[EAI:f][EAI:e][EAI:d][EAI:c][EAI:b]

Poetik.

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Die Gesetze der Poesie
in ihrer
geschichtlichen Entwicklung.



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Ein Grundriß
von
Eugen Wolff.


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Oldenburg und Leipzig, 1899.
Schulzesche Hof-Buchhandlung und Hof-Buchdruckerei.
A. Schwartz.

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Exemplare in feinen Original-Einbänden sind mit geringem

[EAI:a][RI]

Poetik.

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Die Gesetze der Poesie
in ihrer
geschichtlichen Entwicklung.



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Ein Grundriß
von
Eugen Wolff.


[figure]

Oldenburg und Leipzig, 1899.
Schulzesche Hof-Buchhandlung und Hof-Buchdruckerei.
A. Schwartz.

[RII]

Das Recht der Uebersetzung ist vorbehalten.

[RIII]

Vorwort.


[figure]

Die Eigenart dieser Poetik ist bereits im Titel ausgesprochen: Wenn
ich nicht Regeln für die Poesie der Zukunft, sondern Gesetze in
der Poesie der Vergangenheit suche, dürfte ich aus wissenschaftlich
ernst zu nehmenden Kreisen Widerspruch kaum zu befahren haben.
Die Geschichtlichkeit des Geisteslebens, die geschichtliche Begrenztheit
aller geistigen Erscheinungen ist namentlich von Hegel zu grundsätzlicher
Anerkennung gebracht worden, nur daß gewaltsame Konstruktionen
die folgerechte Durchführung vereitelten. Auf dem Gebiete der
Poetik hat Wilhelm Dilthey mit Verwirklichung dieses Gedankens
Ernst gemacht, namentlich in seiner programmatischen Abhandlung
über „Die Einbildungskraft des Dichters“ (in dem Sammelwerk verschiedener
Autoren: „Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller gewidmet“
─ 1887). Die von Dilthey aufgestellte Forderung litteraturgeschichtlicher
Jnduktion zum Zweck psychologischer Ergründung des so
gewonnenen Materials wüßte der Verfasser des vorliegenden Buches
als einzigen Beitrag zur Poetik zu nennen, mit dem sich seine Betrachtungsweise
verwandt fühlt. Obgleich ich glaube, daß die von
mir gewählte Methode eine notwendige Folge des von Dilthey begonnenen
Verfahrens darstellt, muß ich die Verantwortung für geschichtlich
zusammenhängende Betrachtung des litteraturgeschichtlichen
Gesamtmaterials und demgemäß für unmittelbare Entwicklung der
poetischen Gesetze vorerst allein tragen. Dürfte doch jede Jnduktion
ihre letzte Vollendung erst dann erreichen, wenn sie über beliebige
Auswahl und zusammenhangslosen Vergleich ihrer Erfahrungsthatsachen [RIV]
hinaus zu dem inneren Zusammenhang der sei es konformen, sei es
variablen Erscheinungen vorschreitet, ─ zumal die Hauptstufen der
Entwicklung menschlicher Poesie im großen sich so oft nachweislich mit
nur schnellerer Folge in den Litteraturen der Einzelvölker gesetzmäßig
wiederholen.


  Wo es sich um Erhellung der für eine solche Betrachtung immer
besonders wichtigen Anfänge handelt, steht mein Verfahren wohl dem
weithin auf die heutigen Naturvölker fußenden Vorgehen Diltheys
ferner als einem Verfahren, wie es Hermann Paul zur Erkenntnis
der „Prinzipien der Sprachgeschichte“ anwendet: „Wir haben es
uns,“ erläutert Paul treffend, „zum Gesetz gemacht uns unsere Anschauungen
über die sprachlichen Vorgänge aus solchen Beobachtungen
zu bilden, die wir an der historisch deutlich zu verfolgenden Entwicklung
machen konnten, und erst von diesen aus Rückschlüsse auf die
Urgeschichte der Sprache zu machen.“ An anderer Stelle nimmt
Paul bereits für seine Methode in Anspruch, was ähnlich in vorliegender
Schrift für die Poetik zur Geltung gebracht wird: „Wenn
unsere Betrachtungsweise richtig durchgeführt wird, so müssen die allgemeinen
Ergebnisse derselben auf alle Sprachen und auf alle Entwicklungsstufen
derselben anwendbar sein, auch auf die Anfänge der
Sprache überhaupt.“


  Von ausgeführten Lehrbüchern konnte für meine Zwecke nur die
an litteraturgeschichtlichem Material reiche „Poetik, Rhetorik und
Stilistik“ von Wilhelm Wackernagel bahnweisend wirken. Andererseits
drängten die zusammenhängenden Betrachtungen der Weltlitteratur
von Moritz Carriere, Adolf Stern und Julius Hart immer
entschiedener auf eine systematische Zusammenordnung verwandter Erscheinungen
hin. Daneben war es namentlich die „Griechische Litteraturgeschichte“
von Theodor Bergk, die mich in organischer Auffassung
der Poesieentwicklung bestärkte.


  Die Notwendigkeit des von mir ausgeübten Verfahrens entwickelten
bereits 1890 meine „Prolegomena der litterar=evolutionistischen
Poetik“. Proben der Ausführung erschienen alsdann in der „Zeitschrift
für vergleichende Litteraturgeschichte“ (Neue Folge, Band VI,
S. 423 ff.) sowie in der Beilage der „Täglichen Rundschau“ (Herbst
1897). Jnzwischen sind einige in der erstgenannten Schrift entwickelte [RV]
Gedanken, besonders über die durch die Tragödie bewirkte
Entladung von Leid, statt von dem bisher als Entladungsstoff vorausgesetzten
Mitleid, sowie über die Ausdehnung der Katharsislehre
auf alle poetischen Gattungen, auch von Alfred Freiherr von
Berger zur Aussprache gelangt (vgl. Bergers Abhandlung: „Wahrheit
und Jrrtum in der Katharsis-Theorie des Aristoteles“ in der
Schrift: „Aristoteles Poetik, übersetzt und eingeleitet von Theodor
Gomperz“ (1897). Verwandte Jdeen klingen ferner in Emil Mauerhofs
Abhandlung über „Das Wesen des Tragischen“ (1897) wieder.


  Das letzte Ziel meiner Betrachtung muß bleiben, die Theorie
der Dichtkunst auf einer umfassenden Geschichte der Weltpoesie aufzubauen
─ ich spreche nicht von Weltlitteratur, weil für Erkenntnis
der ästhetischen Gesetze gerade die vorlitterarischen Anfänge nur mündlich
fortgepflanzter Poesie von besonderer Bedeutung sind. Der vorliegende
Grundriß sucht die Poesieentwicklung in ihren Grundzügen
und Hauptmomenten zu zeichnen und damit eine Erkenntnis ihrer
ausschlaggebenden Faktoren, ihrer treibenden Kräfte anzubahnen. Die
äußere Form des Buches nimmt auf Lehrzwecke Rücksicht: besonders
schwebt die Einführung von Lehrern und Studierenden in das Werden
und die Wandlung der Kunstgesetze vor.


  Jndem ich diese Poetik der Oeffentlichkeit übergebe, wage ich zu
hoffen, daß auch diejenigen, deren Weg nicht der meine ist, in der
Lage sein werden, dem größten Teil meiner Ergebnisse zuzustimmen.
Von vorn herein lege ich Gewicht auf die Feststellung, daß die weit
überwiegende Zahl der ästhetischen Forscher die Nachahmungstheorie
als äußerlich und unzureichend aufgegeben haben. Angesichts des
platten, geistlosen, „konsequenten“ Naturalismus in der jüngsten Poesie
ist die geschichtliche Erinnerung heilsam, daß der deutsche Poetiker,
welcher in der Kunst nichts anderes als pedantisch genaue Naturwiedergabe
sah, ─ Gottsched hieß! Dieser Nüchternheitsapostel und
seine Schule sind es, die das Vergnügen, soweit es ihnen Endzweck der
Kunst ist, hauptsächlich aus Wahrnehmung der Aehnlichkeit zwischen
Urbild und Abbild herleiten. Schon Alexander Baumgarten nahm
indes eine besondere Seelenkraft für die Kunst in Anspruch. Die
seitdem vorherrschende Auffassung der Schönheit als eigentliches Ziel
der Poesie ist freilich von der neueren Kunstentwicklung mit Recht [RVI]
als zu eng empfunden worden. Die geschichtliche Entwicklung, wie
sie in vorliegender Poetik verfolgt wird, führt nun zu der Wahrnehmung:
das Erhabene, das Schöne und das Charakteristische
seien auf einander folgende Stufen des Kunststils.


  Soweit die Entwicklung der Poesie geschichtlich verfolgbar, läßt
sich ein allmählicher Uebergang von objektiver Gestaltung zu subjektiver
Vergeistigung erkennen. So vollzieht sich die entscheidende Wendung
vom Epischen zum Lyrischen. Volle Uebereinstimmung wird
herrschen, wo immer wir sorglich zwischen dem Stil der gesungenen
und der litterarisch aufgezeichneten Poesie unterscheiden. Ebenso dürfte
die durchgehende Abstufung des Kunststils nach dem griechischen,
romanischen und germanischen Geiste für sich selbst sprechen. Nicht
minder leuchtet die Scheidung des Dramas nach der antiken und
christlichen Weltanschauung sowie der besondere Beruf des Christentums
für die sittliche Vertiefung der Tragödie ein. Auch das Vorschreiten
des germanisch=reformierten Trauerspiels über das romanischkatholische
sowie weiterhin des deutschen über das englische Trauerspiel
läßt das Walten einer gesetzmäßigen Entwicklung mit nötigender
Beweiskraft erkennen. Auffallend berühren sich bei alledem die Erscheinungen
aus der Verfallzeit der antiken Tragödie mit mancherlei
Zeichen, die im nachklassischen Trauerspiel unseres Vaterlandes hervortreten.
Das deutsche Lustspiel steht dagegen ersichtlich erst in den
Anfängen und hat seine Blüte noch vor sich zu suchen. Ueberhaupt
läßt die Verfolgung der geschichtlichen Entwicklung anschaulich werden,
welche Formen der einzelnen poetischen Arten abgeblüht, welch andre
noch eine organisch reiche Zukunft versprechen.


  Die von mir versuchte geschichtliche Betrachtung des dichterischen
Seelenlebens
führt aus ursprünglicher Simplizität zur
allmählichen Ausbildung der späteren Mannigfaltigkeit und geistigen
Fülle. ─ Die poetischen Figuren erscheinen in diesem Zusammenhang
als natürliche Funktionen des Dichtergeistes, als Ausdrucksformen seines
bildlichen Schauens, seiner plastischen Phantasie. Das ist wieder
ein Punkt, an welchem schon Wilhelm Wackernagel und Wilhelm Dilthey
angesetzt.


  Die der Metrik gewidmeten Betrachtungen konnten nicht über
jede Vers- und Strophenart als Selbstzweck belehren: es galt nur [RVII]
die metrischen Funktionen in ihrer Ausbildung zu verfolgen, die bedeutsamen
Momente in der Entwicklung der poetischen Form als gesetzmäßige
Aeußerungen durchgehender Prinzipien zu erkennen. Diese
metrische Prinzipienlehre führt zu der Wahrnehmung, wie Reim= und
Strophenbildung nur neue Kundgebungen desselben Strebens nach
Bindung der Rede sind, aus dem zunächst die Versform selbst erwuchs.
Als willkommene Wegweiser dienten mir besonders die metrischen
Studien von Rudolf Westphal, Hermann Usener, Eduard Sievers,
Hermann Paul und Friedrich Kauffmann, obschon ich auch hier
stellenweise genötigt war, meine eigenen Wege zu gehen.


  So entschieden sich der ─ besonders in der Naturwissenschaft
durchgeführte ─ Gedanke einer zusammenhängenden und gesetzmäßigen
Entwicklung auch auf unserm geistigen Gebiete bewährt, ist sich der
Verfasser doch bewußt, nichts so sorgsam vermieden zu haben wie ein
willkürliches Herübernehmen naturwissenschaftlicher Anschauungen oder
gar eine rein materialistische Auffassung der Kunst. Darum erscheint
mir ein Ausgehen der Poetik von den Liebeslockrufen der Tiere und
manch ähnliche physiologische Ausdeutung poetischer Funktionen unerlaubt,
ja im Gegensatz zu einer wahrhaft objektiven Jnduktion und
damit zu den geschichtlichen Thatsachen. Vor Ausbildung des menschlichen
Geistes ist an irgend welche mit der Poesie verwandte Erscheinung
nicht zu denken; im Dienst des religiösen Kultus, ausschließlich
als etwas Heiliges, Geweihtes erscheint die Dichtkunst bei allen
Völkern in ältester geschichtlich erreichbaren Zeit. Wie viel sich auch
eine dilettierende Empirie mit ihren naturwissenschaftlichen Phrasen
wissen mag, die geschichtliche Jnduktion der Poetik führt zu der wissenschaftlichen
Thatsache: die Dichtkunst ist nicht sowohl eine Naturgabe der
natürlichen Arten, als vielmehr ein Geschenk der Kultur an die
Menschheit.


Kiel.
Der Verfasser.

[RVIII][E1]

Einleitung.


[figure]

Begriff und Methoden der Poetik.

§ 1.
Begriff der Poetik.


  Poetik ist die Wissenschaft von den Gesetzen der Poesie.


  Eine Wissenschaft ist die systematisch geordnete Summe dessen,
was wir über ein Gebiet wissen. Folglich ist Material der Poetik,
aus dem sie ihre Gesetze ableitet, die systematisch geordnete Summe
dessen, was wir über die Poesie wissen; d. h. Gegenstand der Poetik
ist die systematisch geordnete Geschichte der Weltpoesie.


  Als Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Poetik ergeben sich:


a) Ausgehen von der Weltpoesiegeschichte,


b) Ordnung der Weltpoesiegeschichte nach einheitlichen Gesichtspunkten.



  Die Poetik beruht somit auf einem Rückblick über alle bisherige
Poesie, um deren Gesetze abzuleiten.

§ 2.
Ursprüngliche Auffassung der Poetik.


  Ursprünglich hat man den rein wissenschaftlichen Charakter der
Poetik verkannt, ihr vielmehr ganz oder teilweise praktischen Zweck
unterschieben wollen. Damals blickte die Poetik wesentlich vorwärts,
um Regeln für alle zukünftige Poesie aufzustellen. Die Poetik gab
sich dogmatisch.

[2]

  Aus welchen Quellen leiteten sich diese Regeln her? Sie fußten
auf Aussprüchen angesehener Kunstrichter des Altertums, das in der
Entstehungszeit der deutschen und überhaupt der modernen Poetik, im
Zeitalter der Renaissance, als unbedingte Autorität in Fragen der
Kunst galt.

§ 3.
Autoritativ=dogmatische Poetik: Horaz.


  Wie die Renaissance sich überall enger an die Vermittlung der
Römer als an die griechischen Quellen der antiken Kunst anschloß,
war es zunächst Horaz, dessen Epistel an die Pisonen, ursprünglich
ein Gelegenheitsgedicht, zum Rang einer Poetik erhoben wurde.
Ohne Vollständigkeit zu erstreben oder auch nur das Wesen der Dichtkunst
in den Vordergrund stellen zu wollen, ging Horaz davon aus,
daß zu den Erfordernissen des vollendeten Dichters nicht bloß Begabung
gehöre, die er als selbstverständlich erwähnt, sondern auch
treue Beobachtung behufs Nachahmung der Wirklichkeit, ferner Studium
und zur Erreichung formeller Meisterschaft Uebung, ebenso
Fähigkeit zu einheitlicher Ordnung der Gedanken, schließlich eine Reihe
besonderer Eigenschaften namentlich für die dramatische Poesie. Jhm
war es vor allem darum zu thun, eine in seiner Zeit eingerissene schwindelhafte
Liederlichkeit zu geißeln, die ─ wie zu manchen Zeiten sonst ─
prätendierte, daß Talent sowohl den Charakterhalt als Studium und
formelle Durchbildung ersetzen könne. Jndem die Renaissance-Poetik
diese Beziehung der Epistel außer acht ließ, wurde der kunstmäßigen
Form, die Horaz neben der Begabung zur Geltung bringen wollte,
entscheidender Wert und breitester Raum gewährt, und jede gelegentliche
Aeußerung dieser römischen Satire zum Kanon erhoben.


  Gewiß ist auch in der frühesten modernen Poetik schon eine
selbständige Bethätigung zu verspüren: aber sie beschränkte sich in Ergründung
des poetischen Wesens gerade darauf, einseitig diejenigen
Punkte herauszugreifen, die dem eigenen lehrhaften und formalistischen
Geiste Raum zu bieten schienen. „Entweder nützen oder ergötzen
wollen die Dichter oder zugleich beides, das Angenehme und Nützliche
des Lebens, zur Aussprache bringen“: solche gelegentliche Feststellung
ward als Begriffsbestimmung der Poesie ausgegeben, überdies mit [3]
einseitiger Betonung des Nützlichen. ─ „Wie die Malerei so die
Poesie: es giebt eine, die mehr einnimmt, wenn man näher hinzutritt,
und eine, wenn man sie in weiterem Abstand betrachtet“: dieser
äußerliche Vergleich unterlag bis zu Lessings Tagen einer Verallgemeinerung,
als ob Horaz damit für die Poesie habe die Gesetze der
Malerei empfehlen wollen.


  Wie die metrischen Untersuchungen entscheidend in den Vordergrund
traten, vollbrachte Martin Opitz 1624 in seinem „Buch von
der deutschen Poeterei“ die Entdeckung des deutschen Versgesetzes im
Unterschied von dem antiken. Abgesehen von dieser bedeutsamen Regung
der Selbständigkeit verharrte die Poetik unter der Autorität
des Altertums und seiner Mittler aus den modernen Renaissance=
Völkern.

§ 4.
Fortsetzung: Aristoteles.


  Selbst der hervorragendste Kunstrichter und praktische Philosoph
des Altertums, Aristoteles, kam nicht in seinem reinen griechischen
Urtext zur Geltung, vielmehr übernahm ihn die deutsche Poetik in
der Auffassung französischer Kommentatoren.


  Opitz hat noch keinen entscheidenden Einfluß von Aristoteles erfahren.
Verständnislos benutzt haben ihn wohl die Theoretiker der
jüngeren Dichterschulen des 17. Jahrhunderts. Erst Gottsched sucht
1730 in seinem „Versuch einer kritischen Dichtkunst“ die Theorien
des Stagiriten grundsätzlich durchzuführen. Auch er verkannte, in
Uebereinstimmung mit den Franzosen, den eigentlichen Charakter der
Aristotelischen Poetik. Sie fußte auf reichem Erfahrungsmaterial,
namentlich auf voller geschichtlichen Würdigung der griechischen Tragödie
und des Epos. Wiederum stellt die moderne Poetik die Kennzeichen
und Gesetze, welche der antike Kunstrichter an den ihm vorliegenden
Dichtwerken entdeckt, als Regeln und Richtschnur für alle
künftige Poesie hin.


  Als Ursache für Entstehung der Dichtkunst faßt Aristoteles den
Nachahmungstrieb auf; so sucht er die Dichtkunst von andern Arten
der Nachahmung zu scheiden, die idealisierenden Mittel festzustellen,
durch welche sie das Vorbild zur Kunst gestaltet. Der unkünstlerische, [4]
naturalistische Sinn der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts
las aus alledem nur seine eigene Geistlosigkeit heraus: Nachahmung,
und zwar möglichst unverfälschte Nachahmung der Natur und platte
Wiedergabe des Rohstoffes sei das Wesen und der Zweck aller Kunst.


  Ganz in Abhängigkeit von der Lehre der französischen Klassiker
des 17. Jahrhunderts nimmt Gottsched die gelegentlichen praktischen
Winke des Aristoteles über die drei Einheiten der Tragödie mit pedantischer
Veräußerlichung als Grundgesetze über das Wesen dieser Kunstform
hin.


  Zu derselben Zeit, da sich die spekulative Philosopie den Banden
des Aristoteles entwand, um mit Descartes modern, mit Leibniz
deutsch zu philosophieren, hebt sich somit eine neue Herrschaft des
Stagiriten auf dem Gebiete der Poetik an. Noch Lessing steht ganz
im Bann dieser großen Autorität, ja gerade er stellt Aristoteles als
Kanon hin, von einer Geltung wie Euklid in der Mathematik. Nur
griff seine Hamburgische Dramaturgie (1767─1769) zum ersten mal
kongenial auf den Urtext des Aristoteles zurück und hob den humanistischen
Kern dieser antiken Kunstlehre heraus: die tragischen Leidenschaften
und ihre Katharsis.


  Noch heute findet die Autorität des Aristoteles weithin dogmatische
Anerkennung. Doch hat sich inzwischen aus verschiedenen Keimen
das Recht selbständiger Forschung über das Wesen der Poesie zur
Geltung durchgerungen.

§ 5.
Fortsetzung: Die Franzosen.


  Von den neueren Völkern waren es die Franzosen, die um die
Wende des 17. und 18. Jahrhunderts, wie auf allen Gebieten, auch
in der Poetik als Muster galten. Wurden doch selbst die antiken
Kunstlehren erst durch französische Vermittlung nach Deutschland übernommen.



  Den Renaissance-Poetiken, die ausdrücklich auf dem Altertum
fußen, folgen Versuche, in der Theorie der Dichtkunst den französischen
Geist selbstthätig zur Wirkung zu bringen. Boileau vor allem
prägt den Geist seines Volkes und seines Zeitalters ─ des Zeitalters
von Ludwig XIV. ─ in der Poetik aus. Noch weithin zeigt sich [5]
Berührung mit Horaz, aber zum guten Teil entspringt sie aus Verwandtschaft
der beiden kritischen Köpfe.


  Mit Boileau gelangt der „gesunde Menschenverstand“ (bon sens)
in Auffassung der Poesie zur Herrschaft; nichts ist ihm schön als das
Wahre; Verstiegenheit der Phantasie erregt seinen Spott ─ so war
er zu einer ästhetischen Autorität auch des deutschen Rationalismus
prädestiniert.


  Nächstdem ist es namentlich Hedelin, der Abt von Aubignac,
der bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland anerkannte
Geltung, in erster Linie für theatralische Fragen, genießt. Auch sonst
entfaltet jeder deutsche Beitrag zur Poetik bis in Lessings Tage eine
bunte Musterkarte französischer Autoritäten.

§ 6.
Spekulativ=dogmatische Poetik.


  Jnzwischen versucht die philosophische Spekulation selbständig ihre
Schwingen.


  Neben Gottsched hergehend, unternehmen die Züricher Kunstrichter
Bodmer und Breitinger die Begründung einer eigenen Kunstlehre
aus der Phantasie. Obschon von eigenem Geiste durchdrungen,
zeigen sich ihre (in der Hauptsache 1740 erschienenen) theoretischen
Schriften in den Einzelfragen noch weithin von fremden Autoritäten
abhängig. Nicht anders ergeht es Gottscheds hervorragendstem Schüler
Johann Elias Schlegel, der (noch in den vierziger Jahren) das
Verhältnis der Kunst zur Natur weniger sklavisch darstellen will.


  Begründer der ausgebildeten, geschlossen systematischen Theorie
der Kunst auf spekulativer Grundlage wird indessen erst Alexander
Baumgarten,
dessen „Aesthetika“ (Band I: 1750, Band II:
1758) der neuen Wissenschaft den Namen gab. Wie dieser Name
sagt, sieht Baumgarten in ihr eine Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis,
deren Vollkommenheit, die Schönheit, damit zum Prinzip
der Kunst erhoben war.


  Seinen Ausgang nahm Baumgarten von der Philosophie Christian
Wolfs, die weniger ihre Aufgabe in Ergründung des Welträtsels
als in dem formalistischen Streben sah, Ordnung in die Uebersicht
aller Gebiete des menschlichen Geistes zu bringen: so führte das [6]
Streben nach Klassifizierung notgedrungen zu einer Abzweigung dieser
eigenartigen Seelenfunktion.


  Jn Kant erhob sich die deutsche Philosophie zu klassischer Höhe.
Auf dem Gebiete der Aesthetik bewirkt Kants „Kritik der Urteilskraft“
(1790) nicht eine gleiche Umwälzung wie in der modernen Weltanschauung
seine „Kritik der reinen Vernunft“. Fruchtbar wurde vor
allem seine eindrucksvolle Begriffsbestimmung des Schönen und des
Erhabenen, sowie die Unterordnung des Sinnentriebes und so auch
der ästhetischen Neigung unter den Moraltrieb, die eherne Unterjochung
des Natürlich-Gefälligen unter das Geistig-Notwendige.


  Unsere klassischen Dichter fühlten sich von dieser kategorischen
Schroffheit abgestoßen. Jn den Xenien parodierten sie den rigoristischen
Zug des großen Königsberger Philosophen:


Gewissensskrupel.


Gerne dien' ich den Freunden, doch thu' ich es leider mit Neigung,

Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.

Decisum.


Da ist kein andrer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten,

Und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht dir gebeut.“

Schiller war es, der einen Ausgleich zwischen Naturtrieb und Geist,
eine freiwillige Unterwerfung des Sinneninstinktes unter das Sittengesetz
suchte und gerade in „ästhetischer Erziehung“ fand: so offenbarte
sich ihm die Kunst als Mittlerin zwischen den menschlichen Leidenschaften
und Pflichten, als Weg zur Vergeistigung der menschlichen
Natur.


  Die spekulative Aesthetik erreichte ihren Höhepunkt in Hegel: er
faßt die Kunst nicht allein als eine Erscheinungsform des absoluten
Geistes, vielmehr als ein geschichtliches Stadium desselben
und leitet so zu der fruchtbaren entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung
über, welche sich nicht darauf beschränkt, die Künste in ihrem heutigen
Nebeneinander hinzunehmen, sondern ihre Entstehung und ihr ursprüngliches
Verhältnis zu erfassen sucht. Die Durchführung dieses richtigen
und epochemachenden Prinzips scheitert bei Hegel an der willkürlichen
Konstruktion einer solchen Geschichte des menschlichen Geistes. Namentlich
handelt er die Religion als eine höhere Stufe des Geistes [7]
hinter der Kunst ab, ohne ernstlich nach der geschichtlichen Priorität
zu fragen und damit den Entstehungsprozeß der Poesie geschichtlich
zu belauschen.

§ 7.
Empirische Poetik.


  Mit der Ausdehnung und den Erfolgen der Einzelforschung sah
sich die Wissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr
auf einen induktiven d. i. aus der Erfahrung ableitenden Betrieb
hingedrängt. Von dem Zug der modernen Naturwissenschaft, aus
umfassender Beobachtung des Einzelmaterials durchgehende Gesetze abzuleiten,
wurde auch die Geisteswissenschaft ergriffen. Auf verschiedenen
Gebieten verfügt sie thatsächlich bereits über ein genügend
reiches Erfahrungsmaterial, daß es sich selbst eine Binde vor die
Augen legen hieße, wenn die Philosophie, und so auch die Kunstphilosophie,
noch länger allein nach allgemeinen Kategorien von außen
her an ihre Gegenstände heranträte.


  Für die Poetik war die neue Aufgabe: statt aus der Jdee eines
Einzelgeistes deduktiv Gesetze zu formulieren und diese durch Beispiele
zu belegen, vielmehr umgekehrt Beispiele poetischer Bethätigung in
möglichst großer Zahl zu sammeln, um aus ihrer systematischen Ordnung
die Gesetze abzuleiten.


  Einen Versuch zur Erfüllung dieser Forderung unternahm Wilhelm
Scherer.
Jm Sommer 1885 hielt er Universitätsvorlesungen
über Poetik, ein Jahr darauf starb er. Das aus seinem Nachlaß
herausgegebene Manuskript der Vorlesungen will somit nicht als abgeschlossenes
System, sondern nur als Entwurf beurteilt sein.


  Scherer bezeichnet als sein Programm: „die dichterische Hervorbringung,
die wirkliche und die mögliche, vollständig zu beschreiben in
ihrem Hergang, in ihren Ergebnissen, in ihren Wirkungen“. Eine
Poetik, die sich derart grundsätzlich auf Beschreibung des Materials
beschränkt, würde ─ wie von vorn herein einleuchtet ─ rein empirisch
bleiben, nur die Erfahrung geben, ohne sie zu erklären, geistig
zu durchdringen. Jn einem an sich berechtigten Eifer, vorschnelle
Folgerungen abzuwehren, will sich Scherer denn auch philosophischer
Schlußfassung möglichst entschlagen. Dieses Streben, an der Philosophie [8]
vorbeizugehen, läßt die äußere, materielle Erscheinung einseitig
in den Vordergrund treten und den geistigen Prozeß in der Dichterseele
dahinter verschwinden. Wo möglichst nur das, was mit Händen
greifbar, als Erfahrungsmaterial anerkannt ist, wird naturgemäß für
das innere Wesen der Dichtung leicht die äußere Erscheinungsform
hingenommen.


  Dieses selbe Streben, statt an den Geist sich möglichst weit an
die Natur zu halten, läßt Scherer über den Rahmen der philosophischen
und selbst der litteraturgeschichtlichen Erfahrung nach rein naturgeschichtlichen
Beobachtungen blicken, die namentlich für die Entstehnng
der Poesie zur Verwertung kommen. Eine solche unmittelbare Uebertragung
tierischer Funktionen (wie der Liebeslockrufe als erster Form
poetischer Aeußerungen) auf das Gebiet des menschlichen Geistes bleibt
nun in jedem Falle materialistisch; für die Poesie ist dies Verfahren
um so weniger statthaft, als von ihr nicht vor Entwicklung der artikulierten
Sprache die Rede sein kann.


  Bei alledem bringt Scherers Versuch eine Fülle von fruchtbaren
Einzelbemerkungen und glücklich herangezogenen litteraturgeschichtlichen
Belegen bei. Daß nicht in noch umfassenderem Maße die Weltlitteratur
zugrunde gelegt und so der naturwissenschaftliche und nationalökonomische
Zug stärker zurückgedrängt ist, erklärt sich unschwer aus
der Entstehung und dem jähen Abbruch des Werkes.

§ 8.
Psychologisch=induktive Poetik.


  Ungefähr gleichzeitig mit Scherers unphilosophischer Poetik gab
Wilhelm Dilthey Bausteine für eine neue Poetik durch seine Abhandlung
über „Die Einbildungskraft des Dichters“ (1887 in dem
Eduard Zeller gewidmeten Sammelwerk verschiedener Autoren: „Philosophische
Aufsätze“).


  Auch hier wird der Ruf nach einer induktiven Poetik erhoben,
und Dilthey stützt sich im Prinzip auf das richtige, allein mögliche
Material der Erfahrung über die Litteratur: d. i. die Litteraturgeschichte,
ohne aus der Naturgeschichte hypothetische Analogien zu
übertragen. Als Philosoph vergißt Dilthey ebenso wenig, daß die
Aesthetik Kunstphilosophie ist.

[9]

  Besonders bedeutsam erscheint, daß Dilthey auch im Hinblick auf
die Poesie wiederholt die Geschichtlichkeit des Seelenlebens betont, so
daß er sich der geschichtlichen Begrenztheit ästhetischer Gesetze nicht
verschließt, aber, über die bloße Empirie hinaus, die Allgemeingültigkeit
gewisser Grundzüge sucht. Dilthey geht so weit, von entwicklungsgeschichtlicher
Auffassung zu sprechen.


  Die Ausführung dieses fruchtbaren Gedankens wird beschränkt
durch Berufung auf die Methode „der wechselseitigen Erhellung, wie
sie Scherer bezeichnet hat“, d. i. auf die Vergleichung beliebiger,
ohne historischen Zusammenhang herangezogener Beispiele. So sind
an die umfassende und feine psychologische Untersuchung einstweilen
nur wenige Seiten bestätigender Zeugnisse gereiht. Und dieser Schatz
der Erfahrung ist als starre Masse betrachtet, Erscheinungen verschiedener
Zeiten sind als klassische Beispiele beliebig durch einander geschoben
─ mit einem Wort, auch in dieser verheißungsvollen Programmschrift
noch ist die Litteraturgeschichte nur als Raritätenkasten,
in den sich nach Bedürfniß hineingreifen läßt, statt als fließender
Organismus behandelt.

§ 9.
Entwicklungsgeschichtliche Poetik.


  Noch ist die Anschauung weit verbreitet, daß durch „klassische
Beispiele“ aus der Neuzeit oder aus früheren Blüteperioden der Litteratur
allgemeingültige Gesetze der Poetik gewonnen werden könnten.
Wo indes eine wissenschaftliche Allgemeingültigkeit erreicht werden soll,
ist die Vorbedingung in jeder ausgebildeten Wissenschaft Allumfassung
des Materials. Will also die induktive Poetik aus dem Stadium der
Experimente in das des wissenschaftlichen Systems übergehen, so muß
sie auf zusammenhängender Betrachtung der Geschichte der Weltpoesie
fußen.


  Liegt es an sich schon nahe, daß ein jeder Ueberblick den geschichtlichen
Zusammenhang in geschichtlicher Folge durchläuft, so
benötigt die induktive Poetik um so mehr dieser Verfahrungsweise, als
sich aus Verfolgung der geschichtlichen Wandlungen und Umbildungen
die allein zuverlässige Erklärung für die mancherlei offenbaren Abweichungen
innerhalb derselben poetischen Arten und Formen gewinnen [10]
läßt, für Abweichungen, die bei ungeschichtlicher bloßen Nebeneinanderstellung
an der Möglichkeit allgemeingültiger Begriffsbestimmung der
Poesie Zweifel aufkommen ließen.


  Wenn wir alle inneren und äußeren Uebereinstimmungen der so
verschieden gearteten und gestalteten Zweige der Weltpoesie zusammenhängend
überblicken, so muß damit das Grundprinzip aller
Poesie
herauszuheben sein; es muß auch aus dem geschichtlichen Zusammenhang
und der geschichtlichen Entwicklung das Prinzip der
Wandlungen
erhellen, denen die Poesie unterworfen war.


  Zusammenhängende Aufwicklung der geschichtlich gegebenen Erscheinungen,
systematische Geschichte der Weltpoesie, erscheint danach
als notwendige Grundlage der induktiven Poetik. Und diese hört auf,
empirisch zu sein, wird wahrhaft zur Kunstphilosophie, sobald sie die
Teile des Materials nicht mehr als Regel, sondern als geregelt betrachtet,
sobald sie die psychologische Quintessenz des Ganzen zum
alleinigen Gesetz erhebt: denn die Einzelerscheinungen nach ewigen
Prinzipien zu ergründen, ist das Wesen der Philosophie.


  Aber die Poetik hört damit auch auf, die Gesetze einer einzig
wahren Poesie zu suchen: sie ergründet die Entwicklungsgesetze der
Poesie nach den Grundzügen wie den Variationen ─ nicht nur die
Methode, auch der Gehalt der neuen Poetik ist entwicklungsgeschichtlich.

§ 10.
Fortsetzung: Einschränkungen.


  Wir werden von vorn herein genötigt sein, die Bedenken und
Beschränkungen ins Auge zu fassen, denen die entwicklungsgeschichtliche
Poetik unterliegen könnte.


  1. Wir wollen auf poetischem Material fußen, um die Poesie
zu erklären. Die Poetik will die Poesie regeln ─ und soll sich nun
von der Poesie regeln lassen!


  Kennen wir die Gesetze, welche die Dichtung der Vergangenheit
in sich trägt, dann kennen wir freilich diejenigen, welche der zukünftigen
Litteratur zukommen, nur so weit wie wir überhaupt Zukünftiges
mit geschichtsphilosophischem Geist voraussetzen können. Weiter
vermag aber keine Wissenschaft zu dringen. Genug, daß wir mit den
Grundzügen der Poesieentwicklung, d. i. mit den Gesetzen, welche [11]
der Gesamtpoesie der Vergangenheit zugrunde liegen, einen Maßstab
für Beurteilung der Einzelerscheinungen in Vergangenheit und Gegenwart
gewonnen haben.


  2. Die Poetik will allgemeingültig sein ─ und nimmt doch
verschieden gestaltete Entwicklungsstufen der Poesie an!


  Jndes erkennt sie nicht jede Entwicklungsstufe für sich als gesetzgebend
an, was ein Chaos von Widersprüchen ergäbe. Die Poetik
erkennt vielmehr jede Entwicklungsstufe nur als eine Potenz, eine
Aeußerungsform der Entwicklung an und erst aus dem Jneinandergreifen
und einheitlichen Grundzug dieser Potenzen erschließt sie das
durchgehends zugrunde liegende Prinzip der Entwicklung. Dieses ist
zugleich partikulär für jede einzelne Entwicklungsstufe und allgemeingültig
für alle Stufen insgesamt, somit unanfechtbar gesetzgebend.


  Es giebt ein einheitliches Wesen der Poesie, aber es hat viele
Offenbarungsformen, und die identischen Urzellen derselben werden
dem Beschauer erst durch geordnetes Zusammenrücken sichtbar.


  3. Die entwicklungsgeschichtliche Poetik hat ihre Untersuchung
mit dem Beginn der Entwicklung, mit der Urpoesie, einzusetzen ─
aber sie muß sich mit der ältesten geschichtlich erschließbaren Poesie
als Ausgangspunkt begnügen! Wie die Dichtung der Zukunft liegt
auch die der vorgeschichtlichen Vergangenheit in Dunkel gehüllt.


  Ausschlaggebend ist: ob der vorhandene Ausschnitt der Weltpoesiegeschichte
von der ältesten ergründeten Zeit bis auf die Gegenwart
ausgedehnt d. h. entwicklungsreich genug ist, um ein bestimmtes Entwicklungsprinzip
erkennen zu lassen. Besteht diese Möglichkeit, dann
dürfen wir hypothetisch den Faden ebenso rückwärts in vorgeschichtliche
Zeit spinnen, wie wir ihn durch Aufstellung von Gesetzen, wenigstens
bedingungsweise, vorwärts in eine ständig ergänzende und revidierende
Zukunft ziehen. Nachdem wir die in geschichtlicher Zeit waltenden
Gesetze erkannt haben, werden wir zum mindesten voraussetzen dürfen,
daß die Entwicklung der Poesie in geschichtlich noch nicht erschlossener
Zeit nicht nach entgegengesetzten Normen erfolgte.


  Je umfassender, je voller ausgeführt, je tiefer eingehend die Jnduktion,
desto präziser werden die Ergebnisse sein. Vorerst wird es
möglich und notwendig sein, in den Grundzügen die Richtung der
Poesieentwicklung zu erkennen.


[figure]
[E12]

Definitionen der Poesie.

§ 11.
Die formale Definition der Poesie.


  Wie die bisherigen Methoden der Poetik, so drängen die bisher
gezeitigten Definitionen der Poesie zu einer neuen, fruchtbareren Betrachtungsweise.
Sehen wir uns vor die Thatsache gestellt, daß die
gelieferten Erklärungen nur für beschränkte Teile der Poesie gelten,
nicht aber hinreichen, das allem dichterischen Schaffen zugrunde liegende
schöpferische Prinzip auszudrücken, so weist diese Sachlage ebenfalls
gebieterisch auf zusammenhängende Berücksichtigung des poesiegeschichtlichen
Gesamtmaterials hin.


  Jn ihren Definitionen weichen die beiden Extreme der kunsttheoretischen
Methode kaum von einander ab: wie die autoritätengläubige
Poetik des 17. Jahrhunderts, findet die empirische Poetik
Scherers ihren Ausgangspunkt und ihr Ziel in Hervorhebung der
poetischen Form. Dieser neue Forscher glaubt „schließlich ungefähr
so“ definieren zu müssen: „Die Poetik ist vorzugsweise die Lehre von
der gebundenen Rede; außerdem aber von einigen Anwendungen der
ungebundenen, welche mit den Anwendungen der gebundenen in naher
Verwandtschaft stehen.“


  Damit ist jedoch das Eingeständnis abgelegt, daß die formale
Definition eine zureichende, wissenschaftlich präzise Begriffsbestimmung
nicht in sich zu schließen vermag. Einmal wäre hiernach die Zugehörigkeit
des Märchens, Romans und anderer Prosadichtungen, vor
allem aber des nicht versifizierten Dramas zur Dichtkunst nur durch
den vagen und nicht einmal zutreffenden Begriff „naher Verwandtschaft“ [13]
mit der gebundenen Rede zu rechtfertigen. Jn anderer Hinsicht
ist die Bestimmung umgekehrt sogar zu weit, denn sie schließt
jedes Hochzeitskarmen, jede in gebundener Rede entworfene Geschäftsreklame
in den Bezirk der Dichtung.

§ 12.
Der Nutzen als Zweck der Poesie.


  Die Poetik des 17. Jahrhunderts hatte noch eine weitere Lehre
aus Horaz gezogen: nützen oder ergötzen, am besten beides solle die
Poesie. Jndem man jedoch das Hauptgewicht auf den Nutzen legte,
erschien die Bereicherung der intellektuellen und moralischen Anlagen
als Ziel der Poesie.


  Der Geist damaliger Dichtung ist mit dieser Begriffsbestimmung
gewiß getroffen, nicht aber der Geist aller Dichtung ─ und der höchsten
am wenigsten. Um die Unzulänglichkeit einer Definition zu erweisen,
bedarf es nicht eines umfassenden Gegenbeweises, es genügt
die Erkenntnis, daß sie nicht allgemeingültig ist, ja wie wenig sie das
Wesen derjenigen Dichtungen kennzeichnet, die als besonders eindrucksvolle
Schöpfungen der Poesie erscheinen.


  Niemand wird als Zweck der Shakespeareschen Dramen den
Nutzen hinstellen wollen. Der Zweck des „Hamlet“ sollte in einer
schalen Warnung vor dem Zaudern bestehen? „König Lear“ wäre
nichts als oder überhaupt ein Exempel zu dem Volksspruch:


„Wer seinen Kindern giebt das Brot

Und leidet nachmals selber Not,

Den soll man schlagen mit der Keule tot“?

Aehnlich müßte der Nutzen von „Romeo und Julia“ in der Warnung
vor Zwietracht oder vor Leidenschaft oder vor zu eilfertigem Selbstmord
bestehen ─ genug, man gelangt auf diesem Wege zu unzähligen
Absurditäten.


  Ebenso wenig sprechen Goethesche Gedichte von Nutzen und Belehrung:



„Fühle, was dies Herz empfindet!“

fordert das eine,

[14]
„Warte nur, balde

Ruhest du auch“ ─

tröstet ein andres. Der Zweck dieser Dichtungen muß tiefer greifen.

§ 13.
Das Vergnügen als Zweck der Poesie.


  Auch das Ergötzen fordert sein Recht unter den Definitionen der
Poesie. Zuerst taucht es im Zusammenhang mit dem Nutzen, im
Anschluß an die Horatianische Epistel auf; im 18. Jahrhundert wird
das Vergnügen sodann selbständig als Endzweck und Wirkung der
Dichtkunst hingestellt.


  Wir dürften geneigt sein, dieser Erklärung einen gewissen Raum
in der Begriffsbestimmung der Poesie zuzugestehen. Früh erregte
jedoch schon Bedenken, auch die Wirkung der Tragödie schlechtweg als
Vergnügen zu bezeichnen. Schiller suchte den Grund des Vergnügens
an tragischen Gegenständen festzustellen, giebt aber diesem Vergnügen
einen eigenartigen Gehalt: es „gewähre uns die Zweckmäßigkeit eines
jeden menschlichen Geschäfts an sich selbst Vergnügen“, „sie beziehe
sich entweder gar nicht auf das Sittliche, oder sie widerstreite demselben“.
Nun ist ihm aber insbesondre gewiß, „daß jedes Vergnügen,
insofern es aus sittlichen Quellen fließt, den Menschen sittlich verbessert.“
Das ästhetische Vergnügen erscheint danach jedenfalls von allen sonstigen
Vergnügungsarten wesentlich geschieden, ja den meisten geradezu
entgegengesetzt. Der Begriff Vergnügen faßt so zum mindesten Ziel
und Wirkung der Poesie nicht scharf genug.


  Hierzu gesellt sich noch eine weitere Erwägung. Da wohl dasjenige
Kunstwerk am höchsten steht, das seinen Zweck am vollkommensten
erfüllt, könnte man, solange Vergnügen schlechtweg als poetische
Absicht gilt, sich versucht fühlen, die Fastnachtspiele, Possen, Schwänke,
oder andererseits Räubergeschichten, Kriminalnovellen, Kolportageromane
u. dgl. auf die höchste dichterische Stufe zu stellen; denn unstreitig
machen diese niedern Arten den meisten Menschen das meiste
Vergnügen.


  Den Ausschlag giebt ein Hinblick auf die Absichten des Dichters
selbst. Wer im höheren Sinne Anspruch auf diesen Ehrentitel erhebt, [15]
schafft nicht in der Berechnung, dem Publikum Vergnügen zu bereiten:
aus einer innern Nötigung wachsen alle echten Kunstwerke hervor.
Nun kann die wahre Vollkommenheit einer Dichtung doch nur in
vollendeter Erreichung der Absichten ihres Schöpfers bestehen. Folglich
kann das Vergnügen nicht die Hauptwirkung des poetischen Werkes,
sondern nur eine sekundäre Begleit- oder Folgeerscheinung derselben
darbieten. Am wenigsten kann als Begriffsbestimmung
davon die Rede sein, daß die Dichter (nützen oder) ergötzen wollen
(aut prodesse volunt aut delectare poetae).

§ 14.
Die Nachahmungstheorie in der Poetik.


  Weiteste Anerkennung bis in unsere Tage hinein genießt die
Definition der Kunst als Nachahmung der Natur. Auf jeden Zweifel
antwortete die deutsche Poetik im Umkreis von anderthalb Jahrhunderten
mit dem Hinweis auf die Autorität des Aristoteles. Dieselbe
Auffassung verkündet und bethätigt aber der litterarische Nachwuchs
der Gegenwart als angeblich neueste und vorgeschrittenste Offenbarung
vom Wesen der Kunst.


  Jn Wirklichkeit ist die Nachahmungstheorie schon deshalb unhaltbar,
weil sie zu eng ist. Sie würde die Lyrik aus dem Bereich der
Poesie ausschließen: denn wenn man schon zugestehen wollte, daß
Epos und Drama in gewissem Sinne Begebenheiten, Handlungen und
Charaktere nachahmen, so läßt sich in wissenschaftlicher Terminologie
sicherlich nicht sagen, daß die Lyrik Gefühle „nachahmt“. Dieser Einwurf
zu enger Fassung richtet sich nicht eigentlich gegen Aristoteles
selbst, der in seiner Poetik eben nur Tragödie und Epos abhandelt.
Daß er den Nachahmungstrieb zum Ausgangspunkt wählt, wird besonders
durch seine wesentlich auf dem Drama fußende Betrachtung
verständlicher.


  Diese Definition erscheint indes nicht nur zu eng, sondern auch
zu vag und allgemein. Sie giebt nur die an sich schon evidente Beziehung
zum Stoff, nicht aber das ausschlaggebende Mittel, durch
welches sich die Nachahmung von dem Vorbild scheidet, die Kunst
über die Natur erhebt.

[16]

  Die Poesie stände auf sehr niedriger Stufe, wenn wir sie als
bloße Nachahmung ansehen wollten, hervorgegangen aus dem angeborenen
Nachahmungstrieb der Menschen und zielend auf das gleichfalls
allgemeine Wohlgefallen an Erzeugnissen der Nachahmung ─
um des Aristoteles Ausdrucksweise beizubehalten. Gar, wie man mißverständlich
herausgelesen, eine solche mechanische Thätigkeit als Wesen
der Poesie hinzustellen, hieße dem Dichter eine rein äußerliche Kunstfertigkeit
zuweisen. Mit Recht betont deshalb der große antike Kunstlehrer
wiederholt idealisierende Elemente der Poesie.


  Anders die neueren Verfechter der Nachahmungstheorie. Um so
vollkommener erscheint ihnen die Kunst, je sklavischer sie die Natur
wiedergiebt. Ganz wie Gottscheds Schüler Johann Elias Schlegel
bezeichnen sie als Jnbegriff des ästhetischen Wohlgefallens ausdrücklich
die Genugthuung an der wahrgenommenen Aehnlichkeit zwischen Vorbild
und Abbild. Daß in Wirklichkeit die Seelenkräfte viel innerlicher
von der Poesie ergriffen werden als in solcher Befriedigung
über ein stimmendes geometrisches Verhältnis, kommt nach alledem in
dieser Auffassung nicht zur Geltung.

§ 15.
Die Schönheitstheorie in der Poetik.


  Um den entscheidenden Zug herauszuheben, welcher die Gebilde
der Dichtung von denen des Lebens trennt, verwies man auf die
Schönheit als ausschlaggebende Eigenschaft der Kunst. Der Hinblick
auf die Antike schien dieser Auffassung eine besondere Stütze zu bieten.
Allerdings will schon Lessings „Laokoon“ nur feststellen, „daß bei den
Alten die Schönheit das höchste Gesetz der bildenden Künste gewesen
sei“. Dahingegen „oft vernachlässiget der Dichter die Schönheit
gänzlich, versichert, daß wenn sein Held unsere Gewogenheit gewonnen,
uns dessen edlere Eigenschaften so beschäftigen, daß wir an
die körperliche Gestalt garnicht denken“. Aber im übertragenen
Sinne behielten seit Baumgartens Tagen bis in die Gegenwart besonders
philosophische Kreise diese Definition dermaßen fest, daß sie
die Aesthetik fortgesetzt geradezu als Wissenschaft vom Schönen bezeichnen.
Selbst die vorgeschrittenste, an litteraturgeschichtlichem
Material reichste Poetik, das Werk von Wilhelm Wackernagel, wählt [17]
zum Ausgangspunkt ihrer gesamten Untersuchung die Definition der
Poesie als „schöner Darstellung des Schönen durch das Wort“.


  Gewiß haben platte Naturalisten die Schönheitstheorie mißverstanden,
wenn sie ihr eine „schönfärberische“ Tendenz unterschieben
und meinen, daß durch eine solche Zweckbestimmung entweder der
Horizont auf das bloße Gebiet des unmittelbar Schönen eingeengt
oder aber jeder andere, nicht rein angenehme Gegenstand in der dichterischen
Darstellung nach der Seite der Beschönigung verfälscht würde.


  Worum es sich nur handeln kann, ist eine derartige Beleuchtung
der behandelten Stoffe, daß ihre Darstellung einen möglichst anmutenden
Eindruck hervorruft, zum mindesten nicht grell unser Schönheitsgefühl
herausfordert.


  Kommt damit aber das Wesen der Poesie zu vollem positiven
Ausdruck? Zielt Shakespeares „Richard III.“ auf möglichst weitgehende
Schönheit? Hat der Dichter solch ein Drama in der Absicht
eines Schönheitskultus geschaffen? Oder wird auch nur das Wesen
einer gewiß schon dem Stoffe nach nicht unästhetischen Dichtung wie
des Goetheschen „Prometheus“ durch die Schönheitstheorie irgend getroffen,
geschweige erschöpft?


„Hier sitz' ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sei,

Zu leiden, zu weinen,

Zu genießen und zu freuen sich

Und dein nicht zu achten,

Wie ich!“

Ein durch theoretische Erörterungen nicht befangenes Gemüt dürfte
durch die Strophe kaum gerade seinen Schönheitssinn wachgerufen
finden; an ganz andern Seelenkräften wird es sich getroffen fühlen,
weit mächtiger durchdrungen sein! Denken wir schließlich noch an
Goethes „Götz von Berlichingen“ oder gar an Schillers „Räuber“.
Jst deren Wesen irgend durch „Schönheit“ bezeichnet? Also wären
es keine Dichtungen?! Aber wir schreiben von ihnen doch die Erneuerung,
die Verjüngung unserer Litteratur her.


  Mit Recht hat die moderne Kunst, auch wo sie nicht naturalistisch
am Rohstoff haften bleibt, das Streben nach Schönheit als
oberstes Kunstgesetz zu eng befunden, in ihrem immer entschiedeneren [18]
Drang zum Charakteristischen sich gehemmt gefühlt. Eine Dichtung,
deren letztes Ziel die Schönheit in Gehalt und Stoff oder in einem
von beiden bliebe, müßte grundsätzlich alle charakteristischen Züge
opfern, die sich nicht dem höchstmöglich schönen Zwecke unterordnen.
Wohl aber werden auch diese sich zu einem Gesamtbild runden müssen,
das unser Schönheitsgefühl nicht verletzt und dadurch die eigentlich
poetische Wirkung stört.


  Was der Schönheit in der Begriffsbestimmung der Poesie allerdings
am Raum gebührt, ist nach alledem sekundär: einerseits negativ,
indem die Unlust an Häßlichem, Ekelhaftem, Schmutzigem, Abstoßendem
nicht die eigenartige, im übrigen auf einem ganz heterogenen
Gebiet liegende poetische Lust durchbrechen darf; und auch positiv,
indem diese letztere, ohne in ihrer Eigenart beeinträchtigt zu sein,
dieselbe möglichst harmonisch, abgerundet, in sich geschlossen zum Ausdruck
bringen will. Aber selbst für die poetische Form ist damit die
Schönheit nicht als das oberste Gesetz anerkannt.


  Zugestanden muß bleiben, daß es Schöpfungen der Poesie giebt,
die teils bewußt, teils unbewußt vor allem nach Schönheit in Form
und Jnhalt strebten. Aber indem andre Dichtungen diesen Maßstab
ebenso entschieden als ausschlaggebend abwehren, erhellt abermals die
Unmöglichkeit, eine befriedigende Begriffsbestimmung der Poesie ohne
zusammenhängenden Ueberblick über all ihre Entwicklungsstufen zu
gewinnen.

§ 16.
Poetische Selbstgeständnisse über das Wesen der Poesie.


  Haben uns die Aesthetiker keine zuverlässige Methode und keine
sichere Grundlage für Beantwortung unserer Frage nach dem Wesen
der Dichtung geboten, so könnte es naheliegen, uns bei den Dichtern
selbst Rats zu erholen. Jn der That hat die neueste Poetik auf
solche Selbstgeständnisse größtes Gewicht gelegt.


  Ein ungeordnetes Durcheinander von Stimmen schallt uns auch
hier entgegen.


„Poesie ist tiefes Schmerzen,

Und es kommt das echte Lied

Einzig aus dem Menschenherzen,

Das ein heißes Weh durchglüht“ ─
[19]

stöhnt der eine (Justinus Kerner),


„Und singend einst und jubelnd

Durchs alte Erdenhaus

Zieht als der letzte Dichter

Der letzte Mensch hinaus“ ─

jauchzt der andere (Anastasius Grün). Während Goethe bekennt:
„Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die
Wirklichkeit angeregt“, ─ dissentiert Schiller: „Jch glaube, es ist
nicht immer die lebhafte Vorstellung seines Stoffs, sondern oft nur
ein Bedürfnis nach Stoff, ein unbestimmter Drang nach Ergießung
strebender Gefühle, was Werke der Begeisterung erzeugt“.


  Es leuchtet zunächst ein, daß all solche Geständnisse aus Dichtermund
subjektiv gefärbt sind. Weit entfernt, daß ein Urteil des Dichters
selbst über die Dichtkunst ohne weiteres als objektiv beweiskräftig
hinzunehmen ist, kann es nicht einmal für seine eigene Dichtung unbedingte
Zuverlässigkeit in Anspruch nehmen. Denn das Schaffen des
echten Künstlers geschieht immer bis zu einem gewissen Grade reflexionslos;
sobald er darüber reflektiert, ist er also vor einer Selbsttäuschung
nicht völlig gesichert.


  Außerdem tragen solche Aeußerungen, wenn anders nicht der
betreffende Dichter ausdrücklich Untersuchungen von wissenschaftlicher
Beweiskraft anstrebt, gelegentlichen Charakter und erstrecken sich bald
auf diese, bald auf jene zufällige Einzelheit. So betreffen Zeugnisse
dieser Art, wie sie z. B. Wilhelm Dilthey zusammenrückt: Goethes
Erfahrung, wenn er an eine Blume dachte, Schillers soeben herausgehobene
Aeußerung über unbestimmte Gefühle, Geständnisse von
Alfieri und Heinrich von Kleist über musikalische Empfindungen, Otto
Ludwigs Beschreibung von Farbenerscheinungen, ─ Auslassungen, die
sämtlich über den Ausgangspunkt der dichterischen Produktion Aufschluß
geben sollen.


  Es erhellt, daß auch sie nur als nach Zeit, Ort und Subjekt
beschränkte Teile des umfassenden Materials dienen können und gerade
erst im Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung ihre Bedeutung
kritisch beleuchtet wird.


[figure]
[E20]

Variationen der Poesie.

§ 17.
Variationen der Poesie: a) in der Theorie.


  Allen Definitionen der Poesie durch Theoretiker wie durch Dichter
liegt naturgemäß eine Anschauung bestimmter Dichtungen zugrunde.
Aber selbst die klassischsten Beispiele reichen nicht hin, um so weniger
als es nicht bloß das Wesen der klassischen, sondern das aller Dichtung
zu ergründen gilt. Ebenso hat, was der einzelne Dichter über
seine Kunst gesteht, keine Verbindlichkeit für alle Dichter.


  Die Thatsache verschiedener Offenbarungsformen der poetischen
Kraft trat bis zu einem gewissen Grade bereits durch Lessings Kritik
zu Tage. Schon er sieht sich genötigt, die griechische und englische
Tragödie der französischen entgegenzustellen: freilich noch mit der
Schlußfolgerung, daß sich letztere gegenüber den ersteren als eine
unvollkommnere Dichtweise bekunde. Herder führt alsdann die zunächst
überaus fruchtbare, wenn auch zu schroffe Scheidung von Volks=
und Kunstdichtung ein. Schiller sucht der sentimentalischen Poesie
einen gleichberechtigten Platz neben der naiven zu sichern, indem er
die idealistische und realistische Geistesrichtung ausdrücklich als Quellen
verschiedengearteter Poesie anerkennt. Unter dem Einfluß der Romantik
erwächst die Gegenüberstellung von klassischer und romantischer
Dichtung. Jm Laufe des 19. Jahrhunderts beginnt man neben der
klassischen und der romantischen noch die realistische Kunstform als
eine dritte Variation zur Geltung zu bringen.

[21]

§ 18.
Fortsetzung: b) in der Produktion.


  Nicht allein in theoretischer Gruppierung gelangen Variationen
der Poesie zur Anerkennung. Ersichtlich sehen die Dichter selbst zu
verschiedenen Zeiten ihre Aufgabe gar verschieden an.


  Unsere heimische Dichtung läßt diese Wandlungen typisch hervortreten.
Der alte Volkssänger ist von rein stofflichem Jnteresse an
der nationalen Sage erfüllt, die er als heilige Ueberlieferung unverfälscht
und nur in den Schmuck der gefälligen poetischen Form gekleidet
seinem Volke vermitteln will. Schon das Zeitalter der Kreuzzüge
läßt den Gefühlsüberschwang, das Bedürfnis nach ästhetischem
Genuß stark hervortreten. Die Dichtung des Reformationszeitalters
zeigt sich von religiös=ethischen Tendenzen geleitet. Die Gelehrtenpoesie
des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts hat ersichtlich den
Verstand zu Gevatter gebeten; die Dichtung wird thatsächlich, was
der Titel einer Gottschedianischen Zeitschrift verräterisch ausplaudert:
Belustigung des Verstandes und Witzes. Aesthetische und religiössittliche
Momente streben noch in Klopstocks und Schillers Poesie
nach einem Ausgleich. Die humanistischen Ansätze der klassischen Periode
steigern sich in Goethe zum Gipfel. Eine rein ästhetische Kunst
um der Kunst willen gelangt in der Romantik zur Selbstüberbietung
u. s. f. Aus einem jedenfalls weitgehend andersgearteten Drang greift
der Dichter der Gegenwart zur Feder als das Germanenheer zur Zeit
des Tacitus den Schild an den Mund legte, damit sein Schlachtgesang
um so dröhnender gelle. Selbst ein Ludwig Anzengruber
dichtet aus andern Voraussetzungen und zu andern Zwecken, vor allem
nach andern ihm halb bewußt, halb unbewußt vorschwebenden Gesetzen
als sein ebenfalls unserm Jahrhundert angehöriger Landsmann
Franz Grillparzer.

§ 19.
Fortsetzung: c) in der Wirkung.


  Noch heute läßt sich erkennen, wie die Poesie selbst von Zeitgenossen
je nach Alter, Bildungsgrad und Jndividualität aus wesentlich
verschiedenen Motiven gesucht und genossen wird.

[22]

  Jm allgemeinen beginnen wir selbständig zu lesen, um den
interessanten Jnhalt, den Stoff, die „Geschichte“ kennen zu lernen.
Daneben sucht man eine Nahrung für das Gefühlsleben. Weiter
gelangen namentlich Ungebildete selten. Sobald man eigene Anforderungen
stellt, verlangt der größte Teil des Publikums, was schon
die Xenien zur Zielscheibe berechtigten Spottes nehmen:


„Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch.“

Die erste Regung der Kritik im halbgebildeten Geist äußert sich durch
die Neigung, den Jnhalt auf seine Wahrscheinlichkeit zu prüfen. Eine
weitere Alters- und Bildungsstufe erwartet wohl, daß die Tendenzen
der Tagesströmung zur Aussprache gelangen u. s. f. Erst der voll
ausgereifte Geist von geschlossener Bildung und Lebenserfahrung vermag
den vollen Gehalt der humanistischen Dichtung auszuschöpfen ─
wie z. B. von Berthold Auerbach das bezeichnende Wort „goethereif“
geprägt wurde.


  Unschwer ergeben sich aus solchen noch heute in Auffassung der
Poesie hervortretenden Verschiedenheiten Parallelen zu der Variation,
die wir im Laufe der geschichtlichen Entwicklung obwalten sahen.
Jedenfalls wird unwiderleglich, daß die Poesie ─ so gewiß ihr ein
einheitliches Wesen zugrunde liegen muß ─ zu verschiedenen Zeiten
verschieden aufgefaßt wurde und noch heute von verschiedenen Personen
verschieden aufgefaßt wird. Allgemeingültige Gesetze werden
sich nur durch Berücksichtigung der sich vollziehenden Entwicklungen
und Umbildungen gewinnen lassen.

§ 20.
Verhältnis der poetischen Gattungen.


  Ueberblicken wir heute die Poesie, so bietet sich uns eine Fülle
poetischer Gattungen dar. Eine ungeschichtliche Auffassung könnte zu
der Voraussetzung verleiten, sie wären stets in gleicher Mannigfaltigkeit
vorhanden gewesen und hätten stets denselben Charakter an sich
getragen.


  Auch wenn wir zunächst von dem Urquell aller Poesie absehen,
weil er in einen nicht mit voller Klarheit durchdringlichen Nebel gehüllt
ist, ─ auch wenn wir unsern Blick nur zu den ältesten Zeiten [23]
zurückschweifen lassen, die uns geschichtlich erreichbar sind, suchen wir
vergebens den heutigen Reichtum poetischer Formen oder Gattungen.
Vielmehr läßt sich bei allen nicht von außen beeinflußten Völkern
zunächst nur eine gleichartige, höchst einfache, in jedem Sinne einförmige
Poesie erkennen. Sofort wird die Ueberzeugung unabweisbar:
die poetischen Gattungen bestanden nicht von vorn
herein neben einander.


  Daß sie nach einander entstanden, läßt sich wenigstens für das
Drama bei den hervorragendsten Kulturvölkern im vollen Licht der
Geschichte beobachten. Aber auch eine subjektive Lyrik können wir in
selbständiger Entfaltung für die ältesten erreichbaren Zeiten geschichtlich
nicht nachweisen. Freilich dürfte nun auch von epischer Dichtung
im heutigen Sinne kaum die Rede sein; aber konkreter, objektiver
Charakter herrscht grundsätzlich vor.


  Noch ist die poetische Empfindung nicht subjektiv, noch vermag
sie sich nicht in abstrakten Wendungen auszusprechen.


  1. Sie ist nicht subjektiv: denn noch geht der Einzelne in der
Masse auf, seiner Jndividualität wird er sich nicht bewußt, ja sie ist
geistig nur im bescheidensten Maße vorhanden. Aber wäre die Jndividualität
selbst bewußter ausgebildet, sie käme nicht zur Geltung,
weil garnicht der Einzelne, sondern die Masse spricht. Das uns
bekannte poesiegeschichtliche Material nötigt zu der Annahme, daß die
älteste Dichtung chorartigen Charakter trug.


  An unserer deutschen Poesie betont das erste darüber vorliegende
Zeugnis, die Germania des Tacitus, ausdrücklich diese Eigenschaft:
gemeinsam sangen die alten Germanen sowohl vor der Schlacht wie
beim Mahle. Besonders hebt er Lieder hervor, durch deren Vortrag
sie den Mut anfeuern und den Ausgang des bevorstehenden Kampfes
aus dem Gesange selbst vorausdeuten. Ebenso wenig läßt der Vortrag
der religiösen Gesänge, die auch für die älteste deutsche und
griechische Dichtung bezeugt sind, subjektive Elemente zu. Wie aus
den ersten poetischen Denkmälern der orientalischen Poesien erschließbar,
wie es auch jedem späteren Kultusgesang natürlich, spricht diese
Poesie aus den Empfindungen der gesamten Gemeinde heraus, gleichviel
ob dieser selbst der Gesang zugeteilt ist oder aber der Priester
sich an sie wendet, um ihre Herzen zur Gottheit zu erheben.

[24]

  2. Die poetische Empfindung vermag sich auch noch nicht abstrakt
auszusprechen. Jn konkreter Gestaltung veranschaulicht der religiöse
Mythos das Walten der Naturmächte; in konkreter Erzählung bewahrt
die Sage die nationalen Thaten der Vorzeit. Selbst individuelle
Empfindungen, sobald die Zeit für ihre Aussprache reif geworden,
leihen zunächst ein konkretes Gewand, eine Art epischer Einkleidung.


  Talvj betont, daß im Volkslied die Braut an der Bahre des
Geliebten die Eigenschaften und Handlungen aufzählt, durch die er
sich bei Lebzeiten ausgezeichnet: offenbar will sie durch Vergegenwärtigung
seiner Vorzüge sich und andern die Größe ihres Verlustes
klar machen. Man vergleiche noch die ältesten deutschen Minnelieder.


Ich stuont mir nehtint spâte an einer zinnen;

dô hôrt ich einen ritter vil wol singen

in Kürenberges wîse al ûz der menigîn:

er muoz mir diu lant rûmen, ald ich geniete mich sîn.“

Wir finden hier gegenständliche Erzählung, die nur schließlich lyrisch
accentuiert ist. Für die ältesten bekannten Gattungen der griechischen
Lyrik steht nicht nur der chorische Vortrag, sondern ebenfalls
ein starrer epischer Kern fest, der sich besonders in mythischen Elementen
darbietet. Es wird klar: das Gefühl vermag sich zunächst
nur an Thatsachen emporzuranken, es kennt keine geistigen Abstraktionen,
nur greifbare Eigenschaften und Geschehnisse.

§ 21.
Fortsetzung: Entwicklung.


  Der spätere Durchbruch von Subjektivität und Abstraktion unter
Abgehen von ursprünglich starrer Gegenständlichkeit wird vor allem
durch die Entwicklung der epischen Dichtung selbst klar gespiegelt.


  Abgerissen, einsilbig rückt das Hildebrandslied die starren Thatsachen
in gedrungener Kraft eng an einander; für Reflexionen und
Gefühlsausbrüche ist kein Raum. Damit vergleiche man die Gefühlserweichung,
die das Nibelungenlied offenbart: wie nicht nur die milden
und lieblichen Empfindungen den gigantischen Stoff durchsetzen,
nicht nur der Stil der Erzählung von Beschreibungen und Reflexionen
durchbrochen ist, sogar die Charaktere ihrer düstern Erhabenheit entkleidet,
dem Typus idealer Normalmenschen angeähnelt sind. Und [25]
nun beachte man gar die unentrinnbare Ueberschwemmung und Durchtränkung
von subjektiven und reflexiven Elementen, der all diejenigen
Epen des sinkenden 12. und gar des 13. Jahrhunderts mehr und
mehr ausgesetzt waren, deren Quellen nicht ─ wie noch im Nibelungenliede
─ teilweise auf älteren germanischen Stil zurückgehen.
Statt Erzählung der Thatsachen tritt allmählich Auflösung derselben in
Reflexion über die Thatsachen. Erst mit Beginn dieser Epoche aber,
im 12. Jahrhundert, läßt sich eine deutsche Lyrik als selbständige
Gattung durch fortlaufende Zeugnisse nachweisen, erst jetzt zum mindesten
sind ihre Keime zum Blühen reif.


  Nicht anders stellt sich die Entwicklung des Epos und ihr Verhältnis
zur Lyrik in Griechenland. Abgebrochener, sprunghafter Stil,
der nur in rohen Umrissen derb skizziert, läßt sich für die ältesten
epischen Lieder erschließen. Homer zeigt in aller behäbigen Breite
der Epopöe großen Stils noch die plastische Objektivität reiner Epik;
fehlt es zwar durchaus nicht an reflexiven und selbst gnomischen Elementen,
so sind diese doch den handelnden Personen in den Mund
gelegt und entsprechen durchaus ihrem Charakter. Dagegen überwuchern
solche Betrachtungen als subjektive Aeußerungen der Dichter
in der späteren Epik, so entschieden sie im allgemeinen Anschluß an
den Stil des Homer sucht. Die kyklischen Epiker sprechen nur zu
häufig selbst, wo Homer seine Personen handelnd und redend sich
unmittelbar vorführen ließ. Jn einer Entwicklung, die von der klassischen
Philologie längst als streng organisch anerkannt ist, gelangt
nun erst die Lyrik zu selbständiger Blüte ─ nun eben bricht sich
erst die Subjektivität im Volksgemüte Bahn.


  Auch in den orientalischen Poesien durchbricht das Einzelpersönliche
erst in einer späteren Epoche die ursprünglich starre Einförmigkeit
und Allgemeingültigkeit. Vom Drama gar ist auf den drei beobachteten
großen Domänen der Weltpoesie auch am Anfang dieser
vorherrschend lyrischen Periode noch nicht die Rede.


  Ja, womöglich noch klarer wie die Lyrik sich aus epischen Elementen
herauswickelt, sehen wir das Drama bei den antiken wie
modernen Völkern ausdrücklich vor allem durch epische und in zweiter
Linie durch lyrische Voraussetzungen bedingt. Aus Gesängen beim
Dionysosfest hat sich das griechische Drama entwickelt: Man pries [26]
teils mit Ernst, teils mit Uebermut die Thaten und Funktionen des
Gottes. Gesten und scenische Veranschaulichung belebten den Gesang.
Anstelle der ursprünglichen Abwechselung zwischen dem Vorsänger und
dem Chor trat erst allmählich eine Sonderung individueller Personen.
Aehnlich bildete sich das Drama der modernen Völker aus dem christlichen
Kultus heraus: Die Verlesung von Bibelstellen wurde, zunächst
in der Passionszeit, durch Geberden und Rollenverteilung, alsdann
durch dekorative Elemente veranschaulicht. Anstelle der Erzählung
tritt die Empfindung der Einzelpersonen in den Vordergrund.


  Aus alledem gelangen wir zu der gesetzmäßigen Wahrnehmung,
daß die einzelnen poetischen Gattungen nicht nur nach
einander entstanden sind,
sondern sich in gewissem Sinne aus
einander entwickelten.
Die Geschichtlichkeit des Geisteslebens
beginnt damit für uns einen festen Jnhalt zu gewinnen.

§ 22.
Analogie der Sprachentwicklung.


  Der Verlauf geschichtlicher Entwicklung der Poesie hat zunächst
etwas Ueberraschendes: Die Poesie fließt allem heutigen Anschein
nach aus dem Geiste eines einzelnen Subjektes zu dem Geiste einzelner
Subjekte, ─ und doch soll nicht die subjektive Empfindung,
sondern die konkrete Objektivität den Anfang der Poesie bezeichnen!


  Wir wissen nun bereits, daß die Subjekte in den ersten Epochen
jedes Volkes noch nicht wesentlich aus dem Herdeninstinkt heraustreten;
wissen ebenso, daß die zugrunde liegende Empfindung vorerst
nur einen konkreten, an Thatsachen sich emporrankenden, in Anschauung
gekleideten Ausdruck kennt.


  Aber schon die Analogie der Sprachentwicklung erhärtet die allgemeine
Geltung dieses Entwicklungszuges. Auch an der Sprache
deckt Jakob Grimm eine Entwicklung vom Sinnlichen zum Geistigen,
von epischen bis zu dramatischen Vorstellungen auf. Jn der Einleitung
zum ersten Teil seiner Deutschen Grammatik überschaut er an
unserer Muttersprache bereits diesen Thatbestand: „Je weiter wir
zurückgehn, desto größer ist noch ihre sinnliche Gewalt ... Der
geistige Fortschritt der Sprache scheint Abnahme ihres sinnlichen Elements
nach sich gezogen, wo nicht gefordert zu haben.“

[27]

§ 23.
Scheinbare Ausnahmen.


  Zwei besonders alte und ehrwürdige Denkmäler der menschlichen
Poesie scheinen nun freilich der Auffassung zu widersprechen, daß der
Weg der Kunst aus konkreter Objektivität zu abstrakter Subjektivität
führe. Der Veda der Jnder, die Edda der Skandinaven tragen zwar
noch episch=lyrischen Charakter, zeigen aber die lyrische Erweichung
stellenweise bis zur Phantastik entartet.


  Nun tritt schon bedeutsam hervor, wie selbst in den ältesten Bestandteilen
der Veden, den Hymnen des Rigveda, sich Zeichen anhebender
Entartung finden, die vor der Ansetzung eines Uralters für
diese religionspoetischen Denkmäler warnen. Unverkennbar zeigen die
Veden den Charakter von Priestermanualen, welche das poetische Material
für den Opferkultus überlieferten. Die eigentliche Mythenschöpfung
muß einer solchen Art Poesie vorangegangen sein. Andererseits
steht der Hinzutritt neuen Materials und die Verdunkelung mancher
älteren Stellen fest. Suchten die Priester den altehrwürdigen
Charakter der Veden auch zu erhalten, so läßt sich die große Wahrscheinlichkeit
wiederholter Ueberarbeitungen für den Lauf der Jahrhunderte
kaum abweisen. ─ Gar für die Edda unterliegt heute die
späte Entstehung und irgend eine Berührung mit den Vorstellungen
des Christentums keinem Zweifel mehr.


  Treffend betont Paul de Lagarde deshalb: es seien die uns
überlieferten Mythen, besonders „Veda und Edda und was diesen beiden
näher oder ferner analog ist, in ihrer Gesamtheit durchaus nicht
... die Aeußerung eines originalen Lebens, sondern Mittel, um
den Nachklang originalen, aber vergangenen Lebens ... festzuhalten.
Die Edda ist der krankhafte Mißverstand einer gelehrten, dem germanischen
Volke aufgezwungenen Symbolsprache ... Und bei den
Veden wird es nur dem Grade nach anders sein.“

§ 24.
Fortsetzung: Die sogenannten Naturvölker.


  Ebenso wenig kommt die Poesie der heutigen fälschlich sogenannten
Naturvölker als eigentlich echte Grundlage für entwicklungsgeschichtliche
Untersuchungen in betracht.

[28]

  Daß sich bei jenen häufig Tänze und mimische Darstellungen
mit lyrisch=epischen Vorträgen vereinen, veranlaßt zahlreiche Forscher
zu der Annahme, in solchem Urbrei sei ein getreues Spiegelbild von
den Anfängen menschlicher Poesie überhaupt zu sehen. Jndessen kann
der heutige Zustand ungeschichtlicher wilder Stämme keine sichere
Grundlage für unsere Auffassung vom Urstand geistiger Entwicklung
bilden, am wenigsten gegen die Gesetzmäßigkeit der Gestaltung beweisen,
in welcher sich uns die erreichbar oder erschließbar ältesten
poetischen Schöpfungen der hervorragendsten Kulturvölker darbieten.


  Auch Paul de Lagarde weist die Verfassung wilder Stämme als
Zeugin für natürliche Urzustände ab. Zunächst im Hinblick auf religiöse
Vorstellungen führt er aus: „Die aus dem Glauben jetzt lebender
wilder Völker entnommenen Beweise dürfen nicht gelten. Der
Mensch ist, weil fortdauernder Entwicklung fähig, weil unsterblich,
weil ein Gedanke des göttlichen Geistes, nur in der Entwicklung, also
nur in der Geschichte, Mensch. Ungeschichtliche Völker sind nicht das
Normale, sondern die Wirkung einer Krankheit. Wer will aber dann
aus ihrer Art, welche in That und Wahrheit nur Un-Art heißen
darf, Schlüsse auf die an der Spitze der Entwicklung stehende, also
gewiß, da sie die Fähigkeit der Vaterschaft besaß, kerngesunde Phase
unserer Geschichte machen?“


  Genug, nicht die Unnatur der ungeschichtlichen Wilden, die Naturzustände
der geschichtlichen Kulturvölker haben wir aufzusuchen, wenn
wir die Grundlage für die Entwicklung der uns bekannten Poesie
gewinnen wollen.


[figure]
[E29]

Das Wesen der Poesie.


§ 25.
Religiöser Charakter der ältesten Poesie.


  Wir stehen am Beginn unseres Weges. Vor uns liegt die vorgeschichtliche
Zeit in undurchdringlichem Nebel, welcher auch den Quell
der Poesie unserm Blicke entrückt. Auf Kombinationen heißt uns
unsere Methode der Thatsachen verzichten. Nur so viel stellten wir
bereits fest: sehen wir in geschichtlich erschlossener Zeit sich die Poesie
nach einer bestimmten Richtung entwickeln, so kann in der noch unerschlossenen
Zeit, der wir andauernd neue Jahrhunderte abringen,
die Entwicklung nicht in umgekehrter Richtung geschehen sein.


  Vor welche Thatsachen stellt uns aber die älteste erschlossene
Poesie? So vielen Eingriffen im einzelnen Sprache und Stil derselben
bei der Verpflanzung durch die Jahrhunderte ausgesetzt gewesen,
die indischen Veden bleiben das der Zeit nach erste unter den
erhaltenen poetischen Denkmalen der indogermanischen Völkerfamilie.
Jm Rig-Veda hören wir die als Göttin personifizierte Rede ihre
Macht also preisen:


„Jch bin die Fürstin, Sammlerin der Güter,

Zuerst hab' ich erkannt die heil'gen Götter;

Drum haben sie mich überall verbreitet,

Die ich in vieles dringe und drin weile.

Jch zeug' des Weltalls Vater in der Höhe,

Mein Sitz ist in den Wassern, in dem Meere,

Von da verbreit' ich mich in alle Wesen,

Berühr' mit meinem Scheitel dort den Himmel.

Jch bin es, die da wehet gleich dem Winde,
[30]
Jm Weh'n ergreif' ich alles, was da lebet,

Jenseit des Himmels, jenseit dieser Erde;

So groß bin ich durch meine Macht und Größe.“

An anderer Stelle unterrichten uns die Sänger selbst über ihre
Mission:


„Den Jndra hat die Götterschaar

Zur Vitratötung ausersehn;

Jhm tönet zu der Sänger Chor

Zu hoher Kraft.

Den Großen preisen wir mit Macht;

Mit Loblied den, der Ruf erhört,

Erheben ihn mit Liederschall

Zu hoher Kraft ...

Dies Preislied bringt, o Jndra, dir

Der Sänger dar mit frommem Sinn,

Das schwesterlich den Schritten folgt

Beim Opferfest.“

Göttlichen Ursprungs rühmt sich demnach diese Poesie, und eine göttliche
Mission glaubt sie zu erfüllen; die Götter erhebt sie und ragt
selbst über Menschliches hinaus an den Himmel.


  Religiös erhaben tritt uns auch die älteste bekannte Dichtung der
Parsen entgegen. Jm Zend-Avesta fleht der Sänger zu Ormuzd:


„Mir, deinem Freund, der zu dir betet mit Reinigkeit ...,
gieb eine Zunge der Weisheit! ... Jetzt gieb mir alles Großen
Vollendung! Meines Herzens Sehnen und Regungen müssen
erhaben sein! Durch dich werden sie groß und glänzend
wie des Tages Licht!“


Den gleichen, durchaus religiösen Gehalt zeigt, wie zur Genüge bekannt,
die ältere hebräische Poesie. Sehen wir zu, wie ein solcher
Sänger das Anheben seines Liedes motiviert. Der Lobgesang
Mose schallt:


„Singen will ich dem Herrn, denn er ist hoch erhaben;
Roß und Reiter stürzt er ins Meer.“


Aehnlich bezeichnet Hannah die Ursache ihres Dankliedes:


„Mein Herz frohlockt in dem Herrn! Erhoben ist meine
Kraft
durch den Herrn! Es thut sich mein Mund auf gegen
meine Feinde, denn ich erfreue mich deiner Hilfe.

[31]

All diese Sänger bekennen also, daß ihnen „ein Gott gab, zu sagen“,
was sie empfinden.


  Nicht anders setzt die Edda ein. „Der Seherin Weissagung“ lautet:


„Jch heische Gehör von den heil'gen Geschlechtern,

Von Heimdalls Kindern, den hohen und niedern;

Walvater wünscht es, so will ich erzählen

Der Vorzeit Geschichten aus früh'ster Erinn'rung.“

„Der Seherin Weissagung“! Wie in den Propheten des alten Bundes
sehen wir die Seher- und Sängergabe als eins und ungetrennt:
Religion und Poesie war noch eins und ungetrennt. Desgleichen ist
für die griechische Poesie die Existenz religiöser Lieder weit vor der
Homerischen Zeit gesichert. Unter den deutschen Gesängen bezeugt
Tacitus ausdrücklich in erster Linie Verherrlichungen der Götter: „Die
Deutschen feiern in alten Liedern Tuisko, den erdentsproßnen Gott,
und seinen Sohn Mannus als Stammväter und Begründer ihres
Geschlechtes.“


  Bezeichnend, wenn auch natürlich nicht ausschlaggebend, erscheint
die Art, in welcher die ältesten Sagen die Entstehung der Poesie
erzählen. Auch hier wird sie auf göttlichen Ursprung zurückgeführt.
Nicht eben geschmackvoll, doch im Kern unzweideutig berichtet die sogenannte
Snorra Edda:


„Aegir fragte: ‚Welches ist der Ursprung der Dichtkunst?'
Bragi antwortete: ‚Die Götter hatten eine Fehde mit den
Wanen, kamen aber schließlich zusammen, um Frieden zu
schließen. Sie gingen zu einem Gefäß und spieen ihren Speichel
hinein und schufen aus diesem einen Mann, der Kwasir (d. i.
wohl der Flüsterer) heißt. Dieser wußte für alle Dinge Rat.
Als er aber einmal zu den Zwergen Fjalar und Galar (d. h.
Späher und Sänger) kam, lockten ihn diese zu einer heimlichen
Unterredung und töteten ihn. Darauf ließen sie sein
Blut in zwei Krüge und einen Kessel rinnen. Danach mischten
sie das Blut mit Honig, und diese Flüssigkeit heißt seitdem
Met, und jeder, der davon trinkt, wird ein Dichter und
ein Weiser. Ueber Kwasir aber verbreiteten die Zwerge das
Gerücht, daß er an seiner eignen Weisheit erstickt sei, da niemand [32]
so klug gewesen sei, daß er sie ihm habe abfragen
können.'“


Auf welche Weise nun auch die einzelnen Völker ihre Dichtergabe von
den Göttern herleiten, religiös=erhaben ist thatsächlich die älteste uns
erreichbare Poesie.


  Aehnlich sehen wir in geschichtlicher Zeit neue Ansätze zu poetischen
Entwicklungen vorherrschend von dem Religiös-Erhabenen ausgehen.
Religiös ist überall der Ursprung des Dramas; im Zeitalter
der Kreuzzüge, im Zeitalter der Reformation, mit den Gesängen des
„Messias“ verjüngt sich unsere Dichtung dreimal; Goethe und Schiller
beginnen ihre schöpferische Thätigkeit mit einem „Joseph“ und „Moses“.

§ 26.
Die Erhabenheit der ältesten Poesie.


  Jn durchgehender Uebereinstimmung betont die älteste uns erreichbare
Poesie ihren erhabenen Charakter, ihr Ziel zu den Göttern
zu erheben. Die Erhebung über das Jrdische, die Erhabenheit, tritt
auf dieser ersten Stufe als Wesenheit der Poesie auf. Von einer
Tendenz zur Schönheit ist dagegen noch nirgends die Rede.


  Schon auf Grund dieser Betrachtung müssen Zweifel aufkommen,
ob die bloße ungeschichtliche Gegenüberstellung von Erhabenheit und
Schönheit haltbar ist. „Zwei Genien sind es,“ führt Schillers Abhandlung
„Ueber das Erhabene“ aus, „die uns die Natur zu Begleitern
durchs Leben gab. Der Eine, gesellig und hold, verkürzt
uns durch sein munteres Spiel die mühvolle Reise, macht uns die
Fesseln der Notwendigkeit leicht und führt uns unter Freude und
Scherz bis an die gefährlichen Stellen, wo wir als reine Geister
handeln und alles Körperliche ablegen müssen, bis zur Erkenntnis der
Wahrheit und zur Ausübung der Pflicht. Hier verläßt er uns,
denn nur die Sinnenwelt ist sein Gebiet, über diese hinaus kann ihn
sein irdischer Flügel nicht tragen. Aber jetzt tritt der andere
hinzu,
ernst und schweigend, und mit starkem Arm trägt er uns
über die schwindligte Tiefe. Jn dem ersten dieser Genien erkennet
man das Gefühl des Schönen, in dem zweiten das Gefühl des Erhabenen.“
Aehnlich faßt Wilhelm Wackernagel das Verhältnis in
seiner Poetik: „Die Einbildungskraft kann den Verstand vorübergehend [33]
gänzlich überwältigen und seine Mitwirkung aufheben, kann ihm Anschauungen
entgegenhalten, welche er nicht zu fassen vermag, für welche
die ganze Summe seiner Erfahrungen und Urteile unzureichend ist.
Alsdann steigert sich das Schöne zum Erhabenen.“


  Historisch dürfte das Verhältnis gerade umgekehrt liegen wie in
diesen deduktiven Spekulationen: Das schöne Ebenmaß der griechischen
Litteratur fällt später als die erhabene Gigantik der ältesten religiösen
Poesie. Erst Jahrhunderte nach dem Hildebrandslied und der Edda
weiß die germanische Poesie Formen zu finden, die anstelle der alten
Felsschlucht-Zerrissenheit schöne Lieblichkeit setzen, ─ Klänge wie im
Nibelungenlied von Volkers Fiedel:


„Als der Saiten Tönen ihm so süß erklang,

Die stolzen Heimatlosen sagten ihm großen Dank“;

wie in der Gudrun „die süße Weise Horunds“; und einen Sänger,
„der uns Freude brächte“, wie Walther von der Vogelweide ersehnt.


