daneben waren dann wieder Sätze wie Dolche aus zusammengeschweißtem und gehämmertem Stahldraht. Ein Kapitel: »Adam Kadmon, oder die Urmenschen an der Spitze der Geschichtsepochen«, in dem der Verfasser seine Ansichten von der Erlösung darlegte, wurde von Oberflächlichen als mystisch bezeichnet, weil darin die Wiedergeburt der Menschheit durch die reine Natur erklärt werden sollte. Wir kennen einige Grundlinien dieser besondern Anschauung aus der Art, wie der Collaborator das Wesen Lorle's gegenüber den Culturbestrebungen ansah. So weit ab in die Tiefen des Geistes und der Geschichte sich diese Erörterung verlief, kann sie doch wohl durch jene Betrachtung angeregt worden sein; denn wer weiß, aus welchen scheinbar fernliegenden Anregungen der schöpferische Geist seine Gebilde schafft und seine Erkenntnisse den Anfang nehmen.

Wo sich die Schrift dem unmittelbaren Leben zuwendete, gelangte sie zu einem Schwunge, der sich mit dem prophetischen vergleichen ließ; hier loderte der Eifer gegen die Verunstaltung und die Blindheit, die aus dem Beseligendsten und Befreiendsten eine Jammerschule und eine Sklavenkette macht. Eben dies erregte den [282] heftigsten Zelotismus gegen den Verfasser. Von den Kanzeln herab wurde gegen den ruchlosen Gottesleugner gepredigt und zugleich alsbald eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet. Jetzt lebte jene alte Notiz in dem geheimen Buch und das Aktenfascikel 14263 wieder auf; die Schrift und jene Thatsache wurde zur Fangschnur gedreht: der Collaborator wurde wegen Atheismus angeklagt.

Die rechtsgelehrten Freunde erboten sich, ihn juristisch zu vertreten, er lehnte es ab, und die Vertheidigungsschrift, die er einreichte, ward zur neuen Anklage. Dennoch ging er so frei und froh umher, wie noch nie. Was kümmerten ihn die scheelen Blicke und das Fingerdeuten auf den vordem Unbekannten, Unangefochtenen? Er glaubte erst jetzt sich selber achten zu dürfen. Nur der unbeschreibliche Jammer seiner Schwester Leopoldine that ihm weh. Vor der Schwelle einer gesicherten Zukunft hatte der Bruder sich selber den Weg abgegraben, das konnte die treue Gefährtin nicht verschmerzen. Sie hatte Gönnerinnen genug und lief von Haus zu Haus mit Bitten und Klagen, bis sie erfuhr, daß es sich zugleich auch darum handle, den eben von der Universität zurückgekehrten Sohn des Consistorial-Direktors in die zu erledigende Stelle einzuschieben. Von diesem Augenblicke an hörte man kein Klagewort mehr von ihr. Mit einer bewundernswerthen Stärke und Seelenruhe ließ sie nun Alles kommen und war freundlich gegen den Bruder, in dem sie ein Opfer der Familienränke sah.

Lorle suchte jetzt Leopoldine wieder auf und sah mit tiefer Reue, wie unrecht sie gegen diese gehandelt hatte, [283] die jetzt in Schmerz und Noth ihre Hochherzigkeit und ihren liebevollen Geist offenbarte. Auch Leopoldine erkannte nunmehr das gesunde Herz und die Zartheit Lorle's. Diese sagte einmal: »Ich glaub's nicht, aber wenn's auch wahr ist, daß der Herr Reihenmaier was Sündliches geschrieben hat, da wird ihn unser Herrgott schon strafen und besser machen; was geht das das Consistore an? Da kann kein König und kein Kaiser was machen, das muß Gott selber wieder in Einem zurecht bringen. Aber der Bruder ist ja so gut, er beleidigt ja kein Kind!«

Die Oberbehörden hatten andere Grundsätze, der Collaborator wurde durch ein beispiellos rasches Erkenntniß als Gotteslästerer zu sechs Monaten Gefängniß verurtheilt und demzufolge seines Amtes entsetzt. Er recurrirte an das Gesammtministerium.

Reinhard war eines Abends »en petit cercle« beim Prinzen, die Eingeladenen standen in einer Gruppe im Empfangsaale und harrten nach der Hofweise des Einladenden.

