In einem Gedenkbuche
Dem »Kaiserlichen Rathe« S gewidmet

Peter Altenberg, was wirst Du einschreiben in das Gedenkbuch der Sommer-Villa?! Wieder eine Deiner schrecklichen Sachen, mit Perspectiven, man weiss nicht wohin?!

Nein, er wird eine einfache geradlinige Sache schreiben in das Gedenkbuch des Herren Kaiserlichen Rathes:

»Der Herr Kaiserliche Rath«!

In wunderbar elastischen Ausdrücken wie Kautschuk hat man ihn bisher dargestellt: »Ein hochachtbarer Character«, »ein merkantiles Genie«. So sind die »Essays« der bürgerlichen Gesellschaft.

»Er hat seine Eigenheiten« und »glaubst Du, dass er bequem zu behandeln ist?!« und »oh, der – –!«

Aus einer vollblütigen, sicher und aus aufgestapelten Kräften von Jahrhunderten heraus funktionirenden Zeit ragt er einfach herüber in die complicirten und beschwerlichen Entwicklungs – Perioden eines neuen und noch ziemlich unbestimmbaren Daseins. Das macht ihn ein bischen unruhig, schüchtert ihn gleichsam ein, erzeugt Conflicte.

[37] Siehe! Alle seine Organe functioniren wie selbst verständlich aus Gewohnheiten von Jahrtausenden in sicherem heilsamem harmonischem Tempo, während er die Desorganisation der neuen Seelen wehmütig und ein wenig erstaunt miterlebt. »Was geht in Euch vor?! Habt Ihr Nahrungs-Sorgen?!«

Bald functionirt bei diesen Menschen alles in rasendem Tempo, sich ungeheuer überstürzend, bald wie ersterbend, hinfällig.

Das kränkt ihn.

»Warum alles verwickeln?!« denkt er, »Arbeitet

Ein ganz natürlicher Mensch ist er überhaupt, hat den Faden nicht verloren. Aus dieser nicht besonderen Eigenschaft entspringt jedoch ein Gegensatz, ein Missverständnis und unenthüllte Bosheiten mit allen Menschen, mit welchen man verkehrt.

»Könnt ihr nicht natürlich sein?! Es ist das Natürlichste von der Welt!« Anders versteht er es nicht, lässt sich nicht ein. Aber alle schreit er gleichsam an: »Könnt Ihr nicht natürlich sein?!« Nein, sie können es nicht, möchten sich selbst übersteigen, wären nicht zufrieden mit ihren eigenen Natürlichkeiten.

Einmal sagte er zu einer jungen Dame: »Kleines Fräulein, Ihr Lachen kommt nicht von dorther, woher es kommen sollte. Es sitzt zu hoch oben. Glauben Sie es mir. Überhaupt, schrecklich.«

Ziemliche Verlegenheiten entstehen durch solche Dinge. Man möchte solche Sätze ausradiren, mit Tusche überziehen oder in Trommelwirbel ertränken.

[38] Vollkommen bedürfnislos ist er, sieht mit Staunen die unerhörten Ansprüche der anderen an das Leben.

»Ansprüche an das Leben?! Mein Gott, ich glaubte, es habe Ansprüche an uns

Einmal äussert er: »Alle unsere Kräfte haben wir aufgewendet, um diesem feindseligen Dasein beizukommen! Sind wir unverbrauchtes Kapital?! Womit sollten wir jetzt ›Mond-Nächte‹ geniessen, für ›neue kommende Welten‹ eintreten?! Gebt Ruhe! Aus unseren Verlusten erblühen erst die ›schwärmerischen Menschen‹ und ihre Überschüsse! Wer waren wir?!Bismarcke unserer eigenen Lebensthätigkeiten! Umsichtige, Rücksichtige, Vorsichtige waren wir, Kraftvolle, Erbauer, Vereiniger, Zusammenhalter, Grundsteinleger des Gebäudes!! Setzt man vielleicht solchen Monumente?! Vergesst uns!«

Siehe! Damals lebte man und kämpfte! Ein Einiger war man wirklich seiner eigenen Reiche, kein Zersplitterer! Jeder führte sich selbst zur Kaiser-Krönung, hatte Achtung vor seiner eigenen Dynastie in ihm!