  So scheint es, daß nicht nur die Erzeugnisse des menschlichen
Geistes, wie Epos, Lyrik, Drama, sondern auch die Eigenschaften
desselben in jahrtausendelangem Werdeprozeß sich nach und aus
einander herausgebildet haben. Keineswegs hat diejenige Fülle und
Feinheit, über welche der heutige Geist verfügt, von vorn herein
neben einander im Bewußtsein des Menschen gelegen. Erwacht doch
auch im Geiste des Einzelmenschen zuerst das Gefühl für Erhabenheit:
Religion, Furcht u. dergl., viel später erst das für Schönheit:
Kunst, Liebe u. dergl.

§ 27.
Vergöttlichung als poetisches Stilmittel.


  Wie tief die Poesie in der Religion wurzelt, wie durchaus die
Erhebung über das Jrdische auch weiterhin eine Tendenz der Dichtung
bleibt, das offenbart sich im ganzen Verlauf der Weltpoesie.
Weit entfernt, daß sich deren einzelne Perioden in buntem Wechsel
ablösen, sehen wir vielmehr die einmal errungene Geisteskraft neben
den neu herausgebildeten fortbestehen. Nicht schlechtweg anders, sondern
reicher wird der Menschengeist.


  Schreiten wir nämlich von den ältesten Dokumenten der Poesie [34]
einen Schritt weiter zeitlich vor, dann noch einen Schritt, und so
fort bis in die Gegenwart, so sehen wir zwar neue Stoffe und neue
Formen in zunehmender Fülle, ─ ohne daß doch die religiös=erhabene
Empfindung zurückgedrängt ist. Keineswegs bloß die rein äußerliche
und selbstverständliche Thatsache tritt uns entgegen, daß religiöses
Empfinden zu allen Zeiten dichterischen Ausdruck sucht. Augenfällig
wird vielmehr die Erscheinung, daß auch die menschlichen Helden, die
nun für dichterische Gestaltung reif werden, von der Poesie zu göttlichem
Schein erhoben
werden, ja daß die Vergöttlichung
geradezu die Hauptmethode der Poetisierung wird und bleibt.


  Zunächst in der Heldendichtung. Die größere Episode „Nal und
Damajanti“ im indischen „Mahabharata“ beginnt unmittelbar:


„Es war ein König Nala,

Des Virasena Sproß,

Schön, hochbegabt und mächtig,

Vertraut mit Wagen und Roß;

Die Herrscher überragend

Wie Jndra die Götterwelt ...“

Aehnlich wird die Heldin eingeführt:


„Und als sie älter wurde,

Umgab eine Mädchenschar

Die holde Damajanti

Wie eine Göttin gar ...

Von Schönheit hehr und herrlich,

Mit großem Augenpaar;

Und unter allen Göttern

Und unter Menschen war

Ein solcher Liebreiz nimmer

Vernommen noch gesehn;

Ein herzentzückend Mädchen,

Für Götter selbst zu schön!“

Bekundete schon der Vergleich mit den Göttern das Streben des
Dichters, seine Heldin aus dem gewöhnlich menschlichen Bereich emporzuheben,
so ist der Superlativ mit der Erhebung selbst über die göttliche
Höhe erreicht: „Für Götter selbst zu schön!“


  Ueberall legt die Sage und alte Dichtung ihren Helden gern
göttlichen Ursprung bei. So ist noch die Heldin von Kalidasas [35]
Drama „Sakuntala“ nicht ohne göttliches Zuthun in die Welt getreten.
Jm ersten Akt des indischen Dramas heißt es darüber:


„Als einst jener königliche Weise am Ufer der Gáutami strenge
Buße übte, so gerieten die Götter darüber in Angst und sandten
die Nymphe Ménaka herab, um seinen Bußübungen Hindernisse
in den Weg zu legen ... Jn den Tagen, wo der
Frühling zur Erde niedersteigt, sah er ihre bezaubernde Schönheit,
und da ─“


„Das Uebrige kann ich erraten,“


unterbricht der König zartfühlend die Erzählerin.


Auf jeden Fall stammt sie von einer himmlischen
Nymphe
...“


  Von besonderer, grundsätzlicher Bedeutung ist der Schluß dieser
Bemerkung:


„Das stimmt auch zu allem.


Wie könnte diese Huldgestalt

Von einem ird'schen Weibe stammen?

Der Wetterstrahl, der glänzend zuckt,

Steigt nicht von dieser Erde auf.“

Scheint dem Redenden einmal die Geliebte über die andern Weiber
emporzuragen, so ist damit die Vergöttlichung unmittelbar gegeben.
Denn wie könnte es anders sein?


„Wie könnte diese Huldgestalt

Von einem ird'schen Weibe stammen?“

Ein solches Zeugnis wird um so bemerkenswerter, als wir uns mit
ihm um anderthalb bis zwei Jahrtausende von den Grundlagen der
religiösen Veda-Poesie entfernen.


  Dieser Prozeß bleibt nicht auf die indische Poesie beschränkt.
Aehnlich singt Homer von dem „göttergleichen Odysseus“ und giebt
gerade dem Sänger den charakteristischen Beinamen des „göttlichen“:


„... Denn ihm gab Gott überschwenglich

Süßen Gesang, wovon auch sein Herz zu singen ihn antreibt.“

Er ist der „Vertraute der Muse“, die, ebenfalls eine Gottheit, ihm
das Lied eingiebt,


„... deß Ruhm damals den Himmel erreichte.“
[36]

An späterer Stelle der Odyssee kommt dasselbe Stilmittel unter
anderm zu folgender Verwendung:


„Aber Nausikaa stand, geschmückt mit göttlicher Schönheit,

Und betrachtete wundernd den göttergleichen Odysseus.“

Dieser seinerseits gelobt:


„Täglich werd' ich auch dort wie einer Göttin voll Ehrfurcht
Dir danksagen ...“


Sogar noch in der Parodie tritt dieselbe Neigung der Poesie hervor.
Aristophanes läßt in seinen „Vögeln“ den Wiedehopf zur Nachtigall
sagen:


„Laß ertönen die Weisen geweihten Gesangs,

Die aus göttlichem Munde dir quellen hervor ...

Hell dringet hindurch durch der Bäume Gezweig

Der süße Klang bis zum Throne des Zeus.“

  So weit wir auch zeitlich vorschreiten und in welche Zone wir
blicken, die Vergöttlichung blinkt uns immer wieder aus der Poesie
entgegen. Ein Jahrtausend nach Christus benutzt der Perser Firdusi
in seinem „Königsbuch“ gleichsam eine dramatische Form zur Aussprache
der Gottähnlichkeit seines Helden:


„Die Augen ihm, die Lippen küßte sie,

Der Anblick, schien's, ersättigte sie nie.

Sie pries den Schöpfer tausendfach darob

Und sprach: ‚Dem Herren, der dich schuf, sei Lob!

Weil keiner sonst vergleichbar ist mit dir,

Kein andrer Sohn des Schahs sich mißt mit dir!'“

Hier zeichnet der Dichter die Schönheit seines Helden durch ihre
Wirkung: ihr Anblick stimmt religiös.


  Wenden wir uns der Neuzeit zu, so kann es nicht überraschen,
etwa einen Racine seinen König über die Götter erheben zu sehen, die,


„von seinem Ruhm geblendet, den Nektar geringer schätzen,
als die hohe Lust, Ludwig nahe zu sein“ ─


in solchen Wendungen richtet sich leibhaft „Der Ruhm an die Musen“.
Aber Racine läßt auch die Gottheit der Liebe vom Himmel steigen,
damit sie den schönen Augen der Geliebten huldige. Und zahlreiche [37]
andre moderne Dichter haben dieselbe Gottheit zu ähnlichem Zwecke
bemüht.


  Größeres Gewicht ist darauf zu legen, daß ein Schiller „Die
Macht des Gesanges“ ausdrücklich als religiös schildert:


„So rafft von jeder eiteln Bürde,

Wenn des Gesanges Ruf erschallt,

Der Mensch sich auf zur Geisterwürde

Und tritt in heilige Gewalt;

Den hohen Göttern ist er eigen,

Jhm darf nichts Jrdisches sich nahn,

Und jede andre Macht muß schweigen,

Und kein Verhängnis fällt ihn an.“

Da doch weder Schiller noch die früher herangezogenen Dichter religiöse
Gefühle zu Tendenzzwecken geheuchelt haben, müssen sie in Ausübung
der Dichtkunst wirklich etwas empfunden haben, das dem
religiösen Gefühl nahe kommt.


  Auch Goethe, der gewiß nicht geflissentlich kirchliche Wendungen
heranzieht, kleidet gerade „Künstlers Morgenlied“ in religiöse Bilder:


„Der Tempel ist euch aufgebaut,

Jhr hohen Musen all,

Und hier in meinem Herzen ist

Das Allerheiligste.“

Nicht anders spricht selbst sein Faust, als er „Liebchens Kammer“,
wahrlich nicht in heiliger Absicht, betritt:


„Willkommen, süßer Dämmerschein,

Der du dies Heiligtum durchwebst! ...

Jn dieser Armut welche Fülle,

Jn diesem Kerker welche Seligkeit! ...

O liebe Hand! so göttergleich!

Die Hütte wird durch dich ein Himmelreich.“

Nicht den Schleier von einem Götterbild, sondern Liebchens Bettvorhang
hebt er, indem er sinnt:


„Und hier mit heilig reinem Weben

Entwirkte sich das Götterbild.“

Schließlich, wenn einer ketzerisch auftritt, so ist es Byron; religiöser
Drang treibt ihn wahrlich nicht, wenn er in der „Braut von Abydos“
singt:

[38]
„Wen dünkten Worte nicht zu arm und schal,

Zu bannen fest der Schönheit Himmelsstrahl?“

Selbst in seinem so unheiligen Don Juan singt er:


„Sie liebte, ja, sie betete ihn an,

Sie ward geliebt, als Heilige verehrt

(im Original „worshipped“). Auch hier greift, wo jedes menschliche
Maß zu schwinden beginnt, der Dichter zur Vergöttlichung seiner
Gestalten.


  Die letzten Zweifel an der Allgemeingültigkeit dieses Stilmittels
zerstreut ein Hinblick auf die neueste naturalistische Dichtung.
Obgleich diese sich geneigt zeigt, möglichst alles Geistige auf physische
Ursachen zurückzuführen, flutet sie wie jede andere Poesie von Vorstellungen
aus göttlichem Bereich über. So hebt ein Vorkämpfer
dieser Richtung, Wilhelm Arent, gleich im Prolog seiner Lieder an:


„Der reinsten Stirne

Götterlinien trügen,

Süßester Rehaugen

Madonnenstrahlen lügen!

Fremd bleibt dem Weib

Des Künstlers Himmelsstreben.“

Das erste Lied selbst beginnt:


„Du bist so stolz und rein,

Du lilienblasse Maid,

Dich küßte in der Wiege

Des Himmels Herrlichkeit.“

Ein anderer, Karl Bleibtreu, läßt ein verworfenes Geschöpf von
ihrem Liebhaber als „Göttin und Jdol“ feiern, ja ihr die Verse
widmen:


„Mein flammend Herz ─ das ist ein Tabernakel:

Zu Weihrauch dort verbrennen deine Mängel.

Und aus der Flamme steigst du ohne Makel,

Ein Phönix neuverjüngt, rein wie ein Engel.“

  Hier, wo sonst die Sprache der prosaischsten Prosa herrscht,
wird recht augenscheinlich, wie weit diese Vorstellungen selbst in die
Alltagssprache eingedrungen sind, wo immer sie nach dem Ausdruck
gehobener Gefühle ringt. Jedermann bezeichnet seine Auserkorene [39]
gern als „Engel“ oder gar als „Göttin“; auch Erdenfürsten wird
„Weihrauch“ gestreut; ein junges Wesen findet womöglich die eigene
Kleidung „himmlisch“ ─ und so schwächen sich alle Begriffe durch
häufigen Gebrauch ab. Schaltet indes jemand gar zu freigebig mit
solchen Wendungen: Engel, Madonna, himmlisch u. dergl., so nennen
wir ihn nicht etwa „religiös gestimmt“, sondern ausdrücklich „poetisch“.


  Man hat sich gewöhnt, den Anthropomorphismus der menschlichen
Phantasie hervorzuheben, die Modelung alles Außermenschlichen
nach menschlichen Begriffen. Jn Art dieses technischen Ausdruckes
ließe sich nach alledem von einem Theomorphismus der Poesie
sprechen, von ihrer Neigung, das Jrdische in überirdischen Schein zu
erheben.

§ 28.
Heroische Epoche der Poesie.


  Wollten wir aus unsern bisherigen ersten Wahrnehmungen ohne
weiteres das Grundgesetz aller Poesie formulieren, so müßte es notgedrungen
einseitig ausfallen, wofern wir nicht den von späteren Dichtungsepochen
geschaffenen Stilmitteln gleicherweise nachgegangen sind.


  Von welcher Seite kommt der Poesie die nächste Bereicherung
zu, sobald sie den ausschließlich religiösen Charakter aufgegeben?


  Mit einer unverkennbaren Gesetzmäßigkeit leuchtet uns nunmehr
das heroische Jdeal entgegen. Eine Beziehung zur Gottheit wird
noch gesucht, und man knüpft die ältesten und tapfersten Helden, von
denen die Sage berichtet, die Stammväter, an das Geschlecht der
Götter an. Diese Halbgötter-Halbmenschen ragen nun ebenfalls
noch ohne weiteres über die bloßen Menschen hinaus; zudem begabt
sie der Dichter in reichem Maße mit durchgehenden Jdealen des
Heldentums.


  Als Denkmal der Heroenzeit lernten wir bereits das indische
Nationalepos „Mahabharata“ kennen. Vergegenwärtigen wir uns
nochmals den Beginn der Episode „Nal und Damajanti“:


„Es war ein König Nala,

Des Virasena Sproß,

Schön, hochbegabt und mächtig,

Vertraut mit Wagen und Roß.“
[40]

Alsbald erfahren wir weiteres über die heroischen Jdeale:


„Jn Nischadha, da thronte

Der fromme Nal, der Held,

Der Edle, Vedakund'ge,

Der große Führer im Feld:

Ein sichrer Schütz', ein Herrscher

Wie Manu selber traun!

Der eignen Sinne Meister,

Ein Liebling schöner Frau'n.“

Schließlich:


„So gab's auf Erden keinen,

Der Nal, dem Helden, glich,

Der selbst dem Liebesgotte

An Wohlgestalt nicht wich.“

Ebenso wohlgebildet ist die weibliche Jdealgestalt der Heroenzeit:


Holdselig in Anmut strahlend,

Voll Liebreiz wunderbar,

Schlankleibig und schönäugig,

Blühend in Jugend ganz.“ ─

  Als außergewöhnliche Menschen erscheinen auch die Helden des
Homer. Wie weiß er nicht sofort Odysseus als bedeutungsvollen
Charakter vorzustellen:


„Sage mir, Muse, die Thaten des vielgewanderten Mannes,

Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung,

Vieler Menschen Städte gesehn und Sitten gelernt hat,

Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet.“

Eine Fülle von Heldencharakteren zeichnet vor allem die Jlias.
Nun auch ist die Harfe „lieblich klingend“; „das Lob der Helden zu
singen“, wird als ihr Zweck bezeichnet. Nicht mehr des Opfers,
„des festlichen Mahles Gespielin“ ist sie. Aber noch immer gilt:


„Alle sterblichen Menschen der Erde nehmen die Sänger

Billig mit Achtung auf und Ehrfurcht; selber die Muse

Lehrt sie den hohen Gesang.“

Wie schon Homer zaubert auch Firdusi vor unsern Blick einen
„Sänger mit der Leier, lieblich singend“; und er singt:


„Das ganze Land, so weit es sich erstreckt,

Jst mit Geschmeide, Seid' und Gold bedeckt;
[41]
Die Priester dort sind goldbediademt,

Die Großen tragen Gürtel goldverbrämt.“

Also selbst die Priester sind jetzt goldbediademt! Desgleichen die
Dichter:


„Aus diademgeschmückter Sänger Reih'n

Erscholl Gesang.“

Der Held ist wiederum der Unvergleichliche:


„O ─ riefen alle Frau'n ─ der Kühnaufstrebende,

Der Kronenwerte, stolz sein Haupt Erhebende,

Den andern Menschen gleicht er nun und nimmer;

Es strahlt sein Geist aus ihm mit hellem Schimmer.“

Jst er schon ein Mensch, so gleicht er wenigstens nicht andern
Menschen.


  Kampf ist natürlich das eigentliche, ursprünglich wohl ausschließliche
Element dieser Heroendichtung.


Von küener recken strîten muget ir nu wunder hoeren sagen“ ─

lautet die Vorankündigung des Nibelungenliedes.


  Aber dieses Gedicht wie die übrigen vorgeführten Nationalepopöen
gehören bereits einer weit vorgeschrittenen Periode der heroischen
Epoche an, wo Glanz und Behagen errungen waren. Der
älteren Heldendichtung scheint Schönheit nur als Kraft begehrenswert
gewesen. Dieser Zusammenhang mit der alten Erhabenheit der Poesie
läßt sich gerade noch auf germanischem Gebiete verfolgen, wie überall
wo einige wenn auch noch so spärliche Reste von jenen heroischen
Einzelliedern erhalten sind, welche der ausgeführten litterarischen
Epopöe vorangehen. Das Hildebrandslied und die in die Edda aufgenommenen
Heldenlieder vermitteln uns die rauhe Kraft und furchtbar
tragische Gewalt des alten Heldentums.


  Doch alle Zeugnisse aus der Heroenzeit beweisen gleichmäßig,
daß noch immer, trotz des Herabsteigens von den Göttern zu den
Heroen, eine Erhebung über die gewöhnlich menschliche Sphäre in
der Tendenz der poetischen Entwicklung liegt. Als außergewöhnlich,
einzig in ihrer Art erscheinen die Helden, ausgezeichnet durch Kraft,
Tapferkeit, Hoheit, Wohlgestalt, Beliebtheit bei Frauen, nicht minder
durch äußern Schmuck: Kronen, Gold, Geschmeide.

[42]

  Wenn statt der Erhabenheit schon stellenweise die Schönheit gepriesen
und erstrebt wird, so offenbart sich damit nur eine neue Erscheinungsform
desselben Prinzipes: Der Dichter sucht mit seinem
Ausdruck die ungewöhnliche Größe seines Helden zu erreichen. Ragt
dieser über Menschliches völlig hinaus, so kann der dichterische
Ausdruck sich ihm nur annähern, ihn nicht erreichen, ─ wird danach
erhaben. Jn dem Maße aber, wie der Held in die menschliche
Sphäre hineinragt, vermag das Wort des Dichters ihn konform
zu erreichen; und die geschlossene Harmonie zwischen Form und Jnhalt
nennen wir Schönheit.

§ 29.
Heldenhafte Vorstellungen in der Poesie.


  Wiederum bestätigt sich der Grundsatz, daß dem menschlichen
Geiste nichts verloren geht, was er einmal errungen hat: ein Ausfluß
des Theismus der ältesten bekannten Poesie war der Theomorphismus,
als Ausfluß des Heroismus der zweiten großen Epoche darf
man eine Art von poetischem Heroomorphismus ansetzen, das
Fortleben heldenhafter Vorstellungen in aller künftigen, wie immer
sonst gearteten Poesie.


  Die durchgreifende Wirksamkeit dieses geistigen Erbes läßt sich
ebenfalls auf fast jeder Seite der Weltlitteratur nachweisen.


  Jn diesem Zusammenhang erscheint es nicht mehr als „Eigentümlichkeit“,
sondern als Gesetzmäßigkeit, wenn die Minnepoesie des
Mittelalters die Liebe gern als Lehnsverhältnis faßt. Kein Zufall
darf uns gelten, daß die poetische Auffassung von den Beziehungen
beider Geschlechter noch heute einen Nachklang dieser Auffassung bietet.
Auch andere Vorstellungen solcher Art blieben noch der neueren Dichtung
erhalten. Shakespeares Desdemona spricht von dem Geliebten
nicht nur in Wendungen wie:


  „Mein Herz ergab sich

Ganz unbedingt an meines Herrn Beruf“;

sie verwendet ebenso gegen den Vater die Vorstellung:


„Jhr seid Herrscher meiner Pflicht.“

Boileau schreibt eine „Apologie der Wahrheit“ in Ausdrücken wie:
„sie muß regieren, glänzen, siegen“ u. s. f., alles doch Vorstellungen, [43]
die dem Helden- und Herrschertum entnommen sind. Vergleichen wir,
welche Bilder Rousseau von seinem Aufenthalt auf der Jnsel St. Pierre
entrollt: „Der erhabene und hinreißende Anblick des Sees und
seiner Ufer, gekrönt von nahen Bergen“ &c., ebenso Lamartine:
„dort die einsame Eiche, von welcher der Felsen gekrönt ist“. Lesen
wir in demselben Gedicht („Die Eiche“) vom Riesen, superben Koloß
u. dergl. als Sinnbild, so sind wiederum Vorstellungen des Heroenzeitalters
auf heterogene Erscheinungen zu poetischen Zwecken übertragen.
Auch Goethe wendet in „Willkommen und Abschied“ auf die
Eiche dasselbe Bild an: „ein aufgetürmter Riese“. Selbst Dorothea,
das landflüchtige Mädchen, wird dem Dichter zur „Heldin“, und
zwar in einer Lage, die das Mädchen nichts weniger als heldenhaft,
vielmehr gerade weiblich hilfsbedürftig erscheinen läßt:


„Es knackte der Fuß, sie drohte zu fallen ...

Und so fühlt er die herrliche Last ...,

Trug mit Mannesgefühl die Heldengröße des Weibes“

─ nämlich Hermann, als er die stolpernde Geliebte stützt, um sie
vor dem Fall zu bewahren.


  Auch Schiller verwendet in ausgedehntem Maße Vorstellungen
aus heroischem Bereich; von besonderer Bedeutung ist die in den
„Künstlern“ gebotene Charakteristik der Schönheit selbst als Majestät
mit der Krone:


„... die, eine Glorie von Orionen

Ums Angesicht, in hehrer Majestät, ...

Die furchtbar herrliche Urania,

Mit abgelegter Feuerkrone

Steht sie ─ als Schönheit vor uns da.“

  Typischen Ausdruck für die Beziehung der Liebe zu heldenhaften
Vorstellungen findet Byron, wenn er in der „Braut von Abydos“ ruft:


„Wer fühlte nicht, bis, von dem eignen Glück

Geblendet, fast erblindete sein Blick,

Bald rot, bald bleich, verzehrt von Lust und Leid,

Die Macht, die Majestät der Lieblichkeit?“

  Jn gewöhnlicher Auffassung stellen wir uns die Lieblichkeit am
wenigsten königlich vor. Es ist aber poetisches Stilmittel, auch das
Naive und Schlichte in eine vornehme Region zu erheben.

[44]

  Zum Schluß bietet uns abermals die naturalistische Litteratur
der letzten Jahrzehnte reichlich Proben für die allgemeine Verbreitung
dieses poetischen Stilmittels:


„Anfangs umzüngelte das moquante Lächeln den süßen Mund,
aber es schwand gänzlich, und ein plötzlicher Schatten unsäglicher
Wehmut deckte ihre vornehmen Züge. Jch ergriff
ihre Hand und preßte sie lange an meine Lippen: ihre
schmalen Finger drückten die meinen mit einem krampfhaften
Druck.“


Die „schmalen Finger“ gelten ebenfalls für ein Zeichen der Vornehmheit.
Karl Bleibtreu ist es, der diese Zeilen schrieb, und seine
Heldin ist alles eher als vornehm von Gesinnung oder Stellung.
Ja, der Dichter läßt seinen Helden zur Aussprache bringen, was in
Wahrheit das Wesen unserer poetischen Figur ist:


„Als sie oben auf der Bühne stand,“


philosophiert er über die weibliche Hauptfigur,


„war wenigstens ein Schatten äußerer Vornehmheit vorhanden.
Jetzt ─ ... mir gegenüberhockend ─ ... o jetzt
fühle ich einen peinigenden Schmerz bei dieser ihrer Demütigung.“



Also selbst das rein äußerliche Höherstehen auf dem Podium wird
dem gehobenen Gefühl der Liebe als entsprechend empfunden, ein
Stehen auf gleicher Stufe nimmt den poetischen Reiz hinweg.


  So schwelgt denn die Sprache des gehobenen Gefühls auch
außerhalb der eigentlichen Dichtung in heroomorphischen Vorstellungen,
die von uns zum größeren Teil ausdrücklich als poetisch empfunden
werden, so sehr sie sich auch abschleifen: Herzenskönigin, als Sklave
zu ihren Füßen, Schatz, goldenes Lieb, majestätische Gestalt u. dergl.

§ 30.
Die Natur als Anschauung und Sinnbild.


  Es ist ein in geschichtlicher Zeit meist klar verfolgbarer Gang
der Entwicklung: vom Göttlichen durch das Heroische zum Menschlich=
Bürgerlichen. Besonders auch die Stoffe des Dramas unterliegen [45]
diesen Wandlungen: auf den Gott oder Gottmenschen folgen die Fürsten
und Helden als Gegenstand dramatischer Behandlung, erst im
18. Jahrhundert hebt das „bürgerliche Trauerspiel“ an. Aber noch
immer haben die älteren poetischen Gattungen, Epos und Tragödie,
im wesentlichen heroischen Charakter bewahrt, während die jüngeren,
Komödie und Roman, fast durchweg bürgerlichen Charakter tragen.


  Um welche charakteristischen Elemente bereichert sich nun die
Poesie, sobald sie aus dem Bezirk des Einseitig-Heroischen herausblickt,
um die Menschheit selbst unmittelbar zu verklären?


  Zunächst sind bereits alle Mythologien aus Naturbeseelung hervorgegangen.
Man kann deshalb nicht eigentlich behaupten, das
Naturgefühl sei spät erwacht; wohl aber ist die Naturschwärmerei
Erzeugnis einer jüngeren, verhältnismäßig vorgeschrittenen Zeit. Doch
im Mythos erscheint die Natur noch unter Menschengestalt. Ein
neues Reich beginnt für die Poesie, sobald der menschliche Geist die
Natur unmittelbar in ihrem Organismus und Mechanismus
erfaßt.


  Neue poetische Gattungen verdanken dieser Wendung ihr Entstehen.
Nach dem Heldenepos bildet sich das Tierepos aus; die Tierfabel
ist gar erst ein moralisierender Ausläufer der ursprünglich naiven
Tierdichtung. Ebenso fällt in die Spätzeit des Naturgefühls die Entstehung
des Jdylls. Doch überhaupt wächst jetzt eine Poesie an,
welche die Tiere teils als Gefährten des Menschen, teils als Sinnbilder
menschlicher Eigenschaften vorführt ─ man denke auch an die
Aristophanischen Komödien „Die Vögel“ und „Die Frösche“.


  Schon früh muß die Tierwelt zu einsilbigen Vergleichen herhalten:
in der Jugendepoche der Sprache und besonders bei der
Namengebung spielen solche Symbole bereits eine Rolle. Gewiß ist
den Nomadenvölkern gerade ein Blick in die Tierwelt am nächsten,
sobald ihnen die Götter und Heroen nicht mehr ausschließlich
Gegenstand der Weihe und Verherrlichung geblieben.


  Ein weiterer Schritt geschieht dann mit Anwendung der gesamten,
unmittelbar angeschauten Natur als Bild für menschliche Verhältnisse.
So bietet schon Homer ausgeführte Vergleiche mit dem
Tier- und Pflanzenreich sowie den Naturgewalten, besonders der
Welt des Meeres. Jm 13. Gesang der Jlias heißt es so:

[46]
  „... Da taumelt' er hin, wie die Esche,

Welche hoch auf dem Gipfel des weitgesehenen Berges

Abgehaun mit dem Erz ihr zartes Gezweig hinabstreckt;

So sank jener, umklirrt von dem Erz der prangenden Rüstung.“

Oder gar im 11. Gesang:


„Wie wenn oft ein Jäger die Schar weißzahniger Hunde

Reizt auf den grimmigen Eber des Waldthals, oder den Löwen:

So auf die Danaer reizte die edelmütigen Troer

Hektor, Priamos Sohn, dem mordenden Ares vergleichbar.

Selbst voll trotzendes Muts durchwandelt' er vorn das Getümmel,

Stürzte sich dann in die Schlacht, wie ein hochherbrausender Sturmwind,

Der in gewaltigem Sturz die dunkelen Wogen empöret.“

Oft kehren ähnliche Vorstellungen in Gleichnissen Homers wieder.


  Vor allem schwelgt schon die jüngere indische Poesie üppig in
Naturvergleichen behufs Heraushebung des Gegenstandes aus der
nüchternen Wirklichkeit. Wie sich einst der Dichter schier nimmer an
der Versenkung ins Göttliche ersättigen konnte, so kann er sich jetzt
an Versenkung in die Natur nicht genugthun. Auf solche neue Weise
poetischen Zauber zu verbreiten, gelingt namentlich auch dem „Wolkenboten“,
einem Kalidasa zugeschriebenen Gedicht:


„Denn wie bei Sonnenuntergang

Sich schließt der zarte Kelch der Blüte,

So schließt sich bei der Trennung auch

Der Frauen blumengleich Gemüte ...

Von dort laß deines Blitzes Blick

Jns Jnn're ihres Hauses schimmern,

Doch nur mit mildem, mildem Schein,

Wie Nachts Johanniswürmchen flimmern ...

Wohl wird sie hingeschwunden sein

Jn schmerzensvollem, bangem Hoffen,

Wie wenn des Lotos zarte Blüt'

Von einem Froste hart getroffen.“

Schon darin bietet sich das charakteristische Zeugnis einer neuen Epoche
der Poesie, daß eine Wolke als Liebesbote ausgesandt wird. Wir
mögen uns erinnern, daß ähnlich der Schillerschen Maria Stuart
„eilende Wolken, Segler der Lüfte“ als Boten an ihr Jugendland
dienen.

[47]

  Durch das Christentum wird zunächst der Sinn von der Natur
abgezogen und zum Uebersinnlichen erhoben. Nicht ohne Einfluß
lateinischer Dichtungen bricht der Natursinn wieder durch. Bei uns
in Deutschland gewinnt diese Richtung der Poesie im 12. Jahrhundert
eigentliche Ausdehnung. Als bezeichnend für den ritterlichen
Geist damaliger Dichtung trat uns schon die Einführung gerade des
Falken, des ritterlichen Jagdtiers, entgegen. Betrachten wir, nach
welchen Richtungen dieses poetische Motiv gewendet wird. Der Kürnberger
singt:


Ich zôch mir einen valken mêre danne ein jâr.

dô ich in gezamete, als ich in wolte hân,

und ich im sîn gevidere mit golde wol bewant,

er huob sich ûf vil hôhe und floug in anderiu lant.“

Aehnlich träumt im Nibelungenlied Kriemhild


 „in tugenden, der sie pflac,

wie sie einen valken wilden züge manegen tac,

den ir zwên arn erkrummen, daz si daz muoste sehen,

ir erkunde in dirre werlde nimmer leider sîn geschehen.“

Die Mutter vollendet ausdrücklich das Bild:


Der valke, den du ziuhest, daz ist ein edel man:

in welle got behüeten, du muost in schiere vloren hân.“

Zu einem andern Bilde verwendet ihn Dietmar von Aist:


„Sô wol dir valke daz du bist!
du fliugest, swar dir lieb ist;
du erkiusest dir in dem walde
einen boum, der dir gevalle.
  Alsô hân auch ich getân:
ich erkôs mir selben einen man ...“


Weniger äußerlich verwendet Hartmann von Aue im „Erec“ dasselbe
Tier als Bild:


Dô einz daz ander an sach,

sô was in beiden niht baz

dann einem habech, der im sîn maz

von geschihten ze ougen bringet,

sô in der hunger twinget:

und als ez im gezeiget wirt,

swaz er's dâ für mêre enbirt,

dâ von muoz im wirs geschehen

danne ob er's niht hete gesehen.“
[48]

  Vor allem ist es unter den Tieren das Roß, welches in der
epischen Ritterdichtung der Romanen wie der Germanen Beachtung
findet. Jn der Minnelyrik spielt aber bereits die Nachtigall ihre
Rolle. Das Ausgehen eines Minneliedes von der Naturfreude, besonders
im Mai, überhaupt im Frühling und Sommer, ist zu einem
feinen Kunstmittel ausgebildet. Vergleiche zwischen Natur und Liebe
stellen sich so von selbst ein, wie sich denn in Gleichnissen überhaupt
die Anteilnahme an der Natur am offensten bekundet.


  Herr Ulrich von Gutenburg singt von der Geliebten:


„Si ist mîn sumerwünne.
Si sæjet bluomen unde klê
in mînes herzen anger:
des muoz ich sîn, swiez mir ergê,
vil rîcher fröiden swanger.
Ir güete mich vil lützel lât
dekeinen kumber müejen.
der schîn der von ir ougen gât,
der tuot mich schône blüejen,
Alsam der heize sunne tuot
die boume in dem touwe.
sus senftet mir den swæren muot
von tage zu tage mîn frouwe.
Ir schœner gruoz, ir milter segen,
mit eime senften nîgen,
daz tuot mir einen meien regen
reht an daz herze sîgen.“


Vergleiche mit den Gestirnen lagen der neuen religiösen Minnelyrik
nahe, dringen aber bald in die weltliche Dichtung ein. Vor allem
auch im Nibelungenlied finden sie Verwendung. Von Lyrikern handhabt
sie Heinrich von Morungen mit künstlerischer Meisterschaft:


Ir tugent reine ist der sunnen gelîch,

diu trüebiu wolken tuot liehte gevar,

swenne in dem meien ir schîn ist so klâr.“

Walther von der Vogelweide, der in seinen Anlehnungen an Reinmar
von Hagenau noch eigentliche Teilnahme für die Natur vermissen läßt,
hat in seiner selbständigen Blüte gerade durch sinnige Naturbetrachtung
seinen Liedern so lichten Schein und frischen Duft verliehen. [49]
Hier ist das Verhältnis zwischen Natur und Geist zu voller Traulichkeit
gediehen.


„Wie wol der heide ir manicvaltiu varwe stât!
sô wil ich doch dem walde jehen,
daz er vil mêre wünneclîcher Dinge hât:
noch ist dem velde baz geschehen.
sô wol dir, sumer, sus getâner hôchgezît!
sumer, daz ich iemer lobe dîne tage,
trôst, sô trœste ouch mîne klage.
ich sage dir waz mir wirret:
der mir ist liep, dem bin ich leit.“


Wie wir den Dichter zu der Natur sprechen hören, so leiht er selbst
der Pflanzenwelt Zungen:


Dû bist kurzer, ich bin langer:

alsô strîtents ûf dem anger,

bluomen unde klê.“

Dem entsprechend begegnen auch in den Bildern ─ nicht mehr
bloßen Vergleichen ─ neben den typischen Beziehungen zu den Gestirnen
durchaus eigenartige Naturanschauungen:


Des fürsten milte ûz Osterrîche

fröit dem süezen regen gelîche.“

Oder:


Friundes lachen sol sîn âne missetât,

süeze als der abentrôt, der kündet lûter mære.“

Dahingegen kann er sich an Bildern für trügerisches Lachen kaum
genugthun:


„Ich hân gesehen in der werlte ein michel wunder:
wærz ûf dem mer, ez diuhte ein seltsæne kunder;
des mîn fröide erschrocken ist, mîn trûren worden munder.
daz glîchet einem bœsen man. Swer nu des lachen
strîchet an der triuwen stein, der vindet kunterfeit.
er bîzet, dâ sîn grînen niht hât widerseit.
sîn valscheit tuot vil manegem dicke leit.
zwô zungen habent kalt und warm, die ligent in sîme rachen.
in sîme süezen honge lît ein giftic nagel.
sîn wolkenlôsez lachen bringet scharpfen hagel.
swâ man daz spürt, ez kêrt sîn hant, und wirt ein swalwen zagel.“

[50]

Genug, wo wir die Poesie über kurze Heldenlieder hinaus zur litterarischen
Nationalepopöe herangereift sehen, treffen wir bereits Einkleidung
in Naturbilder oder doch ausgeführte Vergleiche. Jn der
Lyrik gelangt diese Versenkung in die Natur zu voller Ausbildung.
Während zunächst menschliche Gestalt im Gewande des Tier= oder
Pflanzenlebens, der Gestirne oder der Naturgewalten auftritt, sind
mit zunehmender Reflexion auch bloße Gefühle in Beziehung zu gleichgearteten
Naturkörpern gesetzt. Sehr bezeichnend verliert der Einzelgegenstand
mit Anknüpfung solcher Beziehung, mit Einkleidung in
solchen Schein, den Charakter des Rohstoffes, um durch den Vergleich
poetische Beleuchtung, durch das Bild poetisches Wesen zu gewinnen.


  Ueberhaupt wird die Natur nun in ausgedehnte Beziehung zum
Menschenleben gesetzt. Alle Gebiete der Natur durchmißt des Dichters
Blick, um ein poetisches Seitenstück für das Menschentreiben zu
gewinnen:


„Ich hôrte ein wazzer diezen
Und sach die vische fliezen;
Ich sach, swaz in der welte was,
Felt unde walt, loup, rôr unt gras,
Swaz kriuchet unde fliuget
Und bein zer erde biuget,
Daz sach ich, unde sage iu daz:
Der keinez lebet âne haz.“


Damit hat der Dichter sein Thema, wenn auch nicht mehr wie früher
wörtlich in eine höhere, so doch in eine weitere Sphäre gehoben.
Dies Jnbeziehungsetzen zum Höheren oder Weiteren erscheint danach
immer als eine Methode der Poetisierung.


  Eine letzte Wendung im Verhältnis des Menschen zur Natur
tritt mit Störung der naiven Harmonie zwischen beiden ein: der
Mensch fühlt die Entzweiung und sehnt sich nach Harmonie mit der
Natur zurück. Schon in der griechischen Dichtung ist diese Periode
durch die Schöpfung des Jdylls bezeichnet. Eine sentimentale Sehnsucht
nach Naturzuständen bekundet schon damals am unmittelbarsten
den Verlust der Natur. Für die moderne Welt bezeichnet Jean
Jacques Rousseau den vollen Ausbruch dieser Naturschwärmerei,
Goethes „Werther“ ihren Gipfel.

[51]

  Wie recht eigentlich durch solch ein Sehnen nach Harmonie mit
der Außenwelt der Stoff poetische Beleuchtung erfährt, zeigt sehr
deutlich ein Gedicht Chéniers: „Die junge Gefangene“. Für die
Guillotine bestimmt, ruft sie in heißem Lebensdrang: „Jch will noch
nicht sterben“. Das wäre nun an sich durchaus noch kein poetischer
Ausruf; aber sie leitet ihn folgendermaßen ein:


„Die wachsende Aehre reift, von der Sense verschont; ─
ohne Furcht vor der Kelter trinkt die Rebe jeden Lenz die
linden Gaben der Morgenröte; und ich, wie sie schön, und
jung wie sie, was auch die Gegenwart an Schmerz und
Unruh' bringt, ich will noch nicht sterben.“


Erst mit dieser Begründung hat der an sich willkürliche Wunsch,
wenn nicht für unsern Verstand, doch für unser Gefühl Berechtigung
gewonnen.


  Wie sonach die Poesie Himmel und Erde, die ganze Schöpfung
beschwört, um ihren Gestalten höheren Glanz, künstlerische Beleuchtung
zu verleihen, zeigt mit gewohnter Meisterschaft auch Byron, so
in der „Braut von Abydos“:


„Die Barke teilend, woll' ihr Segen leih'n,

Und meiner Arche Friedenstaube sein!

Ach! da der Welt voll Kampf dies Glück entzogen,

Sei für des Lebens Sturm der Regenbogen,

Der Abendstrahl, der durch die Wolken bricht

Und eines schönern Morgens Glanz verspricht!“

  Andauernd sehen wir menschliches Wesen in außermenschliche
Natur-Sinnbilder gekleidet. Eine Art Physiomorphismus hat
statt: durch physische Beziehungen von charakteristischer Eindrucksfähigkeit
gewinnt der Stoff poetische Form.

§ 31.
Allegorie und Symbol.


  Wir sahen nicht nur den menschlichen Körper, schließlich bereits
den menschlichen Geist in Natursinnbilder gekleidet, in physiomorphische
Beziehung gerückt. Wie die Erschließung der Natur auf das
theistische und heroische Zeitalter der Poesie folgt, finden wir nun [52]
überhaupt als viertes Reich die Herrschaft des Geistes begründet.
So wird schließlich Körperliches und Geistiges allgemein in Austausch
gesetzt.


  Das Abstrakte einerseits wird in konkreter Gestalt poetisch. Jn
der deutschen Dichtung zeigt sich die Neigung zu solcher Allegorie
(d. i. zu anderem, nämlich bildlichem Ausdruck) zunächst spärlich
in der Personifikation der „Frau Minne“, erst gegen Ende des
12. Jahrhunderts; dann ruft auch bald Walther von der Vogelweide:


„Frô unfuoge, ir habt gesiget.“


  Ausgedehnter findet sich diese Darstellungsweise schon in Gottfrieds
„Tristan“:


„Ir kleider wâren ûf geleit
mit vier hande rîcheit,
und was der vierre iegelîch
in ir ambete rîch.
daz eine daz was hôher muot;
daz ander daz was vollez guot;
daz dritte was bescheidenheit,
diu disiu zwei ze samene sneit“


u. s. f. Ueberhand nimmt die Allegorie in der Didaktik des 13. Jahrhunderts,
wie denn die nun hereinbrechende didaktische Epoche als
eigentlicher Nährboden der Allegorie erscheint. So fragt Reinmar
von Zweter:


„Waz kleider frowen wol an stê?
des wil ich iuch bescheidn. ein hemde wîz alsam ein snê:
daz ist, daz si got minne und habe in liep; dêst wol ein rîchez kleit.
dar obe sol sîn ein roc gesniten,
sô daz si liep und leit sol tragen mit vil kiuschen siten.
ir gürtel sî diu minne; ir vürspan, daz si tugende sî bereit ...“


  Andererseits werden die materiellsten und scheinbar materialistischsten
Dinge, die Schöpfungen des Mechanismus, durch Uebertragung
in das Gebiet der lebendigen Welt, sei es der Natur oder des
Geistes, poetisch. Diese Symbolisierung vermag selbst die prosaischsten
Dinge poetisch annehmbar zu machen. So verhilft Karl
Beck den Eisenbahnaktien zu einem poetischen Eindruck:


„Die Papiere ─ feilgeboten ─

Steigen ─ fallen ─ o Gemeinheit!
[53]
Mir sind die Papiere Noten,

Ausgestellt auf Deutschlands Einheit.

Diese Schienen, Hochzeitsbänder,

Trauungsringe blankgegossen:

Liebend tauschen sie die Länder,

Und die Ehe wird geschlossen.“

Wie hier der Dichter die Bedeutung der Eisenbahn für die Annäherung
der deutschen Stämme feiert, so wird in neuester Zeit ihr Einfluß
auf die Verbrüderung der Völker gepriesen.


  Nicht nur in den fremden modernen Litteraturen, auch schon im
Altertum sehen wir in durchgehender Gesetzmäßigkeit mit zunehmendem
Abstraktionsvermögen die Allegorie Platz greifen, um Jdeen in die
Welt der Gestalten überzuführen.

§ 32.
Das Wesen der Poesie.


  Fragen wir nun, welcher Grundzug den verschiedenen Entwicklungsstufen
der Poesie gemeinsam ist, so läßt sich überall eine Erhebung
aus der gewöhnlichen Sphäre erkennen. Ob die Geliebte als
Göttin oder als Königin, als Gazelle oder als Rose verherrlicht, ob
schließlich gar das Gefühl der Liebe in eine anmutende körperliche
Gestalt gekleidet wird: immer zeigt sich die Poesie als konformer
Ausdruck der ungewöhnlichen Empfindung des Dichters für den dargestellten
Gegenstand. Ob die Kraft des Mannes als göttlich oder
heroisch oder löwenhaft oder als sein Schmuck bezeichnet wird: der
Dichter hat für sein erhöhtes Gefühl einen entsprechend
erhöhten Ausdruck durch die Sprache
gesucht und gefunden.


  Als notwendige Attribute des Dichters ergeben sich daraus ohne
weiteres:


  1. erhöhtes, stark entwickeltes Gefühlsleben,


  2. Fähigkeit zu entsprechend erhöhtem Ausdruck ─ Gestaltungskraft.



  Dieses Prinzip erweist sich als allgemein, weil allem Wechsel
zugrunde liegend. Aber innerhalb des durchgehenden Prinzips offenbaren
sich die verschiedensten Potenzen. Bis zu übernatürlichem Schein
hebt die dichterische Phantasie im ersten erhabenen Anlauf den Gegenstand [54]
ihrer Verherrlichung. Bald durchmißt sie ein zweites Gebiet,
welches über das Gewöhnlich-Menschliche hinausragt, seinen Repräsentanten
in dem Heroen, Halbgott, Helden sieht. Aber selbst innerhalb
der natürlichen Sphäre weitet sich der Horizont und die Poesie
greift, um menschliche Eigenschaften und Gefühle wenigstens in höchster
physischer Vollendung zu zeichnen, zu demjenigen geschlossenen
Bild aus der Natur, welches den in Rede stehenden Charakterzug
rein und prägnant herausstellt; auch hier ist ein Erheben bis in den
Himmel im physischen Sinne, bis an die Gestirne besonders naheliegend.
Aehnlich wird das Gestaltenlose und Mechanische zu lebendigem
Schein erhoben. Allüberall erhebt die Poesie ihre Gegenstände
in eine höhere Welt oder einen vollkommneren Schein und bringt
jede wesentliche Eigenschaft, sei sie gut oder übel, zum erreichbar
prägnantesten Ausdruck, zur schärfsten Accentuierung.

§ 33.
Superlative Darstellung.


  Die Poesie ist Ausdruck erhobener Gefühle: in dieser Tendenz
zeigt sich die Poesie ganz entsprechend der Geschichte des Geisteslebens
überhaupt abgestuft. Nach dem unmittelbaren Emporringen
der Seele zum Göttlichen sehen wir in den gottentsprossenen Heroen
Mittler zwischen dem Göttlichen und Menschlichen, deren Kult genau
ebenso in dem menschlichen Geistesbedürfnis gesetzmäßig begründet ist
wie nur immer der des Mittlers, des Gottmenschen, in der erhabensten
Religion. Wir sehen alsdann den Zauber der beseelten Natur
wirken, in ihr das Höhere und Höchste selbst beschlossen, ─ eine Auffassung,
die auf religiös=philosophischem Gebiete im Pantheismus ihre
Entsprechung anerkennen wird. Schließlich thut das Reich des Geistes
sich auf, Jdeen selbst gewinnen organisches Leben. Jmmer liegt die
Erhebung in ein als höher betrachtetes Reich dem poetischen Streben
zugrunde.


  Es muß danach selbstverständlich erscheinen, daß auch sonst Verstärkung
und Erhöhung in dem Urwesen der Poesie liegen. Nicht
mehr werden wir als eine absonderliche, rätselhafte Eigentümlichkeit
anstaunen, daß ein Homer all seinen Gestalten schmückende Beiworte
zulegt und gar gern das attributive Adjektiv im Superlativ verwendet [55]
─ man vergleiche auch den Gebrauch der so rhetorischen lateininischen
Sprache. Auf dasselbe notwendig wirkende Gesetz werden
wir es nun zurückführen, daß im mittelhochdeutschen Epos jeder Held
als der kühnste Degen, jede Heldin als die minniglichste Maid übereinstimmend
vorgestellt wird, beide Teile aber als so reich, daß niemand
reicher könnte sein, u. ä. m.


  Zur Potenzierung drängt denn alle poetische Darstellung hin.
Darum muß in Goethes „Willkommen und Abschied“ „Finsternis aus
dem Gesträuche mit hundert schwarzen Augen“ sehen, darum ebenda
„die Nacht tausend Ungeheuer“ schaffen; im „Mailied“


  „dringen Blüten

Aus jedem Zweig,

Und tausend Stimmen

Aus dem Gesträuch.“

Ewig, unendlich, all überschwemmen die Poesie. Von Verben sind
die sinnlich ergiebigsten, die Handlung am schärfsten ausdrückenden
gewählt. So kleidet Goethes „West=östlicher Divan“ den Gedanken
der Umbildung und Entwicklung in die Wendungen:


„Und so lang du das nicht hast,

Dieses: Stirb und werde!

Bist du nur ein trüber Gast

Auf der dunklen Erde.“

Aehnlich genügt seinem dichterischen Ausdruck nicht die Feststellung:


„Befindet sich einer heiter und gut,

Gleich will ihn der Nachbar peinigen;“

er potenziert sie in dem Reim:


„So lang der Tüchtige lebt und thut,

Möchten sie ihn gerne steinigen.“

Daß Goethe in seinem Alter vielen seiner Volksgenossen unbequem
geworden, spitzt sich in derselben Sammlung ähnlich zu:


„Mit der Deutschen Freundschaft

Hat's keine Not .....

Sie lassen mich alle grüßen,

Und hassen mich bis in Tod.“
[56]

§ 34.
Einheit von Ursache und Wirkung in der Poesie.


  Jst das Wesen der Poesie Ausdruck gehobener Gefühle, so
bilden gehobene Gefühle des Dichters die Voraussetzung, die Ursache
jedes poetischen Werkes.


  Ferner: ist die Dichtung Ausdruck gehobener Gefühle, so besteht
ihre Wirkung eben darin, daß sie diese gehobenen Gefühle überallhin,
wohin sie wirkt, eindrückt. Hiernach erwirkt sie eine Gefühlserhebung
im Publikum: das ist der eigentliche Sinn ihrer veredelnden
Wirkung, die in scholastischer Auffassung als moralisierend erschien.


  Damit ist der einheitliche Zusammenhang von Ursache, Wesen
und Wirkung der Poesie festgestellt und die Dichtung als Mittlerin
zwischen der Dichterseele und der Seele der Menschheit erkannt. Dieser
Beruf erscheint würdiger als er der Poesie ehedem im Vergnügen
an Nachahmungskunststücken oder in der Bereicherung an guten Lehren
zugesprochen wurde.


  Der Dualismus überdies, welcher zwischen Ursache und Wirkung
der Poesie, wie in der Beziehung zwischen Dichter und Publikum
bestand, ist nunmehr überwunden. Hatte man die Nachahmung als
Ursache der Dichtkunst hingestellt, so war man noch immer in Zweifel,
wie die Wirkung zu erklären sei, bis man bald das Vergnügen, bald
die Belehrung als äußerlichen Notbehelf heranzog. Faßte man andererseits
zunächst nur ─ um von dem so äußerlichen Belehrungsprinzip
ganz zu geschweigen ─ das Vergnügen als Wirkung ins Auge, so
blieb noch immer unentschieden, worin dieses Vergnügen bestand: in
der Freude an der wahrgenommenen Aehnlichkeit, meinten die einen,
während anderen das Wohlgefallen an der poetischen Form vorschwebte,
wieder anderen Vergnügen am Stoff, manchen aber schon
richtiger aus der Anregung der Gefühle Vergnügen hervorzugehen schien.

§ 35.
Einheit der Dichtungsarten.


  Jn demselben Prinzip der Gefühlserhebung ist weiterhin die
Einheit der Dichtungsarten beschlossen.

[57]

  Während die Nachahmungstheorie die Lyrik aus der Poesie ausschließen
müßte, besteht das Ergebnis eines entwicklungsgeschichtlichen
Ueberblicks: die in verschiedenen Aeußerungsformen doch immer ausgeprägte
Gefühlserhebung, gerade die Probe auf die lyrische Dichtungsart
unmittelbar. Ebenso erhellt ohne weiteres, daß die epische
wie die dramatische Darstellung einer Person die entsprechend lebhafte
Empfindung des Dichters zur Voraussetzung hat: die poetische Verherrlichung
eines Helden ist Ausfluß von des Dichters Bewunderung
oder Mitgefühl für denselben.

§ 36.
Einheit der Künste.


  Auch die Einheit der Künste erweist sich in dem Beruf zur Gefühlserhebung
offenkundig. Die Poesie tritt als verwandte Erscheinung
in den Kreis ihrer Schwesterkünste. Wie diese sich aus dem
Gefühl an das Gefühl wenden, erhellt leichter; die Poesie allein,
weil sie durch das intellektuelle Wort wirkt, hat man oft verstandesmäßig
erklärt.


  Die Abweichung der Künste unter einander liegt ausschließlich
in den verschiedenen Mitteln, durch welche sie zur Gefühlserhebung
gelangen. Während die bildenden Künste durch Körper unmittelbar
ein gesteigertes Empfindungsleben ausdrücken, wirken die redenden
Künste durch Töne: die Musik durch melodische Töne, die Poesie
ihrerseits durch die artikulierte Sprache.


  Ebenso wenig wie die Dichtungsarten haben eben diese Künste
allezeit neben und unabhängig von einander bestanden. Wie die Kunst
aus der Religion herauswächst, schafft der primitive Geist feierlich
geschmückte Wohnstätten für die Gottheit (bildende Künste), alsdann
zu Ehren der Gottheit feierliche Bewegungen der äußern Organe
(Mimik), bald unter Teilnahme der innern Organe (Musik), schließlich
feierlich bewegte Sprache (Poesie).

§ 37.
Unterschied von der Prosa.


  Weiterhin wird durch Annahme des Gefühlsausdruckes als Wesen
der Poesie deren innerer Unterschied von der Prosa hervorleuchtend. [58]
Nicht mehr sind wir angewiesen auf die rein formelle Erklärung der
Poesie als „der gebundenen Rede; außerdem aber einiger Anwendungen
der ungebundenen, welche mit den Anwendungen der gebundenen
in naher Verwandtschaft stehen.“ Der Unterschied heißt nun:
hier Sprache des Gefühls, dort Sprache des bloßen Gedankens.
Aehnlich wie sich die Kunstmalerei von der mechanischen Photographie
unterscheidet: während die letztere unbedingte, reflexionslose Wiedergabe
des Gegenstandes bietet, erstrebt die Kunst stimmungsvolle Erfassung,
gemütvolle Durchdringung desselben.


  Zur Beurteilung der platt=naturalistischen Doktrin ergiebt sich
gleichzeitig ein neuer Maßstab: sie, die der Prosa näher steht als der
Poesie, ignoriert den Zweck ─ die Gesühlserhebung ─, um das
Mittel, den Anreger der Gefühle ─ den Stoff ─ zur Alleinherrschaft
in ihrem Werk zu verstatten.


  Die poetische Wirkung selbst ist stofflos: nicht mehr den einzelnen
Helden, unser eigenes immanentes Gefühlsleben geht der künstlerische
Eindruck an. Jndem sie uns „auf schwanker Leiter der Gefühle“
emporhebt, führt uns die Poesie über die Alltäglichkeit hinaus,
stärkt unser Gefühlsleben, auf daß wir nicht im dumpfen Sinnentrieb
verkommen, ─


„Und wecket der dunkeln Gefühle Gewalt,

Die im Herzen wunderbar schliefen“,

wie Schiller durchaus bezeichnend sagt.

§ 38.
Die Gefühlsstärke des Dichters.


  Noch eine bedeutungsvolle Thatsache ist hier anzureihen: betreffend
die allgemeine Gemütsbeschaffenheit des Künstlers, besonders des
Dichters. Bestände sein Talent in bloßer Nachahmungsgabe, so hätte
er kein Recht auf andere Beurteilung seines Gefühlslebens, als der
übrigen Menschheit zugestanden wird. Bestände sein Talent gar in
einer direkt erzieherischen Anlage, so bliebe noch weniger Veranlassung,
die Leidenschaft der Dichterseele anzuerkennen.


  Anders, wenn verstärktes Gefühlsleben das Wesen des Dichters
ausmacht. Dann verstehen wir den scheinbaren Widerspruch, daß er [59]
zugleich die heiligsten, hehrsten Töne der Verehrung und die überschwenglichsten
Sinnenergüsse beherrscht; daß ein Dichter die erhabensten
Jdeen verkünden und doch das Leben übervoll genießen kann;
daß er andererseits die Leidenschaft bis in ihre dunkelsten Tiefen darstellen
und doch ein imponierender Charakter sein kann. All seine
Gefühle sind eben potenziert: in dem gesteigerten Gefühlsleben liegt
seine Dichtergabe.


  Aehnliches gilt für den Schauspieler und die Schauspielerin.
Soweit nicht durch ihre exponierte Stellung gegenüber der Oeffentlichkeit
und den Mitspielern ein verändertes Auftreten begreiflich wird,
findet es seine Erklärung in dem auch ihnen notwendigen gesteigerten
Gefühlsleben, ohne welches sie keine kongenialen Mittler des Dichterwortes
wären.

§ 39.
Begründung der poetischen Form.


  Die innere Ergründung der Poesie als Ausdruck erhobener Gefühle
darf ungleich größere Bedeutung in Anspruch nehmen als jede
rein formale Erklärung. Dennoch leuchtet nicht ohne weiteres ein,
welche Rolle angesichts der gewonnenen Definition nun der poetischen
Form zuzuerkennen ist, die doch auf irgend eine, wennschon nicht
ausschlaggebende Weise in der Begriffsbestimmung der Poesie enthalten
sein muß.


  Wie kaum an einem zweiten Punkte der Poetik versagen hier
die meisten Versuche fast gänzlich. Um nur die fortgeschrittensten
Forscher zu berücksichtigen, blicken wir zunächst auf die in so vieler
Hinsicht reichhaltige und treffsichere Poetik von Wilhelm Wackernagel.
Hier lehrt er ganz abstrakt: „Schönheit der Darstellung wird erreicht,
wenn auch deren Mittel, die Sprache, die Worte dem Gesetz der
Schönheit unterworfen sind, wenn auch in ihnen Einheit des Mannigfaltigen
waltet. Dies Gesetz wird am deutlichsten ausgeprägt und
beherrscht die Rede am sichersten durch rhythmische Gliederung derselben.“
Eine Definition, welche die Dichter in Versen schreiben läßt,
um „Einheit des Mannigfaltigen“ herzustellen, kann auf Klarheit und
positive Greifbarkeit wenig Anspruch erheben. Noch bedenklicher ist
die empirische Erklärung Wilhelm Scherers: „Der Rhythmus ist entsprungen [60]
aus dem Tanz. Das Wohlgefallen am Rhythmus beruht
auf der Erinnerung an das Vergnügen des Tanzes; durch Vererbung
wird diese Erinnerung, dies Wohlgefallen so gesteigert, daß es späteren
Generationen vielleicht geradezu angeboren ist.“ Sehen wir
von der naturwissenschaftlichen Unzulänglichkeit dieses Erklärungsversuches
ab. Das Wohlgefallen am Vers soll aus der Erinnerung
an das Vergnügen des Tanzes entspringen: das wäre zum mindesten
ein sehr mittelbares Vergnügen, eine sehr entfernte Erinnerung!
Solche spekulativen oder naturwissenschaftlichen Deutungen sind so gut
wie das Eingeständnis des Unvermögens, der Sache auf den Grund
zu kommen.


  Haben wir uns dagegen die litteraturgeschichtlichen Thatsachen
selbst zum Führer erwählt, so können uns diese nicht völlig vom
rechten Wege abirren lassen.


  Wiederum haben wir der geschichtlichen Entwicklung zu folgen.
Jn Zusammenhang mit Musik und Tanz ist der Vers der ältesten
Poesie wohl begreiflich. Aber wann singen wir? wann tanzen wir?
Es fällt uns nicht bei, jede beliebige Thatsache, z. B. die Katze ist
grau, das Buch hat 24 Bogen oder dergl., singend und tanzend zum
Ausdruck zu bringen. Haben wir jedoch z. B. ein lang ersehntes
Ziel erreicht oder eine unerwartete Freude erfahren, dann jubeln und
springen wir wohl; ähnlich bei jeder andern lebhaften Gemütsbewegung.
Jn dieser Verwendung sehen wir die Form der ältesten Poesie.
Zur Höhe des Göttlichen sucht sich der poetische Ausdruck zu erheben;
sein Rhythmus folgt dem Schwung der Musik, dem Takt des Tanzens
oder Schreitens. So erscheint der poetische Ausdruck selbst als die
schwungvolle Sprache des schwungvollen Gefühls.


  Aber das Versmaß ist auch, je älter desto unbedingter, dem
Jnhalt angeschmiegt und entsprechend. Das in dem Wechsel der
Worte wiederkehrende Metrum bildet einen einheitlichen Grundtakt,
auf den der ganze Jnhalt gestimmt ist, ein Leitmotiv der Empfindung,
welches durch ständige Wiederkehr das ihm zugrunde liegende Gefühl
stark hervortreten läßt oder sogar verstärkt.


  Das Versmaß an sich ist demnach sowohl ein Ausfluß des Gefühlsschwunges,
als ein Mittel, welches zur Verstärkung des Gefühlsausdruckes
beiträgt. Der alte Langvers entspricht dem langen Anhalten [61]
des Atems zu immer höherer Steigerung der Sprache d. i.
des Gefühlsausdrucks, der in den älteren Epochen ja zum Erhabenen
emporstrebt.


  Die Einheit dieses Langverses finden wir von der Allitteration
oder von der Assonanz durchbrochen; er fällt in zwei Vershälften
auseinander, deren Hauptbegriffe durch Stabreime ─ wie
man allgemein sagen kann ─ gebunden werden. Wiederum ist diese
Versart in ihrer Entstehung durch die Vortragsweise aufs natürlichste
erklärt: das Rezitativ, der Sprechgesang, ließ die Saiten des begleitenden
Jnstrumentes nur bei den Hauptbegriffen zu deren stärkerer
Hervorhebung erklingen.


  Die Bindung der Vershälften nun geschah durch Gleichklang der
Hauptbegriffe, sei es in den Konsonanten oder in den Vokalen, entsprechend
dem Charakter der Sprachen: so daß die knochigen, robust
abgestuften germanischen auf die Konsonanten, die fleischigen, üppigen
romanischen auf die Vokale das entscheidende Gewicht legen. Da die
Sprache ursprünglich onomatopöetisch ist, so malte der Stabreim den
Eindruck nach, welchen die zur Aussprache kommenden Gegenstände
erweckten. Das Wehen und Wallen, das Sausen und Sieden hat
tonmalende Gewalt, nicht minder das Sausen und Brausen, Gischt
und Zischen u. ä. Wirkte der Stabreim zur Gefühlserregung mit,
so mußte abermals der Wiederklang dieser Hauptbegriffe zur stärkeren
Hervorhebung der Grundempfindung dienen.


  Die Wiederholung derselben Wendungen sowie der Parallelismus
des Satzbaus, die gliedweise Beschreibung durch Wiederaufnahme eines
Satzteiles des vorhergehenden Verses behufs nachträglich genauerer
Bestimmung, diese höchst verbreiteten sogenannten Eigentümlichkeiten
der Stabreimpoesie, beruhen auf demselben Gesetz der Aufstellung und
des Weiterspinnens eines Grundmotivs.


  Diese Periode schwindet dahin, um eine neue Art poetischer
Formbindung sich ausbilden zu lassen. Mit Auflösung der metrischen
Strenge und begünstigt durch die vollen Flexionsendungen des Kirchenlateins
entwickelt sich ein anderes, eigenartiges Bindemittel in dem
Endreim.


  Er bietet zwar eine Uebereinstimmung von Konsonanten und
Vokalen zugleich; doch hat die Sprache inzwischen an tonmalerischer [62]
Kraft erheblich verloren, und nicht mehr das Gerüst des Wortes ist
es, welches in den Reim gestellt wird. Trotzdem erhält das gesprochene
Wort, obschon es in zunehmendem Maße auf musikalische Begleitung
verzichtet, durch den Gleichklang, durch die Wiederkehr bestimmter
Töne, einen musikalischen Hauch, eine Harmonie. Da der
Schluß es ist, welcher reimt, wird überdies der Vers ohne weiteres
auf das Gefühl zugespitzt und abgerundet.


„Woher ich kam, wohin ich gehe, weiß ich nicht.

Doch dies: von Gott zu Gott! ist meine ─ Hoffnung“,

wäre ein Gedanke, der leicht weiteren Gedanken Spielraum giebt: ist
dem wirklich so? darf ich hoffen? Aber setzen wir statt „Hoffnung“
den Reim Rückerts: „Zuversicht“ ein, und der Ring erscheint sofort
lückenlos geschlossen: es kann nicht anders sein! so stimmt es zusammen!
ist jetzt unsere unbewußte Empfindung.


„Jch ging. Du standst und sahst zur Erden

Und sahst mir nach mit nassem Blick.

Und doch, welch Glück, geliebt zu werden,

Und lieben, Götter, welch ein Glück!“

Das alles wendet sich schon durch den Gleichklang des Tones an
unser Ohr und durch dieses an unser Empfinden. Bei wirklich kunstvoller
Verwendung des Reims klingen noch immer gerade Hauptbegriffe
nach: „Blick“ ─ wir haben damit des Mädchens thränenden
Blick vor Augen; „Glück“ ─ es zittert in uns das Glück des Liebenden
nach. Auch hier noch geschieht ein Hervorheben der Grundstimmung
durch die Form.


  Wir stehen damit vor dem überraschenden und doch auch so
natürlichen Ergebnis: Form und Jnhalt der Poesie treten in Uebereinstimmung;
die poetische Form ist nur ein Mittel mehr, wodurch
das poetische Wesen zur Geltung kommt: Gefühlsausdruck, und zwar
verstärkter, gehobener Gefühlsausdruck.


[figure]
[E63]

Die Dichtungsarten.


[figure]

A. Die epische Poesie.

§ 40.
Ausgangspunkt.


  Wenden wir unsern Blick den einzelnen Dichtungsarten zu, so
muß es sich darum handeln, die besondere Weise kennen zu lernen,
in welcher jede die gemeinsame Aufgabe aller Poesie zu lösen bemüht
ist.


  Keine Dichtungsart trug von Anbeginn ihren heutigen Charakter.
Dieser stellt vielmehr nur ein Glied einer langen Entwicklungskette
dar, die keineswegs immer zu größerer Vollkommenheit führt. Das
Wesen der epischen Poesie läßt sich deshalb nicht unmittelbar aus
dem heutigen Epos erschließen, selbst nicht aus ein paar besonders
hervorragenden Schöpfungen dieser Art, wie etwa den Homerischen
Dichtungen, ableiten: die volle prinzipielle Berücksichtigung der Wandlungen
und Entwicklungsstufen innerhalb dieser dichterischen Spezies
wird allein den Grundzug und die treibende Kraft der epischen Dichtung
erkennen lassen.


  Die erste Dichtungsart, deren Ausbildung wir mit einiger Klarheit
zu überblicken vermögen, die erste, die überhaupt zu eigentlicher
Ausbildung gelangt, ist die epische. Freilich dürfen wir bei solchem
Zugeständnis nicht an moderne oder klassische Vorstellungen von
epischer Form denken.

[64]

  Nicht die Epopöe, d. i. das Epos im engern Sinne, steht an der
Spitze der epischen Entwicklung; vielmehr handelt es sich um kürzere,
für Gesangsvortrag bestimmte, mündlich fortgepflanzte Lieder, zunächst
zu Ehren der Götter. Die erste größere poetische Gesamtleistung
eines Volkes besteht im religiösen Mythos. Als geschlossenes System,
wo es überhaupt zu einem solchen kam, gehört dieser indes einer
Spätzeit an; zunächst tritt er hervor und lebt nur in einer Reihe
selbständiger Dichtungen zu Ehren der einzelnen Götter.

§ 41.
Der Mythos.


  Die Stoff-Grundlage dieser ältesten erhaltenen oder durch Zeugnisse
erschließbaren Poesie bilden die mythischen Vorstellungen jedes
Volkes. Der Mythos (nach der griechischen Bezeichnung) gesteht
schon im Namen seinen erzählenden Charakter: d. h. Bericht, und
zwar im besonderen über die Thaten der Götter.


  Aus welchen Keimen erwächst ein solcher dichterischer Bericht?
Welche Thatsachen liegen zugrunde? und wo beginnt die dichterische
Ausgestaltung? Zugrunde liegt dem Mythos die Anschauung der
Natur:
zunächst von Himmel und Erde, von Tag und Nacht, alsdann
von Sommer und Winter. Was alle Tage, ähnlich was alle
Jahre geschieht, wird nun persönlichen, unter menschlichen oder tierischen
Bildern vorgestellten Kräften zugeschrieben und danach als einmal
vorzugsweise geschehen erzählt. Durch Personifizierung und
singularisierende Zurückschiebung in die Vergangenheit gewinnt die thatsächliche
Anschauung poetischen, im besondern erzählenden Charakter.


  Jn immer neuen Spiegelungen desselben einheitlich zugrundeliegenden
Naturverhältnisses setzt der Mythos neue Zweige an. Durch
solche Sprossenbildung entsteht eine Vielheit von Göttern, von mythischen
Gestalten.


  Für Deutschland lassen sich in der Ausbildung des Siegfried=
Mythos noch alle Stufen dieses Entwicklungsganges erkennen. Den
Ausgangspunkt bildet der Tagesmythos vom Kampf des Lichtgottes
gegen den Dämon der Finsternis: vorerst ist es der Lichtgott, welcher
den Mächten der Nacht obsiegt; dennoch sinkt er schließlich in ihr
finsteres Reich hinab. Jn der Erweiterung zum Jahresmythos wirft [65]
der Frühlingsgott den grausamen, starren Winterdämon zu Boden;
doch auch er erliegt später dem tödlichen Hauch des Feindes. Schließlich
steigert sich der Naturmythos durch ethische Ausdeutung zu einem
Symbol: der Vorkämpfer der sittlichen Mächte unterjocht die böse
Gewalt; am Ende aber verfällt auch er ihr, weil er ihre Herrschaft
in Besitz genommen.


  Zunächst verkörpert Siegfrieds Kampf mit dem Drachen jene
Naturanschauungen. Eine weitere Spiegelung desselben Motivs erscheint
in der Beziehung Siegfrieds zu Brunhilde. Wiederum erweckt
der Licht- und Frühlingsgott die erstarrte Erde aus dem nächtlichen
Winterschlaf; wiederum spinnt dieselbe Macht, die er befreit hat, sein
Verderben. Mit einer dritten Wendung derselben Grundvorstellung
treten sich schließlich Siegfried und der grimme, düstere Hagen als
Repräsentanten der feindlichen Naturmächte gegenüber.


  Der Siegfried-Mythos ist zwar die noch heute in allen Wandlungen
am klarsten übersehbare, doch keineswegs die älteste Umbildung
der Naturanschauung in Erzählung von Geschehnissen. Sobald die
zunächst unpersönlich angebeteten Naturkräfte in der Phantasie des
germanischen Volkes Persönlichkeit gewinnen, werden Himmel und
Erde in Wechselwirkung gesetzt: die Erde, vom Himmel liebend umfangen,
wird zur Mutter alles Lebenden. Aehnlich hört die erregte
Phantasie später aus dem Wehen des Windes das Wesen eines Gottes
(deutsch Wodan) heraus, der als Führer des Wilden Heeres dahinbraust.
Wie aus dem Rollen des Donners vernimmt die naive
Menschheit aus dem Rauschen des Meeres die Stimmen persönlicher
Götter.

§ 42.
Poetische Gestaltung der mythologischen Anschauungen.


  Am plastischsten hat die griechische Poesie diese Naturgottheiten
ausgestaltet, am weitesten ihre Jndividualisierung geführt. Jndessen
giebt die vollendete Gestalt, in welcher die Göttergestalten in Homers
Epen erscheinen, nicht mehr eine klare Vorstellung von der ursprünglichen
Mythendichtung. Einen Nachklang von dieser bietet Homer
noch am ehesten in den stehenden Beiworten, welche überall die
erste Form scheinen, in der man das Wesen der Götter darzustellen [66]
unternahm. Stammelnd versuchte die Sprache in immer neuen Ansätzen
die Funktion der Götter zu bezeichnen, ihre Erhabenheit andeutend
zu erreichen. Neben adjektivischen Attributen gewinnen deshalb
partizipiale den uns bekannten weiten Raum. Wie man von
Anschauung ausgeht und zur Personifikation vorschreitet, kleidet gerade
diese älteste Dichtung ihre Gegenstände in eine fortlaufende Fülle von
Bildern. Das Streben, die Gottheit durch Aufzählung ihrer Großthaten,
ihres Segens zu verherrlichen, bildet aus diesen primitiven,
zunächst allem Anschein nach thatsächlich rein aufzählenden Stilelementen
später eine geordnete Erzählung durch Auflösung der handlungsreichen
Beiwörter in entwickelnde Sätze.


  Die Dichter sind durchaus im Priesterstand, dem alleinigen
Träger der Bildung, zu suchen. Aber indem die Gemeinde der
Volksgenossen als Publikum vorschwebt und die Bestimmung der Gesänge
zum freien Vortrag beim Opfer ausschließlich ist, erscheint die
Darstellung naturgemäß aus dem Geiste der Gesamtheit gedacht, unterliegt
sonach keinerlei Versuchung zu subjektiven Eingriffen. Die Stoffgrundlage
ist durch die religiösen Ueberzeugungen der Gesamtheit d. i.
durch den jeweiligen Stand der Mythenbildung gegeben. Auch die
Form ist feststehend, primitiv aus dem Charakter der nationalen
Sprache geschaffen und der nicht minder einförmigen musikalischen
Melodie angeschmiegt.

§ 43.
Die Sage.


  Hellere Beleuchtung erfährt die vorlitterarische Epoche der Poesie,
sobald neben die religiösen Gesänge Heldenlieder treten. Wie der
Mythos für jene, bildet für diese die Sage den Stoffgehalt.


  Was ist die Sage? Um über die Fülle widersprechender, überaus
unklarer Definitionen hinauszugelangen, halten wir uns am besten
an den Gang der Thatsachen und fragen zunächst: wie entsteht
die Sage?


  Ein entscheidendes geschichtliches Ereignis ist eingetreten: ein
fruchtbringender Sieg, eine verheerende Niederlage, vor allem eine
Verschiebung der Wohnsitze, oder was immer in seiner Wirkung über
den Tag hinausdauert. Da das Volk noch unlitterarisch ist, tritt anstelle [67]
schriftlicher Aufzeichnung mündliche Ueberlieferung. Der Vater
erzählt es dem Sohne, dieser dem Enkel; die ergrauten Recken künden
es der waffenfähigen Jugend: an den Thaten der Väter soll sie sich
begeistern und aufrichten, ihnen nacheifern in Tapferkeit, geschehenem
Unheil aber pietätvolle Teilnahme schenken. Danach steht zunächst fest:
die Sage ist der mündlich fortgepflanzte Bericht über die
nationale Vergangenheit.


  Mannigfaltig sind nun die Schicksale eines mündlich fortgepflanzten
Berichtes. Da schon selbsterlebte Thatsachen verschiedenen Auffassungen
Raum geben, laufen oft von vorn herein verschieden gefärbte
Berichte über dasselbe Ereignis um. Noch weiter verschiebt sich der
Thatbestand, indem es der eine dem andern erzählt, dieser es an
einen dritten und vierten weitergiebt. Noch heute können wir verfolgen,
wie das Gerücht aufbauscht, verschiebt, entstellt; in wie höherem
Grade zu einer Zeit, da der kritische Sinn weit weniger ausgebildet
war. Geht der Bericht gar von Geschlecht zu Geschlecht, so
durchkreuzt er sich mit andern Ueberlieferungen, begegnet mancherlei
Mißverständnissen, fordert vor allem die Volksphantasie in weitem
Umfang zur Ergänzung von Lücken, zur Ausmalung und Veranschaulichung
heraus. Bei alledem wird sich indes niemand des Eingriffes
bewußt, der zur Verdunkelung oder zur Ausschmückung der Thatsachen
führt; noch immer steht der Glaube an die objektive Wahrheit der
Ueberlieferung fest. So wird die Sage zum mündlich fortgepflanzten
Bericht über die nationale Vergangenheit in ständiger Umbildung
durch das unbewußte Eingreifen der Phantasie.


  Unter diesen Zuthaten spielt eine bedeutsame Rolle namentlich
die Verbindung der Heldensage mit mythischen Elementen, teilweise
unter Einkleidung von Göttergestalten in historisch=heroisches Gewand.


  Unsere heimische Sage läßt sich noch in wesentlichen Punkten
auf eine derartige Entstehung zurückverfolgen. Kein Ereignis wurde
für die deutsche Heldensage gleich epochemachend wie die Völkerwanderung.
Jm Jahre 374 fällt der Ostgothenkönig Ermanrich, von den
Hunnen besiegt, durch Selbstmord. Dreiviertel Jahrhundert später
unterjocht der Hunnenkönig Attila (Etzel) zahlreiche deutsche Stämme;
so weilt in seinem Gefolge auch der Ostgothenkönig Theodomer. Jm
Jahre 476 entthront sodann Odovakar, ein gothischer Söldnerführer, [68]
den römischen Kaiser; aber siebzehn Jahre später fällt Odovakar selbst
durch List von der Hand Theodorichs. An diese große Persönlichkeit
knüpft sich die Blüte des ostgothischen Reiches. Schon 552 erliegt
auch dieses dem Ansturm des byzantinischen Heeres.


  Was macht aus diesen geschichtlichen Thatsachen die Volksphantasie?
Jn ihr blieb der endgültige Untergang des Ostgothenreiches fester
haften als die vorübergegangene Blüte. Andererseits war ihr Theodorich
(Dietrich) als Hauptträger ostgothischer Heldenkämpfe geläufig.
So kehrt sie die geschichtliche Ueberlieferung geradezu um: Ermanrich
wird mit Odovakar zusammengeworfen und zum gefährlichsten Feind
Dietrichs gestempelt. Vor seinem Zorn flieht Dietrich; alle Mannen,
d. h. sein ganzes Reich, hat er verloren. Später aber kehrt er zurück
und wird in Rom gekrönt. Dazwischen erscheint er, nach seiner
Flucht, an Etzels Hof in einer Art Abhängigkeitsverhältnis, äußerlich
etwa wie in der Geschichte sein Vater Theodomer, während Dietrich
selbst gar kein Zeitgenosse des Etzel ist.


  Noch schärfer können wir die geschichtlichen Bestandteile der
Burgundensage von einander scheiden bezw. in ihrem Zusammenwachsen
verfolgen. Jns Jahr 437 fällt die Besiegung der Burgunden unter
Gundahari durch die Hunnen. 454 stirbt Etzel, unmittelbar nach
seiner (zweiten) Vermählung mit der Burgundin Hildiko. Erst 534
erfolgt die Zerstörung des Burgundenreiches jenseits der Vogesen auf
Veranlassung der mit Chlodwig I. von Franken vermählten burgundischen
Prinzessin Chlothilde durch deren Söhne.


  Aus allem diesen wird zunächst die Vermählung von Gundaharis
Schwester mit Etzel, sowie dessen Tod von der Hand seiner Neuvermählten.
Diese Fassung der Sage gelangt noch vor Ablauf des
fünften Jahrhunderts stufenweise zur Ausbildung. Als Motiv der
Thäterin erscheint Rache für ihre Brüder. So gelangt die Sage nach
Skandinavien, und die nordische Darstellung zeugt noch für diese der
Geschichte näher stehende Auffassung. Nach der 534 erfolgten Zerstörung
des Burgundenreiches erfährt der Abschluß der Sage eine
volle Umbiegung, indem nun die burgundische Prinzessin nicht mehr
ihre Brüder an Etzel rächt, sondern mit Etzels Hilfe an ihren Brüdern
Rache nimmt. Eine Begründung dieser Rache bot sich durch
ein inzwischen von anderer Seite hinzugeflossenes Element: auch die [69]
mythische Erzählung von Siegfried und den Nibelungen wies eine
Gestalt mit dem Namen Gunther und eine Hilde auf; die Namensgleichheit
veranlaßte eine Jdentifizierung dieser Personen und dadurch
eine Verschmelzung der Burgunden- und der Nibelungensage. So
geschieht die Rache Kriemhilds an ihren Brüdern zur Sühne von
Siegfrieds Tod.


  Schon für die indische Poesie war ähnlich eine große Völkerwanderung
fruchtbar geworden: die Verschiebung der Wohnsitze aus
dem Pendschab nach Osten mit den diesen geschichtlichen Akt begleitenden
Kämpfen bildet die Keime für Ausbildung jener nationaler
Sagen, die dem Mahabharata zugrunde liegen.


  Die griechische Sagenbildung setzt ebenfalls an solche geschichtliche
Ereignisse an, die dem Volke einen weiteren Horizont, im eigentlichen
geographischen Sinne des Wortes, eröffneten. Der Trojanische
Krieg ist längst vor Homer in Einzelliedern besungen worden, gehört
indes den jüngsten Teilen der griechischen Sage an. Jm äolischen
Stamm ist dieser Sagenkreis ausgebildet, nur daß auch hier durch
unorganische Kombination ionische Sagenelemente eindringen. Sonst
ward die Kunde von der Argonautenfahrt anscheinend mit besondrer
Vorliebe durch die Sage fortgesponnen. Doch hatte wie in Deutschland
ursprünglich jeder Stamm seine eigenen Sagen aus seinen politischen
Verschiebungen herausgebildet. Wie die geschichtlichen Erinnerungen
von mythischen Ueberlieferungen durchflochten werden, tritt
gerade auf griechischem Boden in der so weit gehenden, bei Homer
unauflöslich erscheinenden Verbindung der Götter- und Heldendichtung
hervor. Noch Xenophanes erzählt, daß man zu seiner Zeit die Kämpfe
der Titanen und Giganten sowie die Schlachten der Kentauren bei
festlichen Gelagen gerade so als wirkliche Geschichte vorgetragen habe,
wie unmittelbare Ereignisse der Wirklichkeit.

§. 44.
Fortsetzung.


  Nicht allein die geschichtlichen Ereignisse erfahren in der Sage
dauernd Wandlungen: selbst die Charaktere unterliegen entscheidenden
Modelungen, zum guten Teil völliger Umbiegung.

[70]

  Als Gottesgeißel, als schlauer, überlegener, aber blutiger Barbar
schreitet Etzel durch die Geschichte. 500 Jahre später im Waltharilied
ist kaum noch ein Nachklang dieses furchtbaren Rufes vernehmbar;
ersichtlich ist die Erinnerung an seinen historischen Charakter verblaßt
und nur die äußere Thatsache seiner überlegenen Macht in den Vordergrund
getreten. Nach mehr als zwei weiteren Jahrhunderten, im
Nibelungenlied, ist jedenfalls auch die letzte innere Beziehung zu der
historischen Persönlichkeit abgestreift; nur äußerlich ist seine Stellung
als mächtigster Fürst seiner Zeit, dem viele Könige als Vasallen dienen,
noch festgehalten. Jm übrigen ist aus der Gottesgeißel ein
typisches Jdealbild fürstlicher Gesinnung nach den kultivierten Anschauungen
des 10. und gar des 12. Jahrhunderts geworden: edel,
mildthätig, selbst mild im modernen Sinne. Aehnlich verblaßt das
Bild der dämonischen Frauen jener wilden Zeit, in welcher die Sage
wurzelt, bis sie schließlich zu minniglichen Maiden nach der höfischen
Konvenienz des 12. Jahrhunderts werden. Den grimmen Hagen
sieht man stattlich unter den Recken hin zu Hofe gehen; in Züchten
verneigt sich vor ihm der gute Rüdiger. Dieselbe Veräußerung ursprünglicher
Gigantik auch anderweit: einen besonders drastischen Beleg
bietet in der Gudrunsage der Meerriese Wate, der da schließlich das
Haar mit goldenen Borten umwunden auftritt. Welche Umbildungen
mußten diese Figuren in der Volksphantasie erfahren haben, bevor
eine solche Einkleidung möglich wurde!


  Von Helden der griechischen Sage läßt sich namentlich Nestor in
seiner Charaktermodelung überschauen. Er und die andern Helden
aus Pylos sind dem troischen Sagenkreis ursprünglich fern. Schon
zeitlich ragt er in eine weit zurückliegende Epoche hinauf, und dieser
Umstand bewirkte, daß er als Repräsentant des erfahrenen Greisenalters
eingeführt wird. An dem Homerischen Achill andrerseits ist
aufgefallen, daß ihm das Epitheton schnellfüßig eignet, ohne daß
es in der Dichtung selbst eine Begründung oder thatsächliche Unterlage
findet. Ersichtlich hat Homer in älteren Ueberlieferungen diese
Bezeichnung vorgefunden, die wohl auf des Helden Jugendschicksale
bezugnimmt.

[71]

§ 45.
Abschluß und dichterische Behandlung der Sage.