Unversehens kam die Rede auf das Buch des Collaborators; ein junger Engländer bemerkte: »Solche Frechheiten darf man nie und nirgends dulden, das schamlose fade Buch sollte an den Galgen genagelt werden.«

Reinhard hielt an sich und sagte nur mit ironischem Lächeln: »Sie zürnen, weil der Verfasser die Engländer das gottloseste Volk der Erde nennt, Sonntagschriften, die allsabathlich ihrem Lordsgott langbeinige Reverenzen machen, während sie in der Woche lieblos gegen die eigenen niederen Stände und egoistisch gegen alle Welt sind.«

[284] »Ich bewundere Ihre glückliche Gabe, es giebt Menschen mit einer besondern Anziehungskraft für Paradoxen und Trivialitäten,« entgegnete der Engländer.

Reinhard biß die Lippen aufeinander und faßte krampfhaft seinen Rockschoß, als packte er den kecken Schwätzer, der jetzt fortfuhr: »Der aberwitzige Verfasser versteht kein Wort von Philosophie.«

»So?« fuhr Reinhard fort, »also auch darüber wagt Ihr abzuurtheilen? Wo sich der deutsche Geist irgend in seiner Kraft äußert, da wagt Ihr's, ihn zu bespötteln. Mag die ganze vornehme Welt vor Euch krummbuckeln und der Affe Eurer Gentlemans-Rohheit sein, es giebt noch etwas Höheres« –

»Seine königliche Hoheit!« hieß es plötzlich als eben der Comte de Foulard beschwichtigend sich einmengen wollte; die Gruppe zertheilte sich schnell und bildete zu beiten Seiten Fronte, durch die der Prinz begrüßend schritt.

Wie war jetzt Alles plötzlich gedämmt! Die Gräfin Mathilde hatte wahr gesprochen, als sie einst gegen Reinhard bemerkte, daß die Etikette und die gesellschaftliche Form überhaupt den individuellen Tact oft ersetzen müsse.

In mancherlei abliegenden Gesprächen suchten die Engländer, die sogleich gemeinschaftliche Sache machten, Reinhard zu reizen, ohne daß er in Gegenwart des Prinzen ihnen erwidern konnte; Reinhard fand indeß einen unerwarteten Beistand in dem Oberleutnant und Kammerjunker Arthur von Belgern, dem Vetter der Gräfin Mathilde.

[285] Als man die Gesellschaft verließ, sagte Belgern zu Reinhard: »Sie haben zwar dem ganzen Hofkreise den Handschuh hingeworfen, indeß erbiete ich mich gern zu Ihrem Secundanten. Es empört mich und Viele mit mir schon lange, welche Anmaßungen den Fremden bei Hofe gestattet werden; durch einige Mäßigung hätten Sie sich, ich darf wohl sagen, den besten Theil der Gesellschaft zu Dank verpflichtet.«

Reinhard war es aber durchaus nicht darum zu thun gewesen, eine Partei zu gewinnen oder sich eine Coterie zu verpflichten; er hatte seinem Ingrimm Luft gemacht, und es that ihm nur leid, daß es nicht noch kräftiger geschehen war. Mochte seine Beziehung zum Hofe sich dadurch lösen, es war ihm erwünscht.

Als die Ausforderung nun andern Morgens eintraf, nahm er sie mit Freuden an, ließ sich aber nicht von Belgern, sondern von einem jungen Rechtsgelehrten secundiren und schoß seine erste Kugel dem Gegner durch das rechte Schulterblatt.

Das Duell erregte gewaltiges Aufsehen in der ganzen Stadt; es wurde indeß vertuscht, aus Rücksicht für den Ort wo es angesponnen, und weil man überhaupt gern Aufsehen vermied und Ignoriren in diesen wie in höheren Beziehungen als höchste Staatsklugheit gepriesen wird.

Lorle erfuhr die ganze Sache erst mehrere Tage später zufällig von Leopoldinen; sie schauderte vor dem was geschehen war und daß Reinhard ihr es verhehlen konnte. Sie begriff diese Welt nun gar nicht mehr: dort ein braver Mensch der Gottesläugnerei [286] angeklagt; hier ihr eigener Mann, der sein Leben auf's Spiel setzte, wie einen Rechenpfennig. Sie ging mehrere Tage umher und sah allen Leuten verwundert in's Gesicht, als wollte sie sie fragen, ob denn die Welt bald untergehe?

In Reinhards Gegenwart war sie oft zerstreut und dann sah sie ihn wieder mit einem flehenden Blick an, der dringend bat: erzähl' mir doch Alles, ich kann nicht begreifen wie du dein Leben, das doch mir gehört, vor die Mündung einer Pistole setzen konntest, ohne mir Etwas davon zu sagen; und auch jetzt noch, da du der Gefahr entronnen, höre ich kein Wort. Bin ich denn gar nicht mehr da?