Dennoch lauscht der Herr milde, ein wenig betroffen, den Verkündigungen neuer Gesetze der zarteren Generationen. Ein bischen aus seiner Ruhe kommt er, lässt sich ein in Debatten, welchen er nicht gewachsen ist, kann nicht leichthin zugeben, dass diese alte wohlgeordnete gesicherte Basis des Lebens umgestossen und missachtet werde durch [39] stürmische Empfindungen von obenauf, durch schreckliche Phrasen von »anbrechenden Morgenröthen«!

Und dennoch! Wie weit wagt er sich manchmal vor, mit Euch, Ihr Jungen, die neuen Wege! Die, die den Tritt des weisen Wanderers fordern! Einmal sagt er beim Souper: »Jawohl, die Schönheit einer Frauen-Hand ist eigentlich beglückender als die Schönheit einer Frauen-Seele!« Alles war starr und ziemlich entrüstet über dieses brutale Paradoxon. Er aber blickte die Piquirten an, schlug die Augen nieder wie verlegen, versank in nachdenkliches Schweigen.

Überhaupt, wie in anderen Räumen befindet er sich oft, wie über Unbegreiflichkeiten des Lebens grübelnd, wie auf den Kopf geprackt von Unerwartetem, zusammengepfercht mit Gegensätzlichem, lebensunfroh. Wenn er aufbegehrt, sich emotionirt, ist es wie ein Tyrann, der machtlos geworden ist, roth wird auf seinem goldenen Throne und in leere Krönungssäle schreit.

Wie ein störendes prasselndes irritirendes Unwetter entladet sich manchesmal dieses neue ungeschickte, mit überflüssigen Emotionen angefüllte Leben der neuen Generationen, der »anbrechenden Morgenröthen« über ihn, Geschosssalven der neuesten Patente aus gedeckten Stellungen und er sucht Schutz bei den alten Göttern: Pflicht, Treue, Gehorsam!

Sein kristallreiner Verstand sieht wie Kassandra kommende Débacles, erhebt warnende Rufe, die [40] verhallen im Gedränge neuer Zeiten! Dann verstummt er, sitzt in einem Lehnstuhle auf der Terrasse, raucht, geht ins kalte Bad, erwärmt sich wieder durch Spaziergänge, kehrt zurück, sitzt auf der Terrasse, versinkt – – –.

Die »Essays« der bürgerlichen Gesellschaft lauten: »Er hat seine Eigenheiten« und »Glaubst Du, dass er bequem zu behandeln ist??« und »oh, der – –!?«

In seinem Lehnstuhle auf der Terrasse sitzt der Bismarck seiner eigenen Lebensthätigkeiten, verdrängt von den jungen stürmischen Königen, späht vergeblich aus nach den »anbrechenden Morgenröthen«!

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Das stand im Gedenkbuche der Sommer-Villa.

Zwei Tage nachher war das Blatt herausgerissen, entfernt, verschwunden – – –.

Da standen nun wieder nur mehr endlose freundliche Verse freundlicher Gäste der Sommer-Villa in dem grossen schönen Gedenkbuche, Seite um Seite. Zum Beispiel: »Wer bei Euch Friedevollen weilte – –.«

Der Vater sass auf der Terrasse.

»Was liest Du da?!« sagte er zu seiner bleichen Tochter.

»Rahel Varnhagen von Ense, meine Freundin, meine Heilige, mein Leitstern!« In einer krankhaften Emphase sagte sie das. Dann versank sie in Nachdenken über sich selbst. »No, no, rege Dich nur nicht auf, man lässt sie Dir ja, deine Varnhagen oder wie sie heisst – – –!« sagte der [41] Vater. Dann kam der junge Uhlane, küsste den Papa auf die Stirne. »Und ich werde meine Tonietta dennoch zu mir erheben« sagte er. »Zu mir erheben – – –« wiederholte er, wie wenn er damit die »anbrechenden Morgenröthen« ankündigte!

»Jawohl,« erwiderte der Vater resignirt und händigte ihm eine grössere Note ein für die Dame, die er zu sich erheben würde.

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TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Was der Tag mir zuträgt. In einem Gedenkbuche. In einem Gedenkbuche. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-DA57-9