  Die Fortbildung der Sage als solcher findet mit dem Hereinbrechen
des litterarischen Zeitalters ihr natürliches Ende. Fortan
unterliegt die mündliche Ueberlieferung der Kontrole schriftlicher Aufzeichnungen.
Gelangt eine dichterische Behandlung der Sage erst einmal
zur Niederschrift und bleibt diese Niederschrift der Kenntnis nicht
allzu enger Kreise erhalten, so ist damit neuen unbewußten Kombinationen
der Boden entzogen und die eigentliche Sagenbildung abgeschlossen:
die Sage setzt sich.


  Um so weniger aber bleibt ihre Gestalt gegen Eingriffe gefeit:
nur handelt es sich jetzt nicht mehr um echte Sagenbildung, nicht
mehr um eine unbewußte Schöpfung der Volksphantasie, sondern um
bewußte Umgestaltungen und Bearbeitungen durch subjektive Eingriffe
von Einzeldichtern, also um willkürliche Dichtung.


  Freilich tritt die Sage nicht erst durch solche Eigenmächtigkeit
eines einzelnen in dichterische Gestalt. Jn dieser geschieht vielmehr
von Anfang an ihre Ueberlieferung: aber nicht individuelle, sondern
Volksdichtung war sie bislang. Die Sage selbst bleibt immer nur
Stoffgrundlage; um die Volksdichtung zu fertiger Gestalt zu führen,
muß dieser Jnhalt in eine Form gegossen werden. Auch sie ist von
Natur gegeben: jede Sprache erschafft aus ihrem Wesen heraus eine
eigenartige rhythmische Form. Sobald die nationale Sage in
diesen nationalen Vers
gegossen ist, kann von einer fertigen
Volksdichtung die Rede sein.

§ 46.
Stil der Volksdichtung.


  Nur wenige Splitter alten Volksgesanges sind uns erhalten.
Durch Zeugnisse ist eine weitere Anzahl belegt, aus der nur wenige
ihre Gestalt ahnen lassen. Jn deutscher Sprache sind Heldenlieder
bereits für die Zeit des Tacitus bezeugt. Da sie von dem Heer besonders
vor der Schlacht gemeinsam gesungen wurden, muß in ihnen
noch chorartiger Charakter durchgeführt gewesen sein. Von den zahlreichen
Liedern aus den Sagenkreisen der Völkerwanderung liegt wenigstens [72]
lückenhaft das eine vor, welches Hildebrands Kampf mit seinem
Sohn behandelt.


  Jn seiner Kürze und Gedrungenheit zeigt das Hildebrandslied
eine charakteristisch ausgeprägte Darstellungsart. Es repräsentiert schon
die Zeit, da ein Einzelsänger die Volksdichtung vorträgt. Aber ausdrücklich
beruft er sich auf mündliche Sagenüberlieferung:


„Ik gihôrta dhat seggen“,

und zwar


dhat sih urhêttun | ænon muotin

Hiltibrant enti Hadhubrant | untar heriun tuêm.“

So sind wir unmittelbar in die Situation eingeführt und erfahren
mit fortgesetzt abgerissenem Lakonismus die (uns bereits in ihrem
Abstand von der Geschichte bekannt gewordene) Sagenauffassung von
Dietrichs Flucht. Aber nicht mechanisch erzählt wird diese Vorfabel:
schon sie wird mit dramatischer Unmittelbarkeit in Dialogform entwickelt,
die denn fortgesetzt Trägerin der Darstellung bleibt; nur
wenige rein thatsächliche Bemerkungen des Dichters leiten sprunghaft
von Rede zu Rede über.


  Aehnlich läßt sich für die Homer vorangehenden griechischen Volkslieder
erschließen, daß sie durchaus auf Kürze angelegt, je ein bedeutsames
Einzelereignis aus der Sage herausgriffen, dessen Hauptmomente
allein sie energisch bezeichneten, vor allem durch Verkörperung der
handelnden Helden, während die Ausmalung vorerst der Phantasie
der Hörer überlassen blieb.


  Wohin wir aber auch nach Resten vorlitterarischer Volkspoesie
blicken, und sei es zu den Serben und andern slavischen Völkern,
denen erst in der Neuzeit voller Eintritt in die Kultur beschieden ist:
durchgehends geschieht die Verherrlichung von Helden durch Erzählung
ihrer Heldenthaten, und zwar durch eine Erzählungsart, die Einfachheit
mit dramatischer Unmittelbarkeit vereint und für mündlichen Vortrag,
sei es sangbar, sei es rezitativ, geschaffen ist.


  Nicht ohne innere Gründe. Jst die Volksdichtung poetische Gestaltung
der im Volke fortlebenden Sage, solange sie von individuellen
Jdeen und Tendenzen ungetrübt bleibt: dann postuliert eine
solche Jndividualitätslosigkeit notgedrungen schlichte Gegenständlichkeit
der Darstellung. Die nackten Thatsachen der Ueberlieferung sind in [73]
den nationalen Vers gekleidet; noch fehlt äußerer Schmuck der Erzählung,
der als unorganischer Zusatz zur Thatsächlichkeit der Darstellung
empfunden wäre; noch fehlt das Streben nach Abwechselung
und Mannigfaltigkeit, die ebenfalls über die vorläufig alleinige Aufgabe:
Einkleidung der thatsächlichen Ueberlieferung in den nationalen
Vers, hinausführen würden.


  Aus dieser Voraussetzung erklärt sich das Fortschreiten der Erzählung
in zahlreichen feststehenden Formeln.


  Zunächst sind stehende Beiwörter aus jenem primitiven Stil
bis in die späteren Epopöen übergegangen. Vorerst ist das Beiwort
typisch und wird allen Helden gleichmäßig zugestanden. Daneben treten
bald zu den einzelnen Jndividuen charakteristische Beiwörter, die an
ihnen haften bleiben, auch wo ihr Auftreten garnicht unmittelbar an
das nun einmal in der Volksphantasie feststehende Bild ihrer Persönlichkeit
erinnert. Aehnlich sind allen Gegenständen typische Attribute
beigelegt. Noch das Nibelungenlied läßt durchblicken, wie dem Heldensang
alle preiswürdigen Objekte weiß oder licht, alle verdammlichen
schwarz oder doch düster erscheinen; derselben Erscheinung begegnen
wir in slavischen Liedern. Die See ist blau, die Rosse sind schnell
u. dergl. Auch die Lieder der Edda führen diese Stilelemente durch.
Zu virtuoser Fortbildung gelangt dieselbe Manier überhaupt in der
skandinavischen Poesie. Feststehende Kennzeichen (Kenningar) werden
für die Person selbst gesetzt. Jm jüngern Heldensang führt dies Stilmittel
durch Steigerung bis zu raffinierter Künstelei gerade in Dunkel
zurück.


  Verwandt mit attributiven Adjektiven erscheinen stehende Appositionen,
namentlich die stete Einführung jedes Handelnden und Redenden
oder auch nur Erwähnten mit seinem Vatersnamen als Beisatz.
Das Hildebrandslied versäumt nie die Bezeichnung:


Hiltibrant gimahalta, Heribrantes sunu,“

„Hadubrant gimahalta, Hiltibrantes sunu.“

Aehnlich in den eddischen Liedern, wie auch in den orientalischen
Poesieen. Zu den stereotypen Stilmitteln gehören ebenso die paarweise
zusammengeordneten Begriffe
in formelhafter Prägung
und Wiederkehr. Germanisch finden wir bis in die mittelhochdeutsche
Blütezeit erhalten Allitterationen wie liute unde lant, wâfen unde [74]
gewant, liep unde leit, ferner Ergänzungen wie wîp unde man,
êre unde lîp
u. a., schon im Hildebrandslied besonders alte anti
frôte, sumaro enti wintro
mit der Zahl der Jahre.


  Zu festen Formeln sind namentlich die Bezeichnungen und Vergleiche
für Rüstung und Kampf überall in dieser Poesie gefügt.
Doch lassen sich auch sonst vielfach stehende Ausdrücke und Redensarten
erkennen. Schon der Anfang der Lieder setzt gern mit einer
stereotypen Wendung ein. Talvj betont, wie eine ganze Anzahl serbischer
Volkslieder beginnt:


„Tranken Wein zwei wackere Serbenhelden“,

oder dem ähnlich; eine andere Anzahl:


„Jn der Frühe ritten die Woiwoden.“

Eine ältere und natürlichere Einleitungsformel können wir in der
deutschen Dichtung beobachten: die Quellenberufung. Nicht nur das
Hildebrandslied beginnt:


„Ik gihôrta dhat seggen“;

wie derselbe Stil auf andere mündlich fortgepflanzte Dichtungen übergeht,
darf man auch das Wessobrunner Gebet heranziehen, das ähnlich
einsetzt:


„Dat gefregin ih mit firahim.“


Ebenso lernten wir schon beiher die stehende Einführung der direkten
Rede kennen. Ja, auch in der Rede und ihrer Vorankündigung sowie
in Frage und Antwort kehren die gleichen Wendungen wieder. Jm
eddischen Lied von Thrym vergleiche man wiederholt (Strophe 26
und 28):


„Bei Freyja saß | die findige Magd,

Die Erwid'rung wußte | auf das Wort des Riesen.“

Thrym fragt (Strophe 6):


„Wie steht's bei den Asen, | wie steht's bei den Elben?

Was reistest du einsam | nach Riesenheim?“

Loki.


Schlimm steht's bei den Asen, | schlimm steht's bei den Elben;

Hast du Hlorridis | Hammer verborgen?
[75]

Thrym.


Jch habe Hlorridis | Hammer verborgen

Acht Meilen tief | im Erdenschoße ...“

Nicht minder reich an solchen Wiederholungen erweist sich das Hildebrandslied:



Hiltibrant gimahalta, Heribrantes sunu: | her uuas hêrôro man,

ferahes frôtôro; | her frâgên gistuont ...“

Vers 18:


Forn her ôstar giweit, | flôh her Otachres nîd,

hina miti Theotrîhhe ─“

bis Vers 22 die Wendung wiederaufnimmt:


... „her ræt ôstar hina.“

Jn den orientalischen Poesien, besonders der hebräischen, spielen die
Wiederholungen noch weit mehr eine ausschlaggebende Rolle.


  Dazu gesellt sich im Orient wie im Occident ein ausdrücklicher
Parallelismus der Satzglieder als Form dieser alten Lieder. Auf
eine Person oder einen Gegenstand wird inmitten des Satzgefüges
zunächst kurz hingedeutet, nachträglich werden in den folgenden Versen
attributive Begriffserweiterungen angefügt. So im Hildebrandslied:


„Sunufatarungo | iro saro rihtun,
garutun sê iro gûdhhamun, | gurtun sih iro suert ana,
helidos, uber hringa ...“


Ferner:


  ... „sô imo sê der chuning gap,

Hûneo truhtîn ...“

Oder:


... „der dir nû wîges warne, | nû dih es sô wel lustit,

gûdea gimeinûn.“

§ 47.
Fortsetzung. Liedartiger Charakter.


  Weitere Eigenschaften der alten heroischen Volksdichtung erklären
sich aus der Bestimmung zu mündlichem Vortrag, aus dem Charakter
als Lied.


  Was nicht schriftlich vor unser Auge tritt, muß um so plastischer,
sinnfälliger gezeichnet sein; und was nicht hinter einander an [76]
dem lesenden Auge vorüberrollt, muß sich um so bewegter scenisch
entfalten.


  Dieses Streben nach Plastik und dramatischer Bewegung postuliert
gleichmäßig Anschaulichkeit. Sie läßt sich denn auch bereits an
den primitivsten Heldenliedern erkennen, ─ und wir können uns dieselben
in der Frühzeit nicht gut primitiv genug vorstellen. Zur Veranschaulichung
genügt oft nicht die allgemeine Bezeichnung der handelnden
Person: vielmehr werden als Organe der Thätigkeit die entsprechenden
Körperteile genannt: die Füße gehen, die Hand streitet;
ebenso tritt zur äußeren Bezeichnung der Person oft die handgreifliche
Wendung: der Leib des Ritters oder dergl. Der Drang nach Handlungsfülle
zieht überall inhaltreiche Verba herbei, namentlich auch zum
Ersatz von Substantiven mit Praeposition: man geht nicht zu jemand
hin, sondern: man geht hin, wo er sitzt oder dergl.; das Gesinde
befolgt nicht des Königs Gebot, sondern: was der König gebot.
Solche Elemente fand anscheinend noch der Nibelungendichter in den
umlaufenden Liedern des gleichen Stoffes, zum teil wurde dieser Stil
von den ersten schriftlichen Aufzeichnungen der Heldensage übernommen.


  Plastische Gestalten veranschaulichen auch die Eddalieder, die ja
der Stilepoche angehören, wo neben einander Göttermythos und Heldensage
in erzählenden Liedern erscheinen.


„Es schüttelte den Bart, | es schwenkte das Haar

Der Erde Sohn, | um sich greifend,“

wie es gleich am Beginn des Liedes von Thrym heißt. Aber dieser
sinnfällige Stil beschränkt seine Wirkung nicht auf das Gesicht: daneben
wird, echt dramatisch, der Schall für das Ohr veranschaulicht.
Wenn Loki fliegt, rauscht sein Federkleid. Gudrun sieht des toten
Gatten Haupt:


„Dann sank sie kraftlos | aufs Kissen zurück,

Das Haar war gelöst, | heiß brannte die Wange,

Und ein Strom von Zähren | stürzt' in den Schoß.

  Da weinte Gudrun, | Gjukis Tochter,

Daß wie tosende Bäche | die Thränen rannen

Und gellend im Hofe | die Gänse aufschrien,

Die weißen Vögel, | die das Weib besaß.“

Auch das Klirren der Waffen und Rüstungen wird mit Vorliebe [77]
veranschaulicht. Gegen Schluß des Hildebrand-Fragmentes vermeint
man das Krachen der Speere und Schilde zu vernehmen:


Dô lêttun sê ærist | asckim scrîtan,

scarpên scûrim: | dat in dêm sciltim stônt.

dô stôpun tô samane | staimbort chlubun,

heuwun harmlîcco | huîtte scilti ...“

Noch im Nibelungenlied heißt es von Brunhilds Kampf mit Gunther:


„Dô spranc si nâch dem wurfe, daz lûte erklang ir gewant.“


Wir sehen damit nicht nur den Sprung, wir hören ihn zugleich, so
daß er für alle energischen Sinne vergegenwärtigt ist. Sehr wirksam
veranschaulicht man ferner Handlungen durch ihre in die Sinne fallenden
Folgen, ähnlich Gemütsbewegungen durch ihre sichtbaren
Aeußerungen.


  Die weitere Ausbildung all dieser Stilelemente ist allmählich zu
denken: aus ursprünglicher Einfachheit bildet sich später eine gewisse
Kunstfertigkeit scenischer Darstellung.


  Bei aller Zeichnung in Umrissen immer von unmittelbarer Anschaulichkeit
zeigen sich gleicherweise die hebräischen Heldenlieder. Jn
Deborahs Siegeslied steht:


„Da rasselten der Pferde Füße

vor dem Zagen ihrer mächtigen Reiter ...

Sie griff mit ihrer Hand den Nagel,

und mit ihrer Rechten den Schmiedehammer,

und schlug Sisera durch sein Haupt,

und zerquetschte und durchbohrte seinen Schlaf ...

Die Mutter Siseras sahe zum Fenster aus,

und heulte durchs Gitter:

Warum verzieht sein Wagen, daß er nicht kommt?

Wie bleiben die Räder seiner Wagen so dahinten?“

Da haben wir das Rasseln fürs Ohr vernehmlich; nicht genug an
den Pferden: als Organ ihrer Thätigkeit ausdrücklich die Füße; das
Töten handlungsreich in all seine einzelnen Bestandteile zerlegt: greifen
─ und zwar mit der Hand, alsdann im besondern mit der Rechten
─, schlagen, zerquetschen und durchbohren; ähnlich sehen wir die
Mutter Siseras in ihrem Schmerze nicht nur, wir hören sie wiederum;
wie ebenfalls in den germanischen Dichtungen wird die Handlung
selbst in ihre positive und negative Seite zerlegt: verziehen und nicht [78]
kommen; schließlich wird das Subjekt abermals spezialisiert: die Räder
sind als Organe der vom Wagen ausgehenden Handlung eingeführt.

§ 48.
Einfluß der Rhapsoden.


  Wennschon natürlich immer für jedes Lied ein Einzeldichter
vorauszusetzen ist, heißen die ältesten Dichtungen dennoch mit Recht
Volkspoesie, schon weil an der Gestaltung des Stoffes, der Sage,
ganze Volksgeschlechter Jahrhunderte hindurch unbewußt zusammengewirkt.
Aber auch den Vortrag sahen wir ursprünglich in den
Mund der Gesamtheit gelegt.


  Eine bedeutsame Wendung bereitet sich eigentlich bereits mit dem
Auftreten des Einzelsängers vor. Zwar ist er zunächst lange Zeit
im Stoff an die Sagenüberlieferung, im Stil an die alte Schlichtheit
und Knappheit gebunden. Aber im Laufe der Jahrhunderte mußte
sich mit Ausbildung eines besonderen Sängerstandes die Subjektivität
der einzelnen Dichter bemerkbar machen. Nicht nur daß zahlreiche
Parallelversionen derselben Sage umlaufen: es bedarf nun stärkerer
Mittel zur Beglaubigung und Ausschmückung seitens der konkurrierenden
Rhapsoden. Denn anders spricht das Volk, anders wer um
die Gunst des Volkes wirbt: ist die Sprache des Volkes, die Volkspoesie,
schlicht und einsilbig, so wird die Sprache der dem Volk zu
Munde Redenden, der volkstümlichen oder doch Volkstümlichkeit erstrebenden
Poesie leicht aufdringlich und großsprecherisch.


  Nicht mehr genügt die rein thatsächliche Quellenberufung zur
Einführung:


„Ik gihôrta dhat seggen

o. ä. Mitten in der Darstellung häufen sich die Berufungen auf die
Quelle und andre Wahrheitsbeteuerungen: ih sage iu, mære zallen
zîten wart so vil geseit, so wir hœren sagen, waz mag ih
sagen mêre? ir mugt daz hie wol hœren, nu wizzit mêr
der rede, daz wizzin wêrlîche, nu wizzistaz in trowin etc
.


  Auch von andern Ausrufen des Dichters ist die Darstellung auf
Schritt und Tritt durchbrochen, wodurch eine künstliche Lebhaftigkeit
platzgreift: wie! hey! hey waz! waz! wie balde! wie schire
sie geloufin was
!

[79]

  Vor allen Dingen erhielt die im Grundtrieb der Poesie liegende
superlative Ausdrucksweise ihre vollendete Ausbildung und Ueberbietung
in der wichtigthuenden Spielmannsdichtung: so reich wie dreißig
Königinnen, ja wie keine sonst; wie konnte jemand kühner sein? oder
ein kühnerer je geboren werden? nimmer begeht ein Held größere
Missethat; nichts konnte lieber oder leider geschehen. Noch in der
größeren Spielmannsaufzeichnung von König Rother lesen wir dicht
bei einander:


„Nu ne wart ich nee sô ungezogin ...“


„... so nemachtu, kuninc, nimir mêr bezzer tugint
gewinnen.“ ─


  Ein eigentlicher Sängerstand als Kaste wetteifernder und konkurrierender
Zunftgenossen setzt bereits weiter ausgebildete Kulturzustände
voraus, Zeiten friedlichen Ausbaus und wohligen Behagens
nach Abschluß der politisch und wirtschaftlich umgestaltenden, gewaltigen
Völkerkämpfe. So weiß Homer von Sängern zu melden, die
nicht nur in den Versammlungen von Stammesgenossen, sondern auch
beim fröhlichen Mahle ihre Lieder zum Preis der Helden ertönen
lassen.


  Damit verlieren die Gesänge indes naturgemäß von ihrem ehrfurchtgebietenden,
erhabenen, vorherrschend tragischen Ernst, um Gegenstand
frohen Schmuckes und Glanzes zu werden, was den Stil noch
weiter von seiner schlichten Kraft entfernt.


  Südöstlich wie nordwestlich steht gleichmäßig fest, daß diese
Spielleute wandern, von Fürstenhof zu Fürstenhof, doch auch sonst
im Lande umherziehen und an Herrensitzen Halt machen.


  Teils um dem eigenen Gedächtnis nachzuhelfen und einen immer
reicheren Liederbestand zu erwerben, teils um jüngeren Nachwuchs,
zunächst die eigenen Kinder für den Sängerberuf zu erziehen, schließlich
bisweilen schon auf Ersuchen ihrer fürstlichen Gönner legen die
Spielleute Handbücher an, worin die Texte, nicht selten auch die
Melodieen verzeichnet waren. Schon damit ist ein Schritt in die
litterarische Epoche der Heldenerzählung angebahnt und die Möglichkeit
zu litterarischer Zusammenfassung aller im Liede behandelten Teile
eines Sagenkreises gegeben.

[80]

§ 49.
Die litterarische Epopöe.


  Mit planmäßiger Aufzeichnung der nationalen Erzählungen bahnt
sich naturgemäß in zweierlei Hinsicht ein Umschwung des Stils an:
zu den liedartigen Elementen treten mehr und mehr überwuchernd
Kennzeichen des litterarischen d. i. schriftgemäßen Stils; ebenso
wird die kurze, springende Darstellungsweise des räumlich begrenzten
Heldensangs von einer breiteren Ausführung und vollständigen
Rundung der Erzählung abgelöst. So ist die Möglichkeit gegeben,
die gesamten Sagen eines oder mehrerer Stämme, ganze Sagenkreise
zu einer großen, einheitlich komponierten Epopöe zusammenzufassen.


  Die ersten derartigen Versuche aller Völker verharren dabei noch
immer tief in der alten Objektivität und gedrungenen Kraft, auch wo
sie sich bereits ausgedehnt in Episoden ergehen. So in den ältesten
Teilen des indischen Mahabharata:


„Der Tag brach an; die strahlende Sonne verscheuchte die Schatten der dunklen
Nacht.

Jn beiden Lagern erschollen die Hörner, der Ruf der Kampfbegierigen,

Und wieder standen gegeneinander die beiden Heere todeskühn.

Die Helden mit ihren Zeichen und Fahnen auf Wagen, Rossen, Jlfen (Elefanten)
hoch,

Von seinem Gefolge jeder umgeben, sie blickten trotzig einander an.

Vor allen aber strahlten hervor Waikartana und Ardschuna

An ihrer Heere Spitze, bereit zu fechten den Entscheidungskampf,

Mit himmlischen Bögen beide bewaffnet, an Heldenruhm sich beide gleich,

Mit Löwenschultern, breit von Brust, mit langen Armen und Trotz im Blick,

Ein jeder den andren zu töten bedacht, zwei wutentbrannten Jlfen gleich,

Auf goldenen Wagen beide gestellt, auf hohem, unzerbrechlichem,

Mit Tigerfellen prächtig bedecktem, von weißen Rossen gezogenem,

Der mit dem schrecklichen Affen im Banner, der mit dem Elefantengurt.“

  Hier sehen wir noch den alten Parallelismus, die Zeichnung in
kräftigen Einzelstrichen mit immer neuen Ansätzen; aber diese Striche
sind gehäuft und runden sich zu einem breit ausgeführten Gesamtbild.
Die Gegenstände werden rein thatsächlich bezeichnet; schon
greifen Bilder aus dem Tierreich ein, doch in knapper Ausführung.


  Viel blumenreicher, viel weniger erhaben als lieblich halten sich
spätere Aufschwemmungen dieser Nationalepopöe; Nal trat uns bereits
als

[81]
„Der eignen Sinne Meister,

Ein Liebling schöner Frau'n“

entgegen. ─


  Ungewöhnlich reich an ausgeführten Bildern zeigt sich Homer;
im übrigen stellt er die Objektivität noch vollendet dar. Durch deren
Vereinigung mit der behaglichsten Breite des Schriftwerkes gelangt
er zu glücklichster Harmonie zwischen altem und neuem
epischen Stil.


  Noch bewahrt Homer viele Kennzeichen der alten Simplicität.
So kehren dieselben Wendungen in Frage und Antwort, in Botenauftrag
und Botenbericht wieder. Ueberhaupt kommen Gebot und
Ausführung in parallelen Wendungen zum Ausdruck:


„Und der verständige Jüngling Telemachos sagte dagegen:

Mutter, eriunre mich nicht an meinen Kummer, und reize

Nicht zur Klage mein Herz, da ich kaum dem Verderben entflohn bin.

Sondern bade dich erst, und lege reine Gewand' an.

Steig' in das Obergemach, von deinen Mägden begleitet,

Und gelobe den Göttern, vollkommene Hekatomben

Darzubringen, wenn Zeus doch endlich Rache vergölte ...

Also sprach er zu ihr, und redete nicht in die Winde.

Jene badete sich, und legte reine Gewand' an,

Und gelobte den Göttern, vollkommene Hekatomben

Darzubringen, wenn Zeus doch endlich Rache vergölte.“

Die Anschaulichkeit geht hier freilich schon bis ins Einzelne, und
solche umständliche Kleinmalerei regt nicht mehr die Phantasie zur
Ergänzung an. Die stehenden Beiworte haften an den Personen
dermaßen fest, daß sie auch in Situationen wiederkehren, wo sie nicht
gerade am Platze sind. Wie im Heldenlied geschieht die Darstellung
nach kurzer Einführung in dramatischer Unmittelbarkeit vorwiegend
durch direkte Rede der handelnden Personen. Weit entfernt von
rhetorischer Phrase oder von bloßen Gefühlsäußerungen des Dichters
in der Maske seiner Figuren, fließen diese Reden aus dem Charakter
des Sprechenden und vermeiden trotz ihrer Ausdehnung leeren
Wortschwall.


  Jndes legen gerade die Reden schon von fortgeschrittener psychologischen
Kunst Zeugnis ab. Die künstlerische Motivierung geht
bis ins Einzelne. Ja auch gnomische Aeußerungen, Meinungen, Aussprache [82]
allgemeiner Wahrheiten begegnen in reichem Maße: nur daß
sie immer, auch wo sie dem Dichter selbst aus dem Herzen gesprochen
scheinen, als organische Auslassung einzelner, nicht als unorganische
Zuthat des Dichters erscheinen. Nicht Homer, sondern sein Held
spricht die vielgerühmten Worte: οὐκ ἀγαθὸν πολυκοιρανίη


„Niemals frommt Vielherrschaft im Volk; nur einer sei Herrscher,

Einer König allein, dem der Sohn des verborgenen Kronos

Zepter gab und Gesetze, daß ihm die Obergewalt sei.“

Seelenschilderungen werden nicht mehr gescheut; und nicht immer
bleiben sie so kurz wie der Hinweis:


„Atreus Sohn, von unendlichem Gram in der Seele verwundet,
Wandelt umher ...“


Doch kleiden sich längere Seelenkämpfe auch wieder in direkten Dialog
und äußere Handlung ─ genug, nach allen Seiten sehen wir die
Vorzüge der alten und neuen, der liedartigen und litterarischen Erzählungsweise
vereint.


  Dieser Sachverhalt kann nicht überraschen, wenn wir erfahren,
daß die beiden Epen Homers zwar aufgezeichnet, aber noch immer
mündlich vorgetragen, vielleicht sogar gesungen wurden. So gewiß
diese Dichtungen nach einem einheitlichen Plane in einheitlichem Geiste
für unmittelbare Niederschrift abgefaßt wurden, liegen ihnen doch auf
weiten Strecken Einzellieder als Quellen zugrunde.


  Nur steht der Dichter nun bereits mit Bewußtsein über
seinem Stoff, in solch einer Mischung von Gläubigkeit und Selbständigkeit,
wie sie für das Stadium der Epopöe bezeichnend ist.
Noch frei von Skepsis und Jronie, bleibt Homer von Bewunderung
und Vertrauen für seine Götter und Helden erfüllt; aber sein Glaube
steht fest nur gegenüber dem Geist und den Grundzügen der Ueberlieferung;
er ist kein Wortgläubiger mehr, dem ein bewußtes An=
und Umordnen, ein auf künstlerischer Berechnung beruhendes Unterdrücken
und Hinzudichten als Entweihung und Vergewaltigung erschiene.
Mit künstlerischem Jnteresse, mit der Absicht, die Teile eines
nationalen Sagenkreises zu einer künstlerischen Einheit zusammenzufassen,
tritt der Dichter solcher Schriftwerke an seinen Stoff heran.


  Diese freiere Stellung gegenüber seinem Stoff ermöglicht dem [83]
Dichter nun inmitten von Kampf und wilder Gewalt, wo vordem
düstre Farben vorherrschten, sich in behaglichem Humor zu verbreiten.
Die Kleinmalerei begünstigt diese Neigung zu launiger Betrachtung
der Dinge außerordentlich. Gedenkt man der immer ausschließlicheren
Bestimmung des Vortrags zu festlichen Gelegenheiten, so trat eine
äußere Nötigung zum Einflechten heiterer Töne hinzu. ─


  Unter den neueren Völkern kam es früh zur Niederschrift eines auf
echter germanischen Sage beruhenden Epos in England. Jm 6. Jahrhundert
zog ein Held Beowulf mit König Hygelac vom schwedischen
Götaland gegen die Franken an den Niederrhein. Mit ihm ist eine
mythische Figur Beaw verschmolzen, in der wir die Mannhaftigkeit
der Nordsee-Küstenbewohner verkörpert sehen. Diese Sage flog mit
nordischen Sängern über Meer nach England, wo sie am Anfang des
8. Jahrhunderts angelsächsische Bearbeitung fand.


  Noch zahlreiche Stilelemente des Heldensanges treffen im Beowulf
zusammen. Die schmückenden Beiworte und Umschreibungen finden
sich ebenso wie die Wiederholungen. Unverkennbar ist vor allem die
superlative Ausdrucksweise.


  Wie man dem Dichter die naive Gestaltungsfreude anmerkt, ergeht
sich denn die Darstellung, die in einem Schriftwerk breiteren
Rahmen findet, in behaglicher, stellenweise umständlicher Kleinmalerei,
namentlich auch in sorgfältiger Berücksichtigung des höfischen
Ceremoniells. Begünstigt von der frühen Einführung des
Christentums in England, ist der Durchbruch des milderen Gefühlslebens
und reflexiver Vergeistigung bereits klar bemerkbar; schon
ist Sinnfälliges in die geistige Sphäre übertragen. ─


  Besonders augenfällig wird die sich vollziehende Wendung in der
Entwicklung des epischen Stils beim Gegenüberstellen von Behandlungen
gleicher Stoffe. Halten wir uns die Darstellung in unserem
althochdeutschen Hildebrandslied aus dem 8. Jahrhundert gegenwärtig,
so rückt die stoffverwandte Episode von Rustem und Sohrab aus
der persischen Epopöe, dem Königsbuch des Firdusi (vollendet 1011),
in volle geschichtliche Beleuchtung. Bewahren die Kampfschilderungen
selbst noch die alte Kraft, so werden sie doch schon in voller Breite
ausgemalt:

[84]
„Die Schranken waren eng, der Kampf begann,

Mit kurzen Speeren griffen sie sich an;

So Schaft als Spitze gingen bald in Splitter,

Da prallten, links sich wendend, beide Ritter

Mit ihrem Hinduschwerterpaar zusammen,

Aus beiden Klingen sprühten helle Flammen,

Schlag fiel auf Schlag, der Klingen Stahl zerbrach,

Es schien, als wär's der Auferstehungstag ...“

Nicht genug an solchen vereinzelten Urteilen des Dichters: Seelenschilderungen
durchbrechen weithin die Handlung:


„Schweißtriefend stand der Alte wie der Junge,

Den Mund mit Staub gefüllt und dürr die Zunge;

So ließen denn die beiden ab vom Streit,

Voll Weh der Vater und der Sohn voll Leid.

O Welt, wie wunderbar ist doch dein Lauf!

Du stürzest nieder und du richtest auf!

Nicht regte in den beiden sich die Liebe,

Nicht zeigte die Verwandtschaft ihre Triebe!

Kennt doch ein jedes Tier ─ das Wild der Flur,

Der Fisch des Meers ─ sein Junges von Natur,

Vom Menschen nur, im Kampfe sonder Frieden,

Wird nicht der Sohn vom Feinde unterschieden.

Zu sich sprach Rustem so: ‚Dies junge Blut

Kämpft hitz'ger als ein Krokodil in Wut ...'“

Ein solches lang fortgesponnenes Selbstgespräch entfernt vollends
von der reflexionslosen Gegenständlichkeit und Plastik des alten
Liederstils.


„Auch Sohrabs Mutter hörte, was geschehn,

Daß ihr der Sohn geraubt sei und durch wen:

Da ihr Gewand zerriß das schöne Weib,

Rubinengleich erschien ihr nackter Leib;

Die Hände rang sie, schluchzte laut vor Qual,

Jn Ohnmacht sank sie ein ums andre Mal,

Die Locken um die Finger rollte sie,

Und riß sie aus, nicht Tröstung wollte sie.“

Jn gleicher Ausführlichkeit wird noch weiter ihr Schmerz geschildert,
bis sie ihm überdies direkt in einer langen Kette von Versen
leidenschaftlich Luft macht. Die Erweichung des Stils erhellt
allerorten:

[85]
„Sagt' ich dir nicht, woran des Vaters Haupt

Zu kennen sei? Doch du hast nicht geglaubt!

Nun dein beraubt und ohne Lebenskraft,

Verzweifelnd lieg' ich in Gefangenschaft!

Warum nicht folgt' ich dir auf deiner Fahrt?

Vielleicht vor Unheil hätt' ich dich bewahrt.“

§ 50.
Fortsetzung: Durchbrechung der organischen Entwicklung.


  Bevor wir die Entwicklung des epischen Stils bei uns in
Deutschland eingehend verfolgen, müssen wir mit der Thatsache rechnen,
daß der Volksgeist inzwischen sich selten rein, selten unbeeinflußt
von fremden, auf ihn von außen eindringenden Bildungselementen
erhält, und so auch die Poesie, die noch immer im wesentlichen Erzählungskunst
ist, unorganischer Beeinflussung ihrer Entwicklung ausgesetzt
ist.


  Besonders für die modernen Völker bezeichnet diese epochemachende
Krise der Eintritt des Christentums. Jn deutscher Sprache liegen
selbst ein paar heidnische Zaubersprüche mit epischer Haltung vor,
in welche nachträglich christliche Namen und Vorstellungen hineingetragen
wurden. Charakteristisch für die zunächst unorganische Vermischung
der heidnisch=nationalen und der christlich=weltreligiösen Elemente erscheinen
für unsere Dichtung alsdann zunächst zwei kleine christliche
Dichtungen, die sich weder heidnischer Vorstellungen noch des alten
nationalen Stils erwehren können. Jm Wessobrunner Gebet
herrschen die formelhaften Elemente so weit vor, daß sich allerhand
Berührungen mit andern Gedichten ergeben. Das Muspilli versucht
schon höchst bezeichnend eine kriegerische Einkleidung der christlichen
Lehre. Eine gewaltige Phantasie gefällt sich in Ausmalung
der Schrecken des Jüngsten Gerichtes; die Entwicklung geschieht durchaus
anschaulich: sowohl der Streit zwischen Elias und dem Antichristen
als der Aufzug zum Gericht entfaltet sich in scenischer Folge. Der
zweite Teil beginnt mit einer Quellenberufung. Die gliedweise Beschreibung,
der alte Parallelismus hält zu unerschöpflicher Ausmalung
der Situation her. Jm ganzen ist doch im Stil das Lyrisch-Christliche
vom Episch-Nationalen überwuchert. Doch schon finden sich Erläuterungen [86]
und didaktische Elemente, wie denn die Handlung überhaupt
Unterbrechungen leidet.


  Wir müssen für die modernen germanischen und romanischen
Völker dieser Zeit im Auge behalten, daß wiederum die Geistlichkeit,
nunmehr die christliche, zum alleinigen Träger der Bildung erwächst.
So begegnen wir in England schon während des 8. Jahrhunderts,
in Deutschland während des 9. biblischen Dichtungen in Form umfangreicher
Schriftwerke. Bedeutsam ragt hier der Heliand und die
auf denselben Kreis zurückgehende altsächsische Genesisdichtung auf,
weil man den oder die Verfasser unter jenen Geistlichen suchen muß,
die, aus dem sächsischen Volke selbst hervorgegangen, den Stil der
Volkssänger gründlich kennen und nachempfinden. Jn der Auffassung
des Stoffes ist das weltliche Verhältnis eines germanischen Königs
zu seinen Gefolgsmannen auf Christus und seine Jünger übertragen,
auch sonst sind die orientalischen Zustände unter germanischem Bilde
oder doch Kostüm geschaut. Bedingt der christliche Stoff naturgemäß
didaktische Elemente und stärkeren Gefühlsdurchbruch, so finden wir
doch immer den reichen Formelschatz der altgermanischen Dichtung
wieder, in großer Ausdehnung desgleichen die gliedweise vorschreitende
Beschreibung und Satzverknüpfung, vor allem auch manch treffend
veranschaulichte Scene. Als litterarische Stilmittel bemerken wir aber
bereits außer dem Verweilen bei Seelenzuständen die Begründungen
und Erläuterungen der Handlung, mancherlei Episoden
und behagliche Kleinmalerei, oft doch auch durch unplastische, allgemein
gehaltene Erzählung.


  Weiter noch entfernt sich geflissentlich vom Volksgesang Otfried,
der Verfasser eines in unserm Jahrhundert unter dem Titel „Krist“
herausgegebenen Evangelienbuches. Zwar zeigt sich der Verfasser, ein
fränkischer Benediktinermönch, von nationalem Eifer erfüllt, wie schon
seine Vornahme beweist, nicht Latein, die Weltsprache der christlichen
Mönche, sondern die Muttersprache zu schreiben. Doch in seiner
lateinischen Vorrede betont er als Zweck seiner Dichtung, daß durch
sie der Volksgesang weltlichen Jnhalts (laicorum cantus obscenus)
verdrängt werde. So flicht er denn lange moralische und sogar schon
symbolische Erklärungen ein, verleugnet auch nie den Gelehrten.
Jn psychologischen Reflexionen ergehen sich nicht nur die handelnden [87]
Personen, vor allem der Dichter selbst, der überhaupt gern hervortritt;
auch Motivierung wird möglichst immer gesucht, Kleinmalerei
bisweilen glücklich eingeführt. Dabei erzeugt das Streben
nach Veranschaulichung noch immer manch plastisches Bild. Die Auflösung
des Langverses in zwei durch Endreim gebundene Halbverse
bedingte aber auch eine weitere Auflösung der alten Stilelemente:
der parallele Gliederbau des Satzes verliert viel von der alten anschaulichen
Architektonik, die Strich auf Strich zu einem plastischen
Gesamtbild zusammentrug; jetzt geht er in die Breite oft nur um
die Strophe zu füllen. Aehnlich begegnen sich in formelhaften Zusammensetzungen
liedartige und litterarische Rücksichten. Die Satzverknüpfung
geschieht nach litterarischem Stil schon weithin durch
Konjunktionen.


  Von besonderer Bedeutung ist, zu verfolgen, wie sich die Erzählung
nationaler Heldenthaten unter den Händen der Geistlichen
gestaltet: von den Händen darf man thatsächlich sprechen, da diese
Dichtungen für die Niederschrift gedichtet sind. Das Ludwigslied aus
dem Jahre 881 verherrlicht den Sieg, welchen Ludwig III. über die
Normannen bei Saucourt davontrug. Jn echt epischer Weise unternimmt
es nicht bloß eine Siegesfeier, vielmehr eine Erzählung,
zunächst von Ludwigs Vorleben; daran schließt sich die Unterredung
zwischen Gott und dem König, alsdann zwischen diesem und seinen
Kampfgenossen; an die kurze, bedeutsame Bezeugung des Schlachtgesanges
schließt sich eine ganz eng gedrängte Uebersicht über das Anheben
des Kampfes; das Lob Gottes macht den Schluß. Die schnelle
Handlungsfolge hat der geistliche Dichter indes durch subjektive
Zwischenbemerkungen, teils Ausrufe, teils Urteile durchbrochen. ─


  Schon Otfried wollte der lateinischen Poesie nacheifern, freilich
in deutscher Sprache mit ihr wetteifern. Dagegen gelangen eine Reihe
nationaler Sagen von geistlicher Hand zu lateinischer Niederschrift.
Während das Waltharilied des 10. Jahrhunderts noch den germanischen
Geist und Stil aus dem fremden Gewande hervorblicken
läßt, spiegelt der in die Mitte des 11. Jahrhunderts fallende Ruodlieb,
wie nun anstelle des alten landfahrenden Reckentums ein seßhaftes
Rittertum mit milderen, aber äußerlich glänzenderen Jdealen
zur Herrschaft gelangt ist. Die Darstellung umfaßt in epischer [88]
Ausführlichkeit alle Lebensverhältnisse; der Dichter selbst tritt
beschreibend und lehrend hervor. Der zugrunde liegende Abenteuerroman
mischt sich später unter Einfluß der Spielleute mit Zügen
aus der nationalen Sage. ─


  Zu den christlichen und lateinischen Einwirkungen gesellen
sich für die deutsche Erzählung französische und neuere orientalische
Einflüsse aus Anlaß persönlicher Berührung im Zeitalter der
Kreuzzüge. Epen deutscher Geistlichen, wie das Alexanderlied und
das Rolandslied, lassen all diese Elemente durch einander wirbeln;
den germanischen Stil bewahren sie am weitesten noch in den Kampfschilderungen.
Auch Spielleute schreiten zur Abfassung größerer
Schriftepen vor, in die sie mannigfach altepische Stilelemente aus den
von ihnen vorgetragenen Liedern übernehmen, im übrigen aber je
nach ihrer Bildung ─ auch Kleriker mit Kenntnis des Latein traten
in ihre Scharen ─ französische, lateinische und orientalische Quellen
hineinleiten. Die Tendenz zu ungeheuerlichen Uebertreibungen und
zu drastischer Wirkung läßt den epischen Stil stellenweise bereits
arg verrohen.

§ 51.
Fortsetzung: Die nationale Epopöe in Deutschland.


  Erst in der Blüte höfischen Rittertums gelangt die nationale
Epopöe zur Vollendung.


  Schon der Spielmann muß seinen Stil den veränderten Zeitverhältnissen
anpassen. Singt er nicht mehr den Volksgenossen, sondern
dem König und dem Hofgesinde, singt er nicht mehr vor der
blutigen Männerschlacht, sondern zu festlicher Feier, so muß höfische
Anschauung eindringen, die Schilderung höfischer Pracht überhandnehmen,
überhaupt der Kern der Handlung von Ausmalung unwesentlicher
Einzelheiten überwuchert werden.


  Festpracht, glänzende Waffen, schmucke Kleider werden mit Vorliebe
beschrieben. Das rote Gold beginnt jetzt eine Rolle in der
Dichtung zu spielen. Sogar werden Helden nicht selten nach der
Schönheit ihrer Rosse und Gewänder beurteilt.


  Jn unserer Nationalepopöe, dem Nibelungenlied, entspricht
dieser höfischen Ausrüstung bereits eine durchaus höfische Gesin= [89]
nung. Für das ceremonielle Benehmen, besonders das zahlreiche
Verneigen und Küssen genüge das drastische Beispiel, welches uns
Rüdeger vor Hagen zeigt:


„Des neig im mit zühten der guote Rüedegêr.“


In tugenden, mit zühten, tugentlîch, zühteclîch kehren ständig
als adverbiale Bestimmungen wieder; selbst der sturmküene
recke, meister Hilprant
, will nach Rüdegers Tod noch „in sînen
zühten zuo den gesten gân
“. Daneben werden êre, triuwe,
stæte, guot
als Jdeale gepriesen. Schlechten Ruf, üble Nachrede
fürchtet man; es giebt bereits einen Kodex dessen, „was sich ziemt“:
darum thut man etwas von rehte oder umgekehrt, swie künege
niene solten
. Fürsten und Fürstinnen heißen wol geborn, es
giebt stolze ritter, ziere recken.


  Zu alledem tritt die Frau, in der Rolle, welche sie im höfischen
Leben spielt. Der Glanz ihrer Schönheit und Gewänder kehrt ebenso
typisch wieder wie ihre Vorsorge für die fürstlich reiche Ausrüstung
abziehender Ritter und das beim Abschied anhebende Weinen. Die
Liebe ist nun neben dem Heldentum der bedeutsamste Faktor der
Poesie geworden und trägt zur Erweichung der Gefühle wesentlich
bei.


  Milde und Maß gelten als Jdeal und drängen die im Stoff
und alten Stil liegende ungeschlachte Wildheit stellenweise in den Hintergrund.
Nun vollzieht sich unter dem Einfluß höfischen Geistes
eine weitere Umgestaltung der Charaktere. Neben Hagen und Etzel
ist aus dem deutschen Nibelungenliede namentlich an die dämonische
Brunhild zu denken, die zu einer vrowen wol geborn, zu einem
minneclîchen wîp gemildert ist. Hildebrands Neffe findet im
Tode für die Seinen keinen bessern Trost als:


daz si nâch mir iht weinen, daz sî âne nôt.

von eines küneges handen lig ich hie hêrlîchen tôt.“

Einen ähnlichen Gipfel höfischer Gesinnung bezeichnet es, wenn der
sterbende Siegfried seinen Sohn nicht etwa beklagt, weil er, der
Vater, ermordet ist, sondern weil man es dem Sohne aufmutzen wird,


„daz sîne mâge ieman mortlîch hânt erslagen.“


Die Scene ist eben durchgehends ze hove.

[90]

  Schon in dem lateinisch aufgezeichneten Waltharilied des 10. Jahrhunderts
begegnet uns ein Repräsentant der allem Anschein nach zahlreichen
Niederschriften alter heimischer Sagen in der Lateinsprache der
Mönche, als der vorläufig noch alleinigen Träger der Schriftkunde
und Bildung. Eine Verblassung und konventionell modernere Umbiegung
mancher alten Urwüchsigkeit läßt sich für jene Zeit bereits
feststellen.


  Am tiefsten einschneidend gestaltet sich der Gegensatz der Stilarten
durch die verschiedene Vortragsweise. Lernten wir auch
die Fortdauer mancher Elemente des alten Liederstils kennen, so bedingt
die ganze Anlage eines Schriftwerkes doch das Eindringen neuer
Gesetze. Während das mündlich vorgetragene Einzellied nach Kürze
und Gedrungenheit streben muß, kann die schriftliche Zusammenfassung
eines Sagenkreises sich behaglich verbreiten. Daher nun die Fülle
von Episoden, daher die Kleinmalerei, der Reichtum an Einzelheiten
überhaupt, die volle, bunte Ausmalung statt der früheren
kräftigen Skizzierung. Schon äußerlich werden Parenthesen beliebt.


  Tiefer greift die allmählich erwachende Neigung zur kunstvollen
Motivierung des Dargestellten statt der rein gegenständlichen Darstellung.
Nicht nur die Handlungen, auch die Seelenkämpfe der
Personen gelangen zur Ausführung. Ja, immer zahlreicher dringen
Urteile des Dichters selbst über das Erzählte in die Erzählung
ein, wie:


„daz hete ouch wol verdienet umbe alle liute der helt gemeit

oder:


„von schulden si dô klageten: des gie in wærlîchen nôt.“


  Nach alledem kann auf das deutsche Nibelungenlied so wenig wie
auf die Dichtungen Homers und die größeren, zusammenfassenden
Schriftwerke verwandten Stiles noch der Begriff einer Volksdichtung
Anwendung finden, am wenigsten wenn man davon andere erzählende
Gedichte als Kunstepen scheiden will. Wohl beruhen jene im Stoff
auf der Volkssage: aber sie haben dieselbe schon mit Bewußtsein
bearbeitet. Wohl haben sie aus den früheren liedartigen Behandlungen
einen Teil der einfachen und anschaulichen Stilelemente noch
übernommen: aber neues, eigenartiges Gepräge haben diesen Werken [91]
der Schriftcharakter, ihr ausgedehnter Umfang sowie mehr oder
minder die eingreifende Jndividualität des Dichters aufgedrückt.


  Wie sich jedoch diese ersten auf nationale Sage zurückgehenden
Schriftwerke von den alten Volksgesängen sondern, so heben sie sich
nicht minder klar von den zahlreichen teils gleichzeitigen, teils späteren
Erzählungen ab, die auf nichtsagenhafte, wohl gar fremde Quellen
zurückgehen ─ oder selbst die nationalen Sagen in gefühlvolle Subjektivität
auflösen. Denn unaufhaltsam schreitet die Entwicklung fort.

§ 52.
Entartung des nationalen Erzählungsstils.


  Auf indischem Boden spiegelt die Stildifferenz zwischen älteren
und jüngeren Teilen des Mahabharata bereits den Zug der Entwicklung:
vom Konkreten und Starren zum Gefühlvollen,
Weichen.
Das Ramajana veräußerlicht den Zug zum Abenteuer
und zu möglichst wunderbaren, bunten Kämpfen, läßt vor allem die
milden Tugenden, Liebe, Buße und Entsagung den kriegerischen Geist
der Heldensage durchbrechen. Später noch, in den Epen eines Kalidasa,
treffen alle Kennzeichen eines künstlicheren Geschmacks zusammen.
Die volle Versandung in Didaktik wird durch den Versuch des
Battikavja belegt, die Grammatik poetisch zu erläutern. Der Gipfel
der Verkünstelung wird erstiegen, wenn Kaviraja es gar unternimmt,
durch Zusammenhäufung doppelsinniger Wendungen mit denselben Worten
zugleich die Fabel des Mahabharata und des Ramajana zu
erzählen.


  Weit entfernt von einer Erstarrung zu doktrinärem Regelwerk,
tritt uns ─ trotz aller Variationen, denen lebendige Organismen wie
die Geisteserzeugnisse verschiedener Kulturvölker naturgemäß ausgesetzt
sind ─ mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit in Griechenland derselbe
Grundzug der Entwicklung vom Konkreten zum Abstrakten entgegen,
und wir vermögen ihn psychologisch sehr wohl zu begründen.


  Jn viel höherem Maße und auf weit längere Zeit als unser
Nibelungenlied beherrschten die Homerischen Gedichte die litterarische
Tradition. Zunächst richtet sich ausdrücklich das litterarische Mühen
auf Fortbildung der Homerischen Poesie. Die Kykliker können sich [92]
trotzdem der schon leise beginnenden Auflösung des epischen Stils
nicht erwehren.


  Bereits in der Gestaltung des Stoffes tritt unorganische Willkür
und selbst Verrohung hervor. Anstelle des künstlerischen Ernstes reißt
ein freies Spiel mit der Sage ein, anstelle der einfachen Gediegenheit
die Sucht nach Mannigfaltigkeit und äußerer Lebhaftigkeit.
Das Streben nach drastischen Effekten verleitet bisweilen
zu unverantwortlichen Geschmacklosigkeiten: so läßt man Thersites der
toten Penthesilea ein Auge ausschlagen und darauf von Achill durch
einen Faustschlag getötet werden.


  Nicht minder aber bekundet die Erzählungsweise eine Zersetzung
des objektiven Geistes. Jn unverkennbarer Ausdehnung wächst die
Neigung an, über die Personen zu reden statt sie selbst andauernd
handeln und reden zu lassen. Der Dichter führt ihre Sache, wo
sie ehedem ganz auf eigenen Füßen zu stehen schienen. So greift
denn auch die Subjektivität des Dichters ein: er stellt nicht nur dar,
er reflektiert gern über die Handlung. Während Homer die bei
ihm schon ziemlich ausgedehnten Sentenzen und allgemeinen Urteile
den handelnden Personen je nach Charakter und Situation in den
Mund legt, giebt nun der Dichter oft seine eigene Weisheit kund.


  Hesiods Darstellungsweise sucht zwar formalen Anschluß an den
Stil Homers, soweit sie nicht durch die hymnischen Quellen bestimmt
ist. Dennoch legt die losere Aneinanderreihung heterogener Elemente
beredtes Zeugnis ab, daß die klassische Harmonie der Form bereits
gesprengt ist. Hesiod ist es bereits, welcher in der griechischen Poesie
den lehrhaften Zug stark herausarbeitet. Die Spruchweisheit feiert in
seiner Darstellung Triumphe, allgemeine Erfahrungen treten weithin
anstelle individueller Zeichnung von Einzelgestalten. Das landwirtschaftliche
Lehrgedicht inmitten der „Werke und Tage“ sowie schon
die Bestimmung des Ganzen zur praktischen Einwirkung auf seinen
Bruder verbieten es überhaupt, diese Dichtung für das eigentlich epische,
erzählende Gebiet in Anspruch zu nehmen.


  Doch auch im Epos selbst wächst der didaktische Zug an.
Die Naturphilosophen übertragen die erzählende Form vollends auf
jenes Gebiet, das, obschon zugleich materiell und geistig, doch der [93]
plastischen Gestalten entbehrt und in das Reich der Allegorie hinüberleitet.



  Sowohl rein allegorische Stücke wie Tiererzählungen zur Spiegelung
menschlicher Verhältnisse kommen auf epischem Gebiet seit Beginn
der lyrischen Blüte zur Verwendung. Die Batrachomyomachie
bietet ein besonders augenfälliges Zeugnis von der Parodie des
heroischen Stils. ─


  Jn ähnlichen Grundzügen bewegt sich die Entwicklung des persischen
Epos. Nach Firdusis Zeiten treten die verschiedensten Anzeichen
einer beginnenden Entartung des epischen Stils hervor. Virtuoses
Spiel mit Worten und Bildern, formale Effekthascherei
läßt schon äußerlich die Verflüchtigung des ernsten Heroengeistes erkennen.
Unentrinnbar dringen didaktische Neigungen vor. Eine
glänzende Erscheinung wie Nizami repräsentiert den phantastischen
Geist, der zweihundert Jahre nach Firdusi zu voller Herrschaft gelangt
ist: wieder mehr Abenteuer als nationale Heldenthaten, die Liebe
als ein ausschlaggebender Faktor im Ritterleben, mehr ein Zug zum
Jdyllischen als zum Erhabenen, Großen.


  Die Vergeistigung des Lebens, ein so bedeutsamer und erhebender
Prozeß in jedem Völkerleben, wirkt doch auf die echte epische
Form auflösend. Mit Saadi ist die persische Litteratur voll und bewußt
in das Zeichen des Geistes getreten: die Erzählung ist zur
bloßen Jllustration einer sittlichen Wahrheit herabgedrückt. Mit ihr
hebt er an:


„Kannst du's, laß nie vom Mitleid ab dich lenken,

Wer Mitleid schenkt, dem wird man Mitleid schenken.

Sei stolz nicht darauf, daß du gütig bist;

Weil du so hoch, wie andere, niedrig bist;

Getroffen ward er von des Schicksals Streichen,

Kann dich des Schicksals Schwert nicht auch erreichen?

Siehst Tausende du fleh'n nach deiner Huld,

Dem Herrn bezahle du des Dankes Schuld,

Daß sich nach dir die Augen vieler wenden

Und nicht dein Auge blickt nach andrer Händen.

Die Großmut, sagt' ich, sei der Großen Ruhm:

Nein, sie ist der Propheten Eigentum.“

Erst nach solcher ethischen Einführung setzt die eigentliche Erzählung
ein:

[94]
„Jn einer Woche war, wie ich vernommen,

Kein Wandrer einst zu Abraham gekommen.

Jn edlem Sinn aß früh er nichts allein,

Es kehrte denn ein Armer bei ihm ein“ etc.

Auch innerhalb der persischen Litteratur verflüchtigt sich der epische
Stil schließlich in Symbolistik und Allegorie. ─


  Von den romanischen Völkern erregen zunächst die Franzosen
durch die bedeutsame Wendung in der Geschichte ihres Epos Aufmerksamkeit.
Das Rolandslied und die übrigen Behandlungen des kärlingischen
Sagenkreises geben vorerst in schmuckloser Thatsächlichkeit schlicht
objektive, von nationalem Geist, Vaterlandsliebe und Vasallentreue wie
von frommer Gesinnung erfüllte Bilder heldenhafter Kämpfe. Welche
Umbiegung auch der romanische Geist erfährt, läßt sich an den Geschicken
der Rolandsdichtung vornehmlich auf italienischen Boden erkennen.
Aus dem kraftvollen Recken, der für Karl den Großen einen
Heldentod stirbt, macht bereits Bojardo einen abenteuernden Liebeshelden,
eben den „Verliebten Roland“, den schon der Titel seines
Epos ankündigt. An dieses schließt sich als Fortsetzung „Der rasende
Roland“ des Ariost, eine in ihrer Art glänzende Bekundung romanischer
Weltlust und Genußfreude. Jn farbenreicher Pracht entfaltet
die Phantasie ihre ganze Fülle und Weichheit. Hier ist
sogar keine Frage, wen wir als den größeren Künstler anerkennen
werden: den Dichter des alten Rolandliedes oder Ariost. Fragen wir
jedoch, wo dies glänzende Werk in der Geschichte des epischen Stils
steht, so erkennen wir ihm gewiß einen Gipfel zu, aber die schönste
Vollendung derjenigen Darstellungsform, die mit dem objektiv erzählenden
Stil entschlossen gebrochen hat, um in üppigster Behaglichkeit
das Subjekt auszuleben, die Erscheinungen der Außenwelt mit
souveräner Phantasie zu überfliegen.


  Gerade Frankreich selbst sollte den Geist zur Blüte heranreifen
lassen, der als Ferment an der Zersetzung des epischen Stils
bei den modernen Völkern überhaupt thätig war. Jm Zeitalter der
Kreuzzüge geschieht die Berührung mit dem Orient, von dessen Wundergeschichten
sich die leicht erregliche Phantasie der Romanen lebhaft
angezogen fühlte. Auch begünstigte der abenteuerliche Geist der Kreuzzüge
die Sucht ins Ferne, Phantastische; handelte es sich doch [95]
nicht mehr um nationale Existenz- und Entscheidungskämpfe, nicht einmal
um nationale Jnteressen. Zu alledem machte die mächtig geweckte
Gefühlswelt ihre Rechte unmittelbarer geltend: genug, es waren
alle Bedingungen für einen Umschwung des epischen Stils bei den
modernen christlichen Völkern gegeben.


  Jnternationale Verbreitung und Färbung gewinnt die bretonische
Sage vom König Artus und seiner Tafelrunde fahrender Ritter. Vor
allen hat Chrestien von Troyes die Sagen dichterisch behandelt,
die sich an Abenteuer hervorragender Artusritter knüpften. Noch
immer sollten erhebende Muster der Ritterlichkeit und heldenhafter
Gesinnung
aufgestellt werden. Aber wie das Jdeal des
Heldentums hatte sich auch die Form seiner Darstellung gewandelt.
Phantastische Abenteuerlust und Liebesverwicklungen heischen
eine andere Wiedergabe als rauh männliche Kämpfe um Sein
oder Nichtsein des Stammes. Leichter Fluß der Erzählung, Buntheit
der Farben, künstliche Spannung, gefühlvoll sinnende Reflexion
treten nun anstelle einfacher Erhabenheit gegenständlicher Gestaltung.
Eine neue Bahn ist eröffnet, auf welcher die festen Gestalten,
die scenisch entfalteten Thatsachen von der Schnellkraft des auf
sich selbst gestellten Gefühlslebens rasch überflügelt werden.

§ 53.
Fortsetzung: Entartung des deutschen Epos.


  Lenken wir unser Auge auf die weitere Entwicklung des heimischen
Erzählungsstils, so werden wir Zeugen, wie selbst die Behandlung
der nationalen Sage mehr und mehr den gleichzeitigen Einflüssen
fremder Stilarten und der überwuchernden Gefühlsweichheit,
für welche das deutsche Geistesleben nun reif geworden, erliegen.


  Gegenüber dem Nibelungenlied und der im Stil ihm nahestehenden
Dichtung von Alpharts Tod zeigt schon die Gudrun weitere
Fortschritte auf diesem Wege, der, weit entfernt zu größerer
künstlerischen Vollkommenheit überzulenken, den erzählenden Stil im
letzten Ende vielmehr seiner Auflösung entgegenführt. Die Gudrun
wenigstens bewahrt noch weithin die alte elementare Kraft. Freilich
ist die Ueberlieferung auch hier in höfisches Gewand gekleidet; daneben
dringen aus romanischen bezw. orientalischen Quellen mancherlei [96]
zauberhafte Züge ein. Drastisch äußert sich die Verquickung heterogener
Dinge, wenn in heidnische Elemente christliche Anschauungen
hineingetragen werden: so wenn ein weissagender Vogel ein Engel
Gottes genannt oder wenn nach der Schlacht auf dem Wülpensande
ein Kloster gebaut wird. Die nachträgliche, äußerlich gebliebene
Uebertragung christlicher Anschauungen auf den heidnischen Stoff bahnt
sich schon im Nibelungenlied an.


  Während indes diese Sagen durch die Sorgfalt ritterlicher Dichter
eine würdige und im ganzen noch immer harmonische Gestalt gewinnen,
entarten andere besonders unter Spielmannseinfluß immer
weiter. Ja selbst diejenigen Sagengestalten, die in der Dichtung bereits
eine in ihrer Art klassische Form gefunden, sind später unwürdiger
Herabzerrung ausgesetzt. Anstelle des heiligen Ernstes, mit dem
der alte Sänger zu seinen Gestalten aufblickte, anstelle der Bewunderung
und Liebe, mit der sie noch der Dichter der Epopöe hegte, reißt
ein schwankhafter Ton, eine ironische Beleuchtung ein.


  Verfolgen wir einige Heldengestalten in ihren litterarhistorischen
Schicksalen. Schon Theodorich und Hildebrand erliegen arger Herabdrückung.
Der große Theodorich wird zum jungen, fürwitzigen
Dietrich, dem gegenüber sein Waffenmeister Hildebrand das weise,
überlegene Alter repräsentiert, eine Art Vorsehung spielt. So soll
Dietrich im „Rosengarten“ des 13. Jahrhunderts mit Siegfried
kämpfen, scheut sich aber vor diesem Wagnis. Da versucht Hildebrand
ihn durch einen Faustschlag zur Wut zu reizen: mit einem Schwerthieb
rächt Dietrich den Schimpf und stürmt dann gegen Siegfried an.
Weil er indes lange den Gegner nicht zu besiegen vermag und schon
sein Ermatten zu befürchten ist, läßt Hildebrand ihm die Kunde zutragen,
der rächende Schwerthieb habe ihn, den Waffenmeister, getötet.
Nun flammt Dietrichs Zorn furchtbar auf, und Siegfried muß zu der
Kriemhild Füßen Schutz suchen. Da sprengt Hildebrand heran: „Du
hast gesiegt, nun bin ich wiedergeboren!“ ─ Hier sind alle Charaktere
─ Dietrich und Hildebrand wie Siegfried ─ gleichmäßig ins
Schwankhafte gewendet. So kam es schließlich zu einer Art Travestie
des Hildebrandsliedes, zu einer neuen, nunmehr humoristischen
Behandlung des alten Stoffes. Dies jüngere Hildebrandslied des
15. Jahrhunderts nimmt einen glücklichen Ausgang. Schließlich wird [97]
sogar ein zweiter Kampf angefügt, ein Scheinkampf vor den Augen
von Hildebrands Frau. Zum Schein läßt sich dieser vom Sohn gefangen
nehmen, wird alsdann aber an der Tafel obenan gesetzt. Als
die Mutter es dem Sohn verweist, einen Gefangenen derart zu ehren,
enthüllt der junge Held das Geheimnis, und so löst sich die düstere
Reckensage in eitel Scherz und Wohlgefallen.


  Wo es sich, wie bei diesem jüngern Hildebrandslied, nochmals
um ein zum Sang bestimmtes Lied handelt, finden sich im Stil
naturgemäß wieder eine Reihe von liedartigen Elementen an. Sonst
aber ist der Abstand dieser Wortlust und muntern Behäbigkeit
von der alten Einsilbigkeit und kraftvollen Gedrungenheit unverkennbar;
am meisten wird man an den Ton der Spielleute erinnert.


„Der alt det sine pflegen
wol in dem grunen tan,
pis er dem jungen degen
sein waffen untertran;
er tet in zu im rucken,
do er amm schmelsten was,
und warff in an den rucken
wol in das grune gras.
‚Wer sich an ein alten kessel reibt,
der fecht so geren ran.
sag, junger, wis umb dich beleibt;
wie sol es dir dergan?
nun sag mir her dein peichte:
dein prister wil ich wessen.
pistu ein Wulfing villeichte,
so mochstu wol genessen.'“


Der Dichter arbeitet reichlich mit Flickworten. Die Neigung
zur Großsprecherei wie zu Sentenzen tritt gleich charakteristisch
hervor.


  Auch die Gestalt Siegfrieds erlag noch weiter der travestierenden
Art, in welcher seit dem 13. Jahrhundert die Heldensage zu Schwänken
und Schnurren herhalten mußte. Das spätere Lied vom „Hürnen
Seyfried“ erzählt anekdotisch Siegfrieds Aufenthalt beim Schmied,
seinen Kampf mit dem Lindwurm und die Erwerbung der Hornhaut.
Jn welchem Maße die Sage verliedert war, zeigt das Durcheinanderwerfen
der verschiedensten Gestalten und Ereignisse. So befreit Siegfried [98]
hier nicht mehr Brunhilden, sondern Kriemhilden, und zwar aus
der Gewalt des Drachen!

§ 54.
Das internationale Ritterepos.


  Während so die nationale Sage, der eigentliche Gehalt der Erzählungskunst
während ihres Blühens, der Entartung anheimfiel, fordert
die Zeit noch in andrer Weise vom epischen Stil ihren Tribut.
Schon sahen wir Reflexion über Gefühle in die Darstellung der Thatsachen
eindringen; im Zusammenhang mit dem nun hereinbrechenden
Zeitalter lyrischer Blüte sowie unter Begünstigung durch romanisches
Muster tritt zusehends die Erzählung der Thatsachen immer weiter
in den Hintergrund, zu Gunsten eines Schwelgens in Gefühlen.
Nicht sowohl die äußeren Geschehnisse als die Seelenzustände gewinnen
für dies Zeitalter das Hauptinteresse: anstelle der Thatenfreude
tritt die Selbstversenkung.


  Jn der auf nationale Sage zurückgehenden Epopöe bilden die
Großthaten der Vorfahren noch einen starken Damm konkreter Geschehnisse
gegenüber dem sich regenden modernen Gefühlsleben. Viel
weniger behindert flutet es in die Darstellung der fremdher geholten
Abenteuer, die nun zu einer Art internationaler Stoffwelt
an einander rücken. Auch in die deutschen Bearbeitungen geht überdies
weithin der Stil ihrer romanischen Quellen über.


  Wohl konnten hie und da eine Reihe günstiger Umstände zusammentreffen,
um auch diesem neuen Stil einen gewissen Zusammenhang
mit der alten Erzählungskunst zu wahren. Wenn ein echter
und deutsch=gemütvoller Dichter wie Wolfram von Eschenbach
sich fremder Stoffe bemächtigt, muß sich der Darstellung notgedrungen
etwas von heimischem Geist aufprägen, zumal seine fränkische Heimat
nicht unmittelbar der fremden Hochflut ausgesetzt war. Kommt hinzu,
daß er, des Schreibens unkundig, zu mündlichem Diktat seiner Dichtung
genötigt ist, so muß von selbst ein gut Stück Anschaulichkeit des
liedartigen Stils in seine Erzählung übergehen.


  Wolfram behält aus dem nationalen Stil nicht nur eine Fülle
einzelner alter Wörter und Wendungen bei, welche in andern Ritterepen [99]
bereits durch neumodische ersetzt wurden, besonders die Bezeichnungen
für Helden und für den gesamten Bereich des Kampfes. Jn
alter Weise sucht er vor allem anschaulich in die Situation zu versetzen
(man sach, schouwet &c.). Die thätigen Organe der Handlung
kommen aus gleichem Anlaß zur Bezeichnung. Schmückende Beiwörter
sind zahlreich. Ebenso wird von Vorgängen gern ein charakteristisches
Merkmal genannt, wie denn spezielle Momente vor allgemeinen fast
immer bevorzugt sind. Auch der tiefe, heilige Ernst der Darstellung
wahrt die alte Würde der Poesie; der Humor hält sich durchaus auf
jener feinkomischen Höhe, die wir von der behaglichen Darstellung der
Epopöe erreicht sahen. Eine Verschmelzung des deutschnationalen
mit dem christlichen Geist ist hier zur Harmonie gediehen.


  Von jüngeren Stilelementen finden wir, auch abgesehen von
Quellenberufungen, Anreden an das Publikum sowie zahlreiche persönliche
Bemerkungen.
An Gleichnissen und Bildern ist Wolfram
unerschöpflich. Am weitesten entfernt er sich vom alten Stil durch
Operieren mit abstrakten Begriffen, die er gern personifiziert. Vor
allem aber geht er auf Seelenschilderungen ein, durchtränkt auch
die Erzählung mit subjektiv=ethischen Betrachtungen. Jm allegorischen
Stile der Zeit zeigt sich nun die Handlung oft von den
Befehlen der Frau Minne oder der Frau Aventiure gelenkt.


  Weiter griff die Abwendung von dem überkommenen nationalen
Stil in den übrigen ritterlich=abenteuerlichen Modedichtungen. Anstelle
der Kraft ist schon mit Heinrich von Veldeke Sanftheit
getreten. Auf die Gemütszustände wird eingegangen, ohne daß man
zunächst mit dem Herzen anteilnimmt. Von Menschen wird mehr die
prächtige Kleidung als die Gestalt gezeichnet. Wichtiger fast werden
die Rosse behandelt. Neben lebhaften Fragen und Ausrufen greifen
Monologe ein. Die Etiquette (zuht) bestimmt das Benehmen,
ohne daß dadurch frivole Elemente ferngehalten werden. Vor allem
ist die Liebe (minne) zu einem sentimentalen Gefühl erwachsen:
sie ist Allgewalt und Krankheit, macht kraftlos, heiß und kalt.


  Der Schwabe Hartmann von Aue giebt diesem Stil zwar
eine gewandte, harmonische Durchbildung. Eine Herrschaft der konventionellen
Empfindungen hebt jedoch an; maßvoll und farblos wie
die Gefühle ist die Darstellungsweise. Allerdings gestaltet sich nun die [100]
Verknüpfung der Sätze, die Ueberleitung der Gedanken immer kunstvoller.
Jm übrigen aber verliert die Darstellung an künstlerischer
Schärfe: anstelle des Besondern tritt das Allgemeine, das Einzelne
wird durch den Typus bezeichnet. Das innere Leben tritt
unter Zurückdrängung thatsächlicher Erzählung nun in den Vordergrund.
Die menschlichen Affekte werden personifiziert ─ die Darstellung
mündet immer tiefer in Allegorie ein. Auch die Wirkung
der Gestalten und Geschehnisse auf andere ist schon ins Auge gefaßt
(wer hätte sie gesehen, der nicht geweint hätte? u. dgl.) ─ womit
über das lyrische Niveau schon auf ein Moment dramatischer Psychologie
leise vorgedeutet wird, wie der Dichter denn auch gemischte Gefühle
zu analysieren weiß. Die Charakterzeichnung freilich arbeitet
fast ausschließlich mit leuchtendem Weiß und tiefem Schwarz.


  Zu psychologischer Vertiefung, zur poetischen Bemeisterung der
Leidenschaft dringt erst Gottfried von Straßburg vor. Die subjektiven
Elemente, die Gefühle der Personen wie des Dichters, gelangen
nun zu einer souveränen Herrschaft. Dem entsprechend
sehen wir den gesamten Stil einer vollendeten Umwälzung unterzogen.
Reich an psychologischen Erläuterungen und an rhetorischen
Reflexionen, geht die Darstellung nun entschlossen in erster Linie auf
Durchdringung des Geistigen. So erklärt sich auch die zunehmende
Vorliebe für Allegorien: statt von dem Schwerte und tapfern
Kampfgenossen ist ein Held nun von personifizierten geistigen Eigenschaften
im Kampfe unterstützt; nun greifen Wendungen platz, wie sie
uns schon in ihrer prinzipiellen Bedeutung bekannt geworden:


„Ir kleider wâren ûf geleit
mit vier hande rîcheit,
und was der vierre iegelîch
in ir ambete rîch.
daz eine daz was hôher muot,
daz ander daz was vollez guot;
daz dritte was bescheidenheit,
diu disiu zwei ze samene sneit;
daz vierde daz was hövescher sin:
der næte disen allen drin.“


Ebenso:


Ir muoten harte sêre

sîn triuwe und sîn êre:
[101]

so muote in aber diu minne mê.
diu tet im wirs danne wê;
sî tet im mê ze leide
dan triuwe und êre beide.“


Mit ähnlicher Gewandtheit ist jeder Zug in Beschreibung der Minnegrotte
symbolisch auf Eigenschaften der Liebe umgedeutet. Es
leuchtet ein, daß wir damit vor dem vollen Gegensatz zum
ursprünglich epischen Stil
stehen. So finden wir bei Gottfried
denn auch bereits ein bewußtes Streben nach Originalität, das sich
direkt ausspricht und zugleich in kunstvollster Stilistik bethätigt.
Jn den spielend leichten Fluß seiner weichen und glänzenden Sprache
bringen Antithesen, Wortspiele, Jronie eine plätschernde Bewegung.
Wie weit die Entfernung von der rein erzählenden Darstellungsweise
reicht, bekundet am verblüffendsten die ausgedehnte Polemik des Dichters
über seine Kunstgenossen inmitten seines Werkes.

§ 55.
Das allegorische Epos.


  Während die Erzählung immer mehr in breiter Beschreibung
verschwimmt und die Thatsachen immer weiterer Auflösung in Gefühlsanalyse
erliegen, läßt sich in Deutschland besonders augenfällig
beobachten, wie didaktische Neigungen erwachen und anschwellen.
Schon die kurzen ethischen Urteile des Dichters, denen wir bereits
in unserer Epopöe begegnen, geben im Grunde moralische Direktiven.
Jn dem Maße, wie anstelle reflexionsloser, rein gegenständlicher
Wiedergabe der Thatsachen das Urteil oder doch die Empfindung des
Dichters über die Thatsachen tritt, gewinnt denn auch das Epos
didaktische und moralisierende Elemente. Die Personifikation der Gefühle
macht es schließlich möglich, Jdeen ohne Rücksicht auf individuelle
Gestalten, rein herausgestellt, auf und gegen einander wirken zu lassen.
So ist der Schritt zum rein allegorischen Epos nicht mehr weit.


  Durchgeführte Allegorien tauchen bei uns bereits in der zweiten
Hälfte des 13. Jahrhunderts auf. Konrad von Würzburg läßt
in seiner „Klage der Kunst“ die personifizierte Kunst von der Phantasie
in den Wald geleiten, wo Frau Kunst in zerrissenem Gewande [102]
gegen die Freigebigkeit erfolgreich Klage führt. Als Richterinnen
treten auf: Frau Gerechtigkeit, Wahrheit, Barmherzigkeit, Treue u. a.


  Jm 14. Jahrhundert stellt Hadamar von Laber das Liebeswerben
unter dem Bilde der Jagd dar. Wenig geschmackvoll erscheint
das Herz als Hund, der auf die Spur des Wildes führt. Auch Beständigkeit,
Treue, Lust sind als Jagdhunde personifiziert.


  Noch Kaiser Maximilian I. ließ im „Teuerdank“ unter allegorischer
Vermummung seine Brautfahrt zu Maria von Burgund
(Ehrenreich) erzählen. Als Feinde stellen sich dem Helden Fürwittig,
Unfalo, Neidelhart entgegen.


  Mit dem allegorischen Epos ist die epische Form vollends aufgelöst:
Thatsachen und Gestalten, alle Elemente der Erzählung dienen
nur noch als Vermummung von Jdeen.

§ 56.
Das Tierepos.


  Die gesamte Entwicklung, deren Zeuge wir geworden, spiegelt
sich in dem engeren Rahmen des Tierepos. Darf man doch ursprünglich
von einer Art Tiersage sprechen, deren Wurzeln bis in die Zeit
der Hirtenvölker zurückreichen mögen. Jedenfalls beruhen die ersten
Erzählungen aus dem Tierreich auf naiver Anteilnahme an dem Leben
und den Charakteren der in Feld und Wald beobachteten Geschöpfe.
Das ist aus den mittelalterlich lateinischen wie aus den französischen
Bearbeitungen zunächst ersichtlich. Ein deutsches Epos über die um
den Kampf zwischen Fuchs und Wolf konzentrierte Tiersage besitzen
wir bruchstückweise unter dem Titel „Isengrîmes nôt“ von
Heinrich dem Glîchezære (Gleißner, Pseudonymus). Um 1180
entstanden, berührt es sich ziemlich eng mit dem nationalen Stil, wie
er noch im Nibelungenlied und den besseren Erzeugnissen der Spielmannsdichtung
des 12. Jahrhunderts erscheint. Vor allem aber läßt
uns die Geschichte einer germanischen Fuchsdichtung, deren Kernpartie
um die Mitte des 13. Jahrhunderts in Holland gedichtet ist, den
Zug der epischen Entwicklung klar verfolgen.


  Willems ursprüngliches Gedicht „Van den Vos Reinaerde
hält sich prinzipiell im erzählenden Stil, ohne andere Beimischungen
als kürzere Sentenzen, wie sie auch im Heldenepos begegnen. Jede [103]
lehrhafte Zuspitzung der Handlung, ja jeder aufdringliche Hinweis auf
entsprechende menschliche Verhältnisse fehlt.


  Dieses naive Kunstwerk voll reiner Gestaltungsfreude findet im
14. Jahrhundert eine Ueberarbeitung und Erweiterung: „Reinaerts
Historie
“. Die Zuthaten sind schon inhaltlich dürftig, rein äußerlich
zusammengeraffte weitere Abenteuer und heterogene orientalische
Wundergeschichten. Die Sentenzensucht ist stark angewachsen,
gelehrte Elemente bekunden sich in Citaten und Anspielungen
aller Art. Mehr noch fällt die grundsätzliche Umbiegung des absichtslosen
Stils in eine bewußte Satire auf menschliche Verhältnisse
ins Gewicht.


  Gegen Ende des 15. Jahrhunderts zieht Hinrek van Alckmer
die weiteren Konsequenzen des einmal eingeschlagenen Verfahrens,
indem er seiner neuen Ueberarbeitung hinter jedem einzelnen Kapitel
ausdrücklich eine didaktische Auslegung als Prosaglosse einverleibt.
Eine niederdeutsche Uebertragung des derart zustande gekommenen
Werkes bietet unser „Reinke de vos“.


  So spiegelt diese Erzählung die verschiedensten Entwicklungsstadien
des epischen Stils. Zunächst macht sich die Anschaulichkeit der Darstellung
angenehm bemerkbar. Wald und Feld waren nicht nur grün:
sie standen grün; sie standen nicht nur grün: man sah sie grün
stehen (datmen de wolde unde velde sach grone staen). Noch
ganz wie im Nibelungenlied wird anstelle moderner Präposition ein
besonderer Satz mit besonderer Handlung gebaut: nach dieser Klage
== do desse klaghe was ghehort, ging zu Jsegrim == gynck,
dar he Ysegryme vornam
. Ebenso wenig fehlt es an den formelhaften
Elementen echt epischer Rede. Besonders der Titelheld Reinke
ist reichlich, freilich wenig schmeichelhaft bedacht: nicht nur de rode
heißt er, auch de valsche, de loze wycht, de loze deef u. s. f.
Paarweise zusammengeordnete Begriffe greifen mit Vorliebe spezialisierend
anstelle allgemeiner Begriffe ein: arm unde ryke, gy kleynen
unde gy groten, wer meer edder mynder, ysset by
nachte efte ysset by daghe
. Die altepische Sucht nach Zerlegung
der Handlung in all ihre Teile äußert sich namentlich darin, daß sie
erst als geschehend, dann ausdrücklich noch als vollendet erwähnt wird:
Reynke alsus was ghevangen; ... do Reynke alsus was [104]
ghevangen ... Wie in der Epopöe wird in aller breiten Kleinmalerei
von der ursprünglichen Wortkargheit noch immer Gebrauch
gemacht, insofern jede neue Wendung desselben Gedankens auf die
alten Ausdrücke zurückgreift: wente de schat was ghestolen; ...
hadde de schat nicht ghestolen worden; ... dat de schat
sus ghestolen wart
. Auch Parallelismus zur näheren Bestimmung
oder Erweiterung des Begriffes zeigt sich in großer Ausdehnung:


Eft Reynke er gaff eyn deel syner truwen,

Vrouwen Ghyremod, der schonen vrouwen;

ferner:


Dat ik en under de oghen mach seen,

Den konninck, unde so myt em spreken;

ähnlich:


Dat schal em syn eyn ewych vorderff,

Em unde ok al syneme slechte.

Schließlich finden sich in Uebereinstimmung mit dem ursprünglichen
Stil nur wenige und einfache Bilder.


  Jüngere Stilelemente, wie sie zuerst in Spielmannskreisen virtuose
Ausbildung fanden, dokumentieren sich in Zwischenbemerkungen
aller Art: Wahrheitsbeteurungen, lebhaften Ausrufen, Schwüren,
Flüchen, Anreden an das Publikum u. a.


  Das Stilmittel der Parenthese, das sich unter französischem
Einfluß bei uns verstärkte, hat hier große Ausdehnung gewonnen.
An höfischen Wendungen fehlt es schon im ersten Buche nicht.


  Den Uebergang zu einer andern Stilart bezeichnet sofort am
Beginn der jüngeren Partie eine Folge rein lyrischer Verse. Sind
im übrigen altepische Stilelemente noch in Ausläufern vertreten, so
überwuchern doch nun didaktische Elemente und in zunehmendem
Maße treten rekapitulierende Rückblicke anstelle unmittelbarer Geschehnisse.
Gegen Schluß wird die verallgemeinernde Typisierung
und moralische Absicht direkt aufgetragen:


Dar synt vele Reynken nu in der warde
(Wol hebben se nicht al rode barde),
Isset in des pawes, efte keysers hoff.
Se makent eyn deel nu yo to groff &c.

[105]

  Den vollen Uebergang der Tiererzählung in moralisierende Dienste
bezeichnet die endliche Gestalt der Fabel.

§. 57.
Das christliche Epos.


  Jn der vorschreitenden Vergeistigung des Epos nimmt die aus
christlich religiöser Versenkung erwachsene Erzählung eine besondere
Stelle ein. Die Heiligung des Geistes, die Ertötung der Sinne
mußte der schwärmerisch sehnenden Lyrik einen gewaltigen Aufschwung
verleihen: in der Epik mußte sie an der Auflösung der konkreten
Form wirklicher Thatsachen grundsätzlich teilnehmen, um volle seelische
Durchdringung, wennschon nicht reine Geistigkeit, zu erreichen und das
Uebersinnliche auszumalen.


  Der Gegensatz der romanisch=katholischen und der germanischprotestantischen
Weltanschauung kommt auch auf diesem poetischen Gebiete
zum Durchbruch.


  Mit großartiger Einbildungskraft beschwört Dante Himmel und
Hölle, um den Zustand der Seelen nach dem Tode zu ergründen.
Nicht der Erde, sondern dem Jenseits gehören die Gestalten seiner
Göttlichen Komödie; mit schreckensvoller spätmittelalterlicher Phantasie
sind die Qualen der Sünder, ist die Seligkeit der weltüberwindenden
Liebe und Erlösung visionär geschaut.


  Ein Vierteljahrtausend trennt Tasso von ihm. „Das befreite
Jerusalem“ wählt im wesentlichen eine irdische Handlung, ja man
meint stellenweise das Muster Homers zu erkennen; aber nicht die
geschichtlichen Thatsachen, die er sich anschickt zu erzählen, ziehen den
Dichter an: er schaut die Dinge nicht in ihrem Kern, er umspinnt
sie mit seinen Träumen, taucht sie in eine Wunderwelt. Tasso entrückt
die christlichen Ritter aus der Welt des bloßen Abenteuers in
den Dienst einer höheren, religiös geweihten sittlichen Aufgabe. Aber
Himmel und Hölle, christliche Heldenthaten und verklärte Liebesabenteuer
sind weniger aus religiösem als künstlerischem Jnteresse gezeichnet.
Tasso will kein Weltbild geben, auch kein Bild des Uebersinnlichen,
nur ein Phantasiebild.


  Noch weiter greift die Naturentfremdung in der protestantischen
Dichtung Miltons. Der individuelle Geist ist ganz auf [106]
sich allein gestellt, die souveräne Freiheit des Christenmenschen
macht sich zum Herrn der objektiven Welt, die ihm nur eine Erscheinungsform
der inneren Welt ist. Nicht mehr Gestaltenfreude, und
sei es die Freude an den Gestaltungen der Phantasie, sondern sinnende
Versenkung in die moralische und metaphysische Welt führt den
Griffel. Philosophische Reflexion über den Ursprung des Uebels, wie
sie die ganze konsequent=protestantische Christenheit während des 17.
und 18. Jahrhunderts in Erregung hielt, wird hier in die Erzählung
vom Verlorenen und vom Wiedergewonnenen Paradies als Kern der
Handlung versenkt. So wird die Darstellung bei allen Versuchen,
das Uebersinnliche in seinen großen Zügen wie im kleinen Detail
vernunftgemäß auszumalen, vorherrschend zum rhetorischen Ausdruck
fortreißender Begeisterung für den erhabenen Gegenstand.


  Einen ferneren Schritt zur Auflösung epischer Gestaltenwelt geht
Klopstock. Wenn sein „Messias“ in mächtigen Tönen die klassische
Periode unserer Litteratur einläutet, so bekundet sich noch einmal die
ganze Bedeutung epischer Poesie: der Grundzug ihres Wesens, der in
allen Variationen ihrer Form erhalten bleibt, tritt noch einmal in
majestätischem Strom vor unser Auge. Bewunderung für Gestalten
einer höheren Welt,
einer über unseren Durchschnitt
hinausragenden Sphäre, und Erhebung zu der heroischen
Größe dieser Gestalten
hat all der platt naturalistischen Alltäglichkeit,
jenem kriechend niedrigen Stil der Gottsched-Zeit ein Ende
bereitet. Plastik, gar Jndividualität ist freilich einer Messiasdichtung
nicht voll erreichbar. Aussprache von Empfindungen steht im Vordergrund.
Die ruhige Erzählung ist immer wieder durchbrochen, indem
den Wirkungen auf die Bewohner von Himmel und Hölle, auf die
gegenwärtige, vergangene und zukünftige Menschheit nachgegangen wird.
Lyrische Darstellungsmittel haben sonach die epische Form weithin
überwuchert.