So sah sie ihn oft starr an und Keines redete eine Silbe.

Lorle half Leopoldinen so viel sie konnte, aber die Wackere und Starkmuthige war selten zu Hause; sie ahnte was kommen konnte, und um gegen jede Fährlichkeit gesichert zu sein, begann sie nun wieder ihr Putzgeschäft einzurichten.

In dem Hause des Bäckers, wohin Lorle ihrem Versprechen gemäß jetzt bisweilen ging, fand sie meist Erholung; hier war ein Leben voll Arbeit und Heiterkeit, man wußte hier so wenig von dem Wirrwarr, der da drüben in den anderen Kreisen herrschte, als läge diese Welt fern über'm Meere. –

Lorle, die sonst immer zu Hause geblieben und in sich selber Ruhe gesucht hatte, ging jetzt öfter aus, sie wollte sich vergessen, eine gewaltige Unruhe störte sie auf; sie war wie ein Vogel, der den Baum [287] zur Erde gefällt sieht, auf dem er sein Nest gebaut hatte. –

Das Gesammtministerium bestätigte die Amtsentsetzung des Collaborators, jedoch ward ihm die Gefängnißstrafe erlassen. In dem kleinen Bierstübchen wurde »der Geburtstag des Privatmenschen Reihenmaier« würdig gefeiert. Der Neugeborne hielt sich selber die Rede, in welcher die bemerkenswerthe Stelle vorkam: »Sie irren sich, die Herren, sie wollen uns zu Lumpen machen, um dann ausrufen zu können: Seht Ihr's. Nur die Taugenichtse sind unzufrieden! Wir wollen's ihnen zeigen.«

Von dieser Zeit an studirte er emsiger als je. Viele glaubten, daß er mit einer neuen, noch nachdrücklicheren Schrift hervortreten werde; aber er behauptete, nicht zum Schriftsteller zu taugen. Er gab sich nun ganz seiner Lieblingswissenschaft, der Geologie hin. Scherzend sagte er einst zu Reinhard: »Ich bin ein Stück Prometheus, auf den Felsen verwiesen weil ich einen Funken Licht vom Himmel auf die Erde gebracht; aber ich bin nicht gefesselt und ich lasse mir das Herz nicht aushacken.«

Reinhard war nicht nur bei Hofe, sondern auch, wie ihm die Freunde erzählten, fast in der ganzen Stadt in Ungnade gefallen. In der Residenz, die wesentlich aus Beamten und Militär bestand, und wo es an natürlichen Erwerbsquellen mangelte, hatte sich bereits jenes Verderbniß der Badeorte eingenistet, daß Viele faullenzend von der Vermiethung ihrer Wohnungen an Fremde lebten, und wie sie sich vor denselben in kleine Stübchen zurückzogen, so ihnen auch sonst in Allem Unterthänigkeit [288] bewiesen. Die Engländer hatten in Mißmuth fast sämmtlich die Residenz verlassen und Reinhard ward nun in den Augen Vieler ein Aergerniß. So wenig ihn alles dieß berührte, empfand er doch eine prickelnde Unbehaglichkeit in allen seinen Verhältnissen. Lorle litt dabei am meisten, denn er sagte oft im Unmuth: »Ich gehe zu Grunde, wenn ich hier bleibe, ich kann nicht hier bleiben und will und muß doch.« –

Lorle wußte gar nicht was sie beginnen sollte, sie bat, daß sie nach einer andern Stadt ziehen möchten; aber das wollte Reinhard wieder nicht.

Mitten in diesem Wirrwarr traf Lorle eine schwere Nachricht: ihr Vater war plötzlich am Schlage gestorben. Nachdem sie sich sattsam ausgeweint hatte, war sie wunderbar gefaßt; sie ging tagtäglich nach der Kirche, um für den Verstorbenen zu beten. Leopoldine stand ihr getreulich bei in ihrem Kummer. Als sie ihr einst durch Erinnerung an eigenes Mißgeschick Trost zusprechen wollte, sagte Lorle: »Er ist jetzt todt, aber mir ist's, wie wenn er nur weiter weg wär', wo man eben nicht hinkommen kann bis Gott Einen ruft, ich denk' jetzt g'rad an ihn wie wenn er noch da wär', für mich ist's eins; ob man so weit oder so weit voneinander ist, das ist gleich. Es thut mir nur leid, daß er nichts mehr von dieser Welt hat, er hat aber die andere dafür; mich dauert nur mein' Mutter, mein' gute gute Mutter.«

Reinhard kam immer seltener und immer flüchtiger nach Hause, er vollführte ohne Unterlaß seine Aufträge für den Hof; er setzte einen Stolz darein, zu zeigen[289] daß ihm die Ungnade nicht nahe gehe und er Großmuth zu üben wisse. – In den Feierabenden begann er sich auf traurige Weise zu betäuben.