§ 58.
Ausläufer des Epos.


  Noch war dem Epos in der Neuzeit eine Nachblüte beschieden.
Wir verweisen nur für Deutschland auf Wieland und Goethe, für
England auf Byron.

[107]

  Sehen wir indes selbst von dem idyllischen Grundzug der
Goetheschen Dichtung „Hermann und Dorothea“ ab, so bedingt
der bewußte Anschluß an den Stil Homers die Feststellung, daß es
sich hier nicht mehr um ein neues Stadium in der organischen Entwicklung
des epischen Stils handelt; vielmehr ermöglicht in der Neuzeit
das Eingreifen litteraturgeschichtlicher Studien den bewußten Anschluß
an jede beliebige Stilart fremder Zeiten und Zonen. Wenn
von allen solchen Versuchen dieser den harmonischsten Eindruck erweckt,
so liegt die Erklärung außer in der Kunst Goethes vor allem darin,
daß Homer, wie wir sahen, eine gewisse Harmonie des epischen
Stils, einen gewissen Ausgleich liedartiger und schriftgemäßer Elemente
darstellt.


  Wielands epische Gedichte andererseits nehmen den Stil der
romanischen Ritterdichtung auf, um auch ihn in seiner Art zu meisterhafter
Harmonie zu führen.


  Jn Byrons Poesie sehen wir vollends die Erzählung nur zum
Faden eingeschrumpft, dem die leidenschaftlich lyrischen Gefühle aufgereiht
sind.


  Auch in der Gegenwart herrscht der subjektive Stil durchaus
vor; ist es doch zu direkt lyrischen Einlagen gekommen. Daß er auf
kleine Gegenstände gewandt ist, daß er Naturburschen, Spielleute
u. dgl. zu Helden wählt, bezeichnet vollends das Herabsinken des
Epos von jener Höhe, die seine Herkunft aus dem Heroenzeitalter
bekundete.

§ 59.
Roman und Novelle.


  Jn die Verfallzeit des Versepos fällt die Ausbildung der Prosaerzählung.
Bei den meisten alten wie neueren Völkern läßt sich übereinstimmend
das Zusammentreffen gewisser Umstände beobachten, sobald
die Erzählung prosaisches Gewand zuzulassen beginnt: Die Poesie ist
verflacht, die Versform in Auflösung, andererseits die Prosasprache in
gelenkiger Ausbildung begriffen. Aber auch die Träger der Poesie
wie der Bildung überhaupt haben gewechselt: anstelle des fahrenden
Ritters ist das Bürgertum der festen Städte wirtschaftlich zur Herrschaft [108]
gelangt und infolge dessen zur Pflege der Künste reif geworden;
ein demokratisch=antiheroischer Zug drängt nun die versifizierte Ritterdichtung
in den Hintergrund, um der Erzählung neue Stoffe aus den
neuen Jnteressenkreisen zuzuführen.


  Jn prinzipienloser Darstellung hat man sich zwar gewöhnt, auch
von dem Uralter der Prosaerzählung zu sprechen und wenigstens für
die kleinen Arten derselben, für Märchen und Fabel, auf Jndien als
Ursprung zu verweisen. Gewiß sind die Quellen für zahllose, im
Griechischen wie in den modernen Sprachen bearbeitete Geschichten
dieser Art auf indischem, jedenfalls auf orientalischem Boden zu suchen:
in welchem Entwicklungsstadium der indischen Litteratur sie jedoch anheben,
ist damit auf keine Weise festgestellt und läßt sich auch von
der Geschichte des indischen Geisteslebens, die noch immer genötigt
ist, mit Perioden von einem Jahrtausend zu schalten, vorerst schwer
fixieren. Unterliegt danach der Zeitpunkt für Entstehung dieser kleinen
Prosaerzählungen schwankender Schätzung, so werden wir doch
der mündlich fortgepflanzten kurzen Geschichte naiven Charakters eine
Existenz vor der litterarisch aufgezeichneten, umfassenderen Erzählung
zugestehen müssen. Die prosaische Buchdichtung läßt sich dagegen in
ihrem jüngeren Ursprung bei zahlreichen Völkern gleichmäßig erkennen.


  Die griechische Dichtung scheint bereits in ihrem mittleren Alter
eine Fülle knapper Geschichten hervorgebracht zu haben, von denen
man Spuren namentlich bei Herodot wiedererkennen will. Die ausgeführte
Prosadichtung, auf die man neuerdings den modernen Namen
Roman übertragen hat, erwuchs, während der Verfall in vollem Zuge
war. Jhre Ausbildung scheint nicht allzu weit hinter Christi Geburt
zurückzureichen, und nur aus den ersten Jahrhunderten nach dieser
Wende der Weltgeschichte sind uns Reste solcher Art erhalten. Wie
die Entwicklung des Versepos auf bunte Färbung und künstliche Lebhaftigkeit
hingedrängt, so bricht in der Prosaerzählung der abenteuerliche
Zug zum Fremden, Fernliegenden vollends durch. Entsprechend
der inzwischen zur Herrschaft gelangten Sentimentalität bilden
Liebesgeschichten den wesentlichsten Kern der Erzählung.
Aus derselben Gemütsverfassung erklärt sich die Hirtengeschichte,
in der weniger Naturdarstellung als Natursehnsucht hervortritt, auch
sonst die Gefühlsreflexion überwuchert. Durch seine historische Stellung [109]
in der Entwicklung der epischen Form erscheint die Prosaerzählung
zu psychologischem Eindringen, zur Seelenanalyse prädestiniert.


  Die mittelalterliche Litteratur der modernen Völker läßt den
Uebergang vom Versepos zur Prosaerzählung noch genauer erkennen.
Die alten Ritterepen, deren abenteuerlicher Charakter immer mehr in
phantastische Episoden zerflatterte, wurden aus den erbärmlichen, nur
noch lose und wirr bindenden Versen, zu denen sie inzwischen verliedert
waren, vollends in Prosa aufgelöst. Prosaische Rittergeschichten
bezeichnen andererseits den Anfang des modernen Romans, so genannt,
weil er in der Litteratur der romanischen Völker entsprungen,
auch deren Volksgeist vor allem zum Ausdruck bringt. Spanien muß
als Urquell dieser Ritter- und Abenteurerromane gelten. Aus dem
Wege über Frankreich empfing auch unsere deutsche Dichtung die neue
zunächst romanische, bald internationale Gattung.


  Jn Spanien zuerst auch trat zu dem Ritterroman, halb als
Gegen=, halb als Seitenstück, der Schelmenroman: dieser rückt
zwar nicht mehr ideale, zu verherrlichende Helden, sondern die unerschöpflichen
Listen und Abenteuer des durchtriebenen Galgenstricks in
den Mittelpunkt und bietet damit eine Art Parodie des episch=heroischen
Stils, gefällt sich doch aber prinzipiell in derselben Fülle von
lose aneinandergereihten Abenteuern bezw. Episoden, welcher die Rittergeschichte
anheimgefallen war. Bedeutsam erscheint vor allem der so
vollzogene Anschluß an das Alltagsleben mit seinen kleinen Verwicklungen,
aber auch seiner Fülle virtuos gezeichneter Wirklichkeitsmenschen.
Schließlich giebt auf spanischem Boden Cervantes in seinem
„Don Quixote“ eine direkte Travestie des Ritterromans, die
Geschichte eines Ritters, der infolge Versenkung in die phantastische
Welt jener Geschichten den Sinn für die wirkliche Welt verliert. Für
den Roman ist mit dieser Wendung der Entwicklungsgang bereits
prinzipiell bezeichnet, oder doch wenigstens auf das Ziel hingewiesen:
von der Phantastik des Ritterromans durch abenteuerlich=phantastische
Auffassung des bürgerlichen Lebens
hindurch zu vollem Anschluß an die Wirklichkeit.


  Auf deutschem Boden bekundet sich der übermächtige Einfluß der
romanischen Erzählungsform zunächst durch Uebersetzungen, alsdann
durch Ueberarbeitungen, schließlich durch Nachahmungen solcher abenteuerlichen [110]
Helden- und Liebesgeschichten. Aber die fremde Form
wird doch schließlich auch von heimischem Leben durchdrungen: wir
dürfen uns besonders an Grimmelshausens „Simplicissimus“ erinnern,
welcher eine Art Harmonie zwischen Abenteuerlichkeit und Wirklichkeit
erreicht, indem er eine an bunten Abenteuern reiche Periode des
nationalen Lebens, den dreißigjährigen Krieg, darstellt. Mehr äußerlich
auf einen Stoff der deutschen Vergangenheit wandte den Stil der
Staats=, Liebes- und Heldengeschichte Lohensteins „Arminius“.
Deutschland zeitigt auch eine Travestie des Abenteuer=, Schelmen=
und Reiseromans in Christian Reuters „Schelmuffsky“.


  Jndessen blieb die deutsche Dichtung nicht ausschließlich auf diese
fremden Pfropfreiser angewiesen, setzte vielmehr eigene, organische
Triebe der Prosaerzählung an. Noch einmal durfte ─ ein herrliches
Zeugnis für den selbstwachsenden und jugendfrischen Geist unseres
Volkes ─ die deutsche Dichtung aus dem Urquell echt epischer Kunst
schöpfen: eine neue Sagenbildung setzt ein, und eine neue Volksdichtung
entsteht. Wie der Roman das Kennzeichen seines fremden
Ursprungs schon im Namen trägt, so bezeichnen die Volksbücher
ihre Herkunft aus der Mitte unseres eigenes Volkes, desjenigen Volkes,
dessen Name (deutsch aus diutisk) selbst schon nichts anderes
bedeutet als die Zusammenfassung des zum Volke Gehörigen. Von
Till Eulenspiegel, von Faust, auf allgemeinerem Boden vom Ewigen
Juden, von den Schildbürgern liefen thatsächlich zahlreiche einzelne
Sagen um, die nach einer gewissen Zeit unter Ausführung, Ergänzung
und Aufschwemmung durch schriftliche bezw. gedruckte Hilfsquellen
zur litterarisch zusammenfassenden und einheitlich komponierenden
Behandlung gelangten. Das Episodenhafte lose aneinandergereihter
Einzelabenteuer tritt auch hier hervor. Der Stil bleibt aber
schlicht und strebt nach Wirklichkeitsechtheit.


  Dieser gesunde Wirklichkeitssinn, diese schlichte, behagliche Versenkung
in das bürgerliche Leben offenbart sich auch hier als Eigenart
der germanischen Völker ─ man gedenke auch der niederländischen
Genremalerei ─, während der romanische Geist zunächst auf das
Lebhafte, Phantastische, Fernliegende, Glänzende, Konventionell-Ritterliche
geht. Das Eingreifen des germanischen Geistes in die Entwicklung
des Romans bekundet sich demgemäß in Schöpfung des reali= [111]
stischen Romans. Seit Anfang des 18. Jahrhunderts bildet die
englische Litteratur eine Prosadichtung des Bürgertums aus, die
von der zusammenhangslosen Zeichnung einzelner bürgerlicher Charaktere,
wie sie die moralischen Wochenschriften boten, zu eigenartigen
Kunstschöpfungen in der zusammenfassenden Form des Romans vorschritt.
Neben die Addison und Steele treten die Defoe und Swift,
endlich die Richardson, Fielding, Lorenz Sterne und Oliver Goldsmith.


  Alle Elemente des englischen Geistes prägen sich hier aus: sein
Natürlichkeitssinn blickt den Dingen nüchtern ins Auge; praktische
Auffassung des Lebens hält von träumerischer Phantasterei fern; und
dabei dringt eine empfindungsvolle Reflexion durch die äußere Schale
tief in den seelischen Kern der Menschen und Handlungen. Die bürgerliche
Tüchtigkeit wie die peinliche Moral des dritten Standes
stellen sich nun dar. Der germanische Familiensinn lädt die Muse
des Romans, die so lange in ferne Gegenden auf Abenteuer zog, zur
Einkehr in den stillen, friedlichen, behaglichen Bezirk des eigenen
Heims. Mit echt epischer Kleinmalerei und mit einem Humor, wie
er sich bei deren küustlerischer Handhabung unwillkürlich einstellt,
dringt der englische Roman des 18. Jahrhunderts zunehmend tiefer
in das wirkliche Leben und in die Seelen germanischer Menschen ein.


  Auch den französischen Roman führt der Genfer Rousseau ins
unmittelbare Leben der Wirklichkeit, wennschon seine großartige Natur=
und Liebesschwärmerei in echt romanischer Weise bewirkt, daß lyrische
Accente das erzählende Grundmotiv übertönen.


  Noch in Anlehnung an den romanischen Stil, sucht vor Goethe
Wieland dem deutschen Roman mit feinster Lebenskenntnis psychologische
Tiefe zu verleihen. Aber schon seine griechischen und orientalischen
Stoffe bilden nur ein Kostüm für Einkleidung des Seelenlebens
aus des Dichters eigenem Lebenskreis.


  Goethe stellt alsdann den deutschen Roman endgiltig auf den
Boden des deutschen Lebens und Empfindens. Von Sterne und
Goldsmith, Rousseau und Wieland hat er gelernt, aber seine Romane
sind völlig organische Gewächse seiner eigenen und im weiteren Sinne
der damaligen deutschen Empfindungswelt. Mit diesem Hinweis ist
ihre Größe wie ihre Grenze charakterisiert: äußere Geschehnisse treten
durchweg zurück, bilden nur nebensächliche Begleiterscheinungen oder [112]
Aeußerungsformen der Seelenkämpfe und geistigen Entwicklung. Diese
aber prägen sich mit so unmittelbarer Wahrheit aus, daß ihr Herauswachsen
aus dem Leben augenscheinlich wird und ihnen sogar eine
Rückwirkung auf das Leben der Zeit zuzuschreiben ist.


  Von dem ursprünglichen Begriff des Romanhaften,
von seinem fremdartigen, unnatürlich phantastischen Charakter hat
sich damit der Roman grundsätzlich entfernt.
Die Entwicklung
des deutschen Romans im 19. Jahrhundert giebt dieser litterarischen
Gattung vollends einen realistischen Zug in Stoff und Stil.
Der moderne Roman ist überwiegend Zeitdichtung geworden, auf Erzählung
unmittelbar verflossener Ereignisse gerichtet. Seit Otto Ludwig,
Gottfried Keller und gar Theodor Fontane treten freilich die
äußeren Ereignisse hinter der Charakterzeichnung mehr und mehr zurück;
aber die Ausmalung geschieht in einem Stil der Thatsachen mit
aller behaglichen Breite und plastischen Anschaulichkeit. Jst somit auch
der erzählende Kern in den Hintergrund gedrängt, nimmt doch die
wirkliche Dichtung auf dem Gebiete des Romans an der Verflüchtigung
des Versepos durchaus nicht teil, findet vielmehr einen neuen
festen Gehalt in organischer Verbindung charakteristischer Episoden, in
bildkräftig anschaulicher Zeichnung von Jndividuen eines ganzen Lebenskreises.
Die Entwicklung des epischen Stils verschwimmt
hier nicht mehr in lyrische Reflexion: sie nähert sich dramatischer
Charakteristik.
Und dieser ursprünglich germanische
Zug griff auf die romanischen Litteraturen über. ─


  Wir sahen bereits anfangs dem umfassenden Buchwerk, wie es
uns im Roman entgegentritt, kleinere Erzählungen vorangehen,
die sich mündlich knapp wiedergeben lassen. Auch sie gelangten zu
künstlerischer Ausbildung. Zwar geht ein reicher Schatz von ihnen
bis in die alte Welt zurück und ward in meist lateinischen Aufzeichnungen
dem Mittelalter bereits überliefert. Aber man spricht von
einer eigenen Kunstform solcher kurzen Geschichten unter dem Namen
Novelle erst seit der Wende des 13. und 14. Jahrhunderts, nachdem
diese Bezeichnung in Jtalien für kleine neue Geschichten ─ wie
schon der Name sagt ─ aufgekommen war. Bald erstand dieser
Gattung in Boccaccio ihr Klassiker. Der geringe Umfang bedingt
im Gegensatz zum Roman, daß die Novelle auf ein ausgeführteres [113]
Weltbild verzichtet, um sich auf ein enger begrenztes Einzelbild, zunächst
sogar auf Erzählung einer einzelnen Begebenheit oder auf virtuose
Entfaltung einzelner Charaktere zu beschränken.


  Jn Deutschland knüpft diese Gattung zunächst teils an Boccaccio
an, teils geht sie auf die alten, unter dem Namen des Aesop laufenden
Quellen direkt zurück. Jm 16. Jahrhundert finden solche Geschichtchen,
die bei uns meist als Schwänke bezeichnet werden und
öfter als in Prosa versifizierte Behandlung finden, bereits einen goldenen
Boden.


  Die Ausbildung auch der Prosanovelle zu modern psychologischer
Feinheit knüpft sich für unsere Litteratur ebenfalls an Goethes
Namen, besonders im Hinblick auf die Einlagen zu Wilhelm Meisters
Wanderjahren. Neben ihm hat vor allem Heinrich von Kleist
diese Dichtungsart dem Leben der Wirklichkeit nahe gehalten, und
Dichter wie Gottfried Keller und Theodor Storm haben
weiterhin solche Bilder eines kleinen Lebenskreises mit eindringender
Seelenkenntnis ausgestaltet. Auch von dieser Erzählungsform wie von
dem ihr eng verschwisterten Roman darf man feststellen, daß sie ihre
Blüte noch nicht überschritten hat.


  Aeußerlich hat sich der Roman konzentriert, während die Novelle
ihr Feld erweitert hat. Wennschon überhaupt die Linie zwischen
diesen beiden Arten der Prosaerzählung fließend bleibt, geht die
Novelle noch immer wesentlich auf individuelle Bilder, in der neuern
Zeit auf individuelle Seelenbilder, aus, während der Roman, sowohl
der Zeitroman wie der historische, das ganze Leben einer Periode,
einen größeren bedeutsamen Lebenskreis oder doch die Entwicklung
bedeutsamerer Persönlichkeiten zu umspannen sucht.

§ 60.
Die kleineren epischen Arten.


  Die Zertrümmerung des großen epischen Stils begünstigte die
Ausbildung kleinerer Verserzählungen. Der alte Heldensang, der nie
ganz ausgestorben, obschon von den zusammenfassenden Schriftepen
arg eingeengt war, lebt in der Form des historischen Volksliedes
weiter fort. Kleinere poetische Erzählungen weltlichen und geistlichen
Jnhalts tauchen daneben als Schriftwerke in Deutschland während [114]
des 13. Jahrhunderts auf. Die Dichtungen der Rudolf von
Ems und Konrad von Würzburg, Meier Helmbrecht von Werner dem
Gärtner bewahren indes immer noch verhältnismäßig größere Ausdehnung
als die kleinen Abenteuer, welche die verwandte Produktion
des Auslands sammelt.


  Denn auch auf diesem Gebiete blieb die deutsche Dichtung nicht
unbeeinflußt von außen her. Kurze Schwänke aller Art meist aus
internationalen Stoffquellen gelangen in poetischer Form seit dem
Mittelalter zur Behandlung und während des 16. Jahrhunderts zu
einer vollen, anmutenden Blüte. Die beiden vornehmsten modernen
Arten kurzer Verserzählung verdanken wir auch in der Form ausländischem
Vorbild. Wiederum bekundet sich der Wetteifer germanischer
und romanischer Einwirkungen in der Parallelität der Ballade
und Romanze. Beide, in ihrer Heimat organische Bildungen des
epischen Geistes, gelangten erst in der klassischen Periode des 18. Jahrhunderts
bei uns zur Einführung.


  Die Ballade kam uns vom stammverwandten Volk aus England.
Zwar findet sich die entsprechende Benennung schon in den
romanischen Litteraturen für Tanzlied (ital. ballata von ballare
tanzen), in England dehnte sie sich allmählich auf epische Volkslieder
überhaupt aus, die ganz in dem uns bekannten germanischen Stil des
epischen Liedes, mit drastischer Knappheit und scenischer Anschaulichkeit,
nicht nur geschichtliche sondern auch frei erfundene Begebenheiten,
vorherrschend noch düsterer, tragischer Richtung, besangen. An diesen
Stil schließt sich vor allem G. A. Bürger mit Meisterschaft an.


  Die uns nicht minder vertraut gewordenen Kennzeichen des romanischen
Geistes prägt die Romanze aus, die ähnlich in Spanien zunächst
nichts anderes ist als der allgemeine, nächstliegende Name für
alle kleineren Verserzählungen in der Volkssprache. Als solche Romanzen
geben sich auch die historischen Volkslieder, die dort von dem
Cid und andern Nationalhelden gesungen wurden.


  Rein menschliche Konflikte und schlichte Naturgewalt überkam somit
unsere Ballade als Wesen, wohingegen die Romanze von Rittertum,
Glanz und dem ganzen Geist des romanisch=katholischen Mittelalters
erfüllt ist. Wie Goethe und Schiller beide Gattungen handhaben,
wurde vollends zum Leitstern für die weitere Entwicklung [115]
dieser Dichtungen: der naive, rein darstellende Stil Goethes blieb in
der Ballade ebenso maßgebend wie der sentimentalische, ethisch zugespitzte
Schillers für die Romanze.


  Kleine poetische Erzählungen finden wir in Deutschland wie
namentlich in Frankreich auch als Fabeln bezeichnet. Durchgedrungen
ist dieser Name vorherrschend für solche Erzählungen, die, gleichviel
ob in Vers oder Prosa, das Tierreich, nächstdem auch andere
Regionen unter menschlichem Bilde betrachten. Schließlich spitzte sich
diese ursprünglich durchaus naive Gattung völlig didaktisch zu und
betrachtet, mit durch Lessings Eingreifen, die fremde Welt ausschließlich
als moralische Folie für menschliches Thun und Treiben. ─ Als
weiteres Mittel zum Vergleich tritt die Parabel auf, deren Parallelen
nicht mehr in einer niedern, sondern innerhalb der menschlichen
oder einer höheren Sphäre liegen; unter zunehmender Abstraktion
wird auch das rein geistige Gebiet als Vergleichsobjekt mit menschlichen
Handlungen zugelassen.


  Verhältnismäßig jung in Deutschland und ebenfalls erst nach
fremdem Vorbild eingeführt ist von epischen Arten, die nicht an die
Ausdehnung der Epopöe heranreichen, schließlich das Jdyll. Jn der
griechischen Litteratur galt das εἰδύλλιον, wörtlich Bildchen, Kleinbild,
als Bezeichnung für Dichtungen, die bald nach Beginn des Alexandrinischen
Zeitalters kurze, oft mit Dialog durchflochtene Erzählungen
aus dem Kleinleben, besonders dem Landleben der Hirten, einführten.
Dem deutschen Jdyll verblieb, auch wo es nicht direkt einen Theokrit
in Stoff und Stil nachahmt, meist diese ländliche Welt. Das Behagen
am Kleinleben, insbesondere das des Städters am ländlichen
Leben, herrscht zunächst vor, bis ein Peter Hebel, alsdann vor allem
Klaus Groth das Volk selbst mündig machen und frei von Reflexion
wie von Sentimentalität naive Dorfgeschichten aus dem unmittelbaren
Empfinden ihres Stammes heraus schaffen. Wie sie verwenden schon
der Schöpfer der Gattung, Theokrit, und seine hervorragendsten griechischen
Nachfolger die Mundart mit ihrem unmittelbaren Naturhauch.


  Was Schiller in seiner Terminologie von naiver und sentimentalischer
Dichtung als Jdyll in Anspruch nimmt, giebt bewußt eine
allgemeinere Klassifikation, die sich mit der geschichtlichen Ausbildung
desselben nicht im engern Sinne deckt und dennoch prinzipiell sich in [116]
treffender Richtung bewegt: er verwendet Jdyll als Gesamtbezeichnung
für diejenige sentimentalische Dichtung, welche die Natur, zu der sie
hinstrebte, als erreicht vorstellt.

§ 61.
Wesen und Wandlungen der epischen Dichtung.


  Erst jetzt werden wir in der Lage sein, den Grundzug und die
Variationen der epischen Entwicklung zusammenfassend zu überschauen.


  Der nicht ursprüngliche, sondern erst von der griechischen Litteraturentwicklung
eingeführte Name Epos ─ Wort, Rede ─ bezeichnet
allgemein die zunächst allein ausgebildete dichterische Gattung.
Was wir als Grundzug solcher ältesten Poesie fast allerorten klar erkennen,
was jedenfalls das Wesen der in Griechenland als episch bezeichneten
wie der anderwärts entsprechenden Poesie ausmacht, ist
Erzählung. Nicht nur die nationale Geschichte, wie in der Blüte
der epischen Gattung, wird erzählt: gleich anfangs setzt der Mythos
die unmittelbare, dauernde Anschauung der Natur singularisierend in
entwickelnde Erzählung einmal geschehener Begebenheiten um, und noch
das allegorische Epos kleidet seine Jdeen in den Schein von Geschehnissen,
über die es zu berichten gelte.


  Die erzählten Begebenheiten bestehen zunächst in den Thaten
der Götter, die wie Stammesheroen angesehen werden, dann in den
Thaten der Helden; noch das Jdyll entfaltet das Thun und Treiben
seiner kleinen Welt, deren Gestalten ihm als Muster naturgemäßen,
glückseligen Lebens erscheinen; auch das reflektierende Epos, weiterhin
der Roman und selbst die Novelle bewahren noch mindestens als
Grundlage oder Kanevas die Handlungen besonderer, einer vorzüglichen
Teilnahme würdiger Personen.


  Die Zeit, in welche die epische Dichtung uns versetzt, ist die
Vergangenheit. Das bekundet sich nicht nur durch den geschichtlichen
Kern des Epos in seiner Blütezeit, wird wiederum gerade auch
an den beiden Extremen der epischen Entwicklung augenscheinlich: die
Thaten der Götter, die sich dem Dichter immer gegenwärtig offenbaren,
werden ausdrücklich in die Vergangenheit, wie bereits betont,
als einmal geschehen, zurückverlegt; entsprechend verfährt der Zeitroman, [117]
welcher aus der Gegenwart schöpft, aber das, was noch geschieht
oder geschehen kann, als bereits vollendet hinstellt.


  Die epische Dichtung giebt also zunächst Erzählung der
Thaten von Helden
(oder doch bedeutsamen Persönlichkeiten) der
Vergangenheit.


  Daß der Dichter selbst der Erzähler, tritt gerade historisch
überall hervor: der Priester überliefert den Mythos, der Sänger
die Sage in poetischer Form. Der Verfasser der schriftlichen
Epopöe sammelt, ordnet, verarbeitet, um wie ein eigenes Erlebnis,
wie selbstgeschaut, die Ueberlieferung wiederzugeben. „Er hat alles
geseh'n, was auf Erden geschieht.“ Ohne vorerst selbst hervorzutreten,
steht der Dichter hinter den Figuren; läßt er sie auch gern selbst
sprechen: er ist es, der ihnen das Wort erteilt und im weiteren
über sie berichtet.


  Aus welcher Veranlassung und zu welchem Zwecke erzählt der
Dichter? Bewunderung für die Wunder der Gottheit verleiht dem
Priester-Sänger Worte; er singt sie und läßt sie singen, um die Gemeinde
mit gleicher Bewunderung und Verehrung zu erfüllen. Bewunderung
für die Großthaten der Helden spricht sich aus, um das
Volk, den Stamm zu nacheifernder Bewunderung anzuspornen oder
doch ihm das Herz zu erheben. Jn gleicher Weise noch treibt den
Dichter der Epopöe, an seiner Bewunderung weitere Kreise teilnehmen
zu lassen, das ihm herrlich Erscheinende zu verherrlichen, seine
Lust an den Thaten des Helden, seine helle Thatenlust überhaupt
seinem Publikum mitzuteilen. Jm späteren reflektierenden Epos gar
spricht sich die Bewunderung des Dichters, noch später besonders im
Prosaroman abgeschwächt wenigstens die lebhafte, vorzügliche Teilnahme
und Verehrung für die Hauptgestalt direkt aus. Genug, der epische
Dichter giebt Erzählung der Thaten von Helden (oder doch bedeutsamen
Wesen) der Vergangenheit als Ausdruck seiner dichterischen Bewunderung
und mit der Wirkung, unser Empfindungsleben zu der
gleichen Bewunderung, überhaupt zu der Höhe und Größe des verherrlichten
Gegenstandes, zu erheben.


  Die allgemeine Aufgabe der Poesie: Ausdruck gehobener
Gefühle,
vollbringt die Epik durch Erzählung von Begebenheiten
aus einem höheren Gefühlsbereich.

[118]

  Jnnerhalb dieser Aufgabe variiert die epische Dichtung besonders
aus drei Gesichtspunkten: Nach der Vortragsart klaffen das Heldenlied
und die Heldenschrift auseinander. Nach dem Kulturstand und
der geistigen Entwicklungsstufe entfernt sich die Erzählung
schrittweise von nackter Thatsächlichkeit zu reichgeschmückter, zunehmend
subjektiv vergeistigter, abstrakterer Darstellung. Mit dem Wechsel der
geschichtlichen Anschauung, dem Heraustreten aus dem einseitigen
Heroenkult und der zunehmenden Teilnahme an bürgerlichen
Charakteren schwächt sich der heroische Zug der epischen Dichtung allmählich
ab, und die Bewunderung verflacht sich zu ungewöhnlichem
Wohlgefallen und gespanntem Jnteresse.


  Nach diesen Entwicklungselementen sind verschiedenartige Gipfel
oder Blüteperioden möglich und thatsächlich anzuerkennen: jedenfalls
die Blüte des Heldensangs und die Blüte der objektiven Nationalepopöe,
doch auch die Blüte durchgeistigter, gefühlvoller Heldendichtung
und schließlich sogar Ueberwindung der Reflexion durch einen
scharf charakterisierenden Stil der Thatsachen d. i. eine neue Blüte
durch plastische Objektivierung des in voller Mannigfaltigkeit erschlossenen
Gefühlslebens.


  Ebenso unverkennbar treten die Untiefen hervor, in denen die
epische Strömung zu versanden droht: litterarische, papierne Erstarrung,
Verflüchtigung ins Gestaltenlose, Verflachung ins Kleinliche.
Lebendig, gestaltenkräftig, großen Zuges giebt sich die echte epische
Dichtung.


[figure]
[E119]

B. Die lyrische Dichtung.

§ 62.
Voraussetzung der lyrischen Form.


  Die epische Objektivität sahen wir sich zunehmend in lyrische
Gefühle auflösen, indem der Dichter nicht sowohl die für ihn beglaubigten
Thatsachen aus der Vergangenheit als vielmehr seine
gegenwärtige Empfindung über dieselben kundgiebt. Die Empfindung,
die sich ursprünglich in die Thatsachen völlig ergossen hatte,
tritt ihnen nun mit erwachtem Bewußtsein ihrer selbst gegenüber, und
damit wird klar, daß beide Faktoren: die außerhalb des Dichters
ruhenden Gegenstände und das in ihm ruhende Gefühl, zu einander
in ein verschiedenes Verhältnis treten können.


  Der allmähliche Aufstieg der subjektiven Empfindung über die
objektive Darstellung von Thatsachen bezeichnet den Entstehungsprozeß
der lyrischen Form.

§ 63.
Die orientalische Lyrik.


  Von der ältesten Lyrik ein Bild zu entwerfen, wird uns nur
durch indirekte Zeugnisse ermöglicht. Denn auch für die Lyrik müssen
wir eine vorlitterarische Epoche annehmen, ein impulsives Aufleben
der unmittelbaren Gefühlsaussprache, durch Sang bekundet und
fortgepflanzt.


  Unsere Kenntnis der orientalischen Poesieen reicht nicht so
weit zurück, daß wir dort den Ursprung der Lyrik klar erkennen [120]
könnten. Jedenfalls ist ihr Jnhalt zunächst religiös, ihre Form
äußerst primitiv. Wohl mehr als zwei Jahrtausende vor Christi
Geburt fallen einige auf uns gekommene babylonische Bußpsalmen,
die sich in Anrufung der Gottheit nimmer genug thun können, dazwischen
aber Ansätze erzählenden Charakters bieten:


„Daß meines Herrn Zorn sich besänftige!

Daß der mir unbekannte Gott sich besänftige!

Die mir unbekannte Göttin sich besänftige!

Bekannter und unbekannter Gott sich besänftige!

Bekannte und unbekannte Göttin sich besänftige!“ etc.

Nachdem so der lyrische Accent immer weiter in geringen Variationen
litaneiartig wiederkehrt, heißt es:


„Reine Speise habe ich nicht gegessen,

Klares Wasser habe ich nicht getrunken,

Das Leid von meinem Gott, unvermerkt ward es meine Speise,

Das Ungemach von meiner Göttin, unvermerkt trat es mich nieder.“

Nach zahlreichen Sündenbeteuerungen spinnt sich der Stil in unendlichen
Wiederholungen zu neuen Aussagen fort:


„Die Sünde, die ich gethan, kenne ich nicht;

Die Missethat, die ich begangen, kenne ich nicht.

Das Leid, das meine Speise ward, ─ nicht weiß ich's, wie?

Das Ungemach, das mich niedertrat, ─ nicht weiß ich's, wie?

Der Herr hat im Zorn seines Herzens mich angeblickt,

Der Gott hat im Grimm seines Herzens mich heimgesucht“ etc. ─

  Der episch=lyrische Charakter der uns überlieferten religiösen
Vedenpoesie Jndiens trat uns bereits in den prinzipiellen Erörterungen
über die Priorität des epischen Entwicklungszuges entgegen.


  Aber auch die nicht im Sanskrit, sondern in der Volkssprache,
besonders dem Prakrit, gedichteten Lieder müssen wir ins Auge fassen,
wollen wir der Lyrik „in des Ursprungs Tiefe dringen“. Der epische
Kern ist gewöhnlich nur lose von lyrischem Gewande umkleidet. Da
geschieht es, daß der Verstorbene durch plastische Vergegenwärtigung
seiner Vorzüge von der Gattin beklagt wird:


  „Ach, noch immer vor den Augen

Schwebt mir seine Wohlgestalt,

Fühl' auf meine Lippen hauchen

Seiner Liebe Vollgehalt.
[121]
  Ach, noch immer hör' ich leise

Seiner Stimme Zauberklang

Und in altgewohnter Weise

Lausch' ich seinem stolzen Gang.
  Horch! schon eilt er mir entgegen!

Fort nun alle Trennungspein!

Schicksal, wolle doch erwägen,

Ach, es kann und kaun nicht sein!“

Die Erzählung seines Auftretens in der Vergangenheit ist in den
letzten beiden Zeilen lyrisch accentuiert durch eine aus dem gegenwärtigen
Zustand entspringende Jnterjektion. Doch schon der
erzählende Teil ist oft auf die Gegenwart gewandt und verliert dadurch
die Grundlage einmaligen Geschehens, um allgemeingiltig
zu werden. ─ Der Ausruf, der einer solchen Art von Bericht
lyrische Wendung giebt, geht ihm nicht selten auch voran:


„Glückselig, die auf Bergen wohnen,“ ─

und nun folgt der begründende oder doch ausführende Bericht, sei es
Erzählung oder Beschreibung:


„Wo noch in waldverwachs'nem Nest

Der ungestörten Lust sich fronen,

Hingebung sich noch üben läßt.
  Da sprießen dichtverschlung'ne Hecken

Und schmiegt sich blattreich Ast an Ast

Und wilde Rohrdickichte decken,

Vom Wind geschaukelt, süße Rast.“

Nicht mehr das Nacheinander des Epos liegt zugrunde, ein Nebeneinander
wird entfaltet, wennschon noch so plastisch und handlungsreich.
Auf eine Einzelscene geht das Gedicht aus: auch dadurch
ist wie dem äußeren Umfang so der Aufeinanderfolge verschiedener
Bilder eine Grenze gesetzt. Auf einen, nur dauernd gedachten
Moment spitzt sich das lyrische Lied schließlich zu.


  Jn der Spätzeit der indischen Lyrik überwuchert völlig die Neigung
zu breiter, üppiger Ausmalung von Einzelscenen und Einzelempfindungen.
Anstelle der alten, primitiven Umrißskizzierung zur
Anregung der Phantasie tritt denn auch eine überreiche Nährung und
Sättigung derselben mit buntester Farbenpracht. ─

[122]

  Jn der hebräischen Poesie bekunden die ersten lyrischen Ausbrüche
nicht minder klar den Zusammenhang mit dem epischen Stil
wie den Abstand von ihm. Unter den ersten größeren Durchbrechungen
des rein erzählenden Tones steht die Jakob in den Mund gelegte
Weissagung obenan. Wie setzt sie ein?


„Kommt zuhauf, und höret zu, ihr Kinder Jakobs, und
höret euren Vater Jsrael.“


Nach diesem Anruf wägt Jakob die Thaten seiner Söhne aus der
Vergangenheit aufzählend ab, um daraus ihren gegenwärtigen Wert
und ihr zukünftiges Los zu erschließen; die äußere Reihenfolge der
Gedankenglieder kehrt sich auch wohl um.


  „Die Brüder Simeon und Levi; ihre Schwerter sind mörderische
Waffen.


  Meine Seele komme nicht in ihren Rat, und meine Ehre
sei nicht in ihrer Kirche; denn in ihrem Zorn haben sie den
Mann erwürget, und in ihrem Mutwillen haben sie den
Ochsen verderbet.


  Verflucht sei ihr Zorn, daß er so heftig ist, und ihr Grimm,
daß er so störrig ist. Jch will sie zerteilen in Jakob, und
zerstreuen in Jsrael.“


Von neuem also Herleitung eines Ausrufs aus einer Thatsache, zugleich
Wendung aus der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft.


  Eine Blütezeit der Lyrik werden wir für die Epoche der Psalmendichtung
ansetzen dürfen, über einen wie weiten Zeitraum diese
sich auch erstreckt. Trotz der schon dadurch bedingten Stilverschiedenheit
tritt Erzählung und Anschaulichkeit noch wohlthuend, bald mehr,
bald minder, hervor. Fast episch klingt es, wenn der Psalmist nach
kurzem lyrischen Präludium einsetzt:


  „Es umfingen mich des Todes Bande, und die Bäche
Belials erschreckten mich.


  Der Höllen Bande umfingen mich, und des Todes Stricke
überwältigten mich.“

[123]

Und dann:


  „Die Erde bebete, und ward beweget, und die Grundfesten
der Berge regeten sich, und bebeten, da er zornig war.


  Dampf ging auf von seiner Nase, und verzehrend Feuer
von seinem Munde, daß es davon blitzte.“


Obgleich so Gottes Größe in ihren sichtbarlichen Offenbarungen gepriesen
ist, haben wir es doch nicht mehr mit einmaligen, äußeren
Geschehnissen zu thun, sondern mit dauernden, inneren Zuständen.


„Er macht meine Füße gleich den Hirschen ... Er lehret
meine Hand streiten“ u. s. f.


Folgerecht ist aus dem Präteritum in das Präsens übergelenkt, und
schließlich greift das Futurum ein:


„Jch will sie zerstoßen wie Staub vor dem Winde, ich will
sie wegräumen wie den Kot auf der Gasse.“


  Selbst noch das in die Reifezeit der hebräischen Poesie fallende
Hohelied bietet umfassende Kriterien zur Erkenntnis älterer Entwicklungsstufen
der Lyrik. Weithin ist das Lied von direkter Erzählung
bestimmter Begebenheiten durchsetzt:


  „Jch suchte, aber ich fand ihn nicht.


  Jch will aufstehen, und in der Stadt umgehen auf den
Gassen und Straßen, und suchen, den meine Seele liebet.
Jch suchte, aber ich fand ihn nicht.


  Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen:
Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebet? ...“


Durch das ganze Lied hin zieht sich Zwiegespräch in direkter
Rede:


  „Jch bin eine Blume zu Saron und eine Rose im Thal.


  Wie eine Rose unter den Dornen, so ist meine Freundin
unter den Töchtern.


  Wie ein Apfelbaum unter den wilden Bäumen, so ist mein
Freund unter den Söhnen.“


Plastisch tritt die Gestalt der Verherrlichten hervor:


  „Jch bin schwarz, aber gar lieblich, ihr Töchter Jerusalems,
wie die Hütten Kedars, wie die Teppiche Salomos ...

[124]

  Deine Backen stehen lieblich in den Spangen, und dein
Hals in den Ketten ...


  Deine Augen sind wie Taubenaugen zwischen deinen
Zöpfen ...“


Auch die Scenerie ist fort und fort ausgemalt:


  „Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist weg
und dahin.


  Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist
herbeigekommen, und die Turteltaube läßt sich hören in
unserm Lande ...“


  Der Umfang ist noch ausgedehnt genug, um zwar ein entschiedenes
Zurückbleiben hinter der Epopöe, aber keineswegs hinter dem
epischen Sang erkennen zu lassen.


  Suchen wir neben solchen Berührungen mit dem epischen Lied die
charakteristischen Merkmale eines neuen Stils, so bekundet sich die Abweichung
ersichtlich in erster Linie durch den Stoff: statt geschichtlicher
Ereignisse oder solcher, die geschichtlichen Schein annehmen,
bildet ein individuelles Erlebnis den Kern des Gedichtes. Was
den Stil betrifft, so sind die altüberlieferten epischen Darstellungsmittel
nicht mehr Selbstzweck zur Erzählung eines vergangenen, einmaligen
Ereignisses, sondern in den Dienst einer gegenwärtigen und andauernden
Empfindung
getreten: statt der Thatsachen herrscht die
Empfindung vor, statt vergangener Thatsachen gegenwärtige Empfindung,
statt einmaliger Thatsachen fortdauernde Empfindung. Gleich
in der Wunschform setzt das Hohelied ein:


„Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes.“


Jn Ausrufen bricht fortgesetzt die Empfindung durch das darstellende
Gerippe; ja die Darstellung selbst, sowohl die Erzählung als die Beschreibung,
ist mit Vorliebe in die äußere Form des Ausrufs einbezogen:



  „Wie schön und lieblich bist du“,


  „Wie schön ist dein Gang in den Schuhen, du Fürstentochter!“
u. dgl.

[125]

Wiederholung von Worten und ganzen Wendungen dehnt sich in
Uebereinstimmung mit dem ursprünglichen Stil des epischen Liedes
weit aus, arbeitet daneben aber schon eine eigenartige Form in Ansätzen
zum Refrän heraus. Entgegentrat uns in dieser Funktion
bereits die Klage:


„Jch suchte, aber ich fand ihn nicht.“


Entsprechend den wechselnden Stimmungen, die das ausgedehnte Hohelied
spiegelt, ist nicht sowohl ein Motiv dieser Art einheitlich durchgeführt,
als vielmehr eine Fülle von Motiven durchschlungen. An
einer andern Stelle begegnet demgemäß der Anruf:


„Stehe auf, meine Freundin, meine Schöne, und komme her!“


Und zwar hebt der Freund also an, begründet die Lockung alsbald
mit dem Erwachen des Lenzes, um daran unter einer gelinden formellen
Erweiterung nochmals den Anruf zu schließen:


„Stehe auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne,
komm her!“


Dieselbe Figur begegnet weiterhin: ein Motiv klingt an, wird ausgeführt
und klingt wieder. So:


  „Siehe, meine Freundin, du bist schön, siehe, schön bist du.“


Es folgt die Ausmalung dieser Schönheit, mit dem Abschluß:


„Du bist allerding schön, meine Freundin, und ist kein Flecken
an dir.“


Diese Empfindung tritt damit recht ersichtlich als Α und Ω der Partie
hervor.


  Noch liegt überall die kräftigste, sinnfälligste Gestaltung zugrunde;
die allegorische Ausdeutung greift erst in einem durchgeistigteren Zeitalter
platz.


  Die zunehmende Vergeistigung bekundet sich litterarisch in den
Büchern der Propheten. Ganz unverkennbar schlägt der überwiegend
lyrische Charakter durch. Trotzdem noch immer das Lied gern plastische
Einzelbilder sucht, hat doch die Abstraktion, die rein seelische
Versenkung, dem Gestaltenlosen nahegeführt:


  „Wir haben eine feste Stadt, Mauern und Wehre sind Heil.

[126]

  Thut die Thore auf, daß herein gehe das gerechte Volk,
das den Glauben bewahret.


  Du erhältst stets Frieden nach gewisser Zusage; denn man
verlässet sich auf dich.


  Darum verlasset euch auf den Herrn ewiglich; denn Gott,
der Herr, ist ein Fels ewiglich.


  Und er beuget die, so in der Höhe wohnen ...“ &c.


Zwischen solchen vorherrschenden Tönen fehlt es nicht an erzählenden
Einlagen, die aber auf zukünftige Geschehnisse zugespitzt sind.


  „Er war der allerverachtetste und unwerteste, voller Schmerzen
und Krankheit ...


  Fürwahr, er trug unsere Krankheit, und lud auf sich unsere
Schmerzen ...


Aus solchen konkreten Anfängen mündet das Lied in die Verheißung:


  „Darum daß seine Seele gearbeitet hat, wird er seine Lust
sehen, und die Fülle haben“ &c.


Die Zunahme moralisch=didaktischer Tendenzen wird bereits seit
Salomos Tagen ersichtlich. Nicht nur die ihm zugeschobenen Sprüche
und der sogenannte „Prediger Salomo“ legen davon direkt Zeugnis
ab, sondern auch in der Lyrik die Zornreden der Propheten und vor
allem das Buch Hiob. Wie aber die Fähigkeit für echte Lyrik noch
nicht geschwunden, beweisen die Klaglieder Jeremias. ─


  Aus der neueren orientalischen Poesie hat namentlich die persische
Lyrik, mehr noch als die vorangehende Epik, Epoche gemacht
und zeitlich wie räumlich weithin gewirkt. Hafis vor allem ist auch
uns Deutschen zum Mittler östlicher Empfindungswelt geworden.
Ueppig, doch immer ästhetisch schwärmender Genuß von Liebe und
Wein vereint sich mit Lebensklugheit.


„Wenn jene Schöne von Schiras mein Herz festhielt in ihrer Hand,

Fürs Wangenfleckchen gäb' ich gern Bukhara hin und Samarkand.

Komm, Schenke, tränke mich mit Wein, du findest nicht im Paradies

Den Wasserspiegel Ruknabads noch auch Mussellas Rosenstand.

Ein Jammer, daß dies Völkchen hier verliebt, gefährlich aller Welt,

Die Ruhe aus dem Herzen stiehlt, wie Türken Beute aus dem Land.

Des Liebchens Schönheit misset leicht der Liebe Unvollkommenheit,

Es braucht das liebliche Gesicht nicht Schminke, Farb' und solchen Tand.
[127]
Erzähl' von Sängern uns und Wein und laß das Weltgeheimnis ruhn!

Enthüllt hat es, enthüllen wird's doch keines weisen Manns Verstand.“

Zu solchen gnomischen Zügen treten direkt symbolische, wie denn die
orientalische Lyrik sich am tiefsten in Didaktik und Gleichnisrede versenkt
hat. So entrollt der Dichter für seines Sohnes Tod eine Kette
von Parallelgliedern:


„Eine Ros' hat Nachtigall zum Ziele ihrer Glut gemacht,

Neides Sturm mit hundert Dornen hat ihr trüben Mut gemacht.

Frohen Herzens hofft' ein Papagei an Zucker sich zu laben,

Eitel hat die Hoffnung plötzlich Unglücksstromes Wut gemacht“ etc.

Wir kennen aus Nachbildungen Goethes, Rückerts und anderer Dichter
des 19. Jahrhunderts diesen gnomischen und symbolischen Charakter
der neuorientalischen Lyrik zur Genüge.

§ 64.
Die griechische Lyrik.


  So viele Kriterien zur Erkenntnis der Lyrik die orientalische
Poesie im einzelnen darbietet, ihre Entwicklung ist von unserm Blick
zu wenig durchdrungen, das uns vorliegende poetische Material zu
wenig geordnet und historisch nicht sicher genug klassifiziert, um den
Keim der lyrischen Dichtung in seiner Aus- und Fortbildung mit
prinzipieller Sicherheit überschauen zu lassen. Von der so organischen
und uns so vertrauten griechischen Poesie möchten wir eher Aufschluß
auch über die Entwicklungsgesetze der Lyrik erhoffen.


  Nun ist freilich diese Gattung der griechischen Dichtung durchaus
nicht in gleichem Maße wie das Epos oder auch nur wie die Tragödie
mustergültig für die moderne Welt geworden. Ferner sind nur
spärliche Reste erhalten. Wenigstens läßt sich der Charakter auch
mancher verlorengegangenen bedeutsamen Repräsentanten der Lyrik
erschließen.


  Zunächst dürfen wir hier schon mit einiger Sicherheit einen
vorlitterarischen lyrischen Sang ansetzen. Nicht nur im religiösen
Lied drängte allgemach eine unmittelbare Aussprache der Gefühle
die thatsächliche Verherrlichung der göttlichen Großthaten in den Hintergrund.
Zu den kurzen Sprüchen, die noch immer religiös geweiht [128]
waren: Orakelsprüchen, Zauberliedern, Brautgesängen, Totenklagen,
gesellten sich erst später weltliche, private, individuelle Lieder, die
immer noch unter Begleitung von Jnstrumentalmusik gesungen wurden.
Der ursprünglich erzählende Kern war am Anfang und Schluß
auf das Gefühl zugespitzt, wofür sich eine Reihe von festen Formeln
ausgebildet hatten. So begegnen wir oft einer Eingangspartikel
zur Herausforderung der Aufmerksamkeit. Der Schluß einzelner
Abschnitte bestand zum teil in Anrufungen der Götter oder in andern
Jnterjektionen, zum teil ließ er alsdann bereits ein Leitmotiv
refränartig wiederklingen. Genug, ein erzählender Kern ist auf
eine Grundempfindung gestimmt. Auch die Hochzeitslust und Totenklage,
überhaupt Empfindungen, die bei feierlichen Aufzügen zunächst
im Chor vorgetragen wurden, haben so ihre Aussprache gefunden.


  Sicheren geschichtlichen Boden betreten wir indes erst mit Ausbildung
der Elegie, welcher bald die jambische Poesie und schließlich
das Melos folgten. Da bleibt es unter allen Umständen ein
bedeutsames Zeugnis, wenn ein Aristoteles die beiden erstgenannten
lyrischen Arten noch an die epische Poesie heranrückt (Poetik, Kapitel 1):
das Herausringen der lyrischen Empfindung aus der epischen Form
wird um so augenscheinlicher.


  Von der Form müssen wir denn auch ausgehen, wenn wir die
Ausbildung dieser neuen Dichtweise verfolgen wollen. Die Elegie
verwendet von Anfang an das Versmaß, welches noch heute mit
ihrem Namen verbunden ist. Zu dem epischen Hexameter gesellt sich
ein Pentameter, und die derart wechselnde Empfindungsskala des Distichon
giebt immer wieder dem mit epischer Ruhe einsetzenden Gedicht
eine springende Bewegung.


  Unter den Joniern, welche diese Form ausbildeten, gilt Kallinos
als der erste Dichter der Gattung (um 700 v. Chr.). Den Zusammenhang
mit der epischen Dichtung wahrt sie auch noch durch den
Stoff, der auf die kriegerischen nationalen Ereignisse hingewandt ist.
Die einzige einigermaßen vollständige Elegie, die uns von ihm überkommen
ist, gewährt uns jedenfalls Einblick in das Wesen der sich
nun anspinnenden Entwicklung. Gleich anfangs bemerken wir, daß
es sich nicht mehr um Feier vergangener Thaten handelt, daß die [129]
immer mitbezweckte Aufmunterung zu künftig gleichen Großthaten
in den Vordergrund getreten ist.


„Bis wann zaudert ihr noch? Wann faßt ihr entschlossen ein Herz euch,

Jünglinge? Schämt ihr euch nicht vor den Bewohnern des Gau's,

Daß ihr, die Händ' im Schoß, als säßet ihr mitten im Frieden,

Träg hindämmert, und rings wütet im Lande der Krieg?

Auf! in den Kampf und werft vor die Brust die gebuckelte Tartsche!

Noch mit sterbender Hand schleudert das letzte Geschoß!

Denn das ehrt und verherrlicht den Mann, für den Boden der Heimat

Fechtend, für Weib und Kind mutig den Feind zu bestehn.“

Es folgen dann wohl Erfahrungen aus der Vergangenheit, aber nicht
als greifbare Einzelfälle, sondern in Zusammenfassung zu allgemeinen
Wahrheiten:


„Denn dem Todesgeschick zu entgehn ward keinem beschieden ...

Mancher freilich entflieht der Gefahr ...

Aber um ihn nicht trauert die Stadt ...“

Archilochos, der bedeutendste Nachfolger des Kallinos, führt individuellere
Töne ein. Seine Elegien sind zum guten teil Selbstgeständnisse:



„Dienstbar bin ich dem Herrscher, dem Enyalischen Kriegsgott,

Aber des Musengeschenks walt' ich, des holden, zugleich.“

Oft behandelt er bestimmte, deutlich erkennbare Geschehnisse. Noch
schroffer als in der Elegie bringt er in jambischen Gedichten seine
persönlichen Angelegenheiten zum Ausdruck, oft mit herausfordernder
Satyre. Die jambische Poesie bezieht trochäische Verse mit ein
und eignet sich schon äußerlich zum Ausdruck lebhafterer Bewegung:


„Viel versteht der Fuchs, der Jgel eines nur, doch frommt es ihm:

Daß er, sich zusammenrollend, auf den Feind die Stacheln kehrt;

Also lernt' ich selbst im Leben eine Kunst, die mir genügt:

Jedem, der mir Uebles anthat, zahl' ich schweres Uebel heim.“

Wie diese Poesie noch immer plastische Gestalten zu verkörpern vermag,
bekundet gerade Archilochos. So veranschaulicht ein Bruchstück
das Bild der Geliebten:


„Mit frohem Lächeln in der Hand ein Myrtenreis

Und frische Rosen trug sie, und beschattend fiel

Um Brust und Nacken wallend ihr das Haar herab.“
[130]

Es ist klar, daß einer solchen Vollendung eine lange Entwicklung
vorausgegangen sein muß; und diese haben wir eben in der vorlitterarischen
Lyrik zu suchen. Für die jambische Poesie sind solche Vorläufer
in skoptischen Liedern zu sehen.


  Auch die melische Poesie, die zunächst unter den Doriern erwuchs,
fand in den choralartigen delphischen Kultusliedern ein wirksames
Vorbild. Nur hat sie Terpander, der Begründer des Melos,
umfangreicher gestaltet und kunstreicher gegliedert. Während Terpander
noch in religiösem Gehalt verharrt, wendet Alkman die schon
formell abwechslungsreiche Gattung auf weltliche Stoffe. Jn welchem
Maße die lyrischen Chorlieder epische Elemente bewahren, tritt noch
an Pindars Dichtung unverkennbar hervor, deren Schwergewicht auf
mythologischen Einlagen ruht. Aber auch der für den Einzelvortrag
bestimmte Nomos erzählte in seinem Hauptteil ursprünglich einen
Mythos, um das Lob des Gottes zu begründen. Jn den übrigen
Teilen gestattete das abwechslungsreiche Versmaß ein um so kunstvolleres
Spielen lyrischer Gefühle. Ebenso behalten die Chorlieder
des Alkman einen mythischen oder sagenhaften Teil bei, wie er denn
in einem Jungfrauenlied die Begegnung des Odysseus mit Nausikaa
erzählt. Mit diesem objektiven Abschnitt verknüpft sich ein subjektiver
von einem gewissen individuellen Charakter, ja mit direkten Selbstgeständnissen.
Genug, der Zusammenhang epischer und lyrischer Momente
bezeichnet allerorten den Uebergang.


  Jn der weitern Entwicklung der griechischen Lyrik tritt als
Elegiker unter den Doriern Tyrtäos auf. Seine Elegien verherrlichen,
woran sich ja der Ruhm seines Namens knüpft, den Tod fürs
Vaterland. Anschaulich weiß seine Phantasie die Schlachtscenen zu
zeichnen, und ihr wesentlicher Unterschied von epischer Erzählung besteht
eigentlich nur in der optativen Wendung auf die Zukunft:


„Schreite denn jeder beherzt vorwärts, in den Boden die Füße

Fest eindrückend, die Zähn' über die Lippen geklemmt,

Brust und Schulter zumal und hinabwärts Hüften und Schenkel

Hinter des mächtigen Schilds eherner Wölbung gedeckt.

Hochher schwing' er zum Wurf in der Rechten die wuchtige Lanze

Und Furcht weckend vom Haupt flattre der Busch ihm herab ...

Also die starrenden Reih'n andringender Feindesgeschwader

Wirft er zurück und dämmt mächtig die Woge der Schlacht.“
[131]

Mit einer Jnterjektion hebt auch er gern an, um ihr alsbald durch
geschichtliche Erinnerungen Rückhalt zu geben:


„Auf in den Kampf, ihr Enkel des unbezwungnen Herakles!

Streitet getrost! Noch nie wandt' euch den Rücken der Gott.“

Jn seiner Eunomia umfaßte Tyrtäos vollends ─ wie selbst die spärlichen
Bruchstücke erkennen lassen ─ neben dem gegenwärtigen Zustand
Spartas auch dessen Vergangenheit; aber diese objektive Darstellung
ist auf die Mahnung zugespitzt, an den alten Jnstitutionen
festzuhalten und vom Kampf gegen die Messenier nicht abzulassen.


  Die Blüte des Melos knüpft sich vor allem an die Namen
Alkäos und Sappho. Wie das Lied noch immer um so eindrucksvoller
wirkt, je umfassender es sich plastische Scenerie bewahrt, veranschaulichen
sowohl die geselligen als die politischen Gedichte des
Alkäos. Nach Zeit und Ort für Auge und Ohr versinnlicht ein Trinklied
die zum Trinken einladende Situation:


„Zeus kommt im Regen, mächtig vom Himmel braust

Der Wintersturm, schon stockt der Gewässer Lauf

Jm scharfen Frost und kaum im Wetter

Hält der bewipfelte Forst sich aufrecht.“

Daran schließt sich die Ausmalung der häuslichen Situation:


„Beut Trotz dem Eiswind! Schür' auf dem Herd empor

Die Lohe, schenk' süßpurpurnen Traubensaft,

Schenk' reichlich und zum Trunk gelagert

Lehne das Haupt in die weichen Kissen.“

Die politischen Lieder des Alkäos kleiden sich schon gern in allegorisches
Gewand. So stellt er die Verwirrungen, denen die öffentlichen
Zustände durch die Umtriebe des Myrsilos verfallen waren,
unter dem Bilde des Sturmes auf See dar.


  Charakteristisch für das Vordringen der lyrischen Form sind
schließlich seine Hymnen, die in ihrem melischen Versmaß das leisten,
was vordem die hexametrischen, rein episch gehaltenen Proömien bezweckten:
Verherrlichung der Götter als Einleitung für Vorträge der
Rhapsoden an Festtagen. Dabei erzählen diese melischen Mythendichtungen
gestalten- und farbenreich, mit Glanz und Fülle: auch die
epischen Elemente sind durchgeistigt und verklärt. So wird Apoll bei
seiner Rückkehr nach Delphi von dem Gesang der Nachtigallen und
Cikaden begrüßt, und heller rauscht die kastalische Quelle.

[132]

  An Leidenschaft namentlich auf erotischem Gebiete übertrifft
Sappho womöglich noch den männlichen Genossen. Beweiskräftiger
können sich kaum nach Stoff und innerer Form die Elemente der
lyrischen Entwicklung bekunden als in manchen ihrer Lieder: das Ausgehen
vom Religiösen und Erzählenden, die Wendung beider in den
Dienst des Weltlichen und Empfindungsvollen.


„Die du thronst auf Blumen, o schaumgeborne

Tochter des Zeus, listsinnende, hör' mich rufen,

Nicht in Schmach und bitterer Qual, o Göttin,

  Laß mich erliegen.

Sondern huldvoll neige dich mir, wenn jemals

Du mein Flehn willfährigen Ohres vernommen,

Wenn du je, zur Hilfe bereit, des Vaters

  Halle verlassen.“

Es folgt vier Strophen lang eine dramatisch lebendige Erzählung
ihres früheren ─ als wiederholt vorausgesetzten ─ huldvollen Herabneigens
zur Dichterin:


„Raschen Flugs auf goldenem Wagen zog dich

Durch die Luft dein Taubengespann ...

So dem Blitz gleich, stiegst du herab und fragtest,

Sel'ge, mit unsterblichem Antlitz lächelnd:

‚Welch ein Gram verzehrt dir das Herz, warum doch

  Riefst du mich, Sappho? ...'“

Nach solcher scenischen und dialogischen Entfaltung eines ─ nur verallgemeinerten
─ verflossenen Vorgangs mündet das Lied wieder in
eine Schlußstrophe, die gleich der Eingangsstrophe aus einer Anrufung
besteht:


„Komm denn, komm auch heute, den Gram zu lösen! ...“

Nicht mehr das einmal vorübergehend Gewesene, das historische Einzelereignis,
wird erzählt: vielmehr was immer gewesen ist, darum ferner
sein und dauern soll. ─


  Einen ausgeprägt lehrhaften Zug gewinnt die griechische Lyrik
mit Theognis. Nicht nur daß der Megarenser in ausgedehntem Maße
direkter Spruchdichtung huldigte, auch seine größeren elegischen
Gefühlsäußerungen sind sehr stark mit ethisch=didaktischen Zügen durchsetzt.
Was bei ihm vorherrscht, sind nicht mehr Empfindungen, die
aus einer einzelnen, obschon verallgemeinerten oder dauern gedacht [133]
Begebenheit entspringen ─ wie es im Keim ursprünglicher Lyrik
lag ─: vielmehr allgemeine Lebenserfahrungen, Lebensauffassungen,
Meinungen, die sich völlig von objektiven Geschehnissen
emanzipiert haben.


„Keiner bereitet sich selbst von den Sterblichen Segen und Unheil,

Sondern die Götter, o Freund, sind es, die beides verleihn.

Was auch immer der Mensch anstrebt: nie weiß er im Herzen,

Ob es zu freudigem Ziel, ob es zu trübem gerät“ &c.

So erfolgt der Uebergang zur Allegorie immer entschiedener:


„Einzig die Hoffnung blieb von den Himmlischen unter den Menschen,

Zu den olympischen Höh'n kehrten die übrigen heim.

Treue, die mächtige Göttin, entwich, es entwich die gestrenge

Zucht und die Grazien, Freund, suchst du auf Erden umsonst.“

Aber solche Betrachtungen bleiben selten ausschließlich rückblickend, sondern
zielen gern direkt auf ethischen Antrieb für die Zukunft. Derart
schließt diese Elegie:


„Aber so lange du lebst und das Licht noch schauest der Sonne,

Klammre mit treuem Gemüt fest an die Hoffnung dich an,

Und wenn unter Gebet süßduftendes Opfer du zündest,

Sei es zuerst und zuletzt immer der Hoffnung geweiht.“

Wir dürfen uns nicht verhehlen, daß mit ethisch=didaktischen Antrieben
ein Ziel erreicht ist, auf welches von vorn herein die Tendenz der
lyrischen Entwicklung hinweist. Die Jnterjektion, der Anruf, also
das Mittel, welches dem erzählenden Kern ursprünglich lyrischen Accent
verleiht, nimmt gerade im alten Griechenland, das sehr zu gnomischer
Beschaulichkeit neigt, bald den Charakter einer ethischen Weisung an.


  Jnzwischen entfernt sich das Melos weiterhin von seinen Grundlagen.
Für Sänger wie Jbykos und Anakreon, die am Hofe des
Polykrates von Samos lebten, ist das Streben nach Schlichtheit und
einfacher Natürlichkeit kein Jdeal mehr; wonach sie jagen, ist Glanz,
zierliche Anmut, künstlerische Eleganz, spielend leichter Fluß der Verse.
Höfischer Lebensgenuß, Liebe und Wein herrschen als Stoffe vor,
und nicht die Herzensneigung zu der einen Erwählten, sondern Genußsucht,
die von einem Gegenstand ─ nicht nur Frauen, auch Knaben
─ zum andern spielt. Während Jbykos in seiner Leidenschaft
noch eine gewisse Schwermut bewahrt, auch mythische Themata gern [134]
festhält, ist Anakreon zum Klassiker des heiteren, freien, dabei immer
geistvollen Tones geworden.


„Mir zuwerfend den Purpurball,

Fordert Eros im Goldgelock

Mich zum Spiel mit dem zierlichen

Buntsandaligen Kind auf.

  Doch sie stammt von der prangenden

Lesbosinsel und rügt mein Haar;

Grau ja sei's, und in Sehnsucht, ach,

An ein blondes gedenkt sie.“

Wenigstens die Rudimente einer plastischen Scene sind hier wie oft
noch erkennbar; bisweilen entwindet sich der Dichter aber auch dieser
Anschaulichkeit, um sich ganz auf das innere Gefühl zurückzuziehen.


  Die weitere Entwicklung des Melos wird durch den Abstand
der anakreontischen Schule von ihrem Meister bezeichnet. Für Anakreon
ist Eros der Repräsentant wild begehrender männlicher Liebe;
den Anakreontikern gilt er als loser Knabe, sie führen die seitdem herrschende
Amorettenspielerei ein. Die Leidenschaft eines Jbykos stürmt:


„Doch nicht achtet der lieblichen

Jahrszeit Eros und läßt mich ruhn;

Nein, wie thrakischer Wintersturm

Widerleuchtend von Blitzesschein

Fällt er, Kyprias wilder Sohn,

Mit blindsengender Wut mich an

Und erschüttert gewaltsam mir

Die Grundfesten des Herzens.“

Als wuchtiger Schmied offenbart sich Eros einem Anakreon:


„Mit schwerwuchtendem Hammerschlag,

Wie die glühende Stang' ein Schmied,

Trifft mich Eros und taucht mich dann

Jn eiskaltes Gewässer.“

Dagegen nur als


  „ein Knäbchen,

Kleingeflügelt, ausgerüstet

Mit dem Bogen und dem Köcher,“

erscheint er den Epigonen. Tändelei, die sehr bald konventionell erstarrt,
wird ihnen die Liebe: nicht mehr aus Herzensnötigung, aus [135]
spielerischer Kunstfertigkeit gehen die Lieder hervor; die Motive erschöpfen
und wiederholen sich. ─ Die zweite, jüngere Sammlung
anakreontischer Epigonen verfällt noch auf weiteren Strecken stofflich
ins Leere, formell ins Verkünstelte; Rhetorik tritt vorherrschend an
die Stelle von Gestaltung, obschon vereinzelt noch immer die Entfaltung
einer anmutigen Scene gelingt.


  Der Zug zum Ethischen und Rhetorischen prägt sich vor
allem der chorischen Lyrik auf, der noch eine späte Blüte beschieden
ist. Pindar bewahrt in der alten Mythenwelt seinen Dichtungen zwar
einen meist ausgedehnten erzählenden Gehalt, aber von subjektivem
Gefühl durchdrungen und erweicht, auf allgemeine Gedanken, Reflexion,
didaktische Antriebe zugespitzt. Freilich erstarrt er nicht in trockener
Gnomik; in üppiger Pracht rauschen die Strophen dahin:


„Bei der Fest' anringenden Kämpfen erwirbt

Sich den ersehnten Ruhm, wen vieler Kränze Gewind

Ob des Siegs durch Hände die Locken geschmückt hat,

Oder um Schnelle des Laufs.

Kundig wird durch Götter die Stärke der Männer.

Doch nur allein zween Güter weiden

Unsres Lebens süßesten Glanz bei dem schönentblühten Segen,

  Wenn im Glück jemand das erhebende Wort hört.

Strebe dann nicht Zeus zu sein, weil alles dein,

Wenn zu dir dies Los des Erfreulichen kam.

Menschen ziemt menschliches Teil.“

Es kann nicht Wunder nehmen, daß dieser ethisch feierliche Stil unter
den Händen unfähiger Nachahmer in überladenen Schwulst und in
Dunkelheit verfällt.


  Ausläufer oder Nachwirkungen der lyrischen Entwicklung bei den
Griechen haben wir in der rhetorischen Lyrik der Römer zu sehen. ─
Auf griechischem Boden reißt der im Dionysoskult erwachsene, mit
der chorischen Lyrik verwandte, im Kern stark episch gefärbte Dithyrambos
die Herrschaft an sich, dessen lyrische Partieen in bacchantische
Ueberschwänglichkeit entarteten, ebenso wie das Uebergreifen der musikalischen
Begleitung eine Auflösung der alten dichterischen Form begünstigt.
Jndem er aber dem Chor den Einzelmenschen scenisch und
mimisch gegenüberstellte, ward der Dithyrambos zum Vater des
Dramas. ─

[136]

  So beengt nach alledem unsere Kenntnis der griechischen Lyrik
durch die fragmentarische Ueberlieferung ist, läßt sich doch der Weg
vom Epischen und Schlicht-Naiven zum Dramatischen einerseits, zum
Ethisch-Didaktischen andererseits nicht verkennen.

§ 65.
Die provenzalische Lyrik.


  Unter der modernen Lyrik genießt den Ruhm der Ursprünglichkeit
vor allem die Poesie der provenzalischen Troubadours. Obgleich
auch sie uns gerade nur in den Leistungen einer Blütezeit der Kunst
vorliegt, lassen sich doch gewisse Voraussetzungen mit Sicherheit
erschließen.


  Für eine Bekanntschaft mit epischer Ueberlieferung spricht nicht
nur, daß uns noch einige Versromane aus der Frühzeit der Troubadourdichtung
vorliegen, und nicht nur der Zusammenhang mit der
nordfranzösischen Litteratur läßt die Beschäftigung mit Sagenstoffen
voraussetzen. Vor allem beweisen zahlreiche Vergleiche und sonstige
Anspielungen inmitten der lyrischen Gedichte, daß der Schatz epischer
Ueberlieferung von großer Ausdehnung gewesen. Man vergleiche
Hindeutungen solcher Art:


„Verraten seh' ich mich, wie Ferragut,

Als er dem Roland seine Furcht bekannt,

Weshalb er fiel; so weiß auch sie, die Arge,

Aus meinem Mund, wie ich zu töten bin.“

Ferner:


„Selbst Persaval, da er an Artus Hof

Dem weißen Rittersmann die Wehr genommen,

War nicht von solcher Lust, wie ich, entglommen.“

Ein andrer Troubadour singt:


„Jetzt merk' ich wohl, daß ich den Becher trank,

Der einst den Tristan macht' unheilbar krank.“

Neben den modernen Rittersagen blicken antike Stoffe durch, deren
Beliebtheit in der romanischen Poesie des Mittelalters uns auch durch
noch erhaltene nordfranzösische Dichtungen belegt ist:


„Gleich jenen Frau'n, die, wie sie sagen,

Jm Wald einst Alexander fand,
[137]
So fest in den Bezirk gebannt,

Daß sie dem Tode gleich erlagen,

Verließen sie den schatt'gen Wald,

Müßt' ich auch sterben alsobald,

Könnt' ich der treu'sten Lieb' entfliehn.“

Ein Kuß vom Munde seiner Schönen entlockt Bernart von Ventadour
die geistreiche Wendung:


„Nie dacht' ich, daß mich der Genuß

Des schönen Mundes brächt' in Not,

Doch küssend gab er mir den Tod,

Wo nicht mich heilt ein zweiter Kuß:

So ist er, da dies ihm eigen,

Peleus Lanze zu vergleichen,

Von der ein Stich nur dann genesen ließ,

Wenn man sie nochmals in die Wunde stieß.“

Ob all die so in der provenzalischen Lyrik auftauchenden Gestalten in
der langue d'oc selbst Behandlung gefunden oder die Berufungen
sich zum teil auf nordfranzösische Quellen stützen, mag dahingestellt
bleiben. Jmmerhin legt auch der Hinweis unseres Wolfram von
Eschenbach auf den Provenzalen Guiot als ─ sei es selbst unmittelbare
─ Quelle für seinen Parzival die Erwägung nahe, die epische
Thätigkeit der Provenzalen nicht gering zu achten.


  Wie durch solche Zeugnisse ein Zusammenhang mit der epischen
Dichtung zunächst äußerlich belegt wird, läßt sich auch die Priorität
vorlitterarischer Weisen aus der Troubadourdichtung erschließen.
An dem Unterschied zwischen Vers und Kanzone tritt hervor, daß der
Vers sich an die einfache Form einer früheren primitiveren Lyrik anschließt.
Der Vers bestand aus Kurzzeilen von meist nur vier Hebungen
und in der Regel männlichem Reim sowie gedehnter Melodie.
Jn den Gesängen der ältesten Troubadours herrscht diese einfache
Form noch vor; auch wird es ausdrücklich als Kennzeichen des Alters
hervorgehoben, daß einem Troubadour die Kanzone noch unbekannt
gewesen. Schließlich hat sich jener viermal gehobene jambische Vers
in dem volkstümlichen Fabliau erhalten.


  Jnnerlich bekundet sich der Zusammenhang mit ursprünglicher
Lyrik, namentlich mit dem religiösen Lied, durch Uebernahme des
Refräns. Daß gerade Balladen und andere Tanzlieder ihn begünstigen, [138]
deutet noch besonders auf seinen populär=religiösen Ursprung.
Der Refrän giebt dem Gedicht den lyrischen Hauptaccent, läßt immer
von neuem das Leitmotiv der Empfindung wiederklingen. Durchaus
der springende Punkt ist es, welchen der Refrän z. B. in König
Richards Klagelied heraushebt; zugleich wird das Verhältnis der
epischen und lyrischen Elemente durch die Gruppierung um den Refrän
wirksam beleuchtet:


„Zwar redet ein Gefangner insgemein

Nicht mit Geschick in seiner herben Pein,

Doch dichtet er, von Gram sich zu befrein.“

Nachdem so der kathartische Charakter aller Poesie als Antrieb vorklingt,
setzt eine Art Erzählung ein:


„Freund' hab' ich viel, doch sind die Gaben klein,

Schmach ihnen, daß um Lös'geld ich allein

  Zwei Winter lieg' in Haft.“

Damit ist der Grundakkord angeschlagen; „in Haft“ könnte auch die
Ueberschrift des Gedichtes lauten; aus der Grundlage „in Haft“ entwickelt
sich die ganze Skala der angeschlagenen Töne. Doch wird
recht augenscheinlich, wie dies eine bleibende oder doch wiederkehrende
Element den Fortschritt der Erzählung und Empfindung von Strophe
zu Strophe kennzeichnet.


„Nun ist es meinen Mannen doch bekannt

Jn Normandie, Poitou und Engelland,

So armen Kriegsmann hab' ich nicht im Land,

Den ich im Kerker ließ um solchen Tand.

Nicht hab' ich dies zu ihrem Schimpf bekannt,

  Doch bin ich noch in Haft.“

  Die variierenden Elemente des Schlußverses reden für sich allein
deutlich genug: zunächst Vergangenheit:


Zwei Winter lieg' in Haft“,

alsdann Gegenwart:


Doch bin ich noch in Haft“;

mit der dritten Strophe nimmt das Lied eine Wendung auf die Zukunft,
vorerst hypothetisch:


Wenn ich hier bleib' in Haft“;

schließlich mit zuversichtlicher Bestimmtheit:

[139]
„Doch weiß ich wohl, daß ich nicht lange mehr

Hier schmachten muß in Haft.“

Leicht mengt sich nun eine allgemeine Betrachtung ein:


„Wohl ist es mir gewiß zu dieser Zeit:

Tot und gefangen thut man niemand leid.“

Jm übrigen bleibt die Darstellung individuell beziehungsreich, nur
daß äußere Thatsachen aus Richards Leben von direkter Aussprache
seiner Gefühle durchschlungen sind:


„Kein Wunder, daß mein Herz von Kummer schwer:

Mein Herr drängt ja das Land mir allzusehr

Und denket unsers Eides nimmermehr“ etc.

Noch unmittelbarer bringt der Refrän des bekannten Tageliedes die
eine fortdauernde Grundempfindung inmitten von epischer und epischdramatischer
Darstellung zum Ausdruck. Rein erzählend setzt das
Lied ein:


„Jn einem Garten, unterm Weißdornzelt

Jst die Geliebte mit dem Freund gesellt,

Bis daß des Wächters Warnungszeichen gellt.

  Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!“

Erst dieser Refrän, bezeichnenderweise ein Ausruf, spitzt die Erzählung
lyrisch zu. Jn direkter Rede entspinnt sich nun von Strophe
zu Strophe zwar eine gewisse Wandlung der Scene, doch immer mit
der einen Grundsituation, die der Geliebten den Wunschruf entlockt:


„Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!“

  Die Liebe ist es, welche dieser Lyrik vor allem ihren Stempel
aufdrückt und seitdem ─ auch bei uns in Deutschland ─ zum Hauptgegenstand
lyrischer, in der Folge aller poetischen Darstellung erwachsen
ist, wie es vordem die Kampfeslust und nationale Thatkraft gewesen.
Die Liebe aber, wie sie sich hier ausspricht, ist nicht eine
rein natürliche Empfindung, sondern zum guten teil ein konventionelles
Spiel der Phantasie, das seine Absicht denn auch nicht auf das natürliche
Ziel der Liebe, auf die Ehe, richtet, sondern sich entweder mit
poetischer Verherrlichung und Huldigung begnügt oder sich in Ausschweifung
verliert. Wohl in den meisten Fällen war die besungene
Dame bereits vermählt. Oft handelt es sich um die Gattin eines [140]
hochgestellten Gönners, in dessen Schloß der Sänger verweilt hat,
meist überhaupt um eine Anverwandte desselben.


  So stellt sich fast von selbst die Vorstellung dieser Liebe als
Lehnsverhältnis ein.


„Jch, Herrin, bin eu'r Unterthan,

Für immer eurem Dienst geweiht,

Eu'r Unterthan durch Wort und Eid.“

Wie in heroischen Bildern schwelgt der Dichter auch in Vergleichen
mit der göttlichen Sphäre zur Verherrlichung der Auserkorenen.
Aehnlich ergeben sich aus den Voraussetzungen dieser poetischen Liebe
eine Reihe weiterer konventionellen Eigenschaften, wie Verschweigen
des Namens der Geliebten. Um aber ─ durch den Boten, dem
man das Lied auftrug ─ ihr, der Besungenen, unter Umständen auch
einem beschränkten Kreise, in dem sie ihr Lob gern ertönen hörte,
verständlich zu werden, bediente sich der Sänger oft allegorischer
Andeutung.


  Durchgehend kommt auch die Liebe selbst als Allegorie zur Verwendung.



„Die Liebe trifft uns leicht mit ihrer Lanze,

Sie ist ein Geist und treibt ein feines Spiel ...

Sie überwältigt und besiegt sie alle,

Die sie erkoren, ihrem Zweck zu dienen,

Doch um so größre Leiden schafft sie ihnen,

Da sie verlangt, daß uns ihr Schmerz gefalle ...“

Wie solcher Art Liebe fast immer unerhört blieb, herrscht klagende
Sehnsucht vor. Ja, direkt als Krankheit wird die Liebe empfunden:


„Krank bin ich, fühle Todeswehn,

Kann kaum noch, was man spricht, verstehn,

Such' einen Arzt und weiß nicht wen“ etc.

  Am meisten frische, natürliche Leidenschaft atmet noch das Tagelied,
oder genauer alba d. i. (Lied vom) Morgenrot, Tagesanbruch:
Die Liebenden beklagen die hereinbrechende Scheidestunde; schon giebt
der Wächter, der im Einverständnis mit den Liebenden steht, ein
Warnungszeichen; oder die bösen Neider und Hüter sind zu täuschen.
Soweit bleibt die äußere Situation durchaus konventionell, aber in
dieser Form hat doch südliche Leidenschaft eine ─ gleichfalls elegische [141]
─ Einkleidung gefunden. Meist aber sind die Ansprüche der Liebessänger
bescheidener, kurzweg phantastischer:


„Mich macht ein Faden ihres Handschuhs reich,

Ein Haar auch, das ihr auf den Mantel fällt“ ─

lautet ein bezeichnender Wunsch dieser Art.


  Gern geht die Liebesdichtung der Troubadours von der Naturanschauung
aus:


„Jm Mond April, wann grün sich schmückt

Der Anger und die Gärten blühn,

Und frisch und klar die Wasser ziehn,

Und alle Vöglein sind beglückt;

Düfte, die aus Blüten dringen,

Und des Vögleins süßes Singen,

Das ist's, was dann mich neu entzückt.

  Dann such' ich mich mit Vorbedacht

Zu freu'n der Liebe Süßigkeit ...“

  Es ist hier allerorten klar, daß eine Empfindung zum Ausdruck
gebracht werden, ja zur direkten Aussprache, zum Geständnis gelangen
soll. Vergegenwärtigen wir uns die charakteristischen Mittel dieser
Art poetischer Gefühlsäußerung, so finden wir die lyrische Entwicklung
unter den Händen der Troubadours bereits in einem vorgeschrittenen
Stadium. Der älteste bekannte Troubadour, Graf Wilhelm von Poitiers,
hebt an:


„Jhr muß sich jede Wonne neigen,

Die Macht ihr dienen weit und breit

Ob ihrer holden Freundlichkeit,

Dem milden Blick auch, der ihr eigen.

Ein Mann muß hundert Jahr' erreichen

Und mehr noch, wenn er ihr sich weiht ...“

Eine gegenständliche Feststellung ist schon von Anbeginn mit abstrakten
Begriffen durchsetzt: die Wirkung der verkörperten Geliebten ist zunächst
rein seelisch durch Herrschaft ihrer Wonne und Macht angedeutet,
dann zwar anschaulicher durch den Eindruck auf einen Mann
selbst, doch unter Einkleidung in eine Art allgemeiner Wahrheit.
Nun fehlt es nicht an Troubadourliedern, die gegenständlicher und
individueller zeichnen; aber das weite Vorschreiten der Abstraktion
und Gnomik läßt sich selten verkennen. Selbst Bernart von Ventadour [142]
ergeht sich seine meisten Lieder hindurch mehr in Erörterungen
über seine Liebe als in Gestaltung von Liebesscenen oder plastischer
Verkörperung der Geliebten:


„Gar sanft mit lauter Süßigkeit

Wirkt diese Liebe auf mein Herz:

Tags sterb' ich hundertmal vor Schmerz

Und lebe auf vor Fröhlichkeit.

Mein Weh ist eine süße Pein,

Mit der kein fremdes Glück sich mißt;

Und wenn mein Weh so süß schon ist,

Wie süß muß dann mein Glück erst sein!“

Das ist nicht mehr Veranschaulichung der Gefühle: das ist offenbare
Reflexion über die Gefühle. ─


  Der reflektierende und didaktische Charakter der Troubadourlyrik
äußert sich noch unmittelbarer in den Sirventes, politischen und
moralischen Richtersprüchen in lyrischem Gewande. Bald Lob=, öfter
Rügelied, bald Kampflied, bald Aufruf zum Kampf, greift das Sirventes
meist in die politischen und sozialen Verhältnisse der Zeit ein.
Bei Meistern der Gattung, wie Bertran von Born, finden sich noch
recht konkrete Darstellungen:


„Manch farb'ger Helm und Schwert und Speer

Und Schilde schadhaft und zerhaun

Und fechtend der Vasallen Heer

Jst im Beginn der Schlacht zu schaun;

Es schweifen irre Rosse

Gefallner Reiter durch das Feld,

Und im Getümmel denkt der Held,

Wenn er ein edler Sprosse,

Nur wie er Arm und Köpfe spellt,

Er, der nicht nachgiebt, lieber fällt.

  Nicht solche Wonne flößt mir ein

Schlaf, Speis und Trank, als wenn es schallt

Von beiden Seiten: drauf hinein!“

Von epischer Darstellung scheidet sich eine solche Schlachtscene durch
die verallgemeinernde und hypothetische Form: nicht eine
besondere Schlacht, sondern der typische Verlauf der Schlachten
schwebt der Phantasie vor.


  Rüge und Lob stützt sich naturgemäß auf bestimmte, bis zum
gewissen Grade in der Vergangenheit liegende, aber doch in der [143]
Gegenwart fortdauernde Thaten; überdies verweist der angewünschte
Lohn in die Zukunft:


„Und wagt der Schlemmer sich heraus,

Soll mein Schwert es ihm verbittern“ etc.

Mit Vorliebe werden auch hier allgemeine Betrachtungen gesucht:


„Der Mensch muß wohl erwägen und bedenken,

Daß weder Stand noch Geist noch edles Streben

Auf dieser Welt des Todes Macht beschränken.“

Wie in den Liebesliedern die Liebe, ist es hier neben verwandten
Begriffen namentlich die Ehre, welche als Allegorie auftritt:


„Jetzt muß die Ehre einsam weinend ziehn,

Von jedermann verstoßen und verkannt ...

Jetzt thut die Unehr' gänzlich nach Verlangen,

Da Ehre wich aus ihrem Vaterland.“

  Auch zur Symbolisierung neigen die Troubadours. So
müssen die Lilien des französischen Königsbanners zu bildlichen Ausdeutungen
herhalten:


„Und wer gern diese Blumen bricht,

Der kennt noch nicht

Der Gärtner Macht,

Die manchen Herrn, der sie verficht,

Nach Hüters Pflicht

Jn Wehr gebracht“ u. s. f.

  Von nationaler Bedeutung wie etwa die alte epische Dichtung
ist trotz ihres politischen Zuges nur ein kleiner Teil der Sirventes;
viele sind privaten Beziehungen zu Hochgestellten entsprungen. Am
entschiedensten darf eine nationale Bedeutung das Kreuzlied in Anspruch
nehmen, dessen Hauptaufgabe im Aufruf zum Kreuzzug bestand.


  Die Ausläufer der provenzalischen Lyrik des Mittelalters haben
wir einerseits in den zahlreichen Lehrgedichten, andererseits in den
Tenzonen zu sehen, deren dialogische Streitfragen dramatischem Ton
nahekommen. ─


  Auffallen muß, daß auf diese ins 12. und 13. Jahrhundert
fallende Kunstlyrik Südfrankreichs eine Periode naiv volkstümlicher
Lieder in Nordfrankreich folgt, die im 15. Jahrhundert durch
Sänger wie Olivier Basselin, von dessen Heimat, dem Val de Vire, [144]
sich der Name Vaudeville herleitet, und wie François Villon bezeichnet
ist. Aehnlich wirkt zunächst die Troubadourdichtung nach Jtalien
hinüber, und nicht minder trägt die Renaissance-Lyrik Petrarkas
einen gelehrten Anstrich; daneben aber erwacht und erstarkt eine
volkstümliche Liederdichtung, die, aus dem Bürgertum geboren, in
freiem, leichtem Tone meist Vorfälle des Alltagslebens besingt.

§ 66.
Die Anfänge der deutschen Lyrik.


  Nehmen wir allein auf die zu litterarischer Aufzeichnung gelangte
Lyrik bezug, so bietet die deutsche Dichtung dasselbe Schauspiel: an
die Minnepoesie des 12. und 13. Jahrhunderts reiht sich seit dem
14. und 15. Jahrhundert eine reiche Blüte des lyrischen Volksliedes.
Es fragt sich freilich, wie weit dieser Sang des Volkes auf ältere
Quellen zurückgeht oder doch an ältere Traditionen anknüpft.


  Die Hypothese hat denn auch Vertreter gefunden, daß der ritterlichen
Lyrik des 12. Jahrhunderts von je ein organisches Leben des
lyrischen Volksliedes vorausgegangen sei. Unmittelbare Reste haben
sich nicht erhalten; die mittelbaren Zeugnisse sind überaus spärlich,
verdienen aber sorgsame Beachtung.


  Vor allem verbietet bereits ein Kapitular Karls des Großen
vom Jahre 789 den Nonnen, „winileodos scribere vel mittere“.
Die Stelle lautet (bei Boretius):


De monasteriis minutis ubi nonnanes sine regula
sedent, volumus ut in unum locum congregatio fiat
regularis, et episcopus praevideat ubi fieri possint.
Et ut nulla abbatissa foras monasterio exire non
praesumat sine nostra jussione nec sibi subditas facere
permittat; et earum claustra sint bene firmata, et
nullatenus ibi winileodos scribere vel mittere
praesumant:
et de pallore earum propter
sanguinis minuationem
.“


Winileodos schlechtweg als Liebeslieder aufzufassen, welche die Nonnen
an ihre geliebten Männer gesandt haben sollten, dürfte um so
kühner sein, als eine derartig offenbare Versündigung an dem Klostergelübde [145]
wohl schärfer als durch ein schriftliches Verbot bestraft worden
wäre. Scribere braucht auch keineswegs dichten zu bedeuten,
ja kann am wenigsten für volksliedartiges Dichten Verwendung finden.
Nicht ausgeschlossen wäre selbst, daß es sich bei den lateinkundigen
Nonnen sogar um Abschrift antiker Dichtungen und Versendung derselben
von Kloster zu Kloster handelte, wie wir dergleichen von Mönchen
zur genüge kennen: solch ein Eifer für weltliche und zugleich
heidnische Dichtungen hätte gerade so, nicht mehr und nicht weniger,
gefährlich erscheinen können, um ihm als Mißbrauch in einem Kapitular
entgegenzutreten. Als Winileod verdeutschen spätere Glossarien
oft psalmi plebeji oder vulgares oder seculares cantilenae oder
auch cantica rustica et inepta. Es handelt sich um weltliche
Lieder, wie solche später zum Leidwesen der geistlichen Behörden sogar
in der Kirche gesungen werden. Ein Verbot von derart geselligen
Liedern lautet: „Non licet in ecclesia choros secularium vel
puellarum cantica exercere nec convivia in ecclesia praeparare
.“



  Sollte es sich nun um selbständige deutsche Dichtungen dieser
Richtung handeln, wüßten wir noch immer nicht, wie weit der epische
Charakter, der erzählende Ton, bewahrt oder wie weit bereits direkte
Gefühlsaussprache erreicht ist.


  Vor dem 12. Jahrhundert begegnet nur noch im Ruodlieb,
einem lateinisch geschriebenen Rittergedicht des 11. Jahrhunderts, eine
Anspielung auf einen deutschen Liebesgruß. Die Frau trägt dem
Boten Ruodliebs auf:


  ... „Dic illi de me de corde fideli
Tantundem liebes, quantum veniat modo loubes,
Et volucrum wunna quot sunt, sibi dic mea minna,
Graminis et florum quantum sit, dic et honorum.“


Jn lateinischer Sprache ist ein Liebesgruß dieser Art auf deutschem
Boden bereits aus dem 10. Jahrhundert überliefert. Weiterhin finden
sich solche Grüße in der volkstümlichen Lyrik des 15. und 16.
Jahrhunderts; schon im 10. und 11. Jahrhundert müssen für dergleichen
mündliche Grußsendung Wunschformeln ausgebildet gewesen
sein, die zwei Vergleichsglieder durch Stabreim oder Endreim zu
binden pflegten.

[146]

  An diese dürftigen äußeren Zeugnisse reiht man nun innere
Gründe, um das Vorhandensein und die allgemeine Ausbreitung einer
volkstümlichen Lyrik annehmbar erscheinen zu lassen. Zwar die Analogie
der heutigen sogenannten Naturvölker wäre aus uns schon bekannten
Gründen nicht von beweisender Kraft. Auch die Unterstellung
bleibt grundlos, daß die Leugnung einer solchen ursprünglichen Lyrik
das deutsche Volk vor dem 12. Jahrhundert auf eine unter den Wilden
stehende Kulturstufe herabdrücken hieße: man sollte die Jahrtausende
lange Vergangenheit, die auch hinter diesen Stämmen liegt,
nicht vergessen; andererseits in Anschlag bringen, wie gerade die
Kulturvölker, welche alle geistigen Keime zur Reife bringen, eine langsame,
aber um so gediegenere Entwicklung durchlaufen. Die Entwicklung
niedrigerer Menschenracen reift wie bekanntlich die der Tiere
schneller, um indes alsbald zu verkrüppeln (man vergleiche z. B. Hund
und Menschenkind von ½ Jahr, dann aber nach 3 Jahren).


  Nun lebt gewiß gerade der kulturlose Mensch im Augenblick:
aber wir werden überall zu der Auffassung hingedrängt, daß die
Poesie erst ein Geschenk der Kultur sei; erst wenn die Ehrfurcht vor
dem, was über, und vor dem, was vor uns ist, zum Durchbruch
gekommen, erst dann ist der Mensch so weitgehender Seelenvertiefung
fähig, wie sie alle Poesie voraussetzt. Daß die Poesie als Liebeslyrik
erwacht und daß „die Fähigkeit, seine Liebe mitzuteilen im Gesange,
in diesem Zustande so verbreitet wie die Fähigkeit zu
lieben
“ gewesen (wie Konrad Burdach im 27. Band der Zeitschrift
für deutsches Altertum meint), charakterisiert sich als ein Ausfluß rein
materialistischer Auffassung, für welche jede Erfahrungsgrundlage fehlt,
ja der alle Erfahrung widerspricht. Abgesehen von der Absurdität
dieser (in Wilhelm Scherers Poetik übernommenen) Hypothese, äußert
sich darin noch eine Nachwirkung von dem schönen, aber historisch unhaltbaren
Traum des 18. Jahrhunderts, wonach das Paradies der
Menschheit erst mit dem Beginn der Kultur verloren gegangen sei.
Ursprünglich wären danach alle Menschen Dichter gewesen, und erst
fortschreitende Kultur hätte diese Fähigkeit auf Auserwählte aus dem
führenden, die Bildung tragenden Stand beschränkt! Jm ganzen Verlauf
der geschichtlichen Betrachtung trat uns das diametrale Gegenteil
als Thatsache entgegen.

[147]

  Auch wird selbst von den Anhängern dieser Hypothese ─ und
damit nähern sie sich wiederum der Anerkennung geschichtlicher Erscheinungen
─ ein weitgehend objektiver Charakter der ältesten Lyrik
vorausgesetzt: sie sei gewiß mehr thatsächlich als grübelnd, mehr synthetisch
als analytisch gewesen. Es scheint danach weniger über die
Form als über den Zeitpunkt der ursprünglichen Lyrik Zwiespalt
zu bestehen.


  Nötigte uns die Geschichte und Entwicklung auch gerade unserer
heimischen Dichtung zur Annahme epischer Priorität, so ist damit
keineswegs die Möglichkeit ausgeschlossen, daß schon gewisse Zeit vor
dem Auftreten der Lyrik in der Litteratur zunächst in mündlicher
Verkündung und Fortpflanzung eine poetische Form auflebte, die
aus der Erzählung vergangener Geschehnisse in die Aussprache unmittelbarer
Empfindungen überleitet.


  Jnwieweit sich für eine solche Ansetzung thatsächliche wissenschaftliche
Begründung bietet, kann bei dem Mangel früheren Erfahrungsmaterials
nur aus Betrachtung der ältesten überlieferten Lyrik nach
ihrem geistigen Gehalt wie nach ihrer innern und äußern Form
erhellen.


  Wirklich ragt in die älteste bekannte deutsche Lyrik eine grundlegende
Auffassung hinein, die in einen gewissen Gegensatz zu der
späteren Etappe der Ritterdichtung tritt. Es handelt sich um das
für Liebeslyrik ausschlaggebende Verhältnis der Geschlechter. Jn den
Liedern des Kürenbergers, und zwar sowohl in den Strophen, welche
Frauen in den Mund gelegt werden, wie nach den Aeußerungen des
Mannes, erscheint das Weib als der werbende, hingebungsvolle
Teil,
während der Mann sich herrisch und zurückhaltend giebt.
Aus dem Munde der Frau tönt es:


„Bit in daz er mir holt sî, als er hie vor was“;


sie klagt:


Eines hubeschen ritters gewan ich kunde:

daz mir den benomen hân die merker und ir nît,

des mohte mir mîn herze nie frô werden sît“;

sie droht dem Sänger in stürmischer Werbung:


„Er muoz mir diu lant rûmen, ald ich geniete mich sîn“;


stolz giebt der Ritter zurück:

[148]

„Nu brinc mir her vil balde mîn ros, mîn îsengwant,
wan ich muoz einer frouwen rûmen diu lant:
diu wil mich des betwingen daz ich ir holt sî.
si mnoz der mîner minne iemer darbende sîn.“


Zurückhaltend wagt der Mann nicht die Schlafende zu wecken, während
ihre Leidenschaft ausbricht:


Des gehazze got den dînen lîp!

jo enwas ich niht ein wilde bêr.“

Sie ist es, die nächtens seiner denkt:


sô erbluojet sich mîn varwe als der rôse am dorne tuot

und gewinnet mir daz herze vil manigen trûrigen muot.“

Wie einen Falken hat sie ihn gehegt und geschmückt, mehr als ein
Jahr auf ihn all ihre Sorgfalt gewandt; er aber,


„er huop sich ûf vil hôhe und floug in anderiu lant.“


Selbst den Blitz ihrer Augen will er vor Zeugen ablenken: auf einen
andern Mann soll die Schöne ihre Augen gehen lassen, damit niemand
weiß, wie es zwischen ihnen bestellt. ─ Des Ritters Auserkorene
ist eine züchtige Jungfrau, ─ ebenfalls in Gegensatz zu der
überhandnehmenden Unsitte, verheirateten Frauen zu huldigen; nur
durch Boten kann er mit ihr verkehren: so gern er selbst seine Werbung
vorbrächte, gilt es doch ihren Ruf zu schonen. Jm übrigen ist
sein Mannesstolz gar hochgemut:


Wîp unde vederspil die werdent lîhte zam:

swer si ze rehte lucket, sô suochent si den man.“

  Aehnlich erscheint auch in mehreren Liedern Dietmars von Aist
das Weib bald der Liebe harrend, bald um Liebe flehend. Sie
warnt den Geliebten vor Treulosigkeit und mahnt ihn an das Wohlgefallen,
das sie einst bei ihm gefunden. Sie quält sich mit der Frage:


„Waz ist fur daz trûren guot daz wîp nâch lieben manne hât?“


  Dieses eigentlich doch natürliche Verhältnis der Geschlechter, das
Emporblicken des Weibes zu dem Mann, auf dessen Tüchtigkeit sie im
besten Sinne stolz ist, kommt in einer Frauenstrophe des Burggrafen
von Regensburg zu besonders klarer Aussprache:


Ich bin mit rehter stæte eim guoten rîter undertân.

wie sanfte ez mînem herzen tuot swenn ich in umbevangen hân!
[149]
der sich mit manegen tugenden guot

gemachet al der werlte liep, der mac wol hôhe tragen den muot.

  Sine mugen alle mir benemen den ich mir lange hân erwelt ...“

Fehlt es auch nicht an vereinzelten Nachklängen dieser Auffassung der
ältesten Minnesänger, so ist doch mit Beginn der eigentlich höfischen
Blütezeit im Minnesang die entgegengesetzte Darstellung der Beziehungen
zwischen Mann und Weib zur entschiedenen Herrschaft gelangt.
Der Ritter ist der um Liebe girrende Teil geworden, die Frau spielt
die Spröde; wie der Name sagt, ist sie die Herrin, der Liebhaber
erniedrigt sich zu ihrem Vasallen, und er krankt an ungestillter Liebessehnsucht,
ist überhaupt von Liebesweh gebrochen.


  Nun begegnen wir der auffallenden Erscheinung, daß diese, das
natürliche Verhältnis der Geschlechter umkehrende Auffassung in der
von volkstümlichen Einflüssen unberührten Kunstlyrik dauernd die Herrschaft
behauptet, während das in späteren Jahrhunderten aufgezeichnete
Volkslied die gesund=natürliche und thatsächlich im unverdorbenen Volke
herrschende Anschauung bewahrt, wonach ein Weibernarr, ein Sklave
weiblicher Launen dem Spott verfällt, und die Frau es ist, die zum
Manne aufblickt, an ihn sich anlehnt. Der immer wieder anklingenden
Sehnsucht des Mädchens nach einem Manne steht im Volkslied
verhältnismäßig selten die schwärmerische Werbung des Mannes gegenüber.
Vielmehr sind Treulosigkeit des Mannes einerseits, Verspottung
des Weibes andererseits wohl die beliebtesten Gegenstände des
deutschen Volksliedes um die Wende des Mittelalters und der Neuzeit.
Selbst über Verrat tröstet sich der kecke Gesell:


„Laß fahren, laß fahren, was nit bleiben will.

Man findt der schön Jungfräulein noch viel.“

Was der Bursch sucht, ist meist nur flüchtiger Genuß; das Mädchen
bleibt trauernd und sehnend verlassen zurück. Namentlich kommen
hier auch die Liebeslieder in betracht, die Nonnen in den Mund gelegt
sind:


„Viel lieber möcht' ich einen Knaben

Als eine graue Kappen haben.“

Typisch kehrt überhaupt der Wunsch des Mädchens wieder, trotz Warnung
der Mutter zu heiraten, zunächst die Liebe eines muntern Gesellen
zu erwerben; und doch gewinnt sie meist nur Schande und Not.

[150]
„Das Maidlein stund an der Zinnen

Und sah zum Fenster aus,

Jn rechter Lieb' und Treuen

Warf sie ein Kränzlein raus“ ─

auch diese Situation berührt sich mit typischen Scenen der älteren
Minnedichtung. Gemeinsam ist dieser gesamten Ritterlyrik mit der
Volkslyrik ─ das soll zunächst nur heißen: mit der Lyrik des dritten
und vierten Standes ─ ferner das beliebte Ausgehen des Liebesliedes
von einem Naturbilde. Ersichtlich erst aus dem Minnelied ins
Volkslied übergegangen ist die Situation der Tagelieder.


  Mit dem Volkslied hat die ältere Minnedichtung im Stil die
stark epische Färbung gemein. Auch die geradezu die Darstellung
beherrschende direkte Rede, oft volle Gespräche lehnen sich in diesen
beiden lyrischen Arten an den Stil des epischen Volksgesanges an.


Ich stuont mir nehtint spâte an einer zinne,

dô hôrt ich einen ritter vil wol singen

in Kurenberges wîse al ûz der menigîn.“

Soweit volle Erzählung, der erst durch den direkten Gefühlsausbruch
der letzten Strophenzeile lyrische Wendung gegeben wird:


„Er muoz mir diu lant rûmen ald ich geniete mich sîn.“


Aehnlich scenische Zeichnung herrscht auch sonst beim Kürenberger vor:


Jô stuont ich nehtint spâte vor dînem bette,“ ─

„Swenne ich stân alleine in mînem hemede.“

Jn Bild und Erzählung schreitet auch die Darstellung des bedeutsamen
Strophenpaars vor:


„Ich zôch mir einen valken“ &c.


Nicht anders bei Dietmar von Aist:


„Ez stuont ein frowe alleine
und warte uber heide
und warte ire liebe.
so gesach si valken fliegen.
‚sô wol dir valke daz du bist ...'“


Oder:


Sô wol dir, sumerwunne!

daz vogelsanc ist geswunden:

als ist der linden ir loup.“
[151]

Scenisch=dramatisch schließlich:


„Diu frowe begunde weinen.
‚du rîtst und lâst mich eine.'“


Gewiß fehlt es den hervorragenderen unter den späteren ritterlichen
Dichtern nicht an mancherlei eindrucksvollen plastischen Elementen;
aber das Herausschälen der Empfindung aus einem erzählenden Kern
bleibt nicht mehr Grundsatz.


  Nach gleicher Richtung, auf den Anschluß an epische Formen,
weisen uns schließlich die Versmaße einiger älteren Minnesänger.
Zur genüge bekannt ist die Jdentität der Kürenberg-Strophe mit der
Nibelungen-Strophe. Auch der Burggraf von Regensburg bedient
sich in seinen Liedern einer nahe verwandten Form. Von epischen
Dichtungen andererseits bewahren die Nibelungen-Kürenberg=Strophe
das Alphartlied, der Rosengarten, Ortnit sowie Wolfdietrich; dazu
gesellen sich offenbare Ableitungen in der Gudrun, in dem Gedicht
von Walther und Hildegund sowie in der Rabenschlacht. Man darf
also feststellen, daß die vorherrschende Form der nationalen Epen in
den ältesten Minneliedern anklingt.


  Gleichviel nun, ob die Nibelungen-Strophe aus dem Volksgesang
übernommen sein könnte oder nicht, immer bliebe sie ein episches
Maß, und wir ständen demgemäß vor der Thatsache, daß auch in der
äußeren Form die älteste bekannte Lyrik mit der Epik noch zusammenhängt.



  Die Entstehung dieser Strophenform weist überdies jedenfalls auf
den alten Langvers zurück. Auf dem Wege, der vom allitterierenden
Langvers über Otfrieds Reimvers zur Ueberwindung der eingerissenen
Willkür und zu gesetzmäßiger Ordnung im Gebrauch voller (vierhebiger)
und stumpfer (dreihebiger) Verse bezw. Vershälften führt,
bezeichnet die Nibelungen-Kürenberg=Strophe einen weiteren, prinzipiell
letzten Schritt: der ersten Vershälfte sind im Prinzip vier Hebungen,
der zweiten drei zugeteilt, nur daß den Strophenschluß die Verwendung
von vier Hebungen auch in der zweiten Vershälfte andeutet.
Dieser Zusammenhang mit der Entwicklung der epischen Form giebt
zum mindesten einen weiteren Fingerzeig, daß die Ausbildung der
Lyrik vor den uns überlieferten Denkmälern jedenfalls nicht unabhängig
von der epischen Entwicklung anzusetzen ist.

[152]

  Auf den gleichen Ausgangspunkt der Lyrik wie diese Versform
wies der Stil ihrer ältesten Denkmäler hin. Wenn also die geistige
Richtung der frühesten Minnedichtung den Zusammenhang mit volkstümlich=natürlichen
Anschauungen noch nicht gelöst hat, werden wir
jedenfalls nicht berechtigt sein, den nicht erhaltenen oder garnicht aufgezeichneten
älteren lyrischen Liedern einen von der uns bekannt gewordenen,
zunächst epischen Entwicklung losgelösten Ursprung zuzuerkennen.
Begründete ferner schon die Spärlichkeit und Ansechtbarkeit
der äußeren Zeugnisse weitgehende Zweifel an dem Uralter und der
allgemeinen Verbreitung einer ursprünglich volkstümlichen Lyrik, so
zeigen uns nun Stil und Vers der ältesten bekannten Lyrik, daß diese
noch die Eierschalen ihrer Herausschälung aus der epischen Form nicht
abgestreift hat. Dadurch wird aber nahegelegt, ihre nicht zur Ueberlieferung
gelangten Vorgänger weder an Alter noch an Zahl als ungemessen
ausgedehnt vorauszusetzen.


  Dieser durch die thatsächlichen Unterlagen gebotene Schluß wird
bestärkt durch einen Hinblick auf den Kulturstand des Volkes. Es ist
nicht außer acht zu lassen, daß die Volkslyrik des 14. bis 17. Jahrhunderts
mit dem Aufblühen des städtischen Bürgertums zusammenfällt;
jetzt erst, wo das Handwerk seinen goldenen Boden entdeckt, hat
es Bildung und Selbstbewußtsein genug erworben, um zur Ausübung
der Poesie und gar zur reflektierenden Aussprache seiner Gefühlswelt
ausreichend reif und kühn zu sein. Wie verschwindend sind auch seither
die Ausnahmen geblieben, daß jemand, der unter der Durchschnittsbildung
seiner Zeit steht, dichterisch ernst zu nehmende Leistungen
vollbrachte oder gar in die Entwicklung der Poesie umgestaltend,
geschweige denn neugestaltend eingriff?


  Als Träger der Bildung aber begegnet uns in Deutschland vor
dem Rittertum die Geistlichkeit. Lateinische und provenzalische
Einflüsse erscheinen so als Paten der jungen deutschen Lyrik; schon
vor der Minnedichtung und dem Kreuzlied wird die erwachende Subjektivität
zunächst in geistlichen Kreisen durch lateinisches Medium gefördert
worden sein. Für eine von je oder doch seit Jahrhunderten
organisches Leben führende, ausgebildete deutsche Volkslyrik findet sich
wissenschaftlich keine ausreichende Bezeugung. Zaubersprüche und
andere sakrale Formeln, kurze Gruß- und andere Wunschformeln, teils [153]
Jmprovisationen, teils feste, allitterierende Wendungen der Umgangsprache,
überhaupt Sprüche, die mit einer erzählenden Aussage oder
einem plastischen Vergleich einsetzen, um durch Zuspitzung auf einen
Wunsch lyrischen Accent zu erhalten, werden wir gewiß als Vorstufe
einer keimenden lyrischen Disposition ansehen dürfen. Auch mit der
Möglichkeit ist zu rechnen, daß manche Denkmäler deutscher Liebeslyrik
verloren gegangen, die schon vor dem Kürenberger im Anschluß
an deutsche Auffassung das Verhältnis der Geschlechter natürlicher
nahmen. Aber für eine eigentlich blühende deutsche Volkslyrik fehlen
in dieser Frühzeit selbst die Vorbedingungen.


  Mag eine konstruierende Aesthetik im einen oder audern Sinne
zuversichtlicher Stellung nehmen: die auf Thatsachen aufbauende Poetik
wird sich mit Feststellung und Auswertung der Denkmäler und Zeugnisse
auch für die älteste Lyrik begnügen.

§ 67.
Die deutsche Ritterlyrik.


  Was wir für die Keimelemente der deutschen Lyrik feststellen
konnten, war ein konkreter Kern in Zuspitzung auf eine Wunsch= oder
sonstige Anrufsform. Recht im Gegensatz zum Epos, aber nicht ganz
so weit entfernt von den ersten Anfängen des Götter- und Heldensanges,
blieb der Umfang gering. Noch beim Ritter von Kürenberg
läßt sich die Vorherrschaft der Einzelstrophe erkennen, doch strebt sein
Metrum bereits nach gesetzmäßiger Abgrenzung der vollen und
stumpfen Verse und ebenso gesetzmäßiger Wiederkehr bei gelegentlicher
Aneinanderreihung mehrerer Strophen.


  Auf ältere Quellen als die ausgebildete Kürenberg-Strophe weist
der Leich zurück, eine primitivere Form der Strophenbindung durch
Zusammenrücken ungleichartiger Strophen. Der Leich ist es vornehmlich,
der uns noch heute erkennen läßt, wie die deutsche Lyrik schon
vor den provenzalischen Anregungen eine Vorbereitung in lateinisch
abgefaßten Gesängen gefunden hat. Und zwar ist wiederum der religiöse
Ursprung, daneben jedoch bereits die Anlehnung an weltliche
Gebräuche unverkennbar. Aus den Sequenzen, lateinischen Kirchengesängen,
herausgebildet, aber neben Musik von Tänzen begleitet, [154]
spielten die Leiche offenbar in der Begehung religiöser Feste eine beliebte
Rolle. Die überlieferten Leiche aus der Zeit der Ritterdichtung
bewahren neben ihrer Bestimmung zum Tanz vorerst teilweise
noch den religiösen Charakter. So der Leich Walthers von der
Vogelweide:


„Got, dîner trînitate,
die ie beslozzen hâte
dîn fürgedanc mit râte,
der jehen wir mit drîunge:
diu drîe ist ein einunge.“


An dies Ausgehen von der Dreieinigkeit schließt sich mit der zweiten
Strophe eine Anrufung Gottes gegen die Macht der Sünde:


„Ein got der hôhe hêre
(sîn ie selbwesende êre
verendet niemer mêre),
der sende uns sîne lêre.
uns hât verleitet sêre
die sinne ûf menege sünde
der fürste ûz helle abgründe.“


Aehnlich verknüpft sich auch weiterhin Erzählung oder Aussage mit
Wunsch oder sonstigem Anruf:


„Sîn rât und bœses fleisches gir,
die hânt geverret, hêrre. uns dir.
sint disiu zwei dir niht ze balt
und dû der beider hâst gewalt,
sô tuo daz dînem namen ze lobe
und hilf uns daz wir mit dir obe
geligen und daz dîn kraft uns gebe
sô starke stæte widerstrebe,
  Da von dîn name sî gêret
und auch dîn lop gemêret ...“


Mit der sechsten Strophe geht der Leich in eine Verherrlichung der
Jungfrau Maria über. Zweimal reiht die Anrufung Attribut an
Attribut, um des weiteren ausgeführte Wiedergabe evangelistischer
Berichte zu bieten:


Magt unde muoter, schouwe der kristenheite nôt!

dû blüende gerte Arônes. uf gênder morgenrôt,
[155]

Ezechiêles porte, diu nie wart ûf getân,
dur die der künec hêrliche wart ûz und in gelân!
alsô diu sunne schînet durh ganz geworhtez glas,
alsô gebar diu reine Krist, diu maget und muoter was.
  Ein bosch der bran, dâ nie niht an besenget noch verbrennet
wart“ &c.
„Daz ûz dem worte erwahsen sî,
daz ist von kindes sinnen vrî:
ez wuohs ze worte und wart ein man.
dâ merkent alle ein wunder an ...“


Wie mit epischer ist der Leich stark mit lyrischer Bibelparaphrase
durchsetzt:


„Daz lamp daz ist
der wâre Crist,
dâ von dû bist
nû alle frist
gehoehet und gehêret“ &c.


So regen denn biblische Vorstellungen weitere lyrische Wendungen
des Dichters an:


„Wie kund des iemer werden rât,
der umbe sîne missetât
niht herzelîcher riuwe hât,
sît got enheine sünde lât
  Die niht geriuwent zaller stunt
hin abe unz ûf des herzen grunt?“


Die hypothetische Frageform, in der hier die Aussage auftritt, giebt
ihr lyrischen Anstrich. ─ Wer wollte das Zurückgehen auf die internationale
lateinische Kirchenpoesie in den schmuckreichen Anrufungen
verkennen:


„Nû senfte uns, frouwe, sînen zorn,
barmherzic muoter ûzerkorn,
dû frîer rôse sunder dorn,
dû sunnevarwiu clâre!
  Dich lobet der hôhen engel schar“ &c.


Jn Walthers Leich klingen schließlich selbst kirchenpolitische Zeitanspielungen
hinein:


Swaz im leides ie gewar,

daz kam von simonîe gar,
[156]
und ist er nû so friunde bar,

daz ern getar

nicht sînen schaden gerüegen ...“

  Der religiöse Leich wie der einstrophige Spruch und das aus
gleichförmigen Strophen zusammengesetzte Lied, soweit es religiösen
Jnhalts, pflegten in der Blütezeit der Ritterdichtung außer dem der
Minnedichtung angenäherten poetischen Marienkultus, der aus epischen
Elementen und lateinischen Mustern herauswuchs, besonders Aufforderungen
zum Kreuzzug. Neben des Heinrich von Rugge Leich von
dem heiligen Grabe bieten die Kreuzlieder Herrn Friedrichs von Husen
verhältnismäßig frühe Proben der religiösen Ritterdichtung. Wie nur
im 19. Jahrhundert ein Theodor Körner sein


„Pfui über dich Buben hinter dem Ofen“

ruft:


„Ein deutsches Mädchen küßt dich nicht!“

so singt der wackere Kreuzfahrer:


„Ich gunde es gûten vrowen niet
daz iemer mêre kome der tach
daz sie deheinen hâten liep:
wan ez ir êren wâre ein slach.
Wie kunde in der gedienen iet
der gotes verte alsô erschrach?“


Jn anderer Weise als in der geistlichen Minne der Mariendichtung
berührt sich hier der religiöse Stoff bereits mit dem Hauptthema der
Ritterlyrik, der Liebe.


  Auch zwischen der Minnepoesie, überhaupt der weltlichen Lyrik,
und gewissen lateinischen Zeitgedichten hat eine Beziehung statt. Die
uns vorliegenden Vagantenlieder fahrender Kleriker mögen an Alter
die überlieferten deutschen Ritterdichtungen nicht überragen, weisen
aber auf eine schon längere Zeit andauernde Tradition. Solche verbummelten
Zöglinge von Klosterschulen schlugen in der Liebes= wie
in der Zechlyrik, in der politischen wie in der kirchlich=sozialen Satire
verwegene Töne an. Nachwirkungen der griechisch=römischen Lyrik werden
hier fruchtbar und leiten Motive in die erwachende deutsche Lyrik
über. ─ Nach solcher geistlichen wie weltlichen Vorbereitung durch
die mittelalterlich=lateinische Dichtung greift die provenzalische Troubadourlyrik
ein, um die deutsche Lyrik flügge zu machen.

[157]

  Die Luft, in der sie sich danach bewegt, ist wie in Südfrankreich
halb und halb eine Traumwelt: zugrunde liegt die konventionelle
Dienstbarkeit unter dem Willen einer verehrten, meist verheiratheten
Frau. Jm Gegensatz zu der beim Kürenberger, Dietmar von Aist,
dem Burggrafen von Regensburg noch vorherrschenden natürlicheren,
organisch deutschen Auffassung der Liebe sehen wir die romanische
Galanterie bereits auf einer zweiten Entwicklungsstufe zum Siege gelangt.
Als eine neue Etappe auf dem in seiner prinzipiellen Richtung
uns bekannten Wege charakterisiert sie sich auch formell durch
größere Strenge im Versbau und der Strophengliederung sowie durch
zunehmenden Reichtum an neuen Versgebänden. Außer Friedrich von
Husen und Heinrich von Rugge gehört namentlich Heinrich von Veldeke
auch als Lyriker hierher. Der aesthetische Stil läßt nun die Reflexion
bereits weithin Raum gewinnen. So sinniert der von Veldeke abstrakt:


„Swer tô der minne es sô frôt
dat er der minne dienen kan
und er dorch minne pîne dôt,
der es ein minnesâlich man.
Van minne kumet ons allet gôt,
die minne machet reinen môt:
wat solde ich sonder minne dan?“


Auf allgemeine Wahrheiten sind auch die Dichtungen Heinrichs von
Rugge angelegt:


„Nâch frowen schœne nieman sol
ze vil gevrâgen: sint si guot,
er lâzes ime gevallen wol
und wizze daz er rehte tuot.
Waz obe ein varwe wandel hât
der doch der muot vil hôhe stât?
er ist ein ungevüege man
der des an wîbe niht erkennen kan.“


  Trotz Abnahme der unreinen Reime sind sie noch immer nicht
ausdrücklich verpönt. Hierin sowohl als in der Abstufung der Strophe
geschieht noch vor Walthers Auftreten eine weitere metrische Vervollkommnung.
Wie ja die Lieder noch durchaus zum Gesang bestimmt
sind, gliedert sich die Strophe in zwei Stollen und einen Abgesang.


  Diesem metrischen Fortschritt entspricht aber zunächst nicht unbedingt
ein innerer Aufstieg. Wohl darf man eine Vervollkommnung [158]
an virtuoser Kunstfertigkeit und von Gau zu Gau eine Zunahme des
provenzalischen Einflusses feststellen. Jm übrigen variieren die Minnesänger
naturgemäß je nach ihrer Landsmannschaft und ihrem persönlichen
Talent.


  Was Reinmar den Alten betrifft, so genießt er zwar einen besonderen
Ruhm als wahrscheinlicher Lehrer Walthers; bei ihm begegnen
wir zuerst in Oesterreich dem verfeinerten romanischen Typus der
höfischen Lyrik, wie ihn Friedrich von Husen am Rhein vertreten hat.
Reinmars Gedichte selbst sind recht farb- und gestaltenlos, Reflexion
und selbst unverkennbare Neigung zur Dialektik herrschen vor.


„Ez tuot ein leit nâch liebe wê:
sô tuot ouch lîhte ein liep nâch leide wol.
swer welle daz er frô bestê,
daz eine er dur daz ander lîden sol
mit bescheidenlîcher klage und gar ân arge site.
zer werlte ist niht sô guot deich ie gesach sô guot gebite.
swer die gedulteclîchen hât,
der kam des ie mit fröiden hin.
  alsô ding ich daz mîn noch werde rât.“


Von solcher nüchternen Spitzfindigkeit hält sich der Thüringer Heinrich
von Morungen am weitesten fern. Mit künstlerisch bewegten Rhythmen
verbindet er Gefühlsinnigkeit, Gestaltungsgabe und zarten Farbensinn.
Das Tagelied, welches überhaupt dem leidenschaftlichen Gefühl
und scenischer Plastik am weitesten Spielraum gewährt, bietet auch
diesem Dichter Gelegenheit zur Entfaltung seiner besten Gaben. Von
seiner Zeichnung hebt sich die Gestalt in treffender Farbengebung ab:


„Owê, sol aber mir iemer mê
geliuhten dur die naht
noch wîzer danne ein snê
ir lîp vil wol geslaht?
der trouc diu ougen mîn.
ich wânde, ez solde sîn
des liehten mânen schîn.
  dô tagete ez.“


Noch intimer erlebt berührt die kleine Scene der Schlußstrophe:


Owê, daz er sô dicke sich

bî mir ersehen hât!
[159]

als er endahte mich,
sô wolte er sunder wât
mîn arme schowen blôz.
ez was ein wunder grôz
daz in des nie verdrôz.
  dô tagete ez.“


Und doch handelt es sich nicht um eine unmittelbare Darstellung in
zeitlich vorschreitender Scenenfolge: nur aus der Erinnerung sind ein
paar sprechende, aber neben einander hergehende Züge zusammengestellt;
so ist die geistige Verarbeitung des Erlebten nicht folgerecht
dramatisch gefärbt, sondern beschreibend. Jmmerhin läßt sich eine
volle, wirkliche Handlung aus der Darlegung seiner Empfindungen
gewinnen, um so einheitlicher als er seine Liebe konsequent unter
ritterlichen Bildern betrachtet.


  Alle Elemente, die in der Blütezeit mittelhochdeutscher Lyrik entfesselt
waren, faßt Walther von der Vogelweide zusammen. Nicht nur
als vollendetster, auch als reichster, mannigfaltigster Dichter nimmt er
in der Entwicklung der Lyrik einen hervorragenden Platz ein. Daß
Walthers Dichtung sich nicht in Schemen verflüchtigt, daß mit der
von uns beobachteten Zunahme der Selbstversenkung und Vergeistigung
nicht notgedrungen gestaltenlose Abstraktion geboten ist, zeigt schon der
Eingang zahlreicher Lieder Walthers.


„Ich saz ûf eime steine“,
„Ich hôrte ein wazzer diezen“,
„Ich sach mit mînen ougen“


u. dgl. Dieser größte Lyriker des deutschen Mittelalters reflektiert
allerdings in ausgedehntem Maße, aber er geht von einer anschaulichen
Situation aus und kleidet sein Sinnen möglichst weit in plastische
Bilder. Bisweilen bleibt die Anknüpfung äußerlich: so verkörpert
in dem bekannten Gedicht sein Sitzen auf dem Steine nur
die Situation, in welcher er nachgedacht. Bedeutsamer sind die Betrachtungen,
die unmittelbar aus der Situation selbst herauswachsen,
von ihr angeregt sind:


„Ich hôrte ein wazzer diezen
und sach die vische vliezen:
ich sach swaz in der werlte was,
velt unde walt, loup, rôr und gras.“

[160]

Da sah er denn, daß von den Geschöpfen keines ohne Haß lebt,
aber ─ sie haben ihre Ordnung, sie wählen sich ihre Führer, denen
sie sich unterordnen. Und damit ist die Ueberleitung gegeben.


„Sô wê dir, tiuschiu zunge,
wie stêt dîn ordenunge,
daz nû diu mugge ir künec hât
und daz dîn êre alsô zergât!“


Jn der Entfaltung der Gedanken gewinnt die Allegorie weiteste
Ausdehnung; ein einheitliches Bild gelangt zu künstlerischer Durchführung:



„Jâ leider desn mac niht gesîn,
daz guot und werltlich êre
und gotes hulde mêre
zesamene in ein herze komen.
stîg unde wege sint in benomen:
untriuwe ist in der sâze,
gewalt vert ûf der strâze,
frid unde reht sint sêre wunt:
diu driu enhabent geleites niht, diu zwei enwerden ê gesunt.“


Wie eine aufjubelnde Empfindung von einer plastischen Phantasie alsbald
in gegenständliche Darlegungen, zum teil in direkte Erzählung
hinübergeleitet wird, zeigt fast jede Strophe.


„Ich hân mîn lêhen, al die werlt! ich hân mîn lêhen!“


Mit diesem Ausruf kennzeichnet der Beginn des Spruches den Keim
dieses Gedichtes. Jndem Walther nun die Folgen des ausgerufenen
Ereignisses abmißt, tritt in Kontrastwirkung sein bisheriges armseliges
Leben mit rührender Deutlichkeit hervor:


„Nû enfürhte ich niht den hornunc an die zêhen
und wil alle bœse hêrren deste minne vlêhen.
der edel künic, der milte künic hât mich berâten,
daz ich den sumer luft und in dem winter hitze hân.
mîn nâhgebûren dunke ich verre baz getân:
sie sehent mich niht mêr an in butzen wîs alsô sie tâten ...“


Aeußere Erlebnisse, die zum Keim eines Liedes werden, ziehen oft in
voller Anschaulichkeit an uns vorüber, so daß durch die Erreger der
Stimmung diese auch in uns unmittelbar erzeugt wird. Hier ragt
als einer der Gipfel von Walthers Poesie empor:


„Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr?“

[161]

Der Dichter kehrt auf den Schauplatz seines Jugendlebens wieder,
findet aber nicht mehr, was er einst zurückgelassen:


„Liut unde lant, dâ ich von kinde bin erzogen,
die sint mir frömde worden, reht als ez sî gelogen.
die mîne gespilen wâren, die sint traege unt alt:
bereitet ist daz velt, verhouwen ist der walt ...“


Ohne daß eine wortreiche Analyse der Gefühle erfolgt, teilt sich uns
die Wehmut mit, die solche Wahrnehmungen hervorrufen. Wir erkennen
abermals, daß ein Gefühl mitgeteilt werden kann, ohne zu
reflektierender Aussprache zu gelangen, ja daß die gegenständlichste
Wiedergabe der erregenden Momente die unmittelbarste
und wirksamste Form poetischer Darstellung auch in der
Lyrik bleibt.
Der lyrische Accent wird am Schluß der Strophe
wie an ihrem Beginn durch einen kurzen Ausruf: „owê!“ beigebracht,
der als Refrän wiederkehrt.


  Nicht anders verfährt die Krone der vorgoetheschen Lyrik, Walthers
Liebeslied: „Under der linden“. Die Darstellung erzählt
den vollen Verlauf einer anmutigen Natur- und Liebesscene. Zunächst
werden wir, die Hörer, durch direkte Ansprache in die Situation
eingeführt:


„Under der linden
an der heide,
dâ unser zweier bette was,
dâ muget ir vinden
schône beide
gebrochen bluomen unde gras.“


Schon der Schluß der ersten Strophe geht in Belebung der Scene über:


Vor dem walde in einem tal

schône sanc diu nahtegal“;

nur daß zwischen die beiden letzten Verse als Refrän eine Jnterjektion:
tandaradei“ geschoben ist, die einstweilen der einzige
Gefühlsausbruch bleibt. Jn Erzählung der Begegnung, immer aus
dem Munde der Geliebten, schreiten die beiden folgenden Strophen vor:


Ich kam gegangen

zuo der ouwe:
[162]

was mîn vriedel komen ê.
wart ich enpfangen,
hêre vrouwe!
daz ich bin sælic iemer mê.“


Nur mit dieser Wendung ist der äußere Vorgang auf die Gemütswirkung
zugespitzt.


  Neben solchen Blüten gegenständlicher Gefühlsvermittlung fehlt
es aber nicht an zahlreichen ganz oder halb didaktischen Dichtungen.
Wie Walther überhaupt viel sinnt und trachtet, spricht er auch direkte
Lehren aus:


„Niemen kan mit gerten
kindes zuht beherten ...
  Hüetet iuwer zungen:
daz zimt wol den jungen“


u. a. Seine vielen politischen und kirchenpolitischen Dichtungen bewahren
zwar noch weithin gegenständliche Zeichnung des Thatbestandes
als Unterlage für eigenen Gefühlsausbruch; oft aber tönen sie wie
zugespitzte Pfeile aus, die einem ferneren Ziele tendenziös zustreben,
um zu bestimmten praktischen Zwecken fortzureißen, auch wohl um
aus persönlichem Anlaß zu loben oder zu tadeln.


Ir fürsten, die des küneges gerne wæren âne,

die volgen mîme râte: in râte in niht nâch wâne.“

Besonders einstrophige Gedichte, die inzwischen den bezeichnenden
Namen Spruch angenommen haben, sind die beliebte Form für die
lyrische Tendenzdichtung.


  Doch auch die Spruchdichtung sehen wir eine Entwicklung vom
Gegenständlichen zum Abstrakten, vom Besonderen zum Allgemeinen
durchmessen. Die ältesten Nummern der unter Spervogels Namen
gehenden Sprüche sind im Stoff reich an persönlichen Geständnissen
sowie im Stil an erzählender und bildkräftiger Darstellung.


Ich sage iu, lieben süne mîn,

iun wahset korn noch der wîn,

ichn kan iu niht gezeigen

diu lêhen noch diu eigen.“

Auf dieser thatsächlichen Grundlage erscheint der Wunsch berechtigt:


Nû gnâde iu got der guote,

und gebe iu sælde unde heil.“
[163]

So beklagt der Dichter ferner die Mühsal seines Alter und seine
Armut in gegenständlicher, allein durch Ausrufungsform lebhafter
auf Gefühlseindruck hingewandter Erzählung:


„Wie sich der rîche betraget!
sô dem nôthaften waget
dur daz lant der stegereif.
daz ich ze bûwe niht engreif,
dô mir begonde entspringen
von alrêrste mîn bart!
  des muoz ich nû mit arbeiten ringen.“


Damit bekundet sich deutlich die ursprünglich durchaus nicht spezifisch
didaktische Bestimmung der Einzelstrophe. Für die Ursprünge der
neuen Dichtungsform sind weiterhin eine Reihe religiöser Strophen
charakteristisch. Auch die Form der Tierfabel benutzt der alte
Spervogel zu unaufdringlich sinnreicher Erzählung. Schon die jüngeren
Sprüche der Spervogel-Gruppe gehen indes ausschließlicher auf
allgemeine Lehren aus:


„Swer in fremeden landen vil der tugende hât,
der solte niemer komen hein, daz wær mîn rât.“
„Man sol den mantel kêren als daz weter gât.
ein frumer man der habe sîn dinc als ez dâ stât.
sîns leides sî er niht ze dol,
sîn liep er schône haben sol“ &c.


Es leuchtet nun ein, daß ein solcher Gang der Entwicklung eine letzte
Folge aus den Keimen der Lyrik darstellt. Neben die Thatsachen
sehen wir zunächst einen Gefühlsausbruch treten; der einzelne Accent
weitet sich zu längerer Reflexion: nicht die Blüte, aber die Ueberreife
bezeichnet es, wenn unter Zurückdrängung der gefühlserregenden Thatsachen
die Mitteilung der Gefühle den ausgesprochenen didaktischen
oder doch tendenziösen Zweck annimmt, die Hörer mit denselben
Gefühlen zu erfüllen. Die Blütezeit haben wir in der Harmonie
zwischen den beiden Elementen der Darstellung zu sehen, in der vollen
geistigen Durchdringung der Thatsachen, in der vollen thatsächlichen
Veranschaulichung der geistigen Empfindungen.

[164]

§ 68.
Die deutsche Volkslyrik.


  Zwei auffallende Erscheinungen beleuchten das Verhältnis der
Ritterlyrik zur Volkslyrik. Die Teilnahme nichtritterlicher Sänger an
der modischen Minnedichtung galt als verpönt. Ja, in ihrer Spätzeit
verspottet diese ausdrücklich die einreißende Nachäffung ihrer Motive
in Volkskreisen. Beide Umstände verstärken die Zweifel an der Priorität
einer ausgebildeten und ausgedehnten Volkslyrik zur Verherrlichung
der Liebe oder ähnlicher Empfindungen.


  Wie sie uns entgegentritt, ist die Volkslyrik jedenfalls ein Ausfluß
der mit Zersetzung der ritterlichen Jdeale vor sich gehenden Erstarkung
des Bürgertums. Jst die Volkslyrik des 14. bis 17. Jahrhunderts
doch zum guten teil Standeslyrik: das Handwerk, ja die
einzelnen Gewerke, überhaupt die bürgerlichen Berufszweige kommen
zu Wort, die typischen Hauptereignisse des bürgerlichen Lebens suchen
Ausdruck in der Poesie: noch weithin erzählend, aber zum teil von
Gefühlsergüssen durchbrochen, zum teil ausdrücklich auf Gefühlseindruck
gestellt.


  Denn mehr noch als die Gemeinsamkeit bestimmter Motive weist
auf die vorhergehende Ritterlyrik zurück: gewiß hat die tiefer empfindende
Minnedichtung nicht nur aus provenzalischen Quellen, sondern
auch aus dem allgemeinen, natürlichen deutschen Volksempfinden geschöpft;
gewiß hat andererseits die spätere Volkslyrik einzelne in der
Ritterdichtung ausgebildete Elemente übernommen ─ wie selbst die
Tagelieder. Was beide Aeußerungsformen früher deutscher Lyrik
indes vor allem zusammenrückt, ist die Vortragsweise, die Bestimmung
für den Gesang. So geschieht es, daß liedartige Anschaulichkeit und
melodischer Bau sich noch immer vereinen. Während aber die fremden
Muster wie die Ausflüsse kunstmäßiger Bildung die Minnelyrik
schnell mit Reflexion und Abstraktion durchsetzen, hält die Lyrik der
untern Stände, deren Bildung organischer und langsamer heranreift,
mit größerer Zähigkeit die quellfrische Schlichtheit und dramatische
Anschaulichkeit des Liedes fest.


  So bewahrt denn diese Volkslyrik zahlreiche formelhafte Elemente.
Namentlich sind eine ganze Reihe wiederkehrender Eingangs= [165]
und Ausgangsformeln ausgebildet. Mit einer Naturdarstellung oder
einem Naturbild einzusetzen, liebte auch die Ritterdichtung ─ bei uns
wie in der Provence. Aber auch sonst begegnen oft bestimmte Lieblingswendungen.
Sehr verbreitet ist eine Begrüßung: „Nun grüß
dich Gott“, „nun gesegen euch Gott“ u. dgl. Oder die sofortige
Nennung des Themas wird durch eine typische Frage herausgefordert:


„Was woll'n wir aber heben an?

Ein neues Lied zu singen;

Wir singen von einem schwarzen Mönch

Und seiner Nähterinnen.“

Daran schließt sich unmittelbar die Erzählung. ─ Ueberhaupt sind
Fragen als lebhaftes Mittel der Einführung beliebt.


„Schwarzbraunes Aeugelein,

Wo wendest du dich hin?“ ─

„Mädel, warum betrübst du dich,

Dieweil ich muß verlassen dich?“ ─

„Wo find' ich deines Vaters Haus?“

Sofort ist die Antwort herausgefordert und damit der dramatischdialogische
Charakter gegeben. ─ Unter den Ausklangsformeln gewinnt
weiteste Verbreitung die Frage nach dem Dichter:


  „Ach Gott, wer hat dies Lied erdacht?

Es haben's gesungen

Drei Jägersjungen

Zu guter Nacht.“ ─

  „Wer ist's, der uns dies Liedlein sang?

So frei ist es gesungen.

Das haben drei Jungfräulein gethan

Zu Wien im Oesterreiche.“

Auch wohl ohne direkte Frage erfolgt eine allgemeine, oft fingierte
Angabe der Autorschaft:


„Dies Liedlein, ach, ach!

Hat wohl ein Müller erdacht;

Den hat des Ritters Töchterlein

Vom Lieben zum Scheiden gebracht.“

Nicht selten zieht der Schluß die allgemeinen Folgen oder selbst Lehren
der lyrisch zugestutzten Erzählung:

[166]
„So geht's, wenn ein Mädel zwei Knaben lieb hat,

Thut wunderselten gut;

Das haben wir beid erfahren,

Was falsche Liebe thut.“

Didaktisch in eine Moral von der Geschicht mündet die Schlußbetrachtung:



„Also ein böses Weib wohl kann

Bös machen einen frommen Mann.“

Nachdem so zunächst die allgemeine Wahrheit aus dem konkreten Fall
gezogen, geht der Dichter zur subjektiven Erörterung der Folgen über:


„Hat diese Frau durch Schläge sich

Bekehrt, das soll fast wundern mich.“

Allgemeine Begründung:


„Denn man schlägt wohl 'raus einen Teufel,

Sechs aber drein ohn' allen Zweifel.“

Und nun ein ausdrücklich didaktischer Antrieb:


„Doch die dem Mann nicht folget bald,

Die soll er schlagen warm und kalt.“

  Jnmitten der Darstellung ist die Frageform kaum minder beliebt
als am Eingang und Schluß.


„Es wollt ein Mädchen Rosen brechen gehn,

Wohl in die grüne Haide.

Was fand sie da am Wege stehn?

Eine Hasel, die war grüne.“

Jm folgenden setzt eine Unterhaltung des Mädchens mit der Hasel
ein; aber schon in dieser Einführungsstrophe färbt der Dichter seine
Erzählung dialogisch: die Frage ist gleichsam den Hörern vom Munde
gelesen, Ausdruck ihrer lebhaften, gefühlvollen Teilnahme.


  Wie im alten Heldensang nimmt die Antwort gern die Wendungen
der Frage auf, wie überhaupt Wiederholungen und paralleler
Satzbau ein beliebtes Darstellungsmittel bilden:


  „‚Guten Tag, guten Tag, liebe Hasel mein;

Warum bist du so grüne?' ─

‚Hab Dank, hab Dank, wackres Mägdelein;

Warum bist du so schöne?' ─
[167]
  ‚Warum daß ich so schöne bin,

Das will ich dir wohl sagen:

Jch eß weiß Brot, trink kühlen Wein,

Davon bin ich so schöne.' ─

  ‚Jßt du weiß Brot, trinkst kühlen Wein,

Und bist davon so schöne:

So fällt alle Morgen kühler Tau auf mich,

Davon bin ich so grüne.'“

Der formelhafte Zug greift nicht minder auf die Motive über. Zahllose
Themata und in ihrer Behandlung ganz bestimmte Situationen
kehren konventionell wieder. So ist eine Art typisch, in welcher der
Buhle vom Mädchen scheidet: er läßt der Weinenden einen Ring zurück.


„Da zog er ab der Hande von Gold ein Fingerlein!

‚Seh hie du mein feins Magetlein! darbei gedenkst du mein!'“

Aehnlich:


„Was zog er von den Handen sein?

Von rotem Gold ein Fingerlein.

‚Nimm hin, mein Lieb, wohl zu der Letz,

Damit dich deines Leids ergötz ...'“

Das Verlieren des Kranzes, die unstete Art der wandernden Burschen
und vieles mehr sucht gern typische Wendungen.


  Was der erzählenden Grundlage vor allem einen lyrisch=musikalischen
Anstrich giebt, ist der Refrän. Er bedeutet keineswegs nur
einen äußeren Schmuck, läßt vielmehr ein Leitmotiv wiederklingen.


„Es hatt' ein Schwab ein Töchterlein,

Es wollt' nit länger dienen.

Sie wollte nur Rock und Mantel han,

Zween Schuh mit schmalen Riemen.

  O du mein feins Elselein!“

Daß Elses Streben nach feinem Auftreten sie zugrunde richtet, klingt
denn fortgesetzt in dem Schlußrefrän, schließlich ironisch, durch. ─
Auch gleich am Beginn der Strophe kann der Refrän stehen:


  „Nächten, da ich bei ihr was,

Schwatzten wir dann dies, dann das ...

  Nächten, da ich von ihr scheid,

Freundlich wir uns herzten beid“ etc.
[168]

Hier ─ wie auch sonst bisweilen ─ löst sich der Wiederklang auf,
um in der Schlußstrophe seinem Gegensatz das Feld zu räumen: desto
zugespitzter tritt hervor, daß der Refrän den Grundton heraushob.


„Heute, da ich zu ihr kam,

Da war alles wieder zahm,

Bösen Bescheid ich da bekam,

Mußt abziehn mit Spott und Scham.“ ─

Auch wo nicht eine bestimmte Geschichte den Ausgangspunkt der Gefühlserregung
bildet, kleidet sich der Gefühlsausbruch meist in erzählenden
Schein.


  „Jch ritt mit Lust durch einen Wald,

Da sangen die Vöglein jung und alt.

  Sie sangen so lang, bis mich's verdroß,

Da fielen drei Röslein mir in den Schoß.

  Nun sag, nun sag, gut Röslein rot!

Lebt noch mein Buhl, oder ist er tot?“

Ersichtlich dienen hier die äußeren Erscheinungen aus der Tier= und
Pflanzenwelt zum teil nur als Symbole für die widerstreitenden
Empfindungen des Dichters:


  „Und sterb' ich dann, so bin ich tot,

So begräbt man mich unter die Röslein rot.

  So begräbt man mich unter dieselbe Stätt',

Da mir mein Buhl die Treu uffgeben hätt'.“

Die Wehmut über den Treubruch teilt sich uns eindringlicher mit,
weil sie in anschaubaren Vorstellungen, nicht in bloßen Klagen entwickelt
ist. ─ Freilich nimmt allmählich ─ so weit eine zeitliche Abgrenzung
dieser Volkslieder überhaupt möglich ─ der Zug ins Allgemeine
zu, so daß anstelle bestimmter Vorgänge der Grundzug
dauernder Zustände tritt. Doch noch immer bleibt ein erzählender
oder sonst plastischer Kern bewahrt. Die Weber singen:


„Früh morgens, wenn der Tag bricht an,

Hört man uns schon mit Freuden

Ein schönes Liedlein stimmen an

Und wacker drauf arbeiten.

Die Spule, die ist unser Pflug,

Das Schifflein ist das Pferde“ etc.
[169]

Studentenart wird gekennzeichnet:


„Schlimm Leut sind Studenten, man sagt's überall;

Obwohl sie schon kommen im Jahr nur einmal,

So machen 's ins Dorf so viel Unruh und Mist,

Daß uns die erste Woche schon weh dabei ist.“

Ebenso weicht der musikalisch bewegte Strophenbau stellenweise einförmiger
Regelmäßigkeit. Jnzwischen bahnt der Meistersang der
Gewerke, der sich in verkünstelten Tönen und Weisen gefällt, den
Uebergang zu abstrakter Rhetorik an.

§ 69.
Liedartige Lyrik in neudeutscher Zeit.


  Schon durch seinen vorherrschend didaktischen Charakter fällt der
Meistersang aus dem Wesen des Liedes heraus. Seine Stoffe entnimmt
er meist religiösem Gebiet. Jn den schlichten Ton des Liedes
lenkt erst Luther die geistliche Lyrik zurück. Der Meistersang war
dem Prinzip nach Einzelgesang in schärfster Ausprägung des originalitätslüsternen
Einzelgeistes. Das Kirchenlied wird schon wegen seiner
Bestimmung zum Gemeindegesang dem Herzen des Volkes genähert,
ja aus dem Herzen des Volkes geschöpft.


  Ueberraschend weit berührt sich denn auch das Luthersche Kirchenlied
mit dem Stil des weltlichen Volksliedes. Aus diesem sind unmittelbar
eine Reihe typischer Wendungen übernommen:


„So hört und merket alle wohl“;

„Jch bring euch gute neue Mär,

Der guten Mär bring ich so viel.

Davon ich singen und sagen will“;

„Merk auf, mein Herz, und sieh dorthin“;

im Lied von den zween Märtyrern gar:


„Ein neues Lied wir heben an“

und zahlreiche weitere Elemente des Volksliedes. Auch Fragen und
sonst dialogische Form sucht das Kirchenlied, vor allem aber gern den
Refrän. Luther und seine unmittelbaren Nachfolger sind reich an
plastischen Bildern und selbst scenischen Einkleidungen. So führt das
Trutzlied des Protestantismus „Ein feste Burg“ die bildlichen Vorstellungen [170]
des 46. Psalms folgerecht durch und giebt dadurch dem
Gedicht den vollen Charakter eines dröhnenden, teils direkt waffenklirrenden
Kampfliedes.


  Großartige Gestaltungsgabe offenbart auch das katholische geistliche
Lied des 17. Jahrhunderts, die Lyrik der Spee und Scheffler.
Aber es ist nicht mehr unbedingt religiöser Volksgesang, Empfindungen
des Einzelnen brechen durch. Das gilt auch bis zu einem gewissen
Grade von dem protestantischen Sänger Paul Gerhardt. ─
Sehr lehrreich ist, die weitere Entwicklung bis Gellert zu verfolgen:
der Verstand greift oft reflektierend in das Reich des Gefühls ein,
statt auf Anschaulichkeit ist weithin auf abstrakte Moral hingearbeitet,
die melodiöse Gewalt ist meist durch äußerlich rhetorische Lebhaftigkeit
ersetzt.


„Wie groß ist des Allmächt'gen Güte!

Jst der ein Mensch, den sie nicht rührt?

Der mit verhärtetem Gemüte

Den Dank erstickt, der ihm gebührt?“

Das wäre nachgedacht, reflektiert.


„Nein, seine Liebe zu ermessen,

Sei ewig meine größte Pflicht.

Der Herr hat mein noch nie vergessen;

Vergiß, mein Herz, auch seiner nicht.“

Verstand und Moral kommen hier zu Worte, kein Gefühl, am wenigsten
ein konkret sich bethätigendes Gefühl. ─


  Das weltliche Lied zeigt anfangs den Kampf volkstümlicher
und fremder Elemente einerseits, volkstümlicher und individueller Elemente
andererseits. Die fremden, modernen wie antiken Einflüsse
siegen nur vorübergehend, auf die Dauer gründet sich aber die Herrschaft
der Jndividualität. Formelle Dramatik ─ durch dialogische und
scenische Elemente ─ lebt von je im Wesen des sangbaren Liedes:
erst die neuere Epoche zeitigt aber die dramatische Psychologie,
die Zerlegung der Volksseele in verschieden empfindende Jndividuen.
So gewinnt auch die Lyrik eine ausgeprägt individuelle Färbung.


  Meisterhaft bildet diesen Stil Goethe aus. Er wagt es mit
Bewußtsein, seine eigensten Leiden und Freuden zu künden. Auch
wo bei den besten Minnesängern eigene Erlebnisse die konventionellen [171]
Motive durchdringen, bleibt es im wesentlichen bei typischen Vorgängen,
bei allgemeingültigen Situationen. Goethe prägt grundsätzlich
Eigenart der Seele, volle Persönlichkeit aus. Vom Liebenden gedichtet,
von der Geliebten selbst gesungen, knüpfen seine Lieder oft an
außergewöhnliche, ganz besondere, bisweilen geradezu einzig dastehende
Verhältnisse an.


  „Warum ziehst du mich unwiderstehlich,

Ach, in jene Pracht?

War ich guter Junge nicht so selig

Jn der öden Nacht? ...

  Bin ich's noch, den du bei so viel Lichtern

An dem Spieltisch hältst?

Oft so unerträglichen Gesichtern

Gegenüber stellst? ...“

Nur die sonderbaren gesellschaftlichen Verhältnisse von Lillis Familie
erklären das Gedicht.


  „Jm Felde schleich ich still und wild,

Lausch mit dem Feuerrohr,

Da schwebt so licht dein liebes Bild,

Dein süßes Bild mir vor!

  Du wandelst jetzt wohl still und mild

Durch Feld und liebes Thal,

Und ach, mein schnell verrauschend Bild,

Stellt sich dir's nicht einmal?“

Werden schon durch diese Eingangsstrophen die beiden einst sich Liebenden
leise kontrastiert, so giebt die Folge eine individuelle Ausmalung
dieses Gegensatzes:


„Des Menschen, der die Welt durchstreift

Voll Unmut und Verdruß,

Nach Osten und nach Westen schweift,

Weil er dich lassen muß.

Dagegen Lillis Bild:


„Mir ist es, denk' ich nur an dich,

Als in den Mond zu sehn,

Ein stiller Friede kommt auf mich,

Weiß nicht, wie mir geschehn.“

Eines solchen „Jägers Abendlied“ ─ wie das Gedicht sich betitelt ─ [172]
klingt danach aus ganz andern Voraussetzungen als die Jägerlieder
der volkstümlichen Standeslyrik.


  Auf die individuelle Sonderung bleibt die psychologische Vertiefung
nicht beschränkt. Die Vergeistigung greift in Goethes Liedern
bis zu den Abgrundtiefen der Menschenbrust: Schuld und Qual und
dämonische Wildheit weiß er ebenso zu ergründen wie zarteste Reinheit
und Seelenmilde. Da bei ihm, der nach Herders Lehre entschlossen
auf den melodischen und dramatischen Charakter des Volksliedes
zurückgeht, die Plastik und Erzählung bis zu gestaltenreicher
Handlung vorschreitet, geschieht wiederum und in erhöhtem Maße eine
klassische Beseelung der Erscheinungen: es ist nicht nur die äußere
Gestalt, ebenso wenig nur die Seele, in die wir Einblick gewinnen:
es ist die beseelte Gestalt. Wie wenig erfahren wir von der geistigen
Beschaffenheit, von dem Seelenleben der Geliebten eines Walther
von der Vogelweide! Das Lied „Under der linden“ läßt sie
als frisches junges Geschöpf erscheinen, das, von des Liebsten Begrüßung
beseligt, unter hellem Lachen ihm in die Arme sinkt und
dennoch sich schämen würde, hätte ihre Liebe andere Zeugen gefunden
als die Nachtigall, die ihnen sang. Damit vergleiche man das seelenvolle
Bild, das uns „Jägers Abendlied“ vermittelte, wie andere Gedichte
an Lilli die verwöhnte Gesellschaftsdame hervortreten lassen.
Aehnlich bereits die Lieder auf Friederike.


„Erwache, Friederike,

Vertreib die Nacht,

Die einer deiner Blicke

Zum Tage macht!“

Oder:


„Ein rosenfarbnes Frühlingswetter

Umgab das liebliche Gesicht,

Und Zärtlichkeit für mich ...“

Vor allem erschließt der Dichter immer und immer sein eigenes
Seelenleben. Auch wo die äußere Gestalt entschwunden und die Dichtung
ganz auf Darstellung des Seelenlebens gestellt scheint, ist oft
mit Vollendung eine Scenerie entfaltet, in die wir die Gestalt hineinzudenken
haben, weil aus jener Umgebung die Stimmung herauswächst.

[173]
„Füllest wieder Busch und Thal

Still mit Nebelglanz,

Lösest endlich auch einmal

Meine Seele ganz,

Breitest über mein Gefild

Lindernd deinen Blick,

Wie des Freundes Auge mild

Ueber mein Geschick.“

Tritt schon damit der Mond in ─ sofort vergeistigte ─ Beziehung
zu der Gestalt des Dichters, so wird in der Folge die Scenerie noch
breiter ausgemalt. Ein weiterer Stimmungserreger tritt hinzu:


„Fließe, fließe, lieber Fluß!

Nimmer werd' ich froh,

So verrauschte Scherz und Kuß,

Und die Treue so.“

Entsprechend ist auch ferner die scenische Anregung aufs Geistige
gewandt.


  Oft entfaltet Goethe seine Stimmungen direkt in handlungsvoller
Erzählung, welche die gesamte Natur beseelt und in Beziehung
zum Menschengeist setzt.


„Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!

Es war gethan, fast eh gedacht;

Der Abend wiegte schon die Erde,

Und an den Bergen hing die Nacht:

Schon stand im Nebelkleid die Eiche,

Ein aufgetürmter Riese da,

Wo Finsternis aus dem Gesträuche

Mit hundert schwarzen Augen sah.“

Jn vollem Leben sehen wir die Naturmächte vor uns: die Vergeistigung
hat nicht bei der Darstellung des Menschen Halt gemacht, Seele
durchweht das All. So verschmilzt Goethes Lyrik zu einer höheren
Einheit die reifen Früchte der Bildung mit dem elementar melodischen
und schlicht bildkräftigen Zuge des Volksliedes.

§. 70.
Litterarische Lyrik.


  Neben Goethe wirkten andere Stürmer und Dränger, besonders
Lenz, und der Göttinger Dichterkreis, vor allem Bürger, in gleichem [174]
Sinne, alsdann die jüngeren Anhänger der Romantik und die aus
ihr hervorgegangenen Dichtergruppen.


  Dennoch ist der rhetorische Zug zur Vorherrschaft in der deutschen
Lyrik gelangt. Noch viel einschneidender als in der Epik beeinflußt
der Wechsel der Vortragsart den Stil der Lyrik. Seit
Beginn der Neuzeit dehnt sich neben dem gesungenen Lied eine Lyrik
aus, die nicht mehr zum Singen, sondern zum Lesen bestimmt ist.
Damit schwindet die Nötigung zu abgerissener Kürze, zu melodiöser
Bewegung, zu plastischer Anschaulichkeit. Das zunehmende Abstraktionsvermögen
kann sich schrankenlos ausleben, die Gleichförmigkeit und
Eintönigkeit des Metrums ohne Rücksicht auf musikalische Verwendbarkeit
durchgeführt werden. Dafür bietet sich als Schmuck die lebhafte
und schwungvolle Färbung des rednerischen Stils, Wohllaut und Wirksamkeit
der bloßen Worte.


  Zu glänzender Durchführung und fortreißender Wirkung hat
Schiller diesen Stil ausgebildet. Er neigt zur poetischen Reflexion
über abstrakte Begriffe:


„Drei Worte nenn' ich euch, inhaltschwer,

Sie gehen von Munde zu Munde;

Doch stammen sie nicht von außen her,

Das Herz nur giebt davon Kunde.

Dem Menschen ist aller Wert geraubt,

Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt.

  Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei ...

  Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall“ etc.

Selbst die Spiegelung konkreter Lebensverhältnisse mündet in überredende
Aussprache allgemeiner Wahrheiten; anderen Orts ist ein
gegenständlicher Kern ganz von ethischen Antrieben umflossen:


„Denn wo das Strenge mit dem Zarten,

Wo Starkes sich und Mildes paarten,

Da giebt es einen guten Klang.

Drum prüfe, wer sich ewig bindet,

Ob sich das Herz zum Herzen findet!

Der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang.“

An diese Aussprache von Lebensweisheit schließt sich zunächst eine Art
gegenständlicher Versinnbildlichung:

[175]
„Lieblich in der Bräute Locken“

─ die Mehrheit Bräute verrät schon den allgemeinen Charakter ─


„Spielt der jungfräuliche Kranz,

Wenn die hellen Kirchenglocken

Laden zu des Festes Glanz.“

Alsbald wird in eine, wennschon sehr wirksam plastische Ausdeutung
des Thatbestandes übergelenkt:


„Ach! des Lebens schönste Feier

Endigt auch den Lebensmai,

Mit dem Gürtel, mit dem Schleier

Reißt der schöne Wahn entzwei.“

Auch weiterhin findet eines Schiller plastische Phantasie Bildlichkeit
des Ausdrucks:


„Die Leidenschaft flieht,

Die Liebe muß bleiben;

Die Blume verblüht,

Die Frucht muß treiben.“

Aber es wird begreiflich, wie dieser Stil unter minder schöpferischen
Händen zu abstrakter Verflüchtigung entartete, selbst wo es die Aussprache
individueller Empfindungen gilt. So reflektiert August Wilhelm
Schlegel:


„Und wär' in Nacht und Nebeldampf

Auch alles rings erstorben,

Dies Herz hat längst für jeden Kampf

Sich einen Schild erworben.

Mit hohem Trotz im Ungemach

Trägt es, was ihm beschieden.

So schlummr' ich ein, so werd' ich wach,

Jn Lust nicht, doch in Frieden.“

Wenigstens vermag Erzählung innerer Erlebnisse die Reflexion anschaulicher
zu gestalten; so wenn Freiligrath schreibt ─ es ist ein
Anachronismus, zu sagen: singt:


„Allein allein! ─ und so will ich genesen?

Allein, allein! ─ und das der Wildnis Segen?

Allein, allein! ─ o Gott, ein einzig Wesen,

Um dieses Haupt an seine Brust zu legen!

  Jn meinem Dünkel hab ich mich vermessen:

Jch will sie meiden, die mein Treiben schelten ...

  Ein einzig Jahr hat meinen Stolz gebrochen ...“
[176]

Mit Vorliebe aber benutzt man die litterarische Lyrik zu einfacher
Aussprache, Erzählung oder Entwicklung von Gefühlen und inneren
Erlebnissen. Jn Geibels „Abschied von Lindau“ heißt es:


„Du bist mir hold gewesen;

So nimm des Gastes Dank,

Der hoffnungsvoll Genesen

Aus deinen Lüften trank“ u. s. f.

Natürlich sind die Grenzlinien zum Lied fließend, wie denn gerade
Geibel auch Material für den lebendigen Gesang geliefert hat.


  Auch wo die Rhetorik nicht einmal mehr Stimmungen, sondern
gewisse Ansichten vermitteln will, bewahrt sie die lyrische Grundform
des Wunsches und Anrufes.


„Reißt die Kreuze aus der Erden!

Alle sollen Schwerter werden!“

lautet ein revolutionärer Refrän Herweghs. Eine ähnliche Form liegt
seinem Ruf zugrunde:


„Sie sollen alle singen

Nach ihres Herzens Lust;

Doch mir soll fürder klingen

Ein Lied nur aus der Brust:

Ein Lied, um dich zu preisen,

Du Nibelungenhort,

Du Brot und Stein der Weisen,

Du freies Wort! ...

  O jagt einmal die Raben

Aus unsern Landen fort,

Und sprecht: Jhr sollt es haben,

Das freie Wort!“

  Wie die jungdeutsche hat die jüngstdeutsche Lyrik uns im allgemeinen
noch tiefer in tendenziöse Rhetorik hineingeführt.


  Jn der französischen Lyrik hat vollends rednerische Deklamation
gesiegt, obschon es auch in der Neuzeit nicht an einzelnen Liederdichtern
wie Béranger gefehlt hat.

§ 71.
Wesen und Wandlungen der Lyrik.


  Die Lyrik ist nicht mehr, wie die Epik, ihrem Wesen nach auf
Erzählung vergangener Thatsachen gestellt, geht vielmehr auf Aus= [177]
sprache gegenwärtiger Empfindungen aus, obschon sie die
Erzählung von Erlebnissen als gefühlserregenden Momenten noch
weithin beibehält. Die Lyrik ist Kundgabe und Vermittlung
lebhafter Empfindungen über einen dargestellten, allgemeiner
Teilnahme würdigen Gegenstand.


  Aus epischem Charakter tritt die Erzählung schon durch Zuthat
von Jnterjektionen, Aus- und Anrufen zum Ausdruck und Vermitteln
von bestimmten Empfindungen über den dargestellten
Gegenstand
heraus. Mit zunehmendem Reflexionsvermögen wächst
der Gefühlsausbruch an Ausdehnung und Differenzierung. Ziel wird:
die Vermitlung von Gefühlen durch vollendet objektive
Darstellung der gefühlserregen den Momente.


  Ueber diese Harmonie zwischen Außen- und Jnnenwelt wächst
die lyrische Form ihrer Verflüchtigung entgegen durch immer ausschließlichere
Aussprache der Empfindungen selbst, unter Beiseiteschiebung
der sie anregenden oder begleitenden Thatsachen und Vorgänge.
Diese Entwicklung kann durch fremde Einflüsse beschleunigt werden.


  Zu der religiösen gesellt sich die weltliche Lyrik. Mit zunehmender
Ausbreitung der Kultur geht die Ausübung der lyrischen
Dichtkunst von den oberen Ständen in weitere Volkskreise, die vordem
über sporadische Ansätze zu Gefühlsinterjektion nicht wesentlich hinausgelangt
scheinen. Ursprünglich durchaus für den Gesang, zunächst
sogar unter Jnstrumentalbegleitung, bestimmt ─ Lyrik von Lyra ─,
erfährt sie eine epochemachende, wennschon nicht heilsame Bereicherung
durch Hinzutritt litterarischer Lyrik, deren Stil sich entsprechend der
veränderten Vortragsart gestaltet.


  Zunächst zielt die Lyrik auf Aussprache allgemeiner, typischer
Empfindungen. Mit anwachsender Ausbildung der Jndividualität
differenzieren sich die Gefühle je nach der Persönlichkeit.
Durch Gegenüberstellung verschiedener Jndividualitäten geht die Lyrik
in dramatischen Charakter über.


[figure]
[E178]

C. Die dramatische Poesie.


I. Das Trauerspiel.

§ 72.
Begründung der dramatischen Form.

  Als Voraussetzung der Lyrik erkannten wir, daß den dargestellten
Objekten das Subjekt des Dichters gegenübertritt. Eine dritte
poetische Form bereitet sich vor, indem er die verschiedene Jndividualität
der im Bericht hervortretenden Subjekte erkennt und zu sondern
sucht. Diese Sonderung geschieht zunächst äußerlich durch Herausheben
von Einzelgestalten aus dem Bericht und entsprechende Verteilung
des Vortrags auf mehrere Personen.


  Rein psychologisch besteht der weitere Schritt der poetischen Entwicklung
über die Lyrik hinaus darin, daß der Dichter von der
eigenen Seele in die Seelen der anderen ergründend einzudringen
strebt. Wiederum wendet er sich der Außenwelt zu: aber nicht mehr
wie im epischen Bericht kündet er die bloßen Thaten der andern,
verkörpert vielmehr die handelnden Personen selbst, so daß ihre Thaten
nunmehr als ein Ausfluß ihrer Persönlichkeit erscheinen.

§ 73.
Ausbildung der dramatischen Form in Griechenland.

  Nicht in der Völkerwiege des Orients, insbesondere auch nicht
in der indischen Urheimat der arischen Völkerfamilie treten uns die
frühesten geschichtlich erschließbaren Anfänge des Dramas entgegen:
der Geist der indischen Religionen in Gemeinschaft mit der Vorherrschaft [179]
des Masseninstinktes und der Beschaulichkeit hielt die Fortbildung
des lyrischen Ueberschwangs zur Energie und geistigen Freiheit
der dramatischen Form lange hintenan, ja verhinderte ausdrücklich
die Durchführung einer konsequenten Tragödie.


  So kam die Entwicklung der griechischen Poesie den älteren
Litteraturen zuvor. Hier sehen wir uns sofort vor eine Reihe bedeutsamer
Thatsachen gestellt:


  1. Das griechische Drama ist religiösen Ursprungs.


  2. Das griechische Drama läßt sich in seiner Herauswickelung aus
episch=lyrischer Voraussetzung klar verfolgen.


  Der Dithyrambos des Dionysos-Kultus ist die Form, aus
welcher das griechische Drama erwachsen ist. Er verherrlichte den
Gott durch Wiedergabe von Mythen, die auf ihn bezugnehmen. Der
Vortrag geschah durch einen Chor, welcher als Schar von Satyrn,
wie sie den Gott begleiteten, in dem Festaufzug einherschritt. Damit
waren gewisse Voraussetzungen des Dramas gegeben: es brauchte nur
ein einzelner aus dem Chor mit diesem im Gesang zu wechseln, so
war eine neue Form angebahnt.


  Jn dem erzählenden Kern des Dithyrambos nahm direkte Rede
einen weiten Raum ein; schon hierdurch war der Bethätigung des
Einzeldarstellers weiter Spielraum eröffnet. Jndes litt die Unmittelbarkeit
der Darstellung, so lange die Thaten des Gottes wie die Geschehnisse
überhaupt auf epische Weise als in der Vergangenheit liegend
erzählt wurden. Die äußerlich angesponnene Vergegenwärtigung
wurde innerlich erst vollkommen, sobald die Handlung als gegenwärtig
geschehend durch das tempus praesens versinnbildlicht wurde. Diesen
Schritt that Thespis. Die Unterbrechung des Dithyrambos
durch Einzelvortrag scheint er schon als Jmprovisation vorgefunden zu
haben, er aber erst bildet sie zur Kunstform fort. Noch nehmen zunächst
die lyrischen Chorgesänge den breitesten Raum ein; die Einzelpartieen,
die vom Chormeister rezitiert werden, bleiben namentlich im
Prolog und den Botenberichten noch stark episch gefärbt. Zu eigentlichem
Dialog finden sich nur spärliche Ansätze. Doch mußte der
Chormeister nach einander die entscheidenden Personen der Handlung
darstellen; und schon von Thespis werden zu den lebhaften Gesten
typische Masken eingeführt. Das Stoffgebiet hatte bereits vom Dionysos=Kultus [180]
eine Erweiterung zuerst auch auf andere Mythen, später
auf profane Heroensagen erfahren; selbst geschichtliche Ereignisse aus
der Gegenwart folgen. Die Bezeichnung der neuen poetischen Gattung
bewahrt aber für die Dauer die Erinnerung an den Ursprung
aus der Feier des Dionysos: nicht nur wird dem Gott ein Bock geopfert;
vor allem ausschlaggebend war, daß der Chor im Kostüm von
Satyrn, mit Ziegenfellen bekleidet erschien. So wird Tragödie
(τραγῳδία) d. ist Bocksgesang der natürliche Name für den Vortrag
dieses Chors und für alles, was sich daraus entwickelt. Als schon
zu Thespis Lebzeiten in Athen der Wettkampf für tragische Chöre zur
Einführung gelangt, wird überdies ein Bock als Preis für den siegreichen
Chormeister ausgesetzt.


  Auch der Geist überkommt dem Drama aus dem Dionysos-Kult,
der Feier der üppig erblühenden wie der ersterbenden Natur. Leidenschaftlich
überschäumend in Ausartung bis zu wilder Ekstase, wie
er sich bald in wehmütiger Klage, bald in bacchantischer Lust giebt,
verleiht er dem Drama eine Spannung auf die höchste Gefühlsskala.
Jn den höchsten und erhabensten, wildesten Tönen des Pathos d. i.
ja ursprünglich der Leidenschaft tritt uns zunächst die griechische Tragödie
entgegen. Die personifizierte und vergötterte Naturmacht ist
es, die dahinstirbt; ihr Tod ist es, der die trauernde Anteilnahme der
Menschen weckt.

§ 74.
Entwicklung und Blüte der griechischen Tragödie.

  Den Einzelnen gegenüber der Gesamtheit erblicken wir in der
Tragödie unter Thespis' Händen. Ein eigentlicher Dialog gelangt
erst mit Einführung eines zweiten Schauspielers zur Durchführung.
Aeschylos, dem diese Maßnahme zu verdanken, war damit in die
Lage versetzt, das unvermittelte Nebeneinander lyrischer und epischer
Partieen wenigstens im Grundzug zu überwinden und eine wirkliche
Handlung aneinanderzuknüpfen. Auch die von ihm eingeführte cyklische
Zusammenstellung einer Tetralogie erweitert die Möglichkeit, von episodischer
Heraushebung eines Hauptmomentes, meist des Ausgangs,
zur Entfaltung eines vollen, in sich verknüpften Schicksalslaufes vorzuschreiten.


[181]

  Wortgewaltig und erhaben tritt uns die nun vollendete tragische
Form entgegen:


„Mit dem bluttrunkenen Mordblick des zum Fang fliegenden Felsdrachen, so

vielarmig, so vielschiffig hinab schießt er den Giftpfeil

Von dem Schlachtwagen Assyriens in die lanzenkund'gen Städte.

Und es tritt keiner hervor gegen die lautbrandende Heerflut wie ein Bollwerk

vor der unzwingbaren Meerwoge zu schirmen;

Denn unnahbar in der Schlacht kenn' ich und kühn das Volk der Perser.“

Nicht schönes Maß, sondern maßloses, wildes Weh ringt nach Ausdruck:


„Gräßliches, gräßliches Weh!

Entsetzliches, unsel'ges Weh uns!

O weinet, weinet, Perser, da ihr solches Leid hört!“

Trostlos laut weinen“ läßt der Tragiker seine Gestalten:


„Aufschrei, aufschrei

Jch von Thränen übermannt.“

  Tiefer noch als diese Betrachtung des leidenschaftlichen Ausdrucks
tragischer Empfindung greift die Frage, woher das so wild beklagte
Leid fließt, auf welche Weise die tragische Katastrophe motiviert ist.
Der Untergang ist Schicksal:


„Doch der trugsinnenden Gottheit, wer entkommt ihr von den Menschen?

Wer entrinnt ihr mit dem raschfliehenden Fuß glückenden Sprunges?

Denn so süß lächelnd im Anfange sie liebkost, sie verlockt

Jn das Garn, draus nimmermehr

Noch hinausschleichend, noch ausweichend der Mensch wieder entkommt.

Denn ein Gott ordnet die Lose des Schicksals ...“

  Was hier in den „Persern“ von vorn herein zu theoretischer Betrachtung
durch den Chor gelangt und sich immer bethätigt, kommt
namentlich inmitten des „Agamemnon“ geradezu als Motiv der Handlung
zur Geltung. Kassandra kennt das Todeslos, das ihrer im
Palast der Klytämnestra harrt. Der Chor legt ihr denn auch ausdrücklich
die Frage vor:


  „... Aber wenn wahrhaftig du

Dein eigen Schicksal kennest, warum gehst du gleich

Dem gottgetriebnen Stier zum Altar festen Muts?“

Aber weder von Flucht, noch von Zögern will die Seherin wissen,
da das Verhängnis unaufhaltbar, unaufschiebbar ist. Es wird klar, [182]
daß damit die Motivierung aus den individuellen Charakteren unterbunden
ist: der Mensch geht seinem Verhängnis entgegen in der That
wie der Opferstier zum Altar geführt wird. Ausdrücklich ruft der
versinkende Prometheus:


„Seht, welch Unrecht ich erdulde!“

Dennoch zeigt sich gerade Aeschylos bemüht, den im Volksglauben
wurzelnden blinden Fatalismus seiner Stoffe durch eine gewisse psychologische
Ergründung zu überwinden; nur ist seine Motivierung nicht
individuell, sondern faßt in großen Zügen ganze Geschlechter, ja wohl
ganze Völker oder gar die Menschheit zusammen: deren Sündigkeit,
deren dämonische Wildheit fordert das Walten des Schicksals heraus.
Bleibt auch die Handlung der Einzeltragödie im allgemeinen auf die
Heraushebung einer Einzelkatastrophe beschränkt, so deuten doch Betrachtungen
namentlich des Chors auf den Zusammenhang mit eben
verhängnisvollen früheren Geschehnissen. Diesen unmittelbar durch
Handlung zu versinnbildlichen und so eine Beziehung zwischen den
Thaten oder Charakteren und dem Verhängnis herzustellen, wurde
nun vor allem durch die Aneinandergliederung dreier Tragödien desselben
Mythen=, Sagen- oder Geschichtskreises ermöglicht. Ein unentrinnbares
Schicksal waltet ─ wohl, aber nicht ein blindes, unvernünftiges.
Verkündet doch gerade Kassandra diese zermalmende und
doch erhebende Botschaft:


„Es soll von nun an unter Schleiern nicht hervor

Die Verheißung blicken gleich der neuvermählten Braut;

Ein heller Frühwind wird sie wach, dahinzuwehn

Gen Sonnenaufgang, und es rauscht wie Meeresflut

Bei dieser Blutschuld erstem Strahl gewaltiger

Empor! Verkünden will ich nicht in Rätseln mehr,

Und seid mir Zeuge, daß ich, jeder Spur gewiß,

Des allverübten Frevels Fährte wittere.

Denn dieses Haus läßt nimmermehr des Chors Gesang,

Der, laut und doch mißlautig, Frohes nimmer singt.