Lorle fühlte ein fast unbezwingbares Heimweh, und doch wollte sie nicht auf einige Tage zur Mutter; sie fürchtete das Wiedersehen, den Abschied und die Rückkehr. Oft war's ihr wie einem Vogel, der die Flügel regt, aber sich nicht aufschwingen kann. Im Traume kam es ihr vor, als hätte der Bach ihres heimatlichen Dorfes eine Gestalt gewonnen und zöge und zerrte an ihr, daß sie heimkehre.

Eines Abends im Herbste saß sie am Fenster und sah den Schwalben zu, die jetzt hastiger durch die Luft schossen, im Fluge zwitscherten und sich grüßten; Lorle breitete unwillkürlich die Arme aus, sie wünschte sich Flügel, sie wollte fort, sie wußte nicht wohin. Die Dämmerung brach herein, die Abendglocke läutete, Lorle konnte nicht beten, sie saß im Dunkel und träumte: sie läge tief in der Erde eingeschlossen und nimmer tagt's. Da erwachte sie und hörte eine Stimme auf der Straße, die in schwerem, langem Klageton rief: Sand! Sand! Sand!

»Ach Gott!« dachte Lorle, »der Mann will noch nicht heim, er kann seinen Kindern kein Brod bringen für den Sand, den er feil bietet.« Sie ging hinab und kaufte dem Manne seinen ganzen Wagen voll Sand ab, so daß für Jahr und Tag vorgesorgt war. Der abgehärmte heisere Sandverkäufer dankte ihr mit Thränen in den Blicken. Sie ging nun wieder in die Stube und malte sich das Glück der Familie aus, [290] wenn der Vater heimkam und Brod und Geld mitbrachte. Zu sich selber sprach sie dann: »Du bist doch undankbar, du hast's so gut, hast dein täglich Brod, und dein Mann läßt dich über Alles Meister sein. Ach, er ist ja so gut. Wenn ich ihm nur helfen könnt'.«

Sie nahm ihr Gebetbuch und betete; sie mußte herzstärkende Worte gelesen haben, denn sie küßte die Blätter des Buches und legte es zu.

Wie viele inbrünstige Küsse lagen schon in diesem Buch eingeschlossen!

Lorle faßte den Entschluß, heute zu warten bis Reinhard heimkäme; sie mußte ihm wieder einmal ihr ganzes liebendes Herz offenbaren. – Stunde auf Stunde verrann, er kam nicht; sie hatte wieder das Gebetbuch ergriffen und Gebete und Gesänge für alle möglichen Lebensfälle gesprochen und leise gesungen; sie rieb sich oft die Augen, aber sie blieb wach.

Welch ein eigenthümlicher Weltzusammenhang offenbarte sich ihr jetzt. Die Gedanken der Menschen in den verschiedensten Lebensverhältnissen waren jetzt durch ihre Seele gezogen, und alle und überall seufzten sie auf und streckten die Hände empor. Könnt ihr euch nicht retten und emporschwingen?

In diesem Gedanken saß Lorle da und starrte hinein in das Licht.

Mitternacht war längst vorüber, als sie Reinhard die Treppe heraufkommen hörte; sie wollte ihm entgegengehen, aber doch hielt sie's für besser, ihn in der Stube zu erwarten. Jetzt öffnete sich die Thür. Verhülle dich [291] Auge! Ein Schreckbild, das einst im Scherz dich so gepeinigt – es wird zur Wahrheit.

»Lieber Reinhard, was ist dir?« rief Lorle entsetzt.

»Laß mich, laß mich,« antwortete Reinhard mit schwerer, lallender Zunge; er that einen Schritt vor und taumelnd stürzte er auf den Boden.

Lorle schrie nicht um Hülfe, sie hatte seinen Zustand erkannt und warf sich neben ihm auf den Boden, sie schaute dann mit gläsernem Blick umher und konnte nicht weinen. Eine Göttererscheinung, zu der sie anbetend aufgeschaut hatte, war in den Staub gesunken. »Wer hat das verschuldet? Er, ich oder die Welt? ...«

Endlich stand sie auf, holte ein Kissen und legte es Reinhard unter den Kopf; er hob einen Arm und ließ ihn matt wiederum sinken.

In dunkler Kammer hatte sich Lorle über das Bett geworfen, kein Schlaf berührte ihre Augenlider, ihre Gedanken wurden wie von nächtigen Geistern wirr durcheinander gejagt und Bilder, die kein Wachen schauen kann, umgaukelten sie. Der Tag graute. Als fühlte sie das Nahen des Morgens, stand sie auf, Reinhard lag noch in ruhigem Schlafe. Sie kleidete sich sorgfältig an, nahm ihr Gebetbuch, öffnete es aber nicht, sondern steckte es zu sich; was sie jetzt vorhatte, kam zunächst aus der Entschiedenheit ihres Charakters, aus ihrem selbständigen Entschluß. Vom Abend her lag noch eine geklärte Ruhe auf ihrer Seele und eine Zuversicht die aus der Tiefe des eigensten Lebens kam, spannte ihr ganzes Wesen; sie schwankte keinen Augenblick in ihrem Beginnen. Eine Weile stand sie mit [292] gefalteten Händen vor Reinhard, dann verließ sie die Stube und ging die Treppe hinab. An der Flurthüre des Registrators lauschte sie, Alles war still. »B'hüt euch Gott ihr lieben Kinder,« hauchte sie an die Scheibe und verließ rasch das Haus.

Der Bäcker war höchlich erstaunt, als Lorle ihn bat augenblicklich einspannen zu lassen, um sie nach Hause zu fahren; er willfahrte indeß ohne Zögern und da kein Knecht zu Hause war, übernahm er selbst den Fuhrmannsdienst. Lorle nahm nicht nur kein Frühstück, sondern duldete nicht einmal, daß der Bäcker auf dessen Bereitung wartete.

Als sie an der Kaserne vorbeifuhren, stand ein Tambour dort und schlug die Tagwacht; es war Wendelin, er ahnte nicht, wer im Morgenduft an ihm vorüberzog.

Wenige Stunden darauf erhielt Reinhard durch einen Boten folgenden Brief:


»Ich sage dir Lebewohl, lieber Reinhard, ich gehe wieder heim zu meiner Mutter, ich hab's wohl bedacht, aber ich geh'. Ich danke Dir viele tausendmal für all' das Liebe und Gute auf dieser Welt, was ich durch Dich gehabt hab'. Ich bin ein' schöne Zeit glücklich gewesen. Gott ist mein Zeug', wenn ich's heut' nochmals zu thun hätte und ich wüßt', daß ich so lang in Schmerzen verleben muß, ich thät's doch wieder und ging' mit Dir. Es ist doch ein' schöne Zeit gewesen.

Laß es bleiben, daß Du mich zu dir zurückbringen willst, das geschieht nimmer und nimmermehr; es ist gut so für Dich, und mit Gottes Hülfe auch für mich.[293] Wenn Du mir mein Bett und die zwei blauen Ueberzüge schicken willst, von Allem andern will ich nichts mehr sehen.

Du mußt wieder in die weite Welt und ich geh' heim. Du wirst Deinen Kummer schon wieder vergessen, vergiß meiner aber doch nicht ganz. Lebe wohl und ewig wohl. Bis in den Tod Deine getreue

Lore Reinhard.


Laß der Bärbel noch ein steinern Kreuz setzen, wie Du versprochen hast. Lebe wohl und ewig wohl. Deine Getreue.

Verzeihe, das Papier ist naß geworden, ich habe darauf geweint. Lebe wohl und lebe ewig wohl.«

Und dann

Und dann?

Der Collaborator ist als Theilhaber einer Mineralienhandlung auf Reisen. Wer weiß, in welchem Bergwerk er jetzt hämmert und gräbt. Wir dürfen ihm Glückauf zurufen und sicher sein, daß er wieder den Weg an's Licht findet.

In Rom fragte die Frau des Kammerherrn Arthur von Belgern, geborene Gräfin Mathilde von Felseneck, angelegentlich nach dem Maler Reinhard, der seine Stellung in der *schen Residenz aufgegeben und sich hieher gewendet hatte; sie hörte nur, daß er selten nach der Stadt käme, sich meist in der Campagna umhertreibe und dort il Tedesco furioso heiße.

[294] Durch das Dorf geht eine Frau in städtischer Kleidung, von Jedermann herzlich begrüßt, und fragt ihr, wer sie sei, so wird euch Jeder mit dankendem Blicke sagen, daß sie der Schutzengel der Hülfsbedürftigen ist. Und ihr Name? Man nennt sie die Frau Professorin.

[295]

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TextGrid Repository (2011). Auerbach, Berthold. Erzählungen. Schwarzwälder Dorfgeschichten. Dritter Band. 2. Die Frau Professorin. 2. Die Frau Professorin. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-13EA-2