Denn, voll und trunken bis zum frechsten Uebermut

Vom Menschenblut, tobt durch das Haus ein Trinkgelag

Der Erinnyen schwergebannter, blutsverwandter Schwarm;

Jhr gellend Trinklied singen sie an den Herd geschart,

Urerste Blutschuld, schmähen und verfluchen dann

Des Bruders Ehbett, das den Schänder niederschlug!“
[183]

So betont verweisend Hermes im „Gefesselten Prometheus“:


„Wohl denn; was ich jetzt euch sage, bedenkt!

Wenn der lärmenden Jagd ihr des Jammers erliegt,

Klagt euer Geschick nicht an; sagt nie,

Euch habe so Zeus unerwartet hinab

Jns Verderben gestürzt; denn wissentlich seid,

Nicht eilig verlockt, nicht heimlich umgarnt,

Jns unendliche Netz des Verhängnisses jetzt

Jhr verstrickt durch eure Verblendung!“

Scheint auch dem Menschen sein Schicksal blind und unverdient, die
Götter und die Seher des göttlichen Willens erkennen einen Zusammenhang
zwischen der menschlichen Natur und ihrem Verhängnis.


  Auch für die äußere Ausgestaltung der Tragödie war Aeschylos
thätig. Es wird von ihm berichtet, daß er die Bühne schmückte und
durch ihren Glanz, durch Gemälde und Maschinen, Altäre und Gräber,
Trompetensignale, Totenerscheinungen, Erinnyen die Augen der
Zuschauer in Erstaunen setzte; auch soll er die Schauspieler in lange
Aermel und das Schleppgewand gehüllt, sie durch Polsterung stärker
gemacht und durch die Stelzenschuhe, den Kothurn, emporgehoben haben.


  Dieser Kothurn ist zugleich charakteristisch für den Stil der
griechischen Tragödie: der Zug ins Erhabene, die Heraushebung und
höchstmögliche Erhebung über das gewöhnlich menschliche Maß liegt
je ursprünglicher desto klarer in der Tendenz der tragischen Dichtung.
Gigantisch in den Gestalten, im Ausdruck feierlich, kühn, überschäumend
an Kraft, selbst phantastisch tritt denn auch Aeschylos hervor.


  Schon Sophokles bahnt den Weg vom Wild-Erhabenen zum
Maßvoll-Schönen an. Durch Hinzufügung eines dritten Aktors verstärkte
er die dramatische Bewegung. Jndem er ferner von den übermenschlichen
Kolossalgemälden zu menschlicheren Normen übergeht, vertieft
er sowohl die psychologische Zeichnung wie den humanistischen
Gehalt. Freilich entfesselt Sophokles nicht mehr den titanischen Kampf
um das Recht oder Unrecht des Geschickes; Ergebung in das Unabänderliche,
schöne Entsagung bringt er zum Ausdruck:


„Freundlos, verlassen, muß ich Unglückselige

Lebendig niedersteigen in der Toten Gruft.

Und welch Gebot der Götter übertrat ich denn?

Wie darf ich Arme noch den Blick nach ihren Höhn
[184]
Erheben, wen um Hülfe flehn, da Götterfurcht

Den Lohn der Gottverächter mir erworben hat?

Doch wenn es so den Göttern wohlgefällig war,

Erkenn' ich, wenn ich büßte, daß ich schuldig bin:

Sind diese schuldig, möge dann kein größres Leid

Sie treffen, als sie wider Recht an mir gethan!“

Jn solchen Wendungen der Antigone kündigt sich leise schon die
Ahnung an, das Leben sei der Güter höchstes nicht. Auch sonst fehlt
es in den reichlichen Sinnsprüchen nicht an sittigendem Gehalt. Bezeichnend
genug wird immer wieder als „der Uebel allergrößtes für
die Menschen“ die Unbesonnenheit und Vermessenheit hingestellt. Obgleich
die Charakteristik vorgeschritten, bleibt sie oft noch ohne Bezug
zur Katastrophe, und der deus ex machina muß bemüht werden,
oft direkt um in die Handlung der Menschen einzugreifen. So erscheint
Herakles im „Philoktet“ als Bote des Zeus:


„Jn Sorge für dich bin ich hier und verließ

Jch das himmlische Reich,

Zu verkündigen dir die Beschlüsse von Zeus

Und zu hemmen die Bahn, so du jetzo betrittst.“

Entsprechend schließt Philoktet:


„Auf glücklicher Bahn sende mich fahrlos,

Wohin mich beruft des Verhängnisses Macht

Und von Freunden das Wort, und, der alles bezwingt,

Der Gott, der solches vollendet!“ ─

  Sophokles hatte die Menschen noch immer als Jdealbilder für seine
ethischen Zwecke gemodelt. Euripides sucht die Menschen zu zeigen,
wie sie sind. Dieser dritte unter den großen Tragikern Griechenlands
ist Realist sowohl in der Charakterzeichnung wie in der Sprache.
Anstelle der ethischen Größe tritt Dialektik der Leidenschaft. Fortgesetzt
beherrscht „der Götter wie der Menschen Los Notwendigkeit
ohn' Unterschied“; und


  „... Was die Götter

Verhängen, bleibt uns ja verhüllt, und keiner

Vermag des Unglücks Nahn vorauszusehn.

Das Schicksal führt in unerforschte Fernen.“

Nicht das göttliche Schicksal ist blind, wir Menschen sind blind, daß
wir es nicht zu erkennen vermögen; aber wir sind auch zu schwach, [185]
es zu lenken. Bei aller psychologischen Wahrheit im einzelnen fehlt
es somit auch den Euripideischen Charakteren an unmittelbarem Einfluß
auf die entscheidende Gestaltung der Handlung, insbesondre der
Katastrophe. Thoas will nach der Seeseite abgehen, um die in seine
Hand zurückgegebenen Geschwister Jphigenie und Orest zu ereilen,
als Athene oberhalb des Tempels schwebend erscheint, um im Gegensatz
zum innern Organismus der Handlung dieser Verfolgung Halt
zu gebieten.


  Die griechische Tragödie hat somit die epische Hinnahme der
Ereignisse trotz ihrer Ansätze zur Charakteristik nicht zu überwinden
vermocht. Auch bewahrt sich das Drama der Griechen im Chor ein
undramatisches, wesentlich episches Element. Während die ältere Tragödie
ihn mit lebhaftem Jnteresse an jedem Moment der Handlung
teilnehmen läßt, schließt ihn Sophokles sogar von solchem Eingreifen
aus: der Chor bleibt passiv und beschränkt sich auf seine überdies
gemessener gestalteten Lieder.

§ 75.
Verfall der griechischen Tragödie.

  Nach dieser schnellen Blüte verfällt die griechische Tragödie jäh.
Manche Keime zu solcher Entartung trug sie schon während ihrer
klassischen Zeit in sich.


  Schon war ein glücklicher Ausgang zugelassen, ─ die Folgezeit
hat ihn bevorzugt. Der Wirkung ernster Verwicklungen ist aber viel
von ihrer Wucht genommen, wenn ─ noch dazu von außen her ─
der geschürzte Knoten durchhauen wird. Das bedeutet sowohl eine
Abschwächung als zugleich einen Rückfall ins Epische.


  Die Verflachung nach dem mittleren Geschmack des Publikums
hin veranlaßt bald ein Herabschrauben des Ausdrucks ins Nüchterne
der prosaischen Alltagssprache, bald eine Verflüchtigung in leere Rhetorik:
im einen Falle glaubt man Euripides, dessen Schule vorherrscht,
im andern Sophokles gefolgt zu sein, während man doch nur mit
unzulänglicher Kraft den Stil der Klassiker veräußerlichte. Auch
metrische Sorglosigkeit stellte sich ein.


  Die Zeitzustände waren der Entwicklung der Tragödie nicht mehr
gleich günstig. Eine Abstumpfung, die bald nach den Perserkriegen [186]
eintrat, veranlaßte die Dichter, durch Häufung von Gräuelthaten die
Nerven anzureizen. Vor allem gelangt das Jntriguenstück mit seiner
künstlichen Verwicklung zur Aufnahme; der große Zug des nationalen
Kampfes gegen den Erbfeind ist dahingeschwunden, List und Raffinement
knüpfen den Faden der Handlung. Um so tiefer verharrt die
Tragödie in epischen Elementen. Wie die Blüte der griechischen
Tragödie in die Zeit von Athens Vorherrschaft fällt, so schwindet sie
mit ihr dahin.

§ 76.
Die Technik der griechischen Tragödie.

  Schon dieser Ueberblick zeigt uns, wie scharf sich hier das Grundgesetz
aller ästhetischen Anschauung ausprägt: daß die poetischen Erscheinungen
nicht starren, einheitlichen Regeln gehorchen, sondern
organisch fließender Entwicklung unterworfen sind. Fließend sind denn
vor allem die Linien des äußeren Baus der griechischen Tragödie
selbst in dem engen und entscheidenden Zeitraum von Thespis bis
zur klassischen Periode und innerhalb dieser zwischen ihren drei
Hauptträgern.


  Eine Erkenntnis der dramatischen Technik bei den Griechen bleibt
unhistorisch, sofern sie sich nicht auf die wechselnde Rolle stützt, welche
der Chor im dramatischen Gefüge spielt. Zunächst giebt er von seiner
ursprünglichen Alleinherrschaft dem Einzelaktor nur geringen Raum
zur Bethätigung ab. Wir konnten verfolgen, wie sich dies räumliche
Verhältnis allmählich umkehrt. Auch bahnte sich eine vielversprechende
Entwicklung an, indem Aeschylos den Chor als organisches Glied in
die Handlung hineinzog, ihm eine bestimmte Rolle, einen ausgeprägten
Charakter verlieh. Bilden doch in den „Eumeniden“ die Rachegöttinnen
selbst den Chor, in den „Schutzflehenden“ die Danaiden,
im „Gefesselten Prometheus“ die Okeaniden u. s. f. Sophokles bricht
dieser an sich heilsamen Entwicklung die Spitze ab, indem er dem
Chor eine ruhig abwartende und nur betrachtende Teilnahme zuweist.
Die weitere Folge einer solchen Maßregel konnte nun freilich die Abschaffung
des Chors ohne wesentliche Störung des dramatischen Organismus
sein. Euripides übernimmt ihn indes als gegebenen Faktor, [187]
um seine Rolle noch freier zu gestalten, seine Betrachtungen noch
weiter von der Handlung zu entfremden.


  Durch den ursprünglich bestimmenden und noch immer vorherrschend
organischen Charakter des Chors wird nun der Aufbau der
Tragödie in primitiven Grenzen festgehalten. Wenn derselbe Chor
andauernd auf der Bühne verharrt, ist an einen Ortswechsel eigentlich
nicht zu denken. Ebenso bleibt schon aus demselben Hinblick die Zeit
der Handlung auf wenige Stunden eingeschränkt und damit die Entfaltung
eines vollen Handlungsverlaufs unmöglich. Keineswegs gilt
aber die Einheit des Ortes und auch der Zeit dermaßen als organische
Bedingung der Tragödie, daß nicht Abweichungen ohne Zerstörung
des dramatischen Organismus möglich wären. Der Chor
brauchte nur vorübergehend abzutreten, und ein Wechsel der Scene,
auch ein längerer zeitlicher Zwischenraum war ermöglicht. Beider
Freiheiten bedienen sich z. B. „Die Eumeniden“ des Aeschylos; selbst
Sophokles scheute im „Ajas“ Ortswechsel nicht.


  Mit Einführung der Tetralogie war überdies ein tief eingreifendes
Mittel gegeben, die Einförmigkeit der Handlung zu überwinden.
Solange die drei Tragödien ─ und womöglich auch das Satyrspiel,
eine Wiederauferstehung des derben Elements im alten Satyrchor ─
demselben Stoffkreise entnommen waren ─ wie es wenigstens durch
Aeschylos grundsätzlich geschah ─, bot sich zugleich die natürlichste
Verknüpfung der Einzeltragödien mit ihrem episodischen Zug zu einem
in Ursache und Wirkung zusammenhängenden Gesamtdrama. Auch
auf diesem Wege dürfte das Kunstwerk des Aeschylos einen Gipfel
bezeichnen, von dem man mit Unrecht herabgestiegen, um auf einem
bequemeren Paß ans Ziel tragischer Wirkung zu gelangen.


  Auch die einzelne Tragödie gewann naturgemäß eine Gliederung,
nicht in dem Sinne schulgemäßer, bewußt kunstvoller Abstufung, vorerst
nur als organisches Ansetzen von Gliedern, die den erweiterten
Aufgaben des zur Tragödie fortgebildeten Dithyrambos entsprachen.
Als Klagesang über die ersterbende Natur bietet er schon die Katastrophe.
Wie sich der eigentlich dramatische Teil indes zuerst als
Zwischenspiel in die Chorgesänge drängte, wird das Mittelglied in
der ausgebildeten tragischen Form das wesentlichste und zunehmend
ausgedehnt. Keineswegs braucht der tragische Held sogleich im Eingang [188]
auf die Bühne zu treten; die Erwartung ist überhaupt zunächst
nur anzuregen, zumal der Stoff als bekannt vorausgesetzt werden darf.
Nach solchem kurzen Vordersatz (πρότασις), der Einführung oder Exposition,
folgt als Steigerung (ἐπίτασις) die Verwicklung der Handlung
im primitivsten Sinn des Wortes, d. h. die Gegenüberstellung des
Helden und des Gegenspielers mit ihren sich durchkreuzenden Absichten
und Handlungen. Durch retardierende Momente darf sich dieses
Mittelglied dehnen. Scharf spitzt sich alsdann die Handlung auf den
Wendepunkt (καταστροφή) als den Beginn der Auflösung zu, meist
um jäh abzubrechen.


  Der versifizierte Dialog operiert mit zwei verschiedenartigen, ja
entgegengesetzten Elementen. Entsprechend dem ursprünglich vorherrschenden
Chorgesang finden sich immer wieder sehr ausgedehnte Ausführungen
von stark epischem Charakter. An den erregten, eigentlich
dramatischsten Stellen gewinnt die kurze Wechselrede das Feld, die in
Hast und Ueberstürzung Zug um Zug, Rede und Gegenrede bietet
und sich oft sentenziös zuspitzt.


  Die tragische Dichtung geschah zum Zwecke öffentlicher Aufführung.
Da diese nur an die beiden Hauptfeste geknüpft war und auf Staatskosten
erfolgte, auch die Beschaffung des Chors anderweit nicht möglich
war, gelangte naturgemäß nicht jede Tragödie zu diesem eigentlichen
Ziel. Der Dichter hatte möglichst selbst die Einschulung des
Chors wie der Einzelspieler zu besorgen. Schon zu Thespis' Zeit
führte zuerst Athen Wettkämpfe ein und verteilte Preise. Die Zulassung
zur Aufführung entschied der Archon, der ursprünglich auch
die Preisrichter ernannte; später übernahm der Rat der Fünfhundert
die Auswahl derselben. Sie folgten in ihrem Urteil meist der öffentlichen
Meinung. Zutritt hatten alle Männer; an den städtischen
Dionysien, an denen lebhafter Fremdenzustrom erfolgte, wird die Zahl
der Zuschauer im Durchschnitt auf mehr als dreißigtausend berechnet;
enger war der Kreis der Teilnehmer an den Lenäen. Jedenfalls
bewahrte die Aufführung den Charakter eines nationalen Festes mit
religiöser Weihe.

[189]
§ 77.
Wesen und Wirkung der griechischen Tragödie.

  Vor eilfertiger Definition der Tragödie in Bausch und Bogen
warnt schon die verschiedene Erscheinungsform, in der sich diese Gattung
selbst unter den Händen der griechischen Klassiker darbietet.


  Schwankungen und manche unfertigen Ansätze gewahren wir schon
im Verhältnis von Handlung und Charakteren. Den Weg bis zum
Charakterstück vermochte die antike Weltanschauung nicht zu finden: sie
hat die sittliche Freiheit und Verantwortung erst in dem Maße begriffen
und errungen, als sie sich christlichen Anschauungen näherte. Die Tragödie
gelangte auch in ihrer Blütezeit nicht über die Ahnung des Zusammenhangs
zwischen den Handlungen und dem Charakter des Menschen
hinaus. Wieweit seine Geschicke von ihm selbst bestimmt werden,
darüber hatten die Götter einen Schleier gebreitet; doch schon
dämmert wenigstens die Erkenntnis auf, daß die sündige, leidenschaftliche,
vermessene Menschennatur im allgemeinen das Verhängnis
herausfordere.


  Bedeutsam und einschneidend bleibt der Fortschritt immerhin, der
in der poetischen Entwicklung durch die griechische Tragödie geschieht.
Jndem die Geschehnisse nicht mehr rein episch als solche äußerlich
hingenommen, vielmehr als Handlungen handelnder Personen aufgefaßt
und zu diesen in eine innere Beziehung gesetzt werden, gelangt thatsächlich
eine neue innere Form der Poesie zur Ausbildung, die nicht
mehr bloße Thaten und nicht mehr bloße Empfindungen zur Aussprache
bringt, sondern die auf die Empfindungswelt zurückgeführten
Thaten, d. i. Handlung (δρᾶμα), darstellt. Die Bezeichnung Drama
ist aber in dem arg beschränkenden Sinne zu nehmen, daß die Handlungen
nicht notgedrungen das Geschick bestimmen. Die Harmonie
zwischen dem tragischen und dramatischen Zuge des Kunstwerkes ist
noch nicht gefunden.


  Was darf diese Gattung danach als gemeinsames Ziel, als gemeinsame
Wirkung in Anspruch nehmen? Nicht einmal die traurige
Katastrophe geht durch; aber allerdings erscheint, zumal wenn wir
auf den Ursprung der griechischen Tragödie zurückblicken, ein ernstes
Leiden des Helden, die drohende, nach menschlichem Ermessen unabwendbare [190]
Vernichtung der eigenartige Gehalt der Tragödie. Und
wer ist der Leidende? Der Dithyrambos beklagt den Gott der Naturkraft,
wie er im Winter dahinschwindet. Die aus dem Dithyrambos
erwachsende Tragödie verkörpert zunächst diese dem Untergang geweihte
Gottheit, mit Aufnahme weiterer Mythen auch Halbgötter und Heroen
in ihrem Leiden, schließlich ebenso den heroischen, überragenden Menschen,
dessen Weg durch ernste Leiden ging, der von einem furchtbaren
Verhängnis bedroht war. Und zwar tritt bezeichnend hervor,
daß es nicht eine unmittelbare Schuld ist, die durch den
drohenden Untergang notwendiger, gerechter Sühne entgegengeht.
Vielmehr kann in den für das Wesen der Gattung immer besonders
bedeutsamen Anfängen, gegenüber den göttlichen Duldern, überhaupt
nicht von einer Schuld die Rede sein. Auch wo ein Prometheus die
Götter in die Schranken ruft, unterliegt er im Kampfe, nicht in der
Sünde: ohnmächtig gegen die Götter, nicht unwürdig. Charakteristisch
ist die Wendung, die sich mit Eintritt des Menschen in die tragische
Handlung vollzieht: soweit eine Verschuldung überhaupt ersichtlich,
sind es auch jetzt nicht sowohl besondere todeswürdige Verbrechen,
die zu entsprechender Bestrafung kommen, als vielmehr allgemein
menschliche
Leidenschaften, Erbteile und grauenvolle Verhängnisse
eines ganzen Geschlechtes, kurzum kaum abwendbare Anlagen, welche
den Vernichtungseifer der Götter herausfordern.


  Die Wirkung der Katastrophe auf die Mitmenschen besteht deshalb
auch nicht in Genugthuung über den gerechten Weltlauf, umgekehrt
in Teilnahme für den Leidenden und in Weh über den unbegreiflichen
Weltlauf. Ausdrücklich weist der Chor im „Gefesselten
Prometheus“ von Aeschylos mit Entrüstung den Rat des Hermes
zurück, den dem Untergang geweihten Helden zu verlassen:


„Find' besseren Rat und ermahne mich so,

Wie ich folgen dir kann; denn es ist in der That

Unerträglich der Rat, der verführen mich soll!

Wie gebietest du mir, mich der Schande zu weih'n?

Nein, dulden mit ihm will ich sein Los.“

Aber nicht bei der Teilnahme an dem einzelnen Leidenden bleibt die
Wirkung der griechischen Tragödie stehen; wie seine Natur, auch wo
sie das Wüten des Schicksals herausfordert, allgemein menschlich oder [191]
doch nicht vereinzelt ist, so bringt sein Fall die Macht des Verhängnisses
überhaupt zur Erkenntnis:


„Wo endet es je? wo findet noch Ruh

Die besänftigte Macht des Verderbens?“

Was die griechische Tragödie heraushebt und vermittelt, ist der leidende
Grundzug des Menschenlebens:


„O dieses Menschenleben! ─ wenn es glücklich ist,

Ein Schatten stört es; ist es kummervoll, so tilgt

Ein feuchter Schwamm dies Bild, und alle Welt vergißt's;

Und mehr denn jenes schmerzt mich dies: vergessen ist's! ─“
§ 78.
Die Anfänge des modernen Dramas.

  Auch das Drama der modernen Völker läßt sich allerorten auf
religiösen und epischen Ursprung zurückverfolgen. Aus dem
christlichen Kultus ist es herausgewachsen: mit der christlichen Weltanschauung
schon dadurch aufs engste verknüpft. Der Bericht der
Bibel wurde durch scenische Veranschaulichung vergegenwärtigt: so
wird der Gang der modernen Tragödie eine Loslösung vom Epischen,
ein Begreifen der Ueberlieferung, weiterhin des Weltlaufs, im Geiste
des Christentums.


  Die geistlichen Spiele der germanischen und romanischen Völker
sind aus der Passionsgeschichte hervorgegangen. Die Evangelien vom
Leiden Christi, wie sie zur Passionszeit in der Kirche vorgetragen
wurden, bildeten den ersten und wesentlichsten Ansatzpunkt für die
neue Gattung. Die katholische Kirche legte auf ästhetische Ausgestaltung
des Kultus besonderes Gewicht. Namentlich gehörte es zur bewährten
Kirchenpolitik, heidnische Dichtungen und Lustbarkeiten durch
christlich gefärbte zu ersetzen. Es scheint, daß man primitive heidnische
Aufzüge verdrängen wollte, als man sich entschloß, scenische
Bewegung in die Kirche einzuführen. Zunächst schritt der (lateinische)
Gottesdienst zu kunstvollem Wechselgesang zwecks Belebung der Evangelien
vor ─ von deren äußerer Einrichtung noch moderne Passionskompositionen
wie die von Bach eine Vorstellung geben. Die Rollen
des Heilands und der übrigen Hauptpersonen wurden verteilt gesungen, [192]
die verbindende Erzählung gelangte durch einen Darsteller des
Evangelisten zum Vortrag, Dazu gesellte sich bald Bewegung: ein
Kommen und Gehen, sowie scenische Ausgestaltung: Räuchern sowie
Uebergabe der Grabtücher an die Apostel Petrus und Johannes ─
und das geistliche Spiel war vollendet.


  Wie die Passionsgeschichte vergegenwärtigte man später auch
andere bedeutsame Abschnitte des Neuen, schließlich selbst des Alten
Testamentes. Zunächst im engen Anschluß an die Worte der Bibel,
alsdann mit Ausgestaltung einzelner, zur Kleinmalerei herausfordernder
Scenen. Zunächst durchweg lateinisch, alsdann mit Einmischung
der Volkssprache, schließlich auch ganz in ihr, d. h. also nun deutsch
bezw. englisch oder romanisch.


  Ein weiterer Schritt zur Bereicherung geschah durch Emanzipation
von dem biblischen Bericht. Die so verselbständigten geistlichen
Spiele (ludi) beschränken sich nun nicht mehr auf Mysterien aus
der biblischen Geschichte, sie bieten auch Mirakel aus der Heiligenlegende.
Dazu gesellen sich später, unter selbständiger Heraushebung
der stark anschwellenden allegorischen Einschaltungen, Moralitäten.
Zur klaren Scheidung dieser drei Arten kommt es besonders in
Frankreich.


  Jn Deutschland finden wir jedenfalls während des 11. Jahrhunderts
zwei lateinische Dreikönigsspiele. Der Zeit Barbarossas
gehört das Osterspiel eines bayrischen Mönches von Tegernsee an.
Dieser Ludus paschalis de adventu et interitu Antichristi
arbeitet bereits stark mit allegorischen Elementen. Vorangeht eine
Debatte zwischen dem Heidentum, der Synagoge (dem Judentum)
und der Kirche (dem Christentum). Der Kaiser unterwirft alle Völker;
aber der Antichrist macht sich zum Gott der Erdenvölker: die Deutschen
haben mit der Waffe gesiegt, erliegen jedoch durch Betrug.
Nun verfolgt der Antichrist die Kirche, bis ihn ein Blitzstrahl tötet.
So kehrt die Menschheit zur wahren Kirche zurück.


  Eine Handschrift des 13. Jahrhunderts bietet dramatisiert die
Leiden Christi mit einzelnen deutschen Strophen. Vereinzelt steht im
Anfang desselben Jahrhunderts schon ein völlig deutsches Passionsspiel
da. Sonst bleiben die geistlichen Spiele bis gegen Mitte des 14. Jahrhunderts
meist gemischtsprachig. Neutestamentliche Darstellungen herrschen [193]
immer vor; häufig allerdings kommen Scenen des Alten Testaments
zu „vorbildlicher“ Verwendung, so in einem Heidelberger Passionsspiel,
so in dem noch heute durch Aufführungen fortlebenden
Oberammergauer Passionsspiel: der Baum im Paradiese erscheint als
Sinnbild der Schuld, wonach der Baum des Kreuzes die Erlösung
repräsentiert; ähnlich erscheint der Verkauf Josefs durch seine Brüder
als „Vorbild“ für den Verrat des Heilandes durch Judas u. s. f.


  Legenden gelangen zur Dramatisierung von der heiligen Katharina,
von Dorothea, auch ein niederdeutscher Theophilus ist überliefert;
ein Spiel von Frau Jutten besitzen wir sogar mit Verfassernamen
(von dem Geistlichen Theodorich Schernberg 1480).


  Mit der Zunahme weltlicher und ernstloser Episoden sowie mit
der anwachsenden Erweiterung nach rein ästhetischen Grundsätzen werden
die geistlichen Spiele aus der Kirche herausgedrängt. Noch während
des 16. Jahrhunderts finden wir Aufführungen in der Kirche.
Doch schon im 14. Jahrhundert werden neben den Priestern, denen
zuerst die Dichtung wie die Darstellung allein obliegt, besonders
Schüler als Darsteller herangezogen. Alsdann nehmen Lehrer, Studenten,
Gewerke und auch andere Bürger an der Aufführung thätigen
Anteil. Jn diesen geistlichen Spielen traten oft mehrere hundert
Personen auf. Da alle Mitspieler zugleich erschienen ─ oft in Umzügen
─ und in Gruppen warteten, bis sie die Reihe zum Sprechen
traf, waren große Räume erforderlich, um so mehr als Himmel, Erde
und Hölle in verschiedenen Stockwerken ─ wennschon in primitivster
Andeutung durch Gerüste oder Fässer ─ gespielt wurden. Zwar
mußte unter diesen Umständen ohne äußeren Scenenwechsel neben
bezw. über einander gespielt werden; doch bringen es die zugrunde
liegenden biblischen Berichte mit sich, daß sowohl im Ort wie in der
Zeit von einem Punkt zum andern übergesprungen wird, von einer
innerlichen Einheit des Ortes und der Zeit demnach nicht
die Rede sein kann.
Zettel bezeichnen die wechselnde Oertlichkeit.


  Daß ein dramatischer Kern den geistlichen Spielen innewohnt,
ist schon durch ihre Anfänge nahegelegt, nur daß er natürlich erst
allmählich anwächst. Der epische Bericht der Bibel wird durch Rollenverteilung,
Bewegung und scenische Ausgestaltung zunächst verkörpert;
die Vergegenwärtigung ist indes nicht vollendet, solange nicht [194]
der verbindende Text des Evangelisten zwischen den direkten Reden
fällt und die eigentliche Darstellung ausschließlich in Dialog vorschreitet,
wobei noch immer Zugeständnisse durch Pro- und Epiloge,
Ausdeutungen u. dgl. möglich sind. Dies Vorwort des Praecursor
bewahrte episches Wesen, schon mit didaktischen Beimengungen; im
Nachwort finden sich dieselben beiden Elemente gemischt, nur daß hier
der didaktische Zug vorherrscht.


  Die Verkörperung hat zur Folge, daß die Reden und Thaten
jedes Einzelnen, die der epische Bericht als bloßes Nacheinander bot,
als einheitliches Jneinander aufgefaßt werden. So gewinnen thatsächlich
eine große Reihe von Figuren, indem man sich ein einheitliches
Bild von ihnen vorzustellen sucht, allmählich einen festen Charakter,
nicht nur die Hauptgestalten, auch einige beliebte weltliche Nebenfiguren,
zuerst in der Krämerscene beim Verkauf der Salben.


  Mit der Leidensgeschichte Jesu setzen die geistlichen Spiele
ein: wiederum ist, wie im alten Griechenland, das Drama zunächst
auf Darstellung von Leiden hingewandt. Daß die Theorie von
„poetischer Gerechtigkeit“ ebenso unhistorisch wie unkünstlerisch ist,
tritt auch im modernen Drama sofort hervor. Jm Gegenteil: der
Reine, Sündenlose, der Gottessohn ist es, der da leidet; ─ freilich
hat er die Sünden der ganzen Menschheit auf sich genommen. Auch
die Heiligen der Legenden und Mirakel, die Märtyrer büßen und
sühnen durch ihren Untergang nicht eine eigene Schuld, sondern gehen
freiwillig und freudig in den Tod. Aber auch wo der gewöhnliche
Sterbliche leidet und untergeht, sind es nicht Jndividuen, welche handeln
und sündigen, sondern Symbole des Menschentums im allgemeinen,
Allegorien des Lebens, des Alters und der Jugend u. dgl.
Das Gute und das Böse kämpfen um die Menschenseele; der Tod
rafft alles dahin ohne Unterschied des Alters oder Standes. Genug,
das allgemeine Weltleid klingt dauernd an und reißt zur Teilnahme,
zur Mitempfindung fort. Nun wird freilich bisweilen der Antichrist
oder sonst ein Vertreter des bösen Prinzips in den Mittelpunkt einer
Handlung gerückt: aber höchst charakteristisch gewinnt der Teufel in
zunehmendem Maße komische Beleuchtung, er wird der lustige Teufel
oder doch der arme Teufel, über den man sich belustigt. Die Grundempfindung, [195]
das Leitmotiv des geistlichen Trauerspiels bleibt das
Leiden des Edlen, Würdigen. ─


  Auch das persische Theater, das erst am Anfang des 19. Jahrhunderts
als Mysterienbühne anhebt, geht von ähnlichen Voraussetzungen
aus. Stoffgebiet ist die Ali-Legende, der Untergang Alis, des
Schwiegersohns und edelsten Anhängers von Mohammed.

§ 79.
Das humanistische Trauerspiel.

  Die organische Entwicklung des modernen Dramas wurde von
antiken Einflüssen durchbrochen. Entsprechend dem Zuge der Renaissancebewegung
knüpften die modernen Völker, sobald einmal die
alte Dichtung in Wiederaufnahme kam, nicht an die klassische Kunst
der Griechen an, sondern ahmten die römischen Nachahmungen nach.
Daß unter diesen Umständen nicht sowohl für den Geist als nur für
die Form etwas zu gewinnen war, liegt auf der Hand. Die Form
ist es nun allerdings, welche kunstvoller und dabei geschlossener wird:
besonders begünstigt das antike Vorbild die Akt- und Scenen-Teilung.
Außer dem Pro- und Epilog tritt häufig eine Vorankündigung
(Argumentum) vor jeden Akt.


  Erstreckte sich dieser Einfluß auch vorherrschend auf das Lustspiel,
so tauchten doch auch neulateinische Trauerspiele nach dem
Muster des Seneca auf. Als die humanistischen Dichter zum Gebrauch
der modernen Sprache übergingen, übernahmen sie doch den
Stil des römischen Tragikers.


  Jm geistlichen Spiel nahm sich die antike Kunstform und Weltanschauung
doppelt unorganisch aus. Zur selbständigen Ausgestaltung
des weltlichen Dramas hat sie aber wesentlich beigetragen.

§ 80.
Das französische Trauerspiel.

  Am natürlichsten noch erscheint diese Berührung der modernen
Welt mit dem römischen Geist innerhalb der romanischen Völker.
Wie ihre Sprache auf das Latein zurückgeht, läßt sich ihre Verwandtschaft
im Grundzug der litterarischen Entwicklung nicht verkennen.

[196]

  Namentlich der formalistische Trieb ist es, den das französische
Drama mit dem römischen gemein hat, soweit die Technik sich auch
im einzelnen vervollkommnet. Entscheidend fällt ins Gewicht, daß
hier formale Gesichtspunkte für den gesamten dramatischen Organismus
den Ausschlag geben und daß im ganzen die Entwicklung in die
Grenzen gezwängt wird, welche man durch das antike Drama gesteckt
glaubte. Nun ist dieses ─ wie wir sahen ─ aus völlig andern
Voraussetzungen erwachsen: sowohl sein Zusammenhang mit heidnischen
Festen wie seine Kettung an den Chor bedingte den Aufbau nicht
unwesentlich.


  So bedeutet es zugleich eine formale Veräußerlichung und eine
unorganische Uebertragung, wenn die französische Dramaturgie die
sogenannten drei Einheiten als Grundgesetz der dramatischen Dichtkunst
ausgiebt. Neben der innerlich bedeutsamen Einheit der Handlung
werden da die Forderungen gestellt, daß sich die Handlung von Anfang
bis zu Ende an ein und demselben Orte und innerhalb eines
einzigen Tages abspiele. Außer durch Hinblick auf den (nicht einmal
durchgängigen) Gebrauch des antiken Dramas suchte man diese Beschränkungen
durch den rein äußerlichen Hinweis zu begründen, daß
die Zuschauer auf demselben Platze sitzen blieben, also auch die vor
ihnen aufgeschlagene Scene nicht bald den einen, bald den andern
Ort darstellen könne; ja, mit demselben Argument führten französische
Theoretiker ins Feld, man könne den Zuschauern nicht zumuten zu
glauben, daß sie in einem Niedersitzen mehrere Tage oder Jahre
vorüberrauschen sähen!


  Schon Johann Elias Schlegel, auf den sich Lessing in seinem
Kampf gegen die drei Einheiten (Hamburgische Dramaturgie, 44. Stück)
beruft, findet den richtigen Gesichtspunkt, daß „der Geist (denn mit
ihm hat man zu thun, und nicht mit dem Körper, der auf den
Bänken sitzt) so starke Flügel hat, daß er dem Poeten auch noch weiter
von einer Zeit zur andern und von einem Orte zum andern
folgen könnte“. Nachdem er so das Recht der Phantasie gegenüber
der Engherzigkeit des französischen Dramas geltend gemacht, weist
schon Schlegel und nach ihm mit wuchtigeren Schlägen Lessing die
Gewaltsamkeit und Aeußerlichkeit des Verfahrens nach, zu welchem die
Franzosen durch Uebernahme der drei Einheiten sich gezwungen sahen: [197]
„Darauf kömmt gerade am allerwenigsten an, daß das Gemälde der
Scenen nicht verändert wird. Aber wenn keine Ursache vorhanden
ist, warum die auftretenden Personen sich an dem angezeigten Orte
befinden, und nicht vielmehr an demjenigen geblieben sind, wo sie
vorhin waren; wenn eine Person sich als Herr und Bewohner eben
des Zimmers aufführt, wo kurz vorher eine andere, als ob sie ebenfalls
Herr vom Hause wäre, in aller Gelassenheit mit sich selbst oder
mit einem Vertrauten gesprochen, ohne daß dieser Umstand auf eine
wahrscheinliche Weise entschuldiget wird; kurz, wenn die Personen nur
deswegen in den angezeigten Saal oder Garten kommen, um auf die
Schaubühne zu treten: so würde der Verfasser des Schauspiels am
besten gethan haben, anstatt der Worte: ‚der Schauplatz ist ein Saal
in Climenens Hause' unter das Verzeichnis seiner Personen zu setzen:
‚der Schauplatz ist auf dem Theater'.“ ─ Thatsächlich mußte mit
großem Zwang ein neutraler Ort, wie ein Platz vor dem Hause, ein
Vorsaal oder sonst ein Raum gewählt werden, in welchem alle Parteien
gleichmäßig verkehren könnten.


  Noch tiefer griff die zeitliche Beschränkung ein. Wäre sie ohne
Zwang durchgeführt worden, hätte sie jede Charakterentwicklung, ja
jede umfassendere Entwicklung der Handlung unmöglich gemacht. Wieder
kamen allerhand Kniffe zur Verwendung, um trotzdem den Schein
einer Entwicklung durchzuführen. Lessing wirft die berechtigte Frage
auf: „Was hilft es dem Dichter, daß die besondern Handlungen eines
jeden Aktes zu ihrer wirklichen Ereignung ungefähr nicht viel mehr
Zeit brauchen würden, als auf die Vorstellung dieses Aktes geht; und
daß diese Zeit mit der, welche auf die Zwischenakte gerechnet werden
muß, noch lange keinen völligen Umlauf der Sonne erfordert: hat er
darum die Einheit der Zeit beobachtet? Die Worte dieser Regel hat
er erfüllt, aber nicht ihren Geist. Denn was er an einem Tage
thun läßt, kann zwar an einem Tage gethan werden, aber kein vernünftiger
Mensch wird es an einem Tage thun.“


  Auch stilistisch steht die französische Tragödie der antiken nahe.
Wir wurden Zeugen, wie diese noch halb im Epischen stecken bleibt,
wie die äußere Handlung dominiert und den Charakter bezwingt.
Die französische Tragödie ist nun ähnlich noch im wesentlichen Jntriguenstück,
d. h. sie sieht in möglichst kunstvoller Verknüpfung [198]
der Handlung ihre Hauptaufgabe und läßt den Charakter nicht an
sich selbst, sondern an dem Zusammentreffen unglückseliger Ereignisse
zugrunde gehen. Das Verkünstelte dieser Jntriguen hat Lessing ─
namentlich in der Corneille-Kritik der Hamburgischen Dramaturgie ─
zuerst erkannt, nur wäre weniger dem einzelnen Dichter zur Last zu
legen, was uns als Ausdruck eines historischen Stadiums in der Entwicklung
der dramatischen Form gilt.


  Eine noch weiter gehende Einschränkung wäre dem Kampf Lessings
gegen den heroischen Zug der französischen Tragödie zu geben.
Der deutsche Dramaturg geht so weit, auf diese Tendenz hin Corneille
den Beinamen des Großen abzusprechen: „Es ist wahr, alles
atmet bei ihm Heroismus; aber auch das, was keines fähig sein sollte,
und wirklich auch keines fähig ist: das Laster. Den Ungeheuern, den
Gigantischen hätte man ihn nennen sollen; aber nicht den Großen.
Denn nichts ist groß, was nicht wahr ist“ (30. Stück). Aus einem
solchen heroischen Element ist jedoch die Tragödie erwachsen, und
überdies ist die erhabene Würde, die alle Handlungen, auch die lasterhaften,
in der französischen Tragödie atmen, ein unverkennbarer Zug
des romanischen Geistes, wie er sich in den romanischen Litteraturen
durchgehends ausprägt. Lessings rein kritisches Verfahren ließ demnach
sowohl den historischen wie den völkerpsychologischen Gesichtspunkt
außer acht, die beide erst nach ihm von Herder entdeckt werden.


  Der einseitig zugespitzte Heroismus unterdrückt nun allerdings
die unmittelbare Ausprägung anderer Leidenschaften, läßt namentlich
die Aenßerung der durchgehenden Liebesempfindung leicht als bloße
Galanterie erscheinen. Bei alledem wird gerade die historische
Aktion dadurch znr kunstvollen Jntrigue verarbeitet, daß die Liebe
als Haupttriebfeder der Handlung eingeführt ist. Sowohl in diesem
erotischen Trieb wie in seiner veräußerlicht galanten Ausprägung
haben wir wieder durchgehende Züge des romanischen Geistes
zu sehen.


  Jm Zusammenhang mit dem heroischen Zug steht die rhetorisch=pathetische
Aeußerungsform der französischen Tragödie.
Auch diese Vorherrschaft der Rhetorik und Reflexion hält sie in epischem
und lyrischem Wesen zurück und läßt sie nicht zur vollen Durchführung
des dramatischen Charakters gelangen. Die Leidenschaft bethätigt [199]
sich weniger als sie über sich brütet und sich ausspricht. Der
Monolog läßt naturgemäß der Rhetorik den weitesten Spielraum.
So schwelgt Corneilles Cid in seinem Schmerze:


  „Percé jusques au fond du cœur
D'une atteinte imprévue aussi bien que mortelle,
Misérable vengeur d'une juste querelle,
Et malheureux objet d'une injuste rigueur,
Je demeure immobile et mon âme abattue
    Cède au coup qui me tue.
  Si près de voir mon feu récompensé,
    O Dieu! l'étrange peine!
  En cet affront mon père est l'offensé,
  Et l'offenseur le père de Chimène.“


Doch auch der Dialog bleibt weithin lyrisch=episch gefärbt. Nicht
minder reflektierend legt Chimene der Jnfantin dar:


„Mon cœur, outré d'ennuis, n'ose rien espérer.
Un orage si prompt qui trouble une bonace
D'un naufrage certain nous porte la menace;
Je n'en saurais douter, je péris dans le port.
J'aimais, j'étais aimée, et nos pères d'accord“


u. s. f. im epischen Rückblick mit angefügtem lyrischen Gefühlsausdruck:


„Maudite ambition, détestable manie,
Dont les plus généreux souffrent la tyrannie;
Impitoyable honneur, mortel à mes plaisirs,
Que tu me vas coûter de pleurs et de soupirs!“


Allein es wäre ungerecht, den Wert dieser schönen Diktion an sich zu
verkennen und gegen die Harmonie dieser Töne taub zu sein. Keine
Uebersetzung vermöchte den vollen Wohlklang solcher Vereinigung von
Anmut und Würde zu bewahren. Neben der Handlung ist es denn
auch der Dialog, dessen ästhetische Ausgestaltung dem französischen
Trauerspiel seinen Stempel aufdrückt.

§ 81.
Das spanische Trauerspiel.

  Unter den romanischen Völkern haben neben den Franzosen
namentlich die Spanier eine eigenartige tragische Form ausgebildet. [200]
Die durchgehenden Zeichen romanischer Kunst begegnen wiederum:
im Dialog Herrschaft des Pathos, in der Handlung Herrschaft der
Jntrigue.


  Ein Lope de Vega, der ja schon auf tragischem Gebiet zu nennen
ist, fesselt durch das Jnteresse der Situationen und ihrer kunstvollen
Verknüpfung. Seine „Mantel- und Degenstücke“ schwelgen in
tragischen Mitteln des Stoffes, der Mensch bleibt Sklave der Ereignisse.
Dabei versteht es die Virtuosität des Dichters nicht minder
kunstvoll den Knoten glücklich zu entwirren als er kunstvoll zu ernster
Verwicklung gebracht war.


  Zu voller Entfaltung gelangt die tragische Kunst der Spanier
mit Calderon. Womöglich noch in höherem Maße als die französischen
Tragiker zeichnet ihn das klangvolle Pathos aus, wie dort
herrscht die Neigung zur Reflexion und Rhetorik vor. Schönes,
glattes Ebenmaß, nicht charakteristische Abstufung des Dialogs gilt ihm
wie seinen Nachfolgern als Jdeal: die Jdeen des Dichters, nicht
eigentlich die Charaktere der handelnden Personen kommen zur
Aussprache.


  Nicht der Mensch herrscht über sein Schicksal ─ dem Schicksal,
einer unbegreifbaren göttlichen Gewalt, unterliegt der Mensch als
Sklave. Erbsünde lastet auf der Menschheit von je; der Einzelne
erliegt seiner Natur, der ungezähmten, ungöttlichen, sofern er sie nicht
zur Ueberwindung des Eigenwillens emporläutert. Nicht zum Genuß,
zu Leiden und Entsagung ist der Mensch geboren. Das Leben ein
Traum ─ nur in der jenseitigen Welt der Jdeen liegt die Wirklichkeit.
So ist es die reinste Ausprägung der romanisch=katholischen
Weltanschauung, die das spanische Trauerspiel durchwebt.


  Der Mensch ist Sklave nicht nur des göttlichen Verhängnisses:
noch schroffer als in der französischen Schwesterlitteratur unterliegt er
zugleich völlig der konventionellen Moral, besonders einem auf schärfste
zugespitzten äußeren Ehrbegriff. Konflikte zwischen Ehre und Liebe
bilden neben ausschließlichen Liebesverwicklungen den beliebtesten
Gegenstand des spanischen Dramas. Ueber den Ehrenpunkt geht von
weltlichen Mächten nur die knechtische Unterwürfigkeit gegen das
Königtum ─ auch dieser politische Autoritätsglaube findet nur im
französischen Drama annähernd seinesgleichen.

[201]

  So hat sich der romanische und katholische Geist eine eigenartige
Tragödienform geschaffen, in welcher der Mensch unterwürfig und
ohnmächtig gegen die überirdischen und irdischen Mächte des Lebens
bleibt. Die Tragik dieser Unfreiheit und Unwürdigkeit des Menschentums
gelangt zu wirksamstem pathetischen Ausdruck.


  Eine gewisse Herrschaft über sein Schicksal räumte dem individuellen
Charakter erst die germanisch=protestantische Tragödie ein.
Sie überwindet die Weltanschauung des Mittelalters und empfindet
die Leiden der Menschheit mit modernem Feingefühl.

§ 82.
Das englische Trauerspiel.

  Die germanischen Litteraturen, die englische und noch weit länger
die deutsche, waren durch die Schule des altrömischen und neuromanischen
Stils gegangen, bevor sie sich auf sich selbst besannen, den
Abstand ihres Nationalgeistes vom Romanismus erkannten und nach
Ausdruck des eigenen Volkscharakters rangen d. h. eine reflexionslose
naive Wiedergabe des Bildes wagten, unter dem sich die Welt im
germanischen Geiste malte.


  Mehr noch als sonst neuen künstlerischen Ansätzen fehlte den
ersten Ausprägungen germanischen Geistes in der englischen Tragödie
Maß und Form, schöne Anmut und Harmonie. Wild und ungebändigt,
maßlos sowohl in der Sprache wie in der Leidenschaft treten
uns Männer wie Thomas Kyd und Christoph Marlowe entgegen.
Selbst Shakespeare giebt sich oft überschäumend und zügellos, selbst
er schrickt vor Häufung unschöner Züge nicht zurück. Sogleich tritt
bezeichnend hervor, daß glattes Ebenmaß, Schönheit der Sprache wie
der Leidenschaft nicht mehr als Selbstzweck und letztes Ziel gilt. Hier
treffen wir nicht das friedliche Ebenmaß der Antike, nicht den immer
gleich strahlenden Glanz des romanischen Stils: charakteristische Abstufung
gilt für die Leidenschaften wie für ihre Aeußerungsformen.
Wie das Reich der Schönheit auf die Alleinherrschaft der Erhabenheit
in der Entwicklung der Poesie folgte, so muß sich nun
die Schönheit mit einer sekundären Rolle begnügen, um sich dem
Charakteristischen einzuordnen.

[202]

  Jn der antiken und romanischen Tragödie herrschen die Ereignisse,
und typische Menschen werden von ihnen gelenkt. Unhistorisch
wäre es, dem gegenüber im germanischen Trauerspiel, besonders im
englischen, die schroff ausgeprägte Herrschaft des Jndividuums über
das Schicksal sehen zu wollen. Gewiß wirken germanischer und protestantischer
Geist zusammen, um die Entwicklung auf dieses Ziel hinzulenken.
Der Masseninstinkt ist bei den romanischen, die Jndividualität,
das Jchgefühl bei den germanischen Völkern stärker ausgebildet.
Die Reformation erkennt die Freiheit eines Christenmenschen
an. Da sucht denn das englische Trauerspiel ein neues
Verhältnis zwischen dem Menschen und seinem Schicksal zu gewinnen.
Die Strenge der germanisch=protestantischen Weltanschauung läßt das
Gefühl der Verantwortung aufdämmern, und man beginnt angesichts
der tragischen Geschehnisse, angesichts des Leidens und des
Untergangs zu fragen, inwieweit ein Zusammenhang mit der individuellen
Anlage des Charakters ersichtlich ist.


  Eine induktive Betrachtung darf nicht verkennen, daß so und
nicht umgekehrt der Weg selbst eines Shakespeare geht. Wie eine
ewige Krankheit der Shakespeare-Forschung erbt sich der Versuch fort,
die Handlung in all ihren Teilen mit Notwendigkeit aus dem Charakter
zu folgern. Erfand aber der englische Dichterkönig die Handlung
zur Jllustrierung eines bestimmten, ihm feststehenden Charakters?
Vielmehr hat er die Fabel übernommen, überdies zumeist direkt oder
doch indirekt aus novellistischen, epischen Quellen, und sein geniales
Eingreifen bestrebt sich wesentlich dahin, den überlieferten Charakter
so auszubauen, daß die Handlung nicht länger zufällig, sondern, wennschon
nicht notwendig, doch glaubhaft erscheint.


  Man denke an „Romeo und Julia“: wer wollte behaupten oder
doch beweisen, das junge, feurige Liebespaar gehe ausschließlich an
seinem Charakter zugrunde, ja der Tod sei die notwendige Folge der
schuldbeladenen oder wenigstens verhängnisvollen Charaktere? Nennt
Capulet die Unglücklichen doch ausdrücklich „die armen Opfer unserer
Zwistigkeiten“, und der Prinz schließt:


„... Niemals gab es ein so herbes Los,

Als Juliens und ihres Romeos.“

Jst die Feindschaft der Eltern ihre Schuld? sind Romeo und Julia [203]
für das Zusammentreffen zahreicher weiteren unglücklichen Umstände
verantwortlich? Nur die präzise Beantwortung einer solchen
Frage führt uns dem eigentlichen Sinn und den notwendigen Schranken
des nun anhebenden Jndividualitätslebens nahe. Die Liebenden
sind nicht volle Herren ihres Schicksals, aber auch nicht mehr blinde
Sklaven desselben: das feurige Blut des Jtalieners pulsiert in ihnen,
ganz hingegeben der einen Liebesleidenschaft, sind sie jeder ruhigen
Erwägung unfähig, wild stürmen sie in die drohende Gefahr, und so
erliegen sie. Mit andern Worten: Shakespeare nimmt den Untergang
nicht mehr als unabänderliches Verhängnis; er zeichnet Charaktere,
deren individuelle Eigenschaften den tragischen, d. h. zum Untergang
führenden Verlauf der Ereignisse besonders begreiflich erscheinen lassen.


  Nicht anders erklärt sich Hamlets Los. Daß sein Charakter den
Untergang verdient, davon kann schon gar keine Rede sein. Hamlets
Tod erfolgt nicht als Sühne irgend einer zu ertüftelnden Schuld,
erfolgt überhaupt nicht als notwendige Folge einer unglücklichen, verderbenbringenden
Charakteranlage. Vielmehr ist sein Untergang durch
die Quellen, sowohl die Hamlet-Sage wie die Shakespeare vorliegende
ältere dramatische Bearbeitung, gegeben: ob der Dichter seinen Helden
untergehen lassen soll, steht danach für ihn bereits außer Frage.
Nicht: weshalb läßt er Hamlet untergehen? dürfen danach auch wir
fragen; ausschließlich kann der Prüfung unterliegen: hat er Hamlet
solche Jndividualität gegeben, daß sein äußerlich überlieferter Untergang
nun innerlich verständlich erscheint?


  So dürfen wir vor dem Bekenntnis nicht zurückschrecken, daß
auch in der englischen Charaktertragödie noch immer dem Schicksal ein
weiter Spielraum gelassen ist, daß der Charakter des Helden an dem
Fallen seines Loses wohl mitwirkt, aber auch die Charaktere der
Gegenspieler und selbst die Verkettung der Umstände beteiligt sind.
Jedenfalls fehlt es Shakespeares Dramen fast nie an diesen epischen
Resten, und man gelangt notgedrungen zu schiefen Konstruktionen,
wenn man mit Zwang die Katastrophe als allein mögliche und notwendige
Folge des Hauptcharakters nachweisen will.


  Was bedeutet aber die individuelle Ausgestaltung der Charaktere,
wenn gerade der Edle, Sympathische untergeht? Jmmer vernehmlicher,
immer präziser klingt es aus der Tragödie: „das Leben ist [204]
der Güter höchstes nicht“, der Tod ist keine Strafe, ist unter Umständen
eine Erlösung von dem Uebel bezw. aus der Welt des Uebels.
Danach steht die Frage nicht mehr so, ob der Held des Todes
schuldig ist, sondern ob sein Untergang unter obwaltenden Umständen
bei seiner Jndividualität begreiflich ist. Das Leiden des Jndividuums
ist es danach, welches uns das englische Trauerspiel realistisch
vermittelt.


  Dies reale Charakterdrama faßt den Untergang des
Menschen rein als physische Thatsache: der Held wird dadurch
weder schlechter noch besser;
wie die Sonne über Gerechten und
Ungerechten scheint, geht sie auch über Gerechten und Ungerechten
unter. Hamlet wie der König, Desdemona wie Othello, Cordelia und
Lear wie Macbeth und Frau, Romeo wie Richard III. ─ sie alle
sinken hin ins große Reich des Schweigens. Bald „bricht ein edles
Herz“, bald stirbt der „Bluthund und seine höll'sche Königin“. Wir
spüren das Wehen des ehernen Naturgesetzes ─ aber der unvergleichlichen
Kunst des Naturgenius bedurfte es, um uns das Walten
dieses Gesetzes eben natürlich erscheinen zu lassen.


  Wir wiederholen: der Held wird durch die Begründung seines
Todes nicht schlechter hingestellt ─ gilt doch der Untergang nicht als
Strafe oder auch nur als schmerzlichster Verlust; freilich ebenso wenig
übt das hereinbrechende letzte Los eine sittlich läuternde Wirkung,
eine Vergeistigung aus. Den Tod des tragischen Helden nicht bloß
als natürlich, sondern als innerlich notwendig, selbst sittlich geboten
und dennoch als höchste Verklärung seines Lebens hinzustellen,
blieb erst der idealen Charaktertragödie der Deutschen
vorbehalten. ─


  Shakespeares tiefer Blick in die Menschenseele, seine Fähigkeit
zur Ergründung der mannigfaltigsten Charaktere blieb bei alledem
unerreicht und ist gerade von den deutschen Klassikern begeistert gepriesen
worden. Wieland nennt in seinem „Agathon“ ─ und Lessing
nimmt dies Urteil auf ─ Shakespeare „denjenigen unter allen Dichtern
seit Homer, der die Menschen vom Könige bis zum Bettler, und
von Julius Cäsar bis zu Jack Fallstaff am besten gekannt, und mit
einer Art von unbegreiflicher Jntuition durch und durch gesehen hat“.
Noch bezeichnender sind die Wendungen, in denen Goethes „Wilhelm [205]
Meister“ Shakespeares Dramen huldigt: „Es sind keine Gedichte!
Man glaubt vor den aufgeschlagenen, ungeheuren Büchern des Schicksals
zu stehen, in denen der Sturmwind des bewegtesten Lebens
saust, und sie mit Gewalt rasch hin und wieder blättert.“


  Entscheidend fällt ins Gewicht, daß Shakespeare sowohl im König
wie im Bettler nicht den bloßen Repräsentanten seines Standes sieht,
sondern den individuellen Menschen sucht. Die steife Würde des
romanischen Heldentums ist durchbrochen; nicht gleichförmig äußerlich
heroisch, sondern vielgestaltig innerlich menschlich zeigt er die Fürsten
und die Liebhaber.


  Auch der von Shakespeare begründete Tragödienstil läßt der
Reflexion Raum: nur dient sie nicht den gleichförmigen Jdeen des
Dichters, sondern entspricht in mannigfacher Abstufung den jeweiligen
Charakteren, die sie ausüben. Allgemein dienen die dramatischen
Personen hier nicht als Sprachrohr des Dichters, sondern stehen auf
eigenen Füßen, sprechen aus ihrem eigenartigen Charakter heraus.
Aber überhaupt reden sie nicht nur, am wenigsten über ihren
Charakter, sie handeln charakteristisch. Otto Ludwigs Shakespeare=
Studien beleuchten diese Stilart durch scharfen Kontrast zu einer
anderweitigen Verfahrungsweise: „Jene stellt durch Aussprechen, diese
durch Darstellung dar; in jener spricht der Autor in seinen leicht
maskierten Personen, in dieser der Autor durch die innere Selbständigkeit
seiner Personen mit dem Publikum, was den Schein gewinnt,
als sprächen die Personen selber und hätten keinen andern Autor, als
ihr Autor selbst ─ die schaffende Natur.“ Diese dämonische Kongenialität
zur schaffenden Natur darf uns aber nicht wie den eben
genannten realistischen Dramaturgen blind gegen den Fortschritt machen,
den unser deutsches Trauerspiel im 18. und 19. Jahrhundert errungen,
indem es den Menschen innerlich über sein Schicksal emporhob.

§ 83.
Das deutsche Trauerspiel.

  Das deutsche Trauerspiel wie jeder Kulturfaktor unseres Volkes
zeigt in seiner Entwicklung ein jahrhundertelanges Ringen des nationalen
Geistes mit fremden Einflüssen, denen er sich weit hingiebt, bis
er, endlich zur vollen Selbständigkeit erzogen, sich auf die eigene [206]
Kraft stellt, um damit alsbald zu einer Säule für den Weiterbau der
gesamten Weltlitteratur anzuwachsen.


  Das geistliche Schauspiel erfährt zwar im Reformationszeitalter
eine eigenartige Belebung, bewahrt auch noch volkstümliche Züge,
unterliegt aber in der formellen Vervollkommnung gelehrten Einflüssen.
Paul Rebhuhns „Spiel von der keuschen Susanna“ führt einen Chor
nach antikem Muster ein, wie denn besonders in seiner Heimat Sachsen
das geistliche Spiel unter den Händen von Geistlichen und Schulmännern
gelehrteren Anstrich gewinnt und gern dogmatischen oder
pädagogischen Zwecken dient. Mehr mit dem Volke bleibt es namentlich
in der Schweiz verwachsen, nimmt dort indes ebenfalls tendenziös
protestantischen Charakter an.


  Das weltliche Trauerspiel findet im 16. Jahrhundert zunächst
an Hans Sachs und seiner Schule Bearbeiter. Er behandelt auch
manche geistliche Stoffe in rein weltlich=künstlerischer Absicht, zieht vor
allem die deutsche Heldensage, die griechische Mythologie, sowie die
Geschichte als Stoffgebiet heran. Aber der Horizont dieser bürgerlichen
Dichter bleibt nur bürgerlich; der heroische Zug der Quellen
wird unfreiwillig ins Banale nüchterner Handwerksmoral travestiert.
So macht Hans Sachs 1557 aus der Siegfriedsage eine Tragödie
mit der Moral: bleibe im Lande und nähre dich redlich! Siegfried
kommt um, weil der Fürwitz das junge Blut stach, auf Abenteuer
auszureiten, statt daheim bei seinen Eltern zu bleiben, wo er so sicher
vor jedem Feinde war! Für tragische Größe fehlt also noch das
rechte Verständnis; immerhin ist es nicht bedeutungslos, daß Hans
Sachs diejenigen seiner Dramen, welche, selbst nach Unheil und Totschlag,
den Zuschauer schließlich in tröstlicher Stimmung entlassen,
noch Komödien nennt: erst bei absolut traurigem, entsetzlichem Endeindruck
tritt die Bezeichnung Tragödie ein.


  Mit dem Auftauchen der englischen Komödianten wird die deutsche
Schauspielaufführung aus dem bisherigen Dilettantismus zu wirklicher
Kunst erhoben: anstelle der Festspieler treten Berufsspieler. Auch die
Jnscenierung, Dekoration und Maschinerie erfahren eine verhältnismäßig
glänzende Vervollkommnung. Vor allem gewinnt die Handlung
mehr Bewegung, und zum ersten male wird der menschlichen
Leidenschaft die Zunge gelöst. Trotz der Roheit dieser Anfänge ─ [207]
die Darstellung vergröberte ihre Texte noch ─ hebt damit eine neue
lebensfähige Entwicklung an, deren Keime indes schon der dreißigjährige
Krieg erstickt. Jakob Ayrer und der außerordentlich begabte
Herzog Heinrich Julius von Braunschweig schwelgen einstweilen unter
englischem Einfluß in blutiger Gräßlichkeit, und wie sie durchgehends
auf starken Effekt hinarbeiten, suchen sie eine besonders furchtbare
Endwirkung.


  Während die eben erst begründete Volksbühne der Wandertruppen
in niederem Ungeschmack stecken blieb ─ irrig ist, von einer Entartung
zu reden ─, züchtet die Gelehrtendichtung des 17. Jahrhunderts
abermals eine neue Entwicklung durch Anschluß an das Altertum und
die fremden Renaissance-Völker. Opitzens Buch von der deutschen
Poeterei läßt die Tragödie „von Göttern, Helden, Königen, Fürsten,
Städten u. dgl.“ handeln, und verlangt deshalb von ihr ansehnliche
Reden, prächtige hohe Umschreibungen. Ein heroischer Zug kommt
damit nun fortdauernd im deutschen Trauerspiel zur Geltung; der
hohe Ton bleibt wesentlich. Das tritt aufs schroffste bei dem bedeutendsten
Dramatiker des Jahrhunderts, bei Andreas Gryph, hervor.
Die holländische Renaissance, die ihrerseits auf die italienische zurückgeht,
hat ihn vor allem befruchtet. Doch greift er auch unmittelbar
auf das Altertum, d. h. hier immer in erster Linie auf Seneca, zurück
und kennt das zeitgenössische französische Drama, ebenso jedoch
englische Stücke. Die Hauptsache bleibt noch immer der Dialog, der
von Längen und Schwulst starrt. Zu dieser hochtrabend erhabenen
Rhetorik tritt doch aber auch Kühnheit der Leidenschaft in marinistischer
Ausartung. Die Tragik wird in Häufung des Scheußlichen und
Schaurigen gesucht, leidet mithin vorerst immer nicht sowohl an
Schwäche als an Ueberladung. Gryph will aber ausdrücklich die Vergänglichkeit
des Jrdischen illustrieren und predigt ganz aus christlichem
Geist heraus: „Denk' jede Stund' ans Sterben!“


  Die Zeit Gottscheds gehört dem französischen Stil in seiner
regelrechten Korrektheit und steifen rhetorischen Würde. Der bedeutendste
Dramatiker der Gottschedschen Schule, Johann Elias Schlegel,
strebt mit höherem Erfolg als sein Meister dem Großen, Ueberragenden
zu, findet aber an der Einförmigkeit der Franzosen nicht mehr volle Befriedigung
und wagt deshalb schon schüchtern, von Shakespeare zu lernen.

[208]

  Lessing ist es, der die Herrschaft Shakespeares in Deutschland
begründet. Englischen Stil übernimmt er schon in „Miß Sara
Sampson“. Auf den stammverwandten großen Dramatiker verweisen
alsdann die Litteraturbriefe und die Hamburgische Dramaturgie als
denjenigen, in dessen Zeichen die Befreiung vom romanischen Einfluß
zu erfolgen habe. Lessings meisterliche „Emilia Galotti“ trug ihm
selbst von Ebert den begeisterten Zuruf ein: „O Shakespeare-Lessing!“
Das Stück ist in der That nicht nur bedeutsam, weil es ein tragisches
Zeitbild und trotz des fremden Kostüms ein Bild aus dem deutschen
Leben entrollt. Jn der Geschichte des tragischen Stils tritt
hervor, daß Lessing zwar aufs vorteilhafteste von der straffen Komposition
des französischen Dramas gelernt hat, im übrigen aber Epoche
macht, indem er der individuellen Charakterzeichnung Shakespeares
nachstrebt. Der Prinz von Guastalla, der gewissenlose Verführer, ist
kein steifer Repräsentant seiner Würde, doch auch kein Wüterich, kein
Tyrann, auch kein bloßer verächtlicher Lüstling, sondern ein naturgetreuer,
voller Mensch, ohne Uebertreibung oder Verzerrung gezeichnet:
wohl verbrecherisch, aber aus Leichtsinn, wohl leichtsinnig, aber
aus irregeleitetem Machtgefühl, dabei von künstlerischen Jnteressen,
eine glänzende Erscheinung, bestrickend liebenswürdig ─ und so doppelt
gefährlich. Aehnlich ist Marinelli nicht mehr der Theaterbösewicht
mit teuflischer Lust an der Bosheit, vielmehr eine jener menschlichen
Kreaturen, die gewissenlos eine Machtstellung am Hofe zu behaupten
suchen, indem sie allen Lüsten und Launen des Fürsten
schmeicheln. Auch Emilia, der Heldin, diesem liebsten und rührendsten
Kind seiner Muse, giebt Lessing eine durchaus individuelle, lebensvolle
Gestaltung: fromm und gehorsam, „die Furchtsamste und Entschlossenste
ihres Geschlechts“, hat sie „so jugendliches, so warmes
Blut als eine“: eben erblüht, kindlich fröhlich und beweglich, ihre
ganze Gestalt das einzige Studium der weiblichen Schönheit für einen
Künstler, mit Vorliebe in fliegenden Gewanden, dem überernsten Liebhaber
unvermutet entgegenspringend und ihn heiter wünschend, auch
wo er sie nicht vermutet ─ was fehlt diesem berückenden Bilde an
Lebensfülle und Bestimmtheit charakteristischer Linien?


  Und dieses jugendfrische Haupt wird von den düstern Fittichen
des Todes umrauscht, diese Rose gebrochen ─ „ehe der Sturm sie [209]
entblätterte“! Dies Scheidewort läßt uns erraten, mit welcher Seelenstimmung
Emilia in den Tod geht. „Dieses Leben ist alles,
was die Lasterhaften haben
“; wenn der Vater aber ihr den
Tod giebt, um sie „von der Schande zu retten“, giebt er ihr „zum
zweiten mal das Leben“. Ruhig geht die „Furchtsamste und Entschlossenste
ihres Geschlechts“ in den Tod. „Aber was nennen Sie
ruhig sein? Die Hände in den Schoß legen? Leiden, was man
nicht sollte?
Dulden, was man nicht dürfte? ... Als ob wir,
wir keinen Willen hätten,
mein Vater!“ Hier beginnt in Aufnahme
des Shakespeareschen Charakterdramas eine Wendung über den
Stil des großen Britten hinaus: hier geht die tragische Heldin mit
vollem Willen, mit Dankbarkeit und Freude in den Tod; hier bedeutet
er nicht nur das natürliche Ende oder selbst das Ende der Qual,
─ hier bedeutet der physische Untergang die sittliche Größe. Das
ist jedenfalls ein anderer tragischer Accent, eine andere Auffassung
des letzten Leidens als Lear an der Leiche seiner Tochter Cordelia
ausdrückt:


„Ein Hund, ein Pferd, 'ne Maus soll Leben haben,

Und du nicht einen Hauch?“

oder wodurch Desdemona in ihrer Art uns zu rühren weiß:


„Verstoße mich! O, töte mich nur nicht!“

„Töte mich morgen, laß mich heut noch leben!“

„Nur ein Stündchen!“

„Nur, bis ich noch gebetet!“

Physisch=realistischer ist zweifellos die tragische Auffassung Shakespeares:
was wir soeben in Deutschland sich anheben sehen, ist zwar ebenfalls
ein Charakterdrama, das aber über die rein physische Realität hinaus
die Jdee durchführt, wie der individuelle Mensch zur Herrschaft über
sein Schicksal gelangt, nicht indem er sein letztes Los abschüttelt ─
denn wer vermöchte die Pforten des Todes zu sprengen! ─ vielmehr
indem er sich ihm mit freiem Willen unterzieht, ja es sich selbst
wirft, sobald der Untergang sittlich höher führt als weiteres Leben. ─


  Auf verschiedene Weise haben Goethe und Schiller diesen Höhenweg
des deutschen Trauerspiels weiter ausgebaut.


  Wie tief aus Goethes Seele geflossen ist Faustens Sehnsucht:

[210]
„Stünd' ich, Natur! vor dir ein Mann allein,

Da wär's der Mühe wert, ein Mensch zu sein.“

So sucht der Titan in der That das Schicksal zu meistern.


„Und fragt ihr mich, wer es zu Tage schafft:

Begabten Manns Natur- und Geisteskraft.“

So stürmt der feurige Genius, immer durchaus auf das Handeln,
nicht auf das Leiden gestellt, darein. Höchst bezeichnend läßt er seinen
Tasso gegen die Geschichte in der Phantasterei nicht physisch untergehen,
sondern zeigt den Weg, auf dem sein Held dem Untergang
entfliehen und ein neues Leben beginnen kann; und gerade das thätige,
praktische Leben, an dem Tasso unterzugehen schien, winkt ihm als
Zuflucht.


„So klammert sich der Schiffer endlich noch

Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.“

Die Charakterentwicklung ist es, die den Helden hier aus Unterwürfigkeit
zu sittlicher Höhe emporführt. Ein Zusammenbruch seiner Welt
ist erfolgt, von ihm auch willig anerkannt und ertragen.


„Verschwunden ist der Glanz, entflohn die Ruhe.

Jch kenne mich in der Gefahr nicht mehr

Und schäme mich nicht mehr, es zu bekennen.“

Damit ist das idealistische Charakterdrama in der That auf einen
Gipfel gelangt, auf dem sein Schicksal schafft sich selbst der Mann.


  Welches epische Ereignis immer das konsequente Charakterdrama
übernimmt, die Charaktere müssen so angelegt oder entwickelt werden,
daß die Ueberlieferung der Fabel innerlich motiviert erscheint. Wie
hoch dieses klassisch=deutsche Drama sich über das klassisch=griechische
erhebt, zeigt nach dieser Richtung gerade Goethes „Jphigenie“. Euripides
muß die dea ex machina bemühen, um das auf der Flucht
ereilte Geschwisterpaar zu retten. Goethes Jphigenie ringt sich zum
Zerreißen des Lügennetzes durch, in das sie sich hat verstricken lassen:
nicht mehr Betrug, ─ die Wahrheit und die Menschlichkeit ruft sie
zu ihrer Rettung an, und in diesem Zeichen siegt sie. Aehnlich darf
Orest von den Rachegöttinnen nicht in der äußerlichen Art des noch
tief im Epischen verharrenden antiken Dramas befreit werden; die
von Apoll als heilend verheißene Berührung mit dem Bild der [211]
Schwester bleibt nicht bei der äußeren Berührung mit dem Bild von
Apolls Schwester stehen: die seelische Berührung mit der milden,
reinen Seele seiner eigenen Schwester bannt die dämonischen Qualen
seines Gewissens:


„Laß mich zum ersten mal mit freiem Herzen

Jn deinen Armen reine Freude haben! ...

Es löset sich der Fluch, mir sagt's das Herz.

Die Eumeniden ziehn, ich höre sie,

Zum Tartarus und schlagen hinter sich

Die ehrnen Thore fernabdonnernd zu.“

  Von den Goetheschen Dramen, die ausdrücklich mit dem Tode
des Helden schließen, bleibt das erste, „Götz von Berlichingen“, ─
wie Lessing sofort rügte ─ noch weit in episch=biographischer Dichtweise
stecken. Gewiß gewinnt die Zeichnung der Charaktere nach
Shakespeares Vorbild individuelle Fülle und Frische. Der physische
Untergang des Helden bleibt in seiner rein äußerlichen Art noch erheblich
hinter Shakespeare zurück: er ist indes für unsern Dichter
nicht irgend entscheidend: tragisch wird für Goethe das Geschick Götzens
mit dem Fehlschlagen seiner Pläne, noch früher, mit dem Verrennen
in eine falsche Bahn.


  Lehrreich für den Goetheschen Tragödienstil wird insbesondere
die Umarbeitung des geschichtlich überlieferten Charakters von Egmont.
Um Egmont im Sinne des konsequenten Charaktertrauerspiels in gewissem
Sinne als Urheber seines Schicksals und nicht als dessen bloßes
Opfer erscheinen zu lassen, bedurfte es eines Helden, der in all
seinem sympathischen Wesen, ja zum guten teil eben durch dasselbe,
der furchtbaren, schleichenden Macht nicht gewachsen ist, die ihm gegenübertritt.
Und sein Tod ist ein Triumph: „Jch schreite einem ehrenvollen
Tode aus diesem Kerker entgegen; ich sterbe für die Freiheit,
für die ich lebte und focht, und der ich mich jetzt leidend opfre ...
Schließt eure Reihen, ihr schreckt mich nicht.“ Das ist die
idealistische Charaktertragödie, deren Held den Tod nicht blos als
unabänderlich hinnimmt, sondern sich in ihm über sein Leben zu erheben
sucht.


  Was schließlich Goethes Lebens- und Meisterwerk, den „Faust“,
betrifft, so bedarf hier zunächst die vollendet großartige Charakterzeichnung [212]
keiner Jllustrierung. Wie Faust gerade von dem dämonischen
Trieb erfüllt ist, all „der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen“,
vermißt er sich, nimmer in Genuß zu ersticken, immer unbefriedigt
vorwärtszustürmen. Ausschlaggebend für die Konsequenz, mit
welcher der Dichter Fausts Schicksal aus der Charakterentwicklung seines
Helden herleiten will, ist nun bereits der scharf auf die Bedingung
der Katastrophe zugespitzte Wortlaut der Wette:


„Werd' ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen,

So sei es gleich um mich gethan!

Kannst du mich schmeichelnd je belügen,

Daß ich mir selbst gefallen mag,

Kannst du mich mit Genuß betrügen:

Das sei für mich der letzte Tag! ...

Werd' ich zum Augenblicke sagen:

Verweile doch! du bist so schön!

Dann magst du mich in Fesseln schlagen,

Dann will ich gern zugrunde gehn!“

Dem entsprechend endet Fausts Lebenslauf mit dem ersten Geständnis
seiner Selbstzufriedenheit, mit dem ersten Wunsche, in einem schönen
Moment zu verharren. Aber zu welcher sittlichen Höhe erhebt sich
gerade diese Katastrophe! Gewiß, der Mensch, der kein weiteres Ziel
vor Augen sieht, der im Genuß aufgehen will, lebt für die Menschheit
umsonst: so ist auch Fausts Wirken und damit seinem Leben eine
Grenze gesetzt, über die er nicht hinausstrebt, an der er sich zum
Verweilen eingeladen fühlt. Jndes, nicht Versumpfung in unthätiger
Genußsucht ─ wie sie bei der Wette d. h. der hypothetischen Hingabe
an die höllischen Mächte vorschwebte ─ wird das Los dieses Helden
männlicher Thatkraft. Worin er verharren will, ist die Entfesselung
aller wirtschaftlichen Thatkraft, ist der tägliche Kampf um die Bedingungen
des Lebens, ist das immer strebende Bemühen, das zur Erlösung
führt. So schafft sich Faust im Sinne des konsequenten, des
idealen Charakterdramas ─ sogar weiter als es der Realität entsprechen
dürfte ─ sein Schicksal, auch sein letztes, selbst: aber das
physische Ende zeigt den rechten Mann auf der Höhe der Vollendung:


  „Völlig vollendet

Liegt der ruhende Greis, der Sterblichen herrliches Muster.“

Jn diesem Wort der „Achilleïs“ haben wir ein Bild des scheidenden [213]
Faust wie des scheidenden Goethe selbst. Aber auch für den in der
Blüte der Jahre Hingerafften ist im deutschen Trauerspiel nicht „der
Rest Schweigen“ ─ wie er es für Hamlet ist:


„Aber der Jüngling fallend erregt unendliche Sehnsucht

Allen Künftigen auf, und jedem stirbt er aufs neue,

Der die rühmliche That mit rühmlichen Thaten gekrönt wünscht.“

Doch gerade das Faust-Drama bietet ein Gegenstück für den sterbenden
Greis, bietet den vorzeitigen Untergang eines in der Blüte stehenden
Wesens. Der Schluß des ersten Teils, Gretchens Tod, bleibt
nicht eine seelenlose, rein physische Katastrophe. Zwar fleht auch sie,
wie nur immer eine Desdemona, um Frist für ihr junges Leben:


„Erbarme dich und laß mich leben!

Jst's morgen früh nicht Zeit genung?

Bin ich doch noch so jung, so jung!

Und soll schon sterben!“

Aber sie kommt sogleich zum Bewußtsein, wie ihre eigne Natur sie
dem Tode entgegengeführt:


„Schön war ich auch, und das war mein Verderben.“

Ja, sie ringt sich ausdrücklich zum Schuldbewußtsein durch. Die sich
einst aus dem Gefühl der Sünde erhoben:


„Doch ─ alles was dazu mich trieb,

Gott, war so gut! ach, war so lieb!“

ringt sich schließlich zur Ueberwindung des Lebens durch:


„Gericht Gottes! Dir hab' ich mich übergeben!“

So bleibt denn auch Mephistos Triumph: „Sie ist gerichtet!“ nicht
─ wie im ersten naturalistischeren Entwurf ─ unwidersprochen; die
Engelsscharen, die Gretchen anruft, sie zu bewahren, künden das
tröstende Wort: „Jst gerettet!“ Wiederum hat das reif gewordene
deutsche Trauerspiel über die rein physische Gestalt der Katastrophe
hinausgegriffen, indem es diese nicht nur aus dem Charakter entwickelt,
sondern auch den Charakter, den Geist, sich ausdrücklich
über diese physische Katastrophe erheben läßt. ─


  Dieser ideale Zug des deutschen Dramas wird von Schiller
sogar mit vollem Bewußtsein herausgearbeitet. Stellt er doch ausdrücklich
eine Theorie des Trauerspiels auf, wonach es den Sieg des [214]
sittlichen über den physischen Menschen, des Geistes über die Natur
zu verkörpern habe. Freilich wird ihm diese idealistische Tendenz
dermaßen zum alleinigen Selbstzweck, daß auch die individuelle Charakterschöpfung
dahinter zurücktritt. Die Charakteristik dient nun nicht
sowohl der Begründung der Handlung und der Katastrophe selbst als
vielmehr dem ursprünglich sekundären Moment der sittlichen Erhebung
in ihr.


  Hören wir Schillers eigene Worte, so gewinnt sein Stil sofort
historische Beleuchtung: „So lange der Mensch noch reine, es versteht
sich, nicht rohe Natur ist, wirkt er als ungeteilte sinnliche Einheit,
und als ein harmonierendes Ganze ... Jst der Mensch in den
Stand der Kultur getreten, und hat die Kunst ihre Hand an ihn
gelegt, so ist jene sinnliche Harmonie in ihm aufgehoben, und er
kann nur noch als moralische Einheit, d. h. als nach Einheit strebend,
sich äußern. Die Uebereinstimmung zwischen seinem Empfinden
und Denken, die in dem ersten Zustande wirklich stattfand, existiert
jetzt blos idealisch; sie ist nicht mehr in ihm, sondern außer ihm;
als ein Gedanke, der erst realisiert werden soll, nicht mehr als Thatsache
seines Lebens.“


  Diese Forderung ist aufgestellt, als Schiller in allen Teilen der
Darstellung seinen Uebergang zum idealistischen Stil vollzog. Doch
schon in seiner Jugendzeit mit ihrer naturalistischeren Menschenauffassung
hat Schiller wenigstens das letzte Los sub specie aeterni
gesehen, freilich noch in roheren, äußerlicheren Formen. Räuber Moor
erfährt „am Rand eines entsetzlichen Lebens ... mit Zähnklappern
und Heulen“, daß zwei Menschen wie er „den ganzen Bau der sittlichen
Welt zugrunde richten würden“. ─ Und nun erlebt die staunende
Welt das einzigartige Schauspiel, wie ein aufwärts gerichteter
Geist auf Schwingen der Begeisterung mehr und mehr das Jrdische
überwindet.


„Jndessen schritt sein Geist gewaltig fort

Jns Ewige des Wahren, Guten, Schönen,

Und hinter ihm in wesenlosem Scheine

Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.“

So hat Schiller durch die hehre Macht seiner tragischen Kunst die [215]
Schauer des Todes besiegt und die christliche Jdee der Weltüberwindung
zu reinster künstlerischen Ausgestaltung geführt.


„Was klagt ihr? Warum weint ihr? Freuen solltet

Jhr euch mit mir, daß meiner Leiden Ziel

Nun endlich naht, daß meine Bande fallen,

Mein Kerker aufgeht, und die frohe Seele sich

Auf Engelsflügeln schwingt zur ew'gen Freiheit ...

Wohlthätig, heilend nahet mir der Tod,

Der ernste Freund! Mit seinen schwarzen Flügeln

Bedeckt er meine Schmach ─ Den Menschen adelt,

Den tiefstgesunkenen, das letzte Schicksal.“

Damit spricht die sterbende Maria Stuart für ihren Fall aus, was
sich uns als Leitmotiv in der Entwicklung des reindeutschen Trauerspiels
offenbarte. Das Schicksal fällt aus Gottes Hand, aber nicht
blind verteilt er es, sondern heller sehend als die Sterblichen, nach
höchster Gerechtigkeit und aus dem Geiste göttlicher Wahrheit. Nicht
das physische Unterliegen bedeutet das letzte Entscheidungslos: das
fällt vor dem Forum einer höheren Sittlichkeit. An sie verweist die
tragische Muse über den Tod hinaus ─ wie es am unmittelbarsten
die Jungfrau von Orleans ausspricht:


„Der die Verwirrung sandte, wird sie lösen!

Nur, wenn sie reif ist, fällt des Schicksals Frucht!

Ein Tag wird kommen, der mich reiniget.

Und die mich jetzt verworfen und verdammt,

Sie werden ihres Wahnes inne werden,

Und Thränen werden meinem Schicksal fließen ...

Du siehst nur das Natürliche der Dinge,

Denn deinen Blick umhüllt das ird'sche Band.

Jch habe das Unsterbliche mit Augen

Gesehen ─ Ohne Götter fällt kein Haar

Vom Haupt des Menschen ─ Siehst du dort die Sonne

Am Himmel niedergehen ─ So gewiß

Sie morgen wiederkehrt in ihrer Klarheit,

So unausbleiblich kommt der Tag der Wahrheit!“

Jnfolge solcher konsequenten Durchführung der idealen Einheit zwischen
Charakter und Schicksal bezeichnet den tragischen Stil Schillers ein
weites Zurückweichen in der realen und individuellen Darstellung des
Charakters. So ist es denn das Ziel aller weiteren dramatischen [216]
Entwicklung geworden, die Linie zu finden, wo sich die uneingeschränkte
Entfesselung aller physischen Mächte mit der höchsten sittlichen Freiheit
berührt und versöhnt, d. i. eine höhere Einheit für die realistische und
idealistische Charaktertragödie zu erringen.

§ 84.
Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen.

  Gemeinsam bleibt den verschiedenen Entwicklungsformen des
Trauerspiels nach alledem nichts anderes als daß es den handelnden
und unterliegenden Helden in voller Verkörperung zeigt, den dem
Untergang geweihten handelnden Helden verkörpert.

Nach dem Verhältnis des Handelns und Leidens ist die Entwicklung
des Trauerspiels abgestuft.


  Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen, sollen vor Augen
gestellt werden ─ wie im Epos, aber durch das Mittel lebendiger
Gegenwart. Die Form der Gegenwart für vergangene Ereignisse
nennt die Grammatik Praesens historicum: das ist die Zeit
der Tragödie.


  Eine volle Verkörperung der Ereignisse geschieht, weil nicht
mehr allein die Thaten, oder allein die Empfindungen, die seelischen
Neigungen vorgeführt werden, sondern zugleich Seele und Seelenäußerung
durch Thaten ─ also der ganze Mensch.


  Der Tragiker verkörpert andre. Aber welche andren? Nicht
jeden beliebigen Hinz und Kunz: zunächst die Gottheit, dann Helden
oder Personen von sonst allgemeiner Bedeutung, so individuell sie
schließlich gezeichnet sein mögen. Das bürgerliche Trauerspiel ersetzt,
was den Personen an öffentlicher Bedeutung abgeht, wenigstens durch
allgemein menschliche Bedeutung ihrer Charaktere oder Schicksale. Die
Tragödie vergegenwärtigt und verkörpert demnach Wesen von allgemein
menschlicher Bedeutung.


  Von dem Augenblick, wo ein Aktor dem Chor bezw. dem Evangelisten
gegenübergestellt wird, wo eine Rollenverteilung eingreift, läßt
der Dichter in zunehmendem Maße nach, als solcher zu sprechen: die
Personen sprechen selbst, stellen sich selbst dar ─ der äußeren Erscheinung
nach wenigstens. Dem innern Ursprung nach aber spricht
der Dichter in ihrer Rolle.

[217]

  Bei alledem wird nicht ohne weiteres klar, worin die subjektive
Beteiligung des Dichters und Publikums besteht. Teilnahme an dem
Leiden des Göttlichen führt zum ersten Trauerspiel; Teilnahme
an dem Leiden des Ueberragenden, Gewaltigen
bleibt der
Jnbegriff tragischer Wirkung. So wird beiderseits die Teilnahme an
dem Helden Voraussetzung: der Dichter muß zunächst sein Jnteresse
für den Helden in möglichst hohem Maße mitzuteilen, dem Publikum
zu vermitteln wissen. Teilnahme für den leidenden Helden ist Mitleiden
im starken verbalen Sinne, Nachfühlen seiner Leiden,
Sympathie im eigentlichen Wortverstande. Das bloße „Mitleid“ im
heutigen abgeschliffenen Sinne des Begriffs deckt nicht völlig die Tiefe
der Wirkung. Die Tragödie erregt durch lebhafte Verkörperung
des leidenden bedeutsamen Wesens unser lebhaftes
Mitgefühl, unser erschüttertes Mitleiden:
wiederum
bewährt sich die Poesie als starker Gefühlsausdruck.


  Vergnügen im gewöhnlichen Sinne gewährt das Nachfühlen der
Leiden eines andern gewiß nicht. Jmmerhin scheuen wir den Gefühlsausbruch
nicht, suchen ihn vielmehr auf, selbst wo er das Leidensgefühl
betrifft. Woher diese Lust am Leid?


  Jedes Weinen, jedes Ausleben des Schmerzes, bringt uns Erleichterung
vom Schmerz. Jst es aber eigenes Leid, so erzielen wir nichts
andres, als eine Milderung desselben, nur teilweise eine Entlastung
von ihm. Selbst das Nachfühlen fremden Wehs bringt uns im Leben
Unlust; der Tod eines Freundes, eines Bekannten läßt eine schmerzliche
Empfindung, einen Stachel in uns zurück, selbst nachdem wir
uns durch Auslassung unseres ersten Schmerzes erleichtert haben.
Anders, wenn diese Leiden der andern nur in der Fiktion, in der
Phantasievorstellung, unser Mitgefühl herausfordern: nun erzielen wir
eine Entladung ohne eine mit dauernder Unlust verbundene Beladung,
eine Entladung von den uns immanenten Leidensempfindungen,
von der in uns ruhenden Wehmut über das Leid der
Welt.
Daher unsere Erleichterung als tragische Wirkung, eine
Erleichterung, welche der Wucht der Erschütterung entspricht. Sie
aber wächst um so kräftiger an, je gewaltiger, je edler, je würdiger
der Leidende vor uns tritt.


  Wo Aristoteles in seiner Poetik die Wirkung der Tragödie definiert, [218]
faßt er sie „δι' ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων
παθημάτων κάθαρσιν“. Wenn wir die „Katharsis“ nach dem Vorgang
von Jakob Bernays mit „Entladung“ übersetzen und mit demselben
Ausleger die παθήματα nicht als vorübergehenden Affekt, sondern
als dauernde Affektion nehmen, ergiebt sich manche Berührung
unseres Ergebnisses mit der Auffassung des Stagiriten. Freilich
dürften wir zur Annahme weitergehenden Uebereinstimmens diese nicht
mehr wie Lessing dahin auslegen, daß „die Tragödie unser Mitleid
und unsere Furcht erregen soll, bloß um diese und dergleichen Leidenschaften,
nicht aber alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen“.
Dahingestellt bleibe immerhin, ob wir berechtigt wären, unser Ergebnis
schon so weit aus Aristoteles herauszulesen, daß wir übersetzten:
„durch Mit-Leiden und Furcht bewirkend die Entladung von solchen
(nicht auf Mitleid und Furcht, sondern auf die dargestellten, mitgefühlten
Leiden im allgemeinen bezüglichen) Leidensempfindungen“.
Jedenfalls nötigt unsere Gesamtbetrachtung zum Festhalten
an der Entladung von Leid, nicht von Mitleid. Wäre doch auch die
Befreiung von Mitleid keineswegs eine wohlthuende oder gar edle
Empfindung.


  Bleiben wir also bei der von uns gewonnenen Definition stehen:
Das Trauerspiel bewirkt Entladung von der in uns
ruhenden Wehmut über das Leid der Welt, vermittelst
Vorstellung eines starken, zur Katastrophe führenden
Leidens eines andern, für uns bedeutsamen Wesens,
durch den bloßen Schein der Vorstellung losgelöst von
aller im Leben damit verbundenen Unlust.


[figure]
[E219]

II. Das Lustspiel.

§ 85.
Begründung der Lustspielform.

  Mit dem Trauerspiel, obschon es sich stufenweise dramatischer
entwickelt, ist noch nicht der Gipfel realer dramatischer Gestaltung erstiegen.
Noch immer bleibt der Mensch nur bedingter Herr seines
Schicksals: er bringt einen Stein ins Rollen, der ihn vermöge von
Umständen, die nicht von ihm abhängen, schließlich zerschmettert. So
ist der Held an der Ursache seines physischen Untergangs mitbeteiligt
─ nicht mehr. Darüber hinaus sucht das Jdeal des Charakterdramas,
wie es den deutschen Klassikern vorschwebt, im sittlichen Sinne
den Menschen zum vollen Herrn seines Schicksals zu machen, das ihm
zufallende Los in Beziehung zu seinem Charakter hinzustellen.


  Jnnerhalb des rein menschlichen Bereichs ist eine solche Bestimmung
und Beherrschung der Handlung durch die Charaktere unmittelbarer
möglich, wo es sich um Charakterzüge handelt, durch welche
nicht auch die eben außerhalb des Menschen mächtige und waltende
göttliche Weltordnung herausgefordert wird; wo die kleinen menschlichen
Neigungen und Schwächen, die Bethätigung des rein irdischen
Lebensdranges, die Ordnung menschlicher Verhältnisse, das Leben der
Menschen neben einander zur Geltung kommen. Nicht das Verhältnis
des Menschen zur göttlichen Weltordnung, allein das zu den Mitmenschen
dürfte in Frage kommen, wenn die Ereignisse sich in der
rein menschlichen Machtsphäre halten sollen. Eine solche weitere dramatische
Gattung bildet sich in der Komödie aus.

[220]

  Die Voraussetzung dieses zweiten dramatischen Ansatzes ist in
der Stimmung gegeben, mit welcher wir das Leben zu betrachten
pflegen, solange es gesichert, namentlich nicht durch Tod oder sonst
schwereres Verhängnis gefährdet erscheint. Das Behagen am Leben,
die Lust am immer neuen Aufkeimen der Natur, der Genuß der
Lebensfreuden, der Lebensmut und Uebermut, mit dem wir auf unsere
Mitmenschen blicken: das alles hat in der Tragödie keinen Raum
und drängt doch nicht minder stark nach unmittelbarer Vergegenwärtigung
und Verkörperung als das Weltleid mit seinem jenseits und
aufwärts gerichteten Zug. So zielt auch die Lebenslust mit ihren
ausschließlich auf das Diesseits und das „volle Menschenleben“ gerichteten
Augen auf dramatisch lebendigen Ausdruck hin.

§ 86.
Die Anfänge der Komödie in Griechenland.

  Die Entstehung der Komödie bestätigt Erfahrungen, die sich uns
schon in Ausbildung früherer Formen der Poesie aufdrängten: wiederum
geschieht die Fortentwicklung durch Verzweigung. Der Dionysos=
Kultus hatte nicht nur eine ernste, weihevolle, sondern auch eine übermütig
heitere, überschwänglich orgiastische Seite. Galt es doch, in
Dionysos die üppige Naturmacht, den Gott der Fruchtbarkeit und des
Rausches zu feiern.


  Das Fest der Weinlese wurde durch ein Dankopfer für Dionysos
begangen. Des Gottes der zeugenden Naturkraft voll, trug man dem
Festzug als deren Symbol einen Phallos voran und sang übermütige
Dithyramben voll derber Lebens- und Liebeslust. Mit den Vorbeiziehenden
neckte man sich in dieser Festzeit überdies in ausgelassenen
Spottreden. So lag die Einführung dialogischer Elemente in den
ursprünglich alleinigen Chorgesang nahe. Die neue dramatische Form,
beim Herumschwärmen ausgebildet, blieb zunächst recht eigentlich ein
Schwarmgesang und führt daher die Bezeichnung Komödie
(κωμῳδία von κῶμος).


  Man muß der ausschweifenden, wild überschwänglichen eleusinischen
Mysterien gedenken, um den Geist zu ahnen, aus dem die
Komödie geboren ward. Noch Aristophanes bewahrt in dem Chor [221]
der Mysten, den die „Frösche“ auf die Scene führen, einen Nachklang
dieses Geistes wie der Formen, in die er sich kleidete.


„Aufflammen laß den Glutschein, schwing die Fackel in den Händen.

  Jakchos, o Jakchos!

Heller Stern der nächt'gen Feier,

Sieh, im Glanze strahlt die Aue;

Selbst der Greis hebt seinen Fuß leicht

Und abwirft er seine Sorgen,

Und die Drangsal seiner Jahre

Schwindet ihm in heil'ger Festlust ...“

Nachdem der Chorführer Unberufene aus dem Weg der Geweihten
fortgewiesen, stimmt der Chor an:


„Laßt ziehn uns mit einander

Zur blumenreichen Aue;

Dort tanzt und jubilieret

Mit ausgelaßner Freude;

  Dem Ernst sei nun ein End' gemacht.“

Nun geht er in überschwängliche Hymnen zu Ehren der Demeter über,


„Die unsern Gefilden Gedeihen verleiht“.

Aus solcher wilden, religiös geweihten Weltlust ist die Komödie
erwachsen.


  Da die sizilische Komödie schnell abblüht, kommt wiederum
wesentlich die Ausbildung dieser Form auf attischem Boden in betracht.
Die vorschreitende Entwicklung aus dem Chorgesang zum Dialog läßt
sich nicht bei geschichtlich gleich klarer Beleuchtung wie auf tragischem
Boden verfolgen. Ebenfalls kamen Masken zur Anwendung, nur
naturgemäß geflissentlich groteskere, wie denn auch das Kostüm des
Chors so wunderlich wie möglich war. Anstelle des tragischen
Kothurns, welcher die Erhebung über die gewöhnlich=irdische Sphäre
und Stilart schon äußerlich markierte, trat der niedrige Sokkos.


  Zunächst blieb die Komödie sich selbst überlassen. Solange sie
den improvisatorischen Charakter nicht abgestreift, konnte sie kaum als
Kunstform gelten. Selbst dann noch verstrich geraume Zeit, bis
man sie der Tragödie äußerlich gleichstellte. Aristoteles beklagt
(Poetik, 5. Kapitel), daß man sich um die Komödie anfangs nicht
ernstlich bekümmerte: „So bewilligte auch der Archon erst spät einen [222]
Chor für die Komödie, vorher behalf man sich mit Freiwilligen ...
Besondere Fabeln dichteten zuerst Epicharm und Phormis. Diese
Neuerung kam somit aus Sizilien; von den attischen Dichtern begann
zuerst Krates die Form der persönlichen Verspottung zu lassen und
Stoffe und Fabeln allgemeiner Natur einzuführen.“


  Die Komödie als Kunstform erinnert in den Anfängen ihrer
Geschichte lebhaft an die Geschicke der Tragödie. Namentlich hat
Kratinos, der uns als ältester unter den hervorragenden Komödiendichtern
begegnet, viel Verwandtes mit Aeschylos. Er hat des Gottes,
aus dessen Verherrlichung die Komödie entsprang, ersichtlich einen
Hauch verspürt. Heißt doch schon der Chor der Geweihten in den
„Fröschen“ des Aristophanes ausdrücklich jeden vom heiligen Festreihen
zurücktreten,


„Der nicht vom stiergewalt'gen Kratin die bakchischen Weihen empfangen“.

Jndem hier ein markantes Epitheton des Dionysos wie stiergewaltig
(τοῦ ταυροφάγου) auf Kratinos übertragen wird, erscheint er als würdigster
Jünger des Dionysos-Dienstes anerkannt. Jn den „Rittern“
vergleicht Aristophanes ihn einem Waldstrom, der alles mit sich fortreißt.
Diese erhabene Wucht eint sich mit hohem sittlichen Ernst.
Nicht nur im Stil, schon im Stoff erhebt Kratinos die Komödie aus
dem niedern Bereich. Von possenhafter Behandlung der Alltäglichkeit
lenkt er die Komödie auf die öffentlichen Angelegenheiten hin und
giebt ihr so einen bedeutsamen Gehalt. Während der Aufbau seiner
Komödien noch viel zu wünschen übrig ließ, wird Eupolis gerade
wegen der echt dramatischen Einkleidung seiner Absichten gerühmt.
Vor allem sollen die Dramen dieses Dichters von echt poetischer
Phantasie durchweht gewesen sein. Trotzdem er als iratus gilt und
die Geißel seiner Satire schonungslos schwang, hat er heitere Anmut
zu erreichen verstanden. So hatte die Komik bereits eine gewisse
ästhetische Schönheit gewonnen, als Aristophanes auftrat.


  Er wird zum Klassiker der Komödie, indem er durch gemütvollen,
überlegenen Humor die Roheit der Posse wie die Niedrigkeit
der Lieblingsmotive endgültig überwindet. Den Zustand, dem er ein
Ziel setzte, schildert er mit vollem Selbstbewußtsein so wegwerfend
wie möglich:

[223]
„Denn alle, die einst wettkämpften mit ihm, hat er ja, der eine, bewältigt,

Die Lumpen und Not aushöhnten und stets sich herum nur balgten mit
Läusen.

Die Herakles dann, die ewig den Mund vollkneteten, hungernd und lungernd,

Und die Flüchtlinge dort und das Gaunergezücht und was zum Vergnügen
sich durchpeitscht,

Die trieb er zuerst mit Schande hinweg; auch schuf er der Sklaven Erlösung,

Die stets auftraten mit lautem Geheul, nur aus dem ergötzlichen Grunde,

Daß mit höhnischem Spott ihr Mitknecht dann sie wegen der Schläge befragte:

Armseliger, ach, was traf dir das Fell? Brach etwa der borstige Zagel

Mit Heeresgewalt in die Flanken dir ein und zerbläute dir tüchtig den Rücken?

Solch faules Geschwätz, solch häßlichen Schund, solch widrige Fratzen vertrieb
er

Und erschuf uns groß die gesunkene Kunst und türmte den Bau in die Lüfte

Mit Gedanken und Wort von erhabnem Gehalt und nicht marktähnlichen
Witzen,

Das Gewöhnliche nicht durchziehend mit Spott, alltägliche Männlein und
Weiblein:

Nein, Herakleswut in der zornigen Brust, legt er an die Mächtigsten
Hand an.“

Da erscheint also neben Alltäglichkeit der Stoffe und Seichtheit der
Sprache bereits die konventionelle Wiederkehr gewisser niedrigkomischer
Typen als bezeichnend für die frühe Komödie. Die Zeichnung originaler
Charaktere mit direkter Anlehnung an individuelle Gestalten
bildet auch den bedeutsamsten Ruhmestitel des Aristophanes. Jndem
er mit Vorliebe Gestalten aus seiner eigenen Zeit, bald einen Kleon,
bald Sokrates, bald Euripides, aufgreift und teils unmittelbar, teils
in leicht durchsichtiger Hülle auf die Scene bringt, selbst ihr äußeres
Auftreten und ihre Gewohnheiten aufnimmt, giebt er seinen Figuren
einen gewissen Anstrich von Jndividualität, obschon er sie im Kern
als Typen faßt und seine Modelle ausdrücklich nach dieser Richtung
verallgemeinert. Namentlich in den „Wolken“ hat man denn auch
die Zeichnung des Sokrates nach dem Typus der Sophisten von je
her übel empfunden. Jmmerhin bricht hier fast überall bereits das
Wesen des Charakterdramas durch. Von den Menschen und ihrem
Wesen, nicht von Ereignissen und Schicksalen, geht ja der Dichter bereits
aus. So wird denn die Komik des Aristophanes zunehmend
Charakterkomik. Allerdings verschmäht selbst er noch nicht die Hauptmittel
früher Komik: Unanständigkeiten und Prügel. Aber es handelt [224]
sich doch im allgemeinen nicht mehr um Zoten, also bloße Worte;
die naturalia sind vielmehr in die Handlung eingewoben. Aehnlich
werden die reichlichen Prügel nicht mehr als typischer Tribut der
Sklaven oder dergl. äußerlich verwandt: wenn uns Aristophanes über
sie lachen macht, spekuliert er nicht mehr auf die rohe Lust an der
Züchtigung eines Niedrigstehenden; vielmehr vermag er sie als eine
wirklich dramatische Aeußerungsform des Komischen aus der Handlung
herzuleiten. Man erinnere sich, wie in den „Fröschen“ Dionysos
und Xanthias sich abwechselnd als Herkules ausgeben, um stets, sobald
einer vom andern die herkulische Drapierung mit Keule und
Löwenfell empfangen hat, nur für Gewaltthaten des echten Herkules
gezüchtigt zu werden. Jn den „Vögeln“ ist die Peitsche, die Ratefreund
führt, geradezu die dramatische Verkörperung der Peitsche,
welche die Satire des Dichters über die Schmarotzer des Staatswesens
schwingt.


  Die charakteristische Aeußerungsform dieser Komödien ist also,
daß sie ihre Gestalten der Heiterkeit preisgeben, während
zuerst durch bloße Worte, alsdann auch durch drollige Situationen
Heiterkeit erregt wurde.


  Durch welche Mittel bewirkt der Dichter diese Heiterkeit? Giebt
er in wohlfeilem Spott verächtliche Personen dem Lachen preis? Jm
Gegenteil bleibt selbst Dionysos von der frohen Laune des Dichters
nicht verschont. Der Gott ist in heitere Beleuchtung gerückt, indem
ihm alle kleinen Menschlichkeiten beigelegt sind, und dieser Gegensatz
zu dem, was man im Ernst als das Wesen des Gottes anzusehen
hat, zumal er in Gestalt des Herkules erscheint und dennoch besonders
gerade durch Furchtsamkeit ausgezeichnet ist, ruft heitere Betrachtung
des Hehren hervor. Wie hier die göttliche Sphäre, wird in
den „Vögeln“ die staatliche in ernstlose, heitere Beleuchtung gerückt.
Fortdauernd ist das ernste Menschentreiben in einem ernstlosen Gegenstück
gespiegelt. Kaum ist der neue Staat, das Reich der Vögel,
begründet ─ höchst bezeichnend ist das Menschliche durch Uebertragung
in die Tiersphäre parodiert ─, als der Poet sich meldet, um
zur Aufbesserung seiner zerrissenen Kleidung Schmeichelgesänge auf
die Stadt anzustimmen. Ebenso erscheint der Wahrsager, auch er des
Lohnes wegen zudringend, um durch seine Ueberdreistigkeit schließlich [225]
nichts anderes als Prügel zu ernten. Nicht lange, so wird natürlich
auch ein staatlicher Kommissar in die neue Bundesstadt gesandt.
Ratefreund glaubt ihm den freundlichsten Empfang durch die Frage
vorzuspiegeln:


  „Sag, willst du deine Diäten nicht

Gleich nehmen und dann wieder gehn?“

„Gewiß, sehr gern!“


ist seine von Ratefreund erwartete, den Mann genugsam charakterisierende
Gegenäußerung. So zahlt ihm Ratefreund mit Prügeln heim:


„Da nimm! das sind die Diäten, die man bei uns zahlt.“

Ersichtliche Elemente des Lebens, die uns im Leben Aerger bereiten
würden, sind in einer andern Sphäre gespiegelt und konsequent bis
zur äußersten Zuspitzung durchgeführt.


  Ein heiteres Gegenbild des Lebens, eine Art Parodie bewirkt
namentlich auch die Uebertragung des Chors in diese andere, kleinlichere
Sphäre. Das anapästische Versmaß, die geflissentliche Feierlichkeit,
die dem ernst tragischen Ton nacheifert, ruft hier, wo man ihn
garnicht erwartet, eine ausgeprägt heitere Stimmung hervor. Die
gleiche Wirkung erzielt die pedantisch gewissenhafte Nachahmung der
menschlichen Opfergebräuche wie aller Elemente des Kultus. Gerade
der Wiedehopf ist es, der die feierliche Aufforderung an die Nachtigall
anstimmt:


„Jetzt hurtig, Gespielin, verscheuche den Schlaf,

Laß ertönen die Weisen geweihten Gesangs,

Die aus göttlichem Munde dir quellen hervor“

u. s. f. Jmmer erzielt die Aristophanische Komödie ihre eigenartige
Wirkung durch Verkehrung der ernsten oder selbst ärgerlichen Seiten
des Lebens in ihr Gegenstück; oft auch geschieht diese Verkehrung in
die entgegengesetzte Wirkung durch Uebertreibung des ernsten Objektes.


  So wirkt die griechische Komödie auf dieser Höhe ihres Könnens
nicht anders wie in ihren Anfängen helles Lachen ausschließlich durch
Auffassung des Lebens von der heitern Seite. Sie ist deshalb durchaus
nicht auf eine ausgleichend und befriedigend zugespitzte Schlußwirkung
gestellt, die in unkünstlerischer Absichtlichkeit Lob und Tadel,
Lohn und Strafe unmittelbar austeilt. Auch wo ausdrücklich der
Bessere triumphiert oder der Verächtlichere beschämt von dannen zieht, [226]
bleibt diese Wendung sekundär, der rein heiteren Endwirkung unter=
oder doch eingeordnet. Nicht in tendenziöser Herausarbeitung einer
solchen Abfertigung enden denn auch die Aristophanischen Stücke, sondern
mit Vorliebe in Uebermut und hellem Siegesjubel. Die befreiende
Macht des Humors, jener gemütvoll heitern Betrachtung der
Menschen, schwingt sich selbst nach manchem Peitschenhieb schließlich
über alles Aergnis des Rohstoffes hinaus und überwindet den Schlechten
wie den Tugendbold vorherrschend nicht sowohl durch Sittenrichterei
als vielmehr durch liebenswürdige Aufdeckung des Kleinmenschlichen
in allem irdischen Treiben. Die Macht des Bösen ist
nicht ernst genommen, ist viel zu lächerlich, um zu beunruhigen. ─


  Jm Aufbau bewahren die Aristophanischen Komödien die Einheit
des Ortes und der Zeit äußerlich insofern, als ein wirklicher Scenenwechsel
und gar eine wirkliche Zwischenpause wohl kaum vorauszusetzen
ist. Aber innerlich fesselt sich die dramatische Form keineswegs
in diese engen Bande. Weder in den „Acharnern“ noch in den
„Fröschen“ erscheint ein Scenenwechsel möglich, obgleich die Handlung
sich auf verschiedene Orte erstreckt. Namentlich die Scene der „Frösche“
ist ausdrücklich vorschreitend zu denken, wie der alte Dithyrambos
schreitend gesungen ward. Herakles weist die Reisenden an den
Acheron, Dionys wird übergesetzt, er pocht an die Pforten der Unterwelt,
gelangt vor Plutos Palast, ohne daß der Dialog wirkliche
Unterbrechung erleidet. Aehnlich wird in den „Vögeln“ die Herbeischaffung
der Basileia aus dem Himmel kaum zugesagt, als man sich
auch schon zu ihrem Empfang rüstet und sie thatsächlich sogleich erscheint.
Was somit äußerer Notbehelf der primitiven, überdies an
den Chor gebundenen griechischen Bühne war, erscheint durchaus nicht
als ein organisches Gesetz derselben. Wechseln doch sogar in den
„Fröschen“ mit der wechselnden Gegend die Chöre: vor dem Chor
der Geweihten stimmt bereits ein Froschchor Gesänge an, allerdings
hinter der Scene.

§ 87.
Die nachklassische antike Komödie.

  Die versöhnliche Weltanschauung der klassischen Komödie, welche
allen Gebrechen der Zeit eine heitere Seite abgewinnt, gedeiht am [227]
glücklichsten in einer Epoche des politischen Kraftgefühls und sozialen
Behagens. Jn Zeiten des Unbehagens, des unruhigen Gärens findet
der Dichter nicht mehr die Unbefangenheit frohen Humors, die
Oeffentlichkeit nicht mehr die Furchtlosigkeit ruhigen Duldens. Wir
sehen die griechische Komödie deshalb von Behandlung öffentlicher,
bedeutsamer Angelegenheiten und Charaktere abstehen, innerhalb des
Hauses und der Familie, überhaupt des privaten Lebens ein neues
Stoffgebiet suchen: die Liebe vor allem ist es, die nun in den Mittelpunkt
der komischen Handlung tritt.


  Nur spärliche Reste der spätern griechischen Komödie sind auf
uns gekommen. Selbst von ihrem hervorragendsten Vertreter Menander
können wir nur aus indirekten Zeugnissen, aus winzigen Bruchstücken,
am meisten aus den römischen Ueberarbeitungen einiger seiner
Werke ein Bild gewinnen. So nehmen wir wahr, daß die Komödie
inzwischen an Reichhaltigkeit des Details und doch an Geschlossenheit
des Baus wesentliche Vervollkommnung erfahren hat. Jnteressante
Jntriguen, kunstvolle Schürzung und Lösung des Knotens findet man
fast überall. Auch die Charaktere haben an Fülle von feinen Einzelzügen
gewonnen; es fehlt auch nicht an einzelnen individuellen Momenten:
dennoch fehlt nicht nur die intuitive Kraft eines Aristophanes,
es pflanzt sich vor allem nun dauernd ein konventioneller Bestand
typischer Figuren fort, die, wennschon mit leichten Variationen,
immer wiederkehren. Der listige Sklave, der Parasit, der Renommist,
die geldgierige Hetäre u. a. m. sind zu stehenden Figuren mit einem
in den Grundzügen festliegenden Charakter erstarrt. Einen Fortschritt
der charakterisierenden Kleinkunst soll Menander durch charakteristische
Abstufung des Tones je nach dem Wesen seiner Personen und je nach
ihrer Lage herbeigeführt haben. Aus den Resten wie den Ueberarbeitungen
erkennt man besser einen gewandt rhetorischen Zug und einen
Ausfluß milder, epikuräischer, keineswegs großer Lebensanschauung. ─


  Die neuere griechische Komödie hat durch römisches Medium bis
in die Neuzeit hinein befruchtend gewirkt. Zwar hatte die italische
Komödie aus Spielen und Aufzügen eigene Triebe angesetzt: aus den
fescenninischen Spielen bildeten sich in Rom die Satiren (saturae),
deren Spottverse unter Tanz und Flötenbegleitung vorgetragen wurden.
Zu wirklich dramatischer Form entwickelten sich die Atellanen, [228]
die mit stehenden komischen Charakterfiguren arbeiteten. Aber erst
dem Einfluß der neueren griechischen Komödie, besonders der Menander
und Philemon, verdankt die Gattung auf italischem Boden kunstmäßige
Ausbildung. Plautus und Terenz treten durchaus als Ueberarbeiter
griechischer Originale auf, wennschon sie auch Figuren aus
dem einen Stück ins andere mitübernehmen. Den typischen Zug der
stehenden Figuren haben diese Nachahmernaturen mit besonderer Begier
aufgegriffen, so daß die Personen des römischen Lustspiels fast
wie Angehörige einer großen Familie erscheinen. Zu einer festen
Charge war vor allem der listige Sklave ausgebildet, der Vertraute
seines Herrn, der die Fäden der Jntrigue in Händen hält und durch
seine Verschlagenheit die Pläne seines Herrn zum glücklichen Ende
führt. Neben den Hetären, Kupplerinnen, Parasiten, Wucherern und
ähnlichen Standestypen sind auch gewisse Grundzüge in den Charakteren
je nach dem Alter durchgehend: der leichtlebigen, liebenswürdigen
Jugend tritt mit Vorliebe das nüchterne, trockene Alter gegenüber;
ein zweiter Alten-Typus hat sich aber noch ein jugendfrisches,
weiches Herz bewahrt und steht mit Rat und That zur Jugend.
Edlen Frauen ist noch keine selbständige Stellung in dieser griechischrömischen
Komödie verliehen. Sonst war eine Fülle von Motiven
und Verwicklungen gegeben und so dies Familien- und Hetärenstück
in einen ziemlich engen Horizont gebannt.


  Verteidigt sich doch Terenz im Prolog des „Eunuchen“ gegen
den Vorwurf des litterarischen Diebstahls mit den vielsagenden Wendungen:



  „Doch wenn

Dieselben Charaktere andre nicht

Behandeln dürfen, wem ist's dann noch jetzt

Erlaubt, eilfert'ge Sklaven aufzuführen,

Gutmütige Matronen uns zu geben

Und böse Buhlerinnen, gefräßige

Schmarotzer und ruhmredige Soldaten,

Ein eingeschobnes Kind und einen Alten,

Vom Sklaven überlistet, Liebe, Haß

Und Argwohn? Kurz, nichts läßt sich schreiben, das

Nicht früher schon geschrieben wurde ...“ ─

Bei alledem hat die komische Wirkung gegenüber der ursprünglich [229]
überschwenglichen Gewalt eine Milderung erfahren. Sie beruht auf
geschickter Verflechtung der Charaktere in eine kunstvolle Jntrigue, die
mit Vorliebe dem Witz des treuen Sklaven oder sonst einer planvollen
Lenkung aus dem Kreise der Lustspielfiguren selbst zu verdanken
ist, bisweilen freilich auch glückliche Zufälle walten läßt. Bezeichnend
sprach man von Plautinischem Witz. Daneben drängen sich
aber empfindsame und rührende Züge ein, und die Befriedigung über
glückliche Lösung des Knotens spielt neben der Anteilnahme an den
Charakteren meist eine wesentliche Rolle in dem heitern Endeindruck.

§ 88.
Die Anfänge des modernen Lustspiels.

  Noch klarer als in der Geschichte der griechischen Komödie läßt
sich für das moderne Lustspiel die Herausbildung aus derselben Form
erkennen, der das Trauerspiel seine Entstehung verdankt. Das moderne
Lustspiel greift sogar nicht mehr auf die gemeinsame Urform zurück,
sondern lebt recht ersichtlich erst inmitten der tragischen Form auf,
um sich innerhalb derselben auszuwachsen und schließlich zu einer
Trennung des ernsten Dramas und der neuen Form zu führen, in
welcher der Ernst vom heitern Element überwuchert war. Für die
selbständige Existenz dieser heiteren Dramen bot sich eine Anlehnungsform
in den Fastnachtsaufzügen, die sich wohl unter Einfluß des geistlichen
Spieles immer dramatischer ausgestalteten.


  Auf der einen Seite sehen wir also komische Episoden im geistlichen
Spiel auftauchen, wo es realistische Ausmalung von Scenen
aus dem Kleinleben galt. Der Krämer, welcher Salben an die beiden
Marien verkauft, alsdann auch sein Knecht und sein Weib, bilden
die beliebtesten Ansätze zu lustigen Elementen im Passionsspiel. Später
werden daneben die Juden als Christi Feinde zur Zielscheibe von
Spott und Satire. Unter anderm werden auch Petrus und Johannes
zu Zeiten in ernstlose Beleuchtung gerückt, indem sie nach Christi
Grab buchstäblich um die Wette laufen. Andererseits nahmen die
Fastnachtsaufzüge statt bloßer Pantomime auch Worterklärungen der
typischen Masken auf. Die Emanzipation des Dramas von der Kirche
wird durch die Derbheit und Ueberhandnahme der lustigen Elemente [230]
zur Notwendigkeit; und nun entfaltet sich die heitere Gattung in
üppigster Selbständigkeit.


  Außer den vorherrschenden sozialen Stoffen unmittelbar aus der
Gegenwart behandelten die so zur Ausbildung gelangten Fastnachtspiele
und sonstigen heitern Dramen auch politische und historische
Themata. Die Komik bestand in Schimpfwörtern und Flüchen, leiblichen
Gebrechen, Schlägereien, Fressen und besonders Saufen, vor
allem aber in Unanständigkeiten. Daneben erscheinen komische Typen:
Krämer, Aerzte, Juden, alte Weiber, plumpe und schmutzige Bauern,
─ vor allem auch der Teufel selbst als komische Person. Das macht:
das Laster wird als Narrheit gefaßt, und so erscheinen doch alle
niedrigkomischen Worte, Situationen und Typen dem befreienden und
immerhin schon erhebenden Prinzip untergeordnet, daß heitere Betrachtung
des Lebens über den Ekel und Aerger am Rohstoff
hinausführt.


  Die Aufführung geschah zunächst nicht öffentlich, sondern in Privathäusern
bei Privatgesellschaften zum Fastnachtsschmaus. Jn Paris
thaten sich vornehme junge Leute als „Enfans sans soucy“ zusammen,
um dergleichen dramatische Karnevalsscherze als Nachspiele
zu den Mysterien darzustellen. Eine andre Gesellschaft aus juristischen
Kreisen, die „Clercs de la Bazoche“, welche zuerst Moralitäten
aufgeführt und in diesen bereits der Satire weiten Spielraum
gewährt hatten, zogen später die Farce in ihren Wirkungskreis.


  Diese jungen Advokaten waren es, welche den noch heute lebendigen
und wirksamen „Meister Pathelin“ zur Aufführung brachten.
Das berühmte Stück bietet einen recht lehrreichen Beitrag zur Erkenntnis
sieghafter Komik. Weit entfernt von bitteren Ausfällen etwa
gegen Feinde ihres Standes, stellen die Advokaten einen Angehöriger
ihres Standes ganz nach der karikierenden populären Meinung als
zungenfertigen, geriebenen Rechtsverdreher dar, welcher überdies von
einem beschränkten Schäfer selbst geprellt, mit seinen eigenen Waffen
geschlagen wird. Der Betrüger wird zum Betrogenen: wiederum erwächst
die Heiterkeit aus dem Gegensatz zu dem, was der ernste Verlauf
der Dinge zu bringen schien; wiederum hält sich ein Kreis ein
heiteres, harmloses Gegenbild des Lebens, noch dazu des eigenen,
vor, ─ nicht um sich oder andre ernstlich zu entlarven, nur um sich [231]
zu erfreuen, um das ernste Treiben durch Ueberbietung seiner Verfahrungsweise
in eine heitere Beleuchtung zu rücken.

§ 89.
Die Hauptmomente des romanischen Lustspiels.

  Jm romanischen Lustspiel begegnen wir naturgemäß dem Einfluß
beider Seiten der altitalischen Komödie. Den Atellanen und ähnlichen
volkstümlichen Spielen entspricht die commedia dell' arte, die
aber auch nebenher aus der griechisch=römischen Komödie der Terenz
und Plautus schöpft; auf diese allein greift in der Renaissance das
litteraturfähige Lustspiel zurück.


  Die commedia dell' arte des italienischen Theaters arbeitet
in den Grundzügen der Handlung mit konventionellen Leitmotiven;
noch bedeutsameren Einfluß auf die Entwicklung der Lustspielform
gewann diese Gattung durch Vermittlung einer Fülle stehender Typen,
einer Art von volkstümlichen Charaktermasken, die ihr allbekanntes
Wesen durch immer neue Einzelzüge, zum guten teil improvisierend,
von Stück zu Stück entfalteten. Da war der täppische, bauernschlaue
Pulcinello, der gutmütige Vater Pantalone, der typische Rechtsverdreher
Doktor Gratiano, da war vor allem Arlecchino mit seiner
Colombine. Arlecchino, gallisiert Harlequin, wuchs sich zur Hauptfigur
des internationalen Lustspiels aus. Aehnlich dem gewitzten
Sklaven der antiken Komödie hält auch dieser Diener zunächst die
Fäden der Jntrigue in der Hand, bleibt jedenfalls die Hauptperson;
sein Charakter gestaltet sich aber weiter typisch aus: er scherzt über
alles und alle, er wirkt bald durch Unflätigkeit, bald durch gute
Laune, bald durch dreiste Verschmitztheit ─ kurzum, er ist eine Art
Zusammenfassung aller komischen Wirkungsfähigkeiten. Man kann gewiß
nicht sagen, daß solche stehende Figuren das Leben und die Menschen
getreu wiedergeben: gewissermaßen im Gegenteil entwerfen sie
eine Karikatur des menschlichen Wesens und Treibens; aber der Hohlspiegel,
in welchem diese commedia dell' arte und ihre zahlreiche
Gefolgschaft die Menschen auffängt, bietet, wennschon kein ernstlich
treues Bild, doch ein heiteres Gegenbild des Lebens; und gerade in
der vergrößernden Hervorzerrung charakteristischer Einzellinien erkennen [232]
wir, welche heitere Seite unserm ernsten Gesicht, welcher komische
Beigeschmack unserm ernsten Thun und Treiben abzugewinnen ist. ─


  Das spanische Lustspiel gelangt noch weniger zu individueller
Charakteristik. Es bleibt Jntriguenstück im verwegensten Sinn. Gerade
Lope de Vega, der unerschöpfliche Klassiker der spanischen Bühne,
geht nicht sowohl auf Menschenschöpfung aus, als auf Entfaltung von
interessanten, an- oder aufregenden Einzelscenen, vor allem auf kunstvolle,
überraschende Verknüpfung und Entwirrung der Ereignisse.
Wie er die Charaktere nebenher behandelt, hat sich kein künstlerisches
Menschenbild mit seinem Namen und Ruhm vereint und verewigt:
wenn wir Aristophanes nennen, denken wir an seinen Sokrates, seinen
Euripides, Kleon, Dionys, Ratefreund und eine Fülle von Gestalten
mehr; wenn wir Shakespeare als Komiker nennen, denken wir
vor allem an Falstaff; ─ wer Lope de Vega nennt, denkt an das
Schlagwort von den Mantel- und Degenstücken. Seine Menschen
bleiben Schachfiguren, die nach kunstvoll erdachten Plänen gegen
einander bewegt werden; auch bekleiden sie im allgemeinen thatsächlich
nur feststehend wiederkehrende Chargen. Das Leben und den Geist
seines Volkes hat das spanische Lustspiel indes gerade in den Mantel=
und Degenstücken heiter gespiegelt. ─


  Jhren künstlerischen Gipfel erreicht die romanische Komödie in
der französischen Litteratur. Zwar lange wird hier die Entwicklung
durch fremde romanische Einflüsse bestimmt. Die commedia
dell' arte
beherrscht die französische Volksbühne, während sich das
Renaissancedrama der Gelehrten in Nachahmung der Terenz und
Plautus erschöpfte; auch die spanische Komödie wirkte herüber. Man
kann nicht sagen, daß Molière diese Abhängigkeit durch völlig selbständige
Leistungen überwunden hat. Jm Gegenteil schöpft er aus
allen Quellen, die auf seinem Wege flossen. Aber bedeutsam gelangt
er zur Selbständigkeit, indem er gallischen Geist natürlicher Fröhlichkeit
ausbreitet und Charaktertypen des französischen Lebens seiner Zeit
aufgreift, denen es an einer gewissen menschlichen Allgemeingültigkeit
nicht fehlt. Durch diese beiden lebendigen Mächte gelangt er über
den Schulstaub des Renaissancedramas hinaus, so viel er im strengen,
geschlossenen Aufbau von den antiken Mustern lernt.


  Es fehlt den Molièreschen Gestalten gewiß nicht an mancherlei [233]
individuellen Zügen, hat er doch nach lebenden Modellen gezeichnet.
Worauf er ausgeht, bleibt aber meist das Typische, die Entfaltung
einer Leidenschaft, die Blosstellung einer größeren Menschengruppe.
So reflektiert und analysiert er viel, weiß aber daneben doch durch
die echt dramatische Selbstdarstellung der komischen Charaktere zu
wirken. Jmmerhin bleibt die Pointierung des Dialogs ein Hauptmittel
Molièrescher Komik.


  Die Jntrigue ist es noch immer, die herrscht und dem Charakter
mehr Gelegenheit, sich zu produzieren, als Macht giebt, die Handlung
zu lenken. Aber, ganz anders als im spanischen Drama, ist
die Handlung doch immer des Charakters wegen da; und nicht die
lustige Geschichte, vielmehr der närrische Mensch ist es, von dem der
Dichter ausgeht und auf den er hinzielt. Damit ist doch eine entscheidende
Wendung erfolgt.


  So sind es denn auch nicht sowohl die Sachen als die Menschen,
die Molière dem Gelächter preisgiebt. Bezeichnend tritt dabei
hervor, daß Zielscheiben seines Spottes alle die werden, die etwas
anders scheinen wollen als sie sind: der Heuchler, die Verkünstelten,
die gelehrt thuenden Frauen, der eingebildete Kranke, der Bürger=
Edelmann, die jungen Marquis mit hohen Prätensionen und leerem
Hirn, der verliebte Alte, der reiche Geizhals ─ ihnen allen wird
ihre lügnerische ernste Larve vom Gesicht gerissen und durch Aufdeckung
des Gegensatzes eine heitere Beleuchtung gegeben. Der Dichter
zeigt nicht, wie ärgerlich das Gebaren all dieser trügerischen
Scheingestalten ist: er gewinnt meist den versöhnlicheren Eindruck, wie
lustig für den Kenner dieses falschen Scheins die Kehrseite der Medaille
ist, und macht das Publikum deshalb zu vollen Mitwissern des
Gegensatzes, so daß auch sie fürder nicht sowohl Aergernis nehmen,
als sich daran erheitern. Nur im „Tartuffe“ und im „Misanthropen“
klingt eine gewisse Bitterkeit durch. Wie die beiden Hauptgestalten
des „Misanthropen“ gleichmäßig an des Dichters eigenem Busen genährt
sind, wohnen überhaupt zwei Seelen in seiner Brust: der
Ueberdruß an dem unedlen Menschentreiben, und doch immer wieder
der jeden Ekel überwindende Humor, der an der närrischen Seite dieses
argen Menschentreibens seine helle Freude hat.


  Durch Preisgabe dieser Unbefangenheit und naturfrischen Fröhlichkeit, [234]
von der Beaumarchais wenigstens noch ein gut Stück bewahrt
hatte, trat die französische Komödie in unserm Jahrhundert aus dem
Lustspielcharakter im wesentlichen heraus, um in den farbloseren Mischcharakter
des „drame“, des „Schauspiels“, einzumünden.

§ 90.
Das englische Lustspiel.

  Nachdem wir die Stellung der englischen Dichtung in der Entwicklungsgeschichte
des Dramas bereits auf tragischem Gebiete kennen
gelernt haben, kann es nicht befremden, im Lustspiel Shakespeare als
den Bahnbrecher individueller Charakterzeichnung wiederzufinden. Die
intuitive Erfassung des Menschen bewirkt auch hier Fülle und Ganzheit
des Charakters und schließt jedes Tüfteln über mechanische Zusammenstellung
von Einzelzügen aus.


  Zu beachten ist jedoch abermals, daß Shakespeare fast durchgehends
novellistische Stoffe behandelt. Jndem er sie übernimmt,
macht er sich nun allerdings, um sie zu verstehen, eine lebendige Vorstellung
der in die Ereignisse verflochtenen Menschen. So veranschaulicht
er im eigentlich dramatischen Sinne die Geschehnisse, macht
sie ─ abermals keineswegs notwendig, aber glaubhaft, indem er
Menschen vorführt, denen die überlieferten Thatsachen gut zu Gesicht
stehen. Es giebt wohl ausdrücklich Charakterwandlungen durch die
Handlung, wie in der bezähmten Widerspenstigen. Jn manchen Fällen
bewirkt die von anderer Seite ausdrücklich angelegte Jntrigue eine
Wendung im Charakter der Hauptgestalten; dies ist der Fall Benedikts
und Beatrices in „Viel Lärm um nichts“: in Sprödigkeit und
Stolz wappnen sich beide gegen einander, um das erwachende Bewußtsein
der anscheinend unerwiderten Liebe desto schwerer zu empfinden,
bis endlich die freilich von der Jntrigue vermittelte Gewißheit
der Gegenliebe das Herz durch den künstlichen Panzer schlagen
läßt:


„Welch Feu'r durchströmt mein Ohr! Jst's wirklich wahr?

Soll mir mein Spott so schwere Rüge tragen?

Leb' wohl, mein Mädchenstolz, auf immerdar!

Uns blüht kein Ruhm, als wenn wir dir entsagen;
[235]
Und, Benedikt, lieb' immer, so gewöhn' ich

Mein wildes Herz an deine teure Hand!

Sei treu, und, Liebster, deine Treue krön' ich

Und unsre Herzen bind' ein heilig Band!

Man sagt, du bist es wert, und ich kann schwören:

Jch wußt' es schon, und besser als vom Hören!“

Wiederum beruht die heitere Wirkung auf dem Gefühl des Gegensatzes.
Oft führt der Verlauf der Handlung die komischen Hauptfiguren
wenigstens zur Beschämung. Das ist selbst der Ausklang
eines Falstaff:


„Habe ich denn mein Gehirn in der Sonne gehabt und es
getrocknet, daß es nicht vermochte, einer so groben Uebertölpelung
zu begegnen? ... Nun ja, ich bin euer Text, und
ihr seid im Vorsprung, ich bin in der Hinterhand ... Macht
mit mir, was ihr wollt.“


Aber „demungeachtet“ läßt ihn der Dichter ermuntern, „guter Dinge“
zu sein: die ihn gefoppt, sind in anderer Weise ebenfalls beschämt,
und alles klingt versöhnlich aus.


  Shakespeare giebt uns nach alledem nicht nur die Freude an
einzelnen Narrheiten, den Genuß der heitern Seite an einzelnen Leidenschaften:
er giebt uns die Freude am ganzen Menschen, die heitere
Betrachtung einer vollen Persönlichkeit. Dabei stellt er Handlung und
Charakter in Wechselwirkung; doch üben die Ereignisse, ja ausdrücklich
angesponnene Jntriguen, mehr Einfluß auf den Charakter, als dieser
auf den Gang der Handlung.


  Nicht außer Acht darf bleiben, daß Shakespeare auch im ernsten
Drama komische Figuren verwendet. Vor allem erschien Falstaff
früher als in den „Lustigen Weibern“ bereits in „Heinrich IV.“
Daneben geht die Figur des Narren durch, die man im edleren Sinne
als den Arlecchino die Verkörperung des komischen Wesens nennen
muß: wie er, auch wo ihm eine bitter ernste Absicht vorschwebt, allen
Dingen dieser Welt die heitere Gegenseite abzugewinnen weiß, stellt
er unmittelbar vor, was die Seele des Lustspiels ausmacht, und
repräsentiert somit andauernd im Trauerspiel die Funktion des Lustspiels.
Damit benimmt er dem Weltbild die Einseitigkeit, indem er [236]
neben den Ernst des Weltlaufs die heitere Gegenseite stellt, die Tragik
durch Spiegelung in versöhnendem Humor überwindet.

§ 91.
Das deutsche Lustspiel.

  Dem deutschen Fastnachtspiel erwuchs eine Art Klassiker in Hans
Sachs. Schon durch seine Stoffe verleiht er der Gattung Gehalt
und führt sie über das kleinliche Alltagsleben hinaus. So entfaltet
er einen ergötzlichen Spiegel der Zeit, ein heiteres Bild aller Stände,
eine Fülle von Charaktertypen.


  Zu eigentlichen Komödien schreitet er unter Einfluß des humanistischen
Kunstdramas vor. Doch bleibt die Handlung in rein epischer
Folge stecken. Fragt man, durch welche Mittel Hans Sachs dramatische
Wirkung, vor allem Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit erreicht,
so finden wir uns in erster Linie auf den Dialog und die Scenerie,
aber doch ebenfalls auf intuitive Ansätze zu typischer Charakteristik
hingewiesen. Bezeichnend tritt, am Schluß ausdrücklich, Lehre und
Sittenpredigt zu der Handlung. Ein ethischer Zug ist in der Entwicklung
des deutschen Dramas unverkennbar mächtig.


  Die weitere Entwicklung des deutschen Lustspiels wird zunächst
durch das Erscheinen der englischen Komödianten beeinflußt. Das
komische Volksschauspiel zieht mit den Wandertruppen unstät umher.
Unter den uns überlieferten Lustspielen aus der Wende des 16. und
17. Jahrhunderts zeichnen sich die Stücke des Herzog Heinrich Julius
von Braunschweig mehr noch als auf tragischem Gebiete aus. Lebendiger
Wirklichkeitssinn und volkstümliche Frische vereint sich in ihm
mit den reifsten Ueberlieferungen des humanistischen und englischen
Dramas.


  Auch Andreas Gryph bewahrt im Lustspiel einen frischeren, volkstümlicheren
Zug als im Trauerspiel, bleibt überdies ebenso wenig
von mittelbarem englischen Einfluß frei. Gryphs Scherzspiel „Die
geliebte Dornrose“ ist in das „Verliebte Gespenste“ verflochten: dergestalt
daß jenes Scherzspiel ein bäurisches Gegenstück zu dem Gesangspiel
der Gebildeten darstellt. Mit der Episode in Shakespeares
„Sommernachtstraum“ hängt „Peter Squenz“ zusammen, auch wieder [237]
ein parodisches Gegenbild zur ernsten Dramatik. Reminiscenzen aus
dem römischen, neu=italienischen, französischen und englischen Lustspiel
verarbeitet mit selbständigen Beobachtungen aus dem Leben der „Horribilicribrifax“.
Der Großsprecher und andre Typen sind anschaulich
vergegenwärtigt, so daß die Komik hier zum guten teil aus dem Charakter
fließt.


  Eine selbständige singularisierende Narrenfigur hat die deutsche
Bühne nicht eigentlich ausgebildet, wennschon es nicht an Narrentypen
im Volksleben fehlt. Wohl aber wurde unter Einfluß des englischen,
holländischen und italienisch=französischen Theaters der Typus des
Clown, Pickelhäring und des Harlequin übernommen. Die Formen
des Namens variieren, immer aber scheint es der Geist des Lustspiels
selbst gewesen, der sich da verkörpert. Daß es auf ein heiteres Gegenstück
zum ernsten Leben abgesehen, läßt sich auch aus der polemischen
Erläuterung erkennen, die Heinrich Julius von Braunschweig
dieser Figur im Epilog seiner „Susanna“ zuteil werden läßt: „Durch
den Narren Johann Clant ist abgemalet die Art aller Spötter und
derjenigen, so alles, was gut ist, in argst verkehren, auch aus Gottes
Wort ein lauter Gespötte machen, es übel ausdeuten und anders, als
es gemeint ist, verstehen wollen.“


  Ein deutscher Narrentypus schien sich nun allerdings in Hanswurst
auszubilden. Jndessen ist sein Wirkungskreis zeitlich und räumlich
ziemlich eng begrenzt. Als beliebter komischer Name für einen der
typischen Volksnarren begegnet Hanswurst wohl einige male im 16.
und 17. Jahrhundert. Jndes erst Stranitzky in Wien legte diesen
Namen dem typischen Spaßvogel der Komödie bei; er kleidet ihn in
deutsch=volkstümliches Narrenkostüm und lokalisiert ihn, läßt ihm aber
im wesentlichen den Charakter des Arlequin. Das war nicht vor
1708, und schon in den dreißiger Jahren beginnt unter Gottscheds
Einfluß seine Zurückdrängung.


  Jn Gottscheds Kreisen wird die Einwirkung des klassischen französischen
Lustspiels bald durch den Einfluß Holbergs und sodann der
neuern Engländer ergänzt. Johann Elias Schlegel vereint bereits
alle drei Elemente.


  Lessing, der für das tragische Gebiet die Herrschaft des französischen
Klassizismus auf der deutschen Bühne stürzt, um Shakespeares [238]
Einfluß zu begründen, verhält sich in der Hamburgischen Dramaturgie
gegen das französische Lustspiel tolerant. Seine Jugendstücke gehen
von der römischen Komödie aus. Noch die Technik seiner „Minna
von Barnhelm“ schließt sich an das klassische französische Lustspiel an.
Ersichtlich herrscht die Jntrigue. Und doch entfaltet Lessings komisches
Meisterwerk eine Fülle von lebensechten Charakteren aus dem
eigenen Volke und der eigenen Zeit, keine bloß typischen Verkörperungen
von Einzeleigenschaften, sondern mit individuellen Zügen ausgestattete
Menschen. Tritt er somit dem Stil Shakespeares in dem,
was das Wesentliche ist, dennoch bis zum gewissen Grade nahe, so
schreitet er durch unmittelbaren Anschluß an das wirkliche Leben, da
wo es nationale Bedeutung hat, sogar über den novellistischen Grundzug
des Shakespeareschen Lustspiels hinaus und berührt sich insofern
mit Aristophanes.


  Ein Zurückgreifen auf den antiken Klassiker auch im Stil führte
Goethe nur zu Kleinwerken. Bedeutsamer für die Entwicklung des
deutschen Lustspiels wird Goethes Jugendgenosse Lenz, der, von Shakespeare
ausgehend, selbständige Ansätze zum Sittenlustspiel aus dem
deutschen Leben nimmt.


  Mit voller Entschiedenheit hat erst Heinrich von Kleist den Stil
germanischer Charakterkomik durchgeführt. Sein „Zerbrochener Krug“
steht dem Stil der niederländischen Genremalerei mit ihrer eindringenden
komischen Charakteristik am nächsten. Lauter komische Jndividualitäten
treten sich gegenüber. Das Prinzip des Gegensatzes als
Grundlage der heitern Wirkung bewährt sich hier durchgehends. Auf
ihm beruht auch der Hauptkonflikt, daß der Richter selbst zum Angeklagten
wird. Wie dieser Hauptcharakter die Situation beherrscht, so
wird die Handlung durchaus von dem Jneinanderwirken der Charaktere
bestimmt. Sein Schicksal schafft sich selbst der Mann.


  Schön ist der komische Held und seine Sphäre weder im ästhetischen
noch im ethischen Sinne: im Gegenteil fordern gerade seine
verstümmelte Erscheinung und seine alles eher als sauberen Absichten
unsere Heiterkeit heraus. Wodurch? Durch die komische Beleuchtung,
in die sie gerückt sind, durch Herauskehren des Gegensatzes, in welchem
sie zu allem stehen, was wir gerade von der richterlichen Respektsperson
erwarten müßten. Allerdings hat somit die Kunst einen [239]
Wandel unserer Stimmung bewirkt: was uns als Rohstoff im Leben
ärgern und abstoßen würde, entlockt uns nun Heiterkeit, weil die
komische Kunst uns zeigt, eine wie närrische Seite sich dem ganzen
Charakter abgewinnen läßt. Und reine Heiterkeit stimmt das Gemüt
lauterer als jeder Affekt des Aergers oder Ekels.

§ 92.
Wesen und Wirkung des Lustspiels.

  Das Lustspiel nimmt also von seinen Anfängen bis zu seinem
Gipfel das Leben von der heitern Seite, geht auf ein Gegenstück
zur ernsten Hinnahme
des Menschen und seines Treibens
aus. Wie das Weltleid in uns Wehmut ansammelt, die im
Trauerspiel zu einer von Unlust freien Entladung gebracht wird, so
kommt das Lustspiel dem Bedürfnis entgegen, uns den Ernst des
Lebens durch Flucht in seine heiteren Begleiterscheinungen zu erleichtern.
Eine von aller Unlust, von allem im Leben damit verbundenen
Aergernis befreite Entladung dieses uns innewohnenden
Lachreizes, ein Ausleben unseres Frohsinns bewirkt
das Lustspiel.


  Noch hinter vollendet epischem Wesen bleibt die Komik zurück, solange
sie im bloßen Wortwitz und in Lächerlichkeit der äußern Erscheinung
besteht. Mit dem Situationswitz und der komischen Jntrigue hält
sich das Lustspiel noch immer in epischen Banden. Komische Masken
und selbst typische Charaktere bilden nur primitivere Ansätze zur Charakterkomik.
Die individuelle Ausgestaltung der Charaktere, die Einführung
ganzer Menschen mit ihrem komplizierten Seelenleben giebt
dem Lustspiel das vollendete Wesen heiterer Lebensauffassung. Jhren
Gipfel erreicht diese vollständige Auffassung des Lebens von der heitern
Seite, dieser Blick auf die Kehrseite der Medaille, mit der Herrschaft
des Charakters über sein Schicksal, mit der Zurückführung der
heiteren Geschehnisse auf die heiteren Seiten des Menschentums.


[figure]
[E240]

Das Seelenleben des Dichters.

§ 93.
Die Erfahrung über die Dichterseele.


  Die Werke der Dichtkunst ließen wir für sich selbst sprechen, um
durch Jnduktion das Wesen der poetischen Gattungen zu bestimmen.
Es liegt nahe, ähnlich die Funktion des Dichters, die Beschaffenheit
der Dichterseele zu bestimmen, indem man die Dichter selbst befragt.
Hier, scheint es, fließt das Material für eine Betrachtungsweise, die
sich wie die unsere auf Zeugnisse stützt, in reicher Fülle. Selbstgeständnisse,
Tagebücher, Briefe, Gespräche sammelt man seit mehr
als einem Jahrhundert mit übermäßigem Eifer.


  Zunächst hebt nun aber solch Verfahren mannigfache Züge hervor,
die bestenfalls subjektive Begleiterscheinungen der Dichtergabe,
nicht das Wesen, die ausschlaggebende Voraussetzung des dichterischen
Prozesses darstellen. Ueberdies bleiben diese Zeugnisse fast ausschließlich
auf die neuere und neueste Zeit beschränkt und führen in ihrer
zusammenhangslosen Nebeneinanderstellung zu keinerlei allgemeingültigem
Ergebnis. Jst vor allem der Dichter selbst wirklich der objektive
Gegenstand, sein Selbstgeständnis das objektive Material induktiver
Erfahrung über die Dichterseele, über den Jnbegriff der Dichtergabe?
Vielmehr gelangt auch er nicht über den Charakter des subjektiven
Zeugen hinaus, sein Zeugnis stellt immer bis zum gewissen
Grade eine Reflexion über sein Wesen, nicht dieses selbst dar; und
so gewiß seine unbewußten Offenbarungen der Prüfung wert erscheinen,
bleibt der Mensch doch immer der verdächtigste Zeuge über
sich selbst.

[241]

  Welche objektiven Maßstäbe bieten sich nun zur Erkenntnis der
Dichterseele dar? Keine andern, als wiederum die dichterischen
Werke. Jhre Eigenschaften postulieren bestimmte Anlagen und Fähigkeiten
ihres Schöpfers; ihr Abstand von den andern Formen menschlicher
Rede läßt die charakteristischen Elemente der Dichterseele im
Unterschied von dem gewöhnlichen Menschengeist als Voraussetzung
erkennen. Auch gestatten diese dichterischen Werke in ihrer umfangreichen
Entwicklung ein zusammenhängendes geschichtliches Jneinandergreifen
des Erfahrungsmaterials. Nicht länger sind wir auf Erfahrungen
aus den vorgeschrittenen letzten Jahrhunderten eingeschränkt:
an der Hand ihrer Aeußerungen können wir die allmähliche Ausbildung
und Vervollkommnung der dichterischen Funktion belauschen.
Jst diese Untersuchung in mancher Hinsicht rekapitulierend, so gilt es
nunmehr die Anwendung unserer Erkenntnis der Schöpfungen auf
die Beschaffenheit des Schöpfers.

§ 94.
Die Voraussetzungen des dichterischen Schaffens.


  Treten wir an die älteste Stätte heran, die uns einen Dichter
darbietet, so treffen wir den Menschen gegenüber der Gottheit, genauer
gegenüber der vergöttlichten Natur, durch deren überragende
Größe sein Gemüt getroffen, zu Furcht, Ehrfurcht, Bewunderung,
Anbetung hingerissen wird.


  Tausende um den Dichter herum gehen in dumpfem Sinnentrieb
stumpf vorüber: der Dichter fühlt sich von dem gewaltigen Schauspiel
der Natur zum Schauen herausgefordert, von dem Geschauten gefesselt.
Stark ausgeprägtes Anschauungsvermögen lernen wir damit
als erste Grundlage dichterischer Thätigkeit kennen.


  Aber nicht nur das Auge und die andern äußern Sinne erfahren
starke Eindrücke: des Dichters Seele fühlt sich ergriffen, in ihren
Grundfesten aufgewühlt, aufs tiefste erschüttert. Mag sich schon die
niedrigste Stufe des Gefühlseindrucks, die Furcht, auch in dem Durchschnittsmenschen
leise regen ─ sie wird ihn zu scheuem Beiseiteschleichen
veranlassen, zu geflissentlichem Abwenden von der Anschauung:
nur der Dichter, der immer weiter, immer tiefer schaut, wird von immer
weiteren, immer tieferen Empfindungen bestürmt. Mit dem stark ausgeprägten [242]
Anschauungsvermögen verbindet sich von vorn herein im
Dichter ein leicht erregbares Gefühlsleben.


  Auch potenziertes Anschauungsvermögen und Gefühlsleben würden
nicht hinreichen, um ein dichterisches Werk zu vollbringen. Seien
Anschauung und Empfindung des Einzelnen noch so lebhaft, sie blieben
der Menschheit verloren, vermöchte der Dichter nicht, sie auszusprechen.
Jhm, dem einen, der da singt von seinem Hingerissensein, ihm „gab
ein Gott, zu sagen“, was er empfindet. Das Anschauungsvermögen
ward lebhaft herausgefordert, die Anschauung wirkte energisch auf das
Gefühl, das lebhafte Gefühl drängt nach energischem Ausdruck. Das
seelische Verarbeiten der Anschauung mündet in eine möglichst gleich
lebhafte Wiedergabe: zu den Vorbedingungen des dichterischen Prozesses
tritt schließlich Fähigkeit zur Reproduktion des Geschauten
und Empfundenen
durch die artikulierte Sprache.


  Potenzierte Energie der Anschauung, der Empfindung und des
Ausdrucks, wie sie sich schon auf primitiver Stufe der Poesie als
Grundlagen des dichterischen Schaffens erweisen, bleiben fortgesetzt die
wesentlichsten Charakteristika der Dichterseele, wennschon sie sich nicht
immer mit gleicher Klarheit und Ausschließlichkeit in den Vordergrund
drängen. Jn welchen Umkleidungen und Mischungen sie uns aber
auch weiterhin entgegentreten werden, eine entscheidende Rolle spielen
dauernd die lebhafte Anschauung bestimmter Gegenstände, ihr lebhafter
Eindruck auf das Gemüt und ihre entsprechend temperamentvolle
Wiedergabe.

§ 95.
Das Eingreifen der dichterischen Phantasie.


  Um die ganze Fülle der im dichterischen Prozeß zusammenwirkenden
Funktionen zu umspannen, müssen wir alsbald mit der
Thatsache rechnen, daß schon die mythische Dichtung die Naturerscheinungen
nicht als Mechanismus hinnimmt, sondern als lebendigen
Organismus ausgestaltet. Die Sonne, die Nacht, den Wind, das
Meer faßt der Dichter als beseelte höhere Wesen auf: die ganze
Mythenschöpfung ist ein zwar unbewußtes, doch erfinderisches Spiel
der Phantasie.

[243]

  Die Anschauung vermittelt nur die äußere Gestalt und Bewegung
der Naturkörper und Naturerscheinungen. Von dieser Gestalt
und Bewegung wird auch noch der Eindruck auf das Gemüt bestimmt.
Jndem aber der Dichtergeist diesen zu ergründen sucht, wird
sein Vorstellungsvermögen, eben die Phantasie, herausgefordert. Sie
nun überträgt aus der zunächst vertrauten organischen Welt, aus dem
menschlichen und tierischen Bereich, die vertrauten Vorstellungen auf
die unbekannte Welt. Aus der Wirkung wird auf die Kraft geschlossen,
entsprechende menschliche und tierische Eigenschaften werden
allen Naturerscheinungen je nach verwandter Wirkung beigelegt. So
bekundet sich die Phantasie in ihrer vollen Lebhaftigkeit durch ununterbrochene
Jdeenassoziation.


  Schon hier wird klar, daß die dichterische Erfindung keine
Schöpfung aus dem Nichts bedeutet, sondern eine freie, zunächst sich
aber ihrer Freiheit nicht einmal bewußte Kombination vorhandener
Thatsachen.


  Scheinbar tritt uns mit der heroischen Epoche der Sänger in
einer neuen Funktion entgegen. Er berichtet über die Thaten von
Helden der Vorzeit nach der ihm gewordenen Ueberlieferung, wie sie
sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzt. Stark ausgebildetes
Erinnerungsvermögen gesellt sich danach den dichterischen Funktionen
hinzu. Jndes darf in einer durch die Oberfläche zum Kern
vordringenden Kunstlehre dies Erinnerungsvermögen keineswegs nur
in dem äußerlichen Sinne eines guten Gedächtnisses Raum beanspruchen.
Weit hinaus über die Bewahrung des bloßen Stoffes hat
der Dichter Vorstellungen, Gestalten, Erinnerungsbilder zu bewahren,
demnach die Anschauung, die seine Phantasie mit dem überlieferten
Stoff verbunden hat. Wo die unmittelbar wirkliche
Anschauung fehlt, erwirbt die Phantasie eine mittelbare
Anschauung durch Uebertragung und Ausgestaltung
von Erinnerungsbildern aus den verwandten Bereichen
der unmittelbaren Erfahrung.


  Auch im einzelnen bleibt der Jnhalt der Ueberlieferung keineswegs
starr und unverändert. Durch unbewußte Kombination greift
eine andauernde Umbildung ein. Vor allem fühlt sich die Phantasie
zur Ausfüllung von Lücken herausgefordert. Eine Kampfepisode sei [244]
noch so vollkommen ausgeführt: vielleicht ist die Rüstung eines Kämpfers
nicht eingehend beschrieben, und unbewußt übernimmt der Dichter
solche Schilderung aus anderweitiger unmittelbaren oder durch eine
anderweitige Darstellung vermittelten Anschauung; oder er verwechselt
ähnliche. Weitere Kombination geschieht durch mißverstehende, weil
zunächst unbeabsichtigte Verschiebung und Vermischung von verwandten
Ereignissen und Personen oder selbst von Personen mit verwandtem
Namen.


  Bei alledem bleibt die Anschauung eine wesentliche Stütze der
Erinnerung bei ihrer Reproduktions- und Assoziationsthätigkeit: die
selbst geschauten Kämpfe, die selbst geschauten Helden bilden den Nährboden
für das freie Spiel der Phantasie.


  Man hat diese Freiheit dichterischer Jdeenassoziation mit dem
Traum verglichen und sogar auf Berührung mit dem Wahnsinn
hingewiesen. Treffend begrenzt aber bereits Wilhelm Dilthey: „Diese
Verwandtschaft entsteht aus der Abwesenheit der Bedingungen, die
sonst Vorstellungen regulieren; jedoch wird sie in dem Träumenden,
dem Jrren oder Hypnotischen durch Ursachen ganz andrer Art hervorgebracht,
als in dem Künstler oder Dichter; dort ist der erworbene
Zusammenhang des Seelenlebens gemindert, hier wird seine ganze
Energie in der Richtung freien Schaffens verwandt.“ ─ Ja, es
leuchtet ein, daß die scheinbare Berührung in Wirklichkeit vielmehr
auf einen Gegensatz hinausläuft: der träumende Geist kombiniert
willenlos Erinnerungsbilder unter vorübergehender Einschläferung des
regulierenden Verstandes; der irre Geist kombiniert Erinnerungsbilder
mit teilweise beschränkter Willenskraft unter krankhafter Störung des
regulierenden Verstandes; wohingegen der geniale Geist, die dichterische
Phantasie, die real nicht zusammenhängenden Erinnerungsbilder
mit einer aufs äußerste gesteigerten, nur zunächst unbewußten
Energie der Willenskraft und voller, nur unbewußter Wirksamkeit des
regulierenden Verstandes kombiniert.


  Eine anderweitige „Berührung“ zwischen Genie und Wahnsinn
hat man aus dem häufigen Auftreten geistiger Störungen in genialen
Familien entnehmen wollen. Teilweise verhalten sich aber auch nach
dieser Richtung Genie und Wahnsinn wie äußerste Energie des Geistes
und seine äußerste Erschöpfung, die sich ja gewiß „berühren“, [245]
aber in jenem eigentlichen Sinne, in welchem sich die Extreme berühren,
wie Licht und Schatten. Zum andern teil ─ und in solcher
Tendenz kann allein von innerer Berührung oder gar Verwandtschaft
die Rede sein ─ wird die Energie der dichterischen Phantasie in
manchen Genies derart potenziert, daß sie den an sich schon unbewußt
wirkenden Verstand und jede Rücksicht auf reale Möglichkeit zurückdrängt,
unterdrückt: das wäre der Punkt, auf welchem die dichterische
Phantasie an die irre streift, oder gar in sie übergeht.

§ 96.
Die ursprüngliche Einförmigkeit des Dichtergeistes.


  Trotzdem somit von früher Zeit verschiedene bedeutsame Kräfte
in äußerster Anspannung zum dichterischen Prozeß zusammenwirken,
verharrt er vorerst in einer unverkennbaren Einförmigkeit. Wir
brauchen uns nur den Stil der ältesten erreichbaren Poesie zu vergegenwärtigen,
um zu erkennen, mit wie wenigen und einfachen Mitteln
der Dichtergeist zunächst operiert.


  Der unmittelbaren, dauernden Anschauung am nächsten halten
sich die stehenden Beiwörter, jene attributiven Bestimmungen, welche
die fortgesetzte Handlung mit Vorliebe in partizipialer Form festhalten.
Schon die Auflösung dieser Attribute in aussagende Sätze schreitet zur
Singularisierung, zur Umsetzung der dauernden Anschauung in einmalige
Handlung, vor. Die Einförmigkeit geht so weit, daß die Beiwörter
zunächst typisch, für alle Götter, für alle Helden, für alle
Gegenstände derselben Vorstellungsgruppe gleichmäßig verwendet werden.
Erst später greift eine Differenzierung platz, nicht einmal vorherrschend
nach dem Charakter, oft nur nach einem äußeren Kennzeichen
oder doch einer hervorstechenden Einzelleistung. Auch diese
singulären Beiwörter bleiben in der ganzen Jugendepoche der Poesie
an ihren Trägern in jeder Lage, selbst in der ausgeprägt heterogenen,
haften.


  Nicht minder bezeugen die ursprüngliche Einförmigkeit des Dichtergeistes
all die zahllosen formelhaften Elemente, die wir in der frühen
Poesie jedes Volkes fanden. Jn dieselbe Kategorie gehören offenbar
noch die typischen Bilder und Vergleiche für die wiederkehrenden [246]
Lieblingsgegenstände der mythischen und heroischen Poesie, wie für
Kampf, Rüstung u. dgl. Noch fehlt es dem reproduzierenden Geiste
an Mannigfaltigkeit und feinerer Differenzierung der Vorstellungen,
noch wirken sie ersichtlich roh, in Bausch und Bogen auf ihn ein.


  Schließlich äußert sich auch in der lakonischen, sprunghaften Art
der Darstellung ein ursprünglicher Mangel an Reichtum und Fülle
der Dichterseele. Die Phantasie fühlt sich angeregt, ohne Fähigkeit
zu vollendeter Reproduktion. So werden die Umrisse der Anschauung
rein thatsächlich vom Dichtergeist aufgefangen und wiedergegeben.


  Zu einem Angelpunkt kehrt die Darstellung immer wieder zurück.
Das Vorschreiten des dichterischen Bildens geschieht denn auch zunächst
durch Aneinanderreihung kräftiger Einzelstriche in immer neuen Ansätzen.
Aus der Einförmigkeit erwachsen vorerst nur immer weitere
Spiegelungen. Die primitivste Form der Variation bekundet sich in
paariger Zusammenordnung verwandter Begriffe. Jndem diese durch
Allitteration oder Assonanz gebunden sind, lassen sie noch erkennen,
wie der Dichtergeist beidemal von demselben Motiv und Grundklang
ausgegangen, aber zu einer leisen, zunächst nur dualen Zerlegung in
variierende Elemente vorgeschritten ist.


  Wesentlich dieselbe Figur, dieselbe aus ihrem primitiven Andeutungsverfahren
herausstrebende Form des Dichtergeistes liegt dem
alten Parallelismus des Satzbaus zugrunde. Wiederum vermag die
jugendliche, unausgebildete Dichterkraft nur stoßweise zu reproduzieren,
die Mannigfaltigkeit der angeschauten Objekte noch nicht sowohl in
ihrer einheitlichen Struktur, als nur in Neben- und Aneinanderreihung
von Einzelstrichen wiederzugeben. So weist der Dichtergeist
zuerst nur auf den Gegenstand hin, um das Bild allmählich gliedweise
zu erweitern.


  Geschieht doch nicht anders als in solcher reduplizierenden Art
das primitive Vorschreiten der Sprachbildung. Neben der Wiederholung
spielt auch hierbei das onomatopöetische Verfahren eine Rolle.
Evident wird die Berührung, wo die mehrfach gesetzten Elemente
durch Ablaut differenziert werden. Schon Hermann Pauls „Prinzipien
der Sprachgeschichte“ weisen auf die Verwandtschaft von Bildungen
wie schnickschnack, ticktack mit Verbindungen mehrerer nur durch [247]
den Vokalismus verschiedener Schallwörter hin, wie flimmen und
flammen, klippen und klappen, knistern und knastern.

§ 97.
Die unbewußte Freiheit des Dichtergeistes.


  Der Eindruck der Anschauung ist, wie wir schon am Beginn
unserer Untersuchungen erfuhren, zunächst durchaus düster und erhaben.
Das Erhabene ist das Gefühl, einem Ueberragenden gegenüberzustehen.
Als ursprüngliche Aeußerungsform dieser Anschauung
des Ueberragenden lernten wir soeben die Furcht kennen. Thatsächlich
lebt noch ein Bodensatz von Unlust in jeder Empfindung des
Erhabenen, solange wir nur des Abstandes unserer Winzigkeit von
dem überragenden Gegenstand der Anschauung gedenken, solange wir
nicht beflissen sind, diese Winzigkeit zu überwinden. Erst der Künstler
ist es, der sich zu der Höhe des erhabenen Objektes geistig zu erheben
sucht und so anstelle des dumpfen Empfindens unserer Niedrigkeit
den beflügelnden Trieb zum Aufschwung setzt.


  Nicht anders steht es um jedes Unlustgefühl, das der Rohstoff
erweckt. Die Dichterseele findet eine höhere, objektivere Anschauungsform,
die sich auch über das neben uns Stehende erhebt. Nicht länger
sieht sie den widrigen Gegenstand sich feindlich oder schädlich
oder auch nur unangenehm gegenüber: sie überwindet Angst und
Aerger des Jrdischen, indem sie nicht sowohl an diesem Rohstoff haften
bleibt als vielmehr ihn mit kühnem Flug der Phantasie überfliegt
und von dieser Sonnenhöhe aus die Dinge der Alltagswelt beleuchtet.

§ 98.
Die bewußte Freiheit des Dichtergeistes.


  Diese Freiheit des dichterischen Geistes von den Fesseln des
Objektes bekundet nächst der Erhebung zum Ueberragenden die Erhebung
über das gleichgestellte Objekt. Solange der Dichter bei alledem
rein objektiv gestaltet, zeigt er den Stoff unbewußt aus der
höheren Perspektive, in dem strahlenden Licht seines Geistes.


  Erst das bewußte Hineintragen der eigenen Jndividualität veranlaßt
den Dichter, neben die Wiedergabe der Gegenstände seine Empfindungen [248]
für dieselben zu stellen. So hat er sich über sein eigenes
Gefühl klar zu werden, sein eigenes Urteil zu erfragen; mit andern
Worten: die Dichterseele beginnt nun zu reflektieren. Je reicher
des Dichters Seelenleben, desto voller seine Poesie.


  Mit solcher Reflexion über die Erscheinungen der Außenwelt,
alsdann über die eigene Jnnenwelt, setzt er aber zunächst wie selbstverständlich
voraus, daß er Allgemeingiltiges fühlt und ausspricht.
Eines Gegensatzes zu möglichen andern Auffassungen ist er sich noch
keineswegs bewußt. Er fühlt sich als objektiver Geist.


  Aber es greift nun die bewußte Arbeit der souveränen Phantasie
ein. Schon äußerlich im Stoff. Bislang glaubte ihn jeder Sänger,
bei allen unbewußten Umbildungen, getreu nach den Thatsachen vorzutragen.
Wir wissen, daß in Deutschland noch um die Wende des
12. und 13. Jahrhunderts die „Erfinder wilder Märe“, d. h. Dichter,
die sich dem Verdacht willkürlicher, selbständiger Erfindung aussetzten,
geächtet oder doch gescholten wurden.


  Bewußte Arbeit wird weiterhin sogar die Darstellung der Thatsachen.
Nicht genug an der Thatsächlichkeit der Erscheinungen, greift
psychologische Motivierung platz: der Dichtergeist versenkt sich in den
─ freilich noch nicht in voller Jndividualität erfaßten ─ Geist
seiner Gestalten, um ihre Handlungen zu begreifen, zu erläutern.
Nicht genug an der äußern Anschauung, sucht die Dichterseele nun
eine innere Anschauung zu gewinnen. Zunächst gelingt dem Dichter
dies nur in allgemeiner Form, indem er aus seinem eigenen Kopfe
das Maß der Dinge nimmt, ohne zu ahnen, daß sie „nur sich selber
richten“. Wenn wir dieses Erwachen der Reflexion in Gnomik und
andre didaktische Tendenzen münden sehen, so hat der allgemeingültige
Zug der vorläufigen Seelenbeobachtungen sein natürliches Ziel
gefunden.


  Eine unvergleichlich bedeutsame Bereicherung der Dichterseele hat
sich gleichwohl mit dieser Vergeistigung angebahnt. Die Entdeckung
und schrankenlose Entfaltung der Jnnenwelt durchbrach die Starrheit
und Aeußerlichkeit in der Auffassung menschlicher Handlungen, gab
zunächst und vor allem der dichterischen Anschauung neben der Außenwelt
auch die Jnnenwelt zu eigen. Eine immer weiter greifende
Vergeistigung der Außenwelt einerseits, eine merkliche Erweichung und [249]
Vertiefung des eigenen dichterischen Empfindungslebens andererseits ist
die Folge. Wiederum ist der Dichter derjenige, der diese geistigen
Errungenschaften zwar der ganzen Menschheit vermittelt, selbst aber
allein der schöpferische Geist bleibt, der immer neue Regionen des
menschlichen Herzens entdeckt, ja vorerst mit der stärkeren Energie
seines Gefühlslebens immer neue, feinere Nüanzen der Empfindung
in sich ausbildet.

§ 99.
Der individuelle Geist.


  Noch heute gelangen manche, nur lyrisch begabte Dichter nicht
über die Versenkung in den eigenen Busen und Uebertragung ihrer
eigenen Empfindungswelt auf die ganze Außenwelt hinaus. Einen
weiteren Schritt in der Entwicklung der Dichterseele bedeutet es offenbar,
wenn sie sich ihres Gegensatzes zu andern Subjekten
bewußt wird, wenn sie die Vielgestaltigkeit der menschlichen
Charaktere
erkennt. Erst jetzt geht ihr das Gesetz der Jndividualitäten
auf, die Ahnung völlig verschiedenartiger Bestimmungsgründe
für die Handlungen der Einzelwesen. Wie sich des Dichters
Geist eine energische Anschauung der Außenwelt, alsdann seiner eigenen
Jnnenwelt errungen, strebt er nun in die Geheimnisse einzudringen,
welche die Brust der ganzen Menschheit birgt.


  Auch diese bereichernde Erkenntnis erwirbt der Dichter natürlich
nicht durch schematische Berechnung ohne Erfahrungsunterlage, sondern
wiederum durch Anschauung, durch einen tiefer wühlenden Blick, dessen
Ergebnisse alsdann eine Kette von Jdeenassoziationen anspinnen.


  Weiß man von jemand, er sei geizig, weiß man es nur aus
einer Situation, in der man ihn beobachtete, so vermag der einigermaßen
rege Geist zu erraten oder vielmehr zu übertragen, wie dieselbe
Person sich in andern Situationen benimmt, wo dieselbe Schwäche
herausgefordert wird. Hat die potenziert lebhafte Anschauungs= und
Assoziationsgabe des Dichters also sämtliche hervorstechenden Eigenschaften
eines Menschen beobachtet, so vermag sie ein volles Menschenleben
in dieser Gestalt zu verkörpern. Goethe bemerkt denn auch:
„Wenn ich jemanden eine Viertelstunde gesprochen habe, so will ich [250]
ihn zwei Stunden reden lassen.“ Und von seiner „Jphigenie“ gesteht
er angesichts eines Bildes der heiligen Agathe, das er in Bologna
sah: „Jch habe mir die Gestalt wohlgemerkt und werde ihr im Geist
meine ‚Jphigenie' vorlesen und meine Heldin nichts sagen lassen, was
diese Heilige nicht aussprechen möchte.“


  Obschon alle Gattungen der Poesie von dieser neuen Errungenschaft
des Dichtergeistes Gewinn ziehen können, ist es doch vor allem
das Drama, dessen Form erst durch sie zur Vollendung gedeiht. Jn
jüngerer Zeit geschah aber namentlich auch die künstlerische Ausbildung
des Romans und der Novelle durch eindringende Seelenmalerei.


  Diese neue Art des Anschauungsvermögens, welche das Jnnere
durch und durch ergründet, darf im engeren Sinne als Jntuition
bezeichnet werden, deren weitere Ausgestaltung durch Kombination und
Assoziation als höheres Ahnungsvermögen, Divination, gilt.

§ 100.
Der Dichtergeist in seiner Mannigfaltigkeit.


  Während so der Dichtergeist immer neue Funktionen erworben
hat, zeigt er sich auf immer reichere Ausgestaltung aller alten Kräfte
bedacht.


  Unter immer weiterem Abgehen von der alten Einförmigkeit
ist inzwischen in geradem Gegensatz die Mannigfaltigkeit zum Ziel der
Darstellung geworden. Die immer feinere Differenzierung der dichterischen
Empfindung und Reproduktionskraft bringt dem Dichter das
Unzulängliche der schematisch festgeprägten Formeln zum Bewußtsein;
nun sucht er nicht nur äußerliche Abwechselung, vor allem präzisere,
eigenartigere, schließlich individuellere Färbung des Ausdrucks. Ebenso
tritt anstelle der Skizzierung in Umrissen breiteres, behäbigeres Ausmalen;
mit innigem Behagen senkt sich der Dichtergeist in die Gegenstände
seiner dichterischen Anschauung hinein.


  Wo einst schlichte Kraft sich bethätigte, entfaltet sich zu späterer
Zeit froher Schmuck und Glanz, gleichfalls ein Ausfluß größeren
Reichtums der Dichterseele. Die Reproduktion ergeht sich nicht länger
in stammelnden Versuchen, die Höhe des Gegenstandes zu erreichen:
mit meisterlicher Sicherheit stellt sie sich souverän zu ihren Objekten, [251]
um sie in die volle Beleuchtung ihres mannigfach geschliffenen Seelenspiegels
zu rücken.


  Bedenklicher ist, daß der Grundtrieb der Poesie, die Erhebung
der Gefühle, nachdem sich die Dichterkraft ihrer selbst bewußt geworden,
zu Zeiten geflissentlich potenziert wird. Anstelle des heiligen
Ernstes tritt alsdann auch sonst leicht virtuoses Spiel: der Dichter
wirbt um Bewunderung nicht mehr für seinen Helden, sondern für
sich selbst. ─


  Der Erfindung des Dichters, der Erdichtung im engern Sinne,
ist schließlich das weiteste Feld geöffnet. Er „saugt nichts aus den
Fingern“: durch Energie von Anschauung und Empfindung, durch
phantasievolle Ausgestaltung unter unbewußter und nun auch bewußter
Assoziation, durch Reflexion, Jntuition und Divination rückt er die
Stoffelemente seiner Dichtung in einen neuen Zusammenhang, in ein
neues Licht. Das ganze Reich der Erfahrung, das äußere und innere
Leben, ist seine Schatzkammer.


  Die Lebenswahrheit ist darum keineswegs in dem Sinne sein
Α und Ω, daß er über den Mechanismus der Erscheinungen nicht
hinausgehen wolle, oder daß er das Leben von der rein alltäglichen
Seite aufzufassen strebe: vielmehr nur in dem ungleich weitherzigeren
Sinne, daß er keine Gefühle erheucheln oder erkünsteln mag, nur so
singt, darstellt, wie sich wirklich Welt und Seele in seinem Geiste
spiegeln.


  Leicht wird es nach alledem sein, die historisch erwachsenen dichterischen
Fähigkeiten in der voll auf der Höhe stehenden heutigen Dichterseele
beisammen zu finden. Der Dichter tritt uns heute als souveräner
Herrscher im Reiche der Erscheinungen und der Geister
entgegen.


„Jhm gaben die Götter das reine Gemüt,

Wo die Welt sich, die ewige, spiegelt;

Er hat alles gesehn, was auf Erden geschieht

Und was uns die Zukunft versiegelt;

Er saß in der Götter urältestem Rat

Und behorchte der Dinge geheimste Saat.“
[252]

§ 101.
Die Ausdrucksformen des Dichtergeistes.


  Objektive Zeugnisse über die Beschaffenheit der Dichterseele treten
schließlich in der spezifisch poetischen Ausdrucksform hervor. Auch
diese ist von unmittelbarerer Beweiskraft als beliebige Gelegenheitsanmerkungen
von Dichtern über sich selbst. Als äußere Einführung
in die Erscheinung, um die es sich hier handelt, sind einzelne solcher
Geständnisse und Charakterisierungen gewiß von Wert.


  So überliefert Johann Christian Kestner über den jungen Goethe
von 1772: „Er ... besitzt eine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft,
daher er sich meistens in Bildern und Gleichnissen ausdrückt.
Er pflegt auch selbst zu sagen, daß er sich immer uneigentlich
ausdrücke, niemals eigentlich ausdrücken könne: wenn er
aber älter werde, hoffe er die Gedanken selbst, wie sie wären, zu
denken und zu sagen.“ Es kommt im Grunde auf dasselbe hinaus,
wenn Heinrich von Kleist mit Bewußtsein sich für das schriftstellerische
Fach ausbildet, indem er sich ein Magazin von Jdeen und Bildern
anlegt, auch seiner Braut Anleitung zur Bildersprache giebt:
„Bei jedem ... interessanten Gedanken müßtest du immer fragen,
entweder: wohin deutet das, wenn man es auf den Menschen bezieht?
oder: was hat das für eine Aehnlichkeit, wenn man es mit dem
Menschen vergleicht?“ Ferner: „Sehen und hören &c. können alle
Menschen, aber wahrnehmen, d. h. mit der Seele den Eindruck
der Sinne auffassen und denken, das können bei weitem nicht alle.“
Mit ähnlichem Bewußtsein gedenkt Herder seines Jugendlandes, wo er


  „unter dichten Bäumen

Jn der Muse sel'gem Träumen

Wahrheit suchte, Bilder fand.“

Weit verbreitet und herrschend ist nun freilich die Auffassung der
Bilder und sonstigen poetischen Figuren als eines äußeren Schmuckes
der Rede. Jn unserm Zusammenhang erscheinen sie dagegen von
vorn herein als natürliche Ausdrucksformen des dichterischen
Denkens.
Auch der vorgeschrittenste Poetiker, Wilhelm Dilthey,
erfaßt diese äußern Bilder bereits in ihrem Zusammenhang
mit den innern Zuständen des Dichtergeistes. Für uns wird es gelten, [253]
die Erscheinung im einzelnen thatsächlich zu erkennen und so weit
möglich geschichtlich zu beleuchten.

§ 102.
Das sinnlich ergiebigste Kennzeichen.


  Schon in der Sprachschöpfung zeigt sich der sinnfällige Trieb
des Menschengeistes mächtig. Müssen wir doch auch in ihr immer
unbewußte Schöpfungen von Einzelmenschen annehmen, zu dem Zwecke,
Eindrücke wiederzugeben. Unbewußt zunächst sucht ebenso der Dichter
seine Eindrücke zu veranschaulichen, nur daß in ihm der plastische
Blick und Trieb, die Gestaltungsgabe in potenziertem Grade mächtig
ist.


  Schon die Epitheta heben ein besonders eindrucksvolles Merkmal
des Nomen ausschließlich hervor.


  Das was die Antiken Metonymie nannten, die Heraushebung
eines augenfälligen Kennzeichens, begegnet schon in der altindischen
Poesie. Vor allem schwelgt in derartigen Vorstellungen die altnordische
und angelsächsische Poesie; geht doch die auffällige Erscheinung
der Kenningar auf diese Vorstellung zurück.


  Spärlicher wächst die Verwendung in deutscher Sprache an.
Jmmerhin begegnen solche ausdrückliche Umnennungen des Nomen
sofort im Hildebrandslied gegen Schluß des Fragmentes mehrfach:


„dô lættun sê ærist asckim scrîtan“ ─

die Eschen statt der daraus gefertigten Lanzen. Aehnlich:


„unti im iro lintûn luttilo wurtun“ ─

die Linden statt der daraus gefertigten Schilde.


  Jm Muspilli steht wiederholt das Pech, das in der Hölle brennt,
für die Hölle selbst. Aus dem Nibelungenlied ist an Wendungen
zu denken wie des Schildes Rand für den Schild:


„Si hiez ir ze strîte bringen ir gewant,
ein brünne von golde und einen guoten schildes rant“ ...
„dô kom ir gesinde und truogen dar zehant
von alrôtem golde einen schildes rant
mit stâlherten spangen, michel unde breit,
dar under spilen wolde diu vil minneclîche meit.“

[254]

Wie fast die gesamte Terminologie antiker Rhetoriker, haftet auch die
übliche Benennung dieser Erscheinung am Aeußerlichen: Metonymie
d. i. Umnennung. Jn Wirklichkeit handelt es sich immer um das
Auffangen des sinnlich ergiebigsten Momentes im Begriff: daher
das Wesentliche, das Markante oder doch ein besonders augenfälliger
Teil des zu bezeichnenden Gegenstandes herausgehoben wird. Es ist
im Prinzip keine andere Wendung als die uns immer in der alten
liedartigen Dichtung entgegentrat, indem statt des handelnden Menschen
das besondere Organ der Thätigkeit bezeichnet wird:


der dâhte im eine werben des künic Gunthers muot“,

„daz sol helfen prüeven iwer edeliu hant

u. dgl., nur daß sich die Anschaulichkeit des Dichtergeistes nicht mit
diesem unmittelbar gegebenen, von selbst hervortretenden Hauptmoment
begnügt, vielmehr eigenmächtig mit eindringendem Blick einen möglichst
plastischen Einzelzug herausschält. Der unbewußte Trieb des
Dichtergeistes, allem die anschaulichste Seite abzugewinnen, läßt namentlich
Ursache und Wirkung einander ersetzen, um die lebendigste Vorstellung
zu gewinnen oder doch eindringlicher zu schauen als es unter
den gewöhnlichen, abgeschliffenen Begriffen geschieht. Vor allem tritt
gern ein sinnfälliges Merkmal für einen Zustand:


„Wie sich der rîche betraget!
sô dem nôthaften waget
dur daz lant der stegereif!“ ─


wo wiederum nicht sowohl der Stegreif selbst als vielmehr die ungewisse,
unstete Lebensweise des im Stegreif Sitzenden bezeichnet wird.
Jmmer erfaßt das Dichterauge die Objekte an einem besonders
anschaulichen Kennzeichen.

§ 103.
Bild und Gleichnis.


  Der poetische Ausdruck bleibt nicht an den unmittelbaren Beziehungen
des Gegenstandes haften: mehr und mehr überträgt er ihn
später sogar in eine andere Sphäre, welche den wesentlichen Begriff
reiner und unmittelbarer hervortreten läßt. Wiederum ist diese [255]
Erscheinung als Metapher d. i. Uebertragung nur äußerlich gekennzeichnet.



  Ein besonders wirksames Mittel bot diese Erscheinung durch
Personifikation des Geistigen. So zählt Walther von der Vogelweide
drei Schätze auf:


„diu zwei sint êre und varnde guot,
daz dicke einander schaden tuot;
daz dritte ist gotes hulde,
der zweier übergulde.“


Wie erst Gottes Huld den weltlichen Gütern höheren Wert verleiht,
wird durch Vergoldung versinnbildlicht. Nicht minder liegt eine
Uebertragung des Geistigen in sinnfälligen Bereich zugrunde, wenn
derselbe Sänger die Wendung gebraucht: „dîn êre zergât“: das
Verbum ist es hier, welches die Versinnbildlichung bewirkt. Es wird
aber auch Konkretes in ein anderes konkretes Gebiet übertragen, das
den maßgebenden Begriff rein herausstellt:


„Daz wilt und daz gewürme,
die strîtent starke stürme.“


Die stürmische Vorstellung der Kämpfe ist offenbar so eindringlich,
daß des Dichters Phantasie wirkliche Stürme zu sehen glaubt. Daß
diese Anschauung aus anderem Felde hergeholt, kommt ihm noch garnicht
zum Bewußtsein. ─ Mit zunehmender Vergeistigung tritt übrigens
auch umgekehrt Abstraktes für Konkretes ein, doch immer so,
daß der Hauptbegriff damit schärfer, intensiver gekennzeichnet ist. ─


  Diese Bildlichkeit des Ausdrucks bleibt nicht bei einzelnen
Worten stehen, gelangt vielmehr in ganzen Sätzen zu umfassender
Durchführung. Die volle Uebertragung in die andere, sinnfälligere
Vorstellungswelt liegt sogar immer zugrunde und gewinnt denn auch
früh vollkommene Ausführung. Wir brauchen uns nur des berühmten
Liedes vom Kürenberger zu entsinnen:


„Ich zôch mir einen valken“ &c.


Der Dichter führt das Bild umfassend durch, berichtet die Zähmung
und Ausschmückung, den Vondannenflug und das Wiedersehen des
Falken, der in anderm Land mit noch vollerem Schmuck gefesselt ist. [256]
Zu dieser vollen bildlichen Anschauung tritt nur in bekannter lyrischen
Accentuierung:


„got sende si ze samene, die gelieb wellen gerne sîn.“


Es ist wohl beachtenswert, wie dies selbe hier zunächst naiv entfaltete
Bild im Nibelungenlied bereits zur Ausdeutung gelangt:


„Der valke, den du ziuhest, daz ist ein edel man.“


Auch Dietmar von Aist geht von seiner bildlichen Verwendung des
Falken schon ausdrücklich zur Kennzeichnung des verglichenen Objektes
über:


Alsô hân auch ich getân.“


Aehnlich begegnet schon beim Kürenberger selbst:


„Der tunkele sterne, der birget sich.
als tuo du, frouwe schône, sô du sehest mich.“


Reich an bildlichen Vorstellungen ist Walther von der Vogelweide:


„Owê, owê, zem dritten wê!
ez stuont diu kristenheit mit zühten schône:
  Der ist nû ein gift gevallen;
ir honec ist worden zeiner gallen.
daz wirt der welt her nâch vil leit.“


Mitten unter vorherrschenden Bildern fehlt es ihm nicht an Vergleichen.
Diese letzteren bevorzugt das Nibelungenlied.


  Sowohl einzelne Begriffe wie ganze Handlungen und Vorstellungsketten
werden verglichen, wonach man Vergleiche und Gleichnisse
unterscheidet. Da ist ein Saal


„von edelem marmelsteine, grüene alsam ein gras“;

andere Vergleiche: „sam vliegende vogele“, „als eines lewen
stimme
“. Durchgeführt sind Gleichnisse wie: „alsô der morgenrôt
tuot ûz trüeben wolken“, „alsam der süeze meie daz gras
mit bluomen tuot
“ u. dergl. Doch auch im Nibelungenlied fehlt es
nicht an Metaphern: „êre was dâ gelegen tôt“; „ein tier daz
si dâ sluogen
“ heißt der auf der Jagd ermordete Siegfried.


  Schon in den Veden und der Edda begegnen üppige Gleichnisse.
Reich an durchgeführten Gleichnissen erweist sich vor allem auch Homer:

[257]
„Und sie fanden Odysseus, umringt von erschlagenen Leichen,

Ganz mit Blut und Staube besudelt, ähnlich dem Löwen,

Der, vom ermordeten Stiere gesättiget, stolz einhergeht;

Seine zottichte Brust, und beide Backen des Würgers

Triefen von schwarzem Blut, und fürchterlich glühn ihm die Augen:

Also war auch Odysseus an Händen und Füßen besudelt.“

Jn gleicher Weise läßt sich aus allen Litteraturen erschließen, auch
psychologisch voll begreifen, daß bildliche Auffassung, wahrhaftes bildliches
Schauen
die natürliche Denkform des Dichters darstellt.
Was äußert sich in dieser Form anderes, als jene Anschaulichkeit
des Dichtergeistes, die uns schon immer als erste Vorbedingung des
künstlerischen Schaffens entgegentrat?


  So beschränkt das Erfahrungsmaterial gerade für die ältesten
Stadien der Poesie ist, offenbart sich doch gegenüber dem metaphorischen
und allegorischen Bild im Vergleich und Gleichnis ersichtlich
eine spätere, minder unmittelbare Form dichterischen Ausdrucks:
im Vergleich und Gleichnis ist die Uebertragung in eine
andere Sphäre bereits zum Bewußtsein gekommen, während der metaphorische
Ausdruck von unmittelbarem und naivem bildnerischen
Schauen zeugt.

§ 104.
Hyperbeln.


  Wie die Bilder aus dem energischen Anschauungsvermögen des
Dichtergeistes hervorgehen, äußert sich die Potenzierung seiner Gefühlswelt
in der übertreibenden Darstellungsweise.


  Superlativen Ausdruck finden wir schon im Hildebrandslied
reichlich: „degano dechisto“, dicht daneben auch sonstige Maßlosigkeit:
ummett irri“, sowie Verallgemeinerung:


„he was eo folches at ente; imo was eo fehta ti leop.“


Zu den ältesten Hyperbeln gehört die Beschreibung eines Ebers in
der St. Galler Rhetorik:


„imo sint fuoze fuodermâze,
imo sint burste ebenhô forste
unde zene sîne zwelifelnîge.“

[258]

  Nichts anderes als eine Uebertreibung in Bezeichnung kleiner
Maße ist das, was als Litotes (Geringfügigkeit) besonders bezeichnet
wird: „ich fröuden kranke“, „an werdekeit verzagt
u. dgl. Wenn es von dem Knaben Parzival heißt:


„daz erstracte im sîniu brüstelîn“,


so kommt seine zarte Jugend um so schärfer zum Ausdruck.


  Das Streben der Dichterseele nach Gefühlssteigerung kommt auch
in der Klimax des Ausdrucks zur Geltung, indem vom Nächstliegenden
zu immer Ungewöhnlicherem aufgestiegen wird.


  Zusammenhängt damit selbst der tautologische Parallelismus des
altpoetischen Satzbaus, der sich an Heraushebung der wesentlichen
Personen und Gegenstände nimmer genugthun kann, immer signifikantere
Begriffserweiterungen
heranschleppt.


  Aus dem Drang, seine starke Empfindung von einer Handlung
entsprechend eindringlich zu vermitteln, entspringt schließlich die Ergänzung
des positiven Ausspruchs durch den verneinten Gegensatz:


Swem sint kunt diu mære, der sol mich niht verdagen,

wâ ich den künic vinde, daz sol man mir sagen.“

Auch hier ergiebt sich aus der doppelten Negation, noch dazu neben
der positiven Aussage, eine Verstärkung der Forderung.

§ 105.
Der Dichter und das Publikum.


  Ein letztes Mittel, das Seelenleben des Dichters zu erkennen,
bietet sich in dem Reflex dar, den sein Schaffen in der Seele des
Publikums hervorruft.


  Auch hier leuchtet ein, wie wenig aus dem Eindruck, den eine
heutige Dichtung in uns Heutigen erweckt, allgemeingültige oder überhaupt
zulängliche und klare Vorstellungen von der Wirkung erreichbar
sind, welche die Dichter zu allen Zeiten auf alle Völker ausgeübt
haben. Können wir annehmen, daß in der Seele eines germanischen
Urahnen, als er den Sagen und Sängen der „Edda“
lauschte, dasselbe vorging, was wir heute bei „Romeo und Julia“
oder bei „Hermann und Dorothea“ oder auch nur bei derselben
„Edda“ empfinden?

[259]

  Jst die Frage einmal so gestellt, dann ergiebt sich ohne weiteres,
daß unsere Untersuchung damit zu beginnen hat, das älteste Publikum,
welches nach unserer Kenntnis einem Dichterwerke lauschte, vor unsern
Blick zu zaubern: und das ist durchaus nicht so schwierig, wie man
zunächst voraussetzen mag.


  Auf der ersten Entwicklungsstufe, die geschichtlichem Blick erreichbar
ist, finden wir die Poesie mit dem religiösen Opfer verbunden.
Der Priester ist der Sänger, die Gemeinde das Publikum. Die
Empfindungen beider Teile sind religiös wie der Jnhalt der Gesänge.
Der Priester-Sänger will die Herzen der Gemeinde zur Gottheit erheben;
und verfehlt er seine Wirkung nicht, so fühlen sich die Herzen
der Gemeinde zur Gottheit erhoben.


  Die erste Erweiterung gewinnt die Poesie durch Ausbildung des
Heroenkultus: nun will sie erzählen „der Vorzeit Geschichten aus
früh'ster Erinn'rung“ (wie es am Anfang der Edda heißt). Damit
gesellt der Dichter zu dem religiösen das nationale Element. Die
Stammväter des Stammes verherrlicht er, und der Stamm bildet
sein Publikum. Der Sänger prätendiert thatsächlich schon seit der
ersten Singularisierung der göttlichen Wunder, in vollem, ausschließlichen
Umfang nun mit Einkleidung der Sage in den nationalen Vers,
Geschichte zu bieten. So empfängt der Geist des Volkes aus der
Seele des Dichters zu der Religion auch die ersten geschichtlichen
Vorstellungen, d. h. der Mensch fühlt sich nun nicht allein als Wesen
im Raum mit der über ihm waltenden Macht, vielmehr auch als
Wesen in der Zeit mit den vor ihm dahingeschwundenen Wesen.


  Alsdann entfaltet sich das Subjekt des Dichters zu vollem Ausleben
und ruft so die Subjektivität, in immer höherem Maße das
individuelle Gefühl des Publikums wach. Wenn er durch ein Liebes=
oder Naturlied seinem Gefühl für die Geliebte oder die Natur Ausdruck
giebt, so weckt er die gleiche Empfindung im Hörer bezw. Leser:
auch dieser wird sich jetzt seines Gefühls für die Lieblichkeit des
Weibes, für die Wonne des Lenzes bewußt, wird sich desselben
bewußt in den Worten des Dichters. Damit hört die Menschheit
auf, blos instinktiv und bewußtlos ein Traumleben der Gefühle zu
leben; ihrer selbst wird sie sich bewußt, ihr Selbstbewußtsein [260]
dringt durch. Die Bedeutsamkeit dieser neuen poetischen Wendung
dürfen wir nicht unterschätzen; sagt doch Goethe geradezu,


„Höchstes Glück der Erdenkinder

Sei nur die Persönlichkeit.“

Zu seiner weiteren Vertiefung und Bereicherung strebt der Dichtergeist
schließlich vom eigenen Jch dem Geist der andern zu, mit denen
zu leiden, an ihnen sich zu freuen. So ergänzt sich das Selbstbewußtsein
in glücklichster Weise durch Selbstentäußerung. Zu dem
weihevollen Beschauen der Gottheit, der Vorfahren und der eigenen
Seele tritt weihevolle Mitempfindung mit dem Leben der
andern.
Nach allen räumlichen und zeitlichen Dimensionen hat der
Dichter somit Weihe in die Herzen der Menschheit gegossen.


  Verehrung für die Götter und Heroen schließt sich im antiken
Sinne als Pietät zusammen. Selbstbewußtsein und Selbstentäußerung,
Ausleben der vollen Persönlichkeit und dennoch „daß sie sich
ganz vergißt und leben mag nur in andern“ vereint sich zu dem Gefühl,
das seit der Antike als Humanität gilt. Die Dichterseele hat
der Menschheit das Höchste gegeben, indem sie ihr Religion und Geschichte,
Selbstbewußtsein und Selbstentäußerung ─ indem sie ihr
Pietät und Humanität vermittelte.

§ 106.
Rückblick und Ausblick.


  Unser Rekognoszierungszug durch die Geschichte der Weltpoesie
ist vollendet: wir stehen am Ziel.


  Dürfen wir über dasselbe hinaus in die Zukunft der Poesie
blicken? Manche Zeichen des Niedergangs könnten Kleingläubige befürchten
lassen, daß wir am Ende aller Enden der Poesie stehen.
Wir aber, die wir von einer Wanderung zurückkehren, auf welcher
uns die Poesie durch die Gesamtentwicklung des menschlichen Geistes
als Führerin und Bahnweiserin entgegentrat, wir dürfen die Zuversicht
hegen, daß der Dichtung letzter Ton nicht früher verhallt, als
das menschliche Gemüt sich des Bedürfnisses entäußert, dem Göttlichen
über uns wie den Heroen vor uns sich verehrend zu nahen, sich
weihevoll in die eigene Seele zu vertiefen und nach Hingabe an die
Menschheit zu streben.

[261]

  Mag auch unser Volk der Heroenzeit, der eigentlichen Wiege des
Epos, entwachsen sein: nicht nur nehmen dauernd jüngere Völker mit
ihrem Eintritt in die Geschichte diese sagenbildende Funktion des
Menschengeistes auf, wenigstens im poetischen Sinne hat der Heroenkultus
auch für uns nicht aufgehört ein unwiderstehlicher Trieb, ein
Mittel zu eigenem Aufschwung der Empfindung und Thatkraft zu
sein. Auch wächst der Roman, so unerträglich sich gerade in ihm die
Mittelmäßigkeit ausbreitet, unter den Händen fähiger Gestaltenschöpfer
immer präziser zu einer künstlerisch geschliffenen Form und einem
dramatisch lebendigen Charakter an. Jn der Lyrik ist zwar die Vorherrschaft
des Liedes eingeschränkt, aber die Vorbedingungen des Volksgesangs
bestehen fort, und die Verbreitung neuer sangbarer Produktion
ragt relativ in noch höherem Maße als früher weit über die
der Buchlyrik hinaus. Auf dramatischem Gebiete schließlich hat gewiß
die „Schauspiel“=Fabrikation in bedrohlichem Umfang die reine Tragik
wie die reine Komik verwaschen. Verheißungsvoll erscheinen dagegen
die Fortbildung der sozialen Tragödie und die immer neuen Ansätze
zu künstlerischem Realismus in der historischen Tragödie. Wenn sich
das Lustspiel als jüngste und qualitativ ausgebildetste, quantitativ aber
vorerst geringste Gattung offenbart, so dürfen wir erwarten, daß
gerade seine Blütezeit ─ die, wie wir beobachtet haben, auf den
Wegen der individuellen Charakterkomödie zu suchen ist ─ noch
bevorsteht. ─


  Aber rückwärtsgewandt wie im Laufe unserer ganzen Betrachtung
bleibe auch am Schluß unser Blick. Welcher Art war die Entwicklung,
die wir in der Geschichte der Poesie walten sahen? Dürfen
wir von einer steten Vervollkommnung, von einem Aufstieg in gerader
Linie sprechen? Von einem solchen Fortschritt schlechthin, der von
unreifen, unzulänglichen Versuchen zu immer reiferen und vollendeteren
führt, kann nach den gewonnenen Ergebnissen nicht die Rede sein.
Die Fortentwicklung der Poesie geschieht vielmehr durch eine sich verzweigende
Sprossenbildung, dergestalt daß der Stamm des menschlichen
Geistes immer knospenreicher wird, freilich damit zugleich immer
weniger wurzelhaft. Nicht in bloßer Verbesserung, vielmehr in Bereicherung,
im Hinzutritt immer neuer Funktionen, besteht diese Vervollkommnung
der menschlichen Poesie.

[262]

  Je entschiedener wir einer schematischen Uebertragung der naturwissenschaftlichen
Methode auf geistiges Gebiet aus dem Wege gingen,
um so mehr gereicht es dem Ergebnis unseres Verfahrens zur Bestätigung,
daß es in wesentlichen Punkten mit der heutigen naturwissenschaftlichen
Kenntnis von der Entwicklung der Arten übereinstimmt.
Wie dort physisch die Völkerfamilien sich ausbilden und in
neue Bildungen dahinschwinden, so zeigt die Poesie geistiges Blühen
und Welken; und jedes jugendfrische Glied in der Kette der Völker
durchläuft in seiner geistigen Embryonenzeit mit Sturmschritt die
Stufen der Poesie, welche die Menschheit als ganzes im Laufe von
Jahrtausenden erstiegen hat: so spiegelt sich dem Wesen nach in jeder
nicht anormal beeinflußten Nationalpoesie der große Entwicklungsprozeß
der Weltpoesie.


  Was aber offenbart sich als Ziel der Entwicklung? Zu konkreten
Anfängen erwirbt die Poesie immer durchgeistigtere Ergänzungen.
Der Dichtergeist begnügt sich nicht an der Außenwelt der Thatsachen
und Erscheinungen, schweift vielmehr siegreich erobernd in die Jnnenwelt:
dadurch giebt er sich und der Menschheit zunächst den eigenen
Geist, alsdann auch jeden fremden Geist zu eigen und läßt uns in
einen Spiegel der ganzen Außen= wie Jnnenwelt schauen.


  So schreitet der Dichter immer weiter von bloßer Hingabe an
die Sinnenwelt zu immer vollerer Hingabe an die Geisteswelt und
führt damit offenkundig die Menschheit in unendlicher Progression
immer näher zu dem, was wir Gottähnlichkeit nennen. Von der
Poesie gilt in Wahrheit Rückerts Wort:


„Woher ich kam, wohin ich gehe, weiß ich nicht.

Doch dies: von Gott zu Gott! ist meine Zuversicht.“

  Nicht minder aber erkennen wir die Gefahr, die sich hinter dieser
Vergeistigung birgt: verlieren wir den physischen Boden unter den
Füßen, so verflüchtigt sich unser Geist in krankhafte Gespenstigkeit.
Himmelwärts gewandt doch fest im Boden zu wurzeln, bleibt Bestimmung
des Menschen und ewige Aufgabe der Poesie.


[figure]
[E263]

Grundzüge in der Entwicklung der Verskunst.

§ 107.
Ausgangspunkt für Ergründung der Metrik.


  Jn einem historisch gegründeten System der Poesie darf die
Metrik ebenso wenig von der heutigen Form der ausgebildeten Strophe
wie von dem einzelnen Versfuß oder gar der Verssilbe als Grundlage
ausgehen: denn weder die vorgeschrittene Mannigfaltigkeit der
modernen Strophen noch das Sonderdasein der Versteile bietet die
ursprüngliche Gestalt des Versmaßes dar. Auch kann von einer
bloßen Nebeneinanderstellung der Vers=, Strophen- und Reimarten
wissenschaftlich nicht die Rede sein.


Die Verszeile ist Ausgangspunkt der metrischen Entwicklung.
Aus der primitiven Gestalt der Verszeile haben sich die
späteren Variationen entwickelt.


  Vielfache Uebereinstimmungen in der Verskunst verschiedener Völker
bedingen sorgfältige Scheidung, inwieweit selbständige Aeußerungen
eines durchgehenden Prinzips, inwieweit direkte Beeinflussungen und
Abhängigkeit vorliegen.


  Grundsätzliche Wendepunkte in der Entwicklung des Versmaßes
werden vor allem durch die Vervollkommnung und Verinnerlichung
bedingt, welche die Messung und Bindung des Verses erfährt: wie
sie die bloße Zählung und auch die feststehende Silbenwertung überwindet,
um den Accent in Wort und Satz als Träger des Tonfalles
zu suchen. Jnnerhalb der einzelnen Völker ergeben sich tiefgreifende
Abstufungen nach der Vortragsart: ob rezitativ, gesungen oder gelesen. [264]
Auch die Ausbildung der einzelnen dichterischen Gattungen wirkt, zum
teil in Zusammenhang mit der Vortragsart, auf die Entwicklung der
Verskunst umgestaltend.

§ 108.
Die Versmessung.


  Wir sind demnach genötigt, von der Verszeile auszugehen: nicht
von ihrer Definition, in der unsere Untersuchung erst gipfeln soll,
sondern von ihrer Gestaltung und Entwicklung.


  Die Versform der altorientalischen Poesieen unterlag lange fast
völliger Verkennung; erst die letzten Jahrzehnte führten zu einer gewissen
Aufklärung.


  R. Westphal hat nun im Zend-Avesta der alten Jranier einen
regelmäßigen Abstand der Wort- und Satzschlüsse erkannt und demzufolge
zu zweien zusammengehörige Langverse von je 16 Silben erschlossen,
die durch Cäsur in zwei gleiche Halbverse zerfallen. Außer
dieser bestimmten Anzahl von Silben ist kein metrisches Prinzip
erkennbar.


  Weiter trat die Verwandtschaft dieses Versmaßes mit dem
Anushtubh des indischen Rigveda hervor. Nur ist die bloße
Silbenzählung bereits insoweit überwunden, daß der Schluß jedes
Halbverses quantitativ bestimmt ist. Es läßt sich folgendes Schema
gewinnen:


  ⏒ ⏒ ⏒ ⏒ ⏒ ─ ⏑ ⏓ | ⏒ ⏒ ⏒ ⏒ ⏒ ─ ⏑ ⏓


Nicht anders steht es prinzipiell um die übrigen Vedenverse, die sämtlich
zählend einsetzen, um erst am Schluß für die Quantität eine
feste Form geltend zu machen. Auch ist aus der Anushtubh-Strophe
der epische Çloka hervorgegangen; dieses Distichon von Langzeilen
zu 16 Silben mit Cäsur nach der 8. Silbe bewahrt in aller Mannigfaltigkeit
die Norm des Anushtubh, nur daß die erste Vershälfte
meist antispastisch ausgeht:


  ⏒ ⏒ ⏒ ⏒ ⏒ ─ ─ ⏒ | ⏒ ⏒ ⏒ ⏒ ⏒ ─ ⏑ ⏒


Daß die Quantität der Silben zunächst gerade am Versschluß nach
fester Geltung strebt, begreift sich wohl: tritt er doch am schärfsten [265]
hervor, prägt sich am stärksten ein, zumal in gesungener Poesie.
Schon beginnt sich dasselbe Prinzip, dasselbe Gefühl für harmonisch
gebundene Abrundung zu bethätigen, dem später der Endreim entsprießt.


  Bereits die Entwicklung der lyrischen Metren in der indischen
Poesie bringt die quantitierende Messung zur vollen Durchführung
im Vers.


  Durchaus entscheidend ist die Quantität alsdann in den ältesten
bekannten griechischen Dichtungen. Wiederum begegnet uns zunächst
ein durch Cäsur zerlegter Langvers, der Hexameter; und wiederum
entwickelt erst die lyrische Poesie eine mannigfaltige Fülle
rhythmischer Formen. Der Wortaccent bleibt aber noch immer außer
Anschlag, der rhythmische Accent wird durchaus von der festen Silbenquantität
bestimmt. Gerade die enge Verbindung mit der Musik begünstigte
diese Gleichgültigkeit gegen den natürlichen Tonfall, da ja
auch die musikalischen Töne sich an den Wortaccent nicht gebunden
halten.


  Erst in der byzantinischen Zeit beginnt der Wortaccent seine
Rechte geltend zu machen, und der Uebergang von der Quantitätsmessung
zur accentuierenden Metrik vollzieht sich in der Folge.


  Die Römer wie die übrigen Jtaliker hatten, bevor sie den Anschluß
an die griechischen Quantitätsgesetze unternahmen, in ihrem
versus saturnius bereits eine accentuierende Form ausgebildet.
Diese Langzeile läßt die Senkungen unbestimmt, um in sechs Hebungen
der rhythmischen Betonung Ausdruck zu geben. Am Schluß des
Verses, meist auch der ersten Vershälfte steht eine Senkung, in der
man wohl das Ueberbleibsel der zum Nebenton herabgesunkenen, ursprünglichen
vierten Hebung sehen darf. Auch die spätere römische
Poesie läßt aus der nach griechischem Muster nun quantitierenden
Messung die Neigung zum Verlegen des Jktus auf die accentuierte
Silbe erkennen, besonders wo am Ende des Verses und vor der Cäsur
ein Trochäus oder Spondeus, vorwiegend auch wo dort ein Daktylus
steht.


  So kommt denn im Romanischen die Accentuierung wieder
zum Durchbruch. Nicht nur in der spätlateinischen Poesie der christlichen
Kirche, auch in den modernen romanischen Sprachen. Freilich
legt die italienische und freier noch die französische Metrik entscheidendes [266]
Gewicht nur darauf, daß die letzte Hebung vor dem Versende
und eventuell vor der Cäsur den rhythmischen Hochton trägt. Abermals
wird die besondere Bedeutung des Versabschlusses für die Bindung
der poetischen Rede augenscheinlich. Doch lassen längere Verse
noch weiterhin ein oder mehrmals den Hochton in Uebereinstimmung
des Wortaccents mit dem Versiktus hervortreten.


  Ganz auf das accentuierende Prinzip der Versmessung stellen
sich die germanischen Poesieen. Der accentuierte Vokal trägt den
Hochton. Von Kompositionen abgesehen, ist es hier zunächst die
Wurzelsilbe, welche diesen Hochton in Anspruch nimmt; und damit
gelangt die innere Bedeutung zu wünschenswerter Hervorhebung im
Vers. Der Rhythmus stuft Haupthebungen, Nebenhebungen und
Senkungen je nach der Stärke der grammatischen Betonung ab.


  Die älteste Form der germanischen Poesie, sowohl der deutschen
wie der nordischen und englischen, ist ein durch Cäsur geteilter Langvers,
dessen Hälften je zwei Haupthebungen hervortreten lassen. Zu
ihrer noch stärkeren Accentuierung suchen beide Haupthebungen des
ersten Halbverses oder wenigstens eine von beiden gleiches konsonantisches
Anklingen wie die erste Haupthebung des zweiten Halbverses.
Damit erweist sich die Allitteration als letzte und höchste Vollendung
der auf immer schärfere Accentuierung hindrängenden Versmessung.

§ 109.
Die Fortentwicklung der Versform.


  Obgleich es nicht an Versuchen gefehlt hat, primitivere Versformen
zu erschließen, sieht sich die geschichtliche Betrachtung überall
auf die Langzeile als Ausgangspunkt hingewiesen.


  Bereits im Zend-Avesta schließen sich je zwei Langzeilen zu
einem Abschnitt enger an einander. Ebenso sucht die älteste indische
Versform distichische Strophenbildung. Doch schreiten schon jüngere
Teile der Veden zu umfassenderen Versgruppen vor. Wie der griechische
Hexameter und die deutsche Stabreimzeile noch erkennen lassen, bildet
die Einzelzeile den Beginn der Versentwicklung. Die Strophenbildung
der skandinavischen Allitterationspoesie bietet nur eine neue
Vermehrung der uns zahlreich entgegengetretenen Beweise für das [267]
relativ späte Entwicklungsstadium der nordischen Poesie, in welches
die Edden zu weisen sind.


  Die Fortbildung dieser Einzel-Langzeile zu kunstvolleren Variationen
der Versform läßt sich in der organisch entwickelten und durchforschten
griechischen Poesie klar überschauen und begreifen. So
finden sich eine Reihe von Zeugnissen für den Uebergang des Hexameters
auf die frühe Lyrik. Sapphos Hochzeitslieder, so wenig uns
davon überliefert, sind nach dieser Richtung von weittragender Bedeutung,
weil sie für Geltung dieser Langzeile in volksmäßigen Gesängen
Zeugnis ablegen. Auch wird das entscheidende Element der Ueberleitung
zu lyrischer Bewegung unzweideutig bezeichnet, wenn nach der
Ueberlieferung in einem jener Hochzeitslieder dem Schluß jeder Halbzeile
der Ausruf Γ̔μήναον angefügt war. Wie wir bereits an der
innern Form erkannten, sehen wir nun auch der Versform durch den
Refrän, und zwar wiederum zunächst in einzelnen Ausrufen, die
Wendung ins Lyrische gegeben. Ein anderes charakteristisches Kennzeichen
der Versentwicklung ist der Zusammenschluß des Hexameters
mit einem Pentameter zum Distichon der Elegie. Nicht minder muß
auffallen, wie der Nomos unter Terpanders Händen noch der strophischen
Gliederung entbehrt. Die daktylischen Hexameter herrschen in
seinem Nomos unterschiedslos durch alle Teile einschließlich Proömion
und Epilog.


  Erst mit Archilochos erfolgt ein wesentlicher Umschwung, doch
immer in Anknüpfung und Umbildung. Er führt den jambischen
Trimeter und den trochäischen Tetrameter ein; er schreitet durch regelmäßigen
Wechsel von Lang- und Kurzzeilen zu epodischer Strophenbildung
vor. Aber schon das Epyllion Margites hatte jambische Trimeter
zwischen seine Hexameter gemischt, freilich noch nicht in regelrechter
Wiederkehr, sondern nur nach freiem Ermessen einer wechselnden
Anzahl Hexameter als Abschluß angefügt. Einen Zusammenschluß
ungleichartiger Verse hatte überdies bereits das elegische Distichon
unternommen. Das Ausgehen der Entwicklung von der hexametrischen
Langzeile, ein zunächst ungeregeltes Durchbrechen ihrer Alleinherrschaft,
schließlich ein zu gesetzmäßiger Anerkennung und Durchführung gelangender
Wechsel zwischen Lang- und Kurzzeile bezeichnet den Gang der
Entwicklung von der epischen zur lyrischen Kunstform. Jm übrigen [268]
mußten die Reformen des Archilochos durch musikalische Rücksichten
wesentlich beeinflußt sein. Jn Konsequenz der Auffassung einer Senkung
als Maß von einfachster Zeitdauer, einer Hebung als Maß von
doppelter Zeitdauer durften zwei kurze Silben durch eine Länge ersetzt
werden. Weiterhin faßt er zwei Versfüße zu einer Maßeinheit
zusammen; durch Beschwerung des einen von beiden treten sie in ein
ähnlich geartetes, freilich im Takt umgekehrtes Verhältnis zu einander
wie die Silben jedes einzelnen Versfußes. Das jambische Metron
⏑ ─́ ⏑ ─́ nimmt durch Uebergang in ─ ─̋ ⏑ ─́ trochäischen
Tonfall, das trochäische ─́ ⏑ ─́ ⏑ durch Uebergang in ─́ ⏑ ─̋ ─
jambischen Tonfall an. So hatte der Vers energische Bewegung, in
aller strengen Gesetzmäßigkeit volle Modulationsfreiheit gewonnen.


  Ohne die reiche Weiterbildung der Versformen in der vielgestaltigen
griechischen Lyrik eingehend zu verfolgen, müssen wir die Entstehung
der dramatischen Metra ins Auge fassen. Schon ihr Zusammenhang
mit dem Dithyrambos bewirkt eine gewisse metrische
Kontinuität. Für die Chorlieder und die monodischen Partieen der
dionysischen Festgesänge waren jambische Trimeter, trochäische, jambische
und anapästische Tetrameter nebst den sich anschließenden Hypermetren
gebräuchlich. Die attische Komödie gelangt metrisch nicht wesentlich
über diese Grundlagen hinaus; mindestens lassen sich ihre Verse fast
sämtlich auf die genannten Maße zurückführen. Die Tragödie bewahrt
zwar nur jambische Trimeter, trochäische Tetrameter und anapästische
Hypermeter. Aber auch die logaödischen Chormetren sind
aus dem Dithyrambos geschöpft, die daktylischen wie die daktylo=epitritischen
Bildungen stellen Entlehnungen aus der Lyrik dar. So
werden wir auch für den in seiner Grundlage noch unaufgeklärten
Teil der tragischen Maße verschüttete Quellen in der Volkslyrik vorauszusetzen
haben.

§ 110.
Fortsetzung: Hauptstufen in der Weiterbildung der deutschen
Versform.


  Nicht minder reich und ─ trotz mehrfach versuchter Durchbrechungen
─ nicht minder organisch erweist sich die Fortbildung [269]
unserer heimischen Verskunst. Auch sie hat bereits eine geschichtlich
bedeutsame Entwicklung hinter sich, ehe sie zu strophischen Gebänden
vorschreitet.


  Der allitterierende Langvers stellte die schärfste Ausprägung der
accentuierenden Versmessung dar. Wenn der Reimvers, wie ihn
um 870 Otfried zuerst in einer größeren Dichtung durchführt, auf
jene Verstärkung des Hochtones durch gleiches Anklingen mehrerer
Haupthebungen verzichtet, um die Langzeile an eine zweite durch
gleichen Ausklang zu binden, so offenbart sich wiederum die natürliche
Tendenz des Versbaus, eine Bindung gerade am Schluß
einzelner Versabschnitte zu suchen, zugleich aber der vorschreitende
Zug der Entwicklung, einen Zusammenschluß mehrerer Verse zu
einem gebundenen Komplex zu suchen. Obschon in der christlich=spätlateinischen
gesungenen Dichtung vorgebildet, stellt somit der deutsche
Reimvers eine organische, innerlich notwendige Entwicklungsstufe der
Verskunst dar. Anstelle der rezitativen Allitteration ist er in erster
Linie für Gesang bestimmt. Mußte doch auch die Abnahme der
Sprache an tonmalender Kraft dem Stabreim ein gut Teil seiner
inneren Bedeutung entziehen und auf eine neue Bindungsart der beiden
Halbzeilen hindrängen. Diese tragen nun den Gleichklang im
Abschlußlaut. Gleichzeitig und in weiterer Ausübung des metrischen
Bindungstriebes rücken aber je zwei Langzeilen zu einer neuen Einheit
zusammen.


  Noch immer verharrt dabei die Versmessung in dem ausgeprägt
accentuierenden Charakter, der, gleichgültig gegen die Silbenzahl, weil
gegen die Senkungen, allein die Hebungen ─ in Uebereinstimmung
der lautlichen und rhythmischen Betonung ─ als ausschlaggebend für
den Tonwert des Verses berücksichtigt. Jede Halbzeile bietet zwei
Haupthebungen und eine oder zwei Nebenhebungen, stellt also entweder
voll zwei Dipodieen, oder stumpf eine vollständige und eine
unvollständige Dipodie dar. Der Reim ist zunächst im Prinzip und
überwiegend einsilbig (männlich); auch in den selten auftretenden zweisilbigen
(weiblichen) Reimen ist für diese Frühzeit der Gleichklang der
Endvokale entscheidend.


  Die Strophenbildung, die bei Otfried mit der primitiven
äußeren Zusammenordnung zweier Langzeilen einsetzt, beginnt alsbald [270]
eine organische Fortentwicklung. Schon Otfried selbst faßt in einer
Reihe von Stellen mehrere seiner Gebände von je zwei Langzeilen
zu einer weiteren Einheit zusammen ─ durch ein Mittel, das er
nicht nur gerade in der lateinischen Poesie bemerkte, das uns abermals
zugleich als durchgehendes Ferment in der Entwicklung des
epischen Langverses zur lyrischen Strophe bekannt geworden. Eine
Art von Refrän ist es, wodurch sich in Otfrieds Evangelienbuch
größere Versgruppen zusammenschließen. Die einfachste Form ist die,
daß auf je zwei Langzeilen wiederholt hintereinander zwei identische
Langzeilen folgen; doch sind auch umfassendere Gruppen und in größerer
Mannigfaltigkeit durch Refrän zusammengeschlossen, aufs neue
gebunden.


  Ein Durchgangsstadium der Strophenbildung erkennen wir alsdann
bald im Ludwigslied, das zweizeilige Strophen mit dreizeiligen
durchmischt. Diese Form ungleichzeiliger Versgebände findet inzwischen
in dem der kirchenlateinischen Sequenz nachgebildeten Leich eine
eigene poetische Gattung. Die Sequenz trägt ihren Namen, weil sie
ursprünglich aus einer Reihe musikalischer Töne herausgewachsen ist,
die auf den Hallelujah-Refrän des zwischen Epistel und Evangelium
fallenden Graduale folgten. Zu diesen für die lyrische Accentuierung
epischer Ueberlieferungen wieder höchst charakteristischen Tönen dichtete
man später Texte, und da die Melodie mit jeder Strophe wechselte,
ergaben sich eben ungleichstrophige Gesänge.


  Eine neue entscheidende Wendung in der deutschen Versentwicklung
erfolgt mit der Reimbrechung, d. h. mit dem Auseinanderbrechen
der beiden reimenden Halbzeilen durch Einfall einer Satzpause
auf das Ende der ersten Halbzeile. Mit dieser im 12. Jahrhundert
durchdringenden Notwendigkeit ist die Einheit der Langzeile gesprengt,
und es beginnt die selbständige Entwicklung der Kurzzeile. Die
beiden reimenden Halbzeilen treten nun als kurze Reimpaare auf.


  Die Langzeile schwindet naturgemäß nicht mit einem Schlage,
erscheint vielmehr zunächst noch in denselben Dichtungen, welche bereits
die Kurzzeilen überwiegend durchführen; und zwar bald mit,
bald ohne Cäsurreim.


  Jm Laufe der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts geschieht
die Fortbildung der aus diesen ungeordneten Elementen angebahnten [271]
Strophen zu neuen festen Kunstformen. Auch die sprachliche Uebergangszeit
ist nun überwunden. Da erfolgt zunächst eine neue gesetzmäßige
Regelung der Langzeile. Die Nibelungenstrophe führt dieses
Streben zu einer gewissen Vollendung. Jm Prinzip sind die ersten
Halbverse der Langzeile vierhebig, die zweiten dreihebig, nur daß der
Schluß der aus vier Langzeilen zusammengetretenen Strophe durch
einen vollen, vierhebigen Vers bezeichnet ist. Einen Uebergang von
der epischen zur lyrischen Verskunst stellt die Verwendung dieser
Strophe durch den Ritter von Kürenberg dar. Bei ihm läßt sich
zugleich beobachten, wie die lyrische Strophe zunächst einfach ─ ungegliedert
─ und vereinzelt ─ spruchartig ─ auftritt. Das
Aneinanderreihen mehrerer lyrischer Strophen und noch späterhin die
Dreiteiligkeit der lyrischen Strophe sind erst Ergebnisse weiterer
Entwicklung.


  An einen andern Punkt der epischen Entwicklung setzt Dietmar
von Aist an, indem er bald aus paarweise gereimten Langzeilen eine
Strophe baut, bald kurze Reimpaare oder auch gekreuzt reimende
Kurzzeilen der Strophenbildung zugrunde legt. Die Langzeile wird
schließlich von der Kurzzeile aus dem Felde geschlagen. Die Reime
verharren noch tief in Unreinheit; an ihrer statt herrscht weithin
bloße Assonanz. Man lese charakteristische Belege beim Kürenberger
wie bei Dietmar nach.


  Während schon die ersten Minnesänger gelegentlich zu mehrstrophigen
lyrischen Gesängen vorschreiten, ist die Dreigliederung der
lyrischen Strophe erst im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts zu
voller Ausbildung gelangt. Läßt sich doch schon an den jüngeren
Sequenzen ein Uebergang von der Zweiteilung der Stollen zur Dreigliederung
verfolgen. Wie in der Gestaltung der deutschen lyrischen
Verskunst kein zusammenhangsloses, willkürliches Hin- und Herspringen,
sondern organische Entwicklung statthat, wie sich geradezu nach
diesen metrischen Entwicklungsstufen die Generationen und Gruppen
der Minnesänger scheiden, trat schon in unserer ästhetischen Betrachtung
der mittelhochdeutschen Lyrik hervor. Zunächst ist ein Nachlassen,
schließlich Verpönung der unreinen Reime bemerkbar, und ebenso sind
die einfachen und die dreiteiligen Strophen nicht als neben einander
hergehende Ergänzungen, sondern als verschiedene Stufen in der vorschreitend [272]
musikalischen Gestaltung der Verskunst aufzufassen. Nichts
als musikalische Perioden treten uns in den beiden gleichartigen
Stollen und dem mit eigenartigem Tonsatz schließenden Abgesang
entgegen. Auch sonst weicht die ursprüngliche Einfachheit und Einförmigkeit
im 12. Jahrhundert zusehends gewollter Mannigfaltigkeit,
Abwechselung, individueller Sonderung. Anstelle der Gemeinsamkeit
des einen nationalen Verses wird jede neue metrische Form Eigentum
ihres Erfinders, und als Tönedieb geächtet, wer sonst sie zu übernehmen
wagt. Der Einfluß provenzalischer Kunstfertigkeit vermehrte
noch diesen erzwungenen Reichtum an Tönen.


  Zu handwerksmäßiger Künstelei artet dies Streben nach immer
neuen, eigenartigen, unerhörten Strophenbildungen im Meistersang
aus. Was in üppigem Reichtum lebendiger Entwicklung eingesetzt,
erstarrt schließlich zu scholastischer Pedanterie. Auch die Gliederung
der Strophe schreitet fort: schon seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts
wird dem Abgesang gern ein dritter Stollen angehängt.
Aber das accentuierende Prinzip alleiniger Geltung der lautlich betonten
Silben bleibt erhalten. Die Verachtung, welcher die „Knüttelverse“
des Hans Sachs im 17. Jahrhundert anheimfielen, geht auf
die regelgläubige Gewaltsamkeit zurück, mit der man diese frei beweglichen
deutschen Maße in das Prokrustesbett der antiken Metra
zu zwängen suchte.


  Die aus der Renaissance hervorgehenden Bestrebungen eines Opitz,
seiner Vorgänger und seiner Nachfolger lenkten das aus neuem sprachlichen
Umschwung erwachsene Bedürfnis nach metrischen Umbildungen
in die Bahnen der fremden Renaissancevölker. Schon seit dem letzten
Drittel des 16. Jahrhunderts war der französische Alexandriner mit
seiner festen Silbenzahl eingeführt, zunächst ohne daß der deutschen
Betonungsfreiheit im einzelnen Gewalt angethan werden sollte. Erst
Opitz führt im Gegensatz zum deutschen Sprachgeist regelmäßigen
Wechsel von Hebung und Senkung, damit also den antiken monopodischen
Versbau durch, allerdings unter Erkenntnis und grundsätzlicher
Anerkennung gerade des Gegensatzes der accentuierenden deutschen Betonung
zur antiken Quantitierung. Mit der bald folgenden Zulassung
von Daktylen geschah keine prinzipielle Aenderung in Handhabung der
Verskunst.

[273]

  Erst Klopstock, dessen sprachschöpferische Kraft unserer neuen
klassischen Litteratur die Bahn bricht, sprengt die Fessel, mit welcher
die gleich regelrechte Geltung von Hebung und Senkung die Freiheit
des deutschen Sprachgeistes beengte. Erleichterte doch auch die Loslösung
von der Musik die vollere Geltung des Wortaccentes. Schon
der Züricher Kunstrichter Breitinger hatte theoretisch Bedenken gegen
die beständige Abwechselung von hohen und tiefen Accenten geäußert.
Schon Gottsched andererseits hatte Hexameter nach deutschem, nicht
mehr der phonetischen Wortbetonung widerstreitendem Accent empfohlen
und gebaut. Aber erst Klopstocks souveräne Handhabung der
freien Rhythmen wie speziell des Hexameters stellt die deutsche Verskunst
von neuem auf den beweglichen germanischen Tonfall. Jm
Gegensatz zu der schematischen Regelmäßigkeit des Jambus und
Trochäus durchherrschte nun die Nachbildung der beweglicheren Maße
gerade aus der Antike der deutsche, nach der Lautbetonung abstufende
Sprachgenius. Noch heute haben wir nicht die letzten Konsequenzen
dieser Wiederbesinnung auf den Grundzug der deutschen Versentwicklung
gezogen; aber die vorherrschende Verwendung der gleichmäßig
wechselnden Metren läßt überall den Durchbruch deutscher Wortbetonung:
Abstufung nach Haupt- und Nebenhebungen, Gleichgültigkeit
gegen die Senkungen erkennen. Der fünffüßige Jambus, der sich
nach englischem Muster als dramatischer Vers eingebürgert hatte,
weicht sogar meist rhythmisch bewegter Prosa oder stellenweise, wie
bei Wildenbruch, direkt dem Knüttelvers in rechter Wertung desselben
als „deutscher Vers“. Und Richard Wagner überträgt die germanische
Accentuierungskunst auf die Musik.

§ 111.
Die künstlerische Prosaform.


  Wenn nach alledem über die treibenden Kräfte der Versentwicklung
noch Zweifel obwalten könnten, würde selbst von der dichterischen
Verwendungsart der Prosasprache ein Streiflicht auf das Wesen der
ursprünglich dichterischen Form fallen. Durchgängig bekundet sich das
Streben nach gesetzmäßiger Bindung, wie sie schon die antike
Bezeichnung Nomos andeutet.

[274]

  Stehen doch die glühenden Ergüsse eines Werther freien Rhythmen
prinzipiell nicht fern, und auch im weiteren Umfang spricht man
angesichts der Goetheschen Prosa von rhythmischer Bewegung, wie sie
eben künstlerisch beflügelt ist.


  Mit unverkennbarer inneren Gesetzmäßigkeit bildet aber Lessing
sogar die Sprache des lebendigen, dramatischen Dialogs künstlerisch
aus. Seine wesentlichsten Stilmittel sind geflissentliche Wiederholungen,
Korrekturen, Antithesen, Jronie. Was ist die Wiederholung,
die Um- und Umwendung jedes wesentlichen Begriffes anders als ein
Streben nach Harmonie, wie sie der Wiederkehr desselben Versmaßes,
gleichsam der Abstimmung auf einen Ton, wie sie auch dem
Gleichklang des Reims zugrunde liegt? Kehren doch in Lessings
Meisterdramen einzelne Wendungen ganze Scenen hindurch refränartig
wieder. Und wie Satz und Gegensatz, Aufgesang und Abgesang
sich entgegentreten, wie die Harmonie sich in Disharmonie auflöst, um
wieder in sich zum Ausgleich zurückzukehren, so prägt Lessings Prosa
bald ihre scharfen Antithesen, bald ihre leiser umwendenden Korrekturen
des jedesmaligen Leitmotivs, bald wieder den doppelt wuchtigen
Gegensinn der Jronie, um je nach Umständen ausgleichend oder auflösend
zum Eingangsglied zurückzukehren. Man denke an Justs Abwägen
des guten Danzigers und der schlechten Mores, die der Wirt
besitzt: an den dreimaligen Refrän, nach jedem Trunk: „Herr
Wirt, Er ist doch ein Grobian!“ ─ bis er Trinken wie Reden zum
Abschluß bringt durch die auch im Sinne der künstlerischen Form abschließende
Wendung: „Nein, zu viel ist zu viel! Und was hilft's
Jhm, Herr Wirt? Bis auf den letzten Tropfen in der Flasche würde
ich bei meiner Rede bleiben. Pfui, Herr Wirt; so guten Danziger
zu haben, und so schlechte Mores!“ Es ist nicht anders, als folgte
auf mehrere Stollen der Abgesang.


[figure]
[E275]

Appendix A Sachregister.


[figure]

Abenteuerlichkeit 110.


Abstraktion 24. 25. 125. 174. 175.


Aesthetik 5. 6.


Allegorie 51. 52. 94. 99. 100. 101.
102. 131. 133.


Allitteration 61. 266. 269.


Anakreontik 134.


Anschaulichkeit 76. 77. 103. 123. 124.
241. 243. 257.


Assonanz 61. 266. 271.


Ausruf 122. 124. 128. 176. 177. 267.


Avesta 30.


Babylonier 120.


Ballade 114. 115.


Beiwort 65. 73. 81. 245. 253.


Beowulf 83.


Bewußtsein 82. 90. 101. 247 bis 249.
259. 260.


Bildende Künste 16. 57.


Bilder 45 bis 53. 252 bis 257.


Charakter 182. 184. 197. 201 bis
205. 208 bis 216. 219. 223. 224.
227. 229. 232. 233. 234 bis 239.
261.


Charakteristisches 18. 112. 201.


Christentum 85 bis 88. 105. 106.
191 bis 195. 200. 201.


Deus ex machina 184. 210.


Dialog 180. 199. 207.


Dichter 53. 58. 59. 240 bis 262.


Didaktik 91. 92. 93. 105. 126. 132.
133.


Dithyrambos 135. 179. 268.


Divination 250.


Dramatik 25. 26. 135. 170. 178 bis
239. 261. 268.


Edda 27. 31. 41. 74. 75. 76. 256.
258. 259. 266. 267.


Einförmigkeit 245 bis 247. 272.


Einheiten 187. 193. 196. 197. 226.


Elegie 128. 129. 130. 267.


Empirie 7. 8.


Engländer 20. 38. 42. 43. 51. 105.
106. 107. 111. 114. 201 bis 205.
206. 207. 208. 209. 234 bis 236.
266. 273.


Entwicklung 9. 10. 11. 22 bis 26. 33.
53. 54. 63. 118. 257. 258 bis 260.
261. 262. 263. 266. 269. 271.


Epik 15. 25. 63 bis 118. 136. 137.
150. 179. 188. 191. 202. 261. 271.


Erhaben 32. 33. 42. 183. 201. 247.


Erinnerungsbilder 243.


Erotik 108. 132. 139. 140. 146. 147.
198.

[276]

Fabel 115.


Fastnachtspiele 230.


Form 2. 12. 13. 21. 56. 58. 59 bis
62. 107. 261. 263 bis 274.


Formeln 73. 74. 164. 165. 245. 246.


Franzosen 3. 4. 5. 6. 20. 36. 42. 43.
51. 88. 94. 95. 143. 144. 176. 192.
195 bis 199. 207. 208. 230. 232
bis 234. 265. 266. 272.


Freiheit 208 bis 216. 247 bis 250.


Gedanken 2. 58.


Gefühl 21. 53. 56. 57. 58. 59 bis 62.
87. 89. 91. 94. 95. 99. 100. 117.
124. 177. 242. 247 bis 251. 259.


Germanen 31. 88. 98. 201. 202. 266.


Gesang 75 bis 78. 164 bis 169. 177.
179. 191. 261.


Geschichtliche Auffassung 1. 6. 7. 9.
10. 33.


Gestaltungskraft 53. 242.


Gleichnis 252 bis 257.


Griechen 20. 35. 36. 40. 45. 46. 50.
65. 66. 69. 70. 72. 81. 91. 92.
108. 115. 127 bis 136. 178 bis
191. 220 bis 227. 256. 257. 265.
267. 268. 273.


Gudrun 95. 96.


Häßliches 18. 201. 238. 239.


Hebräer 30. 77. 122 bis 126.


Heliand 86.


Heroisches 39 bis 44. 95. 198. 259. 261.


Hildebrandslied 24. 41. 72. 73. 75.
77. 253. 257.


Hohelied 123 bis 126.


Humanismus 21. 22. 195. 260.


Humor 224. 226. 233. 235. 236.
238. 239.


Hyperbel 257. 258.


Jambische Poesie 129.


Jdealistik 20. 204. 208 bis 216.


Jdeenassoziation 243. 244.


Jdyll 50. 115.


Jnder 29. 30. 34. 35. 39. 40. 46.
69. 80. 81. 91. 108. 120. 121. 256.
264. 265. 266.


Jndividualität 91. 170 bis 172. 177.
201 bis 216. 233. 248 bis 251. 272.


Jnduktion 7. 8. 9. 10. 11.


Jnterjektion 128. 177.


Jntrigue 186. 197. 198. 229. 233. 238.


Jntuition 250.


Jranier 264. 266.


Jtaliener 94. 105. 114. 144. 231.
232. 265.


Kanzone 137.


Katharsis 4. 217. 218.


Katholizismus 201.


Kleinmalerei 81. 83. 86. 87. 90. 97.


Klimax 258.


Komödie 36. 45. 219 bis 239. 261. 268.


Konkret 24. 262.


Kunstdichtung 20. 149. 236.


Kykliker 91. 92.


Langvers 60. 61. 266. 267.


Leich 153 bis 156.


Lied 75 bis 78. 127. 128. 137. 144
bis 173. 261.


Litotes 258.


Ludwigslied 87. 270.


Lustspiel 36. 45. 219 bis 239. 261.
268.


Lyrik 25. 119 bis 177. 179. 261.
267. 268. 271.


Mahabharata 34. 39. 40. 80. 81.


Malerei 3. 16.


Mannigfaltigkeit 250. 251. 272.


Materialismus 8.


Meistersang 169. 272.


Melos 130 bis 134.


Metapher 255. 256.

[277]

Metonymie 253. 254.


Mirakel 192.


Moral 6. 13. 21. 22. 99. 104. 126.
135. 214.


Moralitäten 192.


Musik 57. 177. 265. 268. 270. 273.


Muspilli 85. 253.


Mysterien 192. 220.


Mythos 45. 64. 65. 66. 67.


Nachahmung 2. 3. 4. 15. 16. 56.


Naiv 20.


Narr 235. 236. 237.


National 67 bis 71. 98. 259.


Natur und Naturalismus 5. 8. 15.
16. 17. 38. 44 bis 51. 58. 64.
65. 141.


Naturbeseelung 45 bis 51. 173.


Naturvölker 27. 28.


Nibelungen 69. 88 bis 91. 253. 254.
271.


Novelle 107 bis 113.


Nutzen 2. 13.


Objektivität 23.


Orientalen 25. 88. 108. 119 bis 127.


Parabel 115.


Parallelismus 75. 166. 167. 246.


Parodie 36. 225.


Perser 36. 40. 41. 83 bis 85. 93. 94.
126. 127. 195.


Phantasie 67. 94. 242 bis 251.


Prosa 57. 58. 107 bis 113. 273. 274.


Protestantismus 201. 202.


Provenzalen 136 bis 143. 152. 272.


Psychologie 8. 9. 10.


Publikum 258 bis 260.


Ramajana 91.


Realistik 20. 110. 111. 112. 184. 185.
204. 209.


Reflexion 25. 86. 87. 101. 111. 142.
174. 175.


Refrän 125. 137. 138. 139. 167. 168.
176. 267. 270. 274.


Reim 61. 62. 265. 269 bis 273.


Religiös 29 bis 39. 152 bis 156. 169.
170. 177. 179. 191. 206. 229.
259. 262.


Renaissance 2. 195. 207. 236. 272.


Rhapsoden 78. 79.


Rhetorik 169. 174. 176. 198. 207. 227.


Ritterepos 98 bis 101.


Ritterlyrik 147 bis 151. 153 bis 163.
164. 271.


Römer 2. 3. 88. 135. 152. 228.
229. 265.


Roman 107 bis 113. 261.


Romantik 20. 21.


Romanze 114. 115.


Ruodlieb 87. 88. 145.


Sage 66 bis 71. 110.


Satire 227.


Scenerie 183. 187. 192.


Schauspieler 59. 230.


Schicksal 181 bis 185. 200. 203. 205.
209 bis 216. 239.


Schönheit 16. 17. 18. 32. 33. 42.
59. 183. 201. 238. 239.


Schuld 190. 203.


Schwankhaft 96. 97. 113. 114.


Seelenschilderung 82. 86. 90. 98. 99.
100. 123. 174. 175.


Selbstgeständnisse 9. 18. 19. 240.


Sentenzen 97.


Sentimentalisch 20.


Sinnentrieb 6.


Sirventes 142.


Slaven 72.


Spanier 114. 199 bis 201. 232. 233.


Sprache 26. 246. 247.


Spruch 127. 128. 152. 153.


Stoff 21. 22. 56. 58. 124. 223.

[278]

Strophe 266 bis 273.


Subjektivität 24. 25. 27. 82 bis 88.
100. 107. 166. 259.


Superlativ 54. 55. 257.


Symbol 52. 53. 94. 143.


Technik 186 bis 188.


Tetralogie 180. 182.


Tierdichtung 45. 102 bis 105.


    • Tragödie
    • Trauerspiel
    4. 14. 15. 178 bis 218.
    219. 222. 235. 261. 268.

Traum 244. 245.


Typen 227. 228. 231. 235. 236. 237.


Unbewußt 67. 247.


Urpoesie 8. 11. 31. 32. 146. 147.


Variationen 20. 21. 22. 263.


Veda 27. 29. 30. 256. 264. 266.


Vergeistigung 83. 93. 125. 248. 262.


Vergnügen 14. 15. 21. 56. 216 bis 218.


Vers 3. 59 bis 62. 107. 151. 152.
225. 263 bis 274.


Verstand 5. 21. 58.


Volksbücher 110.


Volksdichtung 20. 21. 64 bis 79.


Volkslied 24. 75 bis 79. 113. 144
bis 153. 164 bis 169. 172.


Wahnsinn 244. 245.


Waltharilied 87.


Wessobrunner Gebet 85.


Wirklichkeit 109. 110.


Wirkung 56.


Wunschmotiv 153. 176.


Zaubersprüche 85. 152.


[figure]
[E279]

Appendix B Personenregister.


[figure]

Achill 70.


Addison 111.


Aeschylos 180. 181. 182. 183. 186.
187. 190. 191.


Alfieri 19.


Alkäos 131.


Alkman 130.


Anakreon 133. 134. 135.


Anzengruber 21.


Archilochos 129. 267. 268.


Arent 38.


Ariost 94.


Aristophanes 36. 45. 220. 221. 222.
223. 224. 225. 226. 232.


Aristoteles 3. 4. 15. 16. 128. 221. 222.


Attila 67. 68. 70.


Auerbach 22.


Ayrer 207.


Bach 191.


Basselin 143. 144.


Battikavja 91.


Baumgarten 5. 6. 16.


Beaumarchais 234.


Beck 52. 53.


Bernart von Ventadour 137. 141. 142.


Bertran von Born 142.


Bleibtreu 38. 44.


Boccaccio 112. 113.


Bodmer 5.


Boileau 4. 5. 42.


Bojardo 94.


Breitinger 5. 273.


Bürger 114. 173.


Burdach 146. 147.


Byron 37. 38. 43. 51. 106. 107.


Calderon 200. 201.


Cervantes 109.


Chénier 51.


Chlothilde 68.


Chrestien von Troyes 95.


Corneille 198. 199.


Dante 105.


Defoe 111.


Descartes 4.


Dietmar von Aist 47. 148. 150. 151.
157. 271.


Dilthey 8. 9. 19. 244. 252.


Ermanrich 67. 68.


Euripides 184. 185. 186. 187. 223.


Fielding 111.


Firdusi 36. 40. 41. 83. 84. 85. 93.


Fontane 112.

[280]

Freiligrath 175.


Friedrich von Husen 156. 157.


Geibel 176.


Gellert 170.


Gerhardt 170.


Goethe 13. 14. 17. 19. 21. 22. 32.
37. 43. 50. 55. 62. 106. 107. 111.
112. 113. 114. 115. 170. 171. 172.
173. 209. 210. 211. 212. 213. 238.
249. 250. 252. 258. 274.


Goldsmith 111.


Gottfried von Straßburg 52. 100. 101.


Gottsched 3. 4. 5. 16. 21. 207. 237. 273.


Grillparzer 21.


Grimm, Jakob 26.


Grimmelshausen 110.


Groth 115.


Grün 19.


Gryph 207. 236. 237.


Guiot 135.


Gundahari 68. 69.


Hadamar von Laber 102.


Hafis 126. 127.


Hartmann von Aue 47. 99. 100.


Hebel 115.


Hedelin 5.


Hegel 6. 7.


Heinrich der Gleißner 102.


Heinrich Julius von Braunschweig 207.
236. 237.


Heinrich von Morungen 48. 158. 159.


Heinrich von Rugge 156. 157.


Heinrich von Veldeke 99. 157.


Herder 20. 172. 198. 252.


Herwegh 176.


Hesiod 92.


Hildiko 68.


Hinrek van Alckmer 103.


Holberg 237.


Homer 25. 35. 36. 40. 45. 46. 54.
69. 81. 82. 91. 256. 257.


Horaz 2. 3. 13. 14. 15.


Jbykos 133.


Kalidasa 34. 35. 46.


Kallinos 128. 129.


Kant 6.


Karl der Große 144. 145.


Keller 112. 113.


Kerner 18. 19.


Kleist 19. 113. 238. 252.


Klopstock 21. 32. 106. 273.


Körner 156.


Konrad von Würzburg 101. 102. 114.


Kratinos 222.


Kürenberg 24. 47. 147. 148. 150.
151. 153. 157. 255. 256. 271.


Kyd 201.


Lagarde 27. 28.


Lamartine 43.


Leibniz 4.


Lenz 173. 238.


Lessing 4. 5. 16. 20. 196. 197. 198.
208. 209. 237. 238. 274.


Lohenstein 110.


Ludwig 19. 112.


Luther 169. 170.


Marlowe 201.


Maximilian 102.


Menander 227. 228.


Milton 105. 106.


Molière 232. 233.


Nestor 70.


Nizami 93.


Odovakar 67. 68.


Opitz 3. 207. 272.


Otfried 86. 87. 151. 269. 270.


Paul 246. 247.


Petrarka 144.


Philemon 228.

[281]

Pindar 135.


Plautus 228. 229. 231. 232.


Racine 36. 198.


Rebhuhn 206.


Regensburg, Burggraf von 148. 149.
151. 157.


Reinmar der Alte 158.


Reinmar von Zweter 52.


Reuter, Christian 110.


Richard Löwenherz 138. 139.


Richardson 111.


Rousseau 43. 50. 111.


Rudolf von Ems 114.


Rückert 62. 262.


Saadi 93. 94.


Sachs 206. 236. 272.


Sappho 131. 132. 267.


Scheffler 170.


Scherer 7. 8. 9. 12. 13. 58. 59. 60. 146.


Schernberg 193.


Schiller 6. 14. 17. 19. 20. 21. 22.
32. 37. 43. 46. 58. 114. 115. 116.
174. 175. 209. 213. 214. 215. 251.


Schlegel, August Wilhelm 175.


Schlegel, Johann Elias 5. 16. 196.
197. 207. 237.


Seneca 195. 207.


Shakespeare 13. 17. 42. 202. 203.
204. 205. 207. 208. 209. 232. 234.
235. 236. 237. 238. 258.


Sophokles 183. 184. 185. 186. 187.


Spee 170.


Spervogel 162. 163. 254.


Steele 111.


Sterne, Lorenz 111.


Storm 113.


Swift 111.


Tacitus 21. 23. 31.


Talvj 24. 74.


Tasso 105.


Terenz 228. 231. 232.


Terpander 130. 267.


Theodomer 67. 68.


Theodorich 68. 96.


Theognis 132. 133.


Theokrit 115.


Thespis 179. 188.


Tyrtäos 130. 131.


Ulrich von Gutenburg 48


Vega 200. 232.


Wackernagel 16. 17. 32. 33. 59.


Wagner, Richard 273.


Walther von der Vogelweide 48. 49.
50. 52. 154. 155. 156. 158. 159.
160. 161. 162. 172. 255. 256.


Werner der Gärtner 114.


Wieland 106. 107. 111.


Wildenbruch 273.


Wilhelm von Poitiers 141.


Willem 102. 103. 104.


Wolf, Christian 5.


Wolfram von Eschenbach 98. 99. 137.
258.


Xenophanes 69.


[figure]
[E282][E283]

Appendix C Jnhalt.


[figure]

  • Einleitung.
    • Begriff und Methoden der Poetik.
      • Seite
      • § 1. Begriff der Poetik1
      • § 2. Ursprüngliche Auffassung der Poetik1
      • § 3. Autoritativ=dogmatische Poetik: Horaz2
      • § 4. Fortsetzung: Aristoteles3
      • § 5. Fortsetzung: Die Franzosen4
      • § 6. Spekulativ=dogmatische Poetik5
      • § 7. Empirische Poetik7
      • § 8. Psychologisch=induktive Poetik8
      • § 9. Entwicklungsgeschichtliche Poetik9
      • § 10. Fortsetzung: Einschränkungen10
    • Definitionen der Poesie.
      • § 11. Die formale Definition der Poesie12
      • § 12. Der Nutzen als Zweck der Poesie13
      • § 13. Das Vergnügen als Zweck der Poesie14
      • § 14. Die Nachahmungstheorie in der Poetik15
      • § 15. Die Schönheitstheorie in der Poetik16
      • § 16. Poetische Selbstgeständnisse über das Wesen der Poesie18
    • Variationen der Poesie.
      • § 17. Variationen der Poesie: a) in der Theorie20
      • § 18. Fortsetzung: b) in der Produktion21
      • § 19. Fortsetzung: c) in der Wirkung21
      • § 20. Verhältnis der poetischen Gattungen22
      • Seite
      • § 21. Fortsetzung: Entwicklung24
      • § 22. Analogie der Sprachentwicklung26
      • § 23. Scheinbare Ausnahmen27
      • § 24. Fortsetzung: Die sogenannten Naturvölker27
    • Das Wesen der Poesie.
      • § 25. Religiöser Charakter der ältesten Poesie29
      • § 26. Die Erhabenheit der ältesten Poesie32
      • § 27. Vergöttlichung als poetisches Stilmittel33
      • § 28. Heroische Epoche der Poesie39
      • § 29. Heldenhafte Vorstellungen in der Poesie42
      • § 30. Die Natur als Anschauung und Sinnbild44
      • § 31. Allegorie und Symbol51
      • § 32. Das Wesen der Poesie53
      • § 33. Superlative Darstellung54
      • § 34. Einheit von Ursache und Wirkung in der Poesie56
      • § 35. Einheit der Dichtungsarten56
      • § 36. Einheit der Künste57
      • § 37. Unterschied von der Prosa57
      • § 38. Die Gefühlsstärke des Dichters58
      • § 39. Begründung der poetischen Form59
  • Die Dichtungsarten.
    • A. Die epische Poesie.
      • § 40. Ausgangspunkt63
      • § 41. Der Mythos64
      • § 42. Poetische Gestaltung der mythologischen Anschauungen65
      • § 43. Die Sage66
      • § 44. Fortsetzung69
      • § 45. Abschluß und dichterische Behandlung der Sage71
      • § 46. Stil der Volksdichtung71
      • § 47. Fortsetzung: Liedartiger Charakter75
      • § 48. Einfluß der Rhapsoden78
      • § 49. Die litterarische Epopöe80
      • § 50. Fortsetzung: Durchbrechung der organischen Entwicklung85
      • § 51. Fortsetzung: Die nationale Epopöe in Deutschland88
      • § 52. Entartung des nationalen Erzählungsstils91
      • § 53. Fortsetzung: Entartung des deutschen Epos95
      • § 54. Das internationale Ritterepos98
      • § 55. Das allegorische Epos101
      • Seite
      • § 56. Das Tierepos102
      • § 57. Das christliche Epos105
      • § 58. Ausläufer des Epos106
      • § 59. Roman und Novelle107
      • § 60. Die kleineren epischen Arten113
      • § 61. Wesen und Wandlungen der epischen Dichtung116
    • B. Die lyrische Dichtung.
      • § 62. Voraussetzung der lyrischen Form119
      • § 63. Die orientalische Lyrik119
      • § 64. Die griechische Lyrik127
      • § 65. Die provenzalische Lyrik136
      • § 66. Die Anfänge der deutschen Lyrik144
      • § 67. Die deutsche Ritterlyrik153
      • § 68. Die deutsche Volkslyrik164
      • § 69. Liedartige Lyrik in neudeutscher Zeit169
      • § 70. Litterarische Lyrik173
      • § 71. Wesen und Wandlungen der Lyrik176
    • C. Die dramatische Poesie.
      • I. Das Trauerspiel.
        • § 72. Begründung der dramatischen Form178
        • § 73. Ausbildung der dramatischen Form in Griechenland178
        • § 74. Entwicklung und Blüte der griechischen Tragödie180
        • § 75. Verfall der griechischen Tragödie185
        • § 76. Die Technik der griechischen Tragödie186
        • § 77. Wesen und Wirkung der griechischen Tragödie189
        • § 78. Die Anfänge des modernen Dramas191
        • § 79. Das humanistische Trauerspiel195
        • § 80. Das französische Trauerspiel195
        • § 81. Das spanische Trauerspiel199
        • § 82. Das englische Trauerspiel201
        • § 83. Das deutsche Trauerspiel205
        • § 84. Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen216
      • II. Das Lustspiel.
        • § 85. Begründung der Lustspielform219
        • § 86. Die Anfänge der Komödie in Griechenland220
        • § 87. Die nachklassische antike Komödie226
        • Seite
        • § 88. Die Anfänge des modernen Lustspiels229
        • § 89. Die Hauptmomente des romanischen Lustspiels231
        • § 90. Das englische Lustspiel234
        • § 91. Das deutsche Lustspiel236
        • § 92. Wesen und Wirkung des Lustspiels239
    • Das Seelenleben des Dichters.
      • § 93. Die Erfahrung über die Dichterseele240
      • § 94. Die Voraussetzungen des dichterischen Schaffens241
      • § 95. Das Eingreifen der dichterischen Phantasie242
      • § 96. Die ursprüngliche Einförmigkeit des Dichtergeistes245
      • § 97. Die unbewußte Freiheit des Dichtergeistes247
      • § 98. Die bewußte Freiheit des Dichtergeistes247
      • § 99. Der individuelle Geist249
      • § 100. Der Dichtergeist in seiner Mannigfaltigkeit250
      • § 101. Die Ausdrucksformen des Dichtergeistes252
      • § 102. Das sinnlich ergiebigste Kennzeichen253
      • § 103. Bild und Gleichnis254
      • § 104. Hyperbeln257
      • § 105. Der Dichter und das Publikum258
      • § 106. Rückblick und Ausblick260
    • Grundzüge in der Entwicklung der Verskunst.
      • § 107. Ausgangspunkt für Ergründung der Metrik263
      • § 108. Die Versmessung264
      • § 109. Die Fortentwicklung der Versform266
      • § 110. Fortsetzung: Hauptstufen in der Weiterbildung der deutschen
        Versform268
      • § 111. Die künstlerische Prosaform273
  • Sachregister275
  • Personenregister279

[figure]
[E287]

Appendix D Verlag der Schulzeschen Hof-Buchhandlung (A. Schwartz)
in Oldenburg.


Allmers, H., Sämtliche Werke. 6 Bände ℳ. 15,─. Jn 4 Original=
Prachtbänden ℳ. 19,─.


─ ─ Dichtungen. 3. Aufl. Broch. ℳ. 3,─, in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 4,─.


─ ─ Marschenbuch. Land- und Volksbilder aus den Marschen der
Weser und Elbe. 3. durchgesehene und vermehrte Aufl. Broch.
ℳ. 6,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 7,─.


─ ─ Römische Schlendertage. 9. illustrierte Aufl. mit 20 Vollbildern.
Broch. ℳ. 6,─, in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 7,─.


─ ─ Aus längst und jüngst vergangener Zeit. Broch. ℳ. 3,─, in
eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 4,─.


Appell, J. W., Werther u. seine Zeit. 4. Aufl. ℳ. 4,─, Orig.=Einbd. ℳ. 5,─.


Bulthaupt, H., Durch Frost und Gluthen. Gedichte. 2. Aufl. Broch.
ℳ. 4,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 5,─.


Eckart, Rud., Brauch und Sitte. Kulturgeschichtl. Skizzen. Broch.
ℳ. 1,20, in Orig.=Einbd. ℳ. 2,─.


Fitger, A., Fahrendes Volk. Gedichte. 4. Aufl. ℳ. 4,─, Orig.=Ebd. ℳ. 5,─.


─ ─ Winternächte. Gedichte. 4. Aufl. ℳ. 4,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 5,─.


─ ─ Roland und die Rose. 2. Aufl. Eleg. broch. ℳ. ─,50.


Kulturgeschichtliche Bilder aus den Nordsee-Marschen. Gemalt von
H. v. Dörnberg. Mit Dichtungen v. H. Allmers. 6 Kunstblätter
in Lichtdruck. ℳ. 9,─. Jn Orig.=Pracht-Mappe ℳ. 15,─.


Murad Efendi, Nassreddin Chodja. Ein osmanischer Eulenspiegel.
4. Aufl. Broch. ℳ. 2,─, in Pracht-Einbd. ℳ. 3,─.


─ ─ Balladen und Bilder. 3. Aufl. ℳ. 2,─, in Prachtband ℳ. 3,─.


─ ─ Ost und West. Gedichte. 3. Aufl. ℳ. 4,─, in Prachtband ℳ. 5,─.


Pleitner, E., Hinrich Janßen, der butjadinger Bauernpoet. Eleg.
broch. ℳ. 0,80.


Poppe, Franz, Zwischen Ems u. Weser. Land u. Leute in Oldenburg
und Ostfriesland. Broch. ℳ. 6,─, in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 7,─.


─ ─ Am Lebensborn. Gedichte. Broch. ℳ. 3,─ in Orig.=Einbd. ℳ. 4,─.


Rittershaus, Emil, Buch d. Leidenschaft. 4. Aufl. ℳ. 2,─, Prachtbd. ℳ. 3,─.


─ ─ Aus den Sommertagen. 4. Aufl. Mit Portrait des Dichters
von Prof. Ludw. Knaus. ℳ. 4,─, in Orig.=Prachtbd. ℳ. 5,─.


Roland, E., Gedichte. Broch. ℳ. 2,─, in Orig.=Prachtbd. ℳ. 3,─.


─ ─ Jtalienische Landschaftsbilder. Broch. ℳ. 3,─, in Orig.=Ebd. ℳ. 4,─.


Schinz Dr. Hans, Deutsch-Südwest=Afrika. Mit einer Karte u. vielen
Abbildungen. ℳ. 18,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 20,─.


Schwartz, A., Vaterländische Ehrentage. Reich illustrierte Festgabe zum Geburtstage
des Fürsten Bismarck. 16. Aufl. Jn Orig.=Einbd. ℳ. ─,60.


Staudinger, Paul, Jm Herzen der Haussaländer. 2. Aufl. m. Karte.
ℳ. 10,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 12,─


Stahr, Ad., Ein Jahr in Jtalien. 4. Aufl. 5 Thle. Broch. ℳ. 15,─,
in 2 eleg. Orig.=Einbänden ℳ. 18,─.


─ ─ Herbstmonate in Ober-Jtalien. Supplem. zu des Verf. „Ein
Jahr in Jtalien“. 3. Aufl. 2 Thle. ℳ. 6,─, Orig.=Einbd. ℳ. 7,50,


─ ─ Goethes Frauengestalten. 8. Aufl. 2 Bände. Broch. ℳ. 6,─.
in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 8,─.


─ ─ G. E. Lessing. Sein Leben und seine Werke. 9. vermehrte und verbesserte
Aufl. 2 Bände. Broch. ℳ. 6,─, in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 7,50.


Wolff, Eugen, Poetik. Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtl.
Entwicklung. Broch. ℳ. 4,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 5,─.


Wolff, Dr. Willy, Von Banana zum Kiamwo. Forschungsreise in
West-Afrika. Mit Karte. ℳ. 4,─, Original-Einbd. ℳ. 5,─.


Zimmermann, Dr. Alfred, Geschichte der preußisch=deutschen Handelspolitik,
aktenmäßig dargestellt. Broch. ℳ. 16,─, Or.=Ebd. ℳ. 18,─.


─ ─ Kolonialgeschichtl. Studien. Broch. ℳ. 6,─, Orig.=Ebd. ℳ. 7,─

[E288]

Dramaturgische Litteratur aus dem Verlage der Schulzeschen
Hof-Buchhandlung (A. Schwartz) in Oldenburg.


Allmers, H., Elektra. Drama in einem Aufzuge. Musik von Albert
Dietrich. 2. Aufl. Broch. ℳ. 0,60, in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 1,50.


─ ─ Herz und Politik. Dramatisches Zeitidyll. Broch. ℳ. 0,60, in
eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 1,50.


Augier, E., Der Schierling. Lustspiel in 2 Aufz. Für die deutsche Bühne
bearb. von A. Fitger. Broch. ℳ. 1,20, in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 2,20.


─ ─ Philiberte. Lustspiel in 3 Aufzügen. Für die deutsche Bühne
bearb. von A. Fitger. Broch. ℳ. 2,─, in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 3,─.


Bulthaupt, H., Dramaturgie des Schauspiels. * Lessing, Goethe, Schiller,
Kleist. 7. Aufl. Broch. ℳ. 5,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 6,─.


─ ─ ─ ─ ** Shakespeare. 6. Aufl. ℳ. 5,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 6,─.


─ ─ ─ ─ *** Grillparzer, Hebbel, Ludwig, Gutzkow, Laube. 4. Aufl.
Broch. ℳ. 5,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 6,─.


─ ─ Gerold Wendel. Trauersp. 2. Aufl. ℳ. 2,─, Orig.=Ebd. ℳ. 3,─.


─ ─ Eine neue Welt. Drama. 2. Aufl. ℳ. 2,─, Orig.=Ebd. ℳ. 3,─.


─ ─ Der verlorene Sohn. Schauspiel. ℳ. 2,─, Orig.=Ebd. ℳ. 3,─.


─ ─ Timon von Athen. Trauerspiel. ℳ. 1,60, Orig.=Ebd. ℳ. 2,60.


─ ─ Die Malteser. Tragödie. ℳ. 2,─, Orig.=Einbd. ℳ. 3,─.


Lord Byron's Marino Faliero. Für das Meiningen'sche Hoftheater
übersetzt und bearbeitet von A. Fitger. Broch. ℳ. 2,─.


─ ─ Manfred, dram. Dichtung, aus ihrem Grundgedanken erklärt.
Nebst Anhang: Uebersicht über Byrons Poesien. Von einem
Theologen. Broch. ℳ. 1,─.


Engel, Karl, Zusammenstellung der Faustschriften vom 16. Jahrhundert
bis Mitte 1884. Der Bibliotheca Faustiana 2. Aufl. ℳ. 18,─.


─ ─ Die Don Juan-Sage a. d. Bühne. 2. Afl. ℳ. 2,40. Or.=Ebd. ℳ. 3,40.


Faust, Johann. Ein allegorisches Drama, gedruckt 1775, ohne Angabe
des Verfassers, und ein nürnberger Textbuch desselben Dramas,
gedruckt 1777. Herausgeg. v. K. Engel. 2. verm. Aufl. ℳ. 2,─.


─ ─ Das Volksschauspiel Doktor Johann Faust. Herausgegeben mit
geschichtl. Nachrichten und Bühnengesch. des Faust von Karl Engel.
2. umgearb. u. vielfach ergänzte Aufl. ℳ. 4,─, Orig.=Einbd. ℳ. 5,─.


Fitger, A., Die Hexe. Trauerspiel. 6. Aufl. ℳ. 2,─, in Or.=Einb. ℳ. 3,─.


─ ─ Von Gottes Gnaden. Trauersp. 3. Aufl. ℳ. 2,─, Orig.=Ebd. ℳ. 3,─.


─ ─ Die Rosen von Tyburn. Trauersp. ℳ. 2,─, Orig.=Ebd. ℳ. 3,─.


Mosen, J., Der Sohn d. Fürsten. Trauersp. in 5 Aufz. Orig.=Einbd. ℳ. 2,40.


─ ─ und Adolf Stahr, Ueber Goethe's Faust. Broch. ℳ. 2,50.


Puppenkomödien, Deutsche. Mit geschichtl. Einleitung. u. Bibliotheca
Faustiana
herausgegeben von Karl Engel. 2 Bde. Broch. ℳ. 8,─,
Einzelne Bändchen à ℳ. 1,20.


Ruseler, G., Gudrun. Schauspiel. ℳ. 2,─, Orig.=Einbd. ℳ. 3,─.


Schwartz, Rudolf, Esther im deutschen und neulateinischen Drama des
Reformationszeitalters. Eine litterarhistor. Untersuchung. 2. durch
einen Nachtrag vermehrte Auflage. ℳ. 4,─.


Shakespeare, Jmogen. (Cymbelin.) Romant. Schausp. Bühnenbearb.
v. H. Bulthaupt. ℳ. 1,60. Orig.=Einbd. ℳ. 2,60.


─ ─ Der Widerspenstigen Zähmung. Lustspiel in 5 Akten und
1 Vorspiel. Bearbeitet von Eugen Kilian. Broch. ℳ. 1,20,
in Orig.=Einbd. ℳ. 2,─.


Wehl, Leodor, Dramaturgische Bausteine. Gesammelte Aufsätze. Aus
dem Nachlasse Wehls herausgegeben von Eugen Kilian. Broch.
ℳ. 2,40, in Orig.=Einbd. ℳ. 3,40.


Wolff, Dr. E., Zwei Jugendlustspiele von Heinr. v. Kleist. Broch.
ℳ. 2,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 3,─.


Zabel, Eugen, Zur modernen Dramaturgie. Broch. ℳ. 5,─, in Orig.=
Einbd. ℳ. 6,─.

[E289][E290][E291][E292][E293][E294]

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2016). ePoetics_Wolff. ePoetics. . https://hdl.handle.net/11378/0000-0005-E7BF